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German Pages X, 157 [159] Year 2020
Thomas Brüsemeister
Soziologie in pädagogischen Kontexten Organisation Schule
Soziologie in pädagogischen Kontexten
Thomas Brüsemeister
Soziologie in pädagogischen Kontexten Organisation Schule
Thomas Brüsemeister Justus-Liebig-Universität Gießen Gießen, Deutschland
ISBN 978-3-658-04304-9 ISBN 978-3-658-04305-6 (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-04305-6 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Planung/Lektorat: Stefanie Laux Springer VS ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany
Danksagung
Liebe Frau Laux, ich danke Ihnen sehr, dass Sie trotz aller Widrigkeiten, die ich mit dem Manuskript hatte, am Buch stets festgehalten, und Sie mich mit Ideen für die Umsetzung immer wieder unterstützt haben. Liebe Katharina, auch Du hast die ganze Zeit ja schon mit einer Vorversion des Textes zusammen mit den StudentInnen in der Schweizer Lehrerbildung gearbeitet, und mich ermutigt, das Buch fertig zu stellen. Merci dafür! Alexandra, Dir danke ich ebenfalls herzlich für Kommentare und die Durchsicht von Kapiteln; aus Deiner Expertise als angehende Lehrerin heraus war dies für mich und auch das Manuskript des vorliegenden Buches sehr hilfreich! Liebe Anna, Dir möchte ich herzlich danken für Deinen präzisen Blick auf das Manuskript und für Deine aufmunternden Worte! Auch danke ich Dir, liebe Eugenia, für anregende Kommentare zum Kapitel zur Öffentlichkeit. Herzlichen Dank auch Dir, liebe Lisa, für die Unterscheidung Schülerorientierung/Lehrerorientierung.
V
Einleitung
Der Aufbau des Buches folgt der Perspektive von Educational Governance. Diese Perspektive fokussiert einzelne Akteure der Organisation Schule. Die Governance der Schule erfasst neben einzelnen Akteuren auch die Akteurkonstellation. Sie kristallisiert sich heraus, wenn die Akteure nacheinander betrachtet werden. Zuerst werden Akteure vorgestellt, die weiter weg von der einzelnen Schule liegen. Dies sind Bildungspolitik, Bildungsmonitoring, Bildungsverwaltung. Es folgen Akteure, die etwas näher an der einzelnen Schule angelagert sind, wie die Schulaufsicht, die Schulinspektion, und die Schulträger. Kommunales Bildungsmanagement und kritische Öffentlichkeit runden das Bild ab. Durch ein Zwischenfazit (Kap. 9) wird deutlich, dass bereits viele Akteure aktiv geworden sind, bevor eine einzige Unterrichtsstunde beginnt. Sodann werden Akteure vorgestellt, die in der einzelnen Schule tätig sind. Dies sind Steuergruppen, Schulleitungen, Lehrkräfte, und SchülerInnen. Der Blick auf Eltern rundet das Bild ab. Jeder einzelne Akteur wird gefragt, was er für die Schulentwicklung tun kann. Hierbei ist jeder Akteur spezialisiert auf seine eigene Handlungslogik oder Handlungsorientierung. Diese wird jeweils in dem betreffenden Kapitel herausgearbeitet. Eine Übersicht zu den Akteuren, die im Buch „Organisation Schule“ behandelt werden, gibt Tab. 1:
VII
Einleitung
VIII Tab. 1 Akteure im Mehrebenensystem der Organisation Schule Kapitel
Akteur
Handlungsorientierung
2
Ebene Zentrale: Bildungspolitik
Politische Machbarkeit, Legitimität
3
Bildungsmonitoring
Wissenschaft mit den Augen der Politik deuten; Politik mithilfe der Wissenschaft beraten
4
Bildungsverwaltung
Umsetzbarkeit, Orientiert an Ordnung, Verwaltung, Recht
4.1
Intermediäre Ebene: Schulaufsicht
Kontrolle, Beratung
5
Schulinspektion
Anregung, Fachberatung
6
Schulträger
Äußere Schulangelegenheiten, Sachausstattungen, Räume; Breiter Leitwert Bildung
7
Kommunales Bildungsmanagement Lernen im Lebenslauf der Kreis- oder Kommunalverwaltung
8
Kritische Öffentlichkeit
9
Zwischenfazit
10
Schulebene: Schulleitungen
Hauptamtlich Beschäftigter für Schulentwicklung
11
Steuergruppen
Schulentwicklung planen (zwischen Beratung und Entscheidung)
12
Lehrkräfte
An Interaktionen mit SchülerInnen ausgerichtet
13
SchülerInnen
Auf Lernen ausgerichtet in schulischen und außerschulischen Feldern
14
Ebene der Zivilgesellschaft: Eltern
Wohl des eigenen Kindes im Zuge einer Bildungsbiografie, Mitsprache
Unspezialisierte Wächterfunktion
Inhaltsverzeichnis
1
Organisationsforschung und Educational Governance-Analyse. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 1.1 Erster Schritt der Analyse: Handlungsorientierung eines Akteurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 1.2 Zweiter Schritt der Analyse: Steuerung durch Einzelne oder durch Interdependenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 1.3 Governance-Prozesse auf verschiedenen Ebenen. . . . . . . . . . . . . . 12 1.4 Oligarchisierung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 1.5 Organisation ohne Organigramm. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 1.6 Principal-agent/Herr-Knecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 1.7 Loose coupling. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 1.8 Re-Spezifikation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 1.9 Prozessbezogene Organisationsforschung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22
2 Bildungspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 3 Bildungsmonitoring . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 4 Bildungsverwaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 4.1 Schulaufsicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 5 Schulinspektion. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56
IX
X
Inhaltsverzeichnis
6 Schulträger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 7
Kommunales Bildungsmanagement. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 7.1 Beziehung Schule und Gesellschaft. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 7.2 Eigenarten des kommunalen Bildungsmanagements. . . . . . . . . . . 67 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72
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Kritische Öffentlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78
9 Zwischenfazit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 10 Schulleitungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 11 Steuergruppen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 12 Lehrkräfte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 13 SchülerInnen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 13.1 Ko-Konstruktion. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 14 Eltern. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 15 Resümee: Gesamtcharakter des Governance-Regimes. . . . . . . . . . . . 151 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157
1
Organisationsforschung und Educational Governance-Analyse
Zusammenfassung
In diesem Kapitel werden einige Grundansichten zur Organisationsforschung und zur Educational Governance-Forschung vorgestellt. Die Organisationsforschung konzentriert sich für gewöhnlich auf einen Akteur, und untersucht seine Steuerungsfähigkeiten gegenüber einer bestimmten Umwelt. Dagegen nimmt die Perspektive von Educational Governance zusätzlich mehrere Akteure in den Blick. Ihnen wird ebenfalls eine Beeinflussung und Steuerung des Schulsystems zugetraut. Insbesondere wurden bislang kaum Schülerinnen und Schüler für fähig gehalten, an Schulentwicklung mitzuwirken. Die G overnancePerspektive traut diesem Akteur dies zu.
Mehrebenensystem Die in der Tab. 1.1 genannten Akteure (vgl. Tab. 1.1) bilden ein Mehrebenensystem. Es hat die Eigenart, sich über heterogene Bereiche zu erstrecken. In der oberen Hälfte der Tabelle finden wir mit Bildungspolitik, Bildungsmonitoring und Bildungsverwaltung eher Akteure aus der Hierarchie des Staates. Am unteren Ende der Tabelle stehen Eltern als Teil der Zivilgesellschaft. In der Mitte oder im Bauch des Schulsystems befinden sich die Akteure der einzelnen Schule. Im Durchgang des Buches wird deutlich werden, dass die einzelnen Akteure unterschiedliche Aufgaben haben. Hieraus resultiert die Schwierigkeit einer Orchestrierung. Die Hauptfrage des Buches wird sein, wie diese verschiedenen Akteure für die Schulentwicklung arbeiten oder wirken können. Ein Mehrebenensystem weist typischerweise solche Schwierigkeiten der Orchestrierung auf.
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 T. Brüsemeister, Soziologie in pädagogischen Kontexten, https://doi.org/10.1007/978-3-658-04305-6_1
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1 Organisationsforschung und Educational Governance-Analyse
Tab. 1.1 Akteure im Mehrebenensystem der Organisation Schule Kapitel
Akteur
Handlungsorientierung
2
Ebene Zentrale: Bildungspolitik
Politische Machbarkeit, Legitimität
3
Bildungsmonitoring
Wissenschaft mit den Augen der Politik deuten; Politik mithilfe der Wissenschaft beraten
4
Bildungsverwaltung
Umsetzbarkeit, Orientiert an Ordnung, Verwaltung, Recht
4.1
Intermediäre Ebene: Schulaufsicht
Kontrolle, Beratung
5
Schulinspektion
Anregung, Fachberatung
6
Schulträger
äußere Schulangelegenheiten, Sachausstattungen, Räume; Breiter Leitwert Bildung
7
Kommunales Bildungsmanagement Lernen im Lebenslauf Der Kreis- oder Kommunalverwaltung
8
Kritische Öffentlichkeit
9
Zwischenfazit
10
Schulebene: Schulleitungen
Hauptamtlich Beschäftigter für Schulentwicklung
11
Steuergruppen
Schulentwicklung planen (zwischen Beratung und Entscheidung)
12
Lehrkräfte
An Interaktionen mit SchülerInnen ausgerichtet
13
SchülerInnen
Auf Lernen ausgerichtet in schulischen und außerschulischen Feldern
14
Ebene der Zivilgesellschaft: Eltern
Wohl des eigenen Kindes im Zuge einer Bildungsbiografie, Mitsprache
Unspezialisierte Wächterfunktion
Im Vergleich zur Organisationsforschung erweitert die Educational GovernanceForschung (vgl. Maag Merki et al. 2014) den Blick auf Organisationen also um eine multiakteurielle Perspektive. Damit ist gleichzeitig eine De-Zentrierung der Sichtweise von Steuerung vorgenommen. Oder in anderen Worten: Jedem Akteur wird eine Beeinflussung und Steuerung zugetraut.
1.1 Erster Schritt der Analyse: Handlungsorientierung eines Akteurs
3
Als Hintergrund zur Governance-Perspektive lässt sich angeben, dass verschiedene wissenschaftliche Disziplinen mit dem Begriff Governance arbeiten: Juristik, Wirtschaftswissenschaften, Soziologie, und mittlerweile – seit zehn Jahren Educational Governance-Forschung – auch Teile der Bildungsforschung aus Erziehungswissenschaft und Soziologie. Da der Begriff immens bereit ist, gibt es keinen einheitlichen Zugang. Es gibt jedoch einen Geist, der in den verschiedenen Verwendungsweisen steckt. Dieser Geist ist gegen die frühere Regierungsforschung (Governmentforschung) gerichtet. Statt sich einzig und allein aus Sicht einer Regierung mit den Verhältnissen zu beschäftigen, öffnet sich die Governance Forschung für die Gesamtheit der Akteure, die zum Beispiel an Bildungsprozessen oder an anderen Politikprozessen (Umwelt, Verkehr, usw.) beteiligt sind. Die große Spannbreite des Gegenstandes wird daran sichtbar, dass sowohl Akteure aus dem Staat, wie auch aus der Wirtschaft, wie auch aus der Zivilgesellschaft untersucht werden. Diese Breite der Akteurvielfalt gehört mit zur De-Zentrierung der Steuerungsperspektive. Es regiert nicht nur die Politik, sondern auch alle anderen Akteure wirken daran mit.
1.1 Erster Schritt der Analyse: Handlungsorientierung eines Akteurs Der „Geist“ der Governance-Perspektive beinhaltet, zuerst die spezielle Handlungsorientierung eines Akteurs zu erkennen. Wir versetzen uns in seine Logik, und schauen, wie er sich die selbst und die Welt sieht. Beispiel: „Trump“
Hierzu kann das Beispiel Trump dienen. Denn seine Handlungsorientierung fällt auf, da er im Grunde als Privatmensch auf dem Staatsthron sitzt. Die Logik, wie er sich selbst und die Welt denkt, ist privat, mit dem Vorbild der Familie oder eines Familienunternehmens. Trump macht kein Geheimnis daraus, dass er den Staat führt wie seine Firma und seine Familie. Dies ist eine gesellschaftliche Differenzierungsform, die nach Clanstruktur funktioniert (Schimank und Volkmann 1999, S. 6). Er setzt in die verschiedenen Ämter Familienmitglieder, Verwandte, danach Freunde und Bekannte ein. Es ist eine private Welt, die auf dem Parkett des Staates, in den staatlichen Institutionen spielt. Dabei ist staatliche Welt nach Max Weber (1976, S. 125–130) komplett anders. Denn die Person sieht von Sachmitteln eines Amtes ab; sie verwaltet diese nur, sie gehören ihr nicht. Es entwickelt sich ein sachliches Ethos. Gerade weil einem die Dinge nicht gehören, wird man von den Dingen
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1 Organisationsforschung und Educational Governance-Analyse
nicht korrumpiert. Es ist eine Revolution in der Geschichte, dass es zu einer solchen Rationalisierung kommt, in der Amt und Person getrennt werden (Laizismus). Dies wird nun von Trump ein Stück weit zurückgedrängt. Denn Ämterpositionen werden als Möglichkeiten für die persönliche Bereicherung gesehen. ◄ Organisationsforschung plus Educational Governance können also gut die Handlungsorientierung oder Haltung eines Akteurs zu sich und zur Welt herausarbeiten. Diese Haltung kann sich zum Beispiel zwischen privat und staatlich deutlich unterscheiden. Wie wir gerade gesehen haben, ist die Handlungsorientierung innerhalb des Staates eine sachliche. Der Amtsinhaber sieht von Bezügen zu seiner Person ab, während er seine Arbeit verrichtet. Umgekehrt im Privatleben: dieses korrumpiert mich so, dass ich auch in beruflichen Feldern möglichst Vorteile für mich und meine Familie herausarbeite. In Netzwerken sind die Handlungsorientierungen wieder andere. Sie sind darauf ausgerichtet, von Menschen, die man noch nicht kennt, aber potenziell kennen lernen könnte innerhalb des Netzwerkes, wichtige Informationen zu erhalten. Gerade die schwachen Beziehungen (weak ties) können hier von großem Wert sein. Wieder anders sind die Handlungsorientierungen in Professionen. Im Lehrberuf herrscht eine grundsätzliche Nichteinmischung in den Unterricht von KollegInnen; das gleiche gilt für Ärzte oder anderen Professionen. Man geht davon aus, dass die KollegInnen jeweils nach bestem Wissen und Gewissen handeln, was weder überprüft, noch bezweifelt werden muss. Insofern herrscht zwischen den Angehörigen der Profession eine Gleichheit. Diese gibt es weder im Privatleben, noch im Staat, noch in Netzwerken. Lange Zeit hatte die Governance-Forschung gehofft, möglichst reine Handlungsorientierungen – z. B. nur Staat, oder nur Profession – herauszufinden. Empirisch vermischen sich jedoch die Handlungsorientierung oft. Davon unabhängig ist es wichtig, die Handlungsorientierung eines jeden Akteurs analytisch klar zu erfassen. Letzteres ist das Ziel des Buches.
1.2 Zweiter Schritt der Analyse: Steuerung …
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1.2 Zweiter Schritt der Analyse: Steuerung durch Einzelne oder durch Interdependenzen Wie oben bereits angedeutet, wird die konventionelle Vorstellung von Steuerung davon bestimmt, nur von Einzelnen auszugehen, die für steuerungsfähig gehalten werden. Es fehlt hier aber noch die Akteurkonstellation, d. h. der Blick auf das, was die anderen Akteure zur Steuerung beisteuern oder unterlassen. Mit anderen Worten fehlt eine Angabe, ob ein steuernder Akteur allein auf weiter Flur ist, oder von vielen anderen mitgetragen wird. Diese Beziehungen innerhalb der Steuerung zu berücksichtigen wird mit einer Reihe von Unterbegriffen möglich, die verschiedene Disziplinen – wie Erziehungswissenschaft und Soziologie – in die Educational G overnanceForschung einbringen. Aus Sicht der Soziologie wird zum Beispiel gefragt, in welcher Relation die verschiedenen Akteure zueinanderstehen, oder welche Interdependenzen sie haben. Es geht um die Frage, was neben dem steuernden Akteur die anderen Akteure auf dem Spielfeld tun. Hierbei geht die Soziologie nicht von nur einem Regierenden aus und untersucht, wen er beeinflusst. Vielmehr betrachtet die Soziologie Interaktionsgefüge. Darunter werden Akteure verstanden, die auch untereinander etwas miteinander zu tun haben, unabhängig davon, was ein Regierender gerade tut. Daraus folgt, dass Steuerung nie nur unidirektional (d. h. in eine Richtung gehend) sein kann, in dem Sinne, dass Akteur A einen Akteur B beeinflusst. Selbst wenn Akteur B Akteur A folgt, also, wie in staatlichen Behörden erwartet, eine Folgebereitschaft zeigt, dann beeinflusst B doch auch andere ihn umgebende Akteure (C, D, E, usw.). Diese haben indirekt oder vielleicht direkt wieder etwas mit A zu tun. B wirkt also auch wieder auf A zurück. Menschen sind nicht nur folgebereit, sondern geben auch wiederum Impulse an die Steuernden zurück. Sprich: es gibt Inter-Aktionen. Bei der Steuerung geht es also nicht nur um die Frage, wer ist Sender, wer ist Empfänger, sondern auch welche Interaktion es gibt. Dies ist ein viel weiter gefasstes Verständnis von Steuern und Regieren. Es ist immer eine offene empirische Frage, wie groß der Einfluss eines Akteurs tatsächlich ist. Neben der Eigenart eines Akteurs bestimmt auch das gesamte Beziehungsgefüge der Menschen darüber, was möglich ist. Ein Beziehungsgefüge spielt sich jeweils zu einer bestimmten Zeit ein. Auf einer Party z. B. reden die Leute laut, wenn die Musik laut ist. Beziehungsgefüge lassen sich zudem nicht nur in einzelnen Situationen wie auf einer Party untersuchen, sondern historisch, über längere Zeiträume hinweg.
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1 Organisationsforschung und Educational Governance-Analyse
Beispiel: „Interdependenzen“ nach Elias
Norbert Elias (1897–1990) spricht anstatt von Beziehungen von Interdependenzen. Jeder Akteur versucht, Interdependenzen möglichst weitgehend in seinem Sinne zu beeinflussen. Jedoch gibt es Folgeeffekte, die eigentlich nicht gewollt sind. Zum Beispiel hat der Adel sich Ritter gehalten, die auf die Ländereien des Adels aufpassen sollten. Damit der Adel die Sicherheit hat, dass die Ritter wirklich ihre Güter und Ländereien verteidigen, haben sie die Ritter an ihrer Hofkultur teilnehmen lassen, d. h. Brot und Spiele wurden miteinander geteilt. Natürlich haben sich die Ritter ihre Unabhängigkeit bewahrt, aber langfristig gesehen sind die Interdependenzen erhöht worden. Das heißt, die Ritter haben tatsächlich Teile des Verhaltens des Adels mit übernommen, z. B. Höflichkeitsformen, das Essen mit Messer und Gabel. Durch diese Disziplinierung und Angleichung an die adelige Kultur haben die Ritter ein bisschen von dem verloren, für das sie eingestellt wurden: Ihre Rücksichtslosigkeit und Kampfkraft. Erreicht wurde dies, da durch die Interdependenzketten die Handlungen von Adeligen und Rittern immer ähnlicher wurden. Über viele Jahrhunderte war der Adel stilprägend für andere Klassen. Diese haben den Stil des Adels nachgeahmt. Man hat nicht mehr Fleischstücke mit den Händen herausgebrochen, sondern begonnen, so wie es der Adel macht, mit Messer und Gabel zu essen. Unter anderem deshalb, um den Austausch von Körperflüssigkeiten beim Essen zu vermeiden. Die Akteure fangen an, mehr aufeinander zu achten und mehr aneinander zu denken. Durch diese engeren Beziehungen ist dies möglich. Und es ist auch notwendig, mehr aufeinander zu achten, gerade weil jeder noch einen Rest eigener Sphäre behalten möchte. Weil alles mehr zusammenwächst, erkennen Menschen ihre Abhängigkeiten voneinander. ◄ Bislang wurde der Begriff Interaktion verwendet. Aber warum heißt der Fachbegriff in der Soziologie dazu ‚symbolischer‘ Interaktionismus? Weil der Austausch zwischen den Menschen über Symbole erreicht wird. Symbole sind zum Beispiel Dinge, aber auch die Sprache. Menschen tauschen sich über die gemeinsamen Bedeutungen dieser Symbole aus. Beispiel: ,,Symbolgebrauch“ nach Mead
Dies wird gut von Georg Herbert Mead erklärt Das Kind lernt zuerst eine private Bedeutung eines Symbols. Dies wird dann spielerisch erweitert um mehrere Bedeutungen des Symbols, bis das Symbol letztlich in der Breite und Tiefe seiner gesellschaftlichen Bedeutung
1.2 Zweiter Schritt der Analyse: Steuerung …
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gehandhabt wird. Das Kind bekommt immer mehr mit, was andere Menschen unter dem Wort verstehen und kann auch die eigene Rolle zu der Bedeutung damit in Verbindung bringen. Das Wort erhält eine generalisierte Bedeutung. Es bedeutet auf dem Globus das Gleiche, auch wenn es in verschiedene Sprachen übersetzt wird. Jedoch stehen die Symbolbedeutungen nicht fest, sondern werden ausgehandelt. Das heißt, wenn irgendwann kein Silberbesteck mehr benutzt wird, dann fällt das Wort Silberbesteck aus dem Sprachkanon heraus. An dessen Stelle sind dann vermutlich viele andere Worte für Besteck erfunden worden, Plastikbesteck zum Beispiel. Das gab es im Mittelalter nicht. Heute möchte die Europäische Union Plastikbesteck verbieten, weil die Strände hauptsächlich davon verschmutzt sind. Hier sieht man Interdependenzketten im Detail, in dem Symbol „Plastikbesteck“. ◄
Vergleiche dazu: Brüsemeister, Thomas (2013): Soziologie in pädagogischen Kontexten. Handeln und Akteure. Wiesbaden, Kap. 2.
Auch das Beispiel Trump lässt sich in Interdependenzen denken. Trumps private Ketten von Interdependenzen werden sich relativ schnell erschöpfen, weil er in einem privaten Clan denkt und handelt. Als Milliardär könnte er vielleicht viele Menschen zu seinem Einflussbereich zählen. Aber irgendwann erschöpft sich dies – während staatliche Akteure weltumspannend mit jedem Land zusammenarbeiten können, weil es dort staatliche Büros gibt. In den Büros werden Dinge nach sachlichen Prinzipien und nicht nach Familien-Prinzipien behandelt. Dieses sachliche Ethos ist gefährdet durch Korruption, wie man am internationalen Korruptionsindex sehen kann.1 Ein Beruf ist so konstruiert, ihn unabhängig von persönlichen Privilegien ausführen zu können. Jedoch lassen sich in allen Gesellschaften Familien davon „kaufen“, die Berufsausübung durch kleine oder große Privilegien „anzureichern“. Dies beginnt mit kleinen Rabattgutscheinen, eine Kaffeemaschine zu Weihnachten, über Dienstwagen, günstigere Besteuerung von Diesel, bis zu großen Abfindungssummen bei Jobwechseln, usw. Ganze Staaten und Königshäuser sind so gebaut, dass diese Familienmacht – nämlich Privilegien zu besitzen – an Familienmitglieder weitergegeben wird, damit der eigene „Clan“ Staat und Bürger möglichst lange für sich ausnutzen kann.
1 https://www.transparency.de/korruptionsindizes/cpi-2017/cpi-ranking-2017/?L=0 (17.03.2020).
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1 Organisationsforschung und Educational Governance-Analyse
Im Kontrast dazu steht die Logik eines staatlichen Gefüges. Bei Max Weber kann man nachlesen, dass den Staat eine rational geformte Ämterstruktur ausmacht (vgl. erneut Weber 1976, S. 125–130). Innerhalb eines Amtes herrscht Weisungsgebundenheit, d. h. obere Positionen dürfen unteren Positionen Anweisungen geben, die dann auch so erfüllt werden. Es gibt keine Korruption. Und: im Vergleich zur doch relativ kleinen Welt von Trump als Privatmensch sind die Reichweiten von Staaten größer. Das gilt erst einmal für ihr Territorium, auf dem – z. B. durch ein Gesetz – potenziell alle Menschen erreicht werden. Darüber hinaus haben Staaten durch Kooperationen mit anderen auch eine internationale Reichweite. Ihre internationalen Interdependenzen sind größer als die Privatwelt eines Privatmenschen, sei er auch noch so vermögend. Nun versucht Trump, was nicht in sein Familiendenken passt, zu zerschlagen. Internationale Bündnisse sollen nichts mehr gelten. Die Reaktion ist, dass die übrigen Akteure alte Bündnisse erneuern oder neue Bündnisse ins Leben rufen. Immerhin steht die Internationalität als solche auf dem Spiel, die in Reaktion auf egoistische und zerstörerische Staaten des Nationalsozialismus und Faschismus nach dem Zweiten Weltkrieg erfunden und hochgefahren wurde. Internationale Strafgerichtshöfe, internationale Handelsabkommen, die UN: das sind alles Beispiele für international ausgerichtete Bündnisse zwischen Staaten, die gegen die weltumspannende Macht des damaligen Deutschlands und Japans errichtet wurden. Die Governance-Forschung zeigt, dass bereits seit den 1970er Jahren mit Reagan und Thatcher Staatsführungen wieder begannen, internationale Institutionen reduzieren zu wollen, da sie angeblich die private Wirtschaft hemmten oder überflüssig waren (Langer 2019). Thatcher wollte, wie Trump, außer Familien keine anderen Institutionen mehr kennen. Man behauptete, dass staatliche Institutionen die Wirtschaft hemmten. Analytisch gesehen, so die Politikwissenschaft, geben die Staaten der Wirtschaft die notwendigen Rahmenbedingungen vor, die sich als Leitplanken für das wirtschaftliche Handeln verstehen lassen. Die politikwissenschaftliche Governanceforschung fragt dann, wie viel Prozent Staat und wie viel Prozent freie Wirtschaft wohl am besten für ein Land wären. Die neoliberale Politik bekämpft dabei staatliche Institutionen, in dem sie sagt, möglichst wenig Prozent Staat seien am besten. Wie wir aber z. B. in der Dieselaffäre sehen, sind staatliche Institutionen notwendig, um Investitionen von der Wirtschaft zu fordern. Eine freie Wirtschaft hat daran manchmal wenig Interesse. Es ist ein alter Streit zwischen verschiedenen Meinungslagern in der
1.2 Zweiter Schritt der Analyse: Steuerung …
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Gesellschaft, wie weit die private Welt und die staatliche Welt, Wirtschaft und Staat, getrennt zu sein hätten oder zusammenarbeiten müssen. Diese Frage reicht bis zur Schule. Durch den Laizismus dürfen in französischen Schulen keine Kruzifixe aufgehängt werden; der Staat duldet keine Symbole anderer Teilsysteme neben sich, seien sie aus Religionen, seien sie aus der Wirtschaft. Die Governance liegt hier bei einhundert Prozent Staat. Das Schulsystem ist stark hierarchisch organisiert; oben, an der Spitze der Pyramide, ordnet man in der Zentrale in Paris vieles an. Die Arrondissements setzen dies um. Lehrkräfte werden von Paris aus bezahlt. Die Ferienzeit ist für alle gleich. Das ist eine sehr starke, im Grunde militärische Struktur, die vom Staat auf Bildung übertragen worden ist. Exkurs: Der Staat entdeckt Bildung als Handlungsfeld Etwa Mitte des 19. Jahrhunderts entdeckt der Staat Bildung für sich als Handlungsfeld (vgl. Voss 2012, am Beispiel von Luxemburg). Davor kämpften europäische Staaten und Religionen jeweils um die alleinige Herrschaft. Nach den Religionskämpfen kam es zu einem Burgfrieden. Die weltliche Herrschaft ging an den Kaiser, die religiöse Herrschaft an die Kirchen bzw. den Pabst. Danach entdeckte der Staat positive Betätigungsfelder für sich. Er konnte – mit der Geschichte des Militärs im Rücken – zeigen, dass er überall im Land gleiche Lehreinheiten, Schulen, errichten kann. Während früher die Söhne zum Militär eingezogen wurden, konnte nun mit der Errichtung von Schulhäusern etwas positives demonstriert werden. Wir sehen hier Interdependenzen des Staates zu Familien. Er konnte ihnen Söhne nehmen, oder Bildung geben. In der Perspektive der Organisationsforschung werden, wie bereits oben angesprochen, einzelne Menschen herausgehoben und für steuerungsfähig gehalten. Es geht dann weiter darum, diese Menschen mit M anagementMethoden und Konzepten auszustatten, damit möglichst Probleme erkannt und gelöst werden können. Ergänzt man jedoch die Organisationsforschung um den Ansatz der Educational Governance, dann wird sichtbar, dass die Bearbeitung von Problemen positiv Grenzen verschiebt. Gerade wenn Probleme vorliegen, lassen sich Interdependenzen erkennen. Denn, so Arthur Benz (2004, S. 127), Probleme halten sich nicht an Zuständigkeitsgrenzen von Berufen, sie machen sozusagen mit den Menschen, was sie wollen. Ein schwieriger Schüler zum Beispiel ist ein Problem für die Lehrerin, ermöglicht aber dem Lehrer aus der Sprachförderung, in seinem Job tätig zu werden. Hat der Schüler keine richtige Sprachförderung bekommen, entsteht die Frage, wo die Ressourcen dafür besorgt werden können. Gibt es überhaupt genug
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1 Organisationsforschung und Educational Governance-Analyse
Räume, um die Förderung durchzuführen? Damit ist der Schulträger berührt, der diese Räume planen oder gebaut haben muss. Weiter lässt sich fragen: Kommt ein Inklusionslehrer, wenn ja: dann nur stundenweise? Gibt es team-teaching an der Schule? Das Problem ist eigentlich gar kein Problem, sondern wird zur Handlungsoption für verschiedene Berufe. Allerdings müssen diese koordiniert werden. Governance beschäftigt sich mit beidem: grenzüberschreitenden Problemen, und wie Berufe koordiniert werden können, um ein Problem kollektiv zu lösen. Exkurs: Zellulare Berufsstruktur vs. Übergänge Lange Zeit dachte man das nicht so. Vielmehr sollte jeder Beruf nur seinen eigenen Bereich bearbeiten. In den Bildungswissenschaften sind jedoch vor etwa 20 Jahren fehlende Übergänge, zum Beispiel zwischen Kindergarten und Schule, oder zwischen Schule und Beruf, oder zwischen beruflicher Ausbildung und Weiterbildung, aufgefallen (vgl. Brüsemeister et al. 2007). Kinder, Jugendliche und ihre Familien sind bei diesen Übergängen nicht oder nicht genügend begleitet worden, sind gleichsam zwischen den Lücken der Bildungssysteme hindurchgefallen. Dann mussten neue Berufe erfunden werden, die sich grade mit diesen Übergängen beschäftigen. Das ist teilweise in den Kommunen passiert. Dort wurden die fehlenden Übergänge am deutlichsten bemerkt, da sich dort die Folgeprobleme gehäuft hatten. Neu geschaffene Stellen von so genannten kommunalen KoordinatorInnen traten an, diese Lücken zu beheben. Der Druck auf die einzelnen Berufe, mehr zusammenzuarbeiten, stieg. In diesem Sinne sind Berufe zu einer Grenzüberschreitung angehalten. Das heißt, die Kindergärtnerin geht zur Schule, und die Lehrerin geht in den Kindergarten, und beide verabreden, dass eine Kohorte von Kindergartenkindern regulär in die Schule – als aufnehmende Instanz – übergehen kann. Lange Zeit wurden Berufe ohne ihre Übergangsprobleme wahrgenommen; diese wurden aus ihrem Zuständigkeitsbereich herausdefiniert. Wie jedoch mein Forschungskollege Jürgen Kussau – Mitbegründer der Educational GovernanceForschung – zu sagen pflegte, würde sofort die Schule zusammenbrechen, würden Eltern auch nur einen Tag nicht mithelfen, die Kinder für die Schule vorzubereiten, Brote zu schmieren, Hausaufgaben mit zu betreuen, die Kinder mit zu motivieren, zur richtigen Zeit ins Bett zu bringen, und morgens wieder aufstehen lassen. Es sind also auch kleine Übergangsleistungen, die alltäglich von den Eltern für die Schule erbracht werden. Auch Kindergärten arbeiten an der Beschulungsfähigkeit von Kindern mit. Bereits nach wenigen Wochen Ferien sinkt die Beschulungsfähigkeit. Erst recht bei größeren Abstimmungslücken zwischen Kindergarten und Schule – um nur einen Übergangsbereich
1.2 Zweiter Schritt der Analyse: Steuerung …
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zu nennen – müssen sich die Bildungsanbieter etwas einfallen lassen, darauf zu reagieren. Einige Einrichtungen schicken sogar Scouts aus, um frühzeitig zu entdecken, worauf sie sich bei einer nächsten Kohorte einstellen müssen. Die Vorbereitung auf das Studium wird teilweise in die Schule hinein verlagert. Da jede Kohorte anders ist, muss sich ein Anbieter zu jedem Übergang neu informieren und seine Maßnahmen anpassen. In den Berufen ist ein gewisser Rollenspielraum eingebaut, in Übergangsbereiche hineinzugehen, d. h. den eigenen Verantwortungsbereich, den eigenen Handlungsraum so zu verstehen und so auszudehnen, dass er sich – wie in der Mengenlehre – mit anderen Berufen überschneidet. Dann können mehrere Berufe an dem Übergangsproblem arbeiten. Soziologisch ausgedrückt: es gibt nicht nur Role-Taking; umgangssprachlich wäre das ‚Dienst nach Vorschrift‘; sondern es gibt die Möglichkeit zum Role-Making (vgl. Schimank 2016, Kap. 3): ich interpretiere die Rolle erweitert; dies kreativ; Handeln ist nicht nur in eng beschriebenen Rahmen möglich, sondern auch darüber hinaus. Dies geschieht, wenn ich an Übergänge, Netzwerke, Interdependenzen, regionale Bündnisse denke. Wie uns im weiteren Verlauf des Buches noch beschäftigen wird, ist es ein wichtiger Aspekt für die Schulentwicklung, sie auf breitere Schultern zu verteilen, sie von mehreren Akteuren tragen zu lassen. Dieses Mehr an Akteuren steht in Netzwerken bereit, die allerdings auch in ihrem Wert erkannt und mobilisiert werden müssen. Beispiel Übergang Kindergarten-Grundschule
Die Übergangsforschung geht mittlerweile davon aus (Moser 2016), dass gar nicht primär die Fähigkeiten des Kindes im Übergang gefordert sind, sondern vor allem die Eltern und alle beteiligten Akteure und Instanzen mitgenommen werden müssen. Dies bedeutet, dass die Akteurkonstellation bestehend aus Kind, Eltern, abgebender Instanz, und aufnehmender Instanz, gemeinsam den Übergang und seine Probleme definiert, und durch Aushandlungen nach Lösungen sucht. ◄ Hieran wird die Wichtigkeit deutlich, in Interdependenzen und Akteurkonstellationen zu denken. Fragen zur Reflexion • Muss die Lehrkraft den Übergang zum Kindergarten privat organisieren? Oder wird das Arbeiten an Übergängen in die Schulkultur mit aufgenommen, und anerkannt, dass bestimmte Stunden dafür zu reservieren sind?
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1 Organisationsforschung und Educational Governance-Analyse
• Wenn die Lehrerin mit der Kindergärtnerin kooperiert, werden ihr dafür andere Dinge erlassen? Eine solche Abstimmung müsste in der Schule erfolgen. • Wäre es „trumpisch“, wenn der Übergang rein privat organisiert werden würde?
1.3 Governance-Prozesse auf verschiedenen Ebenen Die Soziologie kann Governance-Prozesse auf verschiedenen Ebenen beobachten: a) Interaktionsebene: Zum Beispiel kann jeder Akteur auf einer Party ein Thema seiner Wahl ansprechen. Die Gestaltungsmacht eines jeden ist hoch. b) Auf der Organisationsebene gibt es ebenfalls Governance-Prozesse. Wie viel Einfluss kann der Einzelne auf die Organisation ausüben, welche Gestaltungsmacht hat er? In der face to face-Interaktion habe ich großen Einfluss auf das Thema und den Verlauf der Interaktion. Wenn ich mich im Gespräch wegdrehe, hört der andere nach einiger Zeit auf, mit mir zu reden. Ich habe hier also großen negativen Einfluss. Andersherum auch großen positiven Einfluss: ich kann mit einer spannenden Geschichte meine Zuhörer in den Bann ziehen. In Organisationen hat der Einzelne nur noch bedingten Einfluss. Dies liegt an gesteigerten Interdependenzen der Organisationen, in a) intra-organisatorischer, und b) inter-organisatorischer Hinsicht: a) intra-organisatorisch: Diesbezüglich sind Kontakte zu anderen Organisationen und Organisationsteilen aus verschiedenen fachlichen Bereichen zu nennen. Dies wird durch Arbeitsteilung zwischen den Berufen organisiert, zum Beispiel in der Autoindustrie (Zusammenarbeit zwischen Design-, Elektrik-, Abgas-, Sound-, Umwelt-, Rohstoff-, Kosten-, Farb-, Zuliefer-, Vertriebs-ExpertInnen). Organisationen regulieren so auch die Systemintegration in der Gesellschaft entscheidend mit.
,,Systemintegration“ und ,,Sozialintegration“ • Systemintegration beinhaltet Abstimmungsprozesse von Organisationen/ Organisationsteilen untereinander. • Sozialintegration bezeichnet das Einbeziehen von Einzelnen in die Gesellschaft, auch über Rollen in Organisationen. Wenn gesellschaftliche Teilbereiche keine Organisationsrollen haben – wie es im Famlien- und Intimsystem der Fall ist –, verläuft die Sozialintegration direkt zwischen dem Einzelnen und der Gesellschaft (vgl. zur System- und Sozialintegration: Lockwood 1964).
1.4 Oligarchisierung
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b) inter-organisatorisch: Zudem ermöglichen Organisationen durch ihre Rollenvielfalt – im Idealfall: intensive – Kontakte zur Gesellschaft. Die Kontakte zur Gesellschaft verlaufen über Interaktionen zwischen verschiedenen Rollen. Stellen wir uns dazu Lehrkräfte, Schulleitung und SchülerInnen einer Schule vor: Zum Beispiel formulieren Eltern Ansprüche an die Schulleitung; Sportvereine oder Kunstinitiativen fragen Lehrkräfte und Schulleitung, ob sie das Schulgebäude für ihre Zwecke nutzen dürfen; einige Lehrkräfte organisieren einen Schüleraustausch mit einem anderen Land; die Schulleitung führt als Organisationsregel ein, dass möglichst jede Schüler-AG in der Lokalzeitung einen kleinen Artikel über das Projekt der AG lanciert; SchülerInnen solidarisieren sich öffentlich mit Benachteiligten auf der ganzen Welt, was dann bedingt durch die Medien einen gewissen Druck auf die Schule aufbaut, dass sie sich dem kollektiv anschließt. Fassen wir also kurz zusammen, dass es sehr viele Interdependenzen in einer Schule gibt, die sich in a) intra-organisatorischer, und b) inter-organisatorischer Hinsicht abspielen. Nun lässt sich weiter sehen, dass ein einzelner Interakt von mir auf der Organisationsebene all diese Interdependenzen in den Bereichen a) und b) kaum beeinflussen kann. Ich kann also nur – aber immerhin – vermittelt oder bedingt auf die Interaktionen einwirken, die ich mit meinen Mitmenschen in der Organisation habe. Die Organisationsforschung hat viele solcher Organisationsprozesse untersucht, die teilweise mit einer gewissen Eigenmächtigkeit ablaufen, welche der Einzelne nur bedingt verändern kann. Organisationsforschung und Educational Governance-Forschung sind hier eng beieinander, insofern bereits Erstere wichtige Prozesse der Eigenmächtigkeit festgehalten hat, die sich dann auch mittels Governance verstehen und erklären lassen. Einige solcher Prozesse seien nun herausgegriffen:
1.4 Oligarchisierung Einer dieser scheinbar eigenmächtigen Prozesse ist zum Beispiel Oligarchisierung. Es gibt viele Organisationen, die so genannten flache Hierarchien haben. Die Zeitung TAZ zum Beispiel hatte lange Zeit keinen Chef und keine Chefin, sondern ist als Genossenschaft organisiert. Sobald jedoch eine Organisation eine Chefetage einrichtet, tendieren die Chefs dazu, sich zu verselbständigen. Dies nennt man Oligarchisierung. Hierbei handelt es sich nicht um
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eine Charaktereigenschaft. Sondern beschrieben wird der Prozess der Loslösung und Verselbständigung einer Leitungsebene von der Basis. Viele Organisationen, zum Beispiel politische Parteien, haben solche Prozesse vorausgesehen und versuchen, sich davor zu schützen. Zum Beispiel wählt die Partei der „Grünen“ ihre Parteivorsitzenden immer nur für ein Jahr, und nicht, wie in anderen Parteien, für vier Jahre oder mehr. Man achtet darauf, die Führung an die Basis rückzubinden, damit sich möglichst keine Oligarchisierung einstellt.
1.5 Organisation ohne Organigramm Eine Variante ist also, dass bei einer bestehenden Struktur der Organisation (Partei) bestimmte Prozesse eingeleitet werden (Art der Wahl der Vorsitzenden), die eine Oligarchisierung verhindern sollen. Eine andere Variante wäre, die Struktur der Organisation weniger hierarchisch zu machen, sodass sich Ebenen nicht mehr so leicht verselbstständigen können. Dazu findet man zum Beispiel in der Literatur den Ansatz einer „Organisation ohne Organigramm“ (Pfläging 2006, S. 224–249). Dies bedeutet, dass die Organisation nur sehr wenige Ebenen oder auch nur eine einzige Ebene besitzt, sodass sich gar keine Verselbstständigung einstellen kann. Tatsächlich sind einige große Unternehmen im internationalen Kontext so aufgebaut. Sie verzichten darauf, sich ein mittleres und ein höheres Management zu leisten, und es gibt auch keine Kennzahlen, mit den Mitarbeiterinnen auf unteren Ebenen zu bestimmten Dingen angehalten werden. Stattdessen liegen Leistung und Kontrolle in einer Hand, werden von den gleichen Akteuren, die sich alle auf einer Ebene befinden, ausgeübt. Produktion und Verwaltung fallen nicht auseinander, sondern werden vom gleichen Akteur ausgeübt. Beispiel: Drogeriemarkt DM
Die MitarbeiterInnen des Drogeriemarktes DM bemerken z. B. einen starken Absatzrückgang bei einem Produkt und reagieren darauf noch am gleichen Tag durch Reduktion von Bestellungen (vgl. zu DM: Pfläging 2006, S. 80–85). Ein Umweltvorgang (Rückgang von Käufen) führt im Innern der Organisation fast ohne Zeitverzögerung zu einer Anpassung. In einem Betrieb mit Organigramm würden die MitarbeiterInnen vielleicht ebenfalls einen Einbruch von Käufen bemerken, aber dies niemandem melden, da dafür eine bestimme Abteilung (Wareneinkauf) verantwortlich ist, die aber nur alle paar Tage vorbeikommt. Diese Abteilung muss erst höhere Ebenen über den Vorgang informieren. Die Information muss auf der höheren Ebenen
1.6 Principal-agent/Herr-Knecht
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mit anderen Informationen abgestimmt werden. Dann muss die Information erst durch viele weitere Abteilungen, bis sie wieder die Basis erreicht. Da sich dort aber wieder andere Käufe ergeben haben, wundern sich die MitarbeiterInnen über mittlerweile nicht mehr recht passende Informationen der Zentrale, usf. Zu viele Ebenen im mittleren Management und zu viel Macht/Einfluss einer Zentrale können also Probleme bescheren, d. h. Informationen aus der Umwelt (ein Kaufverhalten ändert sich) nicht richtig ernst nehmen oder zu spät darauf reagieren. ◄ Nimmt man die einzelne Schule als Bezugspunkt, so scheint sie tatsächlich als flache Hierarchie, als Organisation ohne Organigramm. Einzig die Schulleitung ist herausgehoben. Gleichzeitig ist aber auch die einzelne Schule mit vielen weiteren darüber liegenden Ebenen versehen, wie wir sie im Verlauf des Buches noch kennenlernen werden. So bleibt auf den ersten Blick undeutlich, wie stark die Hierarchie in der Organisation Schule ist oder wie flach gebaut die Organisation erscheint. Wir werden jedoch unten im Punkt der Re-Spezifikation noch kennenlernen, dass eine relative Loslösung der einzelnen Schule von Vorgaben der Hierarchie grundsätzlich möglich ist. Letztlich muss im einzelnen Fall empirisch gezeigt werden, ob eine einzelne Schule mehr einer Hierarchie und Vorgaben folgt, oder ob sie sich als Organisation davon relativ emanzipiert.
1.6 Principal-agent/Herr-Knecht Ein weiterer Organisationsprozess ist principal-agent, man kann auch sagen König-Bettler, Herr-Knecht. Ein König hat gemeinhin die absolute Macht. Jedoch haben auch Bettler Einfluss, weil sie nämlich viel mehr Akteure sind, und insofern sie ein Repertoire von Handlungsweisen zur Verfügung haben. Sie müssen sich z. B. nicht ordentlich aufführen, können um den Königspalast ‚herumlungern‘. Auf diese Weise könnten sie verhindern, dass die Königskutsche das Schloss erreicht. So gesehen haben die Bettler auch eine große Macht. Auch Lehrkräfte haben diese Macht gegenüber dem Staat als Auftraggeber. Sie können zum Beispiel shirking (Drückebergerei) betreiben, das heißt sie könnten z. B. kaum beobachtbar von der Bildungspolitik einige Ziele der Schule abändern. Es mag ein Thema noch so deutlich im Curriculum stehen, schon durch die Kontextuierung, d. h. wie eine Lehrkraft ein Thema einbettet, hat sie einen eigenen Einfluss auf das Thema. Entscheidend ist, dass der Staat nicht selbst unterrichten kann, und dass er nicht genug Kontrolleure hat, das Unterrichten
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1 Organisationsforschung und Educational Governance-Analyse
zu überprüfen. Auf diese Weise ist der Organisationsprozess des shirking möglich, d. h. das stillschweigende Verschieben von Zielen der Organisation durch die Lehrkräfte, ohne dass es groß auffällt.
1.7 Loose coupling Ein weiterer Organisationsprozess beinhaltet das sog. loose coupling (Weick 1976). Damit wird erfasst, dass manche Bereiche der Organisation nur lose an die Organisation angebunden sind. Angenommen wir haben eine Firma, die Fahrräder herstellt. Dann gibt es den Versand, der ein eigenes Gebäude hat. Dort geschehen Prozesse, die nicht vollständig von der Führung kontrolliert werden, da der Versand nur lose an die Firma angekoppelt ist. Auf den ersten Blick sieht dies nach einem Nachteil für alle aus. Jedoch haben MitarbeiterInnen in der losen Kopplung auch größere Freiheiten, Dinge zu erfinden. Zum Beispiel können sie auf die Idee kommen, das Verpacken der Fahrräder zu vereinfachen. Wäre der Versand strikt an die Firma gekoppelt, wäre das vielleicht nicht möglich. MitarbeiterInnen würden vielleicht nicht auf die Idee kommen, sich eigene Gedanken zu machen. Prozesse wie Oligarchisierung oder shirking möchte man vermeiden, aber solche Prozesse passieren unter der Hand. Insofern auch ungewollte Prozesse eintreten können, hat keine Person volle Kontrolle über eine Organisation. Was aber in Organisationen grundsätzlich möglich ist, ist Gestaltung – auch wenn die Möglichkeiten dazu geringer sind als in der direkten Interaktion. Menschen in der Firma, in der Schule, können sich zusammentun, und beschließen, bestimmte Dinge anders zu machen. Der Versand verpackt die Fahrräder auf neue Art; in der Schule soll sprachlicher Förderunterricht strukturell verankert werden; Artikel aus Schüler-AGs sollen in die Zeitung. Beispiel: Planung in einer Schule
Wenn die Schule beschließt, Artikel aus Schüler-AGs möglichst zeitnah in der lokalen Zeitung erscheinen zu lassen, dann ist dies nach Luhmann (2000, S. 230) nichts anderes als Planung. Planung definiert Luhmann so, dass Prämissen festgelegt werden, wie künftig etwas entschieden werden soll. Hier im Beispiel also: immer wenn es einen guten Artikel aus einer AG gibt, soll er auch in der Zeitung platziert werden. Dafür muss sich die Schule nur ein einziges Mal entschließen bzw. eine derartige Regel festlegen. Freilich bedarf es dafür Vorüberlegungen, gegenseitigen Austausch, Beratung. Dies kann in einer Steuergruppe geschehen, in der Lehrkräfte und Schulleitung das
1.8 Re-Spezifikation
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gleiche Recht zum Sprechen haben. Die Steuergruppe legt dann diese Regel fest. Sie muss sich künftig nicht mehr mit guten Artikeln beschäftigen, da sie laut Regel quasi-automatisch in der Zeitung erscheinen sollen. Natürlich kann auch ein anderes Konsortium aus Schulleitung und Lehrkräften oder die Schulleitung allein eine derartige Regel festlegen, sprich etwas planen. Planung entlastet die Akteure von künftigen Entscheidungen; sie müssen sich mit diesen Aspekten nicht mehr beschäftigen. Allerdings müssen die Akteure (in welchem Gremium auch immer) von Zeit zu Zeit überprüfen, ob die Regel (die Planung) noch Sinn macht. ◄ Die Akteure in der einzelnen Schule nehmen also bestimmte Ereignisse zum Anlass und machen daraus von ihnen gestaltete Prozesse, die einen bestimmten Ablauf haben.
1.8 Re-Spezifikation In der Schule bezieht sich dies auch und gerade auf staatliche Vorgaben. Sie müssen sozusagen durch die eigene Gedankenwelt der Akteure vor Ort, in der einzelnen Schule, verlebendigt werden. Dies nennt Luhmann re-spezifizieren (Luhmann 2002, S. 143 f.).
Re-Spezifikation bedeutet, dass gesellschaftliche, politische, ökonomische usw. Erwartungen an die Schule gerichtet werden, dort aufgegriffen, und in etwas Kleineres umgearbeitet werden, was nur für die Mitglieder der einzelnen Organisation Schule gilt. Es geht also um einen doppelten Prozess, etwas aufzugreifen, und gleichzeitig zurückzuweisen.
Beispiel: Umgehen mit Digitalisierung
Zum Beispiel die Außenanforderung Digitalisierung. Sie ist ein riesiges, breites Thema – welches die Schule als solches gar nicht umsetzen kann. Sie muss dieses große Thema kleinarbeiten. Etwa indem sie iPads in einer Versuchsklasse einführt, und dabei vor allem auf Team-Teaching setzt. Respezifizieren meint, dass die Größe des Themas einerseits zurückgewiesen wird. Eine einzelne Schule kann nicht Digitalisierung umsetzen. Aber sie kann iPads in einer Versuchsklasse in einer bestimmten Weise einsetzen. Die Mitglieder der Organisation nehmen also das Thema dennoch auf. Aber sie spezifizieren es. Da sie das große Thema Digitalisierung gleichzeitig an die Gesellschaft
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1 Organisationsforschung und Educational Governance-Analyse
und die Bildungspolitik – die viel zu große Erwartungen haben – zurückweisen, fügt man analytisch vor das Wort spezifizieren noch ein re- hinzu: und erhält re-spezifizieren. ◄ Die einzelne Schule ist also zu einem doppelten Prozesse aufgerufen und auch in der Lage: nämlich externe Erwartungen aufzugreifen und zurückzuweisen. Im Grunde ist damit auch eine Unterwanderung von Außenerwartungen eingebaut. Nur von außen sieht das nicht so aus, weil iPads ja etwas mit Digitalisierung zu tun haben. Jedoch unterläuft die Schule im Grunde diese riesige Außenerwartung. Sie lässt sich, wie gesagt, nicht als solche umsetzen. Eine Schule kann nicht komplett digitalisiert werden, sondern muss das in kleinen Schritten selbst machen. Das heißt sie muss Erwartungen respezifizieren. In der Sichtweise von Hierarchie ist der Hauptaspekt innerhalb der Organisation, von Mitgliedern eine Folgebereitschaft zu erwarten. Diesbezüglich ist Eigenständigkeit der Akteure und sind auch Fehler nicht erwünscht, da sie als Störung begriffen werden. Die neue Organisationsforschung beginnt, diese Sichtweise zu erweitern. Es wird erkannt, dass Emanzipation und Nacherfinden der Akteure von Vorgaben mit zum Tagesgeschäft gehören (vgl. Kussau 2007). Re-Spezifikation reiht sich in solche Denkweisen nahtlos ein. Exkurs: Re-Spezifikation beinhaltet die teilweise Emanzipation vom Staat Zuerst sieht es so aus, als sei die Schule nur ein ausführender Agent, der das befolgen muss, was der Prinzipal – der Auftraggeber Staat – vorgegeben hat. Mit dem Begriff Re-Spezifikation wandert jedoch die Handlungsmacht wieder an die Akteure der einzelnen Schule zurück. Menschen können nur handeln, wenn ihnen selbst etwas sinnvoll erscheint, wenn sie es selber bearbeitet haben. Digitalisierung ist ein zu großer Sinn, als dass er als solcher umgesetzt werden könnte. Dies gilt im Grunde für alle Themen, die der Schule vorgegeben werden. Die schulischen Akteure müssen daraus ihre eigene Geschichte machen. Da dies in jeder Schule geschieht, folgt daraus, dass die Organisationen der einzelnen Schulen so unglaublich vielfältig und bunt sind. In Re-Spezifikation steckt ein Stück Emanzipation vom Staat, was zunächst einmal merkwürdig klingen mag. Jedoch, wenn Schule zur Demokratie (und zu vielen weiteren Werten mehr) erziehen soll, dann muss die einzelne Schule auch mündig, selbständig sein, und auch Fehler machen können. Eine Organisation, die nur am engen Band des Staates geführt wäre, hätte nicht die Lebendigkeit, Flexibilität, auch nicht die Fähigkeit zum Fehlermachen, um Kindern und Jugendlichen Demokratie vorzuleben und sie mit ihnen zusammen zu gestalten. Die schulischen Akteure kommen so zu einem eigenen politischen Bewusstsein,
1.8 Re-Spezifikation
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allein deswegen, weil nirgendwo steht, genau wie sie nun eine Re-spezifikation durchführen sollen. Governance beschäftigt sich also auch mit der Frage, wie unabhängig, frei, und wie abhängig, unfrei die Akteure sind. Durch Unterbegriffe wie Interdependenzen sieht man Organisationen (wie die Fahrradfirma oder die Schule) auf den ersten Blick unfrei. Durch den Begriff Respezifikation werden die Organisationen wieder frei. Es handelt sich bei einer Organisation offensichtlich um ein Gefüge mit mehreren Schichten, wie bei einer Zwiebelhaut. Das bedeutet, dass Organisationen komplex sind – auf jeden Fall komplexer als Interaktionen –, da manche Prozesse die Akteure unfreier machen, wie in der Oligarchisierung. Manche Prozesse, wie das Respezifizieren, machen Akteure wieder freier. Wie der Begriff loose coupling nahelegt, ist es Normalzustand für Organisationen, dass in ihnen nie nur ein Prozess, sondern zeitgleich verschiedene Prozesse stattfinden, die sich sogar widersprechen können. Die verschiedenen Prozesse können in verschiedenen Bereichen der Organisation vorkommen. Wenn diese Bereiche nur lose gekoppelt sind, sind die Widersprüche vielleicht nicht schädlich für die Organisation. Andererseits haben wir bei Übergängen gesehen – die ja lose gekoppelte Bereiche darstellen –, dass man festere Kopplungen anstrebt, um Kinder und Jugendliche nicht in Übergängen zu verlieren. Die Komplexität von Organisationen rührt daher, dass sie zwischen Gesellschaft und Interaktionen stehen. Sie bilden eine eigene Ebene. Aber wie in der Mengenlehre überlappen sich gleichzeitig auch die Kreise zur Gesellschaft, und zu den Interaktionen hin. Oder anders gesagt, die großen Erwartungen aus der Gesellschaft, und die vielen kleinen Erwartungen aus tagtäglichen Interaktionen müssen für sich genommen, aber auch zueinander organisiert werden – und zwar so, dass die Mitglieder der Organisation auch noch eigene Erwartungen ausbilden, und eine eigene Planung machen können. Denn die Mitglieder können nicht nur Befehlsempfänger fremder Erwartungen sein, stammen sie nun aus Politik und Gesellschaft, oder aus tagtäglichen Interaktionen, z. B. mit Eltern. Der Begriff Respezifikation macht darauf aufmerksam, dass neben der einzelnen Organisation auch die Gesellschaft gesehen wird. Die Bildungspolitik greift zum Beispiel die Erwartung der Gesellschaft auf, dass es Digitalisierung geben soll. Dies wird an Schulen weitergegeben. Die Schule wird über die Bildungspolitik und über die Eltern beständig mit zu großen Außenerwartungen konfrontiert – auf die sie aber ganz ‚cool‘ mit Respezifikation antwortet. Sie weist die Erwartungen zurück, und arbeitet sie gleichzeitig klein und um.
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1 Organisationsforschung und Educational Governance-Analyse
1.9 Prozessbezogene Organisationsforschung Ziel des Buches ist es, verschiedene Akteure dahin gehend zu untersuchen, welche Beiträge sie zur Schulentwicklung leisten. Zuerst befassen wir uns mit Akteuren, die außerhalb der einzelnen Schule stehen: Bildungspolitik, Bildungsmonitoring, Bildungsverwaltung und Schulaufsicht, Schulinspektion, Schulträger, regionales Bildungsmanagement, und kritische Öffentlichkeit. Würden angehende Lehrkräfte dieses Buch nutzen, würden sie darauf aufmerksam gemacht, dass, bevor sie Unterricht geben, einige andere Akteure zuvor tätig gewesen sind. Im ersten Teil des Buches wird von diesen ‚Außenakteuren‘ die Rede sein. Der zweite Teil des Buches geht dann auf Akteure innerhalb der einzelnen Schule ein (Schulleitung, Steuergruppe, Lehrkräfte, SchülerInnen, Eltern). Das ist schon die ganze Governance, da die verschiedenen Akteure und die von ihnen gestalteten Prozesse die Schule ausmachen, und die Akteure aushandeln, was die Schule ist. Hierbei sind die einzelnen Akteure jeweils in unterschiedlichen Prozessen aktiv. Die Prozesse bestehen aus einer Vorgeschichte (Ideen), einer Hauptgeschichte (Verfahren), und einer Nachgeschichte (Ergebnisse) (vgl. Tab. 1.2).2 Wenn man Organisation als Entwicklung begreift, dann gibt es Akteure, die am Anfang vor allem eine Idee geben. Das unternimmt insbesondere die Bildungspolitik.3 Jedoch ist sie im zweiten Stadium, wo es um die Umsetzung mittels Verfahren geht, oft nicht mehr dabei. Und im dritten Stadium, wo es um die Ergebnisse geht, meist ebenfalls nicht. Dann gibt es Akteure, die vor allem bei der Umsetzung aktiv sind. Zum Beispiel die Schulleitung, die Ideen der Bildungspolitik umzusetzen hat. Allerdings ist nicht vorgegeben, mit welchen Verfahren sie dies unternimmt. Die Tab. 1.2 Prozessbezogene Organisationsforschung b) Bedingungen Vorgeschichte
a) Strategien Hauptgeschichte
c) Konsequenzen Nachgeschichte
Handlungsrationalität
Verfahrensrationalität
Ergebnisrationalität
2Die
Zeiteinteilung ist angelehnt an die Bedingungsmatrix von Strauss/Corbin 1996. Die verschiedenen Begriffe von Rationalität sind angelehnt an Schimank (2011). 3Die Bildungspolitik ist nicht allein der Verantwortliche oder Initiator von Handlungsrationalität, auch wenn durch politische Steuerung der Eindruck entsteht, es sei so.
1.9 Prozessbezogene Organisationsforschung
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Schulleitung könnte die Idee z. B. in eine Steuergruppe einbringen, oder eine AG dazu beauftragen. Die Schulleitung achtet mittels dieser Verfahren auf Ergebnisse, sie versucht sie mit den Verfahren zu realisieren. In der Vorphase von Organisationsprozessen setzt man sich einer künftigen Handlungsrationalität aus, die in einer Idee steckt. Lehrkräfte sollen etwas können; ebenfalls sollen SchülerInnen etwas können. Heute geht man insbesondere von Kompetenzen aus. Soziologisch wäre das die Handlungsrationalität, die erreicht werden soll. Im zweiten Punkt, der Hauptgeschichte von Schulentwicklungsprozessen, geht es um Verfahrensrationalität. Wie bekomme ich die Handlungsrationalität mithilfe von Verfahren umgesetzt, wie kann sie zum Leben erweckt werden? Hier gilt es zu beachten: ‚gut gedacht ist noch nicht gut gemacht‘. Schließlich wird – drittens – die Ergebnisrationalität beobachtet. Sie kann erreicht, nicht erreicht, oder zum Teil erreicht worden sein. Insgesamt lässt sich jeder Akteur dahin gehend untersuchen, ob er mehr in Handlungsrationalität, mehr in Verfahrensrationalität, mehr in Ergebnisrationalität, oder in allen drei Teilprozessen involviert ist. Zudem lässt sich fragen: Ist der Akteur eher Teil der Hierarchie? Oder gehört er der Region und in den Einzugsbereich der einzelnen Schule? Die ersten Akteure außerhalb der einzelnen Schule sind oft in der Hierarchie angesiedelt. Dies ist bei der Bildungspolitik und der Schulverwaltung so. Die Schulinspektion ist schon mehr in der Region und im direkten Umfeld der Schule aktiv. Schulleitungen gehören zum Teil der Hierarchie an, weil sie von der Administration und der Bildungspolitik von außen adressiert und dienstverpflichtet werden. Gleichzeitig vertritt eine Schulleitung die Perspektive der Lehrkräfte der einzelnen Schule. Rollenkonflikte von Schulleitungen
Dies führt manchmal zu Rollenkonflikten. So zeigt Beate Kasper (2017) anhand von Interviews mit Schulleitungen, dass diese angehalten waren, den von der Bildungspolitik stammenden Orientierungsrahmen Schulqualität zu verwenden. Die Schulleitungen taten dies dann auch. Gleichzeitig distanzierten sie sich gegenüber den Lehrkräften vom Orientierungsrahmen. Sie machten deutlich, dass sie den Rahmen für nicht brauchbar hielten. Offensichtlich wollten sie die Lehrkräfte vor nicht gut nutzbaren Instrumenten schützen. ◄ Lehrkräfte können sich aussuchen, ob sie zur Hierarchie, zur Region, oder zu beidem gehören. Damit ist nichts anderes gemeint, als dass Lehrkräfte die Schule nach ihrem eigenen Bild gestalten können. Das geht allerdings nur zusammen
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1 Organisationsforschung und Educational Governance-Analyse
mit regionalen Akteuren, die ihnen dabei helfen. Gemeinsam können Akteure eine Schule in der Region verankern. Damit würde die Schule ein wenig von der Administration, also der Hierarchie, entkoppelt. Dann kann gefragt werden, was der Beitrag des Akteurs ist, zu einer kollektiven Handlungsfähigkeit der Schule beizutragen. Für das Ziel Schulentwicklung wäre es am besten, würden möglichst viele Akteure daran mitarbeiten; Schulentwicklung würde dann die kollektive Handlungsfähigkeit erhöhen. In der Realität unterstützen sich die Akteure jedoch nicht immer, sondern müssen gesondert voneinander arbeiten. Es variiert faktisch der Beitrag eines einzelnen Akteurs zum Kollektivziel Schulentwicklung.
Literatur Verwendete Literatur Benz, Arthur. 2004. Multilevel Governance – Governance in Mehrebenensystemen. In Governance – Regieren in komplexen Regelsystemen. Eine Einführung, Hrsg. Arthur Benz, 125–146. Wiesbaden: Springer VS. Brüsemeister, Thomas, Martin Heinrich, und Jürgen Kussau. 2007. Zur Governance von Übergängen der Qualitätsentwicklung und -sicherung im Schulwesen. In Übergänge im Bildungswesen, Hrsg. Thomas Eckert, 67–82. Münster, New York: Waxmann. Kasper, Beate. 2017. Implementation von Schulqualität: Governanceanalyse des Orientierungsrahmens Schulqualität in Niedersachsen. Wiesbaden: Springer VS. Kussau, Jürgen. 2007. Schulische Veränderung als Prozess des „Nacherfindens“. In Governance, Schule und Politik. Zwischen Antagonismus und Kooperation, Hrsg. Jürgen Kussau und Thomas Brüsemeister, 287–303. Wiesbaden: VS Verlag. Langer, Roman. 2019. A multi purpose tool? On the genesis of the “governance” concept and some consequences for theorizing educational governance. In Handbuch Educational Governance Theorien, Hrsg. Roman Langer und Thomas Brüsemeister, 15–33. Wiesbaden: Springer VS. Lockwood, David. 1964. Social integration and system integration. In Social change: Explorations, diagnosis and conjectures, Hrsg. Georg K. Zollschan und Walter Hirsch, 244–257. London: Halsted Press. Luhmann, Niklas. 2000. Organisation und Entscheidung. Opladen: Westdeutscher Verlag. Luhmann, Niklas. 2002. Das Erziehungssystem der Gesellschaft. Frankfurt a. M: Suhrkamp. Moser, Claudia. 2016. Der Übergang vom Kindergarten in die Grundschule in Oberösterreich. Dissertationsschrift. Gießen, Ms. Pfläging, Niels. 2006. Führen mit flexiblen Zielen. Beyond Budgeting in der Praxis. Frankfurt a. M.: Campus.
Literatur
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Schimank, Uwe. 2011. Organisationsblockaden als Rationalitätsfallen. In Die Rationalitäten des Sozialen, Hrsg. Andrea Maurer und Uwe Schimank, 163–179. Wiesbaden: VS Verlag. Schimank, Uwe. 2016. Handeln und Strukturen. Einführung in die akteurtheoretische Soziologie. Weinheim, Basel: Beltz. Schimank, Uwe und Ute Volkmann. 1999. Gesellschaftliche Differenzierung. Bielefeld: Transcript. Strauss, Anselm, und Juliet Corbin. 1996. Grounded Theory. Grundlagen Qualitativer Sozialforschung. Weinheim, Basel: Beltz. Voss, Peter. 2012. Der bürokratische Wendepunkt von 1843: Die Primärschule im Prozess der Luxemburger Nationalstaatsbildung des 19. Jahrhunderts. In Die verwaltete Schule: Geschichte und Gegenwart, Hrsg. Andrea Vincenti und Michael Geiss, 53–70. Wiesbaden: VS Verlag. Weber, Max. 1976. Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie. Tübingen: Mohr. Weick, Karl E. 1976. Educational organizations as loosely coupled systems. Administrative Science Quarterly 21:1–19.
Weiterführende Literatur Maag Merki, Katharina, Roman Langer, und Herbert Altrichter. Hrsg. 2014. Educational Governance als Forschungsperspektive. Strategien. Methoden. Ansätze. Wiesbaden: Springer VS. Langer, Roman und Thomas Brüsemeister. Hrsg. 2019. Handbuch Educational Governance Theorien. Wiesbaden: Springer VS. In beiden Büchern finden sich weiterführende Hinweise zur Perspektive von Educational Governance, einmal bezogen auf Methoden, sodann bezogen auf Theorien.
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Bildungspolitik
Zusammenfassung
In diesem Kapitel wird der Akteur Bildungspolitik vorgestellt. Die Handlungsorientierung dieses Akteurs richtet sich an der politischen Machbarkeit von Programmen aus. Diese Programme sollen das Schulsystem legitimieren, indem bestimmte Leistungen des Schulsystems öffentlich dargestellt werden. Die Bildungspolitik hat die Aufgabe, bestimmte Daten des Schulsystems auszuwählen und der Öffentlichkeit darzulegen. Eine Funktion, die eine große Aufgabe bedeutet. Das Schulsystem als Ganzes zu legitimieren, die Rechenschaft gegenüber Öffentlichkeit und Gesellschaft zu übernehmen: Das bedeutet permanenten Druck, das Schulsystem gut dastehen lassen zu müssen. Deshalb darf Kritik möglichst von vornherein keine Rolle spielen, wenn ein neues Reformprogramm aufgelegt wird. Wenn etwas öffentlich kritisiert wird, ist es zu spät. Bildungspolitik versucht deshalb, das Schulsystem so darzustellen, bzw. die Handlungsrationalität, die sich dieser Akteur ausdenkt, so aussehen zu lassen, dass es nicht negativ auf ihn zurückfällt. Die soziologische Erklärung dafür ist, dass das Tun der Bildungspolitik neben der Herstellung von Sichtbarkeit für die Öffentlichkeit auch Eigeninteressen berührt. BildungspolitikerInnen wollen in der Regel ihren Job eine Zeitlang weitermachen; dies wird über Wahlen organisiert. Im demokratischen System haben sie die Rolle und das Amt der BildungspolitikerIn auf Zeit erhalten. Nach einer Amtsperiode – oder auch mittendrin, aufgrund von öffentlichen Protesten – kann diese Rolle auch abgewählt werden, was einen Druck während der Berufsausübung bedeutet. Dennoch müssen und wollen Akteure der Bildungspolitik Programme erfinden, und dies ist nicht einfach. Denn sie müssen sie so konzipieren, dass sie das Gesamtsystem legitimieren und gleichzeitig als ErfinderInnen des Programms © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 T. Brüsemeister, Soziologie in pädagogischen Kontexten, https://doi.org/10.1007/978-3-658-04305-6_2
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2 Bildungspolitik
ihren Job behalten. Akteure der Bildungspolitik sind wenig daran interessiert, sich schon Verfahrensrationalitäten auszudenken, oder Bezüge zwischen der Handlungsrationalität und der Ergebnisrationalität herzustellen. Der „Erfolg“ eines Programms wird nicht erst abgewartet, ob sich zu dem Programm auch die passenden Umsetzungsverfahren finden, oder ob sich gar die Ergebnisrationalität so einstellt, wie es die Handlungsrationalität prophezeit. Vielmehr wird bereits die Einführung eines Programms als Erfolg dargestellt. Fragen zur Reflexion • Ist es ein Problem von Politik allgemein, dass keine ausreichenden Bezüge zwischen Handlungsrationalität, Umsetzungsverfahren, und Ergebnisrationalität hergestellt werden? • Wäre es nicht klüger, eine Position für einen Akteur zu schaffen, der die Handlungsrationalität mit-konstruiert, aber auch bei der Verfahrens- und Ergebnisrationalität involviert ist? Beispiel: Digitalisierung, statt ‚von oben‘, einmal ‚von unten‘ gedacht
Für die Frage, wie ein Akteur nicht nur bei der Handlungsrationalität dabei ist, sondern auch bei der Verfahrens- und der Ergebnisrationalität, ist es offensichtlich entscheidend, wie sich ein Akteur eine Maßnahme denkt. Dies kann ‚von oben‘ geschehen, aus Sicht der Hierarchie. Oder ‚von unten‘, aus Sicht der Akteure aus den Schulen oder der Region. Letzteres geschieht mitunter beim Thema Digitalisierung, indem sich mehrere Universitäten vernetzen. Dies muss nicht immer über die Präsidien, also die Spitze der Hierarchie verlaufen, sondern erfolgt in diesem Beispiel über die Basis einzelner Engagierter in den jeweiligen Universitäten. Auch Lehrkräfte kümmern sich teilweise selbst um Netzwerke, z. B. in dem sie den Austausch mit einer ausländischen Partnerschule, oder eine Sportoder eine Musik-AG organisieren, oder mit KollegInnen und der benachbarten Schule Unterrichtskonzepte austauschen. Wenn die gesamte Schule mitträgt, dass bestimmte Unterrichtsprogramme durchgeführt werden, holt man sich zur Unterstützung weitere Akteure ins Boot, zum Beispiel die Schulaufsicht. Die einzelne Schule ist dann von vornherein der Hauptakteur. Sie allein bestimmt, wie andere Akteure ihr helfen. In derartigen Fällen einer ‚von unten‘ organisierten Initiative ist es sehr wahrscheinlich, dass hohe Interessen bestehen, alle drei Rationalitäten beobachten und kontrollieren zu wollen. Das heißt in Kurzform: Wenn ich schon eine Idee habe (= Idee für Handlungsrationalität), dann will ich sie auch
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umsetzen (benötige dann entsprechende Verfahrensrationalitäten als Gehilfen), und möchte ebenfalls wissen, was herauskommt (Ergebnisrationalität). Dagegen ist es bei Initiativen, die von ‚von oben‘, der Hierarchie, ausgehen, sehr wahrscheinlich, dass etwas anderes als die im Programm gewünschte Handlungsrationalität herauskommt. Grund dafür ist meistens, dass die Bildungspolitik eine breite Mitarbeit anderer Akteure gar nicht vorsieht, sondern sich auf wenige meint konzentrieren zu können. Diese wenigen anderen Akteure können vielleicht auch wenig bis nichts zu Verfahrens- und Ergebnisrationalitäten beitragen. Das wäre ein Grund dafür, weshalb sich die initiierende Bildungspolitik von vornherein gar wenig über Verfahrens- und Ergebnisrationalitäten interessiert. ◄ Bildungspolitik versucht sicher nicht absichtlich, wenig Gewicht auf die Verfahrens- und Ergebnisrationalität zu legen, wenn ein Programm ins Leben gerufen wird. Denn sich Programme auszudenken, die die Handlungsrationalität verändern sollen, ist bereits eine komplexe Aufgabe. Es z. B. müssen politische Mehrheiten ausgelotet werden, damit ein Programm überhaupt mehrheitsfähig ist. Hierbei muss vielleicht über Parteigrenzen hinweg gearbeitet werden. Programme zu erfinden bedeutet weiter, den Horizont – den politischen Möglichkeitsraum – nach Optionen zu durchleuchten. Kann vielleicht ein altes Programm, das bislang nicht eingesetzt werden konnte, nun realisiert werden? Ist das angedachte Programm zur jetzigen Zeit wirklich das richtige, ist es ein wichtiges Programm? Berücksichtigt werden muss auch, dass zu einer Zeit immer nur ein Programm und nicht zweites ins Leben gerufen werden kann. Doch welches Programm ist das richtige für die jeweilige Zeit? Und welche Kosten entstehen, wenn man ein zweites Programm nicht gleichzeitig durchführen kann? Programme müssen sodann auch von den weiteren Akteuren des Schulsystems akzeptiert werden. Hierbei können z. B. Verwaltungsabteilungen helfen, vor der Initiierung eines Programms die Akzeptanz auszuloten, indem sie z. B. auf der Ebene des Landes eine Versammlung einberufen. Schließlich müsste die Bildungspolitik auch reflektieren, welche Effekte es hat, wenn mehrere Programme zeitlich aufeinander folgen. Dabei sollte darauf geachtet werden, dass sich Wirkungen von Programmen nicht gegenseitig aufheben, und dass Programme sich nicht stören oder widersprechen. BildungspolitikerInnen sind mitunter juristisch ausgebildet und denken von daher auch juristisch. Aktuelle Untersuchungen dazu gibt es jedoch nicht. Wenn BildungspolitikerInnen juristisch denken, gehen sie davon aus, dass ein erlassenes Gesetz gilt. Es wird jedoch nicht überprüft, ob es verbreitet und umgesetzt wird.
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Denn juristisch gesehen muss ein Gesetz nicht empirisch bewiesen werden, um von seiner Geltung auszugehen. Jedoch ist damit die Frage, wie viele Akteure des Schulsystems einem Gesetz folgen, nicht beantwortet. Ein Akteur, der von der juristischen Gültigkeit ausgeht, und nicht nach der Reichweite der faktischen (empirischen) Umsetzung fragt, könnte Opfer seiner eigenen Oligarchisierung sein, d. h. einer von der Basis abgehobenen Denkweise. Weiter darf sich Bildungspolitik auch möglichst wenig von internationalen Moden beeinflussen lassen. Vor ein paar Jahren z. B. war die Hattie-Studie populär (2009).
Wissensbaustein: Internationale Moden bei Schulreformen
Um zu zeigen, wie wichtig die Rolle von Lehrkräften für die Schule ist, griff Hattie viele einzelne Studien auf, die sich mit Lehrkräften beschäftigten. Durch eine derartige Meta-Studie wurde die hohe Bedeutung von Lehrkräften herausgestellt. In Deutschland hatten viele Ministerien seit den 1980er Jahren Programme für die Veränderung der Organisationsstruktur der Schule erarbeitet, was angesichts von Pisa 2000 nun nicht mehr so wichtig erschienen. Damals wurden Kompetenz-Messungen der SchülerInnen als neuer, besserer Weg erachtet. Nach Jahrzehnten des Messens von Kompetenzen wurde dann mit Hattie attraktiv, bei den Lehrkräften anzusetzen. Heute spielt wiederum Hattie nicht mehr die Rolle, wie noch zu seinen Boom-Zeiten. Heute scheinen Themen wie Inklusion und Regionalisierung wichtiger.
Tipp Einen Überblick über Schulreformen aus soziologischer Sicht findet sich in Brüsemeister (2019). Die inhaltliche Wichtigkeit jedes einzelnen Themas, das in den internationalen Moden aufgegriffen wurde, lässt sich schwerlich bestreiten. Kritisiert werden muss jedoch, dass diese Themen nicht durchgängig und langfristig mit Fragen der Schulentwicklung der Schule verbunden wurden und werden. Bildungspolitik zeigt den Schulen nicht, was sie tun müssen, um die Themen in ihrer Organisation umzusetzen, und welche Folgerungen einzelne Themen für ihre Organisation haben. Vielmehr entsteht das Gefühl, als würden immer wieder neue ‚Modethemen‘ über die Schulen ‚ausgeschüttet‘ – mindestens die Schulleitung ist verpflichtet, zu einem neuen Themenprogramm Stellung nehmen zu müssen.
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Gleichzeitig können BildungspolitikerInnen nicht selbst Darstellungen für das Schulsystem erfinden, sondern sie müssen respezifizieren. Sie müssen aus dem Material, das man ihnen gibt, Legitimität ‚basteln‘. Insofern ist die Bildungspolitik stark abhängig von bzw. interdependent mit anderen Akteuren. In den Handlungsprogrammen, die die Bildungspolitik erfindet, sieht man dies jedoch kaum. Vielmehr scheint der Akteur als Programmgeber herausgehoben und weitgehend unabhängig. Fazit
Hauptaufgabe der Bildungspolitik ist es, für Legitimation des Schulsystems zu sorgen. Dazu denkt sich die Bildungspolitik Programme aus, die machbar sein müssen. Diese Eigensinnigkeit des Akteurs, an politischer Machbarkeit und Legitimität orientiert zu sein, macht es dem Akteur nicht leicht, sich mit anderen Menschen und Instanzen auszutauschen. Bildungspolitik ruft mit bestimmten Programmen eine bestimmte Handlungsrationalität ins Leben, die „gut“ für Schulen sein soll. Vielfach scheint der Akteur – zumindest in Deutschland – jedoch kaum mehr Kraft und Ressourcen zu haben, die Realisierung eines Programms zu begleiten (Verfahrensrationalität), oder gar nach einer gewissen Zeit Anwendung und Praxis zu resümieren (Ergebnisrationalität). Hier liegt ein Organisationsdefizit vor. Es hat seinen Grund darin, dass die Umsetzung der Handlungsrationalität nicht oder nicht genügend kontrolliert werden kann. Kapazitäten für eine konsistente Beobachtung von Verfahren und Ergebnissen einzelner politischer Maßnahmen scheinen im Schulsystem Deutschlands zu fehlen. Ebenfalls ist kaum vorgesehen, dass die einzelnen Schulen der Bildungspolitik Impulse geben. So droht der Bildungspolitik das Schicksal der Oligarchisierung; der Akteur koppelt sich in seinen Gedanken und Ideen von der Basis ab. Hierbei haben wir auch gesehen, dass es der Bildungspolitik offensichtlich schwer fällt, einmal nicht auf internationale Moden zu setzen, sondern einen eigenen Weg zu verfolgen. In den Schulen entsteht das Gefühl, allein gelassen worden zu sein. Für die kollektive Handlungsfähigkeit einer Schulentwicklung, in der möglichst viele Akteure an einem Strang ziehen, sieht es also gar nicht so gut aus. Dabei sind grundsätzlich Ziele und Programme, die eine bestimmte Handlungsrationalität skizzieren, unabdingbar. Für den Stand der Forschung über die Bildungspolitik lässt sich sagen: Zwar wird über Programme der Bildungspolitik einiges geschrieben; jedoch gibt es zum Akteur Bildungspolitik selbst nur wenige empirische Studien.
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Für die künftige Forschung sind damit viele Fragen aufgeworfen, z. B.: Wie viele Männer, wie viele Frauen sind in der Bildungspolitik tätig; wie lange wollen sie ihren Job ausüben – mit welchen Zielen –; welche Schwierigkeiten erleben sie in der Durchsetzung aktuell ‚on the job‘; welches Amtsverständnis prägt sie; wie kooperativ sind sie; was sind ihre Vorstellungen zur Zukunft des Schulsystems; was streben sie pro Legislatur für das Schulsystem an; was möchten sie auf jeden Fall vermeiden; was ist ihre größte Angst; und viele andere Fragen mehr. ◄
Literatur Verwendete Literatur Brüsemeister, Thomas. 2019. Schulreform aus der Perspektive der soziologischen Bildungsforschung. In Schulreform. Zugänge, Gegenstände, Trends, Hrsg. Nils Berkemeyer, Wilfried Bos, und Björn Hermstein, 34–45. Weinheim, Basel: Beltz. Hattie, John. 2009. Visible learning. A synthesis of over 800 meta-analyses relating to achievement. London: Routledge.
Weiterführende Literatur Berkemeyer, Nils, Wilfried Bos, und Björn Hermstein. Hrsg. 2019. Schulreform. Zugänge, Gegenstände, Trends. Weinheim, Basel: Beltz. Das Buch gibt einen umfassenden Überblick zur Bildungspolitik und auch weiteren Akteuren bezüglich verschiedener Schulreformen. Sie werden untergliedert nach unterschiedlichen Zugängen an Theorien und Disziplinen, und nach der Geschichte von Reformen, vorgestellt nach verschiedenen Zeiträumen.
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Bildungsmonitoring
Zusammenfassung
In diesem Kapitel wird das Bildungsmonitoring angesprochen. Bildungsmonitoring ist ein relativ junger Akteur. Er übernimmt vermittelnde Aufgaben zwischen Wissenschaft und Bildungspolitik. Im letzten Kapitel wurde die Bildungspolitik vorgestellt und teilweise auch schon die Bildungsverwaltung gestreift. Bevor die Bildungsverwaltung untersucht wird, ist vorher ein weiterer Akteur zu nennen, da er im Mehrebenen-System direkt eine Ebene unter der Bildungspolitik steht. Er schiebt sich – und das ist das Bildungsmonitoring – als intermediärer Akteur zwischen die Bildungspolitik und die Bildungsverwaltung. Damit werden vermittelnde Aufgaben dieses Akteurs bereits angedeutet. Früher kannte man nur Bildungspolitik und Bildungsverwaltung, heute wurde das Bildungsmonitoring dazu gesellt. In den 1970er Jahren gab es Verwaltungsabteilungen, die Bildungsplanung gemacht haben. Sie haben sich vor allen Dingen mit Strukturfragen beschäftigt, insbesondere der Verzahnung zwischen Schulsystem und Beruf (vgl. Schlegel 2003). Neuere Monitoringabteilungen haben gegenüber solchen Bildungsplanungsabteilungen erweiterte Aufgaben. Diese bestehen in einem Berichtswesen, das heißt es werden Daten zu verschiedenen Systemebenen generiert. Da es um wissenschaftliche Daten über Schule und Systemebenen geht, ist eine wissenschaftliche Tätigkeit gefordert. Dazu kommt eine politische Tätigkeit. Diese wissenschaftlichen Daten werden für die Politik aufbereitet, kleingearbeitet, respezifiziert, sodass die Politik mit den Daten etwas anfangen kann. Wobei die strategischen Entscheidungen, die dann die Bildungspolitik mit diesen Daten trifft, wiederum rein der Politik © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 T. Brüsemeister, Soziologie in pädagogischen Kontexten, https://doi.org/10.1007/978-3-658-04305-6_3
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obliegen. Das Monitoring trifft selbst keine strategischen Entscheidungen. Jedoch ragt die Art der Berichte in die Entscheidungsfähigkeit der Bildungspolitik hinein. Also übt das Monitoring einen Einfluss auf die Bildungspolitik aus. Geben zum Beispiel Monitoringabteilungen der Politik zu ausführliche oder zu komplizierte Empfehlungen, dann greift die Politik sie wahrscheinlich nicht auf. Die Entscheidungsempfehlung darf aber auch nicht zu einfach sein. Man muss der Politik wirklich auch Alternativen bieten können, zwischen Varianten zu wählen, sodass auch wirklich etwas entschieden werden kann. Es müssen also offene Punkte im Monitoring sein, die noch nicht zu Ende entschieden worden sind, sodass die Politik auch etwas zu tun hat. Monitoring kann nicht die Arbeit der Politik machen, aber sie kann sie vorbereiten. Diese Vorbereitung ist anders als die früheren Bildungsplanungsabteilungen, weil jetzt die Datenbasierung dazu kommt. Das ist insbesondere mit PISA 2000 im Rahmen der heutigen evaluationsbasierten Steuerung wichtig. Damit übernimmt Deutschland oder das deutschsprachige Monitoring internationale Standards der evaluationsbasierten Steuerung.
Wissensbaustein: Evaluationsbasierte Steuerung (Altrichter und Heinrich 2006)
Eine evaluationsbasierte Steuerung beinhaltet folgende Elemente: • Die Einführung von Bildungsstandards, die als Kalibrierungssystem, als Maßstab gelten, als Bezugspunkt für durchgeführte Testungen. Im Zuge von Pisa wurden von der Kultusministerkonferenz solche Standards erlassen. • Zweitens regelmäßige Schülerleistungstests. • Drittens eine externe Evaluation der Schulen durch die Schulinspektion. • Weiter beinhaltet die evaluationsbasierte Steuerung einen partiellen Umbau der Schulaufsicht, die die Schulen anschließend dahin gehend beraten sollen, welche Maßnahmen aus den Inspektionsberichten zu ziehen sind. • Es wird eine verstärkte Autonomie der Einzelschule vorgegeben, um von der Schule Rechenschaft verlangen zu können. Das Monitoring hat die Aufgabe, diese Rechenschaftslegung der einzelnen Schulen – insbesondere mittels Daten zu Schülerleistungen – zu initiieren, und aus den gesammelten Daten Empfehlungen für die Politik zu schlussfolgern.
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Dieser Steuerungskreislauf wurde von der politischen Ebene aus initiiert. Ob die Rechenschaftslegung auch tatsächlich funktioniert, ob Lehrkräfte und Schulleitung tatsächlich ausgebildet worden sind, Rechenschaft abzugeben, wird jedoch nicht berücksichtigt. Mit dem Versuch seit PISA 2000, das Schulsystem auf wissenschaftlichen Daten basieren zu lassen, gibt die Bildungspolitik den einzelnen Schulen eine erweiterte Autonomie. Damit verschiebt sie die Aufgabe der Rechenschaftslegung auf die einzelnen Schulen. De jure – also juristisch gesehen – hat nach wie vor die Bildungspolitik die Verantwortung, das Schulsystem zu legitimieren. Faktisch verschiebt sie aber diese Frage auf die Schulen, in dem sie nun von ihnen eine Rechenschaftslegung verlangt, ob eine hinreichende Qualität von SchülerInnen-Leistungen hergestellt wurde. Wie sich einmal ein Akteur aus der Bildungspolitik ausdrückte, sind dadurch Aussagen möglich wie die folgende: „Das Schulsystem ist gut, aber der Unterricht ist schlecht.“ Auf diese Weise verschafft sich die Politik eine weiße Weste, da ja die Lehrkräfte durch ihren Unterricht für die Qualität der SchülerInnen-Leistungen verantwortlich sind. Infrage steht jedoch, ob die Schulen genug Ressourcen und Fortbildungen erhalten haben, um diese Autonomie auch erfüllen und die Qualität von Unterricht erhöhen zu können. Exkurs: Steuerung durch Anomie Werden diese Mittel nicht gegeben, sondern nur die Ziele, dann werden die Schulen durch Anomie gesteuert: Man hält ihnen vor, die Ziele nicht erreicht zu haben, verweigert ihnen aber die Mittel dazu. Das ist nach Robert K. Merton (1938) die Definition von Anomie. In einer solchen Akteurskonstellation wäscht sich die Politik die ‚Hände in Unschuld‘, da sie nachweislich alles getan hat, was möglich war; es wurden viele neue Programme erfunden. In Wirklichkeit bedeutet dies eine Nichtsteuerung, d. h. keine Steuerung. Wichtig ist auch, die Art der Daten zu betrachten, die das Monitoring für seine Arbeit braucht. Die Besonderheit ist, dass das Monitoring nicht Daten zu einzelnen Schulen benötigt, sondern zu mehreren Schulen (Bähr 2006), zum Beispiel nach Schularten untergliedert. Das heißt, mithilfe dieser aggregierten Daten ist die Funktion für die Bildungspolitik, bestimmte Bereiche von SchülerInnen-Leistungen der Öffentlichkeit zur Legitimation vorzulegen, erfüllt. Es bedeutet, man muss nicht in die einzelne Schule hineinschauen. Dies hätte eine Störung der Entwicklungsfähigkeit der einzelnen Schulen zur Folge, für die die Schulleitung die interne Verantwortung trägt. Wenn bestimmte Lernprozesse mit den Lehrkräften im Rahmen von Schulentwicklung durchgeführt werden, die eine Zeit benötigen,
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dann kann der Systemebene nicht immer zwischendurch über Lehrkräfte oder SchülerInnen berichtet werden. So würden diese behindert oder gestört. Bildungspolitik sollte also nicht mit Weisungen an das Monitoring herantreten, Daten von einzelnen Schulen haben zu wollen. So würde die innerschulische Loyalität zwischen Schulleitung, Lehrkörper und SchülerInnen untergraben.
Wissensbaustein: Ownership der Daten
In der Schweiz wurde schon relativ früh erkannt, dass die ownership der Daten bei den Schulen liegt und das Bildungssystem nur aggregierte Daten zu den Schulen benötigt. Insbesondere ist Konstantin Bär, Abteilung Bildungsplanung des Kantons Zürich, in einem Aufsatz von 2006 darauf eingegangen.
Nun zur eigentlichen Kommunikationsart des Monitorings. Sie besteht darin, dass die Wissenschaft mit den Augen der Politik gedeutet wird. Es erfolgt eine erste Brechung oder Respezifikation. Insofern haben wir es hier nicht mit Bildungsforschung zu tun. Weil das Monitoring die wissenschaftlichen Befunde zu Schulen schon mit den Augen der Politik deutet, auf machbare Reformen oder Reformschritte hin untersucht, wird gleichzeitig die Politik mit den Augen der Wissenschaft beraten. Es gibt eine vermittelnde Funktion zwischen Wissenschaft und Politik. Das bedeutet, Bildungsmonitoring setzt im Grunde beide Brillen auf und informiert die jeweils andere Seite mit den Augen der jeweiligen Seite. Es werden wie in einem Reagenzglas zwei verschiedene Stoffe zu einer Mixtur zusammengebracht, nämlich einmal wissenschaftliche Argumente, und dann die Sichtung und Gewichtung dieser Argumente mit dem Blick auf die Möglichkeiten der Politik. Insofern kann das Monitoring der Bildungspolitik ein Orientierungswissen und eine Kombinationsempfehlung geben, jedoch nie selbst entscheiden, weil dies die Aufgabe der Bildungspolitik bleibt. Jedoch kann das Monitoring ein Programm so durchführbar machen, dass es bei der Politik auch ankommt und dann auch übernommen wird. Diese Übersetzungsaufgabe, das heißt die Einspeisung und Übersetzung pädagogisch-wissenschaftlicher Argumente in politische Entscheidungsprozesse, ist eine eigene Profession, die sich herausgebildet hat. Im Zuge dessen gibt es einen Unterschied zu früher, als es nur Bildungspolitik und Administration – Letztere als juristische Durchführungsverwaltung – gab. Mit Akteuren des Monitorings kommt noch eine stärkere wissenschaftliche
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Behandlung von Problemen und Möglichkeiten durch Datenbasierung hinzu. Für diese Datenbasierung ist das Monitoring verantwortlich. Weil die Politik nicht Wissenschaft ist, ist das Monitoring zuständig dafür, der Politik klarzumachen, was diese wissenschaftlichen Daten politisch bedeuten. Die letzte Entscheidung trifft dann die Politik. Schlägt das Monitoring der Politik Programme vor, sollten zudem vorab auch die Bedingungen der Umsetzung erörtert werden. Im Idealfall werden dann mit den Akteuren, die das Programm betrifft, Vorgespräche geführt. In der Schweiz nennt man dies „Vernehmlassung“, in Deutschland würde man es „Aushandlung“ oder „Anhörung von Gruppen“ nennen. Dazu gehören zum Beispiel Elternverbände und lokale Akteure. Auch die Frage, wie die Schulämter reagieren, wäre vom Monitoring vorab zu berücksichtigen, wenn das Monitoring der Politik ein bestimmtes Programm vorschlägt. Es werden nicht alle Programme, die das Monitoring der Politik offeriert, von der Politik aufgegriffen. Jedoch scannt das Monitoring die politische Gegenwart jeweils auf neue Möglichkeiten hin ab, ob alte Programme noch einmal vorgeschlagen werden können, wenn die Gelegenheitssituation gerade günstig ist. Es kann sein, dass der politische Moment für ein bestimmtes Programm noch nicht da war, oder dass das Programm noch nicht reif genug war, und vielleicht durch kleine, aber entscheidende Modifikationen dann beim zweiten Anlauf erfolgversprechend umgesetzt werden kann. Zudem ist die Kommunikationsart des Monitorings anzusprechen und wie sich diese Art der Kommunikation von den Lehrkräften unterscheidet. Hier gibt es einen Unterschied bezüglich wissenschaftlicher Deutung und Datenbasierung des Monitorings. Zwar ist die Lehramtsausbildung wissenschaftsbasiert, aber wir wissen um die Befunde: Nach dem ersten Praxisschock wird viel von der Wissenschaft nicht mehr wahrgenommen. Die Lehrpraxis hat eine eigene Professionslogik, die nur noch bedingt wissenschaftlich eingefärbt ist. Also unterscheidet sich die Kommunikationsart zwischen Monitoring und Lehrkräften bezüglich Wissenschaftlichkeit. Was Lehrkräften ebenfalls fremd ist, ist die Evaluation von Praxis. Jedoch ist dies die Haupttätigkeit von Monitoring. Es werden verschiedene Handlungsund Prozessbereiche des Schulsystems untersucht, mit Daten belegt, und dann der Politik vorgelegt. Dieser Tätigkeitsbereich muss befremden, wenn nicht genau getrennt wird, welche Daten der Schule gehören. Es muss für alle Akteure klar sein, dass das Monitoring nur aggregierte Daten benötigt, das heißt, das Monitoring ist ein ‚Freund der Schule‘, weil es keine schulbezogenen Daten zur einzelnen Schule sammelt und den Lehrkräften etwas wegnimmt. Es geht immer um Berichte über mehrere Schulen.
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Neu ist ein kommunales Monitoring. Allerdings wird es nicht von der Schulbehörde getragen, sondern von der Kommune. Hier hat das Monitoring eine andere Funktion, nämlich die Möglichkeit, die Verzahnung zwischen Schule und Stadtteil, also dem Sozialraum, aufzeigen und den Schulen darlegen zu können, welche im Stadtteil helfende Akteure für die Schule vorhanden sind. Das Monitoring hat hier viel schulnähere Bezüge.
Sozialraum In der Sozialen Arbeit versteht man darunter das Beziehungsnetz eines Akteurs. Statt eine Hilfe beim Einzelnen anzusetzen, sucht man sein Beziehungsnetz einzubeziehen und als Stärke zu sehen (Früchtel et al. 2012). Sozialräume beinhalten materielle Rahmen- und Lebensbedingungen, ebenso sind sie Bedeutungs- und Aneignungsräume. Nach Anselm Strauss (2010) (und NachfolgerInnen) werden diese Bedeutungen in konflikthaften Prozessen ausgehandelt. Tatsächlich kann man vom einem lokalen Bildungsmonitoring einiges erwarten. Da es Daten zu einzelnen Stadtteilen generiert, lässt sich mit seiner Hilfe beobachten, wie es BildungsnutzerInnen aktuell geht, wie es ihnen künftig gehen sollte, und welche kleinteiligen Prozesse dafür angestoßen werden müssten. Das lokale Bildungsmonitoring wünscht sich also nicht nur eine bestimmte Handlungsrationalität, sondern beobachtet auch passende Verfahrensrationalitäten, das heißt die Umsetzung von Zielen im Stadtteil und für die Schulen. Auch die Ergebnisrationalität wird im nächstfolgenden Monitoring-Bericht erfasst. Viele Kommunen haben solche kommunalen Bildungsberichte in den letzten Jahren eingesetzt. Diese Berichte sind kleinteilig und viel weniger umfangreich als die Bildungsberichte der Länder, die oft hunderte von Seiten umfassen. Manchmal sind es nur wenige Seiten, auf denen aber wichtige Punkte stehen, die von der Kommune alle zwei Jahre überprüft werden können. Viele Indikatoren auf Bundes- oder Landesebene sind so allgemein, dass einzelne Kommunen oder Kreise darin nicht vorkommen. Das ist im kommunalen Bildungsbericht anders, denn hier haben Kreise und Städte die Möglichkeit, sich eigene Indikatoren für die Entwicklung auszudenken. Der Entwicklungsfortschritt lässt sich von Bericht zu Bericht feststellen. So ist das lokale Bildungsmonitoring dezentral und kann deutlich mehr Schulen helfen.
Literatur
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Literatur Verwendete Literatur Altrichter, Herbert, und Martin Heinrich. 2006. Evaluation als Steuerungsinstrument im Rahmen eines „neuen Steuerungsmodells“ im Schulwesen. In Evaluation im Bildungswesen. Eine Einführung in Grundlagen und Praxisbeispiele, Hrsg. Wolfgang Böttcher, Heinz Günter Holtappels, und Michaela Brohm, 51–64. Weinheim, München: Juventa. Bähr, Konstantin. 2006. Erwartungen von Bildungsadministrationen an Schulleistungstests. In Rückmeldung und Rezeption von Forschungsergebnissen – Zur Verwendung wissenschaftlichen Wissens im Bildungssystem, Hrsg. Harm Kuper und Julia Schneewind, 127–141. Münster, New York: Waxmann. Früchtel, Frank, Wolfgang Budde, und Gudrun Cyprian. 2012. Sozialer Raum und soziale Arbeit. Fieldbook: Methoden und Techniken. Wiesbaden: VS Verlag. Merton, Robert K. 1938. Social structure and anomie. American Sociological Review 3 (5): 672–682. Schlegel, Jürgen. 2003. Die Zukunft von Bildung und Arbeit – zu den Aufgaben des Bildungswesens in einer alternden und schrumpfenden Gesellschaft. In Bildung vor neuen Herausforderungen. Historische Bezüge – Rechtliche Aspekte – Steuerungsfragen – Internationale Perspektiven, Hrsg. Hans Döbert, Botho von Kopp, Renate Martini, und Manfred Weiß, 91–101. Neuwied: Luchterhand. Strauss, Anselm. 2010. Continual permutations of action. London: Routledge.
Weiterführende Literatur Niedlich, Sebastian, und Thomas Brüsemeister. 2012. Bildungsmonitoring zwischen Berichterstattung und Steuerungsanspruch – Entwicklungslinien und akteurtheoretische Implikationen. In Schul- und Unterrichtsreform durch ergebnisorientierte Steuerung – Empirische Befunde und forschungsmethodische Implikationen, Hrsg. Albrecht Wacker, Uwe Maier, und Jochen Wissinger, 131–153. Wiesbaden: VS Verlag. Vertiefende Erörterung von verschiedenen Arten des Monitorings.
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Bildungsverwaltung
Zusammenfassung
Nach Bildungspolitik und Bildungsmonitoring vervollständigt die Bildungsverwaltung die Hierarchie des Schulsystems. Die Handlungsorientierung der Bildungsverwaltung ist ausgerichtet an der Umsetzbarkeit von Programmen, Ordnung und Recht. In den vorangehenden Kapiteln wurde herausgestellt, dass die Bildungspolitik Programme erfindet. Hierbei wird sie vom Monitoring wissenschaftlich beraten. Auch die Bildungsverwaltung, die wir nun ansprechen, steht der Politik zur Seite. Es sind überwiegend ausgebildete Juristen, die als Teil der Verwaltung an der Umsetzung der Programme interessiert sind und dafür arbeiten. Dabei orientieren sie sich an Verwaltungsführung, Recht und Ordnung. Der Verwaltung geht es darum, Programme umzusetzen. Sie ist sich dabei bewusst, dass mache Programme länger als eine Legislaturperiode überdauern können. Diesbezüglich ist die Verwaltung in der Lage, eine längerfristige Perspektive einzunehmen. Oder, wie das Sprichwort lautet: Politik vergeht, Verwaltung besteht.
Wissensbaustein: Kennzeichen von Bürokratie
Zum Verständnis sind allgemeine Kennzeichen von Bürokratie notwendig. Hier kann man Max Weber (1976, S. 125–130) anführen, der dazu bereits in den 1920er Jahren Grundlegendes geschrieben hat. Bei der Verwaltung geht es um eine legale Herrschaftsausübung durch gesatztes Recht, das heißt, sowohl politische Aufträge, wie auch deren Umsetzung in den Verwaltungsorganisationen lassen sich durch Aktenführung im Prinzip von
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 T. Brüsemeister, Soziologie in pädagogischen Kontexten, https://doi.org/10.1007/978-3-658-04305-6_4
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jedermann nachlesen. Die Verwaltung hat sich an Umsetzungsaufträge der politischen Spitze zu halten. Der Akteur tut dies mit einem bürokratischen Verwaltungsstab. Intern gibt es hierarchische Anordnungen von einzelnen Abteilungen/Büros; übergeordnete Dienststellen haben Weisungsbefugnis gegenüber untergeordneten. Die Rekrutierung der Mitglieder geschieht durch Fachqualifikation.
Der Dienstausführende – ob das nun ein Beamter ist oder ein Angestellter – orientiert sich an sachlichen Zwecken. Dem Angestellten und dem Beamten gehören nicht die Sachmittel, sondern sie verwalten sie nur. Das bringt eine sekulare Orientierung in die Verwaltung. Ein Kennzeichen ist demnach das Fehlen von Korruption. Obwohl oder gerade weil Korruption faktisch in gewissen Ausmaßen vorkommt, wird als Ideal – und oft auch real – eine nicht korrumpierte Bürokratie gelebt. In ihr richtet sich Loyalität nur auf Dinge oder Sachen; Akten werden vollständig geführt; Entscheidungen protokolliert und sind über Jahrhunderte später nachlesbar. Nach Tillmann und Vollstädt (2001, S. 11) hat die bürokratische Schulverwaltung eher Kontinuität im Blick, da sie an einem (überdauernden) Recht orientiert ist. Hingegen richtet sich die Bildungspolitik an einer Legislatur aus, also eine kürzere Periode des Regierens. Sie arbeitet am Zustandekommen von Entscheidungen und die Verwaltung ermöglicht die Umsetzbarkeit und langfristige Geltung. Eine Bildungsverwaltung legt Wert darauf, dass Entscheidungen möglichst viele Jahre später noch sinnvoll aussehen. Weiter lässt sich ein interessantes Zusammenspiel von Politik und Verwaltung erkennen. Da die Verwaltung anders denkt als die Politik, kann die Verwaltung unsinnige Vorschläge der Politik als nicht umsetzbar korrigieren oder gar aussetzen. Ebenso kann die Politik eine zu sehr bremsende Verwaltung antreiben. So war Letzteres auch in den 2000er Jahren. In vielen angloamerikanischen Ländern wurde eine marktorientierte Politik propagiert. Behauptet wurde, dass Bürokratie Märkte lähmt und abgebaut werden muss. Die staatliche Bürokratie sollte durch das sogenannte New Public Management (NPM) modernisiert werden. Es sollte ergebnisorientiert entschieden werden, das heißt, all das, was keine nachweislichen Effekte hat, sollte eingespart werden (Brüsemeister 2004, Kap. 4). Die kontinentaleuropäischen Verwaltungen haben sich aber stillschweigend und auch erfolgreich gegen eine solche Modernisierung durch das NPM gewehrt bzw. dessen Impulse partiell ausgesessen. Forschungsergebnisse weisen darauf hin, dass solche New Public Management-Impulse nur punktuell
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umgesetzt worden sind (Bogumil et al. 2006, 2008). In der Konsequenz hat noch die Kennzeichnung von Weber Bestand, dass die Verwaltung an einer legalen Herrschaftsausübung mittels gesatzten Rechts orientiert ist. Wenn man nun Kommunikationsarten anspricht, die die Verwaltung praktiziert – sie orientieren sich an Ordnung, Gleichbehandlung und Rechtsförmigkeit –, dann hat sich dies offensichtlich über verschiedene Modernisierungswellen hinweg durchgehalten.
Wissensbaustein: Anti-hierarchischer Affekt
Ein wichtiger Bezugspunkt für die Analyse sind Beziehungen zu Lehrkräften. Hier herrscht große Differenz. Lehrkräfte begegnen der Verwaltung klassischerweise mit einem anti-hierarchischen Affekt, wie Krainz-Dürr (2000) schreibt. Das heißt, sie identifizieren sich nicht mit Verwaltung, definieren sie aus der eigenen Arbeit heraus. Als Kern der Arbeit wird „nur“ die Interaktion mit SchülerInnen gesehen. Diese Arbeit ist sicher von der Menge und Bedeutung her gewaltig und groß genug. Aber sie legitimiert nicht, sich aus der Arbeitsorganisation herauszurechnen.
Die Bedeutsamkeit der Schulentwicklung sah man früher deutlicher als heute, denn die Bildungspolitik ließ es zu und unterstützte es, wenn einzelne Schulentwicklungsmaßnahmen von der Bildungsverwaltung aus in Gang gesetzt wurden. Das wurde allerdings nicht flächendeckend gemacht. So war es dann für die einzelne Schule entscheidend, ob sie zufällig in einem Verwaltungsbezirk lag, der engagierte Schulverwaltungsbeamte hatte. In den Folgejahren wurde dann die Tatsache, dass einzelne Schulverwaltungsbeamte in einzelne Schulen gegangen sind und sich dort interessiert und engagiert haben für die Schulentwicklung, nicht mehr als Teil des Aufgabenspektrums angesehen. Zwar sind juristisch gesehen die Schulverwaltungen nach wie vor verantwortlich, aber die Verantwortung für die Schulentwicklung der einzelnen Schule wurde nun einzelnen Schulen übergeben und in den Schulgesetzen verankert. Faktisch gehen jedoch Beamte nur selten in einzelne Schulen. Dafür sind die Verwaltungsstäbe zu klein; sie können diese vielen Schulen nicht alle besuchen. An dieser mangelnden Kontrollspanne hat sich seit Bestehen der Bundesrepublik grundlegend nichts geändert. Gegenwärtig kommt als neue Entwicklung hinzu, dass Beamte aus den Landesverwaltungen und Regierungsbezirken sowie aus der kommunalen Verwaltung der Schulträger (zu den Schulträgern vgl. Kap. 6) Teil eines
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kommunalen Netzwerks werden. Das bedeutet für die Akteure der Verwaltung Möglichkeiten, wie sie generell durch Netzwerke bestehen. Das Interessante liegt daran, dass die Hierarchie nicht aufgegeben werden muss. Wenn ein Angestellter der Verwaltung zusätzlich auch noch temporäres Mitglied eines Netzwerks ist, dann kann er in dieser Rolle mit KollegInnen freier sprechen und sich beraten, als in einer dienstlichen Rolle. Die Ergebnisse der kollegialen Beratung und des Austausches – oder gar neue Verabredungen – können anschließend wieder in die eigene Verwaltung eingebracht werden. Wenn VerwaltungsmitarbeiterInnen auch Teil eines Netzwerks sind, können sie dort auf Augenhöhe mit anderen Akteuren Probleme erörtern. Das ist in der eigenen Hierarchie vielleicht nicht immer möglich. Durch den Austausch mit KollegInnen bekommt die Verwaltung mehr mit, was für Entwicklungen in den Umwelten passieren, auf welche Entwicklungen reagiert werden muss. So können die Mitglieder in Netzwerken der Verwaltung gleichsam zu einer Frischzellenkur verhelfen. Der Fachegoismus und die Engstirnigkeit der Verwaltung korrigieren dabei auch ‚zu wilde‘, undurchführbare Ideen aus dem Netzwerk. In dem vielfachen Hin und Her zwischen neuen Ideen und dem Machbaren wird dann vielleicht ein realistischer Vorschlag für die Politik erstellt, der auch umsetzbar ist. Exkurs: Information, Mitteilung, Verstehen Für die Umsetzung von Programmen ist die Bildungsverwaltung grundsätzlich in der Lage, verschiedene Akteure auf verschiedene Arten zu erreichen. Dazu lässt sich die Unterteilung von Luhmann (1984, S. 203) verwenden, der Information, Mitteilung und Verstehen unterscheidet. Zuerst kann die Bildungsverwaltung andere Akteure über Informationen erreichen. In vielen Gebietskörperschaften muss die Bildungspolitik sehr viele Beschäftigte erreichen, was über Informationen möglich ist. Bei anderen Themen reicht jedoch eine Information nicht aus, sondern es müssen spezielle Mitteilungen für spezielle Akteure gemacht werden. Bei wieder anderen Themen ist es notwendig, dass neben Informationen und Mitteilungen auch das Verstehen der Akteure kontrolliert werden muss. Zum Beispiel wurden zu den erlassenen Bildungsstandards auch Aufgabenbeispiele konzipiert, die die Lehrkräfte dann in ihrem Unterricht nutzen sollten. Hier wäre es wichtig gewesen, dass die Bildungspolitik die Nutzung dieser Beispiele eng begleitet, um sicher zu gehen, dass das Programm „Aufgabenbeispiele“ auch wirklich verstanden und genutzt wird. In solchen Fällen begibt sich die Bildungsverwaltung in Aushandlungen mit anderen Akteuren. In der Regel begnügt sie sich mit der Herausgabe von Informationen.
4.1 Schulaufsicht
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Ebenfalls arbeitet die Bildungsverwaltung in manchen Themenbereichen mit der Wissenschaft zusammen. So werden zum Beispiel bei Ausschreibungen Evaluationen und Qualitätsprüfungen durchgeführt. Dies entweder als Beauftragung von WissenschaftlerInnen, oder durch wissenschaftliche Verfahren, die durch eigenes Personal in der Verwaltung vorgenommen werden. In derartigen Fällen vermischt sich die Handlungsorientierung der Verwaltung, die an Umsetzbarkeit, Ordnung, Recht, ausgerichtet ist, mit wissenschaftlichen Verfahren. Die Verwaltung hat hier verschiedene Möglichkeiten, Wissenschaft im eigenen Haus zu kontrollieren, oder wissenschaftliche Verfahren durch Beauftragung von Externen durchführen zu lassen. Fazit
Insgesamt ergeben Bildungspolitik und Bildungsverwaltung eine Paarung, die weitreichend handeln kann. Die Bildungspolitik zielt mit Programmen auf eine bestimmte Handlungsrationalität. Die Bildungsverwaltung setzt diese Programme um, und fokussiert dabei auf eine Verfahrensrationalität. Die Verwaltung begnügt sich mit der Erstellung von Gesetzen und Verfahren, und ist nicht automatisch an einer Ergebnisrationalität orientiert, zumal sie damit der Politik den Spiegel des Erfolges oder Nichterfolges eines Programms vorhalten würde. Dies aber ist nicht die Aufgabe der Verwaltung, sondern sie hat eine dienende Aufgabe, Programme der Bildungspolitik zu vollziehen. Handlungsrationalität und Verfahrensrationalität sind damit auf zwei Akteure verteilt, sodass Programme für die Schule nicht gemeinsam beobachtet werden. ◄
4.1 Schulaufsicht Zusammenfassung
Besondere Beachtung verdient die Schulaufsicht. Ihre Handlungsorientierung liegt in Kontrolle und Beratung. Im Verlauf des Kapitels wird deutlich werden, dass diese Orientierung von der Politik für diesen Akteur ausgesucht wird. Insofern handelt es sich um die Besonderheit eines nicht selbstständigen Akteurs. ◄
Die Schulaufsicht ist die Vollzugsbehörde des Schulgesetzes eines Landes, und oft pro Bundesland stufig organisiert, z. B. (wie in Nordrhein-Westfalen) durch das Ministerium als oberste Aufsichtsbehörde, dann die Bezirksregierungen, dann das staatliche Schulamt als untere Schulaufsichtsbehörde. Der Schulaufsicht obliegt speziell die Rechts- und Fachaufsicht der Lehrkräfte.
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Zusätzlich gab die Politik der Verwaltung ab den 1980er Jahren die Teilaufgabe, Lehrkräfte zu beraten. Seit dieser Zeit gab es aber auch keine Weiterentwicklung dieses doppelten Konzepts von Aufsicht und Beratung. Regelmäßig wurde die Unvereinbarkeit von Aufsicht und gleichzeitiger Beratung festgestellt, die aber politisch initiiert ist. Da die Aufsicht kein selbstständiger Akteur, sondern von der Politik bestimmt ist, musste die Kritik am Dilemma von Aufsicht und Beratung klein gehalten werden, da sonst die Politik selbst in ein schlechtes Licht geraten wäre, dieses Dilemma initiiert zu haben. So muss die Aufsicht nach wie vor mit einem Rollendilemma klarkommen, welches sich nur schwer auflösen lässt. Wenn ein Aufsichts-Beamter einer Lehrkraft gegenübertritt, dann weiß die Lehrkraft im Prinzip nicht, ob sie kontrolliert oder beraten wird. Dies lässt sich kommunikativ nicht vermitteln. Damit wurde die Schulaufsicht seit den 80er Jahren in eine Art Patt-Situation manövriert. Die Politik wusste nicht recht, was mit der Aufsicht anzufangen wäre. So wurde sie bei den Versuchen der Modernisierung des Staates gleichsam ‚links liegen‘ gelassen bzw. ausgeklammert. Beispiel: Die Aufsicht hat nur eine kleine Rolle in der Schulinspektion
Man hat zum Beispiel bei der Einführung der Schulinspektion in Deutschland die Aufsicht ausgeklammert und ihr nur eine kleine Rolle gegeben: Ist die Inspektion durchgeführt, soll der Inspektionsbericht an die Aufsicht gehen. Sie soll dann Zielvereinbarungen mit den Schulen erstellen. Allerdings wurde nicht kontrolliert, ob die Aufsichten dies auch taten. Auch die Art der Zielvereinbarungen wurde nicht kontrolliert. Beides vielleicht aus Angst, der alte Konflikt zwischen Aufsicht und Beratung könnte wieder zum Vorschein kommen. Insofern war es politisch folgerichtig, die Schulaufsicht weitgehend vom Inspektionszyklus fernzuhalten. Sachlich ist dies natürlich für die Schulentwicklung nicht förderlich, wenn ein wesentlicher Akteur außen vorgelassen wird. ◄ Die Politik hat ihren Konstruktionsfehler erfolgreich nicht kommuniziert. Zumindest ist sie nicht in Erklärungsschwierigkeiten geraten oder in ihrer Legitimität bedroht worden. Im Gegenteil: das Rollendilemma zwischen Aufsicht und Beratung wurde dem Akteur selbst angekreidet. Auch die Forschung zur Schulaufsicht ist mehr oder weniger stehen geblieben (Ausnahmen sind Rothen 2015; Gördel 2016; Hangartner und Heinzer 2016; Bremm und Klein 2020). Es gibt so gut wie keine Untersuchung, wie die Schulaufsicht aktuell in Bundesländern beschaffen ist. Schon die einfache Zahlenangabe, wie viele Aufsichtsbeamte tätig sind, ist schwer erhältlich; offenbar
4.1 Schulaufsicht
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gibt die Politik die Information nicht gern heraus. Dazu gesellt sich die Merkwürdigkeit, dass Bildungsreformen in der Umgehung der Schulaufsicht durchgeführt wurden, insbesondere die Schulinspektion. Trotzdem gingen Schulaufsichtsmenschen ihrer Arbeit nach. Sie sind durchaus von einzelnen Schulen angesprochen worden, um zu helfen. Das haben die Aufsichtsbeamten dann natürlich gemacht. Allerdings ist dies ein gewisser Wildwuchs. Es liegt nicht an der Aufsicht, sondern an der Fähigkeit von Schulen, sich Hilfe zu besorgen – oder nicht. Wenn man gute Beziehungen zu einem Schulaufsichtsbeamten hat, lässt sich Hilfe organisieren. Eine der letzten stringente Reformprogramme – die teilautonome Schule von Rolf Dubs (2011) – verlagerte konsequent die Macht von der Schulaufsicht auf die einzelnen Schulen, vor allem die Schulleitung. Im Kanton Zürich zum Beispiel wurden im Laufe der 1990er Jahre Schulleitungen neu eingeführt und gestärkt (Brüsemeister 2004, S. 256–264). In der Folge untergruben andere Reformmaßnahmen die Schulleitungen fast wieder. Im Kanton Zürich wollte man in den 2000er Jahren zum Beispiel leistungsbezogene Mitarbeitergespräche einführen, wobei die Gemeinden die Gespräche hätten leiten sollen. Dies hätte dann die gerade neu eingeführten Schulleitungen geschwächt. Die Reform wurde dann nach vielfacher Kritik, die bereits im Vorfeld geäußert wurde, nicht umgesetzt. Politik ist nicht immer konsequent und kann mit einer Maßnahme, die vorher etwas gestärkt hat, etwas wieder zunichtemachen. Beispiel: Inklusive Schulbündnisse in Hessen
Es gibt Projekte, in denen die Aufsicht erfolgreich anders eingesetzt wird. In Hessen zum Beispiel in den so genannten „inklusiven Schulbündnissen“ (vgl. Kultusministerium Hessen 2020). Diese werden von Schulaufsichten der Förderschulen organisiert, mit dem Ziel, Inklusion zu intensivieren. Hierzu bildet eine Förderschule mit etwa einer Handvoll weiterer Schulen ein Bündnis. Was Inklusion ist, muss das Bündnis konkret erarbeiten. Das Ministerium finanziert für zwei Jahre eine Fortbildung für alle Beteiligten, wobei inhaltlich herausgearbeitet werden soll, wie miteinander umzugehen ist und wie ein Management von Inklusion für alle beteiligten Schulen konkret ausgestaltet werden kann. Weitere inhaltliche Vorgaben werden nicht gemacht. Nach drei Jahren, davon zwei Jahre Fortbildung, muss das Bündnis Leistungen darlegen. Gesetzliche Grundlagen wurden so geändert, dass die Schulen garantiert mehr Geld erhalten, damit sich nicht Einsparungen ergeben, wenn sich Förder- und Regelschulen zusammentun. ◄
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4 Bildungsverwaltung
Die Schulaufsichten sind hier von der Politik in die eindeutige Rolle der Durchführung der Weiterbildung eingesetzt.
Wissensbaustein: Obligatorische Vorgaben paaren sich mit Freiheiten
Hier ist interessant, dass etwa die Hälfte der Reformmaßnahmen von der Politik obligatorisch vorgegeben wird, das heißt die Schulaufsichten können sich dazu nicht nicht-verhalten; sie müssen entsprechend arbeiten. Die andere Hälfte, das heißt die entscheidenden Inhalte, sind jedoch freigegeben, können und müssen von den Akteuren vor Ort erfunden werden. Schulaufsichten und Schulleitungen sind gezwungen, diese Bündnisse zu bilden, sind dann jedoch frei, entsprechende Inhalte zu erfinden.
Dies ist insofern interessant, weil kein Reformprojekt implementiert werden muss, sondern es vor Ort nacherfunden oder überhaupt erst aufgebaut wird. Es sind Eigenprodukte der Standorte; entsprechend stehen Menschen motiviert dahinter. Sie erhalten Raum für Kreativität. Auch wird das Fremdeln zwischen Aufsichten und Schulleitung sowie zwischen Förderschulen und Regelschulen als Knackpunkt wahrgenommen – und mit viel Zeit für Diskussion und gegenseitigem Kennenlernen in das Fortbildungsprogramm integriert. So können sich verschiedene Menschen kennen lernen und in die gemeinsame Arbeit kommen. Das Programm verhält sich inklusiv zu den Akteuren bzw. nimmt den Gedanken der Inklusion ernst. Fazit
Als Fazit erscheint die zweijährige Fortbildung als klug ausgedachte Reform. Den Akteuren werden klare Rollenaufgaben gegeben, die aber nur hälftig sind, und die andere Hälfte kreativ frei geben. Konflikte zwischen andersartigen Organisationsformen und Denkweisen werden gesehen und in den Kern des Fortbildungsprogramms aufgenommen. Die Aufsicht erhält die eindeutige Rolle eines Weiterbildners. Dies nimmt sich als Quantensprung aus, verglichen mit dem Laborieren an dem bisherigen Dilemma zwischen Aufsicht und Beratung. Bildungspolitik hat sich hier einmal getraut, der Schulaufsicht eine neue Rolle zu geben, und auch die anderen Rollen gut in dem Verfahren besetzt. Die Steuerung in diesem Programm ist von mittlerer Intensität, da sie nur vorgibt, dass es diese Bündnisse geben soll, aber nicht welchen Inhalt sie haben. ◄
4.1 Schulaufsicht
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Ein anderes Beispiel wäre, wenn man sogenannte „Schul-Cluster“ bildet; das wird gerade in Österreich überlegt (vgl. Brauckmann et al. 2019). Es wird über Cluster-Leitungen nachgedacht, die den Schulleitungen Macht abnehmen würden. Diese Macht würde auf ein neu zu schaffende Ebene verschoben, die oberhalb der einzelnen Schulen angesiedelt wäre. Dadurch könnte es zu Konflikten zwischen Schulleitungen und den Cluster-Leitungen kommen, weshalb von einem solchen Modell abzuraten wäre. Wenn man das hessische Beispiel von Schulbündnissen mit einbezieht, aber auch den Konflikt zwischen Beratung und Aufsicht, dann weiß man wenig über den aktuellen Leitwert des Akteurs. Früher pendelte er zwischen Aufsicht und Beratung. Ebenso ist nicht bekannt, in welcher Teilhandlung der Akteur besonders aktiv ist; ob in der Vor-, in der Haupt- oder in der Nachgeschichte. Exkurs: Möglichkeit der Beeinflussung der Handlungs-, Verfahrens- und Ergebnisrationalität Man kann, wie bei den Schulbündnissen, vermuten, dass der Akteur in allen drei Teilhandlungen aktiv ist. Es wäre positiv, wenn die Schulaufsicht nicht nur die Handlungsrationalität übernimmt, die sich die Bildungspolitik ausgedacht hat, sondern auch noch in der Verfahrensrationalität mit dabei wäre, das heißt die Bündnisse beratend begleitet. Weiter wäre es zu begrüßen, wenn das gesamte Bündnis auch die Ergebnisrationalität am Ende des gesamten Weiterbildungsprozesses mit reflektiert. In einem solchen Fall wären alle Akteure bei allen Teilprozessen dabei, die sich über die Handlungsrationalität und die Verfahrenssowie die Ergebnisrationalität erstreckt. Kann die Schulaufsicht auch auf die Region eingehen? Bei den Bündnissen ist das eindeutig der Fall, denn die regionalen Akteure sind Förderschulen und Regelschulen, und die Schulaufsicht würde Kontakte zu den dortigen Schulleitungen haben. Wenn die klassische Schulaufsicht außerhalb solcher Schulbündnisse arbeitet, besteht dieser Regionsbezug nicht. Somit ist insgesamt uneindeutig, in welcher Verfassung der Akteur ist, und entsprechend auch, wie er zur Erhöhung einer kollektiven Handlungsfähigkeit der Schule beitragen kann. Hierbei gilt es zu berücksichtigen, dass die Schulaufsicht kein selbstständiger Akteur ist, sondern von der Bildungspolitik eingesetzt wird. Dies kann Unterschiedliches bedeuten. Bei der Schulinspektion wurde die Aufsicht außen vorgelassen. Bei den Schulbündnissen in Hessen wird der Schulaufsicht eine kluge Rolle als Fortbildner gegeben. Die Politik hat es also in der Hand, die Aufsicht sinnvoll für die Schulentwicklung einzusetzen.
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Literatur Verwendete Literatur Bogumil, Jörg, Stephan Grohs, und Sabine Kuhlmann. 2006. Ergebnisse und Wirkungen kommunaler Verwaltungsmodernisierung in Deutschland – Eine Evaluation nach 10 Jahren Praxiserfahrungen. In Politik und Verwaltung. Politische Vierteljahresschrift, Hrsg. Jörg Bogumil, Werner Jann, und Frank Nullmeier, Sonderheft 37, 151–184. Wiesbaden: VS Verlag. Bogumil, Jörg, Stephan Grohs, Sabine Kuhlmann, und Anna K. Ohm. 2008. Zehn Jahre Neues Steuerungsmodell. Eine Bilanz kommunaler Verwaltungsmodernisierung. Berlin: Edition Sigma. Brauckmann, Stefan, Lorenz Lassnigg, Herbert Altrichter, Markus Juranek, und Dana Tegge. 2019. Zur Einführung von Schulclustern im österreichischen Bildungssystem – Theoretische und praktische Implikationen. In Nationaler Bildungsbericht Österreich 2018, Band 2. Fokussierte Analysen und Zukunftsperspektiven für das Bildungswesen, Hrsg. Simone Breit, Ferdinand Eder, Konrad Krainer, Claudia Schreiner, Andrea Seel, und Christiane Spiel, 363–401. Graz: Leykam. Bremm, Nina, und Esther Dominique Klein. Hrsg. 2020. Unterstützung – Kooperation – Kontrolle: Zum Verhältnis von Schulaufsicht und Schulleitung in der Schulentwicklung. Wiesbaden: Springer VS. Brüsemeister, Thomas. 2004. Schulische Inklusion und neue Governance. Zur Sicht der Lehrkräfte. Münster: Monsenstein & Vannerdat. Dubs, Rolf. 2011. Die teilautonome Schule. Ein Beitrag zu ihrer Ausgestaltung aus politischer, rechtlicher und schulischer Sicht. Berlin: Edition Sigma. Gördel, Bettina-Maria. 2016. Neue Steuerung im Schulsystem und ihre Konsequenzen für die Landesschulverwaltungen: Eine governance-orientierte Organisationsanalyse am Beispiel Hessens. Bad Heilbrunn: Klinkhardt. Hangartner, Judith, und Markus Heinzer. Hrsg. 2016 Gemeinden in der Schulgovernance der Schweiz. Wiesbaden: Springer VS. Krainz-Dürr, Marlies. 2000. Wie Schulen lernen. Zur Mikropolitik von Schulentwicklungs prozessen. In Schule zwischen Effektivität und sozialer Verantwortung, Hrsg. HeinzHermann Krüger und Hartmut Wenzel, 125–140. Opladen: Leske + Budrich. Kultusministerium Hessen. 2020. Inklusive Schulbündnisse. https://kultusministerium. hessen.de/foerderangebote/sonderpaedagogische-foerderung/inklusion/inklusiveschulbuendnisse. Zugegriffen: 15. Juli 2020. Luhmann, Niklas. 1984. Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Rothen, Christina. 2015. Selbständige Lehrer, lokale Behörden, kantonale Inspektoren. Verwaltung, Aufsicht und Steuerung der Primarschule im Kanton Bern, 1832–2008. Zürich: Chronos. Tillmann, Klaus Jürgen, und Witlof Vollstädt. Hrsg. 2001. Politikberatung durch Bildungsforschung. Das Beispiel: Schulentwicklung in Hamburg. Opladen: Leske + Budrich. Weber, Max. 1976. Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie. Tübingen: Mohr.
Literatur
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Weiterführende Literatur Brüsemeister, Thomas. 2012. Von der bürokratischen Schulverwaltung zum Bildungsmanagement? In Die verwaltete Schule: Geschichte und Gegenwart, Hrsg. Andrea de Vincenti und Michael Geiss, 181–206. Wiesbaden: VS Verlag. In dem Artikel erfolgt eine grundlegendere Betrachtung des Akteurs. Bremm, Nina, und Esther Dominique Klein. Hrsg. 2020. Unterstützung – Kooperation – Kontrolle: Zum Verhältnis von Schulaufsicht und Schulleitung in der Schulentwicklung. Wiesbaden: Springer VS. Umfassende Reflexionen zum Akteur, auch in Relation zu ausgesuchten anderen MitspielerInnen.
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Schulinspektion
Zusammenfassung
Dieses Kapitel beschäftigt sich mit der in allen Bundesländern neu eingeführten Schulinspektion. Dabei werden Besonderheiten dieses Akteurs herausgearbeitet sowie die Zusammenarbeit mit anderen Akteuren betrachtet. Analytisch wird am Beispiel der Schulinspektion deutlich, dass die Politik mit diesem Akteur zwar eine neue Kommunikation mit Schulen beginnt, die dann aber doch zu wenig im Nachgang der Inspektion fortgeführt wird. In der sogenannten evaluationsbasierten Steuerung (Altrichter und Heinrich 2006) spielt die Schulinspektion eine wichtige Rolle: Mit dieser Steuerung wird erwartet, dass die einzelne Schule als weitgehend autonome Einrichtung auch Rechenschaft über ihr Tun ablegen kann. Die Rechenschaftslegung erfolgt gegenüber der Schulinspektion. Die Inspektion generiert Evaluationsdaten zu den einzelnen Schulen, und zwar mit dem Inhalt, wie der Durchschnitt des Unterrichts an der jeweiligen Schule ausfällt. Diesen Durchschnitt ermitteln die Schulinspekteure, in dem sie mehr als die Hälfte des Unterrichts einer Schule für je 20 min besuchen. Diese Daten gehen dann zur Bildungspolitik und diese kann Entscheidungen aus den Daten folgern. Wie bereits im vorherigen Kapitel zur Schulaufsicht angesprochen, wurde die Schulaufsicht bei der Einführung der Schulinspektion quasi links liegen gelassen. An der Schulaufsicht vorbei wurde die Schulinspektion als ein neuer Akteur Hier sind zwei Forschungsprojekte des BMBF zu Grunde gelegt: „Schulinspektion als Steuerungsimpuls“, FKZ: 01 JG 1001 A, Laufzeit 10/2010–09/2013; „Funktionen von Schulinspektion“, FKZ: 01 JG 1304 B, Laufzeit 10/2013–01/2017; vgl. zu beiden Teilprojekten Brüsemeister et al. (2016a). © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 T. Brüsemeister, Soziologie in pädagogischen Kontexten, https://doi.org/10.1007/978-3-658-04305-6_5
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aufgebaut. Das Ziel ist hierbei, dass die Inspektion Rechenschaftsberichte der einzelnen Schulen einsammelt. Wenn die Inspekteure am Ende ihres Inspektionsbesuches den Schulen das Ergebnis zurückspiegeln, wie ihr Unterricht ausfällt, dann soll dies eine anregende Funktion für die Schulentwicklung der jeweiligen Schule haben. Beispiel: Inspektion in den Niederlanden
Die Idee einer Inspektion kommt ungefähr 2005 aus den Niederlanden nach Deutschland. Dort ist allerdings die Schulinspektion eine unabhängige Instanz, die auch vor einigen Jahren in die Krise geriet, sich noch einmal neu aufstellte und mit neuem Selbstverständnis und Qualitätsmaßnahmen Schulen berät und unterstützt. Eine unabhängige Instanz besucht die Schulen, dadurch gibt es keine Interessenvermischung. Auch stellt sich die Beratung ganz in den Dienst der einzelnen Schule. Die Inspekteure gehören nicht dem Schulsystem an, wodurch sie sich die guten Seiten der Schule anhören und auch entsprechend stärken können. ◄ In deutschen Bundesländern ist die Inspektion in den Instanzenzug der Behörde eingebettet. Die Inspekteure haben keinen unabhängigen Beruf. Vielmehr werden Lehrkräfte und Schulleitungen für einige Jahre für den Job als Inspekteure abgestellt (und natürlich vorher ausgebildet). Weil sie nicht komplett unabhängig sind, sondern früher Teil des Instanzenzuges waren, können Lehrkräfte, wenn sie nun als Inspekteure andere Lehrkräfte evaluieren, als Kontrolleure wahrgenommen werden, und nicht als (neutrale) Berater, die anregend für die Schulentwicklung sein sollen. Die Bildungspolitik hatte dies vorausgesehen und suchte alles zu vermeiden, was den Eindruck von Kontrolle entstehen lässt. Tatsächlich kann eine Inspektion – wie in den Niederlanden – mehr den Charakter einer Fachberatung von gleich zu gleich haben – und so der Schulentwicklung dienen –, oder mehr als Kontrolle verstanden sein. In der Praxis ist das Verfahren recht aufwendig. Die einzelne Schule wird etwa ein Jahr vor dem Besuch der Inspekteure informiert. Sie muss innerhalb einer Frist Daten und Unterlagen von sich an das Inspektionsteam schicken, zum Beispiel, ob es ein Schulprogramm gibt. Der Besuch wird dann 6 Wochen vorher angekündigt. In der Regel werden im Durchschnitt etwa 60 % des gesamten Unterrichts einer Schule besucht, aber nicht komplett 45 min, sondern eher die Hälfte, ca. 20 min.
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Am Anfang wurde noch bezweifelt, ob man dadurch Qualität von Unterricht sehen kann. Dies hat sich jedoch nicht bestätigt; man kann einen guten Eindruck vom Unterricht erhalten. Die Beobachtungen von Unterricht richten sich nach sogenannten Indikatoren. Sie sind in „Referenzrahmen“ eines Bundeslandes festgehalten.
Beispiele für einen Referenzrahmen finden sich auf dem Deutschen Bildungsserver: https://www. bildungsserver.de/Referenzrahmen-Schulqualitaet-10098-de.html (17. Juli 2020)
Vor der Durchführung der Inspektion haben alle Bundesländer solche wissenschaftsbasierten Rahmen konzipiert und sich von ExpertInnen bestätigen lassen. Allerdings ist die Zahl der Indikatoren, mit denen der Unterricht beurteilt wird, ausgeufert; es sind bis zu hundert Indikatoren von den Inspekteuren anzukreuzen. Man kann sagen, dass man über die Stränge geschlagen ist, weil man es zu genau wissen wollte. Nachdem 60 % der Unterrichtsstunden besucht wurden, ziehen sich die Inspekteure vor Ort in der Schule zur Beratung zurück. Danach wird die Schulleitung über das Ergebnis informiert. Zum Schluss gibt es eine Schulversammlung, in der der Bericht der Inspekteure vorgestellt wird. Dies geschieht allerdings nicht dialogisch, sondern es wird verkündet, was dort steht. Exkurs: Kritik an der Schulinspektion Die Kritik an dem Verfahren ist, dass für Reaktionen und Nachfragen aus dem Schulkörper, zum Beispiel wie der Bericht zustande kam, nicht genug Zeit eingeplant ist. Vielmehr endet die Inspektion mit dem Verkünden des Berichts. Was danach passiert, wird an die Schulaufsicht abgegeben. So war es zumindest geplant. Die Aufsicht sollte mit dem Inspektionsbericht eine Zielvereinbarung mit der jeweiligen Schule machen. Das hat allerdings nicht flächendeckend funktioniert. Es sind mal Zielvereinbarungen durchgeführt worden, mal nicht. Das Verfahren gibt nachfolgenden Prozessen nicht genug Zeit und Raum. Für sich genommen wurde die Inspektion professionell durchgeführt; auch erscheint die Schulung der Inspekteure professionell. Insgesamt hat die Inspektion funktioniert. Zudem lässt sich der allgemeine Befund festhalten, dass die Inspektion durchaus, wenn auch schwach, anregend auf die Fortführung oder das Beginnen von Schulentwicklung ausgewirkt hat. Dies ist allerdings nicht sehr
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zielgerichtet. Teilweise hatten die Schulen auch unabhängig von der Inspektion eine bestimmte Schulentwicklung vor, oder hatten bereits damit angefangen. Teilweise musste die Schulleitung auch erst eine Verhärtung kommunikativ aufweichen, die sich beim Kollegium nach dem Besuch der Inspekteure eingestellt hatte, da das Kollegium mit bestimmten Sichtweisen der Inspekteure nicht einverstanden war (Brüsemeister et al. 2016b). Bevor mit dem Kollegium weiter über Schulentwicklung geredet werden konnte, musste die Schulleitung erst Dinge wieder geraderücken. Teilweise machten die Schulen aber auch ohne die Inspektion mit ihrer Schulentwicklung weiter. In der Realität hat sich also die zielgerichtete anregende Funktion für die Schulentwicklung kaum eingestellt. Zudem fokussiert das Verfahren stark die Schulleitung. Sie wird als Ansprechpartner für alles, was das Verfahren der Inspektion betrifft, herangezogen. Dies ist viel schmalspuriger für die Schulentwicklung, als früher die Schulentwicklung gedacht wurde. In früheren Konzeptionen von Schulentwicklung ist man davon ausgegangen, dass eine breite Mehrheit der Akteure der Einzelschule eine Schulentwicklung tragen. Da das Programm die Schulleitung heraushebt, wird sie sozusagen abgetrennt von Lehrkräften, entkoppelt. Dies erscheint für Schulentwicklung kontraproduktiv, sollte es ein dauerhafter Zustand sein. Schulentwicklung wäre dann nicht gemeinsam von Aktivitäten der Lehrkräfte und Schulleitung getragen. Auch werden Eltern und Schulträger kaum in das Verfahren einbezogen. Man kann in der ungewollten Abkopplung der Schulleitung von den Lehrkräften und im nicht guten Einbeziehen weiterer Akteure eine ungewollte Wirkungsweise von Schulinspektion sehen. Statt Schulentwicklung zu intensivieren – dies als angedachte Handlungsrationalität –, kommt weniger als dies heraus. Fazit
Demnach intendiert die Inspektion eine gute Vorgeschichte; man führt Schulund Unterrichtsbesuche durch, die dann den Inspektionsbericht bilden, der wiederum für die Schulentwicklung anregend sein könnte; der Leitwert des Akteurs wäre dann auf die Anregung und Professionalität im Umgang mit dem Verfahren ausgerichtet. Jedoch zeigt sich in der Haupt- und Nachgeschichte, dass die kommunikativen Aktivitäten in dem Verfahren schmaler sind. Man zentriert sich zu sehr auf ‚das Nadelöhr‘ Schulleitung, vernachlässigt, andere Akteure mitzunehmen, und redet nach Ende des Verfahrens nicht genug mit den Akteuren der Einzelschule. Das ist für eine Anregung zur Schulentwicklung nicht genug. ◄
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Mit der Inspektion wird also eine Handlungsrationalität gewünscht. Es gibt auch aus der Innensicht des Verfahrens gesehen eine gute Verfahrensrationalität bei der Durchführung des Programms. Aus der Außensicht gesehen zeigen sich aber viele Akteure nur am Rand des Verfahrens, als Zuschauer. So kann eine Ergebnisrationalität nicht erreicht werden. Auch die Verfahrensrationalität fokussiert bei genauem Hinsehen nur das Verfahren der Inspektion selbst. Ob aber eine Schule z. B. Steuergruppen einrichtet, um Befunde der Inspektion aufzugreifen, geht aus dem Schulinspektionsverfahren nicht zwingend hervor, sondern bleibt der Schule überlassen. Das war aber auch schon vor der Einführung der Inspektion so. Man kann also fragen, was die Inspektion eigentlich nützt. Der Beitrag des Akteurs zur Erhöhung einer kollektiven Handlungsfähigkeit der Schule steht infrage. Nach dem die Inspektion in einigen wenigen Zyklen alle Schulen eines Bundeslandes besucht hat, überlegen nun manche Bundesländer, die Schulinspektion wieder einzustellen. Die Inspektion wird nur noch „anlassbezogen“ durchgeführt, d. h. wenn eine besondere Situation für eine Schule besteht. Grundsätzlich aber wäre das Programm der Inspektion als intermediäres Programm durchaus geeignet (gewesen), ein Bündnis mit verschiedenen regionalen Akteuren anzuregen, das heißt Schulträgern, Schulaufsicht, einzelnen Schulleitungen, Steuergruppen, Schulberatern usw. Die Inspektion würde in einem solchen regionalen Bündnis anders wirken können. Im Grunde ist die Inspektion als intermediärer Akteur nicht nur der Hierarchie zugeordnet, sondern wendet sich intensiv einzelnen Schulen in der Region zu. Sie pendelt also zwischen Hierarchie und Region. Aber das Instrument wurde bislang vor allen Dingen sehr stark professionell aus Richtung der Hierarchie organisiert, weil die Politik alles richtig machen wollte. Es wurde sehr stark auf die Kontrolle geachtet. Man hatte große Angst, dass die Inspekteure Kontextbedingungen herausfinden, die auf hoheitliche Aufgaben von Politik und Verwaltung zurückgehen, dass man also sozusagen Strukturfehler der Landespolitik vor Ort entdeckt. Zwar wurden die wissenschaftlichen Indikatoren so geschrieben, dass die Kontextbedingungen nur relativ schmal waren, aber es lässt sich im Grunde nicht vermeiden, dass die Inspektion auch auf Strukturfehler stoßen könnte. Tatsächlich hat einmal ein Vertreter, der die Aufsicht organisiert hat, nachdem alle Schulen zum ersten Mal besucht wurden, gesagt, was sein Eindruck war von den Ergebnissen. Er meinte dazu: Die Schulen sind gut, nur der Unterricht ist schlecht!
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Das heißt das, was in der Kontrolle der Bildungspolitik liegt, nämlich dass es überhaupt Unterricht gibt, und was auch in den Bereich der Aufsicht fällt, ist in Ordnung. Die Schule ist gut, aber was den Kern angeht, das wird an die Lehrkräfte abgegeben. Sie sieht man für Fehler verantwortlich, wodurch die Inspektion im Grunde reingewaschen wird, und damit auch der Auftraggeber Bildungspolitik. Dadurch wurden auch gewisse Schärfen aus dem Instrument herausgenommen, was zur relativen Wirkungslosigkeit des Instruments mit beigetragen hat.
Literatur Verwendete Literatur Altrichter, Herbert, und Martin Heinrich. 2006. Evaluation als Steuerungsinstrument im Rahmen eines „neuen Steuerungsmodells“ im Schulwesen. In Evaluation im Bildungswesen. Eine Einführung in Grundlagen und Praxisbeispiele, Hrsg. Wolfgang Böttcher, Heinz Günter Holtappels, und Michaela Brohm, 51–64. Weinheim, München: Juventa. Brüsemeister, Thomas, Lisa Gromala, Bianca Preuß, und Jochen Wissinger. 2016a. Schulinspektion im regionalen und institutionellen Kontext. Qualitative Befunde zu schulinspektionsbezogenen Akteurkonstellationen. In Schulinspektion als Steuerungsimpuls? Ergebnisse aus Forschungsprojekten, Hrsg. Arbeitsgruppe Schulinspektion, 51–89. Wiesbaden: VS Verlag. Brüsemeister, Thomas, Lisa Gromala, Oliver Böhm-Kasper, und Odette Selders. 2016b. Schulentwicklung aus einer Verhärtung heraus. In Schulinspektion als Steuerungsimpuls?, Hrsg. Arbeitsgruppe Schulinspektion, 91–117. Wiesbaden: VS Verlag.
Weiterführende Literatur Arbeitsgruppe Schulinspektion, Hrsg. 2016. Schulinspektion als Steuerungsimpuls? Ergebnisse aus Forschungsprojekten. Wiesbaden: VS Verlag. In diesem Band sind Forschungen aus Deutschland und Europa versammelt, die mit standardisierten und qualitativen Methoden die Schulinspektion untersucht haben.
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Schulträger
Zusammenfassung
Neben Schulaufsicht und Schulinspektion bilden Schulträger ebenfalls die intermediäre Ebene des Schulsystems. Sie konzentrieren sich auf äußere Schulangelegenheiten, Sachausstattungen, Räume. Dabei folgen sie einem breiten Leitwert: Bildung.
Regionale Orientierung Vergleicht man den Schulträger mit den beiden anderen intermediären Akteuren Schulaufsicht und Inspektion, dann ist eine zunehmende regionale Orientierung zu bemerken. Sie ist beim Schulträger am größten. Es geht hier nämlich um die sogenannten äußeren Schulangelegenheiten, die vom Schulträger erbracht werden. „Der Schulträger ist für die Errichtung, Unterhaltung und Verwaltung der Schule verantwortlich und trägt in der Regel die Sachkosten (während die Personalkosten für Lehrer an öffentlichen Schulen vom Land übernommen werden).“ (Sekretariat der Kultusministerkonferenz 2019) Äußere Schulangelegenheiten und innere Schulangelegenheiten werden in Deutschland klassischerweise getrennt. Das ist eine Erfindung der Bildungspolitik. Die inneren Schulangelegenheiten, also die Personalkosten der Lehrer und die Schulinhalte, werden vom Land getragen. Die Gemeinden oder Kreise stellen die Gebäude bereit. So hat sich eine Arbeitsteilung etabliert. In anderen Ländern herrschen andere Konzepte vor. Wir haben zum Beispiel in der Schweiz die Komplettfinanzierung und auch Aufsicht der Lehrkräfte durch die Gemeinden und nicht durch den Kanton (analog den Ländern in Deutschland).
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 T. Brüsemeister, Soziologie in pädagogischen Kontexten, https://doi.org/10.1007/978-3-658-04305-6_6
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6 Schulträger
Insgesamt ist die Forschungslage zu intermediären Akteuren sehr dünn. Zum Schulträger gibt es sehr wenige bis gar keine Untersuchungen aus der Gegenwart. Um die Handlungsorientierung des Schulträgers zu verdeutlichen, wird auf Untersuchungsprojekte zur Schulinspektion zurückgegriffen (Preuß 2013; Brüsemeister et al. 2016, S. 68–71). In diesen Untersuchungen wurde deutlich, wie viel oder wie wenig die Schulträger darin vorkommen. Im Inspektionsverfahren sind Schulträger kaum beteiligt. Sie werden zwar formell informiert, haben jedoch im Programm keine weitere Rolle. Wenn der Inspektionsbericht vorliegt, können Schulträger allenfalls an der Rückmeldesituation teilnehmen. Oder, wenn Schule und Schulaufsicht eine Entwicklungsplanung verabreden, könnten sich beide Akteure vom Schulträger eine bestimmte Mitwirkung wünschen. Dies ist aber nicht systematisch vorgegeben. Insgesamt ist der Schulträger bei einer solchen Reformmaßnahme wie der Schulinspektion nur am Rande platziert. Trotzdem kann man in den Interviews, die wir mit Schulträgern im Rahmen des Projektes zur Schulinspektion geführt haben, auch sehen, dass der Schulträger versucht, sich wieder ins Spiel zu bringen. Das wird in einigen Interviewsequenzen deutlich, die hier anonymisiert wiedergegeben werden. In den Interviews zur Schulinspektion sieht sich der Schulträger nicht als Akteur behandelt. So bemerkt der Schulträger Frau Götze: „man gibt sich die Funktion eines Sachaufwandsträgers“, und sei eben „nicht zuständig für die Verbesserung der schulischen Qualität durch die Schulinspektion.“ Vor dem Hintergrund dieses Aspektes weist der Schulträger alle Aufgabenbereiche, die ihn nicht als Sachaufwandsträger berühren, zurück. Das Thema der Schulinspektion ist also für diesen Akteur kaum relevant. Oder auch, wie es Frau Sauer als Schulträger sagt: „Man sieht sich in einer untergeordneten Rolle.“ Darüber hinaus grenzen sich die Schulträger von der pädagogischen Rolle und der Aufgabe des Schulsystems ab, da die Schulträger nur über eine „begrenzte Sicht“ verfügen. Schulträger Herr Karl äussert: „Wir haben als Schulträger nur eine begrenzte Sicht, das heißt also die Dinge, die pädagogisch gemacht werden, oder die Vorgaben, die pädagogisch umgesetzt werden müssen, entziehen sich im Grunde genommen meiner Beurteilung.“ Schulträger Frau Götze schlussfolgert: „Folglich sieht sich der Schulträger an die Schulinspektion nicht angeschlossen.“ Im Inspektionsverfahren wird der Schulträger zu einem Außenbeobachter. Im Rahmen der Schulinspektion beobachtet er das Geschehen nur vom Rand aus. Es wird eine eingeschränkte Beziehung reflektiert, die auf das rein Materielle – die Ausstattung der Schule – beschränkt zu sein scheint.
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Wissensbaustein: Grenzüberschreitung
Auffallend ist dann jedoch in den Interviews, dass der Schulträger diese eingeschränkte Rolle anders interpretiert, das heißt seine Handlungen über die Grenzen des gesetzlich Festgelegten hinausgehend sieht. Damit liegt eine Grenzüberschreitung vor (vgl. Kap. 1). Der Schulträger Herr Karl spricht dies explizit an: „Wir wollen ja zum guten Gelingen von Schule auch beitragen, und dazu gehört es manchmal, dass man über das hinausgeht, was gesetzlich normiert ist.“
Formal betrachtet ist der Schulträger also nicht für pädagogische Inhalte der Schulen zuständig, sondern nur für ihre Sachausstattung. Jedoch kann der Schulträger, wenn er für eine optimale materielle Ausstattung sorgt, auch am guten Gelingen der Schule interessiert sein und entsprechend mitwirken. Dadurch entsteht ein anderer Interpretationsrahmen für sein Handeln, der über die engen Grenzen des Inspektionsverfahrens hinausweist. Der Schulträger leistet einen Beitrag, die pädagogische Arbeit von Schule zu verbessern, wenn er sich auf Grundlage des Inspektionsberichts fragt, welche Handlungsmöglichkeiten für ihn entstehen, um auf Verbesserungen hinzuwirken. Auf diese Weise wird dem Instrument Schulinspektion dann doch noch ein gewisser Stellenwert beigemessen. Exkurs: Leitwert Bildung Die Begründung zielt hierbei auf Bildung ab: „Bildung hat eben einen hohen Stellenwert. Das muss man eben sehen und deswegen haben wir also doch einiges an Investitionen.“ (Schulträger Herr Karl) Die Inspektion ist insofern nur einer von vielen Anlässen für Grenzüberschreitung durch den Schulträger. Sie geschieht immer dann, wenn es für den Akteur Sinn macht, in Bildung zu investieren. Als Universalwert eröffnet Bildung einen breiten Ermessensspielraum, um tätig werden zu können. Rollenbegrenzungen, die aus dem gesetzlichen Auftrag folgen, überwindet der Schulträger faktisch und findet in kulturell-sinnvollen Interpretationen von Bildung erweiterte Betätigungsfelder. Auf diese Weise rückt er vom Rand des Spielfeldes wieder in das Spielfeld vor. Eigene Interessen in der Region können so bewahrt werden. Am Beispiel des Verhaltens des Schulträgers im Zusammenhang mit der neu eingeführten Inspektion zeigt sich das Potenzial dieses Spielers oder Akteurs. In der von der Hierarchie der Zentrale eingeführten Form der Inspektion darf er eigentlich nicht mitspielen – tut es aber dann doch. Durch diese Grenzüberschreitung möchte
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der Akteur auch den eigenen Einfluss wahren. Abgesehen von diesem „natürlichen“ Eigeninteresse, der jedem Akteur zusteht, gibt es für den Akteur Möglichkeiten, allein oder in Bündnissen tätig zu werden. So ist es kein Zufall, dass in regionalen Bildungslandschaften unter anderem die Schulträger eine vernetzende Rolle spielen (Niedlich 2020, S. 248).
Definition regionale Bildungslandschaft Dieser Begriff wurde von der Bertelsmannstiftung erfunden, um auf kommunaler Ebene aktiv werden zu können. Die Stiftung möchte Kommunen zu erhöhten Eigenaktivitäten in Bildungsfragen ermuntern. Nach der Erfinderschaft der Stiftung verwenden viele weitere Akteure, die Bezüge zur Kommune haben und Kommunen auch selbst, den Begriff selbstständig. Bildungslandschaft ist somit ein offenes Programm. Sogar einzelne Schulen können sich via Internet mit einer Bildungslandschaft verlinken und vernetzen. Initiiert werden zahlreiche Programme in allen Bildungsbereichen, insbesondere der Jugendhilfe.
Tipp In der Schrift von Niedlich (2020) werden zahlreiche RegionalProgramme der letzten Jahre aus den Bereichen Schule, KinderJugendhilfe, berufliche Bildung und Weiterbildung dargestellt sowie in verschiedene Übersichten gebracht und geordnet. Die Metapher der Bildungslandschaft „hat sich zur Bezeichnung einer Praxis der dauerhaften Vernetzung aller oder möglichst vieler Bildungsanbieter vor Ort eingebürgert.“ (Oelkers 2014, S. 6) Hierbei verhilft der Begriff des lebenslangen Lernens, einzelne Biografien in Stadtteilen zu beobachten. Weil der Gegenstand der Beobachtung dadurch breit ist – da verschiedene Aktivitäten eines Akteurs gesehen werden –, und da sich die Beobachtungen über längere Zeiträume erstrecken, gelingt eine Berücksichtigung der Entwicklung von Biografien in Stadtteilen nur, wenn sich einzelne Bildungsanbieter vernetzen. Ein einzelner Anbieter könnte eine derartige Beobachtung nicht erbringen. Diese Möglichkeit zur Grenzüberschreitung hin zur Kooperation und Vernetzung von Bildungsanbietern in der Region, die auch Schulen einbeziehen, könnte auch mit der Unterauslastung des Schulträgers durch staatliche Programme erklärt werden. Eine derartige Unterauslastung deutete sich im Zusammenhang mit der Schulinspektion an. Jedoch müsste dies die weitere Forschung erst noch zeigen. Wahrscheinlich muss auch ein Schulträger zahlreiche Aufgaben erfüllen. Allein
6 Schulträger
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in NRW scheinen die Gelder für die Sanierung von Schulbauten nicht vollständig abgerufen, da die Personaldecke dünn zu sein scheint (NRZ, 31.03.2018)1. Fazit
Davon unabhängig lässt sich festhalten: Schulträger eröffnen sich Kooperationen in der Region durch ihren relativ breiten Leitwert, an Bildung interessiert zu sein. Auch wäre ein Schulträger in der Lage, alle Teilhandlungen von Entwicklungsprozessen beobachten können, und dies in einer Vor-, Haupt- und Nachgeschichte festzuhalten. Da ein Schulträger allerdings nicht selbst eine Handlungsrationalität entwirft, konzentriert er sich vor allem auf Verfahrensund Ergebnisrationalitäten. ◄ Allerdings ist der Schulträger bei der Planung von Gebäuden in allen Arten der Rationalität aktiv: Bei der Planung des Gebäudes hat er auch eine bestimmte Vorstellung, wie sich ein Gebäude auf die Handlungsrationalität der Gebäudenutzer auswirken wird (z. B. indem Räume ein positives Lernklima schaffen). Neben der Planung des Gebäudes muss der Bau gebaut und abgenommen werden, benötigt also Anwesenheit in allen Teilprozessen. Als in der Region handelnder Akteur ist der Schulträger grundsätzlich in der Lage, Rationalitäten von Programmen von Anfang bis Ende zu begleiten. Exkurs: Rolle als intermediärer Akteur Durch seine Fähigkeiten zu bewussten Grenzüberschreitungen zeigt der Akteur, dass er Begrenzungen der Hierarchie kennt, sich aber trotzdem in der Region und für die Region zu öffnen versteht und sich dabei auch mit anderen Akteuren in einer Bildungslandschaft vernetzen kann. Damit beweist er seine Rolle als intermediärer Akteur. Diese Fähigkeiten werden bislang im Schulsystem von der Zentrale, also der Politik und der Schulaufsicht, kaum wertgeschätzt, sodass der Beitrag der Schulträger für die kollektive Handlungsfähigkeit der Schule systematisch unterschätzt wird. Beim Bewusstwerden dieses Defizits könnten sich ganz andere Handlungsmöglichkeiten des Systems entfalten.
1https://www.nrz.de/region/foerdergeld-fuer-schulen-oft-nicht-abgerufen-id213778829. html (22.03.2020).
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Literatur Verwendete Literatur Brüsemeister, Thomas, Lisa Gromala, Bianca Preuß, und Jochen Wissinger. 2016. Schulinspektion im regionalen und institutionellen Kontext. Qualitative Befunde zu schulinspektionsbezogenen Akteurkonstellationen. In Schulinspektion als Steuerungsimpuls? Ergebnisse aus Forschungsprojekten, Hrsg. Arbeitsgruppe Schulinspektion, 51–89. Wiesbaden: VS Verlag. Niedlich, Sebastian. 2020. Neue Ordnung der Bildung? Zur Steuerungslogik der Regionalisierung im deutschen Bildungssystem. Wiesbaden: Springer VS. Oelkers, Jürgen. 2014. Ideen zur Gestaltung von Bildungslandschaften. Vortrag im Vorarlbergmuseum Bregenz am 1. November 2014. http://www.ife.uzh.ch/dam/ jcr:00000000-4a53-efce-0000-000066de430f/Brengenz_Bildungslandschaften.pdf. Zugegriffen: 15. Juli 2020. Preuß, Bianca. 2013. Akteurkonstellationen zwischen Schulträger und Schule. Empirische Analysen zur Governance von Schulinspektion. In DDS – Die Deutsche Schule. Beiheft 13, 153–170. Münster, New York: Waxmann. Sekretariat der Kultusministerkonferenz. 2019. „Schulträger“. https://www.bildungsserver. de/glossarbegriff.html?glossarbegriffe_id=144. Zugegriffen: 15. Juli 2020.
Weiterführende Literatur Preuß, Bianca. 2013. Akteurkonstellationen zwischen Schulträger und Schule. Empirische Analysen zur Governance von Schulinspektion. In DDS – Die Deutsche Schule. Beiheft 13, 153–170. Münster, New York: Waxmann. Vertiefende Analyse auf Basis empirischer Daten.
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Kommunales Bildungsmanagement
Zusammenfassung
In diesem Kapitel wird der neue Akteur kommunales Bildungsmanagement angesprochen. Dazu wird zuerst auf die Beziehung von Schule zur Gesellschaft eingegangen. Nach dem zweiten Weltkrieg dachte man zuerst, die Schule sei ein Motor, ein antreibendes Moment für die Gesellschaft. Gegenwärtig sieht es eher andersherum so aus, dass die Schule auf Vorleistungen der Gesellschaft und der Kommune im Besonderen angewiesen ist. Ein kommunales Bildungsmanagement kann solche Vorleistungen von verschiedenen Anbietern organisieren. Der zweite Teil des Kapitels beschäftigt sich mit Eigenarten eines kommunalen Bildungsmanagements.
7.1 Beziehung Schule und Gesellschaft Zusammenfassung
In diesem Unterkapitel wird die grundlegende Beziehung zwischen Schule und Gesellschaft erörtert. In früheren Jahrzehnten nach dem zweiten Weltkrieg war eine Schule, die mit wissenschaftsbasierten Methoden arbeiten sollte, eine Instanz, die die Gesellschaft modernisieren konnte. In der Gegenwart scheint die Beziehung zwischen Schule und Gesellschaft eher umgekehrt. Es werden Voraussetzungen von der Gesellschaft erwartet, die zuerst erbracht werden müssen, damit Schule möglich ist. Es geht hierbei auch um die Frage der Koordination verschiedener Hilfen für die Schule. ◄
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 T. Brüsemeister, Soziologie in pädagogischen Kontexten, https://doi.org/10.1007/978-3-658-04305-6_7
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7 Kommunales Bildungsmanagement
Die Bundesrepublik wurde in den 70er Jahren von der Diskussion um die Einführung der Gesamtschule zerrissen, nämlich einmal zwischen den Bundesländern, die christ-soziale Regierungen hatten, und Bundesländern mit SPD-geführten Regierungen. Die zuerst genannten waren strikt gegen, die zuletzt genannten strikt für die flächendeckende Einführung der Gesamtschule im gesamten Bundesgebiet. Dies hat zu einer Patt-Situation zwischen diesen beiden Ländergruppen geführt und es hat zudem verhindert, dass sich eine Bildungspolitik in den Ländern noch einmal an eine Großreform herantraute. Bis die PISA-Studie im Jahr 2000 kam, hat dies im Grunde vorgeherrscht. Von heute aus nimmt sich die Wendung in den 80er Jahren, also nachdem die Patt-Situation im Streit um die Gesamtschule entstand, als gravierend aus, insofern damals Politik und die Forschung auf die Einzelschule heruntergeschwenkt sind. Politik und Forschung widmen sich nicht mehr dem Schulsystem, sondern der Einzelschule. Das ist insbesondere von Fend (1986) mit dem Aufsatz über die Einzelschule als pädagogische Handlungseinheit eingeleitet worden. Man hat sich dabei von der einzelnen Schule die Reform gewünscht, die eigentlich eine Reform des gesamten Schulsystems hätte sein müssen. So geschrieben lässt sich bereits erahnen, dass die Perspektive von Politik und Forschung auf die einzelne Schule eine Überschätzung der Möglichkeiten der einzelnen Schulen war und ist. Tipp Eine kritische Betrachtung der Hervorhebung der Einzelschule findet sich bei Böttcher (2019). Herausgearbeitet wird, dass bei Fend, aber auch anderen Autorinnen und Autoren von einem betrieblichen Management-Modell einer teilautonomen Schule ausgegangen wird. Infrage steht jedoch die Annahme, ob es sich bei der einzelnen Schule überhaupt um eine einzelne Organisation handelt, die betriebsähnlich wie in der Wirtschaft organisiert werden könnte. Zwischenzeitlich wurde im Rahmen der evaluationsbasierten Steuerung (Altrichter und Heinrich 2006) die Einzelschule zur Instanz ausgerufen, die über ihre Leistungen Rechenschaft ablegen soll. Gegenwärtig wird zunehmend gefragt, ob die einzelne Schule dazu überhaupt Kapazitäten hat. Das heißt, man begreift, dass die Schule von vielen anderen Dingen abhängig ist, die außerhalb von ihr liegen – in der Gesellschaft.
7.1 Beziehung Schule und Gesellschaft
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Exkurs: Gesellschaftliche Voraussetzungen von Schule Es kommt also zunehmend in den Blick, was bei der Einzelschule als pädagogische Handlungseinheit ausgeblendet wurde, nämlich gesellschaftliche Voraussetzungen der Schule. Insbesondere ist auch nicht mehr der Optimismus von Parsons aus den 70er Jahren festzustellen, dass die Schule der Gesellschaft zu einer Verbesserung und Modernisierung verhilft. Sondern heute wird umgekehrt begriffen, dass die Schule auf die Unterstützung der Gesellschaft angewiesen ist, um ihr Kerngeschäft – unterrichtsbezogene Interaktionen – organisieren zu können. So ist zum Beispiel Fthenakis (2016) der Auffassung, dass gerade heterogene Lerngruppen zuerst eine soziale Integration in ihren jeweiligen Umfeldern, d. h. in den Familien, im Freundeskreis, in den Stadtteilen benötigen, die die Schule nicht leisten kann. In einer Perspektive, die sich am Bedarf der Beteiligten, das heißt an den Schülerinnen und Schülern vor Ort, ausrichtet, wird deutlich, dass zum Beispiel fachliche Bemühungen, die Sprachkompetenz von Schülerinnen und Schülern zu verbessern, allein nicht ausreichen. Fthenakis sieht das Defizit vor allem in der fehlenden Diskursivität einer Bezugsgruppe.
Wissensbaustein: Die Schule als Raum ausgehandelter Bedeutungen, zusammen mit dem Sozialraum
Für Fthenakis (2016, S. 24) hat die Schule die Aufgabe, die Welt emotional bedeutsam zu machen. Dies geschieht durch eine sich bildende Gemeinschaft, die nicht nur Informationen verarbeitet, sondern aus dem unendlichen Strom von Informationen etwas herausgreift, und es bedeutsam macht. Das macht die Schule zu einem Teil des Sozialraums, in welchem nämlich ebenfalls solche Bedeutungsgebungen ständig vorgenommen werden.
Sozialraum ist ein Beziehungsgeflecht. Kinder und Jugendliche werden als Teil des Sozialraums gesehen, noch bevor sie in die Schule eintreten und auch bevor Unterrichtsprozesse einsetzen. Der Sozialraum der Schule ist mit dem Sozialraum der Region, Gemeinde, der Stadt verbunden. Der schulische Sozialraum verbindet die schulischen Akteure und ihre Beziehungen mit externen Helfern, sodass eine soziale Integration möglich ist. Die Schule erbringt auch Beiträge für den
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7 Kommunales Bildungsmanagement
Sozialraum und sie kann sich auch Hilfe besorgen aus dem Sozialraum für ihre Funktionen. Fthenakis ist der Meinung, dass die Bildungsprozesse alleine keine Integration bewerkstelligen können, sondern dass es dafür eines zusätzlichen sozialen Integrationsansatzes durch den Sozialraum bedarf.
Wissensbaustein: Integration durch Anerkennung von Fähigkeiten zur Performanz
Zudem besteht die Möglichkeit zu einer Integration, wenn Akteure in ihren Fähigkeiten zur Performanz anerkannt werden. Neben der Sozialintegration und der Systemintegration (siehe Kap. 1, Definition System- und Sozialintegration) gibt es also auch diese weitere Integrationsmöglichkeit, nach dem Muster, das jeder Akteur etwas kann (Performanz zeigen). Dies anzuerkennen fällt freilich der Schule (noch) schwer, dass sie auf Wissen ausgerichtet wurde.
Die Rückkehr der Gesellschaft in die Erforschung der Schule1
Als Zwischenfazit lässt sich festhalten, dass sich die Bedeutung der Schule in der Gesellschaft gravierend gewandelt hat. In den 1960er und 70er Jahren war die Schule quasi das Reagenzglas, in dem die Modernisierung der Gesellschaft vorangebracht werden konnte, weil die Schule sich auf Leistung konzentriert und damit modern ist und nicht mehr Herkunftsbezüge voranstellt (Parsons 1972). In der Gegenwart sieht man eher die Schule in der Abhängigkeit von Vorleistungen der Gesellschaft. Schulen werden untereinander und zusammen mit anderen Helfern als Teile von Bildungsregionen gesehen, was bedeutet, dass die Gesellschaft, vorher ausgeblendet bei Fend und seinem Blick auf die Einzelschule als pädagogische Handlungseinheit, wieder mit in den Blick gerät. ◄ Dadurch wird die Frage aufgeworfen, wie die Schule und auch andere Akteure, die Bildungsleistungen erbringen, vor Ort zusammen organisiert werden. Das ist möglich mittels eines kommunalen Bildungsmanagements der Kreis- oder Kommunalverwaltung. 1„Die
Rückkehr der Gesellschaft …“ ist entlehnt einem Werk von Ortmann et al. (2000). Das Werk bezieht sich nicht auf Schule.
7.2 Eigenarten des kommunalen Bildungsmanagements
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7.2 Eigenarten des kommunalen Bildungsmanagements Zusammenfassung
Mit dem kommunalen Bildungsmanagement sind wir jetzt bei dem Akteur angelangt, der in diesem Kapitel behandelt wird. Kommunales Bildungsmanagement ist ein junger Akteur. Wie bereits oben mit den kommunalen Netzwerken angesprochen, zeichnet er sich dadurch aus, dass er verschiedene Anbieter von Bildung sowie die Schule, Schulträger, und Schulaufsicht bündeln kann. Vom Bildungsmanagement wird organisiert, dass sich diese Anbieter von Bildung untereinander abstimmen. ◄ Diese Abstimmungsprozesse sind niederschwellig organisiert. Man kann sehen, dass diese Versuche der niederschwelligen Organisation in der Gegenwart ein neues Modethema geworden sind; viele reden von Regionalisierung, Kommunalisierung (Niedlich 2020). Das liegt daran, dass man vermutet, kommunale Akteure seien näher an Problemlösungen positioniert, als zum Beispiel Akteure auf der Länderebene. Kap. 7 liegen Erfahrungen zum kommunalen Bildungsmanagement aus dem BMBF-Förderprogramm „Lernen vor Ort“ zugrunde (Arbeitsgruppe „Lernen vor Ort“ 2016). Das Programm sollte von 2010 bis 2015 vierzig Kommunen in die Lage versetzen, ein solches kommunales Bildungsmanagement aufzubauen. Durch neue Anlaufstellen in der städtischen Verwaltung und in Kreisen wurden die Angebote verschiedener Bildungsinstitutionen mittels zusätzlicher Koordinationsstellen integriert, sodass die Angebotslandschaft strukturierter wurde. Diese zusätzlichen Koordinationsstellen koordinieren und beraten alle Akteure, die innerhalb der Kommune mit Bildung zu tun haben; das gleiche gilt für externe Partner in Bildungsfragen. Ein derartiges kommunales Bildungsmanagement orientiert sich dabei an der übergreifenden Perspektive eines Lernens im Lebenslauf. Zu den verschiedenen Bildungsabschnitten (Kindergarten, Schule, Beruf, Weiterbildung) sowie zu den Übergängen zwischen den Abschnitten werden Daten gesichtet und bei Bedarf neue Daten erhoben. Man spricht deshalb von einem datenbasierten kommunalen Bildungsmanagement (DKBM). Auch die anderen Akteure können diese neue Perspektive eines Lernens im Lebenslauf temporär einnehmen, sobald sie mit dem DKBM zu tun haben. Jeder Akteur kann dann beobachten, wer welche Zeitspanne in diesem Lebenslauf mit welchen Instrumenten bedient.
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7 Kommunales Bildungsmanagement
Wissensbaustein: Lernen im Lebenslauf
Durch die Bezugnahme auf Lernen im Lebenslauf sollten sich die verschiedenen Bildungsanbieter besser untereinander abstimmen können. Diese Abstimmung bedeutet, dass sich die Steuerung durch ein Bildungsmanagement auf koordinative und partizipative Aufgaben zurückziehen kann, während die Steuerung, die wir vorher im New Public Management haben, immer von einem starken Management ausgeht. Hier ist eher ein Modell der Augenhöhe angeführt – das Bildungsmanagement hebt sich nicht als Steuernder hervor, sondern ist Koordinator für die Bildungsanbieter. Dafür ist die Orientierung an Lernen im Lebenslauf ein guter Rahmen. Denn kein Bildungsanbieter ist dem anderen übergeordnet, bzw. keine Bildungsphase ist wichtiger als eine andere. Es entsteht so eine professionelle Gleichheit. Zusammenarbeit auf Augenhöhe ist möglich.
Für BildungsmanagerInnen sind starke Kommunikationsfähigkeiten erforderlich. Um Augenhöhe zwischen den Bildungsanbietern zu erzeugen, müssen die verschiedenen Vertreter der Anbieter von ihren ‚hohen Rössern‘ fachlicher Egoismen herunterkommen. Das geschieht interessanterweise auch ganz gut, wenn typischerweise der Kreis in Bildungsfragen wenig zu sagen hat; dann nimmt man ihm eine Koordinationsaufgabe eher ab. Die Ressorts können einander dabei beobachten, wie ihr fachlicher Egoismus durch das Mitarbeiten in einem kommunalen Netzwerk erweitert wird; anderen Mitgliedern des Netzwerks wird zugehört. Auf diese Weise fällt es nicht mehr so leicht, an die Mitglieder eigene Probleme auszulagern. So werden insbesondere Übergangsprobleme, die sich die Fachegoismen wechselseitig erzeugen, nicht mehr externalisiert, sondern im Netzwerk bearbeitet. In dem vom kommunalen Bildungsmanagement gestifteten Netzwerk haben alle Akteurin das gleiche Mitspracherecht. Es herrscht professionelle Gleichheit. Das bedeutet, ein starker Bildungsanbieter, der viele MitarbeiterInnen hat, und ein kleiner Bildungsanbieter, der nur ein kleines Büro mit zwei MitarbeiterInnen hat, haben in dem Netzwerk gleiches Stimmrecht. Es wird allen Bildungsanbietern Wertschätzung ausgedrückt, und, dass ihre Arbeit benötigt wird. Durch Daten zu verschiedenen Bildungsangeboten erhält das Bildungsmanagement Informationen, in welchen Bildungsbereichen ein Mangel an Angeboten herrscht, und in welchen Bildungsbereichen vielleicht zu viele Angebote bestehen. Durch Indikatoren wird ebenfalls die Qualität von Bildungsangeboten sichtbar gemacht. So haben einige Kommunen bemerkt, nachdem sie ein Monitoring mithilfe dieses kommunalen Bildungsmanagements eingeführt
7.2 Eigenarten des kommunalen Bildungsmanagements
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haben, dass sie anders, als sie dachten – z. B. im frühkindlichen Bereich –, keine starken Angebote haben, sondern in anderen Bildungsbereichen. Exkurs: Dialog zwischen Ressortegoismus und Netzwerk Auf der einen Seite gelingt ein integriertes Bildungsmanagement nur, wenn die Fachressorts in der Verwaltung, die mit Bildung zu tun haben, temporär aus ihrem Egoismus heraustreten, und in dem Netzwerk mitarbeiten. Auf der anderen Seite ist der Egoismus der einzelnen Ressorts auch gut, insofern sich jedes Fachressort neu in dem Netzwerk beweisen kann. Man sieht die Eigenständigkeit gerade auch aus der Netzwerkperspektive, denn in dem Netzwerk kann kein Anbieter genau diese eine Leistung des einen Anbieters erbringen. Dadurch ist ein Dialog möglich zwischen dem Ressortegoismus und dem Netzwerk, den das kommunale Bildungsmanagement stiftet. Das kommunale Bildungsmanagement kann durch das Netzwerk Kommunikation und Dialoge zwischen den einzelnen Bildungsanbietern und deren Hierarchien stiften. Durch das kommunale Bildungsmonitoring ist es möglich, dass sehr kleinteilig, nämlich stadtteilbezogen, Angebote korrigiert oder teils auch neu errichtet werden können, was die Bildungsberatung und Partizipationsmöglichkeiten in bestimmten Stadtteilen erhöht. Wir hatten im Kapitel zum Monitoring gesehen, dass das kommunale Monitoring ganz andere Eingriffsmöglichkeiten als das Monitoring auf Länderebene hat. Es geht hier um den Sozialraum, der fokussiert wird; so weit ‚herunter‘ kommt das Monitoring eines Bundeslandes nicht. Was das Bildungsmanagement nun tut, ist, neue Organisationsformen einzuführen oder teilweise alte Organisationsformen wiederzuentdecken. Es geht darum, dass man das Rad nicht neu erfinden muss. Zum Beispiel haben einige Standorte, die ein kommunales Bildungsmanagement errichten, sich dem regionalen Bildungsnetzwerk angeschlossen und sich an deren Strukturen angelehnt.
Wissensbaustein: Umweltoffene und miteinander verzahnte Organisations formen
Weiter wurden dann für die Partizipation der Anbieter untereinander große Bildungskonferenzen durchgeführt, die teilweise tausend TeilnehmerInnen hatten. Ziel war, mit ExpertInnen neueste Befunde zu Kinder- und Jugendlichen auszutauschen, sodass dann die Organisation mit neuem Expertenwissen aus der Umwelt aufgefrischt werden kann. Das DKBM hat auf diese
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7 Kommunales Bildungsmanagement
Weise das Ohr an der Basis, und diese Basis ist eine sich immer weiterentwickelnde, individualisierende Klientel. Dafür wird ein breites und tiefes ExpertInnen-Wissen benötigt, welches über Bildungskonferenzen organisiert werden kann. Mit den Befunden aus den Bildungskonferenzen wurde dann in kleinen Runden weitergearbeitet. Es wurden sog. Entwicklungswerkstätten gebildet, in denen Konsequenzen für die Kommune und die Entscheider der Kommune ausgedacht wurden. In solchen Werkstätten werden Befunde aus den Bildungskonferenzen konzentriert, und dann hochgetragen in Gremien bis zur Verwaltungsspitze und Lenkungskreisen. Von dort holten sich dann verschiedene Teams, die das kommunale Bildungsmanagement einrichtet, Aufträge, um reguläre Entscheidungskreisläufe explizit verändern zu dürfen. Diese Aufträge sind legitimiert durch den Lenkungskreis, also von oben. Das bedeutet, die Treppe wird sowohl ‚von oben‘ gekehrt, d. h. die Leitungen wurden informiert. Gleichzeitig wurde ‚von unten‘, also von der Basis, neue Wissensbestände zu Kindern und Jugendlichen in diese oberen Etagen eingeführt, sodass – wie ein Paternoster, der herauf und herunter fährt – die gesamte Hierarchie mit dem gleichen Wissen über die Kinder und Jugendlichen durchtränkt ist. Das sind besondere Leistungen eines kommunalen Bildungsmanagements auf dem Gebiet der Organisation. Zusammengefasst in Stichworten wurden umweltoffene und verzahnte Organisationsformen entworfen: • Bildungskonferenzen sind partizipative Veranstaltungen für Bildungsanbieter • das Expertenwissen aus der Umwelt steht dem Kreis/Stadt zur Verfügung • Entwicklungswerkstätten loten dieses Wissen in seinen Konsequenzen für einen Standort aus • das Kondensat wird hochgetragen in die Verwaltungsspitze • von dort kommen Aufträge wieder zurück an die Basis • die gesamte Hierarchie ist mit dem gleichen Wissen über Kinder und Jugendlichen versorgt.
Zudem gibt es eine besondere Leistung auf der Ebene von Sichtbarkeit: das kommunale Bildungsmanagement bedient sich mithilfe des kommunalen
7.2 Eigenarten des kommunalen Bildungsmanagements
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Monitorings der Öffentlichkeitsarbeit, um Bildungsleistungen im Sozialraum bekannt zu machen. Das ist nicht nur eine Werbemaßnahme für die in der Kommune Tätigen, sondern soll auch diejenigen erreichen, die bestimmte Bildungsangebote benötigen. Damit verbunden ist eine neue Erkenntnis: Bildung wird nicht mehr automatisch gewollt, sondern muss an die Betreffenden herangetragen werden. Die Kommunikationsrichtung ist umgekehrt worden – man muss Bildung zu den Einzelnen tragen und man muss sich und die Bildungsprogramme so attraktiv machen, dass das Bildungsangebot genutzt wird. Wenn das kommunale Bildungsmanagement so gut kommunikativ aufgestellt ist, eine Organisation hat, eine Sichtbarkeit herstellt, dann ist es in der Lage, Entwicklungsprozesse, die es anstößt, in einer Vor-, Haupt- und Nachgeschichte zu beobachten und zu begleiten, bis zur Nachgeschichte. Das heißt, das kommunale Bildungsmanagement erfindet vielleicht nicht selbst eine Handlungsrationalität, sondern lässt das die ExpertInnen in den Netzwerken erfinden, wartet aber auch mit Verfahrensweisen auf. Das kommunale Bildungsmanagement hat eine Verfahrensrationalität und es kann über das Monitoring auch Ergebnisrationalität beobachten. Das bedeutet, dass veränderte Bildungsprogramme nicht nur ausgedacht werden – das machen ExpertInnen –, sondern auch intensiv in organisationale Verfahren eingebracht und umgesetzt werden, sodass auch eine Ergebnisrationalität überprüft werden kann. Eine besondere Leistung des Bildungsmanagements ist, dass es sich mit der Hierarchie auskennt. Das DKBM arbeitet in städtischen und Kreisverwaltungen, ist mit der hierarchischen Denkweise vertraut. Gleichzeitig ist es ein Profi in Enthierarchisierung, das heißt es kann in freien Netzwerken denken, es kann sich in verschiedene Fachressorts hineinversetzen, und da jedes Ressort einen nicht ersetzbaren Beitrag leistet, erscheinen die Fachressorts in professioneller Gleichheit. Insofern kann das kommunale Bildungsmanagement sehr gut eine Art „Frischzellenkur“ für die Hierarchie sein, weil es neue Befunde über Kinder und Jugendliche dort hineinträgt und damit auch das Bildungsangebot entscheidend mit verändert. Für die Schule bedeutet dies, dass das Bildungsmanagement in der Lage ist, verschiedenste Helfer für die Schulen zu organisieren oder vielmehr die Schule als Teil eines Bildungsnetzwerkes zu sehen. Die Schule wird als Lernort begriffen, der kommunal verankert ist und den Sozialraum bereichert, sodass verschiedene Anbieter sich des Lernorts Schule bedienen können, z. B. Sportvereine, Musikveranstaltungen. Kulturelle Bildung kann mit in der Schule organisiert werden und findet auf dem Gelände der Schule statt, sodass dann Schulen eher als Verteilungszentrum für verschiedene Bildungsangebote gesehen werden können.
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7 Kommunales Bildungsmanagement
Fazit
Mit einem kommunalen Bildungsmanagement wird die Schule als Teil des Sozialraumes gesehen. In diesem Sozialraum findet eine Integration statt, bevor Unterricht eingesetzt; dies ist zumindest die Perspektive von Fthenakis. Die Arbeitsweise eines kommunalen Bildungsmanagements besteht darin, verschiedene Bildungsanbieter zu koordinieren, sodass Übergangsprobleme möglichst erkannt und abgemildert werden. Diesbezüglich ist die Kommune inklusive des schulischen Anbieters in der Lage, die gesamte Lebensspanne und ein Lernen im Lebenslauf zu fokussieren. Auf der Organisationsebene überzeugt dass DKBM damit, die gesamte Hierarchie der Kommune mit neuem Wissen zu versehen, was Bedarfe von Kindern und Jugendlichen angeht. Durch sein Monitoring unternimmt das DKBM eine Öffentlichkeitsarbeit, die Bildung in ihrer Wichtigkeit deutlich macht und an betreffende Zielgruppen heranträgt. ◄
Literatur Verwendete Literatur Altrichter, Herbert, und Martin Heinrich. 2006. Evaluation als Steuerungsinstrument im Rahmen eines „neuen Steuerungsmodells“ im Schulwesen. In Evaluation im Bildungswesen. Eine Einführung in Grundlagen und Praxisbeispiele, Hrsg. Wolfgang Böttcher, Heinz Günter Holtappels, und Michaela Brohm, 51–64. Weinheim, München: Juventa. Arbeitsgruppe „Lernen vor Ort“. 2016. Kommunales Bildungsmanagement als sozialer Prozess. Studien zu „Lernen vor Ort“. Wiesbaden: VS Verlag. Böttcher, Wolfgang. 2019. Schulentwicklung der Einzelschule – Kritische Betrachtungen. In Schulreform. Zugänge, Gegenstände, Trends, Hrsg. Nils Berkemeyer, Wilfried Bos, und Björn Hermstein, 679–690. Weinheim, Basel: Beltz. Fend, Helmut. 1986. „Gute Schulen – schlechte Schulen“. Die einzelne Schule als pädagogische Handlungseinheit. Die Deutsche Schule 78 (3): 275–293. Münster, New York: Waxmann. Fthenakis, Wassilios. 2016. Von Integration zur Inklusion und danach (wieder) zu Illusion? Hauptvortrag auf der 7. Regionalen Bildungskonferenz des Kreises Recklinghausen, Haltern am See, 5. Juli 2016. https://www.kreis-re.de/inhalte/bildung/bildungsberichterstattung/impulsreferat_7._biko_05.07.2016-_prof._fthenakis.pdf. Zugegriffen: 15. Juli 2020. Ortmann, Günther, Jörg Sydow, und Klaus Türk. 2000. Theorien der Organisation. Die Rückkehr der Gesellschaft. Wiesbaden: VS Verlag. Parsons, Talcott. 1972. Das System moderner Gesellschaften. Weinheim, Basel: Beltz.
Literatur
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Weiterführende Literatur Brüsemeister, Thomas. 2016. Verschiebungen von Machtbalancen im Bildungswesen – Kontrastiver Vergleich zwischen „Schulinspektion“ und „Lernen vor Ort“. In Schulqualität – Bilanz und Perspektiven Grundlagen der Qualität von Schule 1, Hrsg. Ulrich Steffens und Tino Bargel, 277–292. Münster, New York: Waxmann. Der Artikel geht auf Differenzen zwischen einem kommunalen Bildungsmanagement und der staatlichen Verfasstheit der Schule ein. Niedlich, Sebastian. 2020. Neue Ordnung der Bildung? Zur Steuerungslogik der Regionalisierung im deutschen Bildungssystem. Wiesbaden: Springer VS. Umfassende Darstellung und Einordnung verschiedener regionaler Bildungsprogramme.
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Kritische Öffentlichkeit
Zusammenfassung
In diesem Kapitel wird sich mit einem Akteur beschäftigt, der nur selten als Teil des Schulsystems mitberücksichtigt wird. Der Akteur gehört jedoch zum unsichtbaren Kit des Schulsystems dazu. Insbesondere bei Fehlern von Institutionen oder bei der Kritik an Reformen wird eine kritische Öffentlichkeit benötigt. Es gibt noch einen weiteren Akteur, der für das Schulsystem relevant ist: die kritische Öffentlichkeit. Der Begriff wurde wesentlich von Habermas (1990) beeinflusst (vgl. zur Übersicht Calhoun 1992). Die Öffentlichkeit ist ein Akteur, den man leicht übersehen kann, aber man sieht in verschiedensten Interviews mit einzelnen Akteuren der Schule, dass sie sich auf etwas beziehen, das nicht im Schulsystem vorkommt. Es handelt sich hierbei um einen bunt zusammengesetzten Akteur Öffentlichkeit. Wenn zum Beispiel eine Schule ein Angebot macht, um SchülerInnen zu gewinnen, dann will diese Schule nicht vor der Bildungspolitik gut dastehen, sondern vor künftigen SchülerInnen, deren Eltern, dem Publikum aus der Region und vielleicht auch aus weiteren Städten und Regionen als potenziellen KandidatInnen (deren Eltern vielleicht vorhaben, ihren Wohnort in den Einzugsbereich der Schule zu verlagern). Kurz, der Adressat ist die Gesellschaft. Die kritische Öffentlichkeit lässt sich als Teil der Gesellschaft begreifen, die bestimmte Meinungen kundtut und damit korrigierend auf andere Akteure im Schulsystem wirkt. Ähnlich argumentiert Fthenakis (2016), die Schule sei auf die Unterstützung der Gesellschaft angewiesen, um ihr Kerngeschäft – unterrichtsbezogene Interaktionen – organisieren zu können.
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 T. Brüsemeister, Soziologie in pädagogischen Kontexten, https://doi.org/10.1007/978-3-658-04305-6_8
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8 Kritische Öffentlichkeit
Erklärungswürdig ist die Frage, warum sich bestimmte Akteure in der Öffentlichkeit bemerkbar machen. Öffentlichkeit wird bemüht, um Fehler im Schulsystem anzukreiden. Damit hätte die Öffentlichkeit eine Wächterfunktion in der Demokratie, weil sie mitunter Institutionen dahin gehend korrigieren kann, was die eigentlichen Aufgaben und Basiswerte von Einrichtungen sind. Somit würde auch die Öffentlichkeit Institutionen vor Korruption schützen. Wenn man also auf der Suche nach Fehlern ist oder einem diese Fehler auffallen, dann wird die Öffentlichkeit benutzt, um bestimmte Zustände an öffentlichen Institutionen zu kritisieren. Damit werden die Institutionen wieder auf den richtigen Weg gebracht.
Wissensbaustein: Experten und Laien
Die Öffentlichkeit scheint dabei von anderen Akteuren kaum beeinflussbar bzw. steuerbar. Wesentlicher Grund ist, dass es sich bei Öffentlichkeit um eine bunt zusammengesetzte Gruppe handelt. Sie besteht teils aus ExpertInnen, teils aus informierten Laien. Teilweise sind die Laien in ihrer Naivität wichtiger, weil sie sich nicht von einer eingefahrenen Expertenmeinung haben korrumpieren lassen und vielleicht Dinge von außen und/ oder mit mehr Distanz beobachten können.
Mitunter weiß der Einzelne noch gar nicht, wann er und dass er mit seiner Meinung zu bestimmten Ereignissen als Teil der Öffentlichkeit benötigt wird. Das heißt, die Öffentlichkeit ist ein temporärer Akteur, der gebildet wird, wenn er gebraucht wird. Ebenfalls lässt sich sehen, dass die Öffentlichkeit nicht nur der Maximierung von Eigeninteressen dient, sondern die Bürgerinnen und Bürger teilweise auf Eigeninteressen verzichten und dann für eine Öffentlichkeit stimmen oder sich als Öffentlichkeit anders verhalten, nämlich gerechter. Man kann fragen: Warum machen Menschen dies? Der Einzelne kann denken, dass er in der Zukunft einmal auf die Hilfe anderer angewiesen sein könnte. Darauf reagiert er prospektiv, in dem er anderen Akteuren ebenfalls beisteht, sich solidarisch zeigt, andere mit seiner Meinung unterstützt. Uneigennütziges Handeln kann sich später auszahlen. Manche Menschen empfinden, Glück gehabt zu haben in ihrem Leben, und möchten der Gesellschaft etwas zurückgeben. Auch dieser Fall kann motivieren, zu einer (kritischen) Öffentlichkeit beizutragen. Ebenfalls gibt es Menschen, die aus Überzeugung auf Egoismus verzichten und sich für die Gemeinschaft engagieren.
8 Kritische Öffentlichkeit
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Akteure der Öffentlichkeit können aus ganz unterschiedlichen Einrichtungen des Staates, der Wirtschaft, der Zivilgesellschaft oder eben auch der Laien kommen. Die Zahl der Beteiligten ist fluide, TeilnehmerInnen können kommen und gehen. Die Art der Themen, für die sie sich einsetzen, ist unüberschaubar und unbegrenzbar. Was für die Öffentlichkeit zählt beziehungsweise sie ausmacht, sind überzeugende Argumente. Es herrscht die Vorstellung und die Praxis, dass sich das bessere Argument durchsetzen wird. Die Herkunft des Argumentes ist dabei zweitrangig. Auch Laien können gute Argumente anbringen, können bessere Argumente haben als ExpertInnen. Gleiches kann jedoch auch andersherum sein. Exkurs: Kritik an Habermas Es ließe sich am Konzept von Habermas kritisieren, dass das Abstrahieren von Herkunft, um nur das bessere Argument zählen zu lassen, angesichts der Realität vielfacher Interessenverflechtungen ein frommer Wunsch ist (Fraser 1992, S. 113). Jeder Sprecher in der Öffentlichkeit kann mit einer sozialen Herkunft in Verbindung gebracht werden. Diese entlarvt das vermeintliche ‚bessere Argument‘ als Argument eines Interessenvertreters. Weiter würde das ‚bessere Argument‘ auch eine unvoreingenommene öffentliche Zuhörerschaft erfordern, die ebenfalls nicht auf Herkunft und Interessen achtet, sondern in der Lage und bereit ist, auf ‚freie Argumente‘ zu hören. Auch dies ist natürlich ein frommer Wunsch. Auch die Öffentlichkeit achtet auf ihre eigenen Interessen. Allerdings würde eine solche Kritik das Konzept von Habermas gar nicht mehr berücksichtigen. Denn die Idee besteht darin, dass es Menschen auch möglich ist, unabhängig von ihren Interessen zu handeln und zu urteilen. Da eine kritische Öffentlichkeit erst entsteht, wenn man sie benötigt, scheint eine Korruption der Öffentlichkeit nur schwer möglich. Da nicht im Voraus bekannt sein kann, wer sich öffentlich melden wird, und da die Menge der Bestechungsmöglichkeiten begrenzt ist, und da nicht alle Bürger im Voraus bestochen werden können, werden sich immer Menschen mit kritischen Themen zu Wort melden; jedoch ist im Voraus nicht deutlich, wer dies unternimmt. Die Funktion besteht darin, in der Gesellschaft über einen potenziellen Wächter zu verfügen, dem bestimmte Entwicklungen in den Institutionen auffallen. Denken wir an Zeitungskommentare, in denen Menschen den Institutionen bestimmte Fehler ‚unter die Nase reiben‘. Man kann zudem sagen, dass gerade auch Schulreformen Kritiken von allen Seiten benötigen, also auch der kritischen Öffentlichkeit und nicht nur von Fachleuten. Diese Kritiken sollten am besten im Vorfeld einer Reform bereits deutlich sein, damit sie bei der Konstruktion einer Reform mitberücksichtigt werden können.
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8 Kritische Öffentlichkeit
Beispiel: Enquete-Kommission
Manchmal werden Öffentlichkeiten auch innerhalb von Bildungseinrichtungen nachgebaut. So wurde zum Beispiel im Hessischen Landtag im Jahr 2016 eine Enquete-Kommission gebildet, in der verschiedene Experten (darunter Wolfgang Böttcher und Thomas Brüsemeister) zu ihren Meinungen angehört wurden, wie viel Schulaufsicht und welche Art von Schulaufsicht das Schulsystem benötigt. Eine solche Enquete-Kommission hat den Charakter einer kritischen Öffentlichkeit. Der Landtag leistete sich eine solche Öffentlichkeit, um verschiedene Meinungen zu hören, die der Landtag selbst nicht abbilden konnte. ◄ Fazit
Zusammengefasst scheint eine kritische Öffentlichkeit wichtig, da sie eine Wächterfunktion ausübt, und mit kritischen Argumenten aufwartet, wenn man sie benötigt. Das bessere Argument wird gerade dann geäußert, wenn es nicht auf eigenen Interessen basiert. Menschen sind in der Lage, sich zu Sachverhalten zu äußern, die alle etwas angehen. Kritisiert wird nicht nur die Handlungsrationalität von Bildungsprogrammen oder Bildungsplänen, sondern auch die Umsetzung in Verfahren (Verfahrensrationalität) sowie die Ergebnisse (Ergebnisrationalität). ◄
Literatur Verwendete Literatur Calhoun, Craig, Hrsg. 1992. Habermas and the public sphere. Cambridge: MIT Press. Habermas, Jürgen. 1990. Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Weiterführende Literatur Matys, Thomas und Thomas Brüsemeister. 2012. Gesellschaftliche Universalien versus bürgerliche Freiheit des Einzelnen – Macht, Herrschaft und Konflikt bei Ralf Dahrendorf. In Macht und Herrschaft. Sozialwissenschaftliche Konzeptionen und Theorien, Hrsg. Peter Imbusch, 195–216. Wiesbaden: VS Verlag.
Literatur
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Artikel zu Dahrendorf, der die Bürgergesellschaft fragil zwischen Wirtschaft und Politik verortet. Fraser, Nancy. 1992. Rethinking the public sphere: A contribution to the critique of actually existing democracy. In Habermas and the public sphere, Hrsg. Craig Calhoun, 109– 142. Cambridge: MIT Press. Der Text von Fraser setzt sich z. B. mit verschiedenen Annahmen von Habermas in seinem Konzept der bürgerlichen Öffentlichkeit auseinander und fragt danach, wer davon ausgeschlossen wird. Hierbei wird auch der Ansatz von Habermas gut verständlich vorgestellt.
9
Zwischenfazit
Zusammenfassung
Im ersten Teil des Buches wurden Akteure vorgestellt, die sozusagen außerhalb des einzelnen Schulhauses tätig sind. Wenn man die verschiedenen Akteure betrachtet wird deutlich: Bevor der Unterricht einer Lehrkraft beginnt, sieht man, dass bereits eine Vielzahl von Akteuren – von der Bildungspolitik bis zum kommunalen Bildungsmanagement und der kritischen Öffentlichkeit – am Werk sind. Hierbei konzentriert sich das Zwischenfazit auf einige Auffälligkeiten. Es werden Bemerkungen zur evidenzbasierten Steuerung und zur Steuerung in den Hessischen Schulbündnissen gemacht sowie auf Performanz als neue Dimension im Schulsystem eingegangen. Geht man die Akteure in Tab. 9.1 von oben nach unten durch, wird deutlich, dass das Denken in Hierarchie zunehmend eingeklammert wird, und das Denken in Region und an dortige mögliche UnterstützerInnen für die einzelne Schule zunimmt. Weiter fällt auf, dass die drei intermediären Akteure Schulaufsicht, Schulinspektion und Schulträger nicht abgestimmt sind. Wesentlicher Blockierer ist hier die Politik, die keine Neubestimmung der Schulaufsicht versucht. Man kann sagen: Man leistet sich drei Akteure, die einzeln oder zusammen zwischen Hierarchie und Region vermitteln könnten – was ein ziemlicher Luxus ist –, aber diese Aufgabe wird nicht angegangen. Für das gesamte System der Schule scheint typisch zu sein, was mit der Schulinspektion passiert ist: Es wird sehr viel Aufwand betrieben, Kategorien zu erstellen, nach denen Unterricht beobachtet wird, aber dies ufert dann in Taxonomien aus.
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 T. Brüsemeister, Soziologie in pädagogischen Kontexten, https://doi.org/10.1007/978-3-658-04305-6_9
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9 Zwischenfazit
Tab. 9.1 Bislang angesprochene Akteure im Mehrebenensystem der Organisation Schule Kapitel
Akteur
Handlungsorientierung
2
Ebene Zentrale: Bildungspolitik
Politische Machbarkeit, Legitimität
3
Bildungsmonitoring
Wissenschaft mit den Augen der Politik deuten; Politik mithilfe der Wissenschaft beraten
4
Bildungsverwaltung
Umsetzbarkeit, orientiert an Ordnung, Verwaltung, Recht
4.1
Intermediäre Ebene: Schulaufsicht
Kontrolle, Beratung
5
Schulinspektion
Anregung, Fachberatung
6
Schulträger
Äußere Schulangelegenheiten, Sachausstattungen, Räume; breiter Leitwert Bildung
7
Kommunales Bildungsmanagement Lernen im Lebenslauf der Kreis- oder Kommunalverwaltung
8
Kritische Öffentlichkeit
9
Zwischenfazit
10
Schulebene: Schulleitungen
Hauptamtlich Beschäftigte für Schulentwicklung
11
Steuergruppen
Schulentwicklung planen (zwischen Beratung und Entscheidung)
12
Lehrkräfte
An Interaktionen mit SchülerInnen ausgerichtet
13
SchülerInnen
Auf Lernen ausgerichtet in schulischen und außerschulischen Feldern
14
Ebene der Zivilgesellschaft: Eltern
Wohl des eigenen Kindes im Zuge einer Bildungsbiografie, Mitsprache
Unspezialisierte Wächterfunktion
Es werden also Ziele festgelegt, nach denen Unterricht beobachtet wird. Aber damit sind noch nicht die Mittel an die Hand gegeben worden, wie die ganze Schule ihren Unterricht verbessern kann. Diese Mittel liegen in Schulentwicklung. Dieses Thema ist aber in der Schule unterbelichtet. Weder ist es Pflichtfach in der Lehrerbildung, noch in den Universitäten, noch in den Schulen selbst. Die zellulare Struktur des Lehrberufes bringt es mit sich, dass jede Lehrkraft in
9 Zwischenfazit
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einer Art Schachtel oder Box (nach Goffman, siehe Brüsemeister 2013, S. 43–46) arbeitet, sodass eine gemeinsame Schulentwicklung strukturell schwerfällt. Dazu müsste man aus den Boxen heraustreten und sich auf freiem Feld erst einmal beraten. Dies müsste pro Schule geschehen. Gleichzeitig werden die Schulen und der Lehrberuf aber mit Ersatzaufgaben überschüttet. Wenn man schon nicht Schulentwicklung messen kann, so kann doch Unterricht besucht werden (Ersatz 1). Wenn dadurch nicht die Qualität gesteigert werden kann, so doch vielleicht durch Schülerleistungstests (Ersatz 2). Wenn einzelne Tests schon keine Verbesserung bieten, dann vielleicht der Bericht über regelmäßige Testungen (Ersatz 3).
Ersatz des Ersatzes des Ersatzes Der Organisationssoziologe Günther Ortmann nennt das „Ersatz des Ersatzes des Ersatzes, Schachteln in Schachteln in Schachteln, Kette der Supplementierungen“ (Ortmann 2003, S. 246). Regelmäßig werden Testungen von Schülerleistungen durchgeführt, und, natürlich kommt heraus, dass diese Leistungen verbesserungswürdig sind. Es ist wie mit der Möhre, die man dem Esel an einem Stock vor die Nase hält: er kommt einfach nicht heran. Wo er auch hingeht, für ihn bleibt die Möhre unerreichbar. Dies lässt sich als Steuerung durch Anomie bezeichnen: Die Bildungspolitik befremdet schulische Akteure, insofern regelmäßig gezeigt wird, wie schlecht Schülerleistungen sind. Jedoch werden die Mittel, das Problem zu lösen, nämlich durch Schulentwicklung, vorenthalten. Die empirische Bildungsforschung hatte der Bildungspolitik nach dem Pisa 2000-Schock empfohlen, solche Testungen regelmäßig durchzuführen. Nach dieser langen Zeit von Schüler-Leistungstests ist jedoch Ernüchterung eingetreten. Die evidenzbasierte Steuerung führt zu keiner Veränderung in der Schule. Deshalb wird heute nach ganz anderen Maßnahmen gerufen, zum Beispiel nach Praxistransfer (Schreiner et al. 2019) oder nach partizipativer Forschung (von Unger 2016). In diesen Ansätzen ist die Beteiligung der Akteure intensiver. In eine ähnliche Richtung einer erfolgversprechenden Steuerung gehen die inklusiven Schulbündnisse in Hessen. Der Cluo ist, dass die Bildungspolitik ihre eigene Existenzberechtigung unter Beweis stellt, indem sie obligatorische Dinge vorgibt, die nicht abgewählt werden können. Sprich, Schulen und Förderschulen müssen ein Bündnis eingehen. Das Glas ist also halb voll. Gleichzeitig gibt die Politik die entscheidende zweite Hälfte des Glases frei: Was Inklusion ist, muss im jeweiligen Bündnis nacherfunden und ausgehandelt werden. Durch diese Freiheitsgrade und in der Notwendigkeit, inhaltlich aktiv zu werden, werden die Bündnisse stark, und die Mitglieder sind motiviert. So funktioniert Schulentwicklung. Zudem haben alle Akteure eindeutige Rollen.
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9 Zwischenfazit
Offensichtlich benötigt jeder Akteur auf seiner Ebene einen Freiraum, um die Performanz zu zeigen, die er beherrscht.
Wissensbaustein: Performanz
Neben Wissen und Kompetenz wird verstärkt auf Performanz gesetzt. Dies ist eine Reaktion auf rapide sinkende ‚Halbwertszeiten‘ von Wissen speziell in den Berufen sowie allgemein in der Gesellschaft. Ebenfalls werden Aufgaben von Bildungseinrichtungen durch Berücksichtigung von Performanz erweitert und verändert. Akteure werden so unterstützt, dass sie befähigt werden, künftige Probleme lösen zu können, von denen sie aktuell noch gar nichts wissen. „Das Wissen, dass man in einem spezifischen Symbolsystem kommuniziert, entsteht nur dort, wo man es erstens in Gebrauch nimmt und zweitens vermittels des Wechsels der Kommunikationsperspektive in eine reflexive Distanz rückt.“ (Dressler 2007, S. 29; Herv. i. O.) Diese Distanz wird nach Dressler ermöglicht durch den Perspektivenwechsel nach Mead (vgl. Brüsemeister 2013, Kap. 2), denn Distanz impliziert einen Standpunkt außerhalb aller Fächer – den Standpunkt, ein vollwertiges Mitglied der Gesellschaft zu sein, das alle Dinge von außen beobachten kann, auch verschiedene Unterrichtsfächer. Aus dieser gesellschaftlichen Sicht kann bemerkt werden: „Keine fachliche Perspektive ist bedeutsamer als die andere, sondern immer nur von anderer Bedeutung. Keiner Perspektive eröffnet sich eine andere Welt, aber immer die eine Welt als eine andere. Religion kann nicht an die Stelle von Politik treten, Naturwissenschaft nicht an die Stelle von Kunst. (…) Zugleich ist die Fähigkeit zum Perspektivenwechsel – ‚taking the role of the other‘ – mit George Herbert Mead als kulturelle Basisleistung zu verstehen, die alles Lernen begleitet.“ (Dressler 2007, S. 28–29)
Das Kind erlernt Perspektivenwechsel und Distanz nicht allein, sondern zusammen mit ausgehandelten Bedeutungen in der Schule und dem Sozialraum (Fthenakis 2016).
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Weichenstellung für die Diskussion von Schulentwicklung SchülerInnen überhaupt die Fähigkeit zuzusprechen, dass sie Bedeutungen mit Akteuren, mit denen sie zusammenleben, aushandeln, ist eine entscheidende Weichenstellung für die gesamte Diskussion von Schulentwicklung, denn damit werden SchülerInnen für fähig gehalten, sich an Schulentwicklung zu beteiligen. Dies wird Thema ab Kap. 10 des Buches sein; es werden dann Akteure innerhalb der einzelnen Schule angesprochen.
Bildungspolitik demonstriert ihre Performanz anhand der Schulbündnisse; sie zeigt, was sie am besten kann, nämlich Dinge obligatorisch vorzugeben. Aber diese Vorgaben können nicht 100 % sein, da dies sonst einer Diktatur gleichkäme und andere Menschen keine Performanz zeigen könnten. Steuerung muss so intelligent sein – nämlich mit Platz für die Beteiligten, innerhalb eines Rahmens –, dass eine Bühne entsteht, auf der andere Menschen performen bzw. ihre Performanz zeigen können. Man kann darin einen wichtigen Baustein von Bildung sehen: in Bildungsprozessen muss Raum für die Performanz eines Akteurs sein; dies gilt für jede Ebene. Wir werden diese Gedanken im weiteren Teil des Buches weiterverfolgen. Exkurs: kritischer Exkurs „Die Schule ist mit ihrer Tendenz, alles in Wissensgegenstände zu verwandeln, an der Plausibilisierung eines naturalistischen Szientismus (einer Illusion von ‚Einheitswissenschaft‘) auf eine leider noch nicht genau untersuchte Weise beteiligt. Sie droht damit freilich dem Bildungsbegriff selbst die Grundlage zu entziehen, insofern der für die Bildsamkeit von Menschen konstitutive Begriff freier Subjektivität in naturalistisch-szientistischer Perspektive schlicht verschwindet.“ (Dressler 2007, S. 29) Fazit
In diesem Zwischenfazit wurde auf einige Auffälligkeiten eingegangen, darunter die Hinwendung des Schulsystems zur Performanz. Diese lässt den Akteuren in der Steuerung Platz, ein Können zu zeigen. Schüler werden im Prinzip für fähig gehalten, an der Steuerung und an Schulentwicklung mitzuwirken. In beispielhaften Projekten wie den Hessischen Schulbündnissen wird intelligent gesteuert, da Akteure klare Aufgaben erhalten, kooperieren und Raum für die Demonstration ihrer Performanz erhalten. So kann Schulentwicklung durch kollektive Handlungsfähigkeit entstehen. ◄
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9 Zwischenfazit
Literatur Brüsemeister, Thomas. 2013. Soziologie in pädagogischen Kontexten. Handeln und Akteure. Wiesbaden: Springer VS. Dressler, Bernhard. 2007. Performanz und Kompetenz. Thesen zu einer Didaktik des Perspektivenwechsels. Theo-Web. Zeitschrift für Religionspädagogik 6 (2): 27–31. Fthenakis, Wassilios. 2016. Von Integration zur Inklusion und danach (wieder) zu Illusion? Hauptvortrag auf der 7. Regionalen Bildungskonferenz des Kreises Recklinghausen, Haltern am See, 5. Juli 2016. https://www.kreis-re.de/inhalte/bildung/bildungsberichterstattung/impulsreferat_7._biko_05.07.2016-_prof._fthenakis.pdf. Zugegriffen: 14. Juli 2020. Ortmann, Günther. 2003. Regel und Ausnahme. Paradoxien sozialer Ordnung. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Schreiner, Claudia, Christian Wiesner, Simone Breit, Peter Dobbelstein, und Ulrich Steffens, Hrsg. 2019. Praxistransfer Schul- und Unterrichtsentwicklung. Münster, New York: Waxmann. von Unger, Hella. (2016). Partizipative Forschung. Einführung in die Forschungspraxis. Wiesbaden: VS Verlag.
Schulleitungen
10
Zusammenfassung
Dieses Kapitel stellt Schulleitungen vor. Sie sind im Schulsystem die einzigen, die (neben ihrem eigenen Unterricht) hauptamtlich für Schulentwicklung zuständig sind. Die internationale Literatur sieht Schulleitungen als herausgehobene Einzelne an. Im Gegensatz dazu fragt die hier verwendete Perspektive von Educational Governance, ob und wie auch andere Akteure Schulentwicklung ermöglichen.
Wie nachfolgend an verschiedenen Stellen hervorgehoben wird, besteht die Handlungsorientierung von Schulleitungen in der Ausrichtung auf Schulentwicklung. Die Schulleitung ist als einziger Akteur hauptamtlich damit beschäftigt, die Schule beständig weiter zu entwickeln. Das Ziel der Schulentwicklung vereint unter sich die beiden Teilziele Unterrichts- und Personalentwicklung (vgl. Kempfert und Rolff 2000).
Exkurs: Stellung im Mehrebenensystem Das bisherige Bild zu Schulleitungen ist eine Art Spinne im Netz: Die Leitung hat eine Vielzahl von Aufgaben. Sie ist erstens der innerschulische Knotenpunkt, auf den verschiedenste Funktionen und Akteure innerhalb der Schule zulaufen. Zweitens ist sie die Vermittlungsstelle zu sämtlichen Außenkontakten der Schule, d. h. zur Schulaufsicht, zu Schulträgern, zum Kultusministerium, Eltern, Öffentlichkeit, usw.
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 T. Brüsemeister, Soziologie in pädagogischen Kontexten, https://doi.org/10.1007/978-3-658-04305-6_10
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10 Schulleitungen
Diese vielfältigen Aufgaben werden von verschiedensten AutorInnen hervorgehoben. Bryk et al. (2010), Hallinger et al. (2014) sowie Earl et al. (2006) verweisen auf die Bedeutsamkeit von Schulleitungen für Unterrichts- und Schulentwicklungsprojekte. Wissinger betont, dass die Leitungsfunktion in den Schulgesetzen der Länder immer stärker herausgestellt wurde (2016, S. 258). Leitend waren dafür die internationalen School Effectiveness und School Improvement-Ideen, die stark auf eine Wirkungsorientierung der einzelnen Schule abstellen (ebd.). In Deutschland hat dazu die paradigmatische Wende hin zur einzelnen Schule als „pädagogische Handlungseinheit“ (Fend 1986) beigetragen, so Wissinger (2016, S. 258 f.). Im Zusammenhang mit der Aufgabe der Qualitätsentwicklung und -sicherung wird die Schulleitung insbesondere als Initiatorin der Weiterbildung für Lehrkräfte gesehen, was „erkennbar erwachsenenpädagogischen Charakter“ hat (Wissinger 2016, S. 262). Damit wird ein indirekter Einfluss auf die Unterrichtsqualität erkennbar (ein direkter ließ sich in der Forschung bislang nicht nachweisen; ebd., S. 259). Angesichts dieser relativen Ohnmacht ist es nicht verwunderlich, dass der gegenteilige Wunsch nach einem wirksamen Einfluss in den vergangenen Jahrzehnten beständig zugenommen hat.
Wissensbaustein: Leadership-Aufgaben
Jochen Wissinger verdeutlicht dies, indem er die historische Entwicklung von Diskursen nachzeichnet. Früher wurden Schulleitungen so gesehen, dass sie im Grunde Lehrkräften gleichgestellt sind, da eine Schulleitung ebenfalls wie die Lehrkraft unterrichtet; sie übernimmt nur etwas mehr Organisationsaufgaben. Dagegen nehmen in den nachfolgenden Jahrzehnten diese Organisationsaufgaben permanent zu. Die Rollenanforderungen wechseln vom „Primus inter Pares zum Manager und Leader“ (Wissinger 2016, S. 261; Primus inter Pares bedeutet, eine Schulleitungsperson ist die „Erste unter Gleichen“, bezogen auf die Gruppe der Lehrkräfte). Nun jedoch wird die Leitung sogar zum „transformational leader“ ausgerufen, der zugetraut wird, das Gesamtsystem der Einzelschule in Richtung höherer Qualität zu transformieren (ebd., S. 264 ff.).
„Primus inter pares“ sowie Leadership lassen sich als zwei Modelle verstehen, die gegensätzliche Pole auf einem Spektrum zwischen Gleichheit im Unterschied zu einer Führung durch herausgehobene Einzelne darstellen. In der Praxis scheinen beide Modelle durchaus gemischt vorzukommen. Dazu folgendes Beispiel:
10 Schulleitungen
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Beispiel
Holmeier et al. (2017) untersuchten untersuchten empirisch das Reformprojekt des gemeinsamen Prüfens von Schülerleistungen. Mehrere Schulen waren angehalten, Absprachen zu treffen, die aber inhaltlich nicht weiter vorgegeben waren. Im Ergebnis stellen die Autorinnen für die Schulleitungen fest: sie stellten Transparenz bezüglich „der Ziele, Methoden und Funktionen“ (ebd., S. 247) des Projekts her; hierbei übernahmen die Leitungen koordinierende Funktionen. Weiter schreiben die AutorInnen: „Gleichzeitig sollte sich die Schulleitung aber aus Sicht der Lehrpersonen nicht zu stark einmischen, sondern die Verantwortung für die gemeinsamen Prüfungen den Lehrpersonen und Fachschaften überlassen. Ebenso sollte die Schulleitung kein Monitoring durchführen, die Beurteilungspraxis der Lehrpersonen und die Leistungen der Schüler/innen somit nicht auf Basis der gemeinsamen Prüfungen vergleichend analysieren. Dieser Spagat dürfte für die Schulleitung anspruchsvoll sein.“ (Ebd.) ◄ Anders als der Ansatz des Managements, der von einer herausgehobenen Rolle der Schulleitung ausgeht, legt das Beispiel von Holmeier et al. (2017) eher eine gleichberechtigte Zusammenarbeit zwischen Leitung und Kollegium nahe. In der Literatur findet man dazu ähnliche Ansätze. So gehen Weber/Schwarz von der Leitung als Teil einer „gemeinschaftlich hervorgebrachte[n] Führungspraxis“ aus (Weber/Schwarz 2011, S. 214). Wie auch Yvon und Poirel betonen, geht es hierbei um ein Führungsverständnis, „das nicht auf der Entscheidungsmacht einer Einzelperson, sondern auf der verantwortungsvollen Rollenausübung durch alle Beteiligten beruht“ (2012, S. 25, Herv. i. O.). Kurz resümert: Für die Schulleitung wird eine Vielzahl von Aufgaben formuliert. Sie muss nicht nur unterrichten, sondern – grob gesagt – auch die Beziehung zu den Akteuren organisieren, der Schule Ziele geben, diese intern durchsetzen, und darüber die Schulaufsicht und Öffentlichkeit informieren. Dies gleicht einer Herkulesarbeit. Diese Denkweise läuft im Grunde auf einen Superakteur hinaus. In diesem Buch wurde schon hervorgehoben, dass hierarchische Systeme immer wieder solche Denkweisen zu „Superakteuren“ hervorbringen: Man erwartet von herausgehobenen Einzelnen die Lösung bestimmter Aufgaben und Probleme. Die Schulleitung ist einer davon, wenn nicht sogar der am stärksten hervorgehobene Akteur im gesamten Schulsystem.
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10 Schulleitungen
Beispiel: Schulessen
Man kann gleichsam von der Schulleitung als Nadelöhr ausgehen, da sie viele Erwartungen, die von oberen Systemebenen stammen, sowie auch von außen stammende Erwartungen, z. B. von Eltern, aufgreifen soll. Das Wort Nadelöhr lässt dabei nur begrenzte Kapazitäten der Leitungen vermuten. Gleichzeitig haben andere Akteure die Möglichkeit, ihre Erwartungen sozusagen auf die Leitung „abzuladen“. Derartige Konstellationen scheinen sich auch bei der Ausstattung von Schulen mit Schulessen einzustellen. Die Schüler, Eltern und auch viele Expertenberater sind sich einig, was gutes Schulessen zu sein hätte: reichhaltig, abwechselnd, viel Gemüse und Obst. Dieses Paket von Erwartungen wird dann der Schulleitung übergeben. Sie hat auch die gesetzlichen Möglichkeiten, nun verschiedene Anbieter von Schulessen zu kontaktieren und zu eruieren. Doch da stellt sich schon das Nadelöhr ein, denn eine Schulleitung hat nicht immer Möglichkeiten, eine Marktübersicht über gute und gleichzeitig günstige Anbieter herzustellen. Ein Ein-Mann- oder Ein-Frau-Betrieb ist mit dieser Gemeinschaftsaufgabe schlicht überfordert, und zwar nicht wegen mangelnder Eigenschaften der Person, sondern wegen der strukturellen Überforderung als eines Knotenpunktes im Mehrebenensystem. ◄
Vergleiche zu einer bundesweiten Erhebung der Qualität der Schulverpflegung: Arens-Azevedo et al. 2015; siehe auch Draeger 2016, S. 27.
Exkurs: Interdependenzen In der Denkweise von Governance würde man dagegen versuchen, die anderen Akteure, die diese Erwartungen an die Schulleitung haben (oder an andere herausgehobene Einzelne), wieder stärker mit ins Boot zu holen. Dies folgt aus der Dezentrierung der Steuerungsperspektive aus Governancesicht, denn Governance denkt sich ja jeden Akteur als steuerungsfähig. Nimmt man diese Denkweise ernst, dann erscheint es verdächtig, dass nun ausgerechnet ein einziger Akteur derart viele Lasten, Aufgaben und Verantwortung tragen muss – verdächtig insofern, als dahinter auch ein Spiel stehen könnte, dass da heißt: „Wir schieben der Schulleitung den schwarzen Peter zu“. Dieses „Wir“ sind alle übrigen Akteure im Schulsystem, die sich so selber aus ihrer ( Teil-)Verantwortung herausmogeln. Statt „Schwarze-Peter-Spiel“ könnte man auch sagen, die übrigen Akteure spielen Prinzipal-Agent: Akteure im Schulsystem ernennen einen König, einen Prinzipal, und gucken zu, was die Figur mit ihrer Steuerungsmacht nun anfängt.
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Gleichzeitig behalten die Agenten – das sind wir übrigen – aber entscheidende Ressourcen und Einflussmöglichkeiten in den Händen, die der Prinzipal jedoch benötigt, um steuern zu können. Mit anderen Worten wiederholt das Schema von Prinzipal-Agent das Dilemma zwischen Herr und Knecht, wobei der Knecht im Grunde die gleiche Macht (und Ohnmacht) hat wie der Herr, da der Herr ohne den Knecht seine Macht gar nicht ausüben könnte. Kurz: Governance verschiebt Fragen nach der Führung, nach Steuerung und Macht, die eine einzelne Figur wie die Schulleitung ja offiziell haben soll, auf die Frage, inwieweit die anderen Akteure dies nicht nur zulassen, sondern auch mitspielen. Damit wird eine relative Sicht auf die vielfältigen Erwartungen an Schulleitungen eingeführt. Es wird gefragt, was denn auch andere Akteure dafür tun müssen, um zu realistischen Erwartungen zu gelangen, was einer Führung (Prinzipal, Herr) plus den anderen beteiligten Akteuren (Agenten, Knecht) möglich ist. Governance verschiebt also die Frage von Führung auf ein Verhältnis von Führen und Geführtwerden. Beispiel
Es gibt empirische Beispiele, die deutlich machen, dass in der Realität viele verschiedene Verhältnisse zwischen Führung und Geführtwerden vorkommen: Ein extremes Beispiel sind Schulen ohne Schulleitungen. Liest man Theorien zu Schulleitungen, und was die Schulleitung nach ihnen alles können soll, dann dürfte es eigentlich keine Schule ohne Schulleitung geben. Trotzdem existieren diese Schulen, und zwar in einer überraschend großen Zahl (Focus 2016). Ein anderes Beispiel des Verhältnisses von Führen und Geführtwerden sind Kollegien, die ihre Schulleitung führen. Obwohl es darüber kaum Forschung und kaum Zahlen gibt, kennen wir doch aus Alltagserzählungen Fälle, in denen die Kollegien stärker sind als die Schulleitung, sich also das Verhältnis von Herr/Knecht genau andersherum gestaltet: Die offizielle Figur der Schulleitung ist in Wirklichkeit ein Knecht, und das Kollegium ist der Herr. Hypothetisch könnte eine derartige Führung den Vorteil haben, dass das Kollegium gleichsam aus der zweiten Reihe Regie führt: es schaut der Schulleitung über die Schulter zu, korrigiert sie, oder regt sie zu etwas an, was die Leitung dann ausführt. In der zweiten Reihe könnten sich herausgehobene Einzelne finden, die aber eine offizielle Führung ablehnen (was viele Gründe haben kann). Weiter ließe sich denken, dass Schulleitung und Kollegium ein solches Führen aus der zweiten Reihe bewusst verabreden. Es könnte aber auch ein Verhältnis sein, dass sich beiläufig so eingestellt hat. ◄
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10 Schulleitungen
Exkurs: Verschiedene Theorievorstellungen Tatsächlich weisen die Theorievorstellungen zu Schulleitungen mindestens zwei Pole auf, indem sie nämlich Schulleitungen zum einen als Teil des Kollegiums sehen (Primus inter Pares = der Erste unter Gleichen), zum anderen als führende Einzelperson. In den letzten 20 Jahren haben sich dabei die Theorievorstellungen zunächst immer stärker zum Pol einer allein führenden Einzelperson verschoben. Aktuell werden in der Literatur Schulleitungen sogar als „Change Agtens“ und „Transformational Leader“ gesehen (Wissinger 2011). Im früheren Modell „Primus inter Pares“ dagegen wurde die Schulleitung noch als „normales“ Mitglied der Lehrerschaft verstanden (vgl. ebd., S. 99). Hervorgehoben wurde in diesem Denkmodell der pädagogische und an Schülern orientierte Führungsstil. In dem Modell wurde auch die – historisch bedingte – begrenzte Weisungsmacht gegenüber Lehrkräften festgehalten. Trotzdem danach viele weitere Modelle für Schulleitungen gekennzeichnet wurden, die alle ein Mehr von Management aufweisen, sollte man das Modell „Primus inter Pares“ nicht als veraltet abtun, da es immer noch einen Wirklichkeitsbezug in Schulen hat. Da insbesondere nach PISA immer mehr Aufgaben der Rechenschaftslegung von den Schulen – über die Schulleitung – zu erfüllen sind, haben sich die Rollen der Schulleitung erheblich erweitert hinsichtlich einer verstärkten Betriebsführung der Organisation Schule. Dazu kommen Verwaltungsaufgaben, die von außen von der Schulaufsicht bzw. vorgesetzten Behörden aufgelegt sind. Schließlich nimmt auch die Konkurrenz zwischen Einzelschulen zu. Deshalb sind Schulen zu einer Profilierung aufgerufen, um diese Konkurrenz zu beantworten (vgl. Lohr et al. 2013). Die Profilierung verlangt eine innere Verankerung im Kollegium. Führung und operative Autonomie der Einzelschule bilden einen engen Zusammenhang im Modell des New Public Management (NPM). Im Kontext der – nach Pisa 2000 einsetzenden – organisatorischen Neuordnung des Steuerungssystems für die Qualitätssicherung in Schulen wurden neue Funktionsaufgaben für Schulleitungen eingeführt. Bislang fühlten sich Schulleitungen im deutschen Sprachraum neben organisatorischen Aufgaben vor allem für Unterricht zuständig, z. B. indem sie über die Unterrichtszeit mithilfe von Lehrplänen wachten. Weitere Verantwortlichkeiten lagen z. B. in der Weiterbildung der Lehrkräfte sowie die Einbindung der Eltern in das Schulleben. Durch NPM werden die pädagogischen Aufgaben und die organisatorischen Aufgaben zugunsten Letzterer verschoben.
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Exkurs: New Public Management der Schule Das New Public Management (NPM) kam Ende der 1980er Jahre in den USA, England und Neuseeland auf. Die Bürokratie der öffentlichen Verwaltung wurde kritisiert. Statt der Steuerung aller Details (Detailsteuerung) – z. B. muss jeder Bleistift bei der Verwaltung beantragt werden – sollte sich die Verwaltung auf strategische Ziele konzentrieren. Die ausführenden Einheiten erhalten mehr Freiheit, Ziele umzusetzen, kontrollieren das erreichte Ergebnis, und melden es der Zentrale zurück. Zwischen den Einheiten herrscht ein Wettbewerb um das beste Ergebnis. Auf die Schule übertragen ergab dies folgendes Idealbild: Die Schulleitung gibt Zielorientierungen bezüglich pädagogischer Projekte, Schulorganisation, Personal und Finanzen aus und kontrolliert die Einhaltung der Ziele. Es geht ihr darum, Anreize zu geben, Leitlinien zu entwerfen und die Akteure der Einzelschule darauf zu verpflichten. Zwar ist dies vom Grundsatz her auch schon vorher Aufgabe von Schulleitungen gewesen, jedoch ist neu, dass dies nicht mehr nur informell im Rahmen einer Schulkultur geschehen soll, sondern zu einer ausformulierten Rolle in einer neuen Qualitätsorganisation der Schule wird. Die Schulleitung steht dabei in enger Verbindung zur Bildungsverwaltung, mit der sie die strategischen Ziele abstimmt. Nach 10 Jahren NPM stellten Bogumil et al. (2006) jedoch fest, dass eine Umsteuerung der Verwaltung in Deutschland selten vollständig durchgeführt wurde und oft auf Einzelmaßnahmen begrenzt blieb. Im Modell des NPM sind Schulleitungen belastet, insofern sie einerseits in engem Kontakt zur Schulbehörde stehen, welche die Implementation bestimmter Modelle vorschlägt, andererseits auch ‚das Neue‘ gegenüber dem Kollegium darstellen bzw. mit ihm voranbringen müssen. Im Zusammenhang mit dem NPM wurde diskutiert, ob die Schulleitung, wenn sie zunehmend Management-Aufgaben übernimmt, noch aus dem pädagogischen Bereich kommen kann. In USamerikanischen Universitäten sind die Dekane als zentrale Entscheidungsträger zum Teil keine Akademiker mehr (vgl. Braun 2001). Für eine wesentliche Aufgabe von Hochschulen, nämlich das Akquirieren von Drittmitteln, zeigen sich Manager aus der Industrie ebenso kompetent. Die gegenteilige Forderung, dass nämlich Schulleitungen nicht nur gute Manager, sondern auch gute Pädagogen sein müssen, wird durch Sach- und Zeitbelastungen, die sich aus beiden Rollen ergeben, vermutlich an Grenzen stoßen. Die pädagogische Disziplin hat für dieses Problem noch keinen eigenen Vorschlag entwickelt, der darauf zielen würde, Manager aus der eigenen Profession heraus auszubilden.
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Im Modell des NPM wurden Reformwünsche aus der öffentlichen Verwaltung auf Schulen übertragen. Da Schulen ein anderer, eigener Kontext sind, muten sich einige der Vorschläge radikal und utopisch an; sie geraten mit den realen Verhältnissen in Konflikt. Gerade deshalb erscheint jedoch ein Management gemäß NPM ‚wie aus einem Guß‘; viele der folgenden Elemente wurden aber so nie umgesetzt: 1. Unabdingbar im NPM ist die größere Handlungsfreiheit der einzelnen Schule. Sie ist die Voraussetzung, das A und O des NPM-Programms. Gerade um diesen Punkt wurde jedoch mit Schulverwaltungen und Ministerien viel gestritten, die faktisch nicht sehr viel Macht an die Schulen abgeben wollten. Obgleich die Schulautonomie in Gesetzen fixiert ist, ist die personelle und finanzielle Autonomie nur bedingt gegeben. 2. Zweitens sollen quantifizierbare Leistungsstandards und Erfolgsindikatoren festgelegt werden. Nur so ist eine Output-Steuerung möglich, d. h. Mittel werden zugeteilt in Relation zu erbrachten Leistungen. Auch dieser Gedanke läuft an der Realität schulischer Finanzierung vorbei und wurde so nie durchgesetzt. Schulen werden geradezu mit Zielen überfachtet, sodass die Überprüfung einzelner Zielerreichung so gut wie unmöglich ist, geschweige denn eine daran gebundene Finanzierung. Ebenfalls fehlen Sanktionen, wenn Ziele nicht erreicht werden. Es gibt also derzeit keine Outputsteuerung der Schulen. Manche Kritiker sagen sogar, dass es auch keine Inputsteuerung der Schulen gibt, da entweder den Schulen zu viele Ziele vorgegeben werden, oder Ziele zu vage bleiben, z. B. dass diese und jene Kompetenz bei SchülerInnen erreicht werden soll, was jedoch nicht weiter spezifiziert wird (vgl. Böttcher 2016). 3. Weiter soll der Wettbewerb zwischen den einzelnen Handlungseinheiten – den Schulen – gefördert werden, da dieser als förderlich für die Entwicklung angesehen wird. Dies war vor allem gegen eine Bürokratie gewendet, die als verkrustet kritisiert wurde. Im deutschsprachigen Raum wurden die Elemente Ökonomie und Wettbewerb zwischen Schulen nur bedingt toleriert und umgesetzt, da die teilautonome Schule nicht weit genug durchgeführt wurde. Es konnte gezeigt werden, dass bereits schwache Formen von Wettbewerb – z. B. durch Schulprofile – unerwünschte Segregationseffekte haben, da Schulen anderen Schulen SchülerInnen abziehen, und zwar ohne dass es ihnen zwingend bewusst sein muss (Altrichter et al. 2011). 4. Schließlich sollten im NPM „Lehrerteams als weitgehend eigenständige Organisationseinheiten innerhalb flacher Hierarchien“ (Dörfler 2007, S. 99) eingesetzt werden. In den Schulen ist es jedoch nicht einfach, Teamarbeit
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einzuführen. Dies ist durch die zellulare Berufsstruktur begründet, die Lehrkräfte Tür an Tür nebeneinander arbeiten lässt. Auch die Dienstverträge sehen keinen großartigen Austausch untereinander vor. Auch dieser Punkt des NPM ist also von der Wirklichkeit eingeholt worden. Gerade deshalb bleibt bis heute der Wunsch nach Teamarbeit erhalten. 5. Letztlich sollte die Arbeit der Schulen im NPM so organisiert sein, dass sich die Schulleitung nur auf das Ziel der Schulentwicklung konzentriert, das Kollegium für die Schulentwicklung mobilisiert, die entsprechenden Ziele auch nach außen vertritt, und Verwaltungsaufgaben an Teams delegiert (und die Ziele, die die Teams erreichen, überprüft). Wie entlang der vorangegangenen Punkte deutlich werden sollte, ist diese radikale Idee, dass sich eine Schulleitung einzig um Schulentwicklung kümmern soll, kaum zu realisieren. Die Realität nimmt sich fast als das genaue Gegenteil aus: Die schulische Arbeit ist ein ‚Gemischtwarenladen‘; entweder gibt es zu viele Ziele, oder zu unklare; die Autonomie ist begrenzt; und die Schulleitung ist mit einem Wust von Aufgaben – zwischen Unterricht und Verwaltung – beschäftigt, sodass eine Konzentration auf Schulentwicklung schwerfällt. Wie es ein Schulleiter einmal auf einer Tagung ausdrückte: ist die arbeitsreiche Woche in der Schule zu Ende, macht er die Schulentwicklung quasi als Nebenerwerbsbetrieb am Wochenende, so wie der Landwirt nebenan. Die Governance-Forschung versucht, die Lücke zwischen Theorie und Realität abzumildern, u. a. indem sie das Konzept von Führen und Geführtwerden als Dual begreift, d. h. vor allem fragt, wie andere Akteure an der Führung als Mitführende beteiligt werden und was die anderen ihrerseits zur Schulentwicklung beitragen. Schließlich lag es nicht am mangelnden Willen von Schulleitungen, dass die Ideen des NPM zur (möglichst weitgehenden) teilautonomen Schule kaum realisiert wurden, sondern am Verhalten aller Akteure. Insbesondere sollte die Schulaufsicht aktiv werden, da sie das „prägende Bindeglied zwischen dem Ministerium und den einzelnen Schulen“ ist (Dubs 2011, S. 84). Dazu hätten der Aufsicht aber politische Ziele gegeben werden müssen, was jedoch nicht geschah, wie wir in den obigen Abschnitten zur Schulaufsicht gesehen haben. Wir haben also bereits für zwei Akteure – Politik und Schulaufsicht – Mängel in ihrem Rollenspiel zu kritisieren, die dazu führen, dass dann auch die Rollen der Schulleitung nur unvollkommen gespielt werden können. Weiter hätten die Aufgaben zwischen Schulaufsicht und Schulinspektion streng organisiert werden müssen, damit es nicht zu Dopplungen oder Leerläufen kommt (ebd.). Jedoch führen die Schulaufsichten nicht wie angedacht die Zielvereinbarungen mit den Schulen auf der Basis der Inspektionsberichte stringent
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durch. Weiter fordert Dubs sogar, die Schulinspektion aufzugeben, sollten die wissenschaftlichen Untersuchungen keine Wirksamkeit nachweisen. Die internationalen Befunde dazu sind gemischt (vgl. a. a. O., S. 83; AG Schulinspektion 2016). Dubs legt bei seiner Einschätzung, was die einzelnen Akteure für einen Beitrag leisten, das Kriterium „Schulentwicklungsarbeiten aufgrund klarer Zielvorgaben der Schulaufsicht“ (Dubs 2011, S. 84) an. Dieses Kriterium muss leider als nicht erfüllt gelten. Dies bedeutet, dass die Einzelschulen allein gelassen wurden. Von daher ist verständlich, dass die Forschung immer wieder nachzeichnet, dass die Schulen einen überbordenden Katalog an Aufgaben haben. Exkurs: Aufgaben der Schulleitung Nach Rolf Dubs fallen der Schulleitung vor allem zwei Aufgaben zu: „das Schulmanagement und die Schulentwicklung“ (2011, S. 88). Leider sei es noch immer so, dass Schulleitungen „80 % ihrer Zeit für das Schulmanagement benötigen“ (ebd.); dabei sei in der teilautonomen Schule die Schulentwicklung die maßgebliche Aufgabe (ebd.). Deshalb solle die Leitung möglichst viele Aufgaben an eine mittlere Führungsebene – das sind vor allem Steuergruppen (dazu in Kap. 11 mehr) – delegieren. Dennoch verbleiben der Schulleitung zahlreiche Aufgaben, wenn man den detaillierten Ausführungen von Dubs folgt:
Aufgaben von Schulleitungen nach Dubs
1. Verantwortung für die Zielrichtung der Schule – Die eigene Vision über die Schule stets reflektieren und sie kommunizieren, um Maßnahmen und Innovationen anzuregen, – mit einem Schulleitbild und Schulprogramm das Profil der Schule stärken, – für Schulentwicklungsmaßnahmen und für die alltägliche Gestaltung der Schule klare Ziele setzen, – allen geplanten Maßnahmen Sinn geben, um die Schulkultur zu stärken, – Initiativen von Lehrkräften auffangen, beurteilen und unterstützen. 2. Pädagogische Leitung der Schule – Selber ein kleines Pensum unterrichten, um den Bezug zum Unterrichtsalltag aufrecht zu erhalten,
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– pädagogische Innovationen anregen und Innovationsprozesse einleiten, – Lehrkräfte führen, beurteilen und bei Problemen unterstützen. 3. Finanzen der Schule – Konzept für den schulinternen Budgetierungsprozess in der Schule, – Erarbeitung des jährlichen Budgets, – Überwachung der täglichen Rechnungslegung. 4. Personalwesen der Schule – Ein Personalführungskonzept entwerfen und umsetzen: Personalgewinnung, Personalbeurteilung, Personalhonorierung, Personalförderung, – ein Weiterbildungskonzept für die Schule entwickeln und durchsetzen, – den Umgang mit der Lehrerschaft und dem Personal durch klare Vorgaben, Transparenz, Verständnis sowie problem- und konfliktlösend mit dem Ziel eines guten Schulklimas gestalten, – ein Beurteilungssystem für Lehrpersonen und das weitere Personal entwerfen sowie eine gute und offene Feedbackkultur aufbauen. 5. Management der Schule – Gute Organisationsstrukturen sicherstellen und wirksame Arbeitsabläufe aufbauen, – Unterhalt des Schulhauses sicherstellen und für geordnete schulhausinterne Verhältnisse sorgen, – Den Lehrkräften gezielt für Innovationen und Eigeninitiativen Ressourcen zu Verfügung stellen, – für die Lehrerschaft und die Schülerschaft gute Arbeitsbedingungen schaffen, – ein intern konzipiertes Qualitätsmanagement entwickeln und mit Konsequenz umsetzen, – gezielte Zusammenarbeit mit der Schulaufsicht. 6. Kommunikation – Das Profil der Schule in der breiten Öffentlichkeit, bei den Behörden, den Eltern und den Lehrmeistern bekannt machen,
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– für die Schule Lobbying betreiben, – ein externes Kommunikationskonzept entwerfen und nach Prioritäten ihn nicht übertriebener Form kommunizieren, – ein internes Kommunikationskonzept entwerfen und täglich transparent und ehrlich kommunizieren, – die Schule mit Symbolen gestalten (symbolische Führung). 7. Persönliche Anforderungen – Fähigkeit, Probleme zur Diskussion zu stellen, eine positive Streitkultur aufzubauen, Lehrpersonen mitwirken zu lassen und zum richtigen Zeitpunkt Entscheidungen zu treffen, – Fähigkeit, ein Klima der Identifikation und des Vertrauens zu schaffen, – Fähigkeit, Prioritäten zu setzen. (Quelle: Dubs 2011, S. 89–90; Herv.i. O.)
Vereinfacht lassen sich die Aufgabenfelder wie folgt darstellen: • Politik: Über die Zielrichtung beeinflusst die Schulleitung sozusagen die Politik der gesamten Schule. • Kultur: Ebenfalls beeinflusst sie die schulische Kultur, indem sie in Klima der Identifikation und des Vertrauens schafft. • Profession: Weiter ist die Leitung auch im Bereich der pädagogischen Professionalität aktiv und vermag für den Unterricht Impulse zu setzen. • Organisation: Die meisten der Spiegelstriche in der Tabelle von Dubs fallen auf umfangreiche Aufgaben der Organisation. • Repräsentation/Sichtbarkeit: Schließlich repräsentiert die Leitung (im Zuge von Öffentlichkeitsarbeit) die Schule nach außen; über Symbole werden Leistungen der Schule ausgeflaggt; Dubs spricht von ‚symbolischer Führung‘). Es ist klar, dass jedes der Aufgabenfelder für sich genommen bereits breit und anspruchsvoll genug ist – die Schulleitung benötigt ein Team oder mehrere Teams, um all dies zu erfüllen. Dies besprechen wir teilweise im nächsten Kapitel zusammen mit Steuergruppen weiter. In theoretischer Hinsicht ist wieder die Bestimmung von Governance berührt, die Leitungsaufgaben als Relation von Führen und Geführtwerden ansieht, statt Führung einer einzelnen Figur zuzuschreiben.
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Eine besondere Relation besteht dabei zwischen der Schulleitung und den SchülerInnen. Das Verhalten der Schulleitung hat einen großen Einfluss auf SchülerInnen. In der Rolle des Obmanns (Dommermuth 2016) wird hervorgehoben, dass die Schulleitung zusammen mit dem Kollegium bei allen Fragen stets angesprochen werden sollen kann. Die Schulleitung steht für vertrauliche Gespräche zur Verfügung. Zudem stehen bei dem zentralen Ziel der Schulentwicklung die SchülerInnen und ihre Lernfortschritte im Unterricht im Zentrum, und nicht etwa das Wohlergehen der Lehrkräfte. Beispiel: Hospitation durch SchülerInnen
Die gesamte Schulorganisation um diesen Aspekt herum zu organisieren könnte zum Beispiel heißen, SchülerInnen schrittweise an Beobachtungsfähigkeiten eigener Leistungen heranzuführen. Dies kann in Projekten gelernt werden, in denen ältere SchülerInnen bei jüngeren hospitieren und ihnen so helfen. Auch die Lehrkräfte müssen dabei erst schrittweise lernen, dass auch andere Akteure als sie selber Unterricht beurteilen können. Lehrkräfte und SchülerInnen an diesem Ziel auszurichten, kann nur in funktionierender Kommunikation zwischen der Leitung und dem Lehrkörper gelingen. Dieses Fallbeispiel einer Schule ist dargestellt in Brüsemeister und Gromala (2017).1 ◄
Fazit
1. Was ist die Handlungsorientierung des Akteurs? 2. In welcher Teil-Handlung ist der Akteur besonders aktiv? (Vor-, Haupt-, Nachgeschichte) 3. Was sind jeweils die Beiträge des Akteurs hinsichtlich Handlungs-, Verfahrens-, und Ergebnisrationalität? 4. Sind die Aktivitäten eher auf die Hierarchie oder auf die Region ausgerichtet? 5. Was ist der Beitrag des Akteurs zur Erhöhung einer kollektiven Handlungsfähigkeit der Schule?
1Diese
Schule wurde in zwei BMBF-Projekten untersucht, nämlich „Schulinspektion als Steuerungsimpuls zur Schulinspektion und seine Realisierungsbedingungen auf einzelschulischer Ebene“ (FKZ: 01 JG 1001 A) und „Funktionen von Schulinspektion: Erkenntnisgenerierung, wissensbasierte Schulentwicklung und Legitimation“ (FKZ: JG 1304 B).
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(1) Auf die Handlungsorientierung der Schulentwicklung ausgerichtet, sollte die Schulleitung im Idealfall in der Lage sein, (2) Voraussetzungen für Schulentwicklungsprozesse zu reflektieren und zu beobachten (Vorgeschichte), ebenso die verschiedenen Teilstrategien und Teilprozesse zu gestalten, wie auch deren Verläufe und Ergebnisse festzuhalten (Nachgeschichte). (3) Nach dem Idealbild ist eine Schulleitung Meisterin darin, Handlungs-, Verfahrens-, und Ergebnisrationalität zu beobachten und reflektieren. (4) Ebenfalls ist die Schulleitung eine Schnittstelle zwischen Hierarchie und Region. Sie empfängt von der Schulaufsicht zentrale Ziele – allerdings nur auf dem Papier, wie wir gesehen haben. Auf jeden Fall gilt, dass sich die Schulleitung in der Hierarchie auskennt. Auch wenn sich diese nicht zu einem klaren strategischen Zielkanon fügen, so empfängt die Schulleitung zahlreiche Erlasse des Ministeriums und hat sie umzusetzen. In aktiven Schulen kennt sich die Schulleitung mit den regionalen Akteuren und deren Handlungsorientierungen aus, und versucht sie mit einer differenziellen Informationspolitik für die Schulentwicklung zu mobilisieren, in dem sie z. B. der Presse Artikel schreibt, und symbolisch führt, oder in dem sie den Weiterbildungsmarkt nach Brauchbarem durchscannt, um schuleigene Programme weiterzuentwickeln. Außerdem können Leitung und Kollegium die Lage der Schule in Konkurrenz zu anderen Schulen einschätzen und in der Lage sein, ihr Schulprofil zu schärfen. In den Regelschulen scheint sich die Schulleitung nicht so sehr regional zu engagieren, sondern sich eher in Bürokratie- und Verwaltungsaufgaben zu verfangen. Die Handlungs- und die Ergebnisrationalität geraten aus dem Blick, weil die Schulleitung von allen anderen Akteuren mit Verfahrensfragen belastet wird. Sie ist das Nadelöhr, durch das alle Prozesse hindurchmüssen. Damit ist die Rolle jedoch überfrachtet. (5) Der Beitrag des Akteurs zur kollektiven Handlungsfähigkeit: Die Schulleitung ist von den übrigen Akteuren weitgehend allein gelassen worden, was den Aspekt der Schulentwicklung angeht. Allein kann sie die kollektive Handlungsfähigkeit nicht erhöhen. Das Idealbild der Schulleitung mit multiplen Aufgaben ist realistisch gesehen nicht von einem einzigen Akteur zu schaffen. ◄
Literatur
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Weiterführende Literatur Dubs, Rolf. 2011. Die teilautonome Schule. Ein Beitrag zu ihrer Ausgestaltung aus politischer, rechtlicher und schulischer Sicht. Berlin: Edition Sigma. Systematische Darstellung der Rolle von Schulleitungen in teilautonomen Schulen.
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Zusammenfassung
In diesem Kapitel werden Steuergruppen diskutiert. Sie sind ähnlich wie Schulleitungen auf Schulentwicklung ausgerichtet. Da sie unter geringerem Entscheidungszwang stehen, ist eine Art Selbstberatung über verschiedene Alternativen möglich, was bis zur Planung reichen kann.
Exkurs: Handlungsorientierung Steuergruppen sind in einer Schule eine gemischte Gruppe, die aus Schulleitung und Lehrkräften besteht. Die Schulleitung ist in der Rolle eines normalen Mitglieds, während sie in der Steuergruppe arbeitet. Die Gruppe besteht temporär, so lange bestimmte Ziele verfolgt werden. Die Mitglieder sind gleich; auch die Schulleitung hat keine besondere Befugnis (Berkemeyer et al. 2007; Brüsemeister 2009). Die Leitwerte von Steuergruppen sind ebenfalls auf den Zielwert „Schulentwicklung“ ausgerichtet wie bei der Schulleitung. Wie wir im weiteren Verlauf des Kapitels sehen werden, kommt aber noch eine Beratung hinzu, wie die Schule mit künftigen Problemen umgehen will. Dies lässt sich als Teil von Planung begreifen; dazu unten mehr. Eine Steuergruppe ist insofern eine Reflexionsgremium. Es beinhaltet, dass eine Prioritätensetzung erfolgt, wie sie im vorangehenden Kapitel Dubs für die Schulleitung formuliert hat. Nur dass diese Prioritätensetzung diesmal auf breitere Schultern verteilt und verantwortet wird. Diesbezüglich lässt sich auch vermuten, dass das Einsetzen von Steuergruppen voraussetzungsvoll ist, insofern nämlich schon ein Teil des Kollegiums sowie die Schulleitung auf Augenhöhe miteinander reden. Eine Steuergruppe beinhaltet dann „nur“, dass die Augenhöhe auch durch eine entsprechende Gruppenbildung dokumentiert wird. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 T. Brüsemeister, Soziologie in pädagogischen Kontexten, https://doi.org/10.1007/978-3-658-04305-6_11
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Im Einzelnen beinhaltet die Augenhöhe, dass die Schulleitung darauf vertraut, als normales Mitglied der Schule in der Steuergruppe mitwirken zu können, mit der Gewinnaussicht, so an freien Beratungen unter Gleichen teilnehmen zu können. Damit eröffnen sich der Leitung alternative Handlungsmöglichkeiten, die sich allein in der Leitungsrolle nicht ergeben würden. Da die Beratung auf Augenhöhe erfolgt, ist gleichzeitig gesichert, dass die Ergebnisse wieder in die Schule zurückfließen. Dies deshalb, da die Mitglieder der Steuergruppe Doppelmitgliedschaften im Schulkörper und in dieser Gruppe haben. Steuergruppen sind also unterstützende Elemente der Organisation von Schulentwicklung, die die Schulleitung jetzt nicht mehr allein machen muss. Da die Schulen nicht gezwungen werden können, Steuergruppen einzurichten, ist allein ihre Existenz ein gewisses Zeichen, dass die Schulentwicklung vorangetrieben wird. Alternativ können statt einer Steuergruppe auch Arbeitsgruppen (AGs) eingerichtet werden. Hierbei ist jedoch eine gewisse Kunst erforderlich, dass AGs auch wirklich zu Ergebnissen kommen. Beispiel: AG für ein Jahr
So setzte eine von uns befragte Schule Arbeitsgruppen immer nur dann ein, wenn sie Ziele innerhalb eines Jahres erledigen konnten (Brüsemeister und Gromala 2017). Diese Erfolgsaussicht eröffnet ein realistisches Arbeiten und sorgt dafür, dass später jemand das Ergebnis auch verwenden kann. Es wird vermieden, dass die AG versandet, d. h. sich irgendwann auflöst oder ihre Zielerreichung aus den Augen verliert. Kurz gesagt geht es darum, dass die AG erlebt, Teil von etwas Größerem zu sein, Teil einer Planung. Wie oben vermutet, müssen bereits Teile der Lehrerschaft und die Schulleitung Bedarfe nach einer Prioritätensetzung oder Planung haben, wofür dann eine Steuergruppe oder eine AG eingesetzt wird. Das Wort Planung klingt dabei anspruchsvoll, meint aber vielleicht nur, dass eine Schule bestimmte Ereignisse nicht mehr erleben möchte, und sich fragt, was sie nun dafür tun kann. Dabei gilt es bestimmte Dinge zu berücksichtigen. Derartiges lässt sich nicht in der großen Gruppe eines gesamten Schulkörpers diskutieren, sondern es braucht eine repräsentative Auswahl – eine Steuergruppe. ◄ Wie bereits bei der Schulleitung kann gefragt werden, was anderen Akteure im Schulsystem tun, damit Schulen Steuergruppen haben. Unterstützende Maßnahmen sind jedoch nicht bekannt. Die Schulen sind mit der Möglichkeit
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oder Unmöglichkeit, eine Steuergruppe zu haben, allein auf sich gestellt. Es würde eine Verbesserung sein, würden Schulaufsichten die Schulen dahin gehend beraten und unterstützen, dass und wie man Steuergruppen einrichtet.
Wissensbaustein: Beratungs- und entscheidungsförmige Kommunikation (vgl. Brüsemeister 2004)
Steuergruppen beherrschen eine beratungs- und eine entscheidungsförmige Kommunikation, die sie für ihre Planung nutzen. Steuergruppen können bestimmte Themen ausführlich diskutieren. Anders als die Schulleitung, die unter ständigem Handlungsdruck steht, können Steuergruppen bestimmte Themen und Aspekte der jeweiligen Organisation Schule in Ruhe ausleuchten. Es findet hier eine Selbstberatung statt. Da die Schulleitung nicht aus der Hierarchie heraus oder mit Anweisungen in der Steuergruppe arbeitet, sondern als normales Mitglied, ist diejenige Gleichheit hergestellt, die es für einen freien Austausch bedarf. Die beratungsförmige Kommunikation ermöglicht eine kollektive Ausleuchtung von Problemen. An die beratungsförmige Kommunikation schließt sich eine entscheidungsförmige Kommunikation an. Diese obliegt formell der Schulleitung. Faktisch ragt die Steuergruppe aber durch ihre inhaltliche beratende Kommunikation mit in die Entscheidung hinein. Die Entscheidung ist dann kollektiv, wird von der ganzen Schule getragen, auch wenn die Entscheidung nur allein von der Schulleitung formuliert wird. Die Steuergruppe ist das vorbereitende Gremium für so eine kollektive Entscheidung, sozusagen der Brückenkopf in die gesamte Schule hinein.
Die Auswahl der Steuergruppenmitglieder ist nur schwach geregelt; vermutlich werden engagierte Akteure zum Mitglied. Je nach Schulkultur kann es aber auch klug sein, ebenso auch nicht so aktive Mitglieder zur Mitarbeit in der Steuergruppe zu bewegen. Für die Ausleuchtung von Sachverhalten kann es gut sein, neben engagierten Personen auch ‚Bedenkenträger‘ an Bord zu haben, die vielleicht Dinge noch mehr hinterfragen. In der beratungsförmigen Kommunikation überlegen die Mitglieder einige Varianten von Strategien, um sich dann auf eine bestimmte Strategie zu einigen, wenn ein bestimmter Fall oder eine Situation eintritt. Durch die breite Beratung und Ausleuchtung werden die späteren Entscheidungen besser verankert. Die Schulleitung muss nicht alles alleine entscheiden, sondern kann durch die Beratung die Lehrkräfte partizipieren lassen. Die Verbreitung von Ideen innerhalb
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der Steuergruppe ist bereits Teil der Umsetzung von Programmen und Ideen, die später im gesamten Kollegium gemacht werden soll. Im Zuge der beratungsförmigen Kommunikation werden Prämissen künftiger Entscheidungen festgelegt, was (wie bereits oben gesagt) nach Luhmann (2000, S. 230) nichts anderes als Planung ist. Beispiel für Planung: Vorgehen gegen Mobbing in der Schule
Die Mitglieder der Steuergruppe könnten z. B. sagen: Sollte ein Schulkind bei uns gemobbt werden, machen wir folgendes: Wir benachrichtigen alle Lehrkräfte und bestätigen und bekräftigen uns wechselseitig, dass wir derartiges ablehnen (dies bekräftigt die bestehende Schulkultur); eine Lehrkraft begleitet das gemobbte Kind nach Hause zu seinen Eltern. Mit dem mobbenden Kind wird ein Gespräch geführt, dessen Eltern werden darüber informiert. Auf diese Verfahrensweisen mitsamt der einzelnen Teilschritte haben sich die Akteure vor Ort geeinigt und sie führen sie durch, wann immer die entsprechende Situation eintritt; das Programm läuft dann ab und es muss nicht immer erst neu diskutiert werden, was zu tun ist. ◄ Vermutlich würde eine Schulleitung, würde sie genug Zeit und Muße zum Überlegen haben, auch von allein auf die Ideen kommen, die die Steuergruppe in der Zeit der Beratung findet. Aber die Schulleitung hat diese Zeit nicht. Sie muss unter beständigem Handlungsdruck agieren. Steuergruppen helfen so auch durch das Festlegen von Prämissen für spätere Entscheidungen (sprich: durch Planung), die Ungewissheit aktueller Ereignisse – wann werden wir wieder von einem Mobbingfall überrascht; wann kommt die nächste Gesetzesänderung, die wir umsetzen müssen – zu bewältigen. Ein zweiter positiver Effekt ist eine breitere Partizipation des Kollegiums, die innerhalb eines geordneten Verfahrens stattfindet, die die Steuergruppe verkörpert. Da diese geordneten Verfahren überwiegend informell sind, sind die beteiligten Gruppenmitglieder auf sich selbst zurückgeworfen und es wird deutlich, dass es auf jeden in der Gruppe ankommt. D. h. man kann nicht Mitglied in einer Steuergruppe sein und dann nichts tun. Da die Mitgliedschaft und die Mitarbeit ohnehin freiwillig sind, bedeutet Nichtmitarbeit automatisch, dass man sich von der Gruppe abkoppelt. Dies wird die Gruppe nur eine Zeit lang tolerieren. Es ist möglich, da auch die Themen fluktuieren, dass je nach Thema immer mal wieder neue Mitglieder in die Steuergruppe gelangen.
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Beispiel: Schulberatung
Wie oben angesprochen, besteht für Lehrkräfte und Schulleitungen auch noch die Möglichkeit, in AGs zusammenzuarbeiten. Eine Schule kann unterschiedlichste Arbeitsgruppen zu unterschiedlichsten Themen ausrufen. Diese haben nicht unbedingt den Zielwert Schulentwicklung, können aber indirekt damit in Zusammenhang gebracht werden. Aus der Schulberatungsforschung ist bekannt, dass einige Berater verzweifelt sind, da die Schulen zu viele AGs gleichzeitig haben, zu viele Projekte umsetzen wollen, sich damit verzetteln. Die Beratung zielt dann darauf, diese Menge an Projekten auszudünnen auf eine kleinere Zahl, die auch durchführbar ist. Insofern führt die Beratung zu einer Prioritätensetzung. Diese ist für die Schulleitung – siehe Dubs, im Kapitel zur Schulleitung – für Führungsaufgaben essenziell, wird hier aber als Gemeinschaftsaufgabe der Steuergruppe zusammen mit der Schulleitung erreicht. ◄
Wissensbaustein: Professions- und Organisationsmodus
In der Zeit der Beratung legt sich die Steuergruppe verschiedene Themen und Ideen professionell aus; dies erfolgt im Modus der Profession. Dies bedeutet, dass Themen und Ideen bestechen und nicht Macht; jedes Argument jedes Mitglieds wird gehört; die Mitglieder sind gleich. All dies deshalb, um aus vielen Argumenten das beste herausfinden zu können. Dieses Beste ist dabei immer ein lokaler Aushandlungs- und Konstruktionsprozess der Gruppe. Jede Steuergruppe unterscheidet sich damit von anderen Steuergruppen. Was jedoch gleich bleibt, ist, dass nach der professionellen Ausleuchtung von Themen eine Entscheidung oder eine Prämisse für künftige Entscheidungen folgt. Die Kommunikation wechselt dann in den Modus von Organisation. Das pädagogische Thema wird mit einem Verfahrensvorschlag oder -entscheidung aus der Welt der Organisation verknüpft. Dies bedeutet: In der Beratung und der professionellen Diskussion von Themen kann die Steuergruppe die gesamte Welt professioneller Themen in die Schule hineinlassen und dann anschließend Verfahren erörtern, wie das Thema vor Ort in der Schule bearbeitet wird. In der Forschung wurde vielfach behauptet, dass die schulische Profession nicht gut an Organisation interessiert sei oder gar unfähig sei, in Kategorien der Organisation zu denken und zu handeln. Steuergruppen heben diese Vorurteile auf und zeigen gegenteilig, dass Verbindungen zwischen Profession und Organisation erarbeitet werden.
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Hierbei ist hervorzuheben, dass Steuergruppen nicht etwa nach einem fertigen Organisationsschema „F“ handeln, das sie von außen übernehmen, sondern dass es sich um jeweils eigenständige Verbindungen zwischen Profession (professionelle Auslegung von Themen und Beratung) und Organisation (entscheidungsförmige Kommunikation, Verfahren) handelt, die lokal erfunden werden. Für das Schulsystem sind genau deshalb Steuergruppen interessant, denn über die pädagogischen Themen beschäftigen sie sich potenziell mit zahlreichen bestehenden Interdependenzen zu anderen Akteuren. Steuergruppen können ausleuchten, was jeder dieser Akteure an speziellen Themen mit sich bringt, die vielleicht für das Vorangehen der jeweiligen Schulentwicklung interessant und wichtig sind. Fazit
Das Fazit behandelt folgende Fragen: 1. Was ist die Handlungsorientierung des Akteurs? 2. In welcher Teil-Handlung ist der Akteur besonders aktiv? (Vor-, Haupt-, Nachgeschichte) 3. Was ist sein Beitrag hinsichtlich Handlungs-, Verfahrens-, und Ergebnisrationalität? 4. Ist der Akteur mehr in der Hierarchie oder mehr in der Region aktiv? 5. Was ist der Beitrag des Akteurs zur Erhöhung einer kollektiven Handlungsfähigkeit der Schule? 1. Die Handlungsorientierung des Akteurs Steuergruppe besteht darin, Schulentwicklung zu planen. Dafür berät sich die Steuergruppe professionsförmig, d. h. durch den Austausch bester Ideen. Hierbei sind die sich beratenden Akteure im Modus der Gleichheit. Auf diese Weise kann das beste Argument zählen. Durch das Erörtern und Aussuchen bester Argumente ist die Steuergruppe eine Art Reflexionsgremium. Aber auch ein Planungsgremium, da durch die Beratung Prämissen für künftige Entscheidungen festgelegt werden. 2. Durch die Handlungsorientierung an der Planung von Schulentwicklung sind Steuergruppen in der Lage, Prozesse zu initiieren, sie umzusetzen und auch das weitere Schicksal des Prozesses zu verfolgen. Auf diese Weise können zusammenhängende Geschichten (Vor-, Haupt-, Nachgeschichte) zu bestimmten Entwicklungsverläufen formuliert werden. Hierbei werden auch Übergänge zwischen der professionsförmigen in organisationsförmige Kommunikation deutlich.
Literatur
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3. Genauso gut sind Steuergruppen in der Beobachtung von Handlungs-, Verfahrens-, und Ergebnisrationalität. 4. Da sie professionsförmige und organisationsförmige Kommunikation beherrschen, können sie in Hierarchie und in Belangen der Region denken und handeln. 5. Abgesehen davon, dass andere Akteure Schulen bei der Bildung von Steuergruppen kaum unterstützen, ist der Beitrag von Steuergruppen für sich genommen groß, wenn es um die Erhöhung der kollektiven Handlungsfähigkeit der Schule geht. ◄
Literatur Berkemeyer, Nils, Thomas Brüsemeister, und Tobias Feldhoff. 2007. Steuergruppen als intermediäre Akteure in Schulen. Ein Modell zur Verortung schulischer Steuergruppen zwischen Organisation und Profession. In Schulische Steuergruppen und Change Management. Theoretische Ansätze und empirische Befunde zur schulinternen Schulentwicklung. Hrsg. Nils Berkemeyer und Heinz Günter Holtappels. 61–84. Weinheim, München: Juventa. Brüsemeister, Thomas. 2004. Beratung zwischen Profession und Organisation. In Die beratene Gesellschaft – Zur gesellschaftlichen Bedeutung von Beratung. Hrsg. Rainer Schützeichel, und Thomas Brüsemeister. 259–271. Wiesbaden: VS Verlag. Brüsemeister, Thomas. 2009. Steuergruppen als Basis von Schulentwicklung – Zum Gewinn mehrdeutiger Akteure und loser Kopplung. In Perspektiven der Schulentwicklungsforschung. Festschrift für Hans-Günter Rolff. Hrsg. Nils Berkemeyer, Martin Bonsen, und Bea Harazd. 103–117. Weinheim, Basel: Beltz. Luhmann, Niklas. 2000. Organisation und Entscheidung. Opladen: Westdeutscher Verlag.
Weiterführende Literatur Berkemeyer, Nils, und Heinz Günter Holtappels. Hrsg. 2007. Schulische Steuergruppen und Change Management. Theoretische Ansätze und empirische Befunde zur schulinternen Schulentwicklung, 61–84. Weinheim, München: Juventa. In diesem Beitrag werden Steuergruppen aus verschiedenen Richtungen erörtert. Feldhoff, Tobias. 2019. Handlungsfelder von Steuergruppen und ihre Wirkungen. In Lehrerprofessionalität und Schulqualität. Grundlagen der Qualität von Schule 4. Hrsg. Ulrich Steffens und Peter Posch. 443–458. Münster, New York: Waxmann. Grundlegender Beitrag, der innere Aspekte sowie disziplinäre und geschichtliche Kontexte von Steuergruppen anschaulich vorstellt.
Lehrkräfte
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Zusammenfassung
In diesem Kapitel werden Lehrkräfte diskutiert. Sie sind an Interaktionen mit SchülerInnen ausgerichtet. Weiter wird auf die Arbeitsorganisation der Lehrkräfte eingegangen, und es werden Möglichkeiten der Kooperation angesprochen.
Exkurs: Handlungsorientierung Lehrkräfte sind für die eigentliche inhaltliche Leistungsebene des Schulsystems verantwortlich. Die Bildungspolitik hat die Aufgabe der Legitimation des Schulsystems. Lehrkräfte erbringen die Leistungsfunktion, SchülerInnen zu qualifizieren. Ihre Handlungsorientierung ist auf Interaktion mit SchülerInnen im Unterricht bezogen. Wie wir gesehen haben, arbeiten die Akteure auf unterschiedliche Weise. Steuergruppen zum Beispiel planen, beraten und bereiten Entscheidungen vor. Bildungspolitik denkt sich bestimmte Handlungsrationalitäten für die Schule aus. Die Lehrkräfte sind Spezialisten für Interaktionen mit SchülerInnen, entweder einzelnen SchülerInnen, oder als ganze Klasse. Hierbei ist die Besonderheit, dass die Lehrkräfte jeweils einzeln in den Klassenräumen unterrichten; zumindest ist das bislang so vorherrschend.
Dies beinhaltet eine so genannte segmentäre Differenzierung. Dies bedeutet, dass im Prinzip gleiche Einheiten – hier der Unterricht der einzelnen Lehrkraft in einem einzelnen Klassenraum – so oft wiederholt wird, bis alle Schülerinnen und Schüler beschult werden.
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 T. Brüsemeister, Soziologie in pädagogischen Kontexten, https://doi.org/10.1007/978-3-658-04305-6_12
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Lehrkräfte arbeiten nicht nach funktionaler Differenzierung, d. h. nach verschiedenen Funktionsaufgaben zusammen, so wie die verschiedenen Berufe in einer Autofabrik verschiedene Teile konstruieren oder Dienstleistungen erbringen, die dann zusammen ein Auto ausmachen. Sondern Lehrkräfte arbeiten im Prinzip als gleiche und voneinander getrennt in ihren Klassenzimmern, ohne in ihren Interaktionen darauf einzugehen. Diese Interaktion sind auf die anwesenden Schüler konzentriert. Die gesamten weiteren Interaktionsbeziehungen zu anderen Akteuren im Schulsystem werden demgegenüber in eine zweite Reihe gestellt. Es sei denn, sie wirken sich wiederum auf Interaktionen im Unterricht aus. Ein wichtiger Aspekt besteht darin, dass diese Spezialisierung auf Unterrichtsinteraktionen in der Gesellschaft leicht übersehen wird, und zwar deshalb, weil sich jeder an seine eigene Schulzeit und an andere Lehrkräfte erinnert, und im Prinzip meint, mitreden zu können. Vereinfacht gesagt wird die Lehrkraft also, während sie Interaktionen mit SchülerInnen durchführt, beständig auch mit Interaktionen um sie herum konfrontiert, deren Einfluss auf Unterrichtsinteraktion mit SchülerInnen jedoch verhindert werden soll. Dies gilt zumindest in Ländern, die die Vorstellung entwickelt haben, dass der Lehrberuf einen bestimmten Professionsstatus haben soll, und nicht ein Allerweltsberuf ist, den jedermann und jede Frau erfüllen kann.
Wissensbaustein: Arbeitsorganisation oder Interessenorganisation
Das Berufsfeld der Lehrkräfte wird in formaler Hinsicht durch eine „von oben“, durch die Bildungshoheit der Länder konstituierte Arbeitsorganisation bestimmt. Im Gegensatz zu einer Interessenorganisation, in der Individuen zur Erhöhung ihrer Einflussstärke Ressourcen zusammenlegen (Schimank 2002, S. 32–33) und damit eine Organisation bottom-up ausbilden, ist die bisherige Lehrerorganisation eine staatliche und von oben konstituiert. Entsprechend einer Arbeitsorganisation bringt die einzelne Lehrkraft Leistungen ein und erhält dafür finanzielle Gegenleistungen (a. a. O., S. 34). Schimank notiert dazu: „Was der ‚Ressourcenzusammenlegung‘ in Arbeitsorganisationen, verglichen mit Interessenorganisationen, […] fehlt, ist der Nexus zwischen Einbringung der je individuellen Einflusspotentiale und deren Einsatz im Sinne geteilter substantieller Interessen. Stattdessen beschaffen sich die Träger einer Arbeitsorganisation die Fügsamkeit der Mitarbeiter durch finanzielle Gegenleistungen. Damit lässt sich in Arbeitsorganisationen auf der Basis dieses Tausches eine reine Hierarchie als zentrale Struktur der Konstellation der Mitglieder aufbauen. Auf der Grundlage der
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ur- sprünglichen binären Ungleichheit zwischen Trägern und Mitarbeitern werden vielfältige abgestufte organisatorische Ränge etabliert. In Interessenorganisationen besteht demgegenüber eine ursprüngliche Ranggleichheit der Mitglieder.“ (Ebd.)
Die bisherige Schulorganisation ist keine Interessenorganisation der Lehrkräfte, sondern eine Arbeitsorganisation für die Lehrkräfte, die den Einzelnen formal gesehen an Weisungen bindet. Die bürokratische Organisation gibt damit den Entscheidungsbefugnissen der Lehrkräfte Rahmenbedingungen vor. Dennoch ist es möglich, dass sich Lehrkräfte mit anderen Akteuren der Schule durch Respezifikation spezielle Schulentwicklungsziele ausdenken, die im Prinzip die Schule so aussehen lassen, als ob es sich um eine Interessenorganisation handeln würde.
Lehrkräfte müssen sich also innerhalb ihrer Arbeitsorganisation an einem Dienstherren ausrichten, der innerhalb eines Tausches von Leistungen gegen Lohn asymmetrisch die Erfüllung von Leistungen erwartet und bei Nichterfüllung erzwingen kann. Hinsichtlich dieses Bezugspunktes bleibt eine Lehrkraft immer erreichbar für administrative Anordnungen sowie deren Reformen, soweit sie im Rahmen des Dienstrechts formuliert sind. Jedoch hat eine Lehrkraft gleichzeitig einem „zweiten Herren“ zu folgen, nämlich verinnerlichten ‚professional skills‘, aus denen sich innere Verpflichtungen gegenüber SchülerInnen ergeben, die nicht administrativ kontrolliert werden können (vgl. Scott 1971). Diesbezüglich hat die Steuerung des Lehrberufs von Anbeginn an mit einer Principal-Agenten-Beziehung zu kämpfen.
Wissensbaustein: Principal-Agent
Das Modell Principal-Agent beschreibt, wie Lehrkräften Machtanteile zufallen, da deren professionelle Leistungsbausteine nicht administrativ, im Modus der Mitgliedschaft einer Arbeitsorganisation, erzwungen werden können. In dieser Hinsicht wird die asymmetrische Machtverteilung – aus der arbeitsorganisatorischen Beziehung – angesichts einer eigenverantworteten Kommunikation gegenüber Zöglingen, d. h. von der Lehrkraft als Professionsangehörigem, gebrochen, in eine abhängige Beziehung der Administration gegenüber den Lehrkräften verwandelt. Diese Beziehung beruht machttheoretisch darauf, dass die Administration nicht selbst unterrichten sowie die Profession nicht durch
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andere Akteure austauschen kann, da niemand anderes zur erwünschten Leistungserbringung fähig ist; sie beruht kommunikationstheoretisch darauf, dass es Diskurse der Profession gibt, und diese verlaufen anders als die entscheidungsförmige Kommunikation der Administration, denn in der Profession zählen bessere Argumente und nicht Macht. In der Interaktion mit SchülerInnen gibt es einen Input an Vertrauen in die gute pädagogische Absicht, während im Schulsystem heute vielfach auf Überprüfungen mittels Berichten gesetzt wird (durch Testungen von SchülerInnen-Leistungen, durch die Schulinspektion, usw.). Im Lehrberuf dominieren Argumente der Profession, und ob sie etwas für die Unterrichtsinteraktion mit Schülerinnen bewirken. Ziele, die sich rein auf die Organisation der Schule ausrichten, werden demgegenüber als zweitrangig angesehen. Der Sinn von Organisationsdingen für die eigene Berufspraxis muss jeweils erst besonders bewiesen werden. Professionsbezogene Argumente lassen Argumente, die sich auf die Organisationsentwicklung der Schule beziehen, als zweitrangig erscheinen.
Innerhalb von Organisationen können sich verschiedene Mitglieder jeweils auf zurückliegende Entscheidungen stützen, indem sie zum Beispiel in Archiven nachschauen, wo die Entscheidungen dokumentiert sind; in der Bürokratie geschieht dies durch Aktenführung. Im Gegensatz dazu orientieren sich Lehrkräfte an ihre jeweils eigene Geschichte von Unterrichtsinteraktionen. Damit ist in die Handlungsorientierung eine große Flexibilität gegenüber der Interaktion mit SchülerInnen eingebaut. Sie ermöglicht, auf verschiedene Kohorten und die sich verändernde Individualität der SchülerInnen einzugehen. Demgegenüber weisen Organisationen kleinere Anzahlen von Routinen auf, da die Produkte eher standardisiert sind, und nicht in Menschen bestehen. Organisationen entstehen, in dem sie sich an eigenen Entscheidungen orientieren, die sie in der Vergangenheit getroffen haben. Daraus ergibt sich immer eine gewisse Starrheit von Organisationen. Im Professionsmodus der Lehrkräfte können dagegen Handlungsweisen – aus Vergangenheit und Gegenwart – flexibel in einer Situation aufgegriffen werden. Dies hat seit Beginn der staatlichen Schule das Eingehen auf Belange der SchülerInnen ermöglicht. Exkurs: Erwartungen der evaluationsbasierten Steuerung Die nach Pisa 2000 aufgebaute evaluationsbasierte Steuerung (vgl. Altrichter und Heinrich 2006) erwartet dagegen, dass der Output eines Handelns dokumentiert
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werden kann und sich daraus gezielt Folgehandlungen ableiten lassen. Es gibt jedoch derzeit keine Methode, die hochgradig flexible Unterrichtsgeschehnisse am Ort und im Zeitpunkt ihres Geschehens dokumentiert, sodass aus Sicht der Lehrkräfte Evaluationen und Berichte nur nachgeschobene Tätigkeitsbeschreibungen sind, die mit der eigenen Praxis wenig zu tun haben. Es ist aus Sicht der Lehrkräfte wenig einsichtig, was Berichtssysteme, die systematisierte Folgeentscheidungen ermöglichen sollen, mit ihrem Unterricht zu tun haben. Denn im Unterricht gibt es keine systematischen Entscheidungen in dem Sinne, dass an dokumentierte frühere Entscheidungen angebunden wird, sondern es wird und muss flexibel in Situationen reagiert werden. Hierbei wird verantwortlich auf variable Reaktionen von SchülerInnen – die ebenfalls nicht dokumentiert sind – eingegangen. Auf diese Weise haben Interaktionen eine eigene Geschichte, auf die Berichtssysteme nicht eingehen, sondern daraus allenfalls punktuelle Kompetenzmessungen (bei externen Schülerleistungstests), oder summative, die Unterrichtskultur der ganzen Schule betreffende Dokumente herausgreifen (bei der Schulinspektion). Beide Arten treffen aus Sicht einer Lehrkraft ihren Unterricht nicht angemessen. Vielmehr erscheinen diese Maßnahmen administrativ erzwungen, was in der Logik der Akteure unter anderem berechtigt, auf sie mit einem „teaching to the test“ zu reagieren. Trotz der eigenen Handlungsorientierung agieren Lehrkräfte natürlich im Mehrebenensystem mit anderen Akteuren, zum Beispiel der Bildungspolitik, zusammen. Die Art dieser Zusammenarbeit kann man verschieden beschreiben und erklären. In der Literatur findet man dazu den Begriff der antagonistischen Kooperation (vgl. Kussau und Brüsemeister 2007, Kap. 5). Exkurs: antagonistische Kooperation Wie schon Kant gewusst hat, können darunter widersprüchliche Dinge zusammenkommen. Nämlich zum Beispiel der Wunsch nach Einzigartigkeit, und gleichzeitig nach Geselligkeit. Man möchte Grenzen haben, und sie gleichzeitig überwinden. Der erste Wunsch ist die Hoffnung eines Akteurs, seine eigene Handlungsorientierung möge anerkannt sein und eine Berechtigung besitzen; zudem soll niemand in diese Orientierung hineinregieren. Gleichzeitig besteht der Wunsch nach Kooperation, was eine berufliche Zusammenarbeit meinen kann, und auf der menschlichen Ebene zum Beispiel Geselligkeit beinhaltet. Als Beispiel für eine antagonistische Kooperation lässt sich die Beziehung zwischen Bildungspolitik und Lehrkräften ansehen. In dieser Beziehung wird teilweise ein tiefgreifendes Nichtverstehen gepflegt.
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Wissensbaustein: Verschiedene Arten des Wissens
Hierbei lassen sich verschiedene Arten des Nichtwissens unterscheiden (Wehling 2008). Zum Teil ist es ein nichtgewusstes Nichtwissen, da die Akteure einfach nicht genug darüber wissen, was die Arbeitsanforderungen, -abläufe und -prozesse des jeweils anderen Akteurs sind. Teilweise scheint es sich aber auch um ein gewolltes Nichtwissen zu handeln, d. h. man ist nicht bereit, die Arbeiten und Anforderungen des anderen verstehen zu wollen. Der Ansatz von Educational Governance versucht zumindest analytisch eine Brücke zu schlagen, in dem man sich zum Beispiel vorstellt, dass der eine Akteur auch nur einen Tag lang die Arbeit des anderen verrichten sollte. Oder indem man begreift, dass kein Akteur die Macht hat, sich einen anderen Akteur wegzuwünschen. Indem also verstanden wird, dass mit den gegebenen Akteuren zusammengearbeitet werden muss, da es andere nicht gibt. Offensichtlich benötigt jeder Akteur seinen Handlungsraum, worin sich die jeweilige Handlungsorientierung eines Akteurs inszenieren und darstellen kann (Goffman 1974). Denken wir hierbei an die Anforderung der Bildungspolitik, Legitimation herstellen zu müssen. Schließlich die Lehrkräfte: Sie benötigen für ihre Handlungsorientierung einen Raum für Interaktionen mit Schülerinnen. Wie wir im Kapitel zur Schulaufsicht gesehen haben, ist dann eine intelligente Zusammenschaltung dieser beiden Handlungsräume notwendig.
Beispiel: Eine Bühne für Zusammenarbeit
Mit den Schulbündnissen in Hessen wurde eine verpflichtende und gleichzeitig eine offene Bühne geschaffen, auf der beide Handlungsorientierung gleichzeitig wirken können. Speziell weil die Bildungspolitik ihre Bedarfe nach Legitimation realisiert, indem sie der Schulaufsicht bestimmte Aufgaben gibt, wobei die Bildungspolitik jedoch gleichzeitig inhaltlichen Freiraum lässt, wie die Interaktionen – hier für Inklusion – vor Ort ausgestaltet werden. Eine derartige Steuerung vermeidet Antagonismus, in dem sie eine inhaltlich offene Bühne für die Zusammenarbeit bereitstellt. ◄ In der regulären Arbeitsorganisation der Lehrkräfte, d. h. ohne derartige Bühnen, führt die antagonistische Kooperation zu einer erzwungenen Loyalität, innerhalb derer alle Akteure nicht das zeigen, was sie an Fähigkeiten – auch zur
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Kooperation! – „drauf haben“. Um im Bild zu bleiben: Der Zug fährt nicht mit voller, sondern nur mit halber Kraft. Statt Energie in Kooperation zu stecken, steckt man sie in die Pflege des Antagonismus. Man hat ja immer schon alles gewusst über den anderen Akteur und bereits geahnt, dass man mit diesem Akteur nicht gut zusammenarbeiten kann. Tatsächlich hat sich die antagonistische Kooperation bislang stabil gezeigt, so lange von den Lehrkräften im Rahmen der Arbeitsorganisation eine Befolgung von „Standardnormen“ erwartet werden kann. Dieses Arrangement wurde gerade in der expansiven Phase des Ausbaus des Schulsystems im Wohlfahrtsstaat nach dem Zweiten Weltkrieg gefestigt, sofern es sich gleichsam in die Fläche gehend vervielfältigen ließ, ohne dass an der antagonistischen Kooperation etwas geändert wurde. Nach der expansiven Phase erleben wir jedoch gegenwärtig eine intensive Phase, in der zwecks Steigerung der schulischen Qualität verstärkte Abstimmungen zwischen Akteuren – innerhalb eines Systembereichs sowie zwischen verschiedenen Systembereichen – für notwendig erachtet werden. Dies beinhaltet Qualitätskreisläufe auf sowie zwischen Ebenen, angesichts derer eine antagonistische Kooperation zu einem Hemmschuh wird, der am Erfolg der Maßnahmen zweifeln lässt. Die bisherige Veränderungsresistenz der antagonistischen Kooperation könnte erklären, warum die Bildungspolitik einfachere Lösungen des Problems versucht. Denn es gibt kaum Bemühungen, diese Art der Nicht-Kooperation zu verändern; vielmehr werden mit Schulinspektion und Testverfahren Veränderungen auf intermediären Ebenen installiert. Der Staat umgeht also gleichsam die antagonistische Kooperation, indem er dritte Akteure in das Governancespiel hinzunimmt, die dann die Qualität der Schule beobachten und indirekt beeinflussen sollen. Statt die Arbeitsorganisation der Lehrkräfte zusammen mit diesen Akteuren auf direktem Wege neu zu verhandeln, wird ein seitwärtiger Weg über massiv verstärkte Beobachtungen gewählt. Nur davon verspricht man sich offensichtlich eine Beeinflussung der Schulen. Es handelt sich hierbei um eine „Externalisierung“ von Kontrollen (Altrichter und Heinrich 2006, S. 53). Die politischen und operativen Bemühungen sind dahin gehend, dass mit Bildungsstandards in den Zuständigkeitsbereich des Unterrichts eingegriffen wird, da flächendeckend der Leistungsstand der SchülerInnen gemessen wird, was wiederum outputbezogene Folgeentscheidungen administrativer Art möglich machen soll. Aus Sicht der Lehrkräfte wird ihnen gleichsam das Endergebnis des Unterrichts aus den Händen genommen. Dies kann von der Profession symbolisch als gravierender Vertrauensentzug empfunden werden. Mit der evaluationsbasierten Steuerung wird also auf massive Beobachtungen und nicht auf Verhandlungen mit Lehrkräften oder auf eine gemeinsame Verabredung von
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Leistungen gesetzt – die dann sicher zu Fragen der Ressourcenausstattung der Arbeitsorganisation führen würden. Der eingeschlagene Weg macht den Charakter der Bildungspolitik sichtbar. Offenbar wird unter dem – von der Politik selbst induzierten – Kostendruck öffentlicher Haushalte alles vermieden, was auf eine (dann kostenträchtige) Erneuerung von Strukturen hinausläuft. Dazu gehört, dass es die deutschen Länder nicht ermöglicht haben, die von ihnen diskutierte Schulautonomie, die seit Jahrzehnten als Grundvoraussetzung für eine Offenlegung und Zuschreibung von Leistungen erkannt ist, wirklich einzuführen. Spürbare Umbauten der Arbeitsorganisation wurden nicht durchgeführt. Mit der Schulinspektion versucht die Bildungspolitik, die antagonistische Kooperation, in der sie selbst verfangen ist, links liegen zu lassen, sofern sie „unabhängige Dritte“ beauftragt, an ihrer Stelle in den Schulen nach der Qualität zu schauen. Diese indirekte Steuerung lässt, wie gesagt, die antagonistische Kooperation unangetastet und sucht einen Ausweg über massive Beobachtungen und indirekte Beeinflussungen. Spieltheoretisch gesehen kann jedoch „der Geschickte“ – die Schulinspektion – von Lehrkräften leicht als solcher entlarvt werden – was dann zur Bestätigung der antagonistischen Kooperation führen könnte.
Wissensbaustein: Organisation als lästiger ‚Kleinkram‘
Wie wir gesehen haben ist die Handlungsorientierung der Lehrkräfte an Interaktionen mit SchülerInnen im Unterricht ausgerichtet. Dies beinhaltet gemäß Literatur eine gewisse Distanz von Lehrkräften gegenüber Organisationsfragen und Schulentwicklung: „Das Selbstverständnis der Mitarbeiter/innen ist meist so beschaffen, dass sie sich eher ihrem Fach oder ihrer Profession verpflichtet fühlen als der jeweiligen Organisation, in der sie tätig sind, ja oft stehen sie ‚Experten‘ der Organisation sogar skeptisch gegenüber, von der sie vor allem bürokratische Einschränkungen befürchten. Die Tätigkeit des Organisierens wird nicht als Teil der Professionalität angesehen, oft werden diese Tätigkeiten nur als ermüdende zusätzliche Aufgaben erlebt. […] Es besteht an Schulen ein latenter Widerwille, sich mit Organisation als solcher zu beschäftigen oder auseinander zu setzen. […] Dieses mangelnde Interesse an organisatorischen Dingen führt häufig zu einer gewissen Ahnungslosigkeit über Wesen, Gestalt, Aufgaben und Möglichkeiten von Organisation. Organisation wird mit Administration und ‚lästigem Kleinkram‘ gleichgesetzt, anspruchsvollere Organisationsaufgaben kommen gar nicht in den Blick. Dass Organisationen etwas mit der Herstellung von Kommunikation zu tun haben, darüber besteht weder Bewusstheit, noch praktische Erfahrung und daher kaum technisches Wissen“ (Krainz-Dürr 2000, S. 129).
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Ein Teil der Literatur geht entsprechend auch von Widerständen von Lehrkräften gegen Reformen aus (Bohnsack 1995). Ein anderer Teil spricht Lehrkräften umgekehrt Möglichkeiten von Innovationen zu, wobei neben der institutionalisierten Ausbildung auch berufliche und biografische Erfahrungen eine Rolle spielen (Schönknecht 1997). Biografische Untersuchungen von Lehrkräften sind aber immer noch selten (so Terhart 2001). Beispiel: unterschiedliche „Aufmerksamkeitsreichweiten“
In einer teilweisen biografischen Untersuchung stellt Brüsemeister (2004) bei Lehrkräften in Hamburg, aus dem Kanton Zürich und aus Bayern unterschiedliche „Aufmerksamkeitsreichweiten“ fest: • manche Lehrkräfte beobachten nur ihren Unterricht, • andere zusätzlich auch die Schule, • manche zusätzlich auch die Gesellschaft. Die Perspektive von Schulentwicklung legt nahe, dass Lehrkräfte ihre gesamte Schule im Blick haben. Da die Profile der Nachbarschulen schärfer werden und die Konkurrenz zwischen Schulen zunimmt, lässt sich Schulentwicklung immer weniger vom Umfeld – der Gesellschaft oder Region – abtrennen. ◄ Lehrkräften wird in ihrer Ausbildung nur bedingt (wenn überhaupt) beigebracht, in Kategorien von Schulentwicklung zu denken. Nach Terhart (2002, S. 83) lässt sich am ehesten ansetzen, „wenn fachunterrichtsbezogene Kooperationen in Fachgruppen von Lehrern jedem Beteiligten erfahrbar machen, dass Zusammenarbeit sich lohnt, weil sie mittelfristig Arbeitserleichterungen bringt; wenn starke Konkurrenz/Ängste gerade in einer Fachgruppe auftreten: stattdessen versuchen, fächerübergreifende Kooperationsgruppen zu bilden; wenn zunächst Lehrer-Tandems gebildet werden, bei denen bereits persönliches Vertrauen vorhanden ist; wenn neu hinzukommende Kollegen unmittelbar in fach- oder aufgabenbezogene Kooperationen eingebunden werden; und wenn es gelingt, die Rückmeldungen über die Lernleistungen/Lernfortschritte verschiedener Klassen an einer Schule nicht als Instrumente der Diskriminierung, sondern als Anlässe für Ursachenanalyse und Weiterentwicklung zu nehmen.“ Wie oben am Beispiel der Schulbündnisse in Hessen gezeigt, hat es eine große Wirkung, wenn genügend Raum für eine Kooperation gelassen wird, sie die Bildungspolitik obligatorisch anordnet, und über Weiterbildung stützt. Ebenfalls enthalten ist darin Raum und Zeit, Verständnis für andere Akteure entwickeln zu können. Auch dies war in den Schulbündnissen gegeben. Viele der Angaben
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von Terhart lesen sich dagegen so, als wäre an der antagonistischen Struktur, in die der Lehrberuf feststeckt, nichts verändert worden. Sollen dann zusätzliche Kooperationen gemacht werden, werden sie tatsächlich als Belastung erlebt. Fallbeispiel: Lehrkräfte einer Schule im öffentlichen Austausch1
Gegenteilige Beobachtungen – nämlich zahlreiche Kooperationen, die eine Schule in den öffentlichen Raum hinein entwarf – ergaben sich aus zwei Forschungsprojekten. In den beiden BMBF-Projekten „Schulinspektion als Steuerungsimpuls zur Schulinspektion und seine Realisierungsbedingungen auf einzelschulischer Ebene“ (FKZ: 01 JG 1001 A) und „Funktionen von Schulinspektion: Erkenntnisgenerierung, wissensbasierte Schulentwicklung und Legitimation“ (FKZ: 01 JG 1304 B) haben wir über mehrere Jahre eine ‚starke Schule‘ begleiten dürfen, die sich im ‚öffentlichen Austausch‘ (Goffman 1974) befindet. Als eine von vier Schulen wurde sie im Zuge von vier Interviewwellen zwischen 2010 bis 2014 mittels qualitativer Interviews anlässlich des Besuchs der Schulinspektion, der an der Schule stattgefunden hat, befragt. Angeregt durch den Call für eine Adhoc-Gruppe auf dem Kongress der Deutschen Gesellschaft für Soziologie 2016 in Bamberg (adhoc-Gruppe Michael Dellwing & Jürgen Raab: „Medialisierte Dramatologie? Erving Goffmans Interaktionsordnung in technisch überformten Alltagswirklichkeiten“) unternahmen Lisa Gromala und der Autor dieses Buches eine Sekundäranalyse von Interviewmaterialien aus den BMBF-Projekten, und zwar mit der Theoriebrille von Erving Goffman. Goffman sieht Interaktionen als Differenzkonstruktion: Motive des Einzelnen sind das eine; im öffentlichen Austausch wird dagegen eine davon differente Dramaturgie dargestellt, in der Ansprucherhebende (das eigene Selbst) und Gegenansprucherhebende vorkommen (Goffman 1974, S. 54). Dies gleicht Eigenarten von Organisationen, die sich ebenfalls als Differenzen setzende soziale Gebilde verstehen lassen. Öffentlichkeit ergibt sich nach Goffman aus dem sozialen Phänomen, dass ein dritter Akteur zur Interaktion zwischen zwei anderen hinzukommt, sodass für alle Beteiligten eine Bühne entsteht. Dies eröffnet jedem Akteur Strategien, den öffentlichen Austausch durch eigene Spielregeln zu beeinflussen. In ganz ähnlicher Weise nehmen auch Organisationen Differenzen zu Umwelten wahr, wodurch sie dann für sich etwas re-spezifizieren. Dazu passt
1Zuerst
veröffentlicht als: Brüsemeister und Gromala (2017).
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auch unser Fallbeispiel einer „starken Schule“, die im öffentlichen Raum aktiv wird. Die Beispielschule befindet sich aufgrund sinkender Schülerzahlen in einer bedrohten Lage, was es ihr ermöglichte bzw. erzwang, sich regelmäßig bezüglich der Attraktivität des eigenen Angebots selbst zu beobachten. Parallel wird auch die Umwelt verstärkt beobachtet. So wird beispielsweise das Geschehen im Landkreis kritisch beäugt, wenn Nachbarkreise durch die Erleichterung von Verkehrswegen versuchen SchülerInnen abzuwerben; Maßnahmen, die teilweise als unlauter empfunden werden. Als Strategie zur Aufrechterhaltung von Schülerzahlen werden unter anderem von Lehrkräften einige Nachbarschulen nach möglichen Lösungen abgeklopft, die das eigene Profil der Schule schärfen könnten. So werden beispielsweise Unterrichtskonzepte einer Nachbarschule adaptiert und das Kollegium während einiger Jahre Schulentwicklungsarbeit darauf eingeschworen. Im Rahmen des so eingeleiteten Schulentwicklungsprozesses werden zusätzliche Möglichkeiten zur Überprüfung der eigenen Arbeit gesucht und auch genutzt. So wird z. B. die anstehende Schulinspektion explizit begrüßt, um sich Erfolge eigener Arbeiten für die Schulentwicklung bestätigen zu lassen. Ab dem Zeitpunkt eines mehr oder weniger abgerundeten Konzepts steigt bei den schulischen Akteuren die Sorge, das Konzept könnte von anderen Schulen kopiert bzw. „geklaut“ werden. Es setzt ein verstärkt selektiver Umgang mit Nachbarschulen ein. Zusätzlich werden bereits vorhandene Umweltaktivitäten ausgebaut, indem verschiedene Unterrichtsberater eingeholt werden. Gleichzeitig wird versucht, durch eine konzentrierte Öffentlichkeitsarbeit diese Entwicklungen und Fortschritte der Öffentlichkeit bekannt zu machen. Es lassen sich im Einzelnen verschiedene Details mit Goffman im Organisationsentwicklungsprozess sehen: • Es wird zunehmend ein eigener schulischer Raum bzw. eine „Box“ (Goffman 1974, S. 59) markiert. Sie ist fokussiert auf das eigene Unterrichtskonzept, und wird als Benutzungsraum im Innern der Organisation Schule geschützt. • Dies geht extern einher mit der Konstruktion eines „Besitzterritoriums“, in dem Ansprucherhebende (die eigene Schule) und Gegenansprucherhebende (im öffentlichen Raum) vorkommen; d. h. durch das eigene Unterrichtskonzept wird eine Differenzsetzung zu anderen Schulen eingeführt.
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• In diesem Zusammenhang verteidigt die Schule ihr Informationsreservat, bzw. kontrolliert öffentlich geteiltes Wissen über interne Entwicklungsprozesse. • In den Interviews mit Lehrkräften und der Schulleitung zeigen sich inhaltlich große Überschneidungen an Themen. Dies lässt eine gemeinschaftliche Führungspraxis vermuten. Wie Yvon und Poirel betonen, geht es hierbei um ein Führungsverständnis, „das nicht auf der Entscheidungsmacht einer Einzelperson, sondern auf der verantwortungsvollen Rollenausübung durch alle Beteiligten beruht“ (2012, S. 25, Herv. i. O.). • Auch das Gesprächsreservat wird kontrolliert, mit wem über welche Themen gesprochen werden darf. • Verursacht wird dies unter anderem durch das empfundene Eindringen einer Nachbarschule in das eigene Territorium. Ebenfalls denkt die Schule in einem symbolisch weitergefassten Horizont an potenziell andere Gefährder bzw. Gegenansprucherhebende. Unter anderem werden Vorder- und Hinterbühne stärker getrennt. Auf der Vorderbühne wird die Öffentlichkeit möglichst regelmäßig mit Erfolgsmeldungen zum eigenen Unterricht versorgt, ohne dass Kerne des Konzepts – die unter anderem aus Unterrichtshospitationen bestehen – allzu sehr verraten werden. Die Öffentlichkeit erfährt insbesondere nicht, wie aufwendig es war, mit den eigenen Lehrkräften und SchülerInnen neue Unterrichtskonzepte über Jahre hinweg schrittweise eingeführt zu haben. Als Resümee des Fallbeispiels lässt sich festhalten: Einige Schulen sind offensichtlich in der Lage, aus dem Schatten der Hierarchie bzw. des Staates heraus zu treten. Sie beginnen – von verschiedenen Positionen aus –, den öffentlichen Raum zu beobachten, darauf hinzuwirken, sich an der Öffentlichkeit auszurichten, „öffentlich gut dazustehen“. Dazu gehört, Konzepte gegen Gegenansprucherhebende zu richten. So erhalten Nachbarschulen nicht mehr alle fachlichen Informationen. Gleichzeitig wird die mediale Öffentlichkeit über das eigene Konzept auf dem Laufenden gehalten. Es beginnen sich fachliche Informationen und Öffentlichkeitsarbeit auszudifferenzieren. Entwicklungshungrige Schulen erzeugen solche Öffentlichkeiten. Sie benutzen sie als Spiegel für die eigene Entwicklung. Die Schule ist in der Lage, Vorder- und Hinterbühne auszudifferenzieren und zu kontrollieren. Sie bestimmt das Informationsmanagement nach außen. So werden z. B. Schülerprojekte nach erfolgreicher Durchführung angehalten, einen Zeitungsartikel zu ihrem Projekt zu lancieren. Vorder- und
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Hinterbühne der eigenen Organisation Schule werden getrennt. Aus Sicht der eigenen erfolgreichen Förder- und Unterrichtskonzepte wird überlegt, welche Infos nach außen gegeben werden, und welche man behält. Da ein eigenes Informationsreservat für sich behalten wird, lässt sich eine Öffnung nach außen praktizieren. Die öffentliche Schule sucht demzufolge die Zusammenarbeit mit anderen Akteuren. Sie spielt in einer Bildungslandschaft einen aktiven Part. Staatliche Akteure werden von der Schule aktiv als Unterstützung aufgesucht und einbezogen. In unseren beiden Forschungsprojekten haben wir drei weitere Schulen begleitet, die sich gegenteilig verhalten. Diese drei Schulen seien summativ (d. h. zusammengefasst) dargestellt, um einen möglichst großen Kontrast zu erzeugen. Es zeigen sich große Unterschiede zwischen unserer Beispielschule, die sich traut, der Öffentlichkeit zuzuarbeiten, und den drei anderen Schulen, die sich ‚im Schatten‘ der Hierarchie des Staates, von Vorgaben, als abhängiger Akteur sehen. Als Kontrast zu unserer ‚aktiven‘ Beispielschule also nun „die“ staatlichen Schulen (die hier sprachlich vereinfacht als eine einzige dargestellt wird): Die staatliche Schule steht im Schatten des Staates. Die Politik fokussiert einseitig die Schulleitung und verlangt zahlreiche Aufgaben des Managements und der Führung. Führung ist solitär herausgehoben; davon verspricht man sich die Lösung von Problemen. Eine gemeinsame Schulentwicklung tritt dadurch in den Hintergrund. Was die Schule repräsentiert, wird vom Staat vorgegeben. Beziehungen zu externen PartnerInnen im Sozialraum werden nicht gesucht, denn Kooperation erscheint als Zusatzaufgabe, die Lehrkräfte als Belastung erleben. Die Schulleitung schließt sich dieser Sichtweise an, um solidarisch zu sein. Damit verwehrt sie sich, Ziele vorzugeben oder mit den Lehrkräften auszuhandeln. Ein Arbeitsprogramm einer Differenzierung zwischen Organisation und Umwelt wird nicht aufgegriffen. Es werden a) keine schützenswerten Bereiche einer Hinterbühne markiert, die man für die eigene Organisationsentwicklung benötigt, im Kontrast zu b) einer „aufgehübschten“ Vorderbühne, auf der man eigene „Erfolge“ einer Öffentlichkeit darstellt. Die Interessen der Akteure der Einzelschule sind auf das Wohlergehen der Lehrkräfte ausgerichtet. Die Schulleitung passt sich dem an. Weder für Öffentlichkeitsarbeit nach außen, noch für das Voranbringen von Schülerprojekten im Innern bleibt Zeit. Externe Akteure werden nicht gezielt einbezogen, da es kein einheitliches Ziel gibt, das die Schule vorgibt. Alle Akteure sind im Prinzip darauf beschränkt, sich selbst hinsichtlich der Durchführung des Schulbetriebs zu verwalten. Jeder erbringt selektive
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Funktionsbeiträge, die untereinander nicht abgestimmt und organisiert sind. Die staatliche Schule ist fragmentiert. Eine Bildungslandschaft ist davon separiert und bleibt ungenutzt. ◄ Tipp Eine Zusammenfassung zu Goffman findet sich in: Brüsemeister, Thomas (2013): Soziologie in pädagogischen Kontexten. Handeln und Akteure. Wiesbaden, Kap. 3. Beispiel: Schülerorientierung versus Lehrerorientierung
Lisa Gromala fand in ihrer Dissertation (2019), die im Rahmen der Projekte „Schulinspektion als Steuerungsimpuls zur Schulinspektion und seine Realisierungsbedingungen auf einzelschulischer Ebene“ und „Funktionen von Schulinspektion: Erkenntnisgenerierung, wissensbasierte Schulentwicklung und Legitimation“ durchgeführt wurde und mit deren empirischen Daten arbeitet, vier unterschiedliche Einstellungen von Lehrkräften gegenüber der Schülerschaft heraus. Besonders relevant ist hier die Unterscheidung zwischen der Schülerorientierung und der Lehrerorientierung. Wie sich zeigte, können Lehrkräfte entweder sich selbst im Fokus ihrer Arbeit sehen (Lehrerorientierung), oder sie können Schule und Unterricht von den SchülerInnen aus denken. Im letzten Fall haben Lehrkräfte eine konkrete Vorstellung von den Bedürfnissen, sowohl der einzelnen SchülerInnen, als auch der Gesamtschülerschaft und versuchen, allen SchülerInnen gerecht zu werden. Schülerorientierte Lehrkräfte fragen sich demnach, welche schulischen Strukturen und unterrichtliche Förderung einzelne SchülerInnen und auch die Gesamtschülerschaft brauchen, um optimal Lernen und sich entwickeln zu können. ◄ Fazit
Wie wiederum das Beispiel der hessischen Schulbündnisse zeigt, sind Lehrkräfte fähig, in Kooperation und Schulentwicklung einzusteigen. Im Unterschied dazu sind sie in einer antagonistischen Kooperation in einer engen Arbeitsorganisation gefangen, arbeiten getrennt voneinander. Zwar wird auf diese Weise die Handlungsorientierung, die an Interaktionen mit Schülerinnen ausgerichtet ist, aufrechterhalten und ausgefüllt. Gleichzeitig werden jedoch viele kooperative Fähigkeiten, die für Schulentwicklung benötigt werden, kaum von Lehrkräften abgerufen. Dies hat seinen Grund wohl auch darin, dass die Bildungspolitik bei Schulentwicklung vor allem die Schulleitungen adressiert. Als systematische Berufsaufgabe wird Schulentwicklung offensichtlich den Lehrkräften vorenthalten oder nicht zugetraut.
Literatur
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Da Lehrkräfte jedoch zu systematischen Unterrichtsbeobachtungen in der Lage sind, und auch zurück liegende Interaktionen und Prozesse beobachten können, sind sie grundsätzlich befähigt, Prozesse der Organisationsentwicklung zu initiieren, zu begleiten und zu verfolgen, und dies in einer Vor-, Haupt-, und Nachgeschichte festzuhalten. Entsprechend würden auch jeweils Handlungsbeiträge hinsichtlich Handlungs-, Verfahrens-, und Ergebnisrationalität erstellt. Die evaluationsbasierte Steuerung begegnet den Lehrkräften mit Misstrauen. Man stellt ihnen neue Akteure wie die Schulinspekteure bei, die mit wissenschaftsbasierten Daten den Unterricht der Schule summativ rückmelden; dabei sind Lehrkräfte nicht in der Handhabung von Datensätzen ausgebildet; jedoch wundert man sich dann, dass die Inspektion wenig Wirkung zeigt. Im eigenen Hoheitsgebiet der Arbeitsorganisation traut sich die Politik offensichtlich nicht, einzugreifen. Die Prinzipal-Agenten-Konstellation zwischen Bildungspolitik und Lehrkräften ist blockiert und auch die Inspektion ändert daran nichts. So haben die Lehrkräfte von der Hierarchie keine positiven Impulse für Schulentwicklung zu erwarten. Auf sich gestellt – wie die Schulleitungen – wird ebenfalls nicht systematisch beobachtet, ob und wenn ja wie Lehrkräfte sich Hilfen von lokalen Akteuren holen oder mit ihnen zusammenarbeiten. Unsere Beispielschule zeigt, wie engagierte Schulen mit einer Öffentlichkeit umgehen. Aus der Notwendigkeit heraus, aktiv Schüler/-innen anzuwerben, entwirft die Schule Strategien in den sozialen Raum hinein, vernetzt sich mit zahlreichen Akteuren. Aus Kooperationen, die die Schule mit externen Partnern schließt, organisieren sie sich jeweils Funktionsbeiträge für die Unterstützung ihres Unterrichts. ◄
Literatur Verwendete Literatur Altrichter, Herbert, und Martin Heinrich. 2006. Evaluation als Steuerungsinstrument im Rahmen eines „neuen Steuerungsmodells“ im Schulwesen. In Evaluation im Bildungswesen. Eine Einführung in Grundlagen und Praxisbeispiele, Hrsg. Wolfgang Böttcher, Heinz Günter Holtappels, und Michaela Brohm, 51–64. Weinheim, München: Juventa. Bohnsack, Fritz. 1995. Widerstand von Lehrern gegen Innovationen in der Schule. Die Deutsche Schule 1:21–37. Münster, New York: Waxmann. Brüsemeister, Thomas. 2004. Das andere Lehrerleben. Lehrerbiographien und Schulmodernisierung in Deutschland und in der Schweiz. Bern: Haupt.
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Brüsemeister, Thomas, und Lisa Gromala. 2017. Organisationen im öffentlichen Austausch: Zur Karriere von Organisationsfähigkeiten im Sozialraum. In Geschlossene Gesellschaften. Verhandlungen des 38. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Bamberg 2016, Hrsg. Stephan Lessenich. http://publikationen.soziologie. de/index.php/kongressband_2016/article/view/572. Zugegriffen: 15. Juli 2020. Goffman, Erving. 1974. Das Individuum im öffentlichen Austausch. Mikrostudien zur öffentlichen Ordnung. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Gromala, Lisa. 2019. Kämpfe von Schulen um Selbstbehauptung. Eine Analyse mit Pierre Bourdieu und der Grounded Theory. Wiesbaden: Springer VS. Krainz-Dürr, Marlies. 2000. Wie Schulen lernen. Zur Mikropolitik von Schulentwicklungsprozessen. In Schule zwischen Effektivität und sozialer Verantwortung, Hrsg. Heinz-Hermann Krüger und Hartmut Wenzel, 125–140. Opladen: Leske + Budrich. Kussau, Jürgen, und Thomas Brüsemeister. 2007. Governance, Schule und Politik. Zwischen Antagonismus und Kooperation. Wiesbaden: VS Verlag. Schimank, Uwe. 2002. Organisationen: Akteurkonstellationen – korporative Akteure – Sozialsysteme. In Organisationssoziologie. Sonderheft der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Hrsg. Jutta Allmendinger und Thomas Hinz, 42, 29–54. Wiesbaden: VS Verlag. Schönknecht, Gudrun. 1997. Innovative Lehrerinnen und Lehrer. Berufliche Entwicklung und Berufsalltag. Weinheim: Deutscher Studienverlag. Scott, W. Richard. 1971. Konflikte zwischen Spezialisten und bürokratischen Organisationen. In Bürokratische Organisation, Hrsg. Renate Mayntz, 201–216. Köln: Kiepenheuer & Witsch. Terhart, Ewald. 2001. Lehrerberuf und Lehrerbildung. Forschungsbefunde, Problemanalysen, Reformkonzepte. Weinheim, Basel: Beltz. Terhart, Ewald. 2002. Nach PISA. Bildungsqualität entwickeln. Hamburg: Europäische Verlagsanstalt. Wehling, Peter. 2008. Wissen und seine Schattenseite: Die wachsende Bedeutung des Nichtwissens in (vermeintlichen) Wissensgesellschaften. In Evaluation, Wissen und Nichtwissen, Hrsg. Thomas Brüsemeister und Klaus-Dieter Eubel, 17–34. Wiesbaden: VS Verlag. Yvon, Fréderic, und Emanuel Poirel. 2012. Verteilte Leadership und Berufskultur von Lehrpersonen. Drei Fallbeispiele. Journal für Schulentwicklung 16 (1): 24–30.
Weiterführende Literatur Gromala, Lisa. 2019. Kämpfe von Schulen um Selbstbehauptung. Eine Analyse mit Pierre Bourdieu und der Grounded Theory. Wiesbaden: Springer VS. Theoretisch und methodisch anregende Analyse, wie Lehrkräfte in vier ausgesuchten Schulen mehrere Jahre lang mit Schulentwicklung umgehen, kurz bevor und nachdem sie von der Schulinspektion besucht wurden.
SchülerInnen
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Zusammenfassung
Dieses Kapitel behandelt SchülerInnen. Sie sind auf Lernen ausgerichtet. Das Lernen ist hochgradig sozial ko-konstruiert, d. h. in verschiedenen Gruppen werden vor allem die (emotionalen) Bedeutungen und Bewertungen von Dingen gelernt.
Exkurs: Handlungsorientierung Erstaunlicherweise handelt die Forschung fast überwiegend über SchülerInnen, insbesondere indem normative Konzepte darlegen, was sie alles können sollen. Dies reicht von der Reformpädagogik bis zu aktuellen Kompetenzansätzen der Psychologie. Von den SchülerInnen selbst erfährt man wenig. In der funktional differenzierten Gesellschaft haben SchülerInnen im Prinzip zu allen Teilsystemen (außer dem Militär) einen Bezug (Gesundheit, Politik, Massenmedien, Recht, Wirtschaft, usw.). Sie spielen zahlreiche Rollen als BürgerInnen, Familienangehörige, KonsumentInnen, MediennutzerInnen, usw. Vermutlich ist ihr Leitwert auf Lernen ausgerichtet. Dies geschieht in den schulischen und außerschulischen Lebenswelten permanent und reicht vom informellen bis zum formellen Lernen. In der Schule überwiegen die formellen Lernanteile. Gleichzeitig kann die Schule versuchen, die Wünsche und Fähigkeiten der SchülerInnen nach Selbstlernzeiten in das formelle Lernen einzubauen. Der Leitwert des Lernens sollte hierbei nicht mit fachlichem Lernen verwechselt werden, sondern ist eher eine pragmatische Einstellung gegenüber dem Leben.
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 T. Brüsemeister, Soziologie in pädagogischen Kontexten, https://doi.org/10.1007/978-3-658-04305-6_13
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Exkurs: Schülerjob nach Breidenstein Schülerinnen und Schüler gehen laut Beobachtungen von Breidenstein (2006) nicht in die Schule um zu lernen, sondern um ihren Job zu tun. Hierbei sollte der Pragmatismus, der im Zentrum des Schülerjobs steht, nicht mit Lustlosigkeit verwechselt werden, da sich durchaus lustvolle, amüsante und engagierte Ausübungen des Schülerjobs beobachten lassen. SchülerInnen können sich nicht sechs Stunden lang am Tag für Unterrichtsinhalte interessieren. Daher sind sie auf Routinen und Selbstverständlichkeit bei der Ausübung ihres Jobs angewiesen und sind nicht von aktueller und situativer Motiviertheit abhängig. Aus diesem Grund ist es eine Illusion, schulischen Unterricht vom Problem der Motivation und des Interesses her zu betrachten, wie es viele Lehrkräfte tun. Diese falsche Erwartungshaltung kann zu Konflikten zwischen SchülerInnen und Lehrkräften führen (vgl. Breidenstein 2006, S. 262 f.). Im Zwischenfazit (Kap. 9) wurde darauf hingewiesen, dass in den Hessischen Schulbündnissen die Akteure jeweils Raum und Zeit erhalten für ihre verschiedenen Handlungsorientierungen. Ebenfalls wird Raum gelassen für Aushandlungen. Auf diese Weise entstehen Möglichkeiten, vor Ort Dinge auf die eigenen Bedarfe anzupassen. Auch im Schülerjob scheint eine gewisse Distanzierung zu liegen, wenn man die Maßstäbe von Lehrkräften anlegt, die von SchülerInnen am liebsten Motivation und Hingabe nur für den eigenen Unterricht möchten. Nur den Job zu machen muss jedoch nicht einschränkend gemeint sein, sondern kann positiv eine Distanzierung beinhalten, in der sich der Schüler und die Schülerin diejenigen Wissensbausteine aussuchen, die zu ihrer jeweiligen Entwicklung passen. Dies lässt an den oben in Kapitel 9 angeführten Begriff der Performanz erinnern. Performanz, so wurde dort dargelegt, ist Wissen in Anwendung. Auch ein Schülerjob ist Wissen in Anwendung. Es lässt sich vermuten, dass in diesem Job verschiedene Perspektiven von Fächern gehandhabt, aufeinander bezogen, sowie distanziert und differenziert gehandhabt werden. Außerdem bietet Performanz auch Raum für die Handhabung von außerschulischem Wissen. Für die Schulentwicklung wäre es von großem Gewinn, würden die Fähigkeiten zur Performanz, die alle Akteure, auch die SchülerInnen, haben, berücksichtigt werden. In diese Richtung argumentiert auch Klaus-Dieter Eubel. Nach seiner Meinung wird „aus Sicht der ‚qualitätsbasierten Schule‘ das Schülerhandeln immer wichtiger. Schülerinnen und Schüler werden in der Akteurkonstellation der Einzelschule, gegenüber Schulleitung, Lehrkräften und Eltern aufgewertet; in Qualitätsdiskursen sind sie verstärkt ‚Objekt‘ der Beobachtung – aber auch ‚Subjekt‘, da sie selbst evaluieren sollen bzw. Beobachtungsrechte haben.
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Welchen Part jedoch Schüler in der modernisierten Einzelschule faktisch spielen, ist damit noch nicht geklärt. Leichter fällt es zu eruieren, welchen Part Schülerinnen und Schüler spielen sollen.“ (Eubel 2003, S. 353; Herv. i. O.)
Wissensbaustein: Mythisierung des Kindes
Weiter notiert Eubel (2003, S. 353–354): „In der Pädagogik hatte diese Perspektive Tradition. Ein Bild vom Kinde wurde normativ gesetzt und daraus eine Pädagogik abgeleitet. Die Bilder können wechseln. Sieht man im Kind den noch nicht ‚fertigen‘ Erwachsenen, dann gilt es, gegebenenfalls auch seinen Eigenwillen zu brechen, damit aus ihm ein ‚ordentlicher‘ Mensch wird. Dieses Bild war lange Zeit stark aus der Mode gekommen. Gängiger war die Weiterentwicklung des von der Reformpädagogik entworfenen Bildes, dass mit Rousseau davon ausgeht, dass das Kind von Natur aus gut sei und es in erster Linie gelte, sein ‚Eigenrecht‘ zu schützen, weil es nur so davor bewahrt werden kann, dass seine Persönlichkeit ausgelöscht oder deformiert wird. Jürgen Oelkers hat diese Form der ‚Mythisierung des Kindes‘ (1989, S. 74) präzise beschrieben und nachgewiesen, dass solche Mythen unabhängig von aller empirischen Evidenz entstehen können. Viel schlimmer: er kann zeigen, dass die Wissenschaften, die sich in der Epoche der Reformpädagogik mit der Erforschung der Kindheit befassten, also etwa die Kinderund Jugendpsychologie, in steter Gefahr waren, solche idealisierten Bilder in ihre Vorannahmen zu integrieren.“
Weiter dürfe, so Eubel, bezweifelt werden, dass statt solcher idealisierten Bilder nunmehr Daten die Grundlagen bilden, SchülerInnen zu betrachten. Eher halte sich aus Sicht von Lehrkräften durch, „die Nichterreichung gesetzter Unterrichtsund Erziehungsziele dem Interaktionspartner Schüler zuzuschreiben“ (Eubel 2003, S. 354). Exkurs: „Adieu 70er Jahre“ Ein anderer Sachverhalt besteht darin, dass sich in den vergangenen Jahrzehnten die Autorität der Lehrkräfte gegenüber Jugendlichen abgeschliffen hat (Ziehe 2003). Nach der Ansicht von Thomas Ziehe hat es nach dem Zweiten Weltkrieg verschiedene Phasen einer Modernisierung des Schulsystems gegeben. In einer ersten Phase nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die Grundlagen für ein neues Schulsystem geschaffen, wesentlich durch Einzug wissenschaftlicher Methoden, und durch neue Schulbauten. Die Lehrkräfte konnten als Repräsentanten und Autoritäten dieser – Teils Ehrfurcht gebietenden – Gebäude angesehen werden.
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Spätestens jedoch in den sechziger Jahren haben sich SchülerInnen an die Erfolge der ersten Modernisierung gewöhnt. Dass es eine moderne Schule gibt, wurde Teil der Alltagskultur. Damit verschwand auch der Autoritätsvorsprung der Lehrkräfte. Durch die zweite Modernisierungsphase ab den 1960ern, in der die Bildungssysteme noch einmal deutlichen Zulauf erhielten, hat sich die Alltagskultur stark verändert und mit ihr das Lebensgefühl. Im Zuge der ersten Modernisierungsphase wurde ein neuer Schulbau als Wirkungsursache für fröhliche, aufgeweckte und gesunde Schüler verstanden, während sich durch die zweite Phase die Erlebnisweise verändert hat. Man erwartet nicht mehr, dass die Fröhlichkeit der Schülerinnen und Schüler durch den Neubau einer Schule stimuliert werden kann. Viele Lehrkräfte sind biografisch durch die erste Modernisierungsphase geprägt, während die Lernenden bereits ein anderes Lebensgefühl mitbringen. Die Lehrkräfte erwarten daher von ihren Klassen ähnliche Erwartungshorizonte. Diese gestellten Erwartungen von Lehrkräften an deren Schülerinnen und Schülern kann der Hauptgrund für das Entstehen von Konflikten sein (vgl. Ziehe 2003, S. 358 ff.). Vielfach haben Jugendliche in der Alltagskultur mit Erwachsenen gleichgezogen oder haben sie – wie im Bereich Mediennutzung – teilweise überholt. Durch Individualisierung sind zudem die festen Fahrpläne durch die Jugendphase verschwunden (Fuchs-Heinritz und Krüger 1991). Gleichzeitig erhalten sich Gruppen von benachteiligten Jugendlichen und es kommen sogar weitere hinzu (Schneider et al. 2015). Um so mehr kommt es auf die Qualität der Schule an. Schule macht nach wie vor einen Unterschied. Sie hat einen Bildungs- und einen Erziehungsauftrag, kann Kooperationen zwischen sich und den Eltern aufbauen und im Unterricht verschiedene SchülerInnen differenziert fördern (Eubel 2003, S. 356). Exkurs: Eine neue Bühne für SchülerInnen? Des Weiteren besteht die Möglichkeit, dass im Zuge von Reformen der Steuerung die Rolle von SchülerInnen bei der Mitwirkung an Schulentwicklung aufgewertet werden könnte. Die evaluationsbasierte Steuerung (Altrichter und Heinrich 2006) und das NPM (Brüsemeister 2004, Kap. 4) hatten wir als Steuerungsreformen bereits angesprochen. Sie beinhalten im Kern z. B. die von der Zentrale/Bildungspolitik eingeführten Bildungsstandards; deren Anwendung wird vom intermediären Akteur Schulinspektion überprüft; die Ebene der einzelnen Schule wird für fähig gehalten, Rechenschaft über ihre Entwicklung abzugeben.
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In diesem Kontext neuer Steuerung sieht Klaus-Dieter Eubel die Möglichkeit, dass sich auch eine neue Verhandlungskultur entwickeln könnte, die er als Voraussetzung dafür sieht, dass SchülerInnen eine ‚Bühne‘ haben: „Mit dem Neuen Steuerungsmodell und mit den sich daraus ergebenden Spielregeln, nach denen die unterschiedlichen Akteure sich wechselseitig aufeinander beziehen müssen (sei es neutral, konsensual oder im Widerspruch), müsste sich eine neue ‚Verhandlungskultur‘ entwickeln. Möglicherweise ist sie die Voraussetzung dafür, dass Schüler erstmals eine ‚Bühne‘ haben, auf der sie ihre Akteurinteressen artikulieren können, die vermutlich bislang einfach deshalb wenig wahrgenommen wurden, weil sie nicht in die ‚legitimen‘ Muster derer ‚passen‘, die fast ausschließlich die Definitionsgewalt in ihren Händen hielten.“ (Eubel 2003, S. 356, Herv. i. O.)
In diesem Zitat deutet sich ein Umdenken an, SchülerInnen als gleichberechtigt zu betrachten. Ein Aspekt, der sich ebenfalls unter dem Stichwort „Ko-Konstruktion“ von Kindern und Jugendlichen ansprechen lässt.
13.1 Ko-Konstruktion Zusammenfassung
In diesem Unterkapitel werden Prozesse der Ko-Konstruktion von SchülerInnen behandelt. Dies beinhaltet Vorstellungen von aktiven Kindern und Jugendlichen sowie einer aktiven Umwelt. Hier werden Beziehungen der Schule zum Sozialraum wichtig. ◄ Nach Fthenakis wird eine veränderte Architektur des Bildungssystems benötigt, da Bildungsprozesse nur dann eine hohe Qualität haben, wenn man von aktiven Kindern und einer aktiven Umwelt ausgehe1 (siehe. Abb. 13.1). Die Theorie der Ko-Konstruktion berücksichtige, dass Kinder und Jugendliche von Anfang an in soziale Beziehungen eingebettet sind; der einzelne gestalte seine Entwicklungen, aber nicht alleine (Fthenakis 2016, S. 12). Bildung wird hier als sozialer Prozess verstanden (ebd.).
1Fthenakis
hat am „Bildungs- und Erziehungsplan für Kinder von 0 bis 10 Jahren“ in Hessen mitgewirkt, vgl. https://kultusministerium.hessen.de/sites/default/files/HKM/ rahmenplan_grundschule_95.pdf (29.03.2020).
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Abb. 13.1 Vorstellungen von Entwicklung. (Quelle: Fthenakis 2016, S. 10)
Beispiel: Erlernen von emotionalen Bedeutungen in gemeinsamen Projekten
Die Generierung von Wissen und vor allem die Erforschung von Bedeutung werde sozial prozessiert (ebd., S. 13). Dies erfordere eine Veränderung der Architektur des Bildungssystems. Hierbei steht mit der Ko-Konstruktion von Wissen weniger der Erwerb von Fakten, als vielmehr die Entwicklung und Ergründung von Bedeutungen im Vordergrund (ebd., S. 24). In gemeinsamen Projekten zum Beispiel erarbeiten Kinder und Jugendliche neue Inhalte, lernen verschiedene Perspektiven kennen, und zusammen mit anderen Akteuren Probleme zu lösen (ebd., S. 25). Aus der Vielzahl möglicher Handlungsstränge wählt die Gruppe relevante Alternativen aus und verwirft andere Alternativen, sprich sie macht die Welt (emotional) bedeutsam. So wurde in einer Schule das Projekt „Tomatengewächshaus“ durchgeführt. Hintergedanke war, einige auf Konflikt getrimmte Schüler wieder in die Klassengemeinschaft einzubinden. Hierbei mussten die Betreffenden, so
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wie alle anderen SchülerInnen der Klasse, mit Holz arbeiten, und später die Tomatenpflanzen gießen. Ein Junge und ein Mädchen konnten schwere Bretter für das Gewächshaus nur gemeinsam hantieren, um sich nicht zu verletzen. Und die Tomatenpflanzen mussten gegossen werden, um nicht einzugehen. Durch diese Aspekte wurde eine Achtsamkeit gegenüber MitschülerInnen und der Natur eingeübt. ◄ In der Ko-Konstruktion wird relevant, dass die Einzelnen die Dinge je nach Kultur, Geschlecht und nach besonderen Bedürfnissen bewerten. In diesem Zusammenhang wird nach Fthenakis (2016, S. 27) berücksichtigt, „dass in ko-konstruktiven Lernprozessen unterschiedliche (verbale und nonverbale) Ausdrucksformen im Vordergrund stehen. Auch das Schweigen des Kindes muss als eine mögliche Ausdrucksform verstanden und akzeptiert werden“. Dies sei mit einer gewandelten „‚Philosophie‘ im Umgang mit und bei der Bewertung von Diversität“ verbunden (ebd., S. 30). Exkurs: aktive Einbeziehung nach Fthenakis „Bisherige Bemühungen, den Erwerb von Sprachkompetenz zu stärken, fokussierten vorwiegend auf grammatikalische und syntaktische Aspekte, auf den Erwerb von Vokabular und auf aktive Verwendung der erworbenen Sprachkompetenz, um kommunizieren zu können, Probleme zu lösen und dem Unterricht in der Schule zu folgen. Bekannte und beliebte Ansätze, die Verwendung fanden, waren die ‚Phonologische Bewusstheit‘ und andere, deren Brauchbarkeit nicht infrage gestellt wird. Diese an sich notwendigen Angebote erwiesen sich allein als nicht ausreichend, um hohe Sprachkompetenz, insbesondere kommunikative Kompetenz zu sichern. Die Organisation der Bildungsprozesse und damit die Gestaltung des Spracherwerbs zieht unterschiedliche didaktische Konzepte heran, wie z. B. das selbstorganisierte Lernen, aber auch und vor allem die Ko-Konstruktion, weil diese alle Kinder in Diskurse einbettet, die mit hohem Respekt und unter aktiver Einbeziehung eines jeden Kindes diskursiv gestaltet werden. Ko-Konstruktion ermutigt jedes Kind seine eigenen Ideen und Lösungsansätze zu entwickeln, diese zu äußern, sie mit den anderen Kindern und der Fachkraft zu diskutieren und ermöglicht auf diese Weise eine diskursive Atmosphäre, die den Spracherwerb in hohem Maße begünstigt. Einer der Gründe, warum bisherige Bemühungen, bei Kindern eine hohe Sprachkompetenz zu erreichen, hinter den Erwartungen geblieben sind, war die fehlende Diskursivität in der Gruppe. Eine kritische Reflexion bisheriger Ansätze und vorliegender Befunde legt nahe: a) eine breitere Konzeptualisierung des Spracherwerbsangebots vorzunehmen, b) dieses durch Stärkung auch anderer Kompetenzbereiche zu ergänzen,
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c) an dessen Implementation neuere didaktische Ansätze heranzuziehen, d) den Spracherwerbsprozess in einen parallel laufenden Integrationsansatz einzubetten, der eine soziale und kulturelle Orientierung und Einbettung dieser Kinder erleichtert, ja sogar erst ermöglicht und e) nicht zuletzt ist die aktive Einbeziehung der Familie zu erwägen und über die Etablierung von Bildungspartnerschaften zu realisieren.“ (Fthenakis 2016, S. 41–43; Herv. TB)
Es fällt auf, dass Schulentwicklung aus Governance-Sicht sowie der Vorstellung von Ko-Konstruktion beide darauf abstellen, dass Akteure gemeinsame Bedeutungen auf entsprechenden Bühnen herstellen und relevant machen. SchülerInnen werden so grundsätzlich für ein Mitwirken an Schulentwicklung für fähig erachtet, da sie ja auch das Zentrum der gesamten Organisation Schule bilden. Eine spezielle Erforschung konkreter einzelner Beiträge von SchülerInnen zur Schulentwicklung gibt es jedoch kaum. Tipp Ausnahmen sind zum Beispiel Forschungen zur Frage, wie Grundschulkinder eine Leistungsbeurteilung erleben, vgl. hierzu Professorin Dr. Silvia-Iris Beutel von der TU Dortmund.2
Wissensbaustein: Sozialraum
In Anlehnung an Fthenaiks (2016, S. 57) lässt sich sagen, dass die Schule Teil des Sozialraums ist, und da auch Kinder und Jugendliche Teil des Sozialraums sind, ist die Schule ein möglicher Ort der Integration durch externe HelferInnen, bereits bevor Unterrichtsprozesse einsetzen. Fthenakis ist der Meinung, dass Bildungsprozesse allein keine Integration bewerkstelligen können, sondern dass es dafür eines zusätzlichen sozialen Integrationsansatzes bedarf. Dieser ist der Sozialraum (ebd., S. 58). In der Sozialen Arbeit resultierte die Orientierung am Sozialraum aus einer Kritik fallspezifischer Einzelfallhilfe, die im Sozialraum verschoben wird zu einer Verschränkung von fallspezifischer und fallübergreifender Unterstützung (Früchtel et al. 2012). Weiter wird davon ausgegangen,
2 https://www.fk12.tu-dortmund.de/cms/IADS/de/Lehrbereiche/Lehrbereich-fuerSchulpaedagogik-und-Allgemeine-Didaktik-Schwerpunkt-Lehr-_-Lernprozesse-undempirische-Unterrichtsforschung/Personen/Lehrbereichsleiterin/Beutel-Silvia_Iris. html#Veroeffentlichungen)
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dass Sozialräume einerseits materielle Rahmen- und Lebensbedingungen, andererseits individuelle Bedeutungs- und Aneignungsräume sind. Wegen der dadurch gegebenen Vielfalt möglicher Nachfrageaspekte sind kommunale AnbieterInnen – aus Staat, Zivilgesellschaft und Wirtschaft – zu einer Ausweitung ihrer Vernetzung und einer Verknüpfung von Themenbereichen angehalten. Dies beinhaltet, sich mit verschiedenen Fachressorts auseinanderzusetzen, da sie an der Hilfe für eine Person beteiligt sind. Übergänge müssen zwischen verschiedenen Ressorts organisiert werden. Auch die Soziologie seit der Chicagoer Schule beinhaltet einen sozialräumlichen Ansatz, der insbesondere von Anselm Strauss (2010) (und NachfolgerInnen) als Ansatz der Arenen und der sozialen Welten ausgearbeitet wurde. Es wird hierbei von individuellen Bedeutungs- und Aneignungsräumen ausgegangen, und gleichzeitig, dass diese Bedeutungen in konflikthaften Aushandlungsprozessen interaktiv konstruiert werden. Dies gibt der Analyse von Interaktionen und Kontexten in der Kommune einen hohen Stellenwert.
Tipp Einen guten Überblick über Arenen und Soziale Welten liefert Katharina Lüthi (2019). Im Sozialraum werden Prozesse des Spracherwerbs der Kinder eingebettet in die Lebensumgebung. Es erfolgt eine gemeinsame Exploration „der sozialen und kulturellen Umgebung mit dem Ziel, Bildungsressourcen (z. B. Bibliotheken, Museen etc.) zu identifizieren und deren Nutzung zu lernen, kulturelle Angebote kennen zu lernen und gegebenenfalls in Anspruch zu nehmen“ (Fthenakis 2016, S. 58). Auf diese Weise begreift sich die Schule bereits vor dem Unterricht als Ort der sozialen Integration, von dem Exkursionen zu verschiedensten Lernorten ausgehen können, die sich dann wieder im Unterricht nutzen lassen. Ebenfalls sind Jugendliche durch die Nutzung von Smartphones und Internet in der Lage, sich innerhalb und außerhalb der Schule jederzeit weltweit mit bestimmten Gruppen von Benachteiligten zu solidarisieren oder sich gegen die Abschiebung von MigratInnen zu wehren, die Teil ihrer schulischen und/oder außerschulischen Lebenswelten wurden. SchülerInnen können auf diese Weise durch „citizenship education“ – das Streiten und Sicheinsetzen für Belange
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einer weltweiten Bürgergesellschaft (vgl. Wintersteiner et al. 2014) – auch VorreiterInnen für die Themensetzung in Schulentwicklungsprozessen sein. Die Schulklasse als soziales System In dem gleichnamigen Aufsatz von 1959 geht Talcott Parsons auf die Schulklasse als Handlungseinheit ein, die sowohl für die Lehrkräfte, als auch für die SchülerInnen von Bedeutung ist (Wiederveröffentlichung als Parsons 2012). Die soziologische Perspektive betont vor allem, dass in der Schulklasse Rollen für spätere Berufe vorbereitet werden. Außerdem wird ein gesellschaftliches Wertesystem vermittelt. Interessanterweise entzieht sich dabei die Klasse zum Teil der Erwachsenenwelt, d. h. den Lehrkräften und den Eltern. In informellen Gruppen, zwischen denen die einzelnen Schüler und Schülerinnen fluide wechseln können, wird eine Solidarität untereinander eingeübt. Verkürzt gesagt lernen SchülerInnen, sich gegen die Erwachsenenwelt durchzusetzen beziehungsweise sich unabhängig von ihr zu machen. Vermutlich aus diesem Grund gehen die Erwachsenen in den Erziehungs- und Bildungsprozessen gerne an der Schulklasse als einer wichtigen Bezugsgröße vorbei. In zahlreichen weiteren Studien wurde gezeigt, in welcher Weise sich die peer group auf das Verhalten der Einzelnen auswirkt, in dem zum Beispiel die Lesemotivation gefördert werden kann (vgl. zur Übersicht Brüsemeister 2008, S. 106– 115). Weiter finden Judith Fränken und Marold Wosnitza (2018) in einem Aufsatz auf Basis einer empirischen Untersuchung heraus, auf welche unterschiedlichen Aspekte SchülerInnen stolz sind in ihrem Schulalltag (explorative Studie zu 112 SchülerInnen der Klassen 5–8 einer deutschen Gesamtschule). Dies bezieht sich unter anderem darauf, außerhalb der Schule soziale Beziehungen sowie Beziehungen zu Tieren zu haben, sowie auf Erlebnisse in der Klasse. Stolz wird auch gezeigt, wenn jemand anderes eine gute Leistung erbringt. In der Praxis der Berufsausübung durch die Lehrkräfte ist eine Schulklasse Alltag. In der wissenschaftlichen Beschäftigung ist die Schulklasse noch zu wenig erforscht. Dabei ließe sich an die empirischen Befunde von Fränken/ Wosnitza zu Stolz im Schulalltag ansetzen. Beide AutorInnen sind überrascht, dass die Gegenstände, auf die jemand stolz ist, sehr breit streuen, und nicht in erster Linie auf die eigene Leistung bezogen werden. Sie vermuten, dies sei bedingt durch die noch nicht fertigen Selbstkonzepte. In dieser Hinsicht sind auch neue Unterrichtskonzepte – wie in Hessen – zu begrüßen, die das Thema „Glück“ zum Schulfach erheben möchten. Schüler und Schülerinnen müssen offensichtlich auch lernen, Glück zu erkennen und konkret auf sich und auch soziale Prozesse um sie herum zu beziehen.
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Fazit
1. Zunächst gilt es die Handlungsorientierung des Akteurs festzuhalten, der auf ein Lernen zielt. Fthenakis legt nahe, die Architektur des Schulsystems radikal umzubauen, indem man sie an die Lernfähigkeit von SchülerInnen ausrichtet. Das Lernen ist dabei hochgradig sozial ko-konstruiert, d. h. in verschiedenen Gruppen werden vor allem die (emotionalen) Bedeutungen und Bewertungen von Dingen gelernt; kognitives Wissen steht nicht im Vordergrund. 2. In welcher Teil-Handlung ist der Akteur besonders aktiv? (Vor-, Haupt-, Nachgeschichte) Von den Bedürfnissen nach sozial ko-konstruierten Lernprozessen ausgehend, hat die Schule gute Chancen, sich als aktive Umwelt zu profilieren, in der aktive Einzelne kollektive Erfahrungen und Bewertungen generieren. Stehen die Bedürfnisse der Kinder und Jugendlichen im Vordergrund und wird ihnen Raum für die Ko-Konstruktion ihres eigenen Lernens gegeben, dann ist dieses Lernen in einer Vor-, Haupt- und Nachgeschichte präsent und zusammenhängend. 3. Beiträge hinsichtlich Handlungs-, Verfahrens-, und Ergebnisrationalität: Richten sich Schulentwicklungsprozesse an der Ko-Konstruktion von SchülerInnen aus, und spielen SchülerInnen in Schulentwicklungsprozessen aktive Rollen, dann haben alle Akteure gute, praktische Bezugspunkte, um die drei Rationalitäten einzeln und in Zusammenhängen beobachten zu können. In der bisherigen Verfassung von Schulentwicklung spielen jedoch SchülerInnen so gut wie keine Rolle. Derzeit werden ihre Fähigkeiten kaum genutzt, Handlungsrationalität, Verfahrens- und Ergebnisrationalität zu beobachten. 4. Aktivität in der Region/Denken in Hierarchie: Bereits der Aspekt, dass Schulen und SchülerInnen Teil eines Sozialraums sind, gibt der Schulentwicklung vielfältige Anregungen, außerschulische und kulturelle sowie soziale Lernorte in den Unterricht einzubauen sowie die Organisationsfähigkeit der Schule regional auszurichten, um diese Lernorte zu erreichen. Eine Schule der Schüler wäre die Schule dann, wenn sie sich aus der (faktischen wie symbolischen) Umklammerung der Hierarchie löst und eigenen Fähigkeiten vertraut, zusammen mit dem Sozialraum vielfältige Lernanlässe für und mit SchülerInnen zu organisieren. 5. Beitrag des Akteurs zur Erhöhung einer kollektiven Handlungsfähigkeit der Schule: Die kollektive Handlungsfähigkeit der Schule lässt sich durch Umstellen auf das ko-konstruierte Lernen von SchülerInnen und das Denken an Hilfen in der Region erreichen und erhöhen. ◄
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Literatur Verwendete Literatur Altrichter, Herbert, und Martin Heinrich. 2006. Evaluation als Steuerungsinstrument im Rahmen eines „neuen Steuerungsmodells“ im Schulwesen. In Evaluation im Bildungswesen. Eine Einführung in Grundlagen und Praxisbeispiele, Hrsg. Wolfgang Böttcher, Heinz Günter Holtappels, und Michaela Brohm, 51–64. Weinheim, München: Juventa. Breidenstein, Georg. 2006. Teilnahme am Unterricht. Ethnographische Studien zum Schülerjob. Wiesbaden: VS Verlag. Brüsemeister, Thomas. 2004. Schulische Inklusion und neue Governance. Zur Sicht der Lehrkräfte. Münster: Monsenstein & Vannerdat. Brüsemeister, Thomas. 2008. Bildungssoziologie. Einführung in Perspektiven und Probleme. Wiesbaden: VS Verlag. Eubel, Klaus-Dieter. 2003. Schüler. In Zur Modernisierung der Schule. Leitideen – Konzepte – Akteure. Ein Überblick, Hrsg. Thomas Brüsemeister und Klaus-Dieter Eubel, 353–356. Bielefeld: Transcript. Fränken, Judith, und Marold Wosnitza. 2018. Stolz im Schulalltag. Worauf sind Schülerinnen und Schüler stolz? In Emotionen und Emotionsregulation in Schule und Hochschule, Hrsg. Gerda Hagenauer und Tina Hascher, 15–28. Münster, New York: Waxmann. Früchtel, Frank, Wolfgang, Budde, und Gudrun Cyprian. 2012. Sozialer Raum und soziale Arbeit. Fieldbook: Methoden und Techniken. Wiesbaden: VS Verlag. Fthenakis, Wassilios. 2016. Von Integration zur Inklusion und danach (wieder) zu Illusion? Hauptvortrag auf der 7. Regionalen Bildungskonferenz des Kreises Recklinghausen, Haltern am See, 5. Juli 2016. https://www.kreis-re.de/inhalte/bildung/bildungsberichterstattung/impulsreferat_7._biko_05.07.2016-_prof._fthenakis.pdf. Zugegriffen: 15 Juli 2020. Fuchs-Heinritz, Werner, und Heinz-Hermann Krüger, Hrsg. 1991. Feste Fahrpläne durch die Jugendphase? Jugendbiographien heute. Opladen: Leske + Budrich. Lüthi, Katharina. 2019. Grenzüberschreitende Professionalisierung. Analysekategorien der Educational Governance- und der Soziale-Welt-Perspektive. In Handbuch Educational Governance Theorien, Hrsg. Roman Langer und Thomas Brüsemeister, 467–488. Wiesbaden: Springer VS. Oelkers, Jürgen. 1989. Reformpädagogik. Eine kritische Dogmengeschichte. Weinheim, München: Juventa. Parsons, Talcott. 2012. Die Schulklasse als soziales System: Einige ihrer Funktionen in der amerikanischen Gesellschaft. Erstveröffentlichung in: Harvard Educational Review, Bd. 29, Nr.4, 1959, S. 297–318. Wiederveröffentlichung In Handbuch Bildungs- und Erziehungssoziologie, Hrsg. Ulrich Bauer, Uwe H. Bittlingmayer, und Albert Scherr, 103–124. Wiesbaden: VS Verlag. Schneider, Jens, Maurice Crul, und Frans Lelie. 2015. Generation Mix. Die superdiverse Jugend unserer Städte – Und was wir daraus machen. Münster, New York: Waxmann. Strauss, Anselm. 2010. Continual permutations of action. London: Routledge.
Literatur
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Wintersteiner, Werner, Heidi Grobbauer, Gertraud Diendorfer, und Susanne Reitmair-Juárez. 2014. Global citizenship education. Politische Bildung für die Weltgesellschaft. Wien: Österreichische UN-Kommission. https://www.unesco.at/fileadmin/ Redaktion/Publikationen/Publikations-Dokumente/2014_GCED_Politische_Bildung_ fuer_die_Weltgesellschaft.pdf. Zugegriffen: 15. Juli 2020. Ziehe, Thomas. 2003. Adieu 70er Jahre! Jugendliche und Schule in der zweiten Modernisierung. In Zur Modernisierung der Schule. Leitideen – Konzepte – Akteure. Ein Überblick, Hrsg. Thomas Brüsemeister und Klaus-Dieter Eubel, 356–366. Bielefeld: Transcript.
Weiterführende Literatur Ewert, Benjamin. 2019.: Multiple Identitäten von Schülerinnen und Schülern im Lern- und Lebensraum Schule. In Handbuch Educational Governance Theorien, Hrsg. Roman Langer und Thomas Brüsemeister, 399–416. Wiesbaden: Springer VS. Der Beitrag verweist auf multiple Identitäten von SchülerInnen und geht u.a. auf Anforderungen ein, diese bei Inklusion und Integration zu berücksichtigen.
Eltern
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Zusammenfassung
Dieses Kapitel widmet sich Eltern. Sie sind längerfristig auf die Biografie ihrer Kinder ausgerichtet. Eine Schule kann mit Eltern eine Unterstützung aushandeln, wenn beide Seiten einen benefit erkennen.
Exkurs: Handlungsorientierung Die Handlungsorientierung von Eltern zielt auf das Wohl des eigenen Kindes im Zuge einer Bildungsbiografie. Diese dauert lebenslang, d. h. setzt vor der Beschulung ein und geht zeitlich über sie hinaus. Man kann auch sagen, die Beobachtungen von Eltern sind unbefristet, die der Schule auf die Schulzeit begrenzt. Wie SchülerInnen haben auch Eltern in der funktional differenzierten Gesellschaft zahlreiche Bezüge zu den gesellschaftlichen Teilsystemen. Auch sie spielen zahlreiche Rollen als BürgerInnen, Familienangehörige, KonsumentInnen, MediennutzerInnen, usw. In gegenwärtigen Gesellschaften ist eine schulische Karriere notwendig, um den eigenen Status zu erhalten. Eine Platzierung in der Gesellschaft erreichen alle Gesellschaftsmitglieder nur über Bildungseinrichtungen. Die Schule vergibt entsprechende Zertifikate oder Eintrittskarten, mit denen die Individuen dann auf dem Arbeitsmarkt untereinander in Konkurrenz treten können. Die Bereitschaft sowie die ideellen und materiellen Fähigkeiten der Familien, in die Bildung ihrer Kinder zu investieren, ist extrem unterschiedlich, wie die Bildungsund soziale Ungleichheitsforschung seit Jahrzehnten weiß (vgl. Brüsemeister 2008, Abschn. 3.3). Schulen können diese Ungleichheiten nur bedingt bis teilweise nicht ausgleichen. Für diejenigen, die zu den Investitionen bereit sind, © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 T. Brüsemeister, Soziologie in pädagogischen Kontexten, https://doi.org/10.1007/978-3-658-04305-6_14
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wird die Schule sogar zu einem zusätzlichen Spielfeld, auf dem ein spezifisches Kapital – Bildungskapital – eingesammelt werden kann.
Wissensbaustein: Bildungskapital
Die öffentliche Schule verteilt Bildungskapital kostenlos (sieht man von Beiträgen von Eltern für Lehrmittel und Essen ab, die in den Schulen zu entrichten sind). Nach Bourdieu und Passeron (1971) wird damit durch die Schule eine „Illusion der Chancengleichheit“ organisiert. In Wirklichkeit werden die sozialen Ungleichheiten zwischen den Familien verstärkt. Die, die bereits vorher in ein kulturelles Kapital ihres Kindes investiert haben, das zur Schule passt, erhalten durch die Schule dieses vorher investierte Kapital bestätigt, und sogar zertifiziert, durch Zeugnisse. Diejenigen, die weniger investierten, erhalten dieses Weniger ebenfalls in schlechteren Noten ihrer Kinder zertifiziert. Der Schule wurde seit ihrer Gründung nicht gestattet, zeitlich vorausgehende Ungleichheiten zu beobachten. Stattdessen werden offiziell alle Kinder gleich behandelt, sobald sie das Schulgebäude betreten. Erst in jüngerer Zeit beginnen Schulen, gemeinsam mit Kindergärten den Übergang zwischen beiden Einrichtungen zu organisieren. Ungleichheiten der Kinder fallen so früher auf. Ähnlich wird zunehmend beim Übergang Schule/Beruf vorgegangen. Die am Übergang arbeitenden Pädagoginnen und Lehrkräfte und auch die Eltern entwickeln sich zunehmend zu GrenzgängerInnen gemäß Governance.
Eltern haben also eine längeranhaltende und auf die gesamte Biografie ihrer Kinder gerichtete Handlungsorientierung. Diese setzt zeitlich vor der Schule ein und geht auch darüber hinaus. Eine solche Fokussierung auf das eigene Kind lässt eine Differenz zur Schule entstehen. Dort steht das Wohl aller Kinder einer Klasse und der Schule im Vordergrund. Der Schule wird nach Parsons (1972) eine universalistische Perspektive zugesprochen. Sie beinhaltet affektive Neutralität und professionelle Einstellungen.
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Wissensbaustein: Differenzen zwischen Schule und Familie
1. In der Schule geht es um eine „gegenstands- und zielgerichtete, methodisch geplante Vermittlung von Wissen, Fertigkeiten und kulturellen Orientierungen“ (Hurrelmann 2004, S. 50). 2. Die Einflüsse der Familie sind dagegen permanent, unbeabsichtigt und unspezialisiert. Es überwiegen Intimität und Emotionalität. Allerdings lässt sich mit Fthenakis (vgl. Kap. 13) behaupten, dass der Schule ebenfalls zunehmend die Rolle mit übernimmt, Dinge emotional bedeutsam zu machen. Durch Digitalisierung steigt die Faktenschwemme an. Schule und Familie werden in strukturell ähnliche Rollen gedrängt, Dinge bedeutsam zu machen. Dabei gehen sie aber unterschiedlich vor, wie die oben genannten Punkte 1) und 2) deutlich machen.
Das Interesse der Eltern ist also auf das Wohl ihres einzelnen Kindes fokussiert. Dies führt jedoch überraschenderweise nicht dazu, dass alle in die Schule kommen und dort Interessen ihrer Kinder vertreten. Denn es lassen sich mindestens drei Gruppen von Eltern ausmachen: a) „Helikoptereltern“, die sich auch dort für ihr Kind einsetzen, wo dies vielleicht gar nicht notwendig ist; b) Eltern, die ihr Kind an der Tür des Schulhauses abgeben, weil sie denken, das Kind sei dort aufgehoben und es sei Sache der Schule, sich um schulische Belange zu kümmern; c) und Eltern, die nur bei bestimmten Anlässen in Erscheinung treten.
Beispiel: „Helikoptereltern“
Eine Kindergartenleitung berichtet, eine Mutter habe darauf bestanden, dass, wenn ihr Sohn in einem Raum mit mehreren Kindern ist, dann dort die Fenster geschlossen sein müssten, weil er sich sonst so schnell erkälte. Die Mutter überprüft dies durch Anrufe und durch Vorbeifahrten am Kindergarten. Der Hinweis, auch andere Kinder seien dort bei offenem Fenster und würden nicht krank, und bei größeren Gruppen müsse ab und an gelüftet werden, bringt nichts ein. Da sich kein Kompromiss finden lässt, muss letztlich das Kind immer aus der Gruppe genommen werden, wenn gelüftet wird. ◄
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Aus der Sicht der Schule hat sie es also mit sehr unterschiedlichen Eltern zu tun: Die, die sich überflüssigerweise sehr oft melden; und die, die sich nicht melden, mit denen aber eigentlich gesprochen werden müsste. Die Schule muss angesichts dessen eine eigene Rolle spielen, die sie ohnehin schon hat. Im Rahmen ihrer Schulentwicklung können die schulischen Akteure grundsätzlich entscheiden, wie reflektiert sie gegenüber Eltern auftreten. Einige Schulen schaffen es, gleichsam im Rahmen von Öffentlichkeitsarbeit bestimmte Verhaltensstandards zu etablieren.
Wissensbaustein: Re-Spezifikation
Oben in Abschn. 1.8 wurde der Begriff Re-Spezifikation schon einmal angeführt. Hier nun wegen der Wichtigkeit eine ausführlichere Erläuterung: Nach der Ansicht des Soziologen Niklas Luhmann spielt eine Organisation Schule als Vermittlungsebene zwischen der Makroebene des Schulsystems, den gesellschaftlichen Erwartungen sowie der Mikroebene der Schule, den Erwartungen bezogen auf die Unterrichtsinteraktion, eine entscheidende Rolle, indem sie diese beiden Erwartungen zueinander vermittelt, „re-spezifiziert“ (s. u.). Eine Organisation nimmt erstens Erwartungen der Gesellschaft auf und bearbeitet sie im Blick auf Unterricht; und sie nimmt zweitens Unterrichtsinteraktionen auf und vermittelt sie gegenüber der Gesellschaft. Im Einzelnen beinhaltet dies: a) Vermittlung gesellschaftlicher Erwartungen: Die Erwartungen der Gesellschaft, die an das Schulsystem gerichtet werden, bestehen grundsätzlich darin, Lebenschancen zu selektieren, insofern für Schüler der Grad der Teilhabe an gesellschaftlichen Kommunikationen bestimmt wird. Organisationen haben diesbezüglich eine gesellschaftliche Relevanz, indem sie die Last tragen, die gesellschaftliche Bedeutung von Schule zu verarbeiten. Dabei sind die gesellschaftlichen Erwartungen an Schule zu groß, um sie im Unterricht behandeln zu können. Organisationen nehmen diesbezüglich Respezifikationen vor (Luhmann 2002, S. 143 f.), indem sie Unterrichtsinteraktionen aufgreifen. Diese werden nicht vollständig nach außen kommuniziert, da sie fachspezifischen Kriterien folgen, d. h. anderen Rationalitätsstandards, als es sie in der gesellschaftlichen Umwelt gibt. Organisationen haben Möglichkeiten, mit Umwelten zu kommunizieren, was auch heißt, gesellschaftliche Erwartungen intern zu verarbeiten.
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Dies geschieht mithilfe von Programmen. Die Schulorganisation legt Ordnungsnotwendigkeiten fest, indem sie Schulgebäude bereitstellt, in denen Unterricht zeitlich, sachlich und in sozialer Hinsicht spezifiziert wird. In zeitlicher Hinsicht wird Unterricht im Rahmen des 45-min-Taktes mit einem relativ einheitlichen Anfang und Ende versehen; in sachlicher Hinsicht werden über Lehrpläne gesellschaftliche Themen eingeführt, z. B. das „Dritte Reich“, politische Parteien oder das Geldwesen; und in sozialer Hinsicht wird Inklusion organisiert, sofern im Rahmen der Notengebung Beteiligungen der Schülerschaft festgelegt werden, die – bei einem bestimmten Notenstand – Überweisungen zu anderen Schulstufen sowie generell die Teilhabe an gesellschaftlichen Kommunikationen ermöglichen. Programme von Organisationen kopieren damit gesellschaftliche Erwartungen in den Unterricht hinein und ermöglichen Schülern eine Kommunikation über diese Erwartungen. Gleichzeitig gilt, dass Programme die Autonomie des Schulsystems retten, indem sie fremde Relevanzen anerkennen. Es findet die Annahme und Zurückweisung gesellschaftlicher Erwartungen statt, insofern über die gesellschaftlichen Erwartungen in bestimmten Formen kommuniziert wird, nämlich die des Unterrichts. b) Vermittlung von Unterrichtserwartungen: Die zweite Vermittlungsleistung von Organisationen gibt es mit Blick auf Unterrichtsinteraktionen. Ausgangspunkt ist ihre Beschaffenheit. Es wird berücksichtigt, dass im Unterricht in die werdende Person eines Schülers interveniert werden soll, wobei anerkannt wird, dass die Adressaten nicht über Kausallogiken erreicht werden können (ebd., S. 77). Luhmann spricht hier negativ von einem Technologiedefizit (ebd., S. 157). Positiv gesehen kann eine Organisation jedoch die im Unterricht vorkommenden spontanen Kommunikationen, eine Situationsabhängigkeit der Adressierung sowie persönliche Erfahrungen auf der Seite von Leistungs- und Publikumsrollen berücksichtigen. Durch Programmsteuerungen werden solche Eigenarten von Unterrichtsinteraktionen bearbeitet; sie loten grundsätzlich die Rationalisierbarkeit von Unterricht aus. So wird z. B. eine Reflexionsbereitschaft bei den Adressaten geschaffen; Schüler werden mit einer Erwartung konfrontiert, die darauf zielt, dass es Unterrichtsleistungen geben soll, die über Noten spezifiziert werden. Gleichzeitig werden Spielräume im Unterricht anerkannt, d. h. die Kommunikation zwischen
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Lehrern und Schülern wird nicht im Rahmen von Mitgliedschaftsrollen übermäßig generalisiert. Historisch gesehen wird dies – für die Seite der Lehrkräfte gesehen – durch eine Orientierung an Profession erreicht. Sie ermöglicht, im Unterricht situationsadäquat auf Belange der Schüler individuell einzugehen.
Beispiel: Smileys als Re-Spezifikation
Z. B. haben einige Grundschulen in der Schweiz Bewertungsbögen mit Smileys entwickelt. Die Kinder können am Ende eines jeden Tages den Unterricht und Freiarbeitsphasen bewerten. Diese Bögen werden kopiert, eine Kopie erhalten die Eltern. Am Elternsprechtag können sich dann alle drei Seiten – Eltern, Kinder, Lehrkräfte – auf die gleichen Bögen stützen und haben die gleichen Anhaltspunkte, in welchen Wochen die Kinder etwas wie gut oder schlecht fanden. Dies mildert die oft gravierenden Differenzen bei Einschätzungen ab (die Eltern sagen typischerweise: „So etwas macht unser Jimmy nicht, das kann unmöglich sein“) (Kussau und Brüsemeister 2007, S. 234). Wir haben hier wieder ein Beispiel einer Re-Spezifikation, d. h. mit derartigen Beurteilungsbögen greift die Schule das Interesse der Eltern auf, Bescheid wissen zu wollen. Auch Eltern, die nicht Bescheid wissen wollten, werden mit den Beurteilungsbögen erreicht. Gleichzeitig wird der Beurteilungsbogen nach eigenen Regeln der Schule organisiert. ◄ In der Literatur wird oft darüber diskutiert, welche Verhältnisse nun genau zwischen Eltern und Schule herrschen (vgl. einen Überblick in Brüsemeister und Eubel 2003, S. 332–352). Die Vermutungen reichen von wechselseitigen Versuchen, die eigenen Interessen auszuspielen und sich einen Vorteil zu verschaffen, bis hin zu partnerschaftlichen Verhältnissen. Eine Macht der Eltern besteht darin, die Mitarbeit an bestimmte Voraussetzung zu binden, die dem eigenen Vorteil dienen. Man kann ebenfalls behaupten, dass die Ansprüche von Eltern beständig steigen.
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Wissensbaustein: Inklusionsansprüche
Jürgen Gerhards untersuchte mit seinem Aufsatz „Aufstand des Publikums“ (2001), wie die Ansprüche des Publikums an Inklusionsleistungen verschiedener Organisationen insbesondere seit den 70er Jahren steigen. Er entwickelt diese These entlang der Beobachtung mehrerer Teilsysteme: Medizin, Erziehung, Recht, Politik, Kunst und Wirtschaft. Empirisch zu Grunde legte sind „Westermanns Pädagogische Beiträge“, die 1986 in „Pädagogik“ umbenannt wurden. Ausgewählt wurden für den Zeitraum zwischen 1950 bis 1985 jeder fünfte Jahrgang; es wurden nur Artikel berücksichtigt, die sich mit Lehrer-Schüler-Verhältnissen beschäftigen (Gerhards 2001, S. 171, und Anm. 16). Im Detail werden folgende Veränderungen sichtbar, wenn in pädagogischen Fachzeitschriften über Schüler und Eltern gesprochen wird; dies verweist auf erhöhte Inklusionsansprüche des Publikums: 1. „Selektionsentscheidungen: Die Lehrer müssen zunehmend ihre Bewertungsmaßstäbe und Beurteilungen erläutern; über Versetzungen entscheidet nicht der Lehrer allein, sondern die Klassenkonferenz; dabei sind die Eltern vorher zu hören. Im Hinblick auf die Entscheidung über den Übergang von der Grundschule auf eine weiterführende Schule entscheiden heute die Eltern. 2. Inhaltliche Mitgestaltungsmöglichkeiten: Die Schüler können bei der Lehrplanung mitreden und Vorschläge einbringen; die Eltern dürfen Vorschläge bzgl. Lehrstoff, Bildung von Schwerpunkten, Anwendung bestimmter Unterrichtsformen machen. Die Bewertungsmaßstäbe müssen offen gelegt werden. Über die Erfahrung und die Ansprüche von Hausarbeiten muss Rechenschaft vor den Schülern und den Eltern abgelegt werden. 3. Vertretungsorgane der Schüler und Eltern: Die Möglichkeiten, Vertretungsorgane der Schüler und Eltern zu bilden, sind im Zeitverlauf gestiegen, die Einspruchsmöglichkeiten und Kompetenzen haben sich im Zeitverlauf erhöht.“ (Ebd., S. 172 f.) Ähnliche Entwicklungen von Inklusionsansprüchen will Gerhards auch für die anderen von ihm mithilfe von Sekundardaten untersuchten Teilsysteme feststellen. Damit meint er, Indizien für einen Kulturwandel im Sinne aufgewerteter Publikumsrollen gefunden zu haben. Das Publikum stellt immer höhere Ansprüche an Inklusion an die Organisationen der entsprechenden Teilsysteme.
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Wird vom Gesetzgeber eine freie Schulwahl erlaubt, dann stimmen Eltern „mit den Füßen“ darüber ab, d. h. informieren sich informell, wo die ‚besten’ Schulen sind. In der Folge segregiert sich die Schullandschaft, es konzentrieren sich sogenannte schlechte SchülerInnen in sogenannten schlechten Schulen. Oelkers berichtet (2015), wie Eltern in der Schweiz eingesehen haben, dass sie eine derartige segregierte Schullandschaft nicht wollen, in dem sie bei einer politischen Abstimmung gegen die freie Schulwahl stimmten. Hierbei hat die Mehrheit der Mittelschicht durchaus ihre kurzfristigen Interessen (die auf das eigene Kind gerichtet sind) zurück- und die langfristigen und breiteren Interessen eines demokratischen Gemeinwesens in den Vordergrund gestellt. Ohne eine solche Orientierung am Gemeinwohl kann Schule nicht funktionieren. Nicht am Gemeinwohl, sondern am Eigenwohl waren Eltern von Gymnasialschülern interessiert, als sie in Hamburg (im Jahr 2008; vgl. Spiegel Online 2008) auf die Straße gingen, um dagegen zu demonstrieren, dass andere Schulformen eine höhere Unterstützung erhalten sollten. Diese beiden Beispiele aus Hamburg und aus der Schweiz zeigen die ganze Spannbreite möglicher Elternhandlungen auf. Natürlich wird auch deutlich, dass es besser ist, Eltern durch Programme mitzunehmen, als sie gegen Programme demonstrieren zu lassen. Doch wie gelingt es, Eltern mitzunehmen? Beispiel: Gemeinsam konstruierter benefit
In ihrer Untersuchung zu Hochbegabungsverbünden in Niedersachsen stellte Bianca Preuß (2012) fest: Interessen der Eltern an der Förderung von Hochbegabung ihres eigenen Kindes ließen sich in das allgemeine Interesse der Schule transformieren. Zuerst engagierten sich Eltern nur für ihr einzelnes hochbegabtes Kind und verlangten, dass die Schule dies auch machen sollte. Durch Aushandlung konnte die Schule erreichen, dass die Eltern, die mittlerweile auf eigene Kosten zu ExpertInnen in Unterricht für hochbegabte Kinder wurden, auch Fortbildungen in der Schule durchführten. So konstruierten beide Seiten einen benefit: für die Eltern hochbegabter Kinder, die nun ihr Engagement in das allgemeine Wohl der Schule einbetteten; und die Schule, indem sie es ermöglichte, dass sich die speziellen Interesse dieser Eltern in einen allgemeineren Rahmen von Fortbildungsmaßnahmen für alle Akteure der einzelnen Schule darstellen konnten. ◄ Schulentwicklung zusammen mit Eltern ist grundsätzlich in der Lage, solche benefits herzustellen. Durch freiwillige Elternarbeit kann die schulische Arbeit bereichert werden.
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Zudem lagern sich zahlreiche weitere Akteure um die Schule herum an, sodass die einzelne Schule zu einem sozialen Austauschort für viele sein kann, wovon dann auch wieder Eltern profitieren. Insgesamt sind Eltern ein recht eigensinniger Akteur: Sie haben einen berechtigten anderen Blick, der auf das Wohl ihrer eigenen Kinder bezogen ist; sie verfügen mitunter über Bildungskapital, was in der Schule ausgespielt werden kann; sie sozialisieren ihre Kinder permanent, unbeabsichtigt, und unspezialisiert – und damit ganz anders als in der Schule; zu den Sprechtagen scheinen immer die falschen zu kommen; als Teil des Publikums erhöhen sie – so wie alle anderen Akteure – ihre Inklusionsansprüche an die Schule beständig; sie befördern eine segregierte Schullandschaft mit. Aber sie verzichten mitunter auch auf ihre Interessen, unterstützen das demokratische Gemeinwesen, und sind (mit anderen Akteuren) Teil einer kritischen Öffentlichkeit. So geschrieben wird es für die Schule nicht einfach, mit Eltern zu kooperieren. Aber das ließe sich für jeden Akteur so aufschreiben! Außerdem geht es bei einem benefit ja gerade darum, die Eigensinnigkeit anzuerkennen – und in einem neu konstruierten Rahmen für alle nutzbar zu machen. So hatte es Bianca Preuß ja auch in Schulen gefunden, in denen die Eltern hochbegabter Kinder Fortbildungen in der Schule anboten, die alle Mitglieder der Schule nutzen konnten. Fazit
Dem Fazit wird die Situation zugrunde gelegt, dass Schule und Eltern gemeinsam einen benefit konstruieren. 1. Was ist die Handlungsorientierung des Akteurs? Obwohl Eltern längerfristig an der gesamten Biografie ihrer Kinder ausgerichtet sind, lassen sie sich dennoch gut in die Schule und Schulentwicklung einbinden, wenn es gelingt, einen benefit gemeinsam zu konstruieren. 2. In welcher Teil-Handlung ist der Akteur besonders aktiv? (Vor-, Haupt-, Nachgeschichte). Es gibt keine Prozesse der Organisationsentwicklung, an der Eltern nicht beteiligt sein könnten. 3. jeweilige Beiträgen hinsichtlich Handlungs-, Verfahrens-, und Ergebnisrationalität: Insofern gibt es auch keine Grenze hinsichtlich ihrer Beobachtungsfähigkeiten verschiedener Rationalitäten. 4. Aktivität in der Region/Denken in Hierarchie: Eltern haben mit Hierarchie erst einmal nichts am Hut, d. h. wenn sie ihr nichts tut, tun sie ihr auch nichts. Potenziell liegen Konflikte jedoch auf der Hand, da Eltern erst einmal nur an das Wohl eigener Kinder denken (müssen). Durch Konstruktion von benefits (und sei es in Form eines Ehrenamts, in das Akteure
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investieren, ohne etwas dafür haben zu wollen) sind Eltern auf sehr vielfältige Weise bereit und in der Lage, sich in Schulen zu engagieren. 5. Beitrag des Akteurs zur Erhöhung einer kollektiven Handlungsfähigkeit der Schule: Eltern sind immer Teil des Schulsystems, durch ihre aktive Mitarbeit erhöht sich die kollektive Handlungsfähigkeit der Schule. ◄
Literatur Verwendete Literatur Brüsemeister, Thomas. 2008. Bildungssoziologie. Einführung in Perspektiven und Probleme. Wiesbaden: VS Verlag. Brüsemeister, Thomas, und Klaus-Dieter Eubel, Hrsg. 2003. Zur Modernisierung der Schule. Leitideen – Konzepte – Akteure. Ein Überblick. Bielefeld: Transcript. Bourdieu, Pierre, und Jean-Claude Passeron. 1971. Die Illusion der Chancengleichheit. Untersuchungen zur Soziologie des Bildungswesens am Beispiel Frankreichs. Stuttgart: Ernst Klett. Gerhards, Jürgen. 2001. Der Aufstand des Publikums. Eine systemtheoretische Interpretation des Kulturwandels in Deutschland. Zeitschrift für Soziologie 3:163–184. Hurrelmann, Bettina. 2004. Sozialisation der Lesekompetenz. In Struktur, Entwicklung und Förderung von Lesekompetenz. Vertiefende Analysen im Rahmen von PISA 2000, Hrsg. Ulrich Schiefele, u. a., 37–60. Wiesbaden: VS Verlag. Kussau, Jürgen, und Thomas Brüsemeister. 2007. Governance, Schule und Politik. Zwischen Antagonismus und Kooperation. Wiesbaden: VS Verlag. Luhmann, Niklas. 2002. Das Erziehungssystem der Gesellschaft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Oelkers, Jürgen. 2015. Bildung in kommunalen Netzwerken: Management und Ideen. Vortrag im Wissenschaftspark Gelsenkirchen, 28.10.2015. http://www.ife.uzh.ch/dam/ jcr:00000000-4a53-efcf-ffff-fffff52c4278/Gelsenkirchen.pdf. Zugegriffen: 15. Juli 2020. Parsons, Talcott. 1972. Das System moderner Gesellschaften. Weinheim, Basel: Beltz. Preuß, Bianca. 2012. Hochbegabung, Begabung und Inklusion: Schulische Entwicklung im Mehrebenensystem. Wiesbaden: VS Verlag. Spiegel Online. 2008. Schwarz-grünes Hamburg: Wie rebellische Eltern das Gymnasium retten wollen. http://www.spiegel.de/schulspiegel/wissen/schwarz-gruenes-hamburg-wierebellische-eltern-das-gymnasium-retten-wollen-a-579314.html. Zugegriffen: 15. Juli 2020.
Weiterführende Literatur Preuß, Bianca. 2012. Hochbegabung, Begabung und Inklusion: Schulische Entwicklung im Mehrebenensystem. Wiesbaden: VS Verlag. In diesem Buch wird die Rolle von Eltern an verschiedenen Stellen im Mehrebenensystem Schule, d. h. auch mithilfe von Begriffen der Educational Governance-Forschung, anschaulich vorgestellt und untersucht.
Resümee: Gesamtcharakter des Governance-Regimes
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Zusammenfassung
Am Ende wird nun gefragt, wie der Gesamtcharakter des G overnance-Regimes der Schule, wie stark zusammenhängend oder fragmentiert das Schulsystem ist. Wie ist der Zusammenhalt der Ebenen und Akteure hinsichtlich des Zieles der Entwicklung der Einzelschule? Sind die Akteure orchestriert, oder gibt es ein loose coupling, d. h. gibt es nur lockere Beziehungen?
Exkurs: Loose Coupling nach Weick Karl E. Weick, Professor für Psychologie und „organizational behavior“ an der Cornell Universität (New York), verfasste den Aufsatz: „Educational Organizations as Loosely Coupled Systems“ (in: Administrative Science Quarterly 21, Number 1, 1976. pp. 1–19). Weick verweist zunächst auf den Grundcharakter von losen Kopplungen, in dem er pädagogische Organisation als eine Art offenes Spiel (also spieltheoretisch) kennzeichnet. Jeder könne nach Belieben Bälle aufs Spielfeld werfen und sagen: das ist mein Tor (Weick 1976, S. 1). Diese Spielmetapher will Weick dann auf pädagogisches Personal beziehen: Der Prinzipal ist der Schiedsrichter, der Lehrer der Coach, Lernende sind die Spieler. Es geht hier offensichtlich um ein offenes Spiel. Diesbezüglich seien klassische Kennzeichnungen von Organisationen nicht hinfällig; jedoch würden sie empirisch wenig vorkommen: Pläne, eine bewusste Auswahl von Mitteln, eine Übereinkunft mit Zielen, Kosten-Nutzen-Analysen, Arbeitsteilung, Arenen der Autorität und der Diskretion, Arbeitsplatzbeschreibungen, eine fortlaufende Evaluation (ebd.).
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 T. Brüsemeister, Soziologie in pädagogischen Kontexten, https://doi.org/10.1007/978-3-658-04305-6_15
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15 Resümee: Gesamtcharakter des Governance-Regimes
Das Modell für die Schule sei weniger die Fabrik, als die Agrikultur. Eigene Entwicklungen macht die Pflanze auch, wenn der Farmer schläft, d. h. einige Outputs sind konstant, was immer auch passiert (a. a. O., S. 2). Weick betont damit schwächer rationalisierte und gekoppelte Elemente in der Schule. Ein Beispiel: Wenn die Schulleitung nicht viele Elemente mit der Welt der Lehrkräfte teilt, dann liegt eine lose Kopplung vor (a. a. O., S. 3). Weitere Beispiele für lose Kopplungen sind: • • • •
das Gestern dominiert nicht das Heute, hierarchische Positionen, die Beziehung zwischen Schuladministratoren und Lehrern, Mittel und Zwecke (a. a. O., S. 4); es gibt alternative Wege, einen Zweck zu erreichen.
Weick warnt insgesamt davor, Organisationen „überzurationalisieren“. Er meint, Akteure tendieren dazu, ihren Aktivitäten eine größere Bedeutung zu geben, als sie ist. Jedoch unterbleibe bereits durch eine einzige Aktivität in einer Organisation eine andere Aktivität; man sei nicht an zwei Orten gleichzeitig; die Elemente sind dann weniger gekoppelt. (A. a. O., S. 10) Das Problem für den Forscher ist, dass er zunächst nicht sehen kann, ob ein Output auf einen fest oder auf einen lose gekoppelten Sektor zurückgeht (ebd.). Es ist zu vermuten, dass feste Kopplungen in einem Bereich auf lose Kopplungen in einem anderen basieren – und umgekehrt. Rekonstruiert werden müssen entsprechend „patterns of couplings“ (ebd.). Hierbei seien in Erziehungsorganisationen zwar grundsätzlich die Inputs zertifiziert. Da sich jedoch Arbeitsprozesse kaum überprüfen lassen, gelte: „the work is intrinsically uninspected and unevaluated or if it is evaluated it is done so infrequently“ (a. a. O., S. 11). Damit sind Verbindungen zwischen einer Kontrolle der Zertifizierung und der Inspektion nur lose. Oder anders gesagt: Zertifizierung (Inputs) sind viel leichter zu beschreiben als Inspektionen von Arbeitsprozessen (Outputs) (a. a. O., S. 12). Aus diesem Grund greifen Rituale der Zertifizierung leichter. Um die Zusammenarbeit der Akteure hinsichtlich des Ziels Schulentwicklung in einem Governance-Regime zu bestimmen, müsste die Bildungsforschung die verschiedenen Beiträge der Akteure exakt empirisch gewichten. Nur wenige Governance-Regime sind in Ansätzen so untersucht worden (als Ausnahme vgl. Bormann u. a. 2016, zum Thema Bildung für nachhaltige Entwicklung). Deshalb bewegt sich das Nachfolgende auf der Ebene von Gedankenexperimenten für eine künftige empirische Überprüfung.
15 Resümee: Gesamtcharakter des Governance-Regimes
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Exkurs: Governance-Regime Immerhin wissen wir, dass mit einem Governance-Regime • nicht die formalen Gesetze gemeint sind, die in einem System erlassen werden und es regulieren. • Stattdessen interessieren die vielfachen Aushandlungen zwischen den Akteuren in einem Mehrebenensystem der Schule. Hierbei werden hybride Systeme vermutet, in denen verschiedene Elemente kombiniert sind, wie z. B. Hierarchie und Netzwerke. Quack formuliert diesbezüglich: die politisch-administrativen Akteure „verknüpfen […] Elemente ausländischer Modelle auf neuartige Weise mit eigenen institutionellen Regeln, mit dem Resultat einer Hybridisierung“. Das Ergebnis könnte eine „institutionelle Rekombination“ sein (vgl. allgemein Quack 2005, S. 349). Ein Beispiel ist die Schulinspektion. In anderen Ländern wird sie teilweise von einem eigenen, unabhängigen Berufsstand getragen. Hingegen wurde in Deutschland auf die Unabhängigkeit von der bisherigen Schulaufsicht geachtet. Mit ihr sollte die neue Inspektion auf keinen Fall vermischt werden. Dadurch wurde jedoch das alte politische Problem, was man mit der Schulaufsicht machen soll, auf unbestimmte Zeit verschoben. Man kann hier von einem Reformstau sprechen. Zudem wurde die Inspektion innerhalb der Administration verankert und nicht als unabhängiger Beruf. • Jürgen Kussau (2007, S. 287 ff.) schreibt jedem Akteur die Fähigkeit des Nacherfindens zu. Grundgedanke ist, dass für die Umsetzung von Programmen oft wichtige Teile nicht mit angegeben sind bzw. fehlen, sodass die Akteure nicht umhin können, sie „dazu zuerfinden“. Wenn dies gilt, sind streng genommen auch Begriffe wie „Implementation“ mit Vorsicht zu genießen, da es nur selten etwas Fertiges zu implementieren gibt. Am Ende sind lose Kopplungen zwischen verschiedenen Elementen im Schulsystem vielleicht der Normalzustand. Freilich unterscheiden sich die Grade loser Kopplungen. Während man vermuten kann, dass eine gewisse lose Kopplung hilfreich für den Freiheitsgrad von Akteuren ist, Dinge mittels Nacherfindungen zum Leben zu erwecken, könnten große lose Kopplungen dysfunktional sein. Ein Beispiel ist die Schulaufsicht, die an der Diffusität von Zielen leidet (was nicht ihre Schuld ist).
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15 Resümee: Gesamtcharakter des Governance-Regimes
Exkurs: Elf Freunde müsst ihr sein… Der Gesamtcharakter eines Governance-Regimes wird annähernd erkennbar, wenn man die verschiedenen Leistungen der Akteure hinsichtlich des Ziels Schulentwicklung noch einmal Revue passieren lässt.1 Hierbei lässt sich auch sehen, wo ‚Hausaufgaben‘ gemacht werden können: • Die Schulaufsicht benötigt politische Ziele (um die drückt sich die Politik in Deutschland für den Akteur herum). • Es sollten verbindlich Steuergruppen eingeführt werden. Eine Idee für eine Verbesserung besteht darin, würde die Schulaufsicht Schulen dahin gehend beraten und unterstützen, dass und wie man Steuergruppen einrichtet. • Schulleitungen sollten nicht überhöht werden. Eventuell sind Stellen für Administration in Schulen einzuführen, damit sich Schulleitungen mehr auf Schulentwicklung konzentrieren können. • Die Schüler als Ko-Konstrukteure müssen ernster genommen werden und anerkannt werden (der wichtigste Punkt, da so die Pyramide auf die Spitze gestellt wird). • Die Wirkungen der Schulinspektion sind unklar. (Ausnahmen sind Standorte wie z. B. Hamburg, die die Rollen der Inspektion sehr genau mit den Rollen der übrigen Akteure verzahnen und abstimmen.) • Der Zentrale sollte man aggregierte Daten lassen (Bähr 2006) und sie sollte diese Begrenzung kommunizieren, damit nicht falsche Erwartungen mit Schülerleistungstests verbunden werden. Diese Daten bieten keine auf Schulentwicklung bezogenen Möglichkeiten. • Die kommunale Vernetzung in Bildungslandschaften hilft Schulen, sich als vielfältige Lernzentren zu begreifen. • Zu Lehrkräften sei wiederholt: Man stellt ihnen neue Akteure wie die Inspektion bei, die mit wissenschaftsbasierten Daten den Unterricht der Schule summativ rückmelden; dabei sind Lehrkräfte nicht in der Handhabung von Datensätzen ausgebildet, jedoch wundert man sich dann, dass die Inspektion wenig Wirkung zeigt. Im eigentlichen Hoheitsgebiet der Arbeitsorganisation traut sich die Politik nicht, einzugreifen. Die Prinzipal-Agenten-Konstellation zwischen Politik und Lehrkräften ist blockiert und auch die Inspektion ändert daran nichts. So haben
1Die
kritische Öffentlichkeit lasse ich der Einfachheit halber außen vor, wenngleich sie einen wichtigen Hintergrund bildet.
15 Resümee: Gesamtcharakter des Governance-Regimes
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die Lehrkräfte von der Hierarchie keine positiven Impulse für Schulentwicklung zu erwarten. Auf sich gestellt – wie die Schulleitungen – wird ebenfalls nicht systematisch beobachtet, ob und wenn ja wie Lehrkräfte sich Hilfen von lokalen Akteuren holen oder mit ihnen zusammenarbeiten. Wenn man die Akteure durchgeht, ließe sich angenähert an die Sprache im Fußball sagen: „11 Freunde müsst ihr sein“. Hierbei fällt Nummer 4, die Aufsicht, bereits Mangels Zieldiffusität aus; Steuergruppen gibt es nur unregelmäßig; dabei werden Schulleitungen mit Erwartungen überhäuft und Steuergruppen wären eine Hilfe für sie. Die Inspektion hat kaum Wirkungen. Lehrkräfte, Schüler und Eltern werden nicht systematisch auf Schulentwicklung ausgerichtet bzw. haben selbst kaum Möglichkeiten dazu. Vielleicht ist auch ein einheitliches Bild wie „11 Freunde“ falsch, weil in funktionaler (Aus-)Differenzierung das Schulsystem verschiedene Rollen aufweist – und es natürlich auch keine Freundschaftsbeziehungen gibt. Dennoch, wenn es positive Anerkennungs- und Lernkulturen für SchülerInnen geben soll (die es ja auch in Ansätzen bereits gibt, was jedoch intensiviert werden kann), dann ist das Bild von Freundschaftsbeziehungen auch nicht falsch, und gute Beziehungen kann man schlecht allein den Lehrkräften und SchülerInnen überantworten und die übrigen Akteure bleiben indifferent. Umgekehrt erscheint es stimmiger, den Kreis derjenigen, die in Richtung Schulentwicklung an einem Strang ziehen, möglichst früh und breit zu erweitern, damit Unterrichts- und Schulentwicklung im Innen und Außen der Schule breit unterstützt wird. Dies ist jetzt nicht der Fall und zu viele Akteure sind mit dieser Aufgabe allein gelassen bzw. nicht systematisch aufeinander bezogen. Gegenwärtig scheinen die Vernetzungsbemühungen aktuell besonders intensiv auf der Ebene von Kommunen. Geht man die Akteure in der Tab. 15.1 (siehe unten) von oben nach unten durch, dann wird das Denken in Hierarchie zunehmend eingeklammert und das Denken in Region und an die dortigen möglichen UnterstützerInnen für die einzelne Schule nimmt zu. Weiter fällt auf, dass die drei intermediären Akteure Schulaufsicht, Schulinspektion und Schulträger nicht abgestimmt sind. Wesentlicher Blockierer ist hier die Politik, die keine Neubestimmung der Schulaufsicht versucht. Man kann sagen: Man leistet sich drei Akteure, die einzeln oder zusammen zwischen Hierarchie und Region vermitteln könnten – was ein ziemlicher Luxus ist –, aber diese Aufgabe wird nicht angegangen. Insgesamt gäbe es viel mehr Möglichkeiten für viel mehr Akteure, Schulentwicklungsprozesse zu begleiten. Dies einzelnen Akteuren wie der Schulleitung zu überantworten stellt eine Überforderung und Verantwortungsüberfrachtung dar, die eigentlich unverantwortlich ist, an die wir uns aber offensichtlich gewöhnt haben.
156
15 Resümee: Gesamtcharakter des Governance-Regimes
Auch Eltern werden bei weitem nicht immer in Schulentwicklungsprozesse eingebogen; sie scheinen eher am Rand zu stehen. Entsprechend werden sie kaum an der Beobachtung von Handlungsrationalitäten, Verfahrens- und Ergebnisrationalitäten beteiligt. Deshalb wurde in der nachfolgenden Tab. (15.1) auch bei den Rationalitäten nichts angekreuzt. In der Tabelle sind jeweils die Schwerpunkte notiert, die für die Akteure bei den jeweiligen Rationalitäten erörtert wurden. Insgesamt fällt auf, dass nicht alle Akteure an der Beobachtung der Rationalitäten beteiligt sind. Damit wird für Schulentwicklung keine maximale Unterstützung erreicht. Tab. 15.1 Schwerpunkte der Akteure bei Rationalitäten Kapitel
Akteur
Handlungsrationalität
Verfahrensrationalität
Ergebnisrationalität
2
Ebene Zentrale: Bildungspolitik
X
3
Bildungsmonitoring
X
X
4
Bildungsverwaltung
X
4.1
Intermediäre Ebene: Schulaufsicht
X
5
Schulinspektion
X
X
6
Schulträger
X
X
X
7
Kommunales Bildungsmanagement der Kreis- oder Kommunalverwaltung
X
X
X
X
X
X
8
Kritische Öffentlichkeit
9
Zwischenfazit
10
Ebene der einzelnen Schule: Schulleitungen
11
Steuergruppen
X
X
X
X
X
X
12
Lehrkräfte
13
SchülerInnen
14
Ebene der Zivilgesellschaft: Eltern
X
Literatur
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Literatur Verwendete Literatur Kussau, Jürgen. 2007. Schulische Veränderung als Prozess des Nacherfindens. In Governance, Schule und Politik. Zwischen Antagonismus und Kooperation, Hrsg. Jürgen Kussau und Thomas Brüsemeister, 287–303. Wiesbaden: VS Verlag. Quack, Sigrid. 2005. Zum Werden und Vergehen von Institutionen. Vorschläge für eine dynamische Governanceanalyse. In Governance-Forschung. Vergewisserung über Stand und Entwicklungslinien, Hrsg. Gunnar Folke Schuppert, 346–370. Baden-Baden: Nomos. Weick, Karl E. 1976. Educational organizations as loosely coupled systems. Administrative Science Quarterly 21 (1): 1–19.
Weiterführende Literatur Bormann, Inka, Steffen Hamborg, und Martin Heinrich. Hrsg. 2016. Governance-Regime des Transfers von Bildung für nachhaltige Entwicklung – Qualitative Rekonstruktionen. Wiesbaden: Springer VS. Beispiel für eine umfangreiche Analyse eines Governance-Regimes (hier Bildung für nachhaltige Entwicklung), mithilfe mehrerer qualitativer Forschungsmethoden.