Sozialpolitik und soziale Lage in Deutschland: Ein Handbuch [6. Aufl.] 9783658062484, 9783658062491

Das Standardwerk bietet einen breiten empirischen Überblick über die Arbeits- und Lebensverhältnisse in Deutschland und

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German Pages LV, 1191 [1238] Year 2020

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Sozialpolitik und soziale Lage (Gerhard Bäcker, Gerhard Naegele, Reinhard Bispinck)....Pages 1-54
Ökonomische Grundlagen und Finanzierung (Gerhard Bäcker, Gerhard Naegele, Reinhard Bispinck)....Pages 55-164
Einkommen (Gerhard Bäcker, Gerhard Naegele, Reinhard Bispinck)....Pages 165-313
Arbeitsbeziehungen (Gerhard Bäcker, Gerhard Naegele, Reinhard Bispinck)....Pages 315-382
Arbeit und Arbeitsmarkt (Gerhard Bäcker, Gerhard Naegele, Reinhard Bispinck)....Pages 383-512
Qualifikation (Gerhard Bäcker, Gerhard Naegele, Reinhard Bispinck)....Pages 513-582
Arbeit und Gesundheit (Gerhard Bäcker, Gerhard Naegele, Reinhard Bispinck)....Pages 583-633
Gesundheit und Gesundheitssystem (Gerhard Bäcker, Gerhard Naegele, Reinhard Bispinck)....Pages 635-761
Pflegebedürftigkeit und Pflege (Gerhard Bäcker, Gerhard Naegele, Reinhard Bispinck)....Pages 763-835
Familie und Kinder (Gerhard Bäcker, Gerhard Naegele, Reinhard Bispinck)....Pages 837-922
Alter (Gerhard Bäcker, Gerhard Naegele, Reinhard Bispinck)....Pages 923-1085
Soziale Dienste (Gerhard Bäcker, Gerhard Naegele, Reinhard Bispinck)....Pages 1087-1191
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Sozialpolitik und soziale Lage in Deutschland: Ein Handbuch [6. Aufl.]
 9783658062484, 9783658062491

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Gerhard Bäcker Gerhard Naegele Reinhard Bispinck

Sozialpolitik und soziale Lage in Deutschland Ein Handbuch 6. Auflage

Sozialpolitik und soziale Lage in Deutschland

Gerhard Bäcker · Gerhard Naegele · Reinhard Bispinck

Sozialpolitik und soziale Lage in Deutschland Ein Handbuch 6., vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage

Gerhard Bäcker Universität Duisburg-Essen Institut Arbeit und Qualifikation (IAQ) Duisburg, Deutschland

Gerhard Naegele TU Dortmund Institut für Gerontologie Dortmund, Deutschland

Reinhard Bispinck Hans-Böckler-Stiftung Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliches Institut Düsseldorf, Deutschland

ISBN 978-3-658-06248-4 ISBN 978-3-658-06249-1  (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-06249-1 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detail­ lierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 1980, 1989, 2000, 2008, 2010, 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Springer VS ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany

Vorwort

Im Jahr 1980 erschien die erste Auflage dieses Handbuches unter dem Titel „Sozialpolitik – Eine problemorientierte Einführung“. Damals hätte keiner von uns daran gedacht und geglaubt, dass wir 40 Jahre später die sechste Auflage vorlegen würden. In diesen vier Jahrzehnten sind wir zu engagierten Beobachtern der Sozialpolitik geworden – jeder auf seinen Schwerpunktthemen, aber immer das Ganze im Blick. Gerade die Unterschiede in den Themenfeldern, mit denen sich jeder Einzelne von uns in den vergangenen beiden Jahrzehnten beschäftigt hat, waren eine wesentliche Voraussetzung für die vollständige inhaltliche Überarbeitung, Erweiterung und Aktualisierung des Handbuchs. Dass uns dieser Kraftakt gelungen ist, freut uns sehr. Der Blick auf die sozialpolitische Entwicklung in dieser Zeit zeigt ruhige, aber eben auch turbulente Phasen mit heftigen Auseinandersetzungen. Wir konnten in vielen Bereichen Fortschritte verzeichnen, mussten aber auch Rückschritte und Kürzungen registrieren. Besonders einschneidend waren die Jahre seit der Jahrtausendwende, die von neoliberalem Denken geprägt waren. Der Staat allgemein, aber insbesondere der Sozialstaat mit seinen vermeintlich „überbordenden Sozialausgaben“, standen unter Beschuss. Zwar konnten viele Angriffe abgewehrt worden, aber es vollzog sich damals in zentralen Bereichen ein Paradigmenwechsel (Beispiel „Hartz IV“ und „Riester-Rente“), der bis heute fortwirkt. Doch nach wie vor besteht in der Bevölkerung eine breite Zustimmung zum Sozialstaat, insbesondere zur sozialen Sicherung durch die Arbeitslosen-, Kranken-, Pflege- und Rentenversicherung als Säulen der solidarischen Sozialversicherung. Verlässliche soziale Sicherheit in allen Wechselfällen des Lebens, das zeigt sich gerade heute, ist eine wesentliche Voraussetzung für gesellschaftliche Stabilität und eine funktionierende Demokratie. Nach wie vor gilt: Wirtschaftlicher Fortschritt und ein ausgebauter Sozialstaat stehen nicht gegeneinander, sondern ergänzen und bedingen sich. In manchen Einzelfragen hat sich unsere inhaltliche Einschätzung gegenüber den früheren Auflagen (weiter) verändert. Das liegt auch daran, dass Sozialpolitik und Sozialstaat keine statischen Gebilde sind. Der gesellschaftliche, ökonomische und demografische Wandel führte und führt zu tiefgreifenden Veränderungen. Insbesondere die strukturellen Veränderungen in der globalisierten Wirtschaft, am Arbeitsmarkt V

VI

Vorwort

und in den Lebensformen der Menschen haben die Arbeits- und Lebensbedingungen insgesamt in einer Weise verändert, dass Anpassungen im sozialpolitischen Leistungsspektrum immer wieder notwendig wurden und auch künftig erforderlich sind. Nicht zuletzt nach der tiefgreifenden Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/2009 hat der Sozialstaat wieder an allgemeiner Wertschätzung gewonnen. Seitdem lässt sich ein sozialer Fortschritt in kleineren und größeren Schritten beobachten. Allerdings ist trotz der vielfältigen Schutz- und Verteilungsmaßnahmen der Sozialpolitik nicht zu übersehen, dass die gesellschaftliche Ungleichheit deutlich zugenommen hat. Die Kluft in der Einkommens- und Vermögensverteilung hat sich vergrößert. Obgleich sich die Wirtschaft gut entwickelt und die Arbeitslosigkeit deutlich abgenommen hat, ist der Anteil der Menschen, die von Armutsrisiken betroffen sind, gestiegen. Soziale Spaltungen bestehen in Deutschland nicht nur (wenn auch abnehmend) zwischen Ost und West, sie zeigen sich auch zwischen Süd und Nordwest. Wirtschaftlich und sozial abgehängte Regionen, Städte und Stadtteile stellen zunehmend sozialpolitische Herausforderungen dar. Eine nachträgliche, ausgleichende Sozialpolitik gerät an ihre Grenzen, wenn es nicht gelingt, die ökonomischen Ursachen der ungleichen Verteilung von Einkommens- und Lebenslagen zu bekämpfen. Zum vorliegenden Handbuch: Was 1980 noch in einen Band mit sechs Kapitel auf rund 400 Seiten passte, ist mittlerweile auf zwölf Kapitel mit über 1 200 Seiten angewachsen. Wir haben den Umfang von Auflage zu Auflage erweitert, und zwar aus mehreren Gründen: Zum einen sind die vorliegende Empirie und der jeweilige Forschungsstand zur sozialen Lebenswelt, zu den sozialen Risiken und ihren Bestimmungsfaktoren sowie zur Wirkungsweise sozialpolitische Regulierungen und Leistungen heute weitaus umfassender, ja nahezu unüberschaubar, als zu Anfang unserer wissenschaftlichen Laufbahn. Zum andern sollte erkennbar werden, dass Sozialpolitik und Sozialstaat deutlich mehr sind, als nur Sozialversicherung und Grundsicherung. Das betrifft insbesondere die Bereiche „Qualifikation“, „Pflege“ und „Arbeitsbeziehungen“, die in dieser Auflage erstmals in eigenständigen Kapiteln abgehandelt werden. Wir haben uns zudem bemüht, stärker als in früheren Auflagen europäische Aspekte der Sozialpolitik zu berücksichtigen und die deutsche Sozialpolitik im Kontext internationaler Vergleiche zu analysieren. Was ist geblieben und was hat sich geändert ? Zunächst: Das grundlegende Konstruktionsprinzip, die Darstellung an den sozialen Problemen und Risiken der Bevölkerung zu orientieren und von dort aus zur Sozialpolitik mit ihrem vielfältigen Geflecht von Maßnahmen, Leistungen und Institutionen fortzuschreiten, haben wir – selbstverständlich – beibehalten. Leitlinie für die Beurteilung von sozialen Risiken und die Auswirkungen der Sozialpolitik bleibt für uns die materielle und immaterielle Lebenslage der Menschen. Auch die Berücksichtigung der nichtstaatlichen sozialpolitischen Aktivitäten ist aus unserer Sicht für das Verständnis der Sozialpolitik und ihrer Entwicklung nach wie vor unverzichtbar. Das gilt insbesondere für die Regelungen, wie sie zwischen Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden in Form von

Vorwort

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Tarifverträgen vereinbart werden. Eine gleichermaßen große Bedeutung kommt im Bereich der sozialen Dienstleistungen den Wohlfahrtsverbänden, der Familien- und Selbsthilfe sowie dem Ehrenamt zu. Wir haben versucht, die einzelnen Handlungs- und Regelungsfelder im Zusammenhang zu sehen, wechselseitige Abhängigkeiten deutlich zu machen und so das Verständnis für das komplexe Politikfeld der Sozialpolitik zu fördern. Dies erscheint uns umso dringlicher, als es große Defizite in der aktuellen sozialpolitikrelevanten Wissenschaft gibt: So weist die Forschung eine hohe Spezialisierung auf einzelne thematische Aspekte und Fragestellungen auf. Im Vordergrund steht die tiefe empirische Durchdringung von Einzelmaßnahmen und Teilsystemen. Aber es fehlt an Gesamtanalysen, sowohl für die Sozialpolitik in Deutschland selbst, als auch zu ihrer Einbettung in die Politik der Europäischen Union. Die von uns gewählte problemorientierte Herangehensweise hat zum Ziel, Einblick in und das Verständnis für die Vielfalt und Komplexität sozialpolitischer Maßnahmen und Einrichtungen und für das Dickicht sozialrechtlicher Gesetze und Vorschriften zu gewinnen und sie einzubetten in die jeweiligen lebensweltlichen Kontexte. Die Darstellung beginnt deshalb nicht – wie vielfach üblich – unmittelbar mit der Darstellung des sozialpolitischen Leistungssystems selbst, indem etwa die verschiedenen Institutionen, die Prinzipien und die Ausgestaltung der Leistungsgewährung im Vordergrund stehen. Ausgangspunkt sind vielmehr die vielfältigen und sich verändernden sozialen Risiken und die daraus erwachsenden sozialen Probleme, von denen die Menschen betroffen sein können und die erst den Anlass für sozialpolitische Aktivitäten geben. Das Handbuch greift nach zwei einführenden Kapiteln zu Grundlagen des Sozialstaats und seiner Finanzierung folgende sozialpolitische Risiko-, Problem- und Handlungsfelder in jeweils in sich geschlossenen Kapiteln auf: • • • • • • • • • •

Einkommen (Kap. III) Arbeitsbeziehungen (Kap. IV) Arbeit und Arbeitsmarkt (Kap. V) Qualifikation (Kap. VI) Arbeit und Gesundheit (Kap. VII) Gesundheit und Gesundheitssystem (Kap. VIII) Pflegebedürftigkeit und Pflege (Kap. IX) Familie und Kinder (Kap. X) Alter (Kap. XI) Soziale Dienste (Kap. XII)

Dieser Aufbau hat folgende Vorteile: •

Die Leser:innen erhalten zunächst einen Überblick über die jeweilige soziale Risiko- und Problemlage anhand einer detaillierten Beschreibung und Analyse

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Vorwort

der einzelnen sozialen Risiken und Probleme und ihre gesellschaftliche Bedingtheit. Sie können sich damit vorab ein Urteil darüber bilden, welches Ausmaß und welche innere Struktur die zur Diskussion stehenden sozialpolitischen Anknüpfungspunkte aufweisen. • Anschließend werden die verschiedenen, auf die Bearbeitung und Bewältigung dieser sozialen Risiken und Probleme gerichteten sozialpolitischen Strategien und Einzelmaßnahmen behandelt und bewertet. Auf dieser Basis lässt sich beurteilen, ob und in welchem Maße die Maßnahmen der Sozialpolitik der zugrunde liegenden Problematik gerecht werden. • Die Analyse der Leistungsfähigkeit aber auch der Defizite des Systems der sozialen Sicherung leitet schließlich über zur Diskussion über Reformbedarfe und Reformoptionen in den einzelnen Bereichen. Wenn unser Handbuch dazu beiträgt, ein kritisch-konstruktives Verhältnis zum deutschen Sozialstaat zu entwickeln und Verständnis für die Option einer reformorientierten Weiterentwicklung zu wecken, dann erfüllt es im Rahmen der aktuellen sozialpolitischen Diskussionen auch eine wichtige politische Funktion, die uns auch bei allen früheren Auflagen wichtig war. Über Anregungen und kritische Kommentare zu dem Handbuch freuen wir uns. Das Manuskript wurde Ende 2019 abgeschlossen und berücksichtigt – soweit möglich und verfügbar – den zu diesem Zeitpunkt gegebenen Daten-, Sach- und Forschungsstand. Doch kaum ein anderer Politikbereich unterliegt so starken Veränderungen wie die Sozialpolitik. Seit rund 20 Jahren liefert das Internetportal „Sozialpolitik aktuell“ unter www.sozialpolitik-aktuell.de ein umfangreiches Informationsangebot zur Sozialpolitik. Hier werden auch die im Handbuch enthaltenen Abbildungen und Tabellen laufend aktualisiert. Das Portal bietet auch Zugriff auf zahlreiche aktuelle Dokumente, Gutachten, Berichte zum gesamten Themenfeld der Sozialpolitik. Es wird seit vielen Jahren dankenswerter Weise durch die Hans-Böckler-Stiftung gefördert. Zu der vorliegenden 6. Auflage wäre es ohne die zahlreichen Rückmeldungen der Leser:innen nicht gekommen. Immer wieder sind wir gefragt und aufgefordert worden, eine überarbeitete und aktualisierte Fassung vorzulegen. Dafür bedanken wir uns herzlich und hoffen, dass wir die Erwartungen erfüllen können. Ein besonderer Dank gilt Dr. Jennifer Neubauer, die unsere Koautorin bei der 5. Auflage war. Einige Teile dieses Handbuchs gehen auf ihre damalige Mitarbeit zurück. Wir widmen dieses Handbuch unserem Kollegen Klaus Hofemann, der im Oktober 2013 viel zu früh verstorben ist. Klaus Hofemann war – als treibende Kraft – von Anfang an bis zur 5. Auflage dabei. Wir haben gemeinsam mit Klaus Hofemann bei unserem akademischen Lehrer Professor Otto Blume am Sozialpolitischen Seminar der Universität zu Köln studiert, gelernt und gearbeitet. Über viele Jahre hinweg waren wir danach in unterschiedlichen Funktionen tätig, sind aber immer in Freundschaft

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verbunden geblieben. Dieses Handbuch ist dabei stets unser gemeinsames Projekt und Herzensanliegen gewesen. Ein Nachtrag: Corona-Krise und Sozialpolitik Die weltweite Corona-Pandemie hat die ökonomische, gesellschaftliche und soziale Lage auch in Deutschland grundlegend geändert. Die daraus folgende tiefe wirtschaftliche Rezession hat weitreichende und kaum absehbare Folgen nicht zuletzt für den Arbeitsmarkt und die soziale Sicherung. In diesem Handbuch, das redaktionell Ende 2019 abgeschlossen wurde, konnten die Konsequenzen dieser Entwicklung nicht behandelt werden. Unter www.sozialpolitik-aktuell.de werden zentrale Daten zu allen Feldern der sozialen Lage und der Sozialpolitik fortlaufend aktualisiert und die gesetzlichen Neuregelungen im Rahmen der Sozialschutzpakete (Kurzarbeit/Kurzarbeitergeld, Grundsicherung, Kinderzuschlag, Elterngeld, Krankenhausfinanzierung usw.) dokumentiert. Gerhard Bäcker Reinhard Bispinck Gerhard Naegele

Inhaltsüberblick

Kapitel I: Sozialpolitik und soziale Lage . . . . . . . . . . . 1 Sozialpolitik und Sozialstaat als Antwort auf soziale Probleme 2 Gestaltung von Lebenslagen . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Interventionsformen und Wirkungen . . . . . . . . . . . 4 Interessen, Macht, Institutionen . . . . . . . . . . . . . . 5 Der normative Hintergrund . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Wohlfahrtsstaaten im internationalen Vergleich . . . . . . 7 Sozialpolitik in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . 8 Sozialpolitik der Europäischen Union . . . . . . . . . . . 9 Sozialstaat und soziale Gesellschaft . . . . . . . . . . . . 10 Sozialstaat zwischen Abbau, Umbau und Reform . . . . . 11 Reformperspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 Literaturhinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1 1 3 5 8 10 14 17 32 34 38 44 51

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Kapitel II: Ökonomische Grundlagen und Finanzierung . . . 1 Sozialpolitik in der Marktwirtschaft . . . . . . . . . . . . . 2 Finanzielle Dimensionen: Das Sozialbudget . . . . . . . . . 3 Finanzierung der sozialen Sicherung . . . . . . . . . . . . . 4 Finanzierungsprobleme des Sozialstaats . . . . . . . . . . . 5 Bevölkerungsentwicklung und Finanzierung des Sozialstaates 6 Wechselwirkungen zwischen Sozialpolitik und ökonomischem System . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Finanzierungsalternativen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 Literaturhinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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55 55 64 76 115 124

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Kapitel III: Einkommen . . . . . . . . . . 1 Einkommensrisiken und Sozialpolitik . 2 Einkommensverteilung . . . . . . . . 3 Steuern und Einkommensverteilung . .

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165 165 175 205

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XI

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Inhaltsüberblick

Existenzsicherung ohne Erwerbseinkommen Sozialversicherung . . . . . . . . . . . . . Grundsicherung . . . . . . . . . . . . . . Armut in der Wohlstandsgesellschaft . . . Reichtum: Spitzeneinkommen und Vermögen Reformoptionen . . . . . . . . . . . . . . Literaturhinweise . . . . . . . . . . . . .

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212 224 246 281 299 302 311

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315 315 317 330 347 364 369 374 379

Kapitel V: Arbeit und Arbeitsmarkt . . . . . . . . . . . . . . 1 Arbeit, Arbeitsmarkt, Arbeitsmarktpolitik . . . . . . . . . . 2 Strukturen und Entwicklungstrends der Erwerbsarbeit . . . . 3 Arbeitsverhältnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Arbeitsmärkte: Dynamik, Segmentierung und Trends . . . . 5 Arbeitslosigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Soziale Sicherung bei Arbeitslosigkeit: Arbeitslosenversicherung und Grundsicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Folgen von Arbeitslosigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 Arbeitsmarktpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Herausforderungen und Reformbedarfe . . . . . . . . . . . 10 Literaturhinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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383 383 388 401 418 432

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454 472 476 503 509

Kapitel VI: Qualifikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Lebenslagen als Ergebnis von Qualifikation und Bildung . . 2 Das Bildungssystem im Überblick . . . . . . . . . . . . . 3 Qualifikation und Erwerbstätigkeit . . . . . . . . . . . . . 4 Bildung und soziale Herkunft . . . . . . . . . . . . . . . 5 Berufliche Bildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Betriebliche Berufsausbildung im dualen System . . . . . 7 Angebote für benachteiligte Jugendliche im Übergangssektor

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513 513 515 524 529 531 540 551

Kapitel IV: Arbeitsbeziehungen . . . . . . . . . . 1 Kapital, Arbeit und Staat . . . . . . . . . . . . . 2 Das deutsche Modell der Arbeitsbeziehungen . . 3 Tarifvertragssystem . . . . . . . . . . . . . . . 4 Regelungsbereiche und -inhalte von Tarifverträgen 5 Verbetrieblichung der Tarifpolitik . . . . . . . . 6 Betriebsräte und betriebliche Interessenvertretung 7 Arbeitsbeziehungen im Umbruch . . . . . . . . 8 Literaturhinweise . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhaltsüberblick

8 9 10 11 12

Soziale Sicherung während der Ausbildung Qualifikation und Erwerbsverläufe . . . . . Berufliche Weiterbildung . . . . . . . . . . Herausforderungen und Reformperspektiven Literaturhinweise . . . . . . . . . . . . .

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555 562 570 576 580

Kapitel VII: Arbeit und Gesundheit . . . . . . . . . . . . . . 1 Gesundheitsgefährdungen in der Arbeitswelt . . . . . . . . 2 Arbeitsschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall . . . . . . . . . . . . . 4 Gesetzliche Unfallversicherung . . . . . . . . . . . . . . . 5 Rehabilitation, Gesundheitsförderung und Wiedereingliederung Erkrankter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Arbeitsbedingungen und Gesundheit im Strukturwandel: Herausforderungen und Reformbedarfe . . . . . . . . . . . 7 Literaturhinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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583 583 602 615 620

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623

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627 630

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Kapitel VIII: Gesundheit und Gesundheitssystem . . . . . . . 1 Gesundheit und Krankheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Gesundheitszustand der Bevölkerung . . . . . . . . . . . . 3 Anforderungen und Handlungsfelder der Gesundheitspolitik 4 Das Gesundheitssystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Krankenversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Ambulante ärztliche Versorgung . . . . . . . . . . . . . . . 7 Arzneimittelversorgung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 Stationäre Versorgung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Versorgung psychisch Kranker . . . . . . . . . . . . . . . . 10 Rehabilitation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Gesundheitssysteme in Europa . . . . . . . . . . . . . . . 12 Finanzierungsprobleme der gesetzlichen Krankenversicherung 13 Reformbedarfe und Reformalternativen . . . . . . . . . . . 14 Literaturhinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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635 635 637 649 656 671 699 712 718 729 735 740 743 752 758

Kapitel IX: Pflegebedürftigkeit und Pflege . . . . . . . . 1 Pflegebedürftigkeit – Abgrenzungen und Dimensionen . 2 Art und Orte der pflegerischen Versorgung . . . . . . . 3 Vereinbarkeit von Erwerbstätigkeit und Pflege . . . . . . 4 Alternative und innovative Wohn- und Versorgungsformen 5 Absicherung des Pflegerisikos durch die Pflegeversicherung

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763 763 771 777 781 784

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XIV

6 7 8 9 10 11 12

Inhaltsüberblick

Leistungen der Pflegeversicherung . . . . . . . . . . . . . . Angebotsstrukturen und Personalausstattung . . . . . . . . . Steuerung, Beratung, Vernetzung und Qualitätssicherung . . . Finanzierung und Finanzentwicklung der Pflegeversicherung . Stellung der Pflegeversicherung im System der sozialen Sicherung Herausforderungen und Reformbedarfe . . . . . . . . . . . . Literaturhinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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789 802 807 815 820 824 833

Kapitel X: Familie und Kinder . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Familien und Familienpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Wandel der familiären Lebensformen und der Geschlechterrollen 3 Lebensformen und Familienstrukturen im Überblick . . . . . . 4 Geburtenziffern und Kinderlosigkeit . . . . . . . . . . . . . . 5 Einkommens- und Lebenslagen von Familien . . . . . . . . . 6 Geldleistungen der Familienpolitik und Familienleistungsausgleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Vereinbarkeit von Beruf und Familie . . . . . . . . . . . . . . 8 Kinderbetreuung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Familiengerechte Gestaltung der Arbeitswelt . . . . . . . . . 10 Kinder- und Jugendhilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Reformbedarfe und Reformoptionen . . . . . . . . . . . . . 12 Literaturhinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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837 837 842 847 858 865

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879 894 899 906 912 916 920

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923 923 926

Kapitel XI: Alter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Lebenslagen und soziale Ungleichheiten im Alter . . . . 2 Folgewirkungen des demografischen und sozialen Wandels 3 Das Altern der Gesellschaft als (sozial)politischer Gestaltungsauftrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Alterserwerbstätigkeit und Altersübergänge . . . . . . . 5 Alterssicherung: Ziele, Gestaltungsformen und Systeme . 6 Rentenversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Regelsysteme neben der Rentenversicherung . . . . . . 8 Betriebliche und private Altersvorsorge . . . . . . . . . 9 Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung . . 10 Einkommensverteilung im Alter und Altersarmut . . . . 11 Alterssicherung im europäischen Vergleich . . . . . . . 12 Finanzierung der Alterssicherung und demografische Belastungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 Reformbedarfe und -optionen . . . . . . . . . . . . . . 14 Literaturhinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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939 942 952 967 1017 1025 1043 1050 1054

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Inhaltsüberblick

Kapitel XII: Soziale Dienste . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Hilfebedürftigkeit, soziale Probleme und soziale Dienste . . 2 Soziale Dienste: Grundlagen, Strukturen und Trends . . . . 3 Träger und Anbieter sozialer Dienste . . . . . . . . . . . . 4 Koordination, Wohlfahrtsmix und Sozialplanung als Aufgaben der kommunalen Sozialpolitik . . . . . . . . . . . . . . . 5 Finanzierung: Grundlagen, Strukturen und Verfahren . . . 6 Ökonomisierung des Sozialen . . . . . . . . . . . . . . . 7 Qualität und Qualitätssicherung . . . . . . . . . . . . . . 8 Nicht-professionelle Hilfe- und Unterstützungsleistungen . 9 Literaturhinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

Die Autoren . . . . . . . . . . . . Verzeichnis der Abbildungen . . . Verzeichnis der Tabellen . . . . . . Verzeichnis der Übersichten . . . .

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Kapitel I: Sozialpolitik und soziale Lage . . . . . . . . . . . 1 Sozialpolitik und Sozialstaat als Antwort auf soziale Probleme 2 Gestaltung von Lebenslagen . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Interventionsformen und Wirkungen . . . . . . . . . . . 4 Interessen, Macht, Institutionen . . . . . . . . . . . . . . 5 Der normative Hintergrund . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Freiheit, Gleichheit, Sicherheit . . . . . . . . . . . . 5.2 Leistungsgerechtigkeit und Bedarfsgerechtigkeit . . 5.3 Chancengerechtigkeit, Teilhabegerechtigkeit, Generationengerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . 6 Wohlfahrtsstaaten im internationalen Vergleich . . . . . . 7 Sozialpolitik in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1 Entstehungszusammenhang und Entwicklungslinien 7.2 Politikfelder und Strukturprinzipien . . . . . . . . . 7.3 Zuständigkeiten und Regelungskompetenzen . . . 7.4 Träger und Akteure . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 Sozialpolitik der Europäischen Union . . . . . . . . . . . 9 Sozialstaat und soziale Gesellschaft . . . . . . . . . . . . 9.1 Sozialstaat und Grundgesetz . . . . . . . . . . . . 9.2 Soziales Engagement in Familie und Gesellschaft . . 10 Sozialstaat zwischen Abbau, Umbau und Reform . . . . . 10.1 Neoliberale Grundsatzkritik . . . . . . . . . . . . . 10.2 Umbau des deutschen Sozialstaats . . . . . . . . . 10.3 Revisionen des Sozialabbaus . . . . . . . . . . . .

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. XXXVII . XXXIX . XLIX . LIII

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XVII

XVIII

Inhalt

11 Reformperspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.1 Soziale Sicherheit, ökonomische Effizienz und Zusammenhalt der Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.2 Weiterentwicklung der Sozialversicherung und Gestaltung des Arbeitsmarkts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.3 Vorsorge und sozialer Ausgleich . . . . . . . . . . . . . 11.4 Verlässliche Finanzierung und Stärkung der Akzeptanz . . 12 Literaturhinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Kapitel II: Ökonomische Grundlagen und Finanzierung . . 1 Sozialpolitik in der Marktwirtschaft . . . . . . . . . . . . 1.1 Sozialpolitische Interventionsebenen und -formen . 1.2 Interdependenzen zwischen Sozialpolitik und Marktprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Finanzielle Dimensionen: Das Sozialbudget . . . . . . . . 2.1 Institutionen und Funktionen des Systems der sozialen Sicherung . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Sozialleistungsquote . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Einflussfaktoren der Ausgabenentwicklung . . . . . 2.4 Sozialleistungen im europäischen Vergleich . . . . . 3 Finanzierung der sozialen Sicherung . . . . . . . . . . . . 3.1 Sozialpolitik als Einkommensumverteilung . . . . . 3.2 Finanzierungsverfahren: Umlagefinanzierung und Kapitaldeckung . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Finanzierung der Sozialleistungen über Beiträge und Steuern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4 Sozialversicherung und Beitragsfinanzierung . . . . 3.5 Steuerfinanzierte Sozialleistungen . . . . . . . . . 3.5.1 Sozialausgaben und öffentliche Haushalte . . . . . 3.5.2 Steuersystem und Steuerverteilung . . . . . . . . . 3.5.3 Finanzierung der Sozialleistungen im europäischen Vergleich . . . . . . . . . . . . . 3.6 Kommunale Sozialpolitik und ihre Finanzierung . . . 3.7 Belastung von Arbeitnehmer:innen und Unternehmen 3.7.1 Einkommensminderung durch Beiträge und Steuern 3.7.2 Belastung der Unternehmen durch Lohnnebenkosten 3.8 Kosten und Belastungen einer privaten Absicherung 4 Finanzierungsprobleme des Sozialstaats . . . . . . . . . . 4.1 Konjunktur- und Arbeitsmarktabhängigkeit der Sozialversicherungssysteme . . . . . . . . . .

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Inhalt

XIX

4.2

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7

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Konjunktur- und Arbeitsmarktabhängigkeit der Steuerfinanzierung . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Arbeitslosigkeit: Sinkende Einnahmen und wachsende Ausgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4 Finanzierungsprobleme der kommunalen Sozialpolitik . Bevölkerungsentwicklung und Finanzierung des Sozialstaates . 5.1 Bedingungen und Folgewirkungen des demografischen Umbruchs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Bevölkerungsvorausberechnungen und demografische Belastungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3 Bevölkerungsumbruch und wirtschaftliche Rahmenbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.1 Entwicklung von Erwerbsbeteiligung und Erwerbstätigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.2 Entwicklung von Sozialprodukt, Abgaben und verfügbarem Einkommen . . . . . . . . . . . . . . . . Wechselwirkungen zwischen Sozialpolitik und ökonomischem System . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1 Sozialstaat in der Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2 Sozialstaat und wirtschaftliche Dynamik . . . . . . . . 6.3 Sozialstaat, Arbeitskosten, Lohnnebenkosten und Arbeitsnachfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4 Soziale Sicherung und Arbeitsangebot . . . . . . . . . 6.5 Sozialstaat, internationaler Wettbewerb und Globalisierung Finanzierungsalternativen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1 Ausgabenentwicklung: Entscheidungen über Prioritäten 7.2 Stärkere Steuerfinanzierung der Sozialversicherung . . . 7.3 Bürgerversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.4 Arbeitgeberbeiträge: Abschaffung oder Umstellung auf einen Wertschöpfungsbeitrag . . . . . . . . . . . . 7.5 Finanzierung der Krankenversicherung durch Kopfpauschalen . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.6 Kapitaldeckungsverfahren statt Umlageverfahren . . . Literaturhinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Kapitel III: Einkommen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Einkommensrisiken und Sozialpolitik . . . . . . . . . . 1.1 Einkommen und Lebenslage . . . . . . . . . . . 1.2 Existenzsicherung durch Erwerbsarbeit und familiäre Unterstützung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Sozialpolitik als Einkommensverteilungspolitik . .

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XX

2 Einkommensverteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Grundfragen einer Verteilungsanalyse . . . . . . . 2.2 Gesamtwirtschaftliche Einkommensverteilung . . . 2.2.1 Bruttoinlandsprodukt und Volkseinkommen . . . . 2.2.2 Arbeits- und Kapitaleinkommen, Lohnquote . . . . 2.2.3 Durchschnittliche Brutto-, Netto- und Nettoreallöhne 2.3 Arbeitseinkommen . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.1 Lohndifferenzierung . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.2 Geschlechterhierarchie: Gender pay gap . . . . . . 2.3.3 Niedriglöhne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.4 Mindestlöhne und Mindestausbildungsvergütung . 2.3.5 Einkommensverläufe . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Einkommen aus selbstständiger Tätigkeit . . . . . . 2.5 Haushaltseinkommen . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5.1 Zusammentreffen von Erwerbseinkommen, Sozialeinkommen und Abgaben . . . . . . . . . . 2.5.2 Bedarfsgewichtete Pro-Kopf Einkommen: Nettoäquivalenzeinkommen . . . . . . . . . . . . 2.5.3 Verteilungswirkungen des Sozialstaats . . . . . . . 3 Steuern und Einkommensverteilung . . . . . . . . . . . . 3.1 Belastung durch direkte und indirekte Steuern . . . 3.2 Sozialpolitik durch Steuerpolitik . . . . . . . . . . . 4 Existenzsicherung ohne Erwerbseinkommen . . . . . . . 4.1 Private Vorsorge durch Vermögensbildung . . . . . 4.2 Private Vorsorge durch Privatversicherungen . . . . 4.3 Staatlich organisierte soziale Sicherung . . . . . . . 4.4 Ausformung der sozialen Sicherung im europäischen Vergleich . . . . . . . . . . . . . 5 Sozialversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Versicherungsschutz und Versicherungspflicht . . . 5.2 Leistungsvoraussetzungen . . . . . . . . . . . . . 5.3 Höhe, Bezugsdauer und Anpassung der Lohnersatzleistungen . . . . . . . . . . . . . . 5.4 Organisation und Selbstverwaltung . . . . . . . . . 5.5 Finanzierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.6 Solidarausgleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.7 Versicherungsfremde Leistungen und steuerfinanzierte Zuschüsse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.8 Leistungsfähigkeit und Leistungsgrenzen der Sozialversicherung . . . . . . . . . . . . . . .

Inhalt

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Inhalt

XXI

6 Grundsicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1 Grundsicherung als letztes soziales Netz . . . . . . . 6.1.1 Grundsicherungssysteme und Leistungsprinzipien . . 6.1.2 Leistungshöhe: Regelbedarfe und Kosten der Unterkunft 6.1.3 Bedürftigkeitsprüfung und Einkommensanrechnung . 6.1.4 Bemessung und Anpassung der Regelbedarfe . . . . 6.1.5 Dunkelziffer der Nicht-Inanspruchnahme . . . . . . . 6.2 Grundsicherung für Arbeitsuchende . . . . . . . . . 6.2.1 Anspruchsberechtigter Personenkreis und Leistungen 6.2.2 Leistungsempfänger:innen und Bedarfsgemeinschaften 6.2.3 Fordern und Fördern . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.4 Träger und Finanzierung . . . . . . . . . . . . . . . 6.3 Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung . 6.4 Sozialhilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.5 Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz . 6.6 Familienleistungsausgleich, Wohngeld . . . . . . . . 7 Armut in der Wohlstandsgesellschaft . . . . . . . . . . . . 7.1 Was ist Armut ? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2 Relative Einkommensarmut . . . . . . . . . . . . . . 7.3 Armutsrisikoquoten . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3.1 Bundesdurchschnitt und regionale Abweichungen . . 7.3.2 Armutsrisiken einzelner Personengruppen . . . . . . 7.4 Grundsicherung und Einkommensarmut . . . . . . . 7.5 Armutslagen in zeitlicher Dimension . . . . . . . . . 7.6 Armut in Europa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 Reichtum: Spitzeneinkommen und Vermögen . . . . . . . . 9 Reformoptionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.1 Bedingungsloses Grundeinkommen . . . . . . . . . 9.2 Bürgerversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 Literaturhinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Kapitel IV: Arbeitsbeziehungen . . . . . . . . . . . . 1 Kapital, Arbeit und Staat . . . . . . . . . . . . . . . 2 Das deutsche Modell der Arbeitsbeziehungen . . . . 2.1 Akteure und Verbände . . . . . . . . . . . . 2.1.1 Arbeitgeber- und Unternehmensverbände . . 2.1.2 Gewerkschaften . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Betriebliche Mitbestimmung . . . . . . . . . 2.3 Unternehmensbezogene Mitbestimmung . . 2.4 Tarifautonomie und Tarifpolitik . . . . . . . . 2.5 Sozialversicherung, Berufsbildung und Kammern

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315 315 317 317 317 318 321 324 326 328

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XXII

Inhalt

3 Tarifvertragssystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.1 Rechtliche Bestimmungen, Struktur und Geltungsbereich 3.1.2 Arten von Tarifverträgen . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Ökonomische und soziale Funktionen von Tarifverträgen 3.3 Tarifvertragslandschaft und Tarifbindung . . . . . . . 3.4 Allgemeinverbindlicherklärung und Arbeitnehmerentsendegesetz . . . . . . . . . . . . 3.5 Ablauf einer Tarifrunde . . . . . . . . . . . . . . . . 3.6 Streiks und Arbeitskämpfe . . . . . . . . . . . . . . 3.7 Europäische Tarifpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Regelungsbereiche und -inhalte von Tarifverträgen . . . . . 4.1 Lohnniveau und -struktur . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Tarifliche Niedriglöhne und Mindestlöhne . . . . . . 4.3 Arbeitszeit und Arbeitszeitgestaltung . . . . . . . . . 4.4 Sozial- und arbeitsmarktpolitische Regulierung durch Tarifvertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.1 Verhältnis von Sozial- und Tarifpolitik . . . . . . . . . 4.4.2 Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall . . . . . . . . . 4.4.3 Beschäftigungssicherung und soziale Absicherung bei Unterbeschäftigung . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.4 Berufliche Aus- und Weiterbildung . . . . . . . . . . 4.4.5 Altersteilzeit, Lebensarbeitszeit . . . . . . . . . . . . 4.4.6 Altersvorsorge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Verbetrieblichung der Tarifpolitik . . . . . . . . . . . . . . 6 Betriebsräte und betriebliche Interessenvertretung . . . . . 6.1 Häufigkeit und Verteilung von Betriebsräten . . . . . 6.2 Inhalte der Betriebsratsarbeit . . . . . . . . . . . . . 6.3 Betriebsvereinbarungen . . . . . . . . . . . . . . . 7 Arbeitsbeziehungen im Umbruch . . . . . . . . . . . . . . 7.1 Globalisierung, deutsche Einigung, Erosion . . . . . . 7.2 Restabilisierung des Tarifsystems als Herausforderung 8 Literaturhinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Kapitel V: Arbeit und Arbeitsmarkt . . . . . . . . . . . . . . 1 Arbeit, Arbeitsmarkt, Arbeitsmarktpolitik . . . . . . . . . . 1.1 Erwerbsarbeit und Lebenslagen . . . . . . . . . . . . 1.2 Der Arbeitsmarkt – ein besonderer Markt . . . . . . . 1.3 Regulierung des Arbeitsmarktes und Arbeitsmarktpolitik

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Inhalt

2 Strukturen und Entwicklungstrends der Erwerbsarbeit . 2.1 Erwerbsbeteiligung, sozialversicherungspflichtige Beschäftigung und Arbeitsvolumen . . . . . . . 2.2 Strukturen der Erwerbstätigkeit . . . . . . . . . 2.2.1 Wirtschaftsbereiche . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2 Frauenerwerbstätigkeit . . . . . . . . . . . . . 2.2.3 Erwerbstätigkeit und Lebensalter . . . . . . . . 2.2.4 Erwerbstätigkeit von Ausländer:innen . . . . . . 3 Arbeitsverhältnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Normalarbeitsverhältnis . . . . . . . . . . . . 3.2 Teilzeitarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Minijobs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4 Befristete Beschäftigung . . . . . . . . . . . . 3.5 Leiharbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.6 Werkvertragsbeschäftigung . . . . . . . . . . . 3.7 Selbstständigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Arbeitsmärkte: Dynamik, Segmentierung und Trends . 4.1 Arbeitsmärkte in Bewegung . . . . . . . . . . . 4.1.1 Auf- und Abbau von Arbeitsstellen und Beschäftigungsverhältnissen . . . . . . . . . . 4.1.2 Beschäftigungskontinuität und Erwerbsverläufe 4.2 Teilarbeitsmärkte . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Entwicklung von Angebot und Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt . . . . . . . . . . . . . . 4.3.1 Arbeitskräfteangebot . . . . . . . . . . . . . . 4.3.2 Arbeitskräftenachfrage . . . . . . . . . . . . . 4.3.3 Wirtschaftswachstum, Arbeitskräftenachfrage und Wirtschaftspolitik . . . . . . . . . . . . . . 4.3.4 Arbeitszeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Arbeitslosigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Definition und Entwicklung der Arbeitslosigkeit 5.2 Kurzarbeit und stille Reserve . . . . . . . . . . 5.3 Dynamik der Arbeitslosigkeit . . . . . . . . . . 5.3.1 Wege in die Arbeitslosigkeit: Zugangsrisiko . . . 5.3.2 Dauer der Arbeitslosigkeit: Verbleibsrisiko und Langzeitarbeitslosigkeit . . . . . . . . . . 5.3.3 Wege aus der Arbeitslosigkeit: Abgangschancen 5.4 Strukturierung der Arbeitslosigkeit . . . . . . . 5.4.1 Regionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.2 Demografische Merkmale: Personengruppen . . 5.5 Fachkräftemangel trotz Arbeitslosigkeit ? . . . . 5.6 Arbeitslosigkeit im europäischen Vergleich . . .

XXIII

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XXIV

6 Soziale Sicherung bei Arbeitslosigkeit: Arbeitslosenversicherung und Grundsicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1 Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2 Arbeitslosenversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.1 Besonderheiten und Funktionen einer Arbeitslosenversicherung . . . . . . . . . . . . . . 6.2.2 Arbeitslosengeld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.3 Zumutbarkeit und Sperrzeiten . . . . . . . . . . . . . . 6.2.4 Organisation und Finanzierung der Arbeitslosenversicherung und der Leistungen nach dem SGB III . . . . . . . . . . . 6.3 Grundsicherung für Arbeitsuchende . . . . . . . . . . . 6.4 Erwerbstätigkeit und Leistungsbezug: Aufstocker . . . . . 6.5 Bedeutungsverlust der Arbeitslosenversicherung, Dominanz der Grundsicherung . . . . . . . . . . . . . . 7 Folgen von Arbeitslosigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1 Einkommenslage der Arbeitslosen und fiskalische Kosten . 7.2 Soziale und gesundheitliche Folgen . . . . . . . . . . . . 8 Arbeitsmarktpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.1 Zielsetzungen und Politikfeld . . . . . . . . . . . . . . . 8.2 Entwicklung der Arbeitsförderung und Wandel ihrer Grundannahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.3 Instrumente der aktiven Arbeitsmarktpolitik . . . . . . . 8.3.1 Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.3.2 Beratung und Vermittlung . . . . . . . . . . . . . . . . 8.3.3 Aktivierung und berufliche Eingliederung . . . . . . . . . 8.3.4 Förderung der beruflichen Aus- und Weiterbildung . . . . 8.3.5 Aufnahme einer Erwerbstätigkeit . . . . . . . . . . . . . 8.3.6 Verbleib in Beschäftigung . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.3.7 Arbeitsgelegenheiten und Förderung der Teilhabe am Arbeitsmarkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.4 Wirkungen der arbeitsmarktpolitischen Instrumente . . . 8.5 Teilnehmerzahlen der Arbeitsförderung . . . . . . . . . . 8.6 Arbeitsmarktprogramme von EU, Bundesregierung und Bundesländern, Aktivitäten der Kommunen . . . . . 8.7 Beschäftigungsinitiativen . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Herausforderungen und Reformbedarfe . . . . . . . . . . . . . 9.1 Gesamtwirtschaftliche Rahmenbedingungen und der Erfolg der „Hartz-Gesetze“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.2 Arbeitsförderung und Arbeitslosenunterstützung . . . . . 9.3 Ordnung des Arbeitsmarkts und Zeitoptionen für die Beschäftigten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 Literaturhinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Inhalt

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Inhalt

Kapitel VI: Qualifikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Lebenslagen als Ergebnis von Qualifikation und Bildung . . . . 2 Das Bildungssystem im Überblick . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Bildungsbereiche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Bildungsbeteiligung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Qualifikation und Erwerbstätigkeit . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Schulabschlüsse nach Altersgruppen . . . . . . . . . . 3.2 Berufsabschlüsse nach Altersgruppen . . . . . . . . . . 3.3 Qualifikationsniveau und segmentierte Arbeitsmärkte . 4 Bildung und soziale Herkunft . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Berufliche Bildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Charakteristik und Funktionen des Berufsbildungssystems . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Sektoren des beruflichen Ausbildungssystems . . . . . 5.3 Das Schulberufssystem . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4 Hochschulen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Betriebliche Berufsausbildung im dualen System . . . . . . . 6.1 Charakteristika des dualen Systems . . . . . . . . . . . 6.2 Ausbildungsbeteiligung der Betriebe . . . . . . . . . . 6.3 Zahl der Auszubildenden . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4 Qualität der Ausbildung und Abbruchquoten . . . . . . 6.5 Angebot und Nachfrage auf dem Ausbildungsstellenmarkt . . . . . . . . . . . . 7 Angebote für benachteiligte Jugendliche im Übergangssektor . 8 Soziale Sicherung während der Ausbildung . . . . . . . . . . 8.1 Finanzierung des Lebensunterhalts als sozialpolitische Aufgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.2 Ausbildungsvergütung . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.3 Ausbildungsförderung . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.4 Berufsausbildungsbeihilfe . . . . . . . . . . . . . . . . 8.5 Armutsrisiken bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen 9 Qualifikation und Erwerbsverläufe . . . . . . . . . . . . . . . 9.1 Übergänge in Beschäftigung . . . . . . . . . . . . . . 9.2 Anerkennung ausländischer Abschlüsse und Fachkräfteeinwanderung . . . . . . . . . . . . . . 9.3 Qualifikationsrisiken im Erwerbsverlauf . . . . . . . . . 9.4 Qualifikationsschutz im Sozialrecht . . . . . . . . . . . 10 Berufliche Weiterbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.1 Die Weiterbildungslandschaft . . . . . . . . . . . . . . 10.2 Geförderte Weiterbildung nach SGB III und SGB II . . . . 10.3 Förderung einer beruflichen Aufstiegsfortbildung . . .

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XXVI

11 Herausforderungen und Reformperspektiven . . . 11.1 Abbau der sozialen Selektion . . . . . . . . 11.2 Stärkung der beruflichen Bildung . . . . . . 11.3 Gesamtkonzept der beruflichen Weiterbildung 12 Literaturhinweise . . . . . . . . . . . . . . . . .

Inhalt

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Kapitel VII: Arbeit und Gesundheit . . . . . . . . . . . . . . . 1 Gesundheitsgefährdungen in der Arbeitswelt . . . . . . . . . 1.1 Bestimmungsgrößen der Gesundheitsgefährdung . . . 1.1.1 Dauer, Lage und Verteilung der Arbeitszeit . . . . . . . 1.1.2 Belastungen aus der Arbeitsumgebung und aus dem Arbeitsvollzug . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Art und Ausmaß der Gesundheitsgefährdungen . . . . 1.2.1 Arbeitsunfähigkeit und arbeitsbedingte Erkrankungen . 1.2.2 Belastungskumulation und Berufskrankheiten . . . . . 1.2.3 Arbeitsunfälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.4 Erwerbsminderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Arbeitsschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Rechtliche Struktur des Arbeitsschutzsystems . . . . . . 2.1.1 Staatliches Arbeitsschutzrecht und Unfallverhütungsrecht 2.1.2 Aufbau und Entstehung von Arbeitsschutzvorschriften . 2.2 Inhalt und Struktur von Arbeitsschutzvorschriften . . . 2.2.1 Arbeitsschutzgesetz – Rahmenvorschriften . . . . . . . 2.2.2 Arbeitszeitgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.3 Schutz einzelner Personengruppen . . . . . . . . . . . 2.2.4 Gefahrstoffverordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.5 Arbeitsstättenverordnung . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.6 Betrieblicher Arbeitsschutz: Arbeitssicherheitsgesetz . . 2.3 Durchsetzung und Kontrolle von Arbeitsschutzvorschriften 2.3.1 Aufsichtsdienste im Arbeitsschutz: Staatliche Gewerbeaufsicht und technische Aufsicht der Berufsgenossenschaften . . . . . . . . . . . . . . 2.3.2 Betrieblicher Arbeitsschutz und Interessenvertretung . . 3 Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Ausgangslage und gesetzliche Grundlagen . . . . . . . 3.2 Erhöhter Krankenstand als Folge der Entgeltfortzahlung ? 4 Gesetzliche Unfallversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Aufgaben und Leistungen . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Organisation und Finanzierung . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

5 Rehabilitation, Gesundheitsförderung und Wiedereingliederung Erkrankter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Rehabilitation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Betriebliches Eingliederungsmanagement . . . . . . 5.3 Betriebliches Gesundheitsmanagement und Gesundheitsförderung . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Arbeitsbedingungen und Gesundheit im Strukturwandel: Herausforderungen und Reformbedarfe . . . . . . . . . . . 6.1 Arbeitsschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2 Alterns- und altersgerechte Arbeitsbedingungen . . . 6.3 Neue Beschäftigungsformen und Schutz selbstständiger Tätigkeiten . . . . . . . . . . . . . . 6.4 Digitalisierung und flexible Arbeitsformen und -zeiten 7 Literaturhinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Kapitel VIII: Gesundheit und Gesundheitssystem . . . . . . . . . . 1 Gesundheit und Krankheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Gesundheitszustand der Bevölkerung . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Datengrundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Dominanz chronischer und psychischer Erkrankungen . . . 2.3 Behinderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Gesundheit und soziale Ungleichheit . . . . . . . . . . . . 2.5 Verursachungszusammenhänge zwischen Gesundheitsrisiken und Krankheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Anforderungen und Handlungsfelder der Gesundheitspolitik . . . 3.1 Gesundheitsförderung und Prävention . . . . . . . . . . . 3.2 Linderung von Erkrankungen, Wiederherstellung der Gesundheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Ökonomische und ethische Fragen des Einsatzes von Ressourcen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Das Gesundheitssystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Besonderheiten von Angebot und Nachfrage . . . . . . . . 4.2 Grundmodelle der Gesundheitsversorgung . . . . . . . . . 4.3 Strukturmerkmale des Gesundheitssystems in Deutschland . 4.3.1 Rahmenregelung durch den Staat . . . . . . . . . . . . . . 4.3.2 Verbandliche Steuerung, gemeinsamer Bundesausschuss . . 4.3.3 Akteurs- und Interessensvielfalt, sektorale Trennung . . . . 4.4 Eckdaten des Gesundheitssystems . . . . . . . . . . . . .

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XXVIII

5 Krankenversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Gesetzliche Krankenversicherung . . . . . . . . . . . . 5.1.1 Grundprinzipien und versicherter Personenkreis . . . . 5.1.2 Leistungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.3 Finanzierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.4 Zuzahlungen und Wahltarife . . . . . . . . . . . . . . 5.1.5 Organisation und Selbstverwaltung . . . . . . . . . . . 5.1.6 Kassenwettbewerb . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.7 Medizinischer Dienst . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Private Krankenversicherung . . . . . . . . . . . . . . 5.2.1 Grundlagen und Prinzipien . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.2 Risikoäquivalente Prämien und Altersrückstellungen . . 5.2.3 Leistungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.4 Versicherungswechsel und Kostenentwicklung . . . . . 5.3 Zwei Klassen-System ? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Ambulante ärztliche Versorgung . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1 Kassenärztliche Vereinigungen und Sicherstellungsauftrag 6.2 Vertragsärztliche Versorgung . . . . . . . . . . . . . . 6.2.1 Angebotsstrukturen: Praxen, medizinische Versorgungszentren . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.2 Ablauf der ambulanten medizinischen Versorgung . . . 6.2.3 Besondere Formen der ambulanten Versorgung, Selektivverträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.4 Notfallversorgung und Rettungsdienst . . . . . . . . . 6.3 Bedarfsplanung und Kassenzulassung . . . . . . . . . 6.4 Honorierung und Ärzteeinkommen . . . . . . . . . . . 6.4.1 Morbiditätsbedingte und extrabudgetäre Gesamtvergütung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4.2 Individuelle Gesundheitsleistungen (IGeL) . . . . . . . 6.4.3 Ärzteeinkommen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Arzneimittelversorgung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1 Die Bedeutung von Arzneimitteln . . . . . . . . . . . . 7.2 Zulassung und Preisbildung von Arzneimittel . . . . . . 7.2.1 Zulassungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2.2 Festbeträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 Stationäre Versorgung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.1 Strukturmerkmale und Eckdaten der Krankenhausversorgung . . . . . . . . . . . . . . 8.2 Fallzahlen, Betten und Verweildauer . . . . . . . . . . 8.3 Steuerung und Finanzierung . . . . . . . . . . . . . .

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XXIX

8.4 Qualitätssicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.5 Pflegequalität und Pflegepersonal . . . . . . . . . . Versorgung psychisch Kranker . . . . . . . . . . . . . . . . 9.1 Ambulante Versorgung . . . . . . . . . . . . . . . . 9.2 Stationäre und teilstationäre Versorgung . . . . . . . 9.3 Rehabilitation und komplementäre Versorgung . . . . 9.4 Betreuungsrecht, zwangsweise Unterbringung . . . . Rehabilitation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.1 Medizinische Rehabilitation . . . . . . . . . . . . . . 10.2 Leistungen zur Teilhabe . . . . . . . . . . . . . . . . 10.3 Träger und Finanzierung . . . . . . . . . . . . . . . 10.4 Mängel in der Rehabilitationspraxis . . . . . . . . . . Gesundheitssysteme in Europa . . . . . . . . . . . . . . . Finanzierungsprobleme der gesetzlichen Krankenversicherung 12.1 Kostenexplosion ? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.2 Ausgabenentwicklung der GKV . . . . . . . . . . . . 12.3 Einnahmeentwicklung in der GKV . . . . . . . . . . . 12.4 Ausgabenbegrenzung durch Selbstbeteiligung und Wahltarife ? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.5 Phasen der Gesundheitspolitik: Kostendämpfung, Strukturveränderungen und Leistungsausweitungen . Reformbedarfe und Reformalternativen . . . . . . . . . . . 13.1 Normative Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . 13.2 Prävention und integrierte Versorgung . . . . . . . . 13.3 Bürgerversicherung oder Kopfpauschalen . . . . . . 13.4 Digitalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literaturhinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Kapitel IX: Pflegebedürftigkeit und Pflege . . . . . . . . . 1 Pflegebedürftigkeit – Abgrenzungen und Dimensionen . . 1.1 Pflegebedürftigkeit als allgemeines Lebensrisiko . . 1.2 Pflegebedürftigkeit und Demenz . . . . . . . . . . 1.3 Prävalenzen und Strukturdaten . . . . . . . . . . . 2 Art und Orte der pflegerischen Versorgung . . . . . . . . 2.1 Häusliche Pflege . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Stationäre Pflege . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Vereinbarkeit von Erwerbstätigkeit und Pflege . . . . . . . 3.1 Anforderungen von Arbeitswelt und Pflege im Konflikt 3.2 Gesetzliche Regelungen zur leichteren Vereinbarkeit 4 Alternative und innovative Wohn- und Versorgungsformen

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5 Absicherung des Pflegerisikos durch die Pflegeversicherung . 5.1 Ziele, Prinzipien und Konstruktionsmerkmale . . . . . 5.2 Soziale Pflegeversicherung . . . . . . . . . . . . . . 5.3 Private Pflegeversicherung . . . . . . . . . . . . . . 6 Leistungen der Pflegeversicherung . . . . . . . . . . . . . 6.1 Leistungsbeträge und Pflegegrad . . . . . . . . . . . 6.2 Leistungen bei häuslicher Pflege . . . . . . . . . . . 6.3 Leistungen bei und Kosten der stationären Pflege . . . 6.4 Leistungsvergütungen . . . . . . . . . . . . . . . . 6.5 Verteilung auf Leistungsarten und Empfänger:innen . 7 Angebotsstrukturen und Personalausstattung . . . . . . . . 7.1 Ambulante Dienste und Pflegeheime . . . . . . . . . 7.2 Personalausstattung und -situation . . . . . . . . . . 8 Steuerung, Beratung, Vernetzung und Qualitätssicherung . . 8.1 Sicherstellungsauftrag der Pflegekassen . . . . . . . 8.2 Steuerung des Versorgungsgeschehens . . . . . . . . 8.3 Pflegeberatung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.4 Pflegequalität und Qualitätssicherung . . . . . . . . 9 Finanzierung und Finanzentwicklung der Pflegeversicherung 9.1 Beitragsfinanzierung und -anpassung . . . . . . . . . 9.2 Entwicklung von Einnahmen und Ausgaben . . . . . 10 Stellung der Pflegeversicherung im System der sozialen Sicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.1 Pflegeversicherung und Sozialhilfe . . . . . . . . . . 10.2 Pflegeversicherung und Krankenversicherung . . . . 11 Herausforderungen und Reformbedarfe . . . . . . . . . . . 11.1 Folgewirkungen des demografischen und sozialen Wandels . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.2 Personalbedarf und Personalgewinnung . . . . . . . 11.3 Entlastung der Pflege durch Technikeinsatz und Digitalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.4 Stärkung der Finanzierungsbasis der Pflegeversicherung 11.5 Leistungsrechtliche Reformbedarfe . . . . . . . . . . 12 Literaturhinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

Kapitel X: Familie und Kinder . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Familien und Familienpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Familien und Familienfunktionen . . . . . . . . . . . . 1.2 Aufgaben von Familienpolitik . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Politik für Kinder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Wandel der familiären Lebensformen und der Geschlechterrollen 3 Lebensformen und Familienstrukturen im Überblick . . . . . . 3.1 Lebensformen und Haushaltstypen . . . . . . . . . . . 3.2 Geburtenrate, Heirats- und Scheidungshäufigkeit . . . . 3.3 Kinder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4 Familien und Kinder der ausländischen Bevölkerung . . 4 Geburtenziffern und Kinderlosigkeit . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Geburtenhäufigkeit und demografischer Wandel . . . . 4.2 Entscheidungen für oder gegen Kinder . . . . . . . . . 4.3 Leben mit Kindern in einer Markt- und Konkurrenzgesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4 Kinderlose: Ein Leben auf Kosten der „Kinder der anderen“ ? 5 Einkommens- und Lebenslagen von Familien . . . . . . . . . 5.1 Steigende Ausgaben und sinkende Einkommen . . . . 5.2 Determinanten von Einkommen und Unterhaltskosten . 5.3 Einkommenslagen im Vergleich . . . . . . . . . . . . . 5.4 Familien und Kinder in Armut . . . . . . . . . . . . . . 5.5 Familien und Kinder in der Grundsicherung . . . . . . . 5.6 Einkommens- und Lebenslage von Alleinerziehenden . 6 Geldleistungen der Familienpolitik und Familienleistungsausgleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1 Kinderbezogene Leistungen . . . . . . . . . . . . . . 6.1.1 Zielsetzungen des Familienleistungsausgleichs . . . . . 6.1.2 Kindergeld und Kinderfreibeträge, . . . . . . . . . . . 6.1.3 Kinderzuschlag und Leistungen zur Bildung und Teilhabe 6.2 Elterngeld und ElterngeldPlus . . . . . . . . . . . . . . 6.3 Ausbildungsfinanzierung und Ausbildungsförderung . . 6.4 Ehebezogene Leistungen . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4.1 Abgeleitete soziale Sicherung in der Sozialversicherung 6.4.2 Ehegattensplitting im Steuerrecht . . . . . . . . . . . 6.5 Unterhaltsvorschuss . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.6 Die familienpolitischen Leistungen im Überblick . . . . 7 Vereinbarkeit von Beruf und Familie . . . . . . . . . . . . . . 7.1 Phasenerwerbstätigkeit oder Parallelität von Beruf und Familie ? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2 Erwerbstätigkeit von Müttern und Vätern . . . . . . . .

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8 Kinderbetreuung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.1 Tageseinrichtungen für Kinder . . . . . . . . . . 8.2 Ergänzende Versorgungsangebote . . . . . . . . 9 Familiengerechte Gestaltung der Arbeitswelt . . . . . . 9.1 Anforderungen von Arbeitswelt und Kindererziehung 9.2 Elternzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.3 Gestaltung von Teilzeitarbeit . . . . . . . . . . . 9.4 Freistellung bei Krankheit des Kindes oder bei einem Pflegefall . . . . . . . . . . . . . . . . 10 Kinder- und Jugendhilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.1 Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe . . . . . 10.2 Hilfen zur Erziehung . . . . . . . . . . . . . . . 11 Reformbedarfe und Reformoptionen . . . . . . . . . . 11.1 Neuordnung des Familienleistungsausgleichs: Kindergrundsicherung ? . . . . . . . . . . . . . . 11.2 Elterngeld als Versicherungsleistung . . . . . . . 11.3 Abschaffung des Ehegattensplittings . . . . . . . 11.4 Vorrang für den Ausbau der familien- und kinderbezogenen Infrastruktur . . . . . . . . . . 12 Literaturhinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Inhalt

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Kapitel XI: Alter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Lebenslagen und soziale Ungleichheiten im Alter . . . . . . 2 Folgewirkungen des demografischen und sozialen Wandels . 2.1 Kollektives Altern in einer Gesellschaft des langen Lebens 2.2 Strukturwandel des Alter(n)s . . . . . . . . . . . . . 2.3 Generationensolidarität oder Generationenkonflikt ? . 2.3.1 Familiäre Generationenbeziehungen . . . . . . . . . 2.3.2 Ältere Menschen als ökonomische Belastung ? . . . . 3 Das Altern der Gesellschaft als (sozial)politischer Gestaltungsauftrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Altenpolitik und Sozialpolitik für ältere Menschen . . . 3.2 Auf dem Weg zu neuen Altersrollen ? . . . . . . . . . 4 Alterserwerbstätigkeit und Altersübergänge . . . . . . . . . 4.1 Berufsaustritt und Altersgrenzen . . . . . . . . . . . 4.2 Paradigmenwechsel in der Alterserwerbstätigkeit . . . 4.3 Beschäftigung im rentennahen Alter . . . . . . . . . 4.4 Rentenzugänge und Übergangsentscheidungen . . . 4.5 Arbeit trotz Rente . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

5 Alterssicherung: Ziele, Gestaltungsformen und Systeme . . 5.1 Ziele der Alterssicherung . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Gestaltungsformen der Alterssicherung . . . . . . . 5.2.1 Familiäre Unterstützung . . . . . . . . . . . . . . 5.2.2 Private Altersvorsorge . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.3 Betriebliche Altersvorsorge . . . . . . . . . . . . . 5.2.4 Staatlich organisierte Altersvorsorge: Gesetzliche Alterssicherungssysteme . . . . . . . . 5.3 Das deutsche Alterssicherungssystem im Überblick . 6 Rentenversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1 Versicherungsprinzip und Solidarausgleich . . . . . 6.2 Versicherte Personen . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3 Leistungsbereiche . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4 Rentenarten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4.1 Altersrenten, Altersgrenzen, Teilrenten und Abschläge 6.4.2 Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit . . . 6.4.3 Hinterbliebenenrenten . . . . . . . . . . . . . . . 6.5 Rentenberechnung . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.5.1 Rentenformel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.5.2 Entgeltpunkte und Elemente des sozialen Ausgleichs 6.5.3 Der aktuelle Rentenwert . . . . . . . . . . . . . . 6.5.4 Rentenberechnung in den neuen Bundesländern . . 6.5.5 Rentenanpassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.5.6 Bruttorenten, Nettorenten und Rentenbesteuerung . 6.6 Höhe und Verteilung der Renten . . . . . . . . . . 6.6.1 Rentenniveau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.6.2 Durchschnittsrenten und Rentenschichtung . . . . 6.6.3 Ein Blick in die Zukunft: Zunahme von Niedrigrenten 6.7 Finanzierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.7.1 Beitragseinnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.7.2 Bundeszuschuss . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.7.3 Ausgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.7.4 Finanzierung im Umlageverfahren . . . . . . . . . 6.8 Finanzierungsprobleme . . . . . . . . . . . . . . . 6.9 Organisationsstruktur . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Regelsysteme neben der Rentenversicherung . . . . . . . 7.1 Beamtenversorgung . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2 Alterssicherung der Landwirte . . . . . . . . . . . 7.3 Künstlersozialversicherung . . . . . . . . . . . . . 7.4 Berufsständische Versorgungswerke . . . . . . . .

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XXXIV

8 Betriebliche und private Altersvorsorge . . . . . . . . . . . 8.1 Betriebliche Altersvorsorge . . . . . . . . . . . . . . 8.1.1 Ausgestaltungsformen und Durchführungswege . . . 8.1.2 Unverfallbarkeit, Insolvenzsicherung, Rentenanpassung 8.1.3 Entgeltumwandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.1.4 Verbreitung und Rentenhöhe . . . . . . . . . . . . . 8.1.5 Sozialpartnermodell . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.1.6 Zusatzversorgung im öffentlichen Dienst . . . . . . . 8.2 Private Altersvorsorge . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.2.1 Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.2.2 Staatliche Förderung (Riester-Rente) . . . . . . . . . 9 Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung . . . . 9.1 Empfängerkreis, Bedarf und Bedürftigkeit . . . . . . . 9.2 Empfängerzahlen und -strukturen . . . . . . . . . . 9.3 Träger, Ausgaben und Finanzierung . . . . . . . . . . 9.4 Grundsicherungsbezug und Renten . . . . . . . . . . 10 Einkommensverteilung im Alter und Altersarmut . . . . . . 10.1 Einkommensquellen und Einkommensschichtung . . 10.2 Altersarmut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Alterssicherung im europäischen Vergleich . . . . . . . . . 11.1 Vielfalt der Systeme und der Sicherungsziele . . . . . 11.2 Länderbeispiele: Niederlande, Schweiz, Großbritannien, Österreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 Finanzierung der Alterssicherung und demografische Belastungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.1 Demografie und gesamtwirtschaftliche Entwicklung . 12.2 Benachteiligung der Jüngeren ? Renditen im Generationenvergleich . . . . . . . . . . 13 Reformbedarfe und -optionen . . . . . . . . . . . . . . . . 13.1 Lebensstandardsicherung: Rentenversicherung oder Kapitalmarkt ? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.2 Vermeidung von Altersarmut . . . . . . . . . . . . . 13.3 Erwerbstätigenversicherung . . . . . . . . . . . . . 13.4 Weitere Heraufsetzung und Dynamisierung der Regelaltersgrenze ? . . . . . . . . . . . . . . . . 13.5 Flexibel und gleitend in den Ruhestand ? . . . . . . . 14 Literaturhinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Inhalt

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Inhalt

Kapitel XII: Soziale Dienste . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Hilfebedürftigkeit, soziale Probleme und soziale Dienste . . . . . 1.1 Was sind soziale Dienste ? . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Soziale Dienste als Reaktion auf soziale Probleme . . . . . 2 Soziale Dienste: Grundlagen, Strukturen und Trends . . . . . . . 2.1 Charakteristika sozialer Dienstleistungen . . . . . . . . . 2.2 Soziale Dienste zwischen Staat und Markt . . . . . . . . . 2.3 Träger, Angebote und Beschäftigung im Überblick . . . . 2.4 Leistungsausweitung und -differenzierung . . . . . . . . 2.5 Die beschäftigungs- und gesellschaftspolitische Bedeutung sozialer Dienste . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.6 Rechtliche Grundlagen sozialer Dienste . . . . . . . . . . 3 Träger und Anbieter sozialer Dienste . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Öffentliche Träger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.1 Sozialversicherungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.2 Kreisfreie Städte, (Land-)Kreise und Gemeinden . . . . . . 3.2 Freie Wohlfahrtspflege . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1 Die Wohlfahrtsverbände und ihre Bedeutung . . . . . . . 3.2.2 Gemeinnützigkeit und Subsidiaritätsprinzip . . . . . . . 3.2.3 Freie Wohlfahrtspflege unter Legitimationsund Anpassungsdruck . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Koordination, Wohlfahrtsmix und Sozialplanung als Aufgaben der kommunalen Sozialpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Koordination sozialer Dienste . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Kommunale Sozialplanung . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Finanzierung: Grundlagen, Strukturen und Verfahren . . . . . . 5.1 Finanzierung der Träger . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.1 Öffentliche Träger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.2 Freigemeinnützige Träger . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.3 Privat-gewerbliche Träger . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Finanzierungsformen und -verfahren . . . . . . . . . . . 5.3 Finanzierung und Erbringung sozialer Dienste im „sozialwirtschaftlichen Dreieck“ . . . . . . . . . . . . 5.4 Wechsel von der Objekt- zur Subjektförderung: Persönliches Budget und Gutscheinvergabe . . . . . . . 6 Ökonomisierung des Sozialen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1 Privatisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2 Höhere Effektivität und Effizienz der Leistungserfüllung durch marktförmige Steuerung ? . . . . . . . . . . . . .

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Technisierung und Digitalisierung sozialer Dienstleistungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4 Wettbewerbsdruck: Zu Lasten der Versorgung und des Personals ? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Qualität und Qualitätssicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1 Grundlagen und Methoden . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2 Interne und externe Qualitätssicherung, Qualitätsentwicklung und Nutzerbeteiligung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 Nicht-professionelle Hilfe- und Unterstützungsleistungen . . . . . 8.1 Individuelle Selbst- und Familienhilfe . . . . . . . . . . . . 8.2 Bürgerschaftliches Engagement . . . . . . . . . . . . . . 8.3 Sozial-bürgerschaftliches Engagement . . . . . . . . . . . 8.3.1 Soziales Ehrenamt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.3.2 Soziale Hilfen im Nahraum und Unterstützung durch „kleine Netze“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.3.3 Soziale Selbsthilfegruppen, -projekte und Selbsthilfeinitiativen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.3.4 Förderstrategien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.4 Alternative oder Ergänzung zu professionellen sozialen Diensten ? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Literaturhinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Inhalt

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Die Autoren

Gerhard Bäcker Geb. 1947, Studium der Volkswirtschaftslehre an der Universität zu Köln, Abschluss als Dipl. Volkswirt. 1973 bis 1977 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Seminar für Sozialpolitik der Universität zu Köln (bei Prof. Dr. Otto Blume) und am Institut für Sozialforschung und Gesellschaftspolitik Köln. 1977 bis 1995 wissenschaftlicher Referent am Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung. 1981 Promotion an der Universität Bremen. 1995 bis 2002 Professor für Politik, insbesondere Sozialpolitik am Fachbereich Sozialwesen der Hochschule Niederrhein. 2002 bis 2012 Professor für Soziologie, insbesondere Soziologie des Sozialstaats, an der Universität Duisburg-Essen. 2005 bis 2011 Dekan der Fakultät für Gesellschaftswissenschaften. Ab Sommersemester 2012 pensioniert und Senior Professor am Institut Arbeit und Qualifikation (IAQ) der Universität Duisburg-Essen und Senior Fellow der Hans-Böckler-Stiftung. Reinhard Bispinck Geb. 1951, Studium der Volkswirtschaftslehre, Soziologie und Sozialpolitik an der Universität zu Köln, Abschluss als Dipl. Volkswirt sozialwissenschaftlicher Richtung. 1976 bis 1979 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Seminar für Sozialpolitik der Universität zu Köln (bei Prof. Dr. Otto Blume). 1977 bis 1979 Dozent für Sozialpolitik an der Sozialakademie in Dortmund. 1979 bis 2017 wissenschaftlicher Referent am Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung. 1987 Promotion an der Universität Bremen. Seit 1989 wissenschaftlicher Leiter des WSITarifarchivs, seit 2013 Abteilungsleiter des WSI. Seit Mai 2017 im Ruhestand.

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Die Autoren

Gerhard Naegele Geb. 1948, nach Ausbildung zum Industriekaufmann Studium der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften mit Schwerpunkt Sozialpolitik an der Universität zu Köln. Abschlüsse als Dipl. Kaufmann und Dipl. Handelslehrer. 1972 bis 1975 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Seminar für Sozialpolitik der Universität zu Köln (bei Prof. Dr. Otto Blume). 1976 Promotion zum Thema „Soziale Ungleichheit im Alter“. 1976 bis 1981 Geschäftsführer des Instituts für Sozialforschung und Gesellschaftspolitik e. V. Köln. 1981 bis 1992 Professor für Kommunale Sozialpolitik an der FH Dortmund. 1992 Habilitation an der Universität Kassel zum Thema „Zwischen Arbeit und Rente“. 1992 bis 2013 Inhaber des Lehrstuhls für Soziale Gerontologie der TU Dortmund; 1992 bis 2015 Direktor, seit 2015 wissenschaftlicher Berater des Instituts für Gerontologie an der TU Dortmund. Gastprofessuren am Department for Gerontology an der Akdeniz University Antalya (Türkei) und an der Medical University of Taipeh (Taiwan).

Verzeichnis der Abbildungen

Kapitel I: Sozialpolitik und soziale Lage Abbildung I.1 Sozialstaat Deutschland

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Kapitel II: Ökonomische Grundlagen und Finanzierung Abbildung II.1 Sozialpolitik in der Marktwirtschaft . . . . . . . . . Abbildung II.2 Sozialbudget: Struktur der Sozialleistungen nach Leistungsarten 2018 . . . . . . . . . . . . . Abbildung II.3 Sozialleistungsquote 1980 – 2018 . . . . . . . . . . Abbildung II.4 Finanzierung der Sozialpolitik im Wirtschaftskreislauf Abbildung II.5 Beitragsabzüge bei Mini- und Midijobs . . . . . . . Abbildung II.6 Ausgabenstruktur des Bundeshaushaltes 2019 . . . Abbildung II.7 Abgabenquoten 1995 – 2018 . . . . . . . . . . . . Abbildung II.8 Finanzierung der Sozialleistungen nach Arten in ausgewählten EU-Ländern 2017 . . . . . . . . . Abbildung II.9 Soziale Leistungen in den Kommunalhaushalten der Flächenländer 2017 . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung II.10 Beitrags- und Steuerabzüge bei Arbeitnehmer:innen im Einkommensbereich zwischen 450 und 6 800 Euro, 2019 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung II.11 Durchschnittliche Nettolöhne, Bruttolöhne und Arbeitskosten je Arbeitnehmer:in im Monat, 1991 – 2018 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung II.12 Lohn- bzw. Personalnebenkosten . . . . . . . . . . Abbildung II.13 Erwerbstätige und sozialversicherungspflichtig Beschäftigte 1992 – 2018 . . . . . . . . . . . . . . Abbildung II.14 Zusammengefasste Geburtenziffer 1980 – 2018 . . . Abbildung II.15 Fernere Lebenserwartung im Alter von 65 Jahren 1901 – 2060 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung II.16 Wanderungen zwischen Deutschland und dem Ausland 1992 – 2018 . . . . . . . . . . . . . .

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Abbildung II.17 Abbildung II.18

Verzeichnis der Abbildungen

Demografische Quotienten: Alten-, Jugendund Gesamtquotient 1990 – 2060 . . . . . . . . . . . . . Lohnstückkostenentwicklung im Euro-Raum, 2000 – 2018 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Kapitel III: Einkommen Abbildung III.1 Einkommensarten . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung III.2 Entwicklung der Bruttolöhne/-gehälter sowie Unternehmens- und Vermögenseinkommen 1995 – 2018 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung III.3 Durchschnittliche Bruttostundenverdienste in ausgewählten Hoch- und Niedriglohnbranchen 2018 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung III.4 Durchschnittliche Bruttostundenverdienste nach Geschlecht in ausgewählten Branchen 2018 . . Abbildung III.5 Niedriglohnbeschäftigte 1995 – 2016 . . . . . . . . Abbildung III.6 Struktur der Niedriglohnbeschäftigten 2016 . . . . Abbildung III.7 Durchschnittliche Bruttoeinkommen und verfügbare Einkommen privater Haushalte 2017 . . Abbildung III.8 Schichtung der Bevölkerung nach relativer Einkommensposition 1985 – 2016 . . . . . . . . . . Abbildung III.9 Gini-Koeffizient der verfügbaren Haushaltseinkommen 1991 – 2016 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung III.10 Entwicklung des durchschnittlichen verfügbaren Haushaltseinkommens nach Dezilen 1991 – 2016 . . Abbildung III.11 Einkommensungleichheit von Markteinkommen und verfügbarem Einkommen seit 1991 – 2015 . . . Abbildung III.12 Grenz- und Durchschnittssteuersätze 2019 . . . . . Abbildung III.13 Grundsicherungssysteme . . . . . . . . . . . . . . Abbildung III.14 Empfänger von Leistungen der Grundsicherung insgesamt, am Jahresende 2018 . . . . . . . . . . Abbildung III.15 Bedarfe der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach Bedarfsgemeinschaften 05/2019 . . . . . . . . . . Abbildung III.16 Leistungsempfänger:innen der Grundsicherung für Arbeitsuchende 2005 – 2018 . . . . . . . . . . . Abbildung III.17 Empfängerquoten von Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende 2007 – 2018 . . . . . . . . . . . Abbildung III.18 Erwerbsfähige Leistungsempfänger:innen der Grundsicherung: Arbeitslose und Nichtarbeitslose, 2018 . . . . . . . . . . . . . . .

131 146

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173

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180

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184

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186 188 189

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198

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201

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202

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203

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204 209 247

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248

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261

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263

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264

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265

Verzeichnis der Abbildungen

Abbildung III.19 Empfängerquoten von Grundsicherung für Arbeitsuchende nach Typ der Bedarfsgemeinschaft . . . . . . . . . . . . Abbildung III.20 Ausgaben für Leistungen nach dem SGB II 2010 – 2018 und Ausgabenarten 2018 . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung III.21 Bruttoausgaben der Sozialhilfe 1995 – 2018 . . . . . . . . Abbildung III.22 Empfänger von Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz 1994 – 2018 . . . . . . . . . Abbildung III.23 Empfängerhaushalte von Wohngeld 2005 – 2018 . . . . . Abbildung III.24 Armutsgefährdungsquoten in % der Bevölkerung 2005 – 2018 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung III.25 Armutsgefährdungsquoten in Großstädten mit über 500 000 Einwohnern 2018 . . . . . . . . . . . . . . Abbildung III.26 Armutsgefährdungsquoten von besonders betroffenen Bevölkerungsgruppen 2018 . . . . . . . . . Abbildung III.27 Armutsgefährdungsquoten nach ausgewählten Merkmalen 2005 – 2018 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung III.28 Empfängerquoten von Leistungen des SGB II in ausgewählten Städten/Kreisen 2018 . . . . . . . . . . Abbildung III.29 Armutsrisikoquoten in ausgewählten Ländern der EU 28, 2018 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung III.30 Verteilung der individuellen Nettovermögen 2017 und der Nettovermögen der Haushalte 2013 . . . . . . . . .

Kapitel IV: Arbeitsbeziehungen Abbildung IV.1 Gewerkschaftlicher Organisationsgrad 1990 – 2018 . . . . Abbildung IV.2 Tarifbindung der Beschäftigten nach Branchen 2018 . . . Abbildung IV.3 Tarifbindung der Beschäftigten und Betriebe 1998 – 2018 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung IV.4 Allgemeinverbindliche Tarifverträge 1991 – 2016 . . . . . Abbildung IV.5 Typisierter Ablauf einer Tarifrunde . . . . . . . . . . . . Abbildung IV.6 Streikende und Streiktage 2004 – 2018 . . . . . . . . . . Abbildung IV.7 Entwicklung der Tarifvergütungen in ausgewählten Branchen 2000 – 2018 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung IV.8 Tarifvertragliche Entgeltgruppen und gesetzlicher Mindestlohn 2010 – 2019 . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung IV.9 Branchenmindestlöhne in Euro/Stunde 2019 . . . . . . . Abbildung IV.10 Tarifliche Wochenarbeitszeit 1984 – 2018 . . . . . . . . . Abbildung IV.11 Nutzung tariflicher Öffnungs- und Differenzierungsklauseln, Anteile der tarifgebundenen Betriebe . . . . . . . . . . Abbildung IV.12 Dezentralisierung der Tarifpolitik . . . . . . . . . . . . .

XLI

266 270 275 277 280 287 288 289 290 294 299 301

319 336 337 340 342 345 348 353 354 355 366 367

XLII

Verzeichnis der Abbildungen

Abbildung IV.13 Betriebe und Beschäftigte mit Betriebsrat nach Branchen 2018 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung IV.14 Womit hat sich der Betriebsrat besonders beschäftigt ? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung IV.15 Betriebsvereinbarungen nach ausgewählten Regelungsbereichen 2017 . . . . . . . . . . . . . . . .

Kapitel V: Arbeit und Arbeitsmarkt Abbildung V.1 Struktur des Arbeitsmarktes im Überblick . . . . . . . . Abbildung V.2 Erwerbstätige und sozialversicherungspflichtig Beschäftigte 1992 – 2018 . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung V.3 Erwerbstätige nach Wirtschaftsbereichen 1991 – 2018 . . Abbildung V.4 Erwerbsquoten nach Geschlecht, alte und neue Länder 1991 – 2018 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung V.5 Teilzeitbeschäftigung nach Geschlecht 2000 – 2018 . . . Abbildung V.6 Erwerbstätigenquoten Älterer nach Altersjahren 2012 – 2018 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung V.7 Ausländische Bevölkerung und ausländische Erwerbspersonen 2000 – 2018 . . . . . . . . . . . . . . Abbildung V.8 Abhängig Beschäftigte in Vollzeitarbeit und in atypischen Erwerbsformen 2000 – 2018 . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung V.9 Teilzeitquoten nach Lebensalter, Männer und Frauen 2018 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung V.10 Beschäftigte in Minijobs 2003 – 2018, Nebenbeschäftigte und Hauptbeschäftigte . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung V.11 Überlassene Leiharbeitnehmer:innen 1994 – 2018 . . . . Abbildung V.12 Bruttoinlandsprodukt, Arbeitsproduktivität, Erwerbstätige, Arbeitsvolumen und Arbeitszeit, 1991 – 2018 . . . . . . Abbildung V.13 Arbeitslose und Arbeitslosenquoten 1975 – 2018 . . . . Abbildung V.14 Registrierte Arbeitslose und stille Reserve 1998 – 2016 . Abbildung V.15 Zugang in Arbeitslosigkeit nach Herkunftsstruktur 2018 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung V.16 Langzeitarbeitslose 1993 – 2018 . . . . . . . . . . . . . Abbildung V.17 Abgang aus Arbeitslosigkeit nach Abgangsgründen 2018 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung V.18 Ausgewählte Städte und Landkreise mit niedriger und hoher Arbeitslosigkeit, Arbeitslosenquoten und Zahl der Arbeitslosen, April 2019 . . . . . . . . . . . . Abbildung V.19 Arbeitslosenquoten ausgewählter Personengruppen 2018 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung V.20 Ältere Arbeitslose 2001 – 2018 . . . . . . . . . . . . . .

371 372 374

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389

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390 393

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394 395

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397

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398

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403

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405

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407 412

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427 432 436

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439 442

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444

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445

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447 448

Verzeichnis der Abbildungen

Abbildung V.21 Abbildung V.22 Abbildung V.23 Abbildung V.24 Abbildung V.25 Abbildung V.26 Abbildung V.27 Abbildung V.28 Abbildung V.29 Abbildung V.30 Abbildung V.31 Abbildung V.32 Abbildung V.33 Abbildung V.34

Qualifikationsspezifische Arbeitslosenquoten 1991 – 2018 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Arbeitslose und gemeldete offene Arbeitsstellen 2000 – 2018 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Arbeitslosenquoten in ausgewählten EU-Ländern 2000 – 2018 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Durchschnittliche Zahlbeträge von Arbeitslosengeld, Männer und Frauen, 2005 – 2018 . . . . . . . . . . Sperrzeitenquoten 2004 – 2018 . . . . . . . . . . . Beitragseinnahmen der Bundesagentur für Arbeit und Beitragssätze 2004 – 2018 . . . . . . . . . . . . . . Erwerbstätige ALG II-Empfänger 2007 – 2018 . . . . Arbeitslose im SGB III und SGBII 2018 . . . . . . . . Arbeitslose in den Rechtskreisen SGB II und SGB III, 2005 – 2018 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bewegungen auf dem Arbeitsmarkt und Maßnahmen der Arbeitsförderung . . . . . . . . . . . . . . . . Teilnehmende an Maßnahmen der Arbeitsförderung 2006 – 2018 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eingliederungszuschuss, SGB II, SGB III und insgesamt, 2006 – 2018 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Förderung der Selbstständigkeit 2006 – 2018 . . . . Geförderte Personen in Arbeitsgelegenheiten 2006 – 2018 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Kapitel VI: Qualifikation Abbildung VI.1 Das Bildungssystem in Deutschland . . . . . . . . Abbildung VI.2 Schüler:innen im 8. Schuljahr nach Schularten 1955 – 2017 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung VI.3 Studienberechtigtenquote nach Art der Hochschulreife 1970 – 2017 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung VI.4 Allgemeiner Schulabschluss der Bevölkerung 2018 nach Altersgruppen . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung VI.5 Beruflicher Bildungsabschluss der Bevölkerung 2018 nach Altersgruppen . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung VI.6 Personen mit hoher und mit geringer Bildung 2015 . Abbildung VI.7 Zusammenhang zwischen Elternhaus und Wahl der Schulart in Klasse 5 . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung VI.8 Neuzugänge in die drei Sektoren des beruflichen Ausbildungssystems 2005 – 2017 . . . . . . . . . . Abbildung VI.9 Schüler:innen an beruflichen Schulen 2004 – 2018 .

XLIII

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450

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451

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453

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460 463

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465 467 470

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471

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483

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495

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496 497

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498

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520

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521

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522

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524

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525 526

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530

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534 537

XLIV

Verzeichnis der Abbildungen

Abbildung VI.10 Ausbildungs- und Ausbildungsbetriebsquoten 1999 – 2017 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung VI.11 Auszubildende in den 10 am stärksten besetzten Ausbildungsberufen 2018 . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung VI.12 Angebot und Nachfrage auf dem Ausbildungsstellenmarkt 1992 – 2018 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung VI.13 Neuzugänge in den Übergangssektor 2005 – 2017 . . . Abbildung VI.14 Tarifliche Ausbildungsvergütung in ausgewählten Berufen 2018 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung VI.15 Arbeitslosenquoten Jüngerer 2000 – 2018 . . . . . . . . Abbildung VI.16 Qualifikationsspezifische Arbeitslosenquoten 2000 – 2018 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung VI.17 Geförderte in der beruflichen Weiterbildung 1994 – 2018 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Kapitel VII: Arbeit und Gesundheit Abbildung VII.1 Entwicklung des Krankenstands 1995 – 2018 . . . . . Abbildung VII.2 Arbeitsunfähigkeitsfälle und -dauer von AOK-Mitgliedern nach Lebensalter 2018 . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung VII.3 Arbeitsunfähigkeitstage von AOK-Mitgliedern nach ausgewählten Berufsgruppen 2018 . . . . . . . Abbildung VII.4 Entwicklung der Berufskrankheiten 1995 – 2017 . . . . Abbildung VII.5 Meldepflichtige Arbeitsunfälle nach ausgewählten Bereichen 1990 – 2017 . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung VII.6 Das Arbeitsschutzsystem in Deutschland . . . . . . . Abbildung VII.7 Beginn der Arbeitsunfähigkeit nach Wochentag 2018 . Abbildung VII.8 Arbeitsunfähigkeit nach Fällen und Tagen 2018 . . . .

Kapitel VIII: Gesundheit und Gesundheitssystem Abbildung VIII.1 Kranke nach Altersgruppen und Geschlecht 2017 . . . Abbildung VIII.2 Arbeitsunfähigkeit nach Krankheitsarten, AOK-Mitglieder 1999 und 2018 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung VIII.3 Neuzugänge in Erwerbsminderungsrenten nach Diagnosegruppen 1995 – 2018 . . . . . . . . . . Abbildung VIII.4 Todesursachen nach Krankheitsarten 2017 . . . . . . Abbildung VIII.5 Schwerbehinderte und Schwerbehindertenquote nach Altersgruppen 2017 . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung VIII.6 Lebenserwartung bei Geburt und ab 65 Jahren nach Einkommensposition . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung VIII.7 Gesundheitsausgaben nach Einrichtungen 2017 . . .

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545

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547

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550 554

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557 563

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565

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574

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594

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595

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596 598

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. . . .

600 603 619 620

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639

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641

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642 642

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644

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646 667

Verzeichnis der Abbildungen

Abbildung VIII.8 Abbildung VIII.9 Abbildung VIII.10 Abbildung VIII.11 Abbildung VIII.12 Abbildung VIII.13 Abbildung VIII.14 Abbildung VIII.15 Abbildung VIII.16 Abbildung VIII.17 Abbildung VIII.18 Abbildung VIII.19 Abbildung VIII.20 Abbildung VIII.21 Abbildung VIII.22 Abbildung VIII.23 Abbildung VIII.24

XLV

Gesundheitsausgaben nach Ausgabenträgern 2017 . . Beschäftigte im Gesundheitswesen 2017 . . . . . . . . Struktur der Ärzteschaft 2018 . . . . . . . . . . . . . . Ärzt:innen und Arztdichte 1995 – 2018 . . . . . . . . . Versicherte in der gesetzlichen Krankenversicherung 2000 – 2018 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung nach Leistungsarten 2018 . . . . . . . . . . . . . . . . . . Finanzierung der gesetzlichen Krankenkassen durch den Gesundheitsfonds 2019 . . . . . . . . . . . . . . Versicherte nach Kassenarten 2018 . . . . . . . . . . . An der vertragsärztlichen Versorgung teilnehmende Ärzt:innen und Psychotherapeut:innen 2018 . . . . . . Leistungs- und Vertragsbeziehungen in der ambulanten Versorgung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Quartals Honorare je Vertragsarzt, 4. Quartal 2017 . . . Krankenhäuser und Betten nach Trägerschaft 1992 – 2017 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ärztliches Personal und Pflegepersonal in Krankenhäusern 1991 – 2017 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Krankenhausfälle nach Lebensalter 2017 . . . . . . . . Entwicklung der Krankenhausversorgung 1991 – 2017 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beitragssatzentwicklung in der GKV und Anteil der GKV-Ausgaben am BIP 2000 – 2018 . . . . . . . . . Entwicklung von BIP, GKV-Ausgaben und beitragspflichtigen Einnahmen 1995 – 2018 . . . . . . .

Kapitel IX: Pflegebedürftigkeit und Pflege Abbildung IX.1 Leistungsempfänger:innen in der sozialen Pflegeversicherung 1995 – 2018 . . . . . . . . . . . . Abbildung IX.2 Pflegebedürftige und Pflegequote 1999 – 2017 . . . . Abbildung IX.3 Pflegebedürftige und Pflegequoten nach Altersgruppen 2017 am Jahresende . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung IX.4 Pflegebedürftige 2017 nach Art der pflegerischen Versorgung und nach Pflegegraden . . . . . . . . . Abbildung IX.5 Pflegebedürftige nach Art der Versorgung 1999 – 2017 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung IX.6 Leistungen der Pflegeversicherung . . . . . . . . . . Abbildung IX.7 Eigenanteile bei einer Heimunterbringung nach Bundesländern 2019 . . . . . . . . . . . . . .

. . . .

668 669 670 670

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674

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679

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681 688

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701

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703 712

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721

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722 723

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724

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746

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747

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767 768

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769

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771

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775 789

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797

XLVI

Abbildung IX.8 Abbildung IX.9 Abbildung IX.10 Abbildung IX.11 Abbildung IX.12 Abbildung IX.13 Abbildung IX.14 Abbildung IX.15 Abbildung IX.16 Abbildung IX.17

Verzeichnis der Abbildungen

Leistungsempfänger:innen nach Pflegegraden, häusliche und stationäre Pflege 2018 . . . . . . . . . . . . . . . . Leistungsempfänger:innen der sozialen Pflegeversicherung nach Leistungsarten 2017 . . . . . . . . . . . . . . . . Leistungsempfänger:innen der sozialen Pflegeversicherung nach Leistungsarten 1996 – 2017 . . . . . . . . . . . . . Ambulante und stationäre Pflegedienste nach Trägern 2017 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Personal in der stationären und ambulanten Pflege 1999 – 2017 nach Beschäftigungsverhältnissen . . . . . . Leistungs- und Vertragsbeziehungen in der pflegerischen Versorgung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ausgaben der sozialen Pflegeversicherung nach Leistungsarten 2017 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ausgabenentwicklung der sozialen Pflegeversicherung 1997 – 2017 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Finanzentwicklung der sozialen Pflegeversicherung 1997 – 2018 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Empfänger:innen von Hilfe zur Pflege 1992 – 2018 . . . . .

Kapitel X: Familie und Kinder Abbildung X.1 Familien nach Familientyp 1996 – 2018 . . . . . . . . . Abbildung X.2 Lebensformen der Bevölkerung 1998 und 2018 . . . . . Abbildung X.3 Lebensformen der Bevölkerung nach Lebensalter 2018 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung X.4 Kinder nach Zahl der ledigen Geschwister 1998 und 2018 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung X.5 Anteil der Frauen ohne Kinder 2018 nach Geburtsjahrgängen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung X.6 Armutsrisikoquoten von Kindern und in Haushalten mit Kindern 2018 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung X.7 Armutsrisikoquoten familiärer Lebensformen 2005 – 2018 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung X.8 Struktur der Bedarfsgemeinschaften mit Leistungen nach dem SGB II 2018 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung X.9 Empfängerquoten der Grundsicherung für Arbeitsuchende 2005 – 2018 . . . . . . . . . . . . . Abbildung X.10 Empfängerquoten der Grundsicherung für Arbeitsuchende unter 18 Jahren 09/2019 in Nordrhein-Westfalen . . . . Abbildung X.11 Struktur der Alleinerziehenden 2018 . . . . . . . . . .

799 800 801 802 805 810 817 818 819 821

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850 851

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853

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856

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861

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871

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872

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874

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874

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875 876

Verzeichnis der Abbildungen

Abbildung X.12 Abbildung X.13 Abbildung X.14 Abbildung X.15 Abbildung X.16 Abbildung X.17

XLVII

Erwerbstätigenquoten von Müttern und Vätern nach Alter des jüngsten Kindes 2018 . . . . . . . . . . . . . . . . Erwerbstätigenquoten von Müttern nach Zahl der Kinder 2018, Voll-/Teilzeittätigkeit . . . . . . . . . Trägerschaft der Tageseinrichtungen für Kinder 2019 . . Betreuungsquoten von Kindern unter 3 Jahren 2007 – 2019 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ganztagsbetreuungsquoten von Kindern 2018 . . . . . Ausgaben der Kinder- und Jugendhilfe 2001 – 2018 . . .

Kapitel XI: Alter Abbildung XI.1 Entwicklung von Bevölkerung und Altersstruktur 1960 – 2060 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung XI.2 Bevölkerung im Alter 80 Jahre und älter 1950 – 2060 Abbildung XI.3 Bevölkerung nach Altersgruppen und Geschlecht Jahresende 2017 . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung XI.4 Erwerbstätigenquoten Älterer nach Altersjahren und Geschlecht 2012 – 2018 . . . . . . . . . . . . Abbildung XI.5 Sozialversicherungspflichtige Beschäftigung im rentennahen Alter 2000 und 2018 . . . . . . . Abbildung XI.6 Zugänge von Altersrenten nach Rentenarten 1996 – 2018 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung XI.7 Erwerbstätige und Erwerbstätigenquote in der Altersgruppe 65 Jahre u. älter, 2000 – 2018 . . Abbildung XI.8 Schichten der Alterssicherung in Deutschland . . Abbildung XI.9 Rentenbestand nach Rentenarten 2018 . . . . . . Abbildung XI.10 Durchschnittliches Rentenzugangsalter und Rentenbezugsdauer 1980 – 2018 . . . . . . . Abbildung XI.11 Zugänge von Alters- und Erwerbsminderungsrenten 1996 – 2018 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung XI.12 Anpassung der Bruttorenten in den alten und neuen Bundesländern 1991 – 2019 . . . . . . . . . . . . Abbildung XI.13 Entwicklung des Nettorentenniveaus vor Steuern 1990 – 2033 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung XI.14 Durchschnittliche Monatsrenten im Bestand nach Rentenart und Geschlecht 2018 . . . . . . . Abbildung XI.15 Verteilung der monatlichen Altersrenten im Bestand 2018 . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung XI.16 Verteilung der Witwenrenten und der Altersrenten von Frauen, monatliche Zahlbeträge 2018 . . . .

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897

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898 901

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902 903 915

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927 928

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931

. . . .

946

. . . .

947

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948

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950 965 972

. . . .

973

. . . .

978

. . . .

993

. . . .

997

. . . .

999

. . . . 1001 . . . . 1002

XLVIII

Verzeichnis der Abbildungen

Abbildung XI.17 Verteilung der Erwerbsminderungsrenten im Zugang 2018, monatliche Zahlbeträge . . . . . . . . . . . . Abbildung XI.18 Beitragssätze zur gesetzlichen Rentenversicherung und GRV-Anteil am BIP 1990 – 2019 . . . . . . . . . . Abbildung XI.19 Anzahl der aktiven Anwartschaften der betrieblichen Altersversorgung 2001 – 2015 . . . . . . . . . . . . . Abbildung XI.20 Beschäftigte mit einer betrieblichen Altersvorsorge nach Betriebsgröße 2015 in der Privatwirtschaft . . . Abbildung XI.21 Verteilung der Betriebsrenten 2015 . . . . . . . . . . Abbildung XI.22 Geförderte private Altersvorsorge (Riester-Verträge) 2001 – 2019 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung XI.23 Empfänger:innen von Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung 2003 – 2018 . . . . . . . . . . Abbildung XI.24 Empfängerquoten von Grundsicherung im Alter 2003 – 2018 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung XI.25 Empfänger:innen von Grundsicherung und Rentenansprüche 2018 . . . . . . . . . . . . . . Abbildung XI.26 Aufstockung von Alters- und Erwerbsminderungsrenten durch die Grundsicherung 2018 . . . . . . . . . . . Abbildung XI.27 Struktur der Gesamteinkommen der älteren Bevölkerung 2015 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung XI.28 Verteilung der Gesamteinkommen im Alter 2015 . . . Abbildung XI.29 Armutsrisikoquoten der älteren Bevölkerung, EU-28, 2018 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Kapitel XII: Soziale Dienste Abbildung XII.1 Träger und Anbieter sozialer Dienste . . . . . . . Abbildung XII.2 Einrichtungen, Plätze und Beschäftigte in den Wohlfahrtsverbänden 1990 – 2016 . . . . . . . . Abbildung XII.3 Beschäftigungsfelder der Wohlfahrtsverbände 2016 Abbildung XII.4 Sozialwirtschaftliches Dreieck . . . . . . . . . . Abbildung XII.5 Neue Steuerung und Kontraktmanagement . . .

. . 1003 . . 1010 . . 1031 . . 1032 . . 1033 . . 1041 . . 1046 . . 1046 . . 1048 . . 1049 . . 1051 . . 1052 . . 1056

. . . . 1113 . . . . . . .

. . . .

. . . .

1128 1129 1152 1161

Verzeichnis der Tabellen

Kapitel II: Ökonomische Grundlagen und Finanzierung Tabelle II.1 Sozialbudget: Leistungen nach Institutionen 2018 . . . Tabelle II.2 Sozialschutzquoten in den 28 EU-Mitgliedsstaaten 2000 – 2017 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tabelle II.3 Einnahmen des (Sozial-)Staates . . . . . . . . . . . . Tabelle II.4 Beitragssätze, Grenzwerte und Rechengrößen der Sozialversicherung 2020 . . . . . . . . . . . . . . Tabelle II.5 Beitragssatzentwicklung in den Zweigen der Sozialversicherung 1990 – 2020 . . . . . . . . . . Tabelle II.6 Ausgaben des Bundes für soziale Sicherung 2010, 2015, 2019 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tabelle II.7 Aufkommen aus den wichtigsten Steuerarten 2010 – 2018 Tabelle II.8 Kommunale Einnahmen und Ausgaben 2010 – 2018 (alte Länder) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tabelle II.9 Durchschnittliche Lohnabzugsquoten 1991 – 2018 . . . Tabelle II.10 Bevölkerung und demografische Belastungsquotienten 1960 – 2060 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Kapitel III: Einkommen Tabelle III.1 Entwicklung der Arbeitnehmereinkommen 1991 – 2018 Tabelle III.2 Nettoäquivalenzeinkommen der privaten Haushalte 1995 – 2016 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tabelle III.3 Eckwerte des Einkommensteuertarifs 2001 – 2019 . . Tabelle III.4 Regelbedarfe und Regelbedarfsstufen 2020 . . . . . Tabelle III.5 Entwicklung der Regelbedarfe der Grundsicherung im Vergleich zur Lohn- und Preisentwicklung 2005 – 2018 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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66

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75 83

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85

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88

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91 94

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101 104

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130

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182

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200 207 252

. . . . .

258

XLIX

L

Verzeichnis der Tabellen

Kapitel IV: Arbeitsbeziehungen Tabelle IV.1 Die Gewerkschaften im DGB nach Mitgliederzahlen 2018 Tabelle IV.2 Tarifbindung der west- und ostdeutschen Beschäftigten und Betriebe 2018 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tabelle IV.3 Tarifbindung und Betriebsrat, Anteil der Beschäftigten Tabelle IV.4 Übertarifliche Entlohnung 2013 . . . . . . . . . . . . Tabelle IV.5 Tarifliche Einkommensbedingungen in ausgewählten Wirtschaftszweigen 2018 . . . . . . . . . . . . . . . Tabelle IV.6 Befristete Verkürzung der tariflichen Wochenarbeitszeit Tabelle IV.7 Verbreitung von Betriebsräten nach Betriebsgröße 2018

. . .

320

. . . . . . . . . . . .

335 339 351

. . . . . . . . . . . .

352 361 371

Kapitel V: Arbeit und Arbeitsmarkt Tabelle V.1 Durchschnittliche jährliche Arbeitszeit und ihre Komponenten 2000– 2018 . . . . . . . . . . . . . .

431

Kapitel VI: Qualifikation Tabelle VI.1 Studierende und Studienanfänger 1957/1958 – 2018/2019 nach Geschlecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tabelle VI.2 Studierende nach den wichtigsten Fächergruppen . . Tabelle VI.3 Auszubildende nach Ausbildungsbereichen 1998 – 2017 Tabelle VI.4 Nach BAföG geförderte Studierende 2006 – 2018 . . . .

. . . .

523 539 546 561

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589

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591

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599

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601

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687 691 714 720

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731

Kapitel VII: Arbeit und Gesundheit Tabelle VII.1 Erwerbstätige nach Lage der Arbeitszeit 2017 . . . . Tabelle VII.2 Auftreten von körperlichen und psychischen Arbeitsbelastungen . . . . . . . . . . . . . . . . . Tabelle VII.3 Angezeigte Verdachtsfälle und anerkannte Berufskrankheiten 2017 . . . . . . . . . . . . . . . Tabelle VII.4 Rentenzugänge wegen verminderter Erwerbsfähigkeit 2018 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Kapitel VIII: Gesundheit und Gesundheitssystem Tabelle VIII.1 GKV: Krankenkassen und Versicherte 2018 . . . . . . Tabelle VIII.2 Eckdaten der privaten Krankenversicherung 1991 – 2018 Tabelle VIII.3 Eckdaten der Arzneimittelversorgung 2000 – 2018 . . Tabelle VIII.4 Eckdaten der Krankenhausversorgung 2000 – 2017 . . Tabelle VIII.5 Vertragsversorgung der gesetzlich Krankenversicherten 1996 – 2017 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. . . .

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Verzeichnis der Tabellen

LI

Tabelle VIII.6 Gesundheitsausgaben, ärztliche Versorgung und Krankenhausbetten, ausgewählte Staaten im Vergleich 2017 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

742

Kapitel IX: Pflegebedürftigkeit und Pflege Tabelle IX.1 Soziale Pflegeversicherung und private Pflegepflichtversicherung im Vergleich 2018

. . . . . . . . . .

788

Kapitel X: Familie und Kinder Tabelle X.1 Haushalte und Lebensformen 2018 . . . . . . . . . . . . . . Tabelle X.2 Minderjährige Kinder nach Alter und Familienform 2018 . . . . Tabelle X.3 Höhe von Kindergeld und Kinderfreibeträgen 2000 – 2020 . . .

848 856 885

Kapitel XI: Alter Tabelle XI.1 Eckdaten der gesetzlichen Rentenversicherung 2018 . . . . . 966 Tabelle XI.2 Die Versicherten in der gesetzlichen Rentenversicherung Jahresende 2017 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 971 Tabelle XI.3 Einnahmen und Ausgaben der gesetzlichen Rentenversicherung 2018 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1012

Kapitel XII: Soziale Dienste Tabelle XII.1 Sozialversicherungspflichtig Beschäftigte im Bereich sozialer Dienstleistungen nach Berufen 2013 und 2017 . . . . 1102 Tabelle XII.2 Erwerbstätige und sozialversicherungspflichtig Beschäftigte im Bereich der Sozial- und Gesundheitswirtschaft 2018, 2013 und 2009 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1106

Verzeichnis der Übersichten

Kapitel I: Sozialpolitik und soziale Lage Übersicht I.1 Typen und Dimensionen des Wohlfahrtsstaats . . . . . . . Übersicht I.2 Zeittafel grundlegender sozialpolitischer Gesetze . . . . . Übersicht I.3 Sozialstaat und Grundgesetz . . . . . . . . . . . . . . . .

16 22 36

Kapitel II: Ökonomische Grundlagen und Finanzierung Übersicht II.1 Finanzierungszuständigkeiten der Gebietskörperschaften in der Sozialpolitik, ausgewählte Beispiele . . . . . . . . . Übersicht II.2 Aufgaben der Kommunen . . . . . . . . . . . . . . . . .

81 98

Kapitel III: Einkommen Übersicht III.1 Verteilung des Sozialprodukts nach der Systematik der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung . . . . . . Übersicht III.2 Einkommenssicherung bei sozialen Risiken und Notlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Übersicht III.3 Die wichtigsten Geldleistungen der sozialen Sicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Übersicht III.4 Ausprägung der sozialen Sicherung (Geldleistungen) nach Wohlfahrtsstaatstypen . . . . . . . . . . . . . . . . .

. .

178

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212

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219

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222

Kapitel IV: Arbeitsbeziehungen Übersicht IV.1 Beteiligungsrechte des Betriebsrats . . . . . . . . . . . Übersicht IV.2 Ausgewählte Arbeitskämpfe . . . . . . . . . . . . . . . Übersicht IV.3 Definition von Entgeltgruppen am Beispiel: Entgeltrahmentarifvertrag Metallindustrie Niedersachsen (2019) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Übersicht IV.4 Sanierungstarifvertrag bei Galeria Kaufhof Karstadt . . .

. .

322 344

. .

349 368 LIII

LIV

Verzeichnis der Übersichten

Kapitel V: Arbeit und Arbeitsmarkt Übersicht V.1 Gesetzliche Regelungen des Arbeitsverhältnisses: Überblick über ausgewählte Bereiche . . . . . . . . . . . Übersicht V.2 Unterschiede der ILO-Erwerbsstatistik und SGB-Arbeitsmarktstatistik im Überblick . . . . . . . . . . Übersicht V.3 Ausgewählte Wirkungen aktiver Arbeitsmarktpolitik . . . .

387 434 493

Kapitel VI: Qualifikation Übersicht VI.1 Das System berufsbildender Schulen und Bildungsgänge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

535

Kapitel VII: Arbeit und Gesundheit Übersicht VII.1 Überblick über ausgewählte Bestimmungen des Arbeitsschutzsystems . . . . . . . . . . . . . . . . . Übersicht VII.2 Grundpflicht des Arbeitgebers nach § 3 ArbSchG . . . . . .

606 607

Kapitel VIII: Gesundheit und Gesundheitssystem Übersicht VIII.1 Ziele und Maßnahmen im Gesundheitswesen Übersicht VIII.2 Versicherungspflichtige in der gesetzlichen Krankenversicherung . . . . . . . . . . . . Übersicht VIII.3 Zuzahlungsregelungen im Überblick Stand 2020 Übersicht VIII.4 Zentrale Unterschiede zwischen GKV und PKV (Krankheitsvollversicherung) . . . . . . . . . Übersicht VIII.5 Ausgewählte Gesundheitsreformgesetze 1998 bis 2014 . . . . . . . . . . . . . . . . Übersicht VIII.6 Ausgewählte Gesundheitsreformgesetze 2015 bis 2019 . . . . . . . . . . . . . . . .

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654

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672 684

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692

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751

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751

Kapitel IX: Pflegebedürftigkeit und Pflege Übersicht IX.1 Wer sind die Pflegebedürftigen und die Hauptpflegepersonen in privaten Haushalten ? . . . . . Übersicht IX.2 Häusliche Pflege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Übersicht IX.3 Sach- und Geldleistungen in der Pflegeversicherung 2020 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Übersicht IX.4 Beispiel: Pflegekostenrechnung 2019 für die stationäre Pflege, Pflegegrad III, Einzelzimmer, Arbeiterwohlfahrt Essen, Kurt-Schumacher-Zentrum . . . . . . . . . . . . . . . . .

773 773 791

795

Verzeichnis der Übersichten

LV

Kapitel X: Familie und Kinder Übersicht X.1 Ausgewählte familienpolitische Leistungen

. . . . . . . .

Kapitel XI: Alter Übersicht XI.1 Heraufsetzung der Regelaltersgrenze . . . Übersicht XI.2 Vorgezogene Altersrenten . . . . . . . . . Übersicht XI.3 Beispiele für die Berechnung einer Altersrente Übersicht XI.4 Begrenzung der Rentenanpassung . . . . . Übersicht XI.5 Rentenanpassungsformel, Stand 2017 . . . Übersicht XI.6 Grundlagen der Riester-Förderung . . . . . Übersicht XI.7 Niederlande . . . . . . . . . . . . . . . . Übersicht XI.8 Schweiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . Übersicht XI.9 Großbritannien . . . . . . . . . . . . . . Übersicht XI.10 Österreich . . . . . . . . . . . . . . . . .

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Kapitel XII: Soziale Dienste Übersicht XII.1 Anlässe, Zielgruppen und Handlungsformen sozialer Dienstleistungen . . . . . . . . . . . . . . . . . Übersicht XII.2 Güter und Dienstleistungen und ihre Eigenschaften Übersicht XII.3 Ausgewählte soziale Dienste und Einrichtungen . Übersicht XII.4 Diakonisches Werk . . . . . . . . . . . . . . . . Übersicht XII.5 Caritas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Übersicht XII.6 Deutsches Rotes Kreuz . . . . . . . . . . . . . . Übersicht XII.7 Arbeiterwohlfahrt . . . . . . . . . . . . . . . . Übersicht XII.8 Der Paritätische . . . . . . . . . . . . . . . . . Übersicht XII.9 Zentralwohlfahrtsstelle der Juden . . . . . . . . Übersicht XII.10 Finanzierung freier Träger: Beispiel: Volksverein Mönchengladbach . . . . . Übersicht XII.11 Formen der Privatisierung sozialer Dienste . . . . Übersicht XII.12 Selbsthilfegruppen und Initiativen in Düsseldorf .

. . . . . . . . . .

893

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975 976 989 993 994 1040 1057 1058 1059 1060

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1088 1097 1100 1124 1125 1125 1126 1126 1127

. . . . . 1145 . . . . . 1158 . . . . . 1185

I

Sozialpolitik und soziale Lage

1

Sozialpolitik und Sozialstaat als Antwort auf soziale Probleme

Sozialpolitik reagiert auf soziale Risiken und Probleme. Diese betreffen im Verlauf des Lebens jeden Menschen. In modernen, hoch differenzierten und arbeitsteiligen Gesellschaften sind jedoch die Möglichkeiten begrenzt, die Probleme aus eigener Kraft zu lösen. Weder die Unterstützung durch Familie und soziale Netzwerke noch die private Vorsorge durch Sparen oder Abschluss von Versicherungsverträgen reichen zur Problemlösung aus. Je nach Art, Schwere, Dringlichkeit und Dauer der Probleme sind deshalb Maßnahmen der Sozialpolitik erforderlich. Nur mit ihnen lässt sich vermeiden, dass beispielsweise Krankheit, Pflegebedürftigkeit, Arbeitslosigkeit, Invalidität oder familiäre Krisen bis hin zur Armut und zur gesellschaftlichen Ausgrenzung führen. Sozialpolitik lässt sich dabei wie folgt definieren: Es handelt sich insbesondere um all jene öffentlich erbrachten und/oder regulierten Maßnahmen, Leistungen und Dienste, die darauf abzielen, • • • •

dem Entstehen sozialer Risiken und Probleme vorzubeugen, die Lebenslage einzelner Personen oder Personengruppen zu sichern und zu verbessern, die Folgewirkungen sozialer Probleme auszugleichen und soziale Ungleichheiten zu vermindern.

In Deutschland, wie auch in allen anderen Ländern mit einer ausgebauten Sozialpolitik, nimmt nahezu die gesamte Bevölkerung Leistungen der Sozialpolitik in Anspruch: So ist der weit überwiegende Teil der Bürgerinnen und Bürger durch die gesetzliche Krankenversicherung und die gesetzliche Rentenversicherung abgesichert. Viele Menschen sind auf Leistungen der Grundsicherung angewiesen oder beziehen Sozialtransfers wie Wohngeld oder Kindergeld. Hinzu kommen soziale Dienste und Einrichtungen als unverzichtbarer Teil der Daseinsvorsorge. Die Maßnahmen, Leistungen und Einrichtungen der Sozialpolitik beeinflussen damit sehr nachhaltig die Lebenslage der Bürgerinnen und Bürger. Zugleich haben sie eine große volkswirt© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 G. Bäcker et al., Sozialpolitik und soziale Lage in Deutschland, https://doi.org/10.1007/978-3-658-06249-1_1

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Sozialpolitik und soziale Lage

schaftliche Bedeutung: Zusammen genommen machen sie in ihrer finanziellen Dimension etwa ein Drittel des Sozialproduktes aus. Sozialpolitik setzt sich aus einer Vielzahl von Maßnahmen, Leistungen und Diensten zusammen, die durch unterschiedliche Institutionen, Einrichtungen und Akteure bereitgestellt bzw. angeboten werden. Dieser Gesamtkomplex lässt sich auch als Sozialstaat oder (weitgehend synonym) als Wohlfahrtsstaat bezeichnen. Der Begriff Sozialstaat ist Ausdruck für die aktive, gestaltende Rolle, die der demokratische Staat im wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Leben einnimmt, und kennzeichnet zugleich einen historisch-konkreten Gesellschaftstyp, der eine entwickelte marktwirtschaftlich-kapitalistische Ökonomie mit dem Prinzip des sozialen Ausgleichs verbindet. Die Strukturelemente des Sozialstaates greifen insofern weit über einzelne Maßnahmen der Sozialpolitik und das System der sozialen Sicherung hinaus: Sie reichen von den rechtlichen Regelungen von Arbeitsmarkt, Arbeitsverhältnis und Arbeitsbedingungen bis hin zur allgemeinen Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik, der Kinderbetreuung, der schulischen und beruflichen Ausbildung bis hin zur Betriebsund Unternehmensverfassung und zum Tarifvertragswesen, vom Gesundheitswesen und der Versorgung der Bevölkerung mit sozialen Diensten und Einrichtungen auf der kommunalen Ebene bis hin zur Ausgestaltung des Steuerrechts. Die Bandbreite sozialer Risiken und Probleme, die Anlass für sozialpolitisches Handeln geben, ist groß: Arbeitslosigkeit, Krankheit und Pflegebedürftigkeit, Einkommensverlust, Armut, soziale Ausgrenzung, Behinderung – damit sind nur einige Beispiele benannt. Eine Vielzahl dieser Risiken und Probleme lässt sich auf die Grundstruktur der Marktökonomie zurückführen. Dies gilt insbesondere in Bezug auf den Arbeitsmarkt, die Arbeitsbedingungen und die so genannten Standardrisiken des Erwerbslebens wie Arbeitslosigkeit, arbeitsbedingte Erkrankungen, Arbeitsunfälle oder Invalidität, die sich für abhängig Beschäftigte existenzgefährdend auswirken und als Arbeitnehmerrisiken bezeichnen werden können. Die mit dem Übergang von der Agrar- zur Industriegesellschaft und den sozialen Folgewirkungen der kapitalistischen Ökonomie verknüpften Arbeitnehmerrisiken haben historisch den Ausgangspunkt für die Herausbildung und den Ausbau der Sozialpolitik gesetzt. Die Industrialisierung war verbunden mit elenden Arbeits-, Wohnund Lebensbedingungen der Lohnarbeiter und ihren Familien („Arbeiterfrage“). Zu den Triebkräften der erforderlich werdenden sozialpolitischen Interventionen des Staates zählen damit einhergehend auch die Auflösung traditioneller Sozialstrukturen, die Verstädterung sowie der Bedeutungsrückgang der bisherigen, nicht-staatlichen Unterstützungssysteme, so insbesondere der Familie und kirchlich-karitativer Hilfen. Auch die demografische Entwicklung, d. h. die Wanderungsbewegungen und der anhaltende Anstieg der Lebenserwartung, haben infolge der Überlastung der alten Unterstützungssysteme zu Sicherungslücken geführt und den Problem- und Handlungsdruck verschärft. Der Markt war und ist zur Schließung der Lücken allein nicht in der Lage, denn er löst aus sich heraus keine sozialen Probleme, sondern schafft und verschärft diese vielmehr. Staatliche Interventionen werden also funktio-

Gestaltung von Lebenslagen

3

nal nötig, auf der anderen Seite infolge der hohen wirtschaftlichen Leistungskraft der Marktökonomie auch finanziell erst möglich. Neben die typischen Arbeitnehmerrisiken treten im Verlauf der sozio-ökonomischen Entwicklung solche Risiken und Probleme, die sich unabhängig von den Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen ergeben, jeden Menschen betreffen können und als allgemeine Lebensrisiken zu bezeichnen sind. Dies gilt, um ein Beispiel zu nennen, für die Risiken Krankheit und Pflegebedürftigkeit. Auch wenn gesundheitliche Beeinträchtigungen und Erkrankungen in vielen Fällen eine Folge belastender Arbeitsbedingungen sind, ist damit über die Ursachen der Erkrankungen insgesamt, insbesondere bei dem großen Teil der nicht erwerbstätigen Bevölkerung, wenig ausgesagt. Allgemeine Lebensrisiken entstehen in der Regel weder naturgegeben noch betreffen sie in ihrem Ausmaß und in ihren Folgen die gesamte Bevölkerung im gleichen Maße. Die Empirie zeigt, dass sich ihr Auftreten und Umschlagen in soziale Probleme nicht zufällig vollzieht, sondern nach bestimmten Mechanismen und Strukturmerkmalen erfolgt und insbesondere mit dem sozio-ökonomischen Status, dem Geschlecht, dem sozio-kulturellen Hintergrund sowie nicht zuletzt mit der familiären Situation und dem jeweiligen Stadium im Lebenslauf variiert. Bei aller Differenziertheit von Lebenslagen und trotz des Trends zur Individualisierung und Pluralisierung von Lebensformen, der moderne Gesellschaften prägt, ist immer noch zutreffend, dass von sozialen Risiken und Problemen überproportional vor allem jene Bevölkerungsgruppen bedroht bzw. betroffen sind, die aufgrund ihrer Berufs-, Qualifikations- und Einkommenssituation ohnehin zu den Benachteiligten in der Gesellschaft zählen und zugleich auch über geringere Bewältigungs- und Verarbeitungspotenziale verfügen. Die verschiedenen Bevölkerungsgruppen sind sozialen Risiken unterschiedlich stark ausgesetzt und von sozialen Problemen unterschiedlich stark betroffen. Darin spiegelt sich ein komplexes Bündel ökonomischer und sozialer Bedingungsfaktoren wider, mithin eine gesellschaftliche Grundstruktur, die auf Ursache, Wirksamwerden und personelle Verteilung sozialer Risiken und Probleme maßgeblichen Einfluss hat und ungleiche Lebens- und Teilhabechancen produziert. Solche sozialen Ungleichheiten sind mitnichten überwunden. Die Konzentration von sozialen Risiken auf Angehörige der unteren sozialen Schichten zeigt, dass der Prozess der gesellschaftlichen Modernisierung und von wirtschaftlichem Wachstum und Wohlstandszuwachs keinesfalls zu einer sozialen Entstrukturierung der Gesellschaft geführt hat.

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Gestaltung von Lebenslagen

Zur Beschreibung und Beurteilung von sozialpolitisch relevanten sozialen Risiken und Problemen und zur Ableitung geeigneter Konzepte, Maßnahmen und Einrichtungen eignet sich das aus der Ungleichheitsforschung stammende Lebenslagekon-

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Sozialpolitik und soziale Lage

zept. Es hebt auf Beeinträchtigungen in den materiellen wie immateriellen Lebensbedingungen Einzelner oder von Gruppen ab. Lebenslagen werden maßgeblich bestimmt durch die Beziehung zwischen „Verhältnissen“ und „Verhalten“. Sie werden dabei ebenso als Ausgangsbedingungen menschlichen Handelns wie auch als Produkt dieses Handelns verstanden, die sich aus den jeweiligen konkreten ökonomischen, sozialen, kulturellen und politischen Lebensbedingungen von Menschen im Ablauf ihres Lebens ergeben. Unter der Lebenslage eines Menschen kann der (Handlungs-)Spielraum verstanden werden, den ein Mensch hat, sich bei einem gegebenen Entwicklungsstand einer Gesellschaft zu entfalten und seine Interessen zu befriedigen. Lebenslagen sind dabei jeweils abhängig von bestimmten historisch gewachsenen wie ökonomischen und sozialen Versorgungs- und Entwicklungsniveaus, die der Einzelne kaum beeinflussen kann. Wichtige Bereiche sind Erwerbstätigkeit, Einkommen, Bildung, Gesundheit und Wohnen. Der Begriff der Handlungsspielräume verweist auf die Möglichkeiten und Grenzen, die Lebenslage im gewissen Rahmen durch eigenes Handeln selbst zu beeinflussen. Zur besseren analytischen und inhaltlichen Abgrenzung von Handlungsspielräumen werden im Lebenslagekonzept insbesondere die folgenden sechs Dimensionen unterschieden: • ökonomische Lage, d. h. Einkommens- und Vermögenssituation; • Versorgung mit sozialkulturellen Gütern und Diensten, so vor allem im Bereich des Wohnens, des Bildungs- und Gesundheitswesens, der sozial-pflegerischen Dienste; • persönliche Kontakte, Kooperationsbezüge und andere soziale Aktivitäten auch im außerberuflichen Bereich; • Lern- und Erfahrungsspielraum, vor allem die Möglichkeiten der Entfaltung der Interessen, die durch Sozialisation, schulische und berufliche Bildung, Erfahrungen in der Arbeitswelt sowie durch das Ausmaß sozialer und räumlicher Mobilität sowie der jeweiligen Wohn-Umweltbedingungen beeinflusst sind; • Dispositions- und Partizipationsspielraum, insbesondere Art und Ausmaß sozialer Teilhabe, Mitbestimmung und Mitgestaltung; • Gesundheitszustand, Muße- und Regenerationsmöglichkeiten. Je nach Personengruppe kann dabei einzelnen Dimensionen der Lebenslage in ihrem Zusammenwirken mit anderen ein unterschiedlich starkes Gewicht zukommen. Aus sozialpolitischer Sicht gelten Lebenslagen immer dann als prekär, d. h. gefährdet, wenn innerhalb einzelner und/oder mehrerer der genannten Dimensionen bestimmte Interessen („Grundanliegen“) der Menschen nicht erfüllt sind oder die dafür jeweils erforderlichen Gestaltungs- und Veränderungspotenziale nicht oder nur unzureichend vorhanden sind.

Interventionsformen und Wirkungen

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Es ist aus analytischen Gründen wie auch zur Entwicklung sozialpolitischer Konzepte und Maßnahmen sinnvoll, das Lebenslagekonzept mit der Lebensverlaufsanalyse zu verknüpfen. Viele soziale Risiken und Probleme lassen sich ohne Bezug auf die spezifischen Lebensbedingungen in bestimmen Lebensphasen nicht hinreichend erklären und erfordern deshalb lebensphasenspezifische Lösungen. Dies gilt vor allem für soziale Risiken und Probleme von Kindern, Jugendlichen, jungen Eltern, Alleinerziehenden oder älteren und hochaltrigen Menschen. Zugleich lässt sich zeigen, dass sich viele soziale Risiken und Probleme im Lebenslauf entwickeln und/oder in ihren Wirkungen kumulieren können. Es handelt sich dabei um Risiko- und Problemketten, die ihren Beginn jeweils in bestimmten Situationen und Ereignissen in früheren Lebensphasen haben: So lassen sich z. B. viele chronische Krankheiten bei Erwachsenen wie bei älteren Menschen auf bestimmte Krankheitsrisiken in Kindheit und Jugend zurückführen. Das Risiko der Langzeitarbeitslosigkeit wiederum ist entscheidend abhängig vom Grad der schulischen und beruflichen Ausbildung. Geringe Einkommen und Armut im Alter (vor allem bei Frauen) sind Ausdruck von Einkommensbenachteiligungen während der aktiven Erwerbsphase.

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Interventionsformen und Wirkungen

Um das Entstehen sozialer Risiken zu verhindern, ihre Folgen auszugleichen und um Lebenslagen zu verbessern, greift Sozialpolitik in vielfältiger Weise in Wirtschaft und Gesellschaft ein und bewirkt eine Korrektur und Überformung von Markt- und Gesellschaftsprozessen. Im Grundsatz lassen sich drei idealtypische Eingriffsformen unterscheiden, die sich in der Praxis überlagern und ergänzen können: •

Regulative Politik: Durch rechtliche Ge- und Verbote wird das Verhalten von Menschen, Institutionen und Unternehmen normiert und gesteuert. Die Handlungsund Vertragsfreiheit wird insofern sozialpolitisch beschränkt. Diese Regulierung bezieht sich insbesondere auf den Arbeitsmarkt, aber auch auf sog. Wohlfahrtsmärkte, dazu zählen u. a. Versicherungsmärkte, Gesundheitsmärkte und der Wohnungsmarkt. Ziel der Interventionen auf dem Arbeitsmarkt ist es, soziale Risiken und Probleme, die durch ein ungehemmtes Wirken der Marktkräfte entstehen, zu mindern und auszugleichen. Die Rechtsstellung und soziale Lage der abhängig Beschäftigten soll verbessert und gesichert sowie das Machtungleichgewicht zwischen Kapital und Arbeit ausgeglichen werden. Die Liste der Beispiele ist lang: Kündigungsschutz, gesetzlicher Mindestlohn, Entgeltfortzahlung, Elternzeit – um nur einige Regelungen zu benennen. Wohlfahrtsmärkte zeichnen sich dadurch aus, dass privatwirtschaftliche Anbieter soziale Leistungen, z. B. Kranken- oder Lebensversicherungen, gegen Entgelt anbieten oder dass Unternehmen Arzneimittel und Medizinprodukte verkau-

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Sozialpolitik und soziale Lage

fen. Regulative Rahmensetzungen sollen dafür sorgen, dass Standards hinsichtlich Qualität, Sicherheit, Preisgestaltung und Verbraucherschutz eingehalten werden. • Distributive Politik: Die marktliche Einkommensverteilung wird korrigiert. Durch die Zahlung von Sozialtransfers erhalten auch jene Menschen ein Einkommen, die wegen des Eintretens sozialer Risiken, also bei Arbeitslosigkeit, Krankheit, Pflegebedürftigkeit, Invalidität, Behinderung oder im Alter nicht (mehr) erwerbstätig sein können und deswegen im Prozess der Einkommensentstehung und -verteilung auf dem Arbeitsmarkt leer ausgehen. Oder aber Sozialtransfers dienen dazu, ein zu geringes Markt- oder Lohnersatzeinkommen aufzustocken. Die erforderlichen Mittel für diese nicht marktförmige Existenzsicherung müssen durch Steuer- und Beitragsabzüge von den Markteinkommen oder durch die Besteuerung des Konsums finanziert werden. Ziel ist es, die strenge Verbindung zwischen Erwerbsbeteiligung und Einkommenserzielung zu lockern und in den Wechselfällen des (Arbeits)Lebens ein bestimmtes Maß an Einkommenssicherheit zu gewährleisten und auf jeden Fall das sozial-kulturelle Existenzminimum zu garantieren. • Infrastruktur- und Dienstleistungspolitik: In bestimmten Bedarfsfeldern werden durch Sozialpolitik Einrichtungen und Dienste bereitgestellt, die (weitgehend) kostenlos in Anspruch genommen werden können. Dies betrifft u. a. das Gesundheits- und Sozialwesen, die Bildung und Weiterbildung sowie die kommunale Daseinsvorsorge. Angebot und Nachfrage stehen hier außerhalb des marktwirtschaftlichen Prinzips ihrer Steuerung über Kosten und Profite bzw. Einkommen und Preise. Maßgebendes Kriterium für die Inanspruchnahme der Einrichtungen und Dienste ist der Bedarf. Die Finanzierung erfolgt durch den Staat. Der Staat muss die Einrichtungen und Dienste aber nicht zwingend in eigener Regie betreiben, sondern kann damit auch Private (non profit oder profit-Unternehmen) beauftragen und sich auf die Gewährleistungs- und Finanzierungsfunktion beschränken. Ziel ist es, eine ausreichende, bedarfsbezogene Versorgung in jenen Bereichen sicherzustellen, die der Markt überhaupt nicht oder nicht in der gesellschaftlich erwünschten Weise abdeckt, insbesondere nicht in der erwünschten Quantität und Qualität, Zugänglichkeit, Verlässlichkeit und Erschwinglichkeit. Sozialpolitik wirkt durch ihre Maßnahmen und Leistungen auf die Rahmenbedingungen ein, unter denen Menschen sich entwickeln und entfalten können und verändert damit die Sozialstruktur einer Gesellschaft. Je nach Reichweite, Ausrichtung und Ausgestaltung der Sozialpolitik werden Abhängigkeiten und soziale Ungleichheiten verringert und Möglichkeiten für eine autonome Lebensführung eröffnet. Zugleich werden Anforderungen und Handlungsnormen gesetzt, die mit neuen Abhängigkeiten sowie mit Kontrollen durch Sozialbürokratien verbunden sein können. Diese Normen zielen auf die Verallgemeinerung der Lohnarbeit, auf die Arbeitsverhältnisse wie auf den Lebensverlauf insgesamt. Durch die Fixierung von Alters-

Interventionsformen und Wirkungen

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grenzen und die Abfolge von Ausbildung, Erwerbstätigkeit und Ruhestand wird der Lebenslauf strukturiert. „Jugend“ und „Alter“ konstituieren sich als eigenständige Lebensphasen. Die Einkommensverteilung wird modifiziert, direkt durch die Geldleistungen und die bedarfsbezogene Bereitstellung von Sach- und Dienstleistungen, indirekt durch die Maßnahmen der regulativen Politik. Da die Finanzierung über Abzüge vom Markteinkommen erfolgt, stehen den Begünstigten immer auch Zahlende gegenüber. Welche Verteilungswirkungen von der Gesamtheit des sozialstaatlichen Arrangements ausgehen, lässt sich aber nur schwer feststellen, da die Interventionsziele und -wirkungen widersprüchlich sein können. Je nach Ausgestaltung der Sozialleistungen kann es zur Herausbildung auch neuer Ungleichheiten kommen, wenn etwa trotz gleicher Bedarfslagen einzelne Beschäftigten- und Bevölkerungsgruppen unterschiedlich behandelt werden. Sozialpolitik ist also einerseits Ergebnis von sozio-ökonomischen Umbrüchen, führt andererseits aber auch zu Veränderungen der Gesellschaft. Sie reagiert auf die Herausbildung veränderter Lebensverhältnisse und fördert diese wiederum. Und sie reagiert auf die sozialen Verwerfungen des Wirtschaftssystems, ist aber zugleich darauf angewiesen, dass durch Produktivitätsfortschritte und Wirtschaftswachstum ausreichende Finanzressourcen zur Verfügung stehen. Konflikte um die Sozialpolitik sind unvermeidbar. Vor allem die an den Risiken des Erwerbslebens ausgerichtete Funktionsbestimmung der Sozialpolitik stößt auf Widerstände: Regulierungen auf dem Arbeitsmarkt begrenzen die Nutzbarkeit und Verwertbarkeit der Arbeitskraft und beschneiden die Gewinnmöglichkeiten der Unternehmen. Mitbestimmungsrechte der Beschäftigten und der Gewerkschaften werden aus dieser Sicht als Eingriff in die Handlungsautonomie wahrgenommen. Und die marktexterne Existenzsicherung entkoppelt die Verfügung über Einkommen zumindest partiell von der Erwerbsbeteiligung. Der mit Abhängigkeit und Unsicherheit verbundene unbedingte Angebotszwang der Arbeitskraft auf dem Arbeitsmarkt lockert sich. Die Machtposition der Unternehmen auf dem Arbeitsmarkt wird begrenzt, die Kosten steigen und die Konkurrenzfähigkeit erscheint gefährdet. Dieser strukturelle Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit wird vor allem dann virulent, wenn die Sozialpolitik expandiert und/oder wenn Konjunktur- und Strukturkrisen eintreten. Sozialpolitik hebt die Funktionsprinzipien einer marktwirtschaftlich-kapitalistischen Wirtschaftsordnung jedoch nicht auf. Ihre Bedeutung liegt gerade darin, dass durch sozialpolitische Interventionen, die auf eine langfristige Perspektive angelegt sind und gesamtwirtschaftliche und gesamtgesellschaftliche Belange berücksichtigen, erst die Voraussetzungen für die Stabilität, Entwicklungsdynamik und politische Akzeptanz der Marktökonomie geschaffen und gesichert werden. Sozialpolitik zielt auf • •

den Schutz der Arbeitskraft gegen vorzeitigen Verschleiß (Schutzfunktion), die Verbesserung der Beschäftigungsfähigkeit und der qualifikatorischen Leistungsfähigkeit (Beschäftigungsfunktion),

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Sozialpolitik und soziale Lage

• •

die Förderung von Leistungsfähigkeit und -bereitschaft (Produktivitätsfunktion), die Abfederung des wirtschaftlichen Strukturwandels und die Begleitung ökonomischer und gesellschaftlicher Transformation (Innovationsfunktion), die Begrenzung sozialer und politischer Konflikte in Wirtschaft und Gesellschaft und damit auf die Sicherung des „sozialen Friedens“ (Integrationsfunktion).



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Interessen, Macht, Institutionen

„Die“ Sozialpolitik und „den“ Wohlfahrtsstaat gibt es ebenso wenig wie „den“ Kapitalismus. Zwar ist der Sozial- oder Wohlfahrtsstaat ein universelles Merkmal entwickelter kapitalistischer Marktgesellschaften. Aber selbst für jene Staaten der Europäischen Union, die in ihrer Geschichte eine vergleichbare sozial-ökonomische Entwicklung aufweisen und deren wirtschaftliche Leistungskraft in etwa gleich stark ist, gilt, dass trotz aller Gemeinsamkeiten auch große Unterschiede bestehen. Es zeichnen sich zwar Konvergenzen ab, wenn man nur die quantitativen Dimensionen (Anteil der Sozialausgaben am Sozialprodukt) berücksichtigt, aber dies ändert wenig an den unterschiedlichen Strukturen und Prinzipien sozial- und wohlfahrtsstaatlicher Gestaltung. Es unterscheiden sich u. a. die Ausformung der Arbeitsbeziehungen, die institutionellen Ausgestaltungsmerkmale von Leistungssystemen, der Kreis der geschützten Personen, die abgedeckten Risiken und Problemfelder, die Regulierungs- und Finanzierungsprinzipien sowie die Leistungsniveaus und -voraussetzungen. Insofern lässt sich nicht von einem einheitlichen „europäischen Sozialstaatsmodell“ sprechen. Je nach Ausdehnung und Ausformung von Sozialpolitik und Sozialstaatlichkeit verändert sich auch die Ausformung einer marktwirtschaftlich-kapitalistischen Wirtschaftsordnung. Im internationalen Vergleich wird sichtbar, dass nicht nur zwischen einzelnen Typen von Sozial- und Wohlfahrtsstaaten, sondern auch zwischen Varianten des Kapitalismus unterschieden werden muss. Diese Divergenzen können mit der rein funktionalistischen Analyse der Entstehungsgeschichte und Entwicklungsdynamik der Sozialpolitik (Sozialpolitik als Antwort auf die sozialen Folgewirkungen der kapitalistischen Ökonomie und auf den Bedeutungsverlust traditionaler Hilfssysteme) nicht erklärt werden. Offensichtlich werden funktionale Herausforderungen in den jeweiligen nationalen Kontexten unterschiedlich gelöst. Es wird im politischen Prozess darüber befunden, welche Probleme wie bearbeitet werden sollen. Was soll der Markt regeln, was ist Privatangelegenheit, wofür ist der Staat zuständig, wie sollen die Regelungen aussehen ? Die Antwort auf diese Fragen hängt vor allem von der Artikulations- und Durchsetzungsfähigkeit der Betroffenen und ihrer Interessenverbände ab. Es kommt auf die jeweiligen Problemdeutungen, Werthaltungen, Interessen und vor allem auf die Durchsetzungsmacht an. Historisch gesehen haben hierbei die Konflikte und Kompromisse in der Auseinandersetzung zwischen Kapital und Arbeit und die Stärke der politischen und ge-

Interessen, Macht, Institutionen

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werkschaftlichen Arbeiterbewegung eine besondere Bedeutung. Zugleich hängt die Ausgestaltung der Sozialpolitik davon ab, welche politische Orientierung und welches (Wahl)Verhalten die Mittelschichten aufweisen. Es kommt also auch auf Macht, Einfluss und Programmatik konservativer und liberaler Parteien und der entsprechenden politischen Strömungen an. Von hohem Gewicht sind darüber hinaus der Einfluss von Kirchen und Religionsgemeinschaften sowie jene Argumentations- und Deutungsmuster der Wissenschaft bzw. von Wissenschaftler:innen, die die öffentliche Meinung beeinflussen und handlungswirksam werden können. Nicht zuletzt spielt es eine entscheidende Rolle, auf welche kulturellen Traditionen die Zivilgesellschaften zurückgreifen können und welche politischen Ereignisse die Geschichte eines Landes prägen. Vor allem die beiden Weltkriege haben in den Ländern Europas, auch und gerade in Deutschland, einen weitreichenden sozialpolitischen Handlungsdruck erzeugt. Kriegsvorbereitung, Kriegsführung und vor allem die Kriegsfolgen lassen sich als starke Triebkräfte für die Ausweitung der Sozialpolitik auf neue Felder und Personengruppen identifizieren. Dies gilt u. a. für die materielle und gesundheitliche Versorgung von Kriegsopfern, Behinderten und Flüchtlingen sowie für den Wohnungsbau, das Gesundheitswesen und die Familienpolitik. Die gesetzliche Ausformung sozialpolitischer Regelungen, Leistungen und Bürokratien ist insofern ein Ergebnis von politischen Auseinandersetzungen, Koalitionen und Kompromissen. Es entwickeln sich institutionelle Arrangements und administrative Strukturen des Sozialstaates einschließlich der Arbeitsbeziehungen, die wiederum eingebunden sind in die Struktur der Staatlichkeit insgesamt (Zentralstaat oder föderaler Staat, Autonomiegrad der Kommunen, Demokratieform, Wahlsystem), in das Rechtssystem (Verfassung, Gesetzgebungsverfahren und Rechtsprechung) sowie in das Verhältnis von Staat zu Kirchen, Wohlfahrtsverbänden und Tarifparteien. Die so entstehenden institutionellen Komplementaritäten sind komplex: Zwischen der Ordnung von Arbeitsmarkt und Arbeitsverhältnissen, dem System der Arbeitsbeziehungen auf betrieblicher und überbetrieblicher Ebene, dem System der sozialen Sicherung, dem System der schulischen und beruflichen Ausbildung sowie dem Produktionsregime bestehen Wechselbeziehungen Einmal getroffene Grundentscheidungen hinsichtlich der Leistungs- und Finanzierungsprinzipien sowie der Organisationsform des Systems der sozialen Sicherung haben eine prägende Wirkung für die Weiterentwicklung der Sozialpolitik. Sie wirken im Sinne einer „Pfadabhängigkeit“ fort, da auch die Institutionen, z. B. die Versicherungsträger, Eigeninteressen entwickeln und selbst zu eigenständigen Akteuren werden. Grundlegende Richtungsänderungen, die einen radikalen Systemwechsel einleiten, sind schon wegen ihrer unübersehbaren administrativen und finanziellen Folgen schwer durchsetzbar. Eher kommt es zu jenen Veränderungen im Sinne eines Paradigmenwechsels, die von „innen“ her erfolgen, indem in die bestehenden Systeme neue Elemente eingebaut werden, die schrittweise deren Charakter und Funktionsweise verändern. Dies ist beispielsweise dann der Fall, wenn Leistungen der So-

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Sozialpolitik und soziale Lage

zialversicherung eingeschränkt werden und private Sicherungsformen oder auch Fürsorgeleistungen die Versorgungslücken schließen sollen.

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Der normative Hintergrund

5.1

Freiheit, Gleichheit, Sicherheit

Die konkrete Ausgestaltung von Sozialpolitik ist immer auch Ausdruck von Leitbildern und Wertvorstellungen. Soziale Probleme sind nicht per se vorhanden, sondern sie werden sozial konstruiert und konstituiert, d. h. sie werden erst in einem politischen Prozess entdeckt und definiert. Anlass und Gegenstand dieses politischen Diskussions- und Verhandlungsprozesses sind jeweils sowohl quantitative (z. B. Zahlen, Wirkungen) wie qualitative Argumente (z. B. Wertentscheidungen, öffentliches Problembewusstsein, Einschätzung marktlicher Sicherungsformen oder von individuellen bzw. familiären Hilfepotenzialen). Mit anderen Worten: Welcher Hilfe- und Unterstützungsbedarf für welchen Lebenslagenbereich, wie und in welcher Form letztlich durch Sozialpolitik abgedeckt wird, hängt nicht allein von „objektiven“ Bedarfslagen und sozioökonomischen Verhältnissen ab. Vielmehr entscheiden gesellschaftliche und weltanschauliche Normen sowie übergeordnete politische und soziokulturelle Vorstellungen darüber, ob und welche sozialen Risiken und Probleme überhaupt als solche anerkannt sowie welche Maßnahmen und Einrichtungen dann auch angeboten und finanziert werden. Die Frage, was als gesellschaftliches Problem und Risiko anerkannt und als veränderungsbedürftig betrachtet wird und was als privates Problem angesehen wird und in Eigenverantwortung oder über den Markt gelöst werden muss, ist deshalb zutiefst politischer und damit normativer Natur. Die theoretisch möglichen wie praktisch umgesetzten Antworten auf diese Frage fallen oftmals sehr unterschiedlich aus. Eine zentrale Rolle spielen dabei die jeweiligen Vorstellungen von sozialer Gerechtigkeit. Auch wenn die Forderung nach sozialer Gerechtigkeit beständiger Begleiter sozialpolitischer Debatten ist, so ist doch offensichtlich, dass es keinen Konsens darüber gibt, was darunter konkret zu verstehen ist. Soziale Gerechtigkeit wird ganz unterschiedlich definiert. Es geht um normative Grundentscheidungen, wenn über den Umfang, die Zielrichtung und Gestaltung sozialpolitischer Arrangements verhandelt und entschieden wird. Die Vorstellung von sozialer Gerechtigkeit unterscheidet sich vor allem darin, welches Gewicht den drei zentralen normativen Zielen von Sozialpolitik, nämlich Freiheit, Sicherheit und Gleichheit, zugemessen wird. Je nach Priorität lassen sich dann verschiedene Grundmuster sozialer Gerechtigkeit bestimmen: Wird Freiheit – insbesondere die Bedeutung der Eigenverantwortlichkeit der wohlfahrtsstaatlichen Adressaten – betont, handelt es sich um einen liberalen Begriff sozialer Gerechtigkeit. Wird das Ziel Sicherheit – z. B. als Schutz bestehender Familien- und Sozialstruktu-

Der normative Hintergrund

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ren – in den Vordergrund gestellt, ist der Begriff sozialer Gerechtigkeit vorwiegend sozialkonservativ geprägt. Liegt die Betonung dagegen auf Gleichheit als Ziel des Sozialstaats, so haben wir es mit einem sozialistisch oder sozialdemokratisch orientierten Begriff von sozialer Gerechtigkeit zu tun. Die Frage ist, ob es einen grundsätzlichen Zielkonflikt insbesondere zwischen Freiheit auf der einen und Sicherheit bzw. Gleichheit auf der anderen Seite gibt. Schaut man genauer hin, schließen sich die drei Kernziele einander nicht zwingend aus. Es kann sich auch um komplementäre Zielvorstellungen handeln – das eine Ziel ist ohne das andere nicht denkbar und erreichbar, Freiheit nicht ohne Sicherheit und nicht ohne ein gewisses Maß an realisierter sozialer Gleichheit. Umstritten allerdings ist, welches Maß an Gleichheiten als erwünscht oder notwendig angesehen wird bzw. welche Minderung von Ungleichheit angestrebt werden soll. Die Gerechtigkeitsvorstellung der absoluten Gleichheit hat zum Ziel, dass in einer demokratischen Gesellschaft alle Menschen die gleichen individuellen bürgerlichen, politischen und auch sozialen Rechte haben. Gleichheit in den Lebens- und Einkommenslagen kann es hingegen nicht geben, da dies weder Rücksicht auf die individuelle Leistung noch auf die tatsächlichen Bedarfe nimmt. Statt absoluter prägt deshalb die Idee relativer Gleichheit den Großteil der Vorstellungen von sozialer Gerechtigkeit. Diese Gerechtigkeitsidee geht grundlegend von einer sozialen Ungleichverteilung der Lebenslagen aus und betrachtet diese – bei Vorliegen spezifischer Gründe – auch als legitim und gerecht. 5.2

Leistungsgerechtigkeit und Bedarfsgerechtigkeit

Ungleichheit gilt dann als gerecht, wenn sie das Ergebnis von Unterschieden in der Leistung ist. Dieses Konzept der Leistungsgerechtigkeit liegt z. B. dem bekannten Prinzip „gleiche Leistung, gleiches Einkommen“ zugrunde. Es ist jedoch auch hier von gesellschaftlichen Definitionen abhängig, was als Leistung verstanden und wie Leistung gemessen und schließlich bewertet werden soll. Wenn Leistungsgerechtigkeit mit der Vorstellung verbunden ist, dass der Markt automatisch eine leistungsgerechte Verteilung der Arbeitseinkommen erzeugt, dann bleibt unberücksichtigt, dass auch andere Faktoren die Entlohnung bestimmen, dies gilt insbesondere für die Machtund Knappheitsverhältnisse am Arbeitsmarkt. Die These, niedrige Verdienste seien ein Ausdruck niedriger Leistungen und hohe Verdienste seien auf hohe Leistungen zurückzuführen, basiert auf einer fragwürdigen Unterstellung. Denn wenn die Leistungsunterschiede ihrerseits wieder an den Einkommensunterschieden bemessen werden, liegt ein klassischer Zirkelschluss vor, der Einkommen an Leistung und Leistung wiederum an Einkommen misst. Die Forderung nach „mehr Leistungsgerechtigkeit“ bei der Entlohnung begleitet die Tarifverhandlungen zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern. Wie soll die „Leistung“ einzelner Personengruppen, unterschieden nach Qualifikation, Berufen

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Sozialpolitik und soziale Lage

und Branchen, bewertet werden ? Welche Werturteile fließen ein, wenn die Bezahlung einer Krankenschwester mit einem Elektriker oder gar einem Fluglotsen verglichen wird ? In welchem Verhältnis steht das Lohnniveau zu den Gewinnen der Unternehmen ? Kontrovers geht es auch zu, wenn über den Leistungsbezug von Sozialeinkommen verhandelt wird: Sollen sich die Sozialeinkommen derjenigen Menschen, die wegen Arbeitslosigkeit, Invalidität, Krankheit oder Alter kein Erwerbseinkommen beziehen, an der vormaligen Einkommensposition orientieren und wenn ja in welchem Maße ? Diese Hinweise zeigen, dass das Konzept der Leistungsgerechtigkeit keine abschließende Aussage darüber zulässt, welches Ausmaß an Ungleichheit in der Einkommensverteilung wirklich den individuellen Leistungen entspricht oder ob Korrekturen vorgenommen werden müssen. Das ist nicht zuletzt ein Streitpunkt bei der Finanzierung der Sozialpolitik: Wer soll wie stark durch Steuern und Beiträge belastet werden ? Wenn Bedarfsgerechtigkeit eingefordert wird, dann soll sichergestellt werden, dass der jeweilige Bedarf der Gesellschaftsmitglieder an Gütern und Dienstleistungen gedeckt ist. Begründet wird die Notwendigkeit einer bedarfsgerechten Verteilung der Produktionsergebnisse mit dem Verweis, dass nur eine Bedarfsdeckung die Geltung materieller Freiheit gewährleistet. Erst durch eine „angemessene“ oder „ausreichende“ Ressourcenausstattung aller Bürgerinnen und Bürger sind diese in der Lage, ihre formellen Freiheitsrechte auch zu realisieren und zu nutzen. Auch beim Konzept der Bedarfsgerechtigkeit muss definiert werden, was als Bedarf verstanden, wie Bedarf gemessen und wessen Bedarf berücksichtigt werden soll. Eine leistungs- und einkommensunabhängige, bedarfsorientierte Verteilung eines Teils des Sozialprodukts liegt insbesondere der gesundheitlichen und pflegerischen Versorgung sowie dem Angebot von sozialen Diensten zugrunde. Hier werden die Bedarfe absolut definiert, d. h. als gesellschaftlich anerkannte Bedarfe, die u. a. dem jeweils fachlich Notwendigen entsprechen. Bedarfsgerechtigkeit spielt darüber hinaus eine zentrale Rolle bei der der Sicherung des Existenzminimums. Soziale Ungleichheit soll nicht dazu führen, dass einzelne Mitglieder der Gesellschaft in Gefahr geraten, unterhalb eines Existenzminimums zu leben. Wiederum offen bleibt jedoch auch hier, welche Arten von Bedürfnissen berücksichtigt werden sollen, wie eine „angemessene“ Höhe der Leistung aussehen soll und unter welchen Bedingungen Anspruch auf eine existenzsichernde Sozialleistung besteht. Dass hier ein gesellschaftlicher Konsens gefunden wird, ist keineswegs selbstverständlich.

Der normative Hintergrund

5.3

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Chancengerechtigkeit, Teilhabegerechtigkeit, Generationengerechtigkeit

Leistungs- und Bedarfsgerechtigkeit sind Maßstäbe einer ergebnisbezogenen Verteilungsgerechtigkeit. Dem gegenüber steht die Gruppe von prozessbezogenen Maßstäben, die die Rechte der gesellschaftlichen Teilnahme und Teilhabe thematisieren. Im Mittelpunkt steht hier die Forderung nach Chancengerechtigkeit: Allen Menschen sollen unabhängig von ihrer sozialen Herkunft gleiche Ausgangsbedingungen gewährleistet werden. Dies ist ein Thema vor allem in der Bildungspolitik. Das Einkommens- und Bildungsniveau der Eltern soll keinen Einfluss auf die Entwicklung der Kinder und Jugendlichen haben. Offen bleibt, wie Benachteiligungen in der Ressourcenausstattung ausgeglichen werden und auf welchen Stufen des Bildungs- und Lebensverlaufs Fördermaßnahmen (erneut) greifen sollen. Umfassender, aber noch unbestimmter, ist das Postulat einer Teilhabegerechtigkeit, das die ungehinderte Teilhabe aller Bürgerinnen und Bürger am gesellschaftlichen und sozialen Leben insgesamt und am Arbeitsmarkt im Besonderen in den Blick nimmt. Nicht die Ergebnisse, sondern die Befähigung und die Möglichkeit zum Handeln stehen hier im Vordergrund. Der Ausschluss aus dem Arbeitsmarkt in Form von Arbeitslosigkeit steht deshalb im Widerspruch zur Teilhabegerechtigkeit, die Eingliederung in Beschäftigung hat höchste Priorität. Unbeantwortet bleibt dabei allerdings, welche Qualität die Teilhabe aufweisen soll: Geht es beispielsweise um eine Integration in den Arbeitsmarkt auch um den Preis von Niedriglöhnen, oder muss doch die Einkommensverteilung berücksichtigt werden, da in einer Marktgesellschaft die soziale und gesellschaftliche Teilhabe von einem ausreichenden Einkommen abhängt ? Das Konzept der Teilhabegerechtigkeit ist Teil eines Inklusionsideals moderner Gesellschaften, wonach jedes Mitglied unabhängig von ethnischer Herkunft, Religion, Alter, Behinderungen, Geschlecht und sexueller Orientierung in die gesellschaftlichen Teilsysteme einbezogen ist. Inklusion ist dabei mehr als Integration und Verbot von Diskriminierung. Während die Integration davon ausgeht, dass eine Gesellschaft aus einer relativ homogenen Mehrheitsgruppe und einer kleineren Außengruppe besteht, die in das bestehende System integriert werden muss, betrachtet Inklusion alle Menschen als gleichberechtigte Individuen, die von vornherein und unabhängig von persönlichen Merkmalen oder Voraussetzungen Teil des Ganzen sind. Hier müssen sich nicht die Außenstehenden dem System anpassen, sondern die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen müssen so flexibel gestaltet sein, dass sie jedem Einzelnen eine Teilhabe ermöglichen. Relativ neu ist die Forderung nach einer Generationengerechtigkeit. Hier geht es nicht nur darum, die durch den Sozialstaat geformten Einkommens- und Lebensbedingungen zwischen den Angehörigen unterschiedlicher Altersgruppen, konkret zwischen Jung und Alt, zu vergleichen und wenn erforderlich auszugleichen. Unter dem Eindruck des demografischen Umbruchs wird befürchtet, dass die nachrückenden jüngeren, aber schwächer besetzten Jahrgänge (Kohorten) benachteiligt werden,

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Sozialpolitik und soziale Lage

da sie finanziell immer stärker belastet werden, um die Einkommen der stärker besetzten älteren Jahrgänge zu finanzieren. Fraglich ist allerdings, ob es sich hier tatsächlich um ein allgemeines Gerechtigkeitsproblem handelt, da es im Verlauf der geschichtlichen Entwicklung eine „Gleichheit“ von Kohorten hinsichtlich kritischer Lebensereignisse, ihrer Lebens- und Einkommensbedingungen sowie ihrer Behandlung durch den Sozialstaat überhaupt nicht geben kann. Die Maßstäbe und Kriterien sozialer Gerechtigkeit stehen in keinem ausschließenden Verhältnis zueinander. Die Praxis und Geschichte der Sozialpolitik zeigt, dass ein wesentliches Moment des Sozialstaats seine Widersprüchlichkeit ist. So wird in einem Politikfeld die Vereinbarkeit von Familie und Beruf gefördert, während in einem anderen Politikfeld Regelungen implementiert oder erhalten werden, die diesem Ziel eher entgegenstehen. Diese strukturelle Widersprüchlichkeit ist zum einen der Komplexität sozialer Wirklichkeit geschuldet und zum anderen Ergebnis des erwähnten Umstands, dass Sozialpolitik abhängig ist von unterschiedlichen Interessen und von Kompromissen im politischen Aushandlungsprozess bei sich wandelnden Kräfteverhältnissen.

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Wohlfahrtsstaaten im internationalen Vergleich

Um die Vielfalt sozialstaatlicher Arrangements bzw. Regime der einzelnen Staaten zu systematisieren, kann versucht werden, Typologien im Sinne von Idealtypen zu entwickeln, um dadurch die grundlegenden Unterschiede und Strukturelemente von Wohlfahrtsstaaten zu erkennen und zu erklären. Der bekannte Typisierungsansatz von Esping-Andersen schlägt folgende drei Kriterien für die Unterschiede zwischen den Wohlfahrtsstaaten vor: •

das Mischungsverhältnis zwischen öffentlicher, staatlicher Sicherung, familiären Hilfs- und Unterstützungsleistungen und marktlicher Wohlfahrtsproduktion; • der Grad der marktunabhängigen Existenzsicherung und der Einschränkung des Warencharakters der Arbeitskraft („De-Kommodifizierung“), d. h. die Stärke der Entkopplung von Einkommen und sozialer Sicherheit vom (Arbeits)Markt hinsichtlich Zugangsvoraussetzungen, Anspruchsrechten sowie Leistungshöhe; • die Aus- und Rückwirkungen sozialpolitischer Einkommens- und Dienstleistungen auf die Sozialstruktur der Gesellschaft und die Ausprägung bzw. Reduzierung sozialer Ungleichheiten. Entlang dieser Kriterien lassen sich drei Wohlfahrtsstaatregime typisieren (vgl. Übersicht I.1): •

Der liberale Typus setzt auf die Marktkonformität bei Organisation, Gestaltung und Ausmaß sozialpolitischer Leistungen und auf einen geringen Einfluss des

Wohlfahrtsstaaten im internationalen Vergleich

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Staates. Er verlangt von den Bürger:innen die Übernahme von Eigenverantwortung, da die öffentlich bereitgestellten Sozialleistungen niedrig ausfallen und obendrein vielfach einer Bedürftigkeitsprüfung unterliegen. Entsprechend stark verbreitet sind marktliche Angebote und die (notwendige und ergänzende) Rolle der und die Unterstützung durch die Familie. Das Maß der sozialen Ungleichheit bleibt hoch und ist marktbestimmt. • Der konservative Typus ist durch einen paternalistischen Interventionsstaat und den Einfluss der Kirchen charakterisiert. Die soziale Sicherung basiert auf der beitragsfinanzierten Sozialversicherung, deren Zugang an die Lohnarbeit gebunden ist. Die Leistungen aus der Sozialversicherung hängen in ihrer Höhe und Qualität von der Position auf dem Arbeitsmarkt ab. Ehefrauen werden über ihren Mann abgesichert. Andere Nicht-Erwerbstätige werden subsidiär auf die Familie oder auf Fürsorgeleistungen verwiesen. Die soziale Sicherung ist also stark an Klasse und Beruf gebunden, so dass Statusunterschiede reproduziert werden. • Der skandinavische, sozialdemokratische Typus zielt auf eine universalistische Wohlfahrtsverantwortung des Staates. Die soziale Sicherung ist im starken Maße markt- und statusunabhängig gestaltet, Anspruchsgrundlage bilden die allgemeinen Bürgerrechte. Die Absicherung von Frauen ist eigenständig und beruht auf der Teilnahme am Arbeitsmarkt. Das Sozialleistungsniveau ist hoch, die Sicherungsfunktion der Familie gering. Die Einkommensumverteilung fällt umfassend aus, der Wohlfahrtsstaat begrenzt die Klassen- und Statusunterschiede. Die einzelnen Staaten lassen sich nicht eindeutig einem der drei Idealtypen zuordnen. In der Praxis finden sich in der Regel eher Mischverhältnisse. Gleichwohl lassen sich Trendaussagen treffen: Für den liberalen Typus stehen vor allem die USA und in Europa Großbritannien und Irland, der konservative Typus ist für Länder wie Deutschland, Österreich und Frankreich charakteristisch und der skandinavische Typus wird durch Länder wie Schweden, Norwegen und Dänemark repräsentiert. Unberücksichtigt bleiben in dieser Typologie die südeuropäischen Staaten, die sich wie Spanien, Portugal und Griechenland als nachholende Wohlfahrtsstaaten bezeichnen lassen und in denen traditionelle Sozialstrukturen und Sicherungsinstitutionen, so insbesondere die Familie, eine große, aber schwindende Bedeutung haben. Unberücksichtigt bleiben des Weiteren die Staaten aus Mittel- und Osteuropa, die den Transformationsprozess von der sozialistischen Planwirtschaft zur Marktwirtschaft zu bewältigen hatten. Sie gestalten auch ihr Sozialsystem um, ohne dass einheitliche Strukturmerkmale zu erkennen sind. Die Typologisierung sieht sich darüber hinaus mit dem Problem konfrontiert, dass im Kern nur die sozialpolitischen Geldleistungen im Blickfeld stehen und andere, aber wesentliche Elemente von Wohlfahrtsstaaten wie die Arbeitsbeziehungen, das Gesundheitswesen und die sozialen Dienste weitgehend unbeachtet bleiben. Zudem sind die Regimezuordnungen nicht statisch, gelten also nicht auf Dauer. Was Anfang der 1990er Jahren von Esping-Andersen diagnostiziert wurde, sieht 30 Jah-

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Sozialpolitik und soziale Lage

re später womöglich anders aus. So zeigen sich in den einzelnen Staaten sehr unterschiedliche Entwicklungsverläufe der Sozialpolitik, die den Mix zwischen den liberalen, konservativen und skandinavischen Elementen des Sozialstaats verändern. Dazu einige Beispiele: So lässt sich insgesamt eine Ausweitung der Privatisierung der sozialen Sicherung und der marktlichen Wohlfahrtsproduktion erkennen. Zugleich kommt es zu einer Abschwächung der De-Kommodifizierung. Es ist aber auch sichtbar, dass in einzelnen skandinavischen Ländern (so Schweden) die soziale Sicherung in Richtung einer beitragsfinanzierten Sozialversicherung umgebaut worden ist. In Deutschland wiederum gewinnen durch die Förderung der privaten Altersvorsorge die marktlichen Elemente und durch die Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe die fürsorgeförmigen Elemente an Gewicht.

Übersicht I.1 Typen und Dimensionen des Wohlfahrtsstaats Variablen

liberal

konservativ

skandinavisch

De-Kommodifizierung (Voraussetzungen und Höhe einer arbeitsmarktexternen Einkommenssicherung)

schwach

mittel

stark

Regulierung des Arbeitsmarktes (Reichweite arbeitsrechtliche Beschränkungen)

schwach

stark

stark

Residualismus (Bedeutung von Fürsorgeleistungen)

stark

schwach

schwach

Privatisierung (Ausgaben für marktliche Vorsorge- und Versicherungsleistungen)

stark

schwach

schwach

Statusbezug/Korporatismus (Differenzierung der sozialen Sicherung nach Berufsgruppen)

schwach

stark

schwach

Umverteilungswirkungen (Leistungshöhe von Transfers und Ausgestaltung des Steuersystems)

schwach

mittel

stark

Beschäftigungspolitik (Maßnahmen der aktiven Beschäftigungspolitik)

schwach

stark

stark

Quelle: In Anlehnung an: Kohl, J., Der Wohlfahrtsstaat in vergleichender Perspektive. Anmerkungen zu Esping-Andersen’s ‚Three Worlds of Welfare Capitalism‘, in: Zeitschrift für Sozialreform, 2/1993, S. 67.

Sozialpolitik in Deutschland

7

Sozialpolitik in Deutschland

7.1

Entstehungszusammenhang und Entwicklungslinien

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Die spezifischen Ausprägungen, institutionellen Formen und Prinzipien des deutschen Sozialsystems lassen sich nur im historischen Kontext verstehen. Der Beginn staatlicher Sozialpolitik ist untrennbar mit dem Übergang zur kapitalistischen Produktionsweise verbunden. Bis dahin prägten familiäre Unterstützung, kommunale Armenfürsorge und ständische Sicherungseinrichtungen der Zünfte das Bild der mittelalterlichen und spätfeudalen Gesellschaft bis ins 19. Jahrhundert. Die gesellschaftliche Umwälzung infolge der Durchsetzung der kapitalistischen Produktionsweise bewirkte einen tiefgreifenden Strukturwandel der sozialen Risiken selbst und entzog zugleich den traditionellen Sicherungsformen rasch und nachhaltig die soziale und ökonomische Grundlage. Insbesondere die Industrialisierung und die damit einhergehende Einbeziehung wachsender Teile der Bevölkerung in das System lohnabhängiger Erwerbsarbeit schuf eine von Grund auf neue Sozialstruktur und damit verbundene soziale Probleme. Es waren vor allem die Arbeiterschaft und ihre politischen und gewerkschaftlichen Organisationen, die sich seit Mitte des 19. Jahrhunderts mit sozialpolitischen Forderungen an den Staat wandten. Diese richteten sich zunächst vornehmlich auf direkte staatliche Eingriffe in den Produktionsprozess etwa durch zeitliche Beschränkung des Arbeitstages, Verbot der Kinderarbeit und sonstige Arbeitsschutzvorschriften. Der Staat reagierte auf diesen sozialen Druck mit einer im Grundsatz kompensatorischen Befriedungsstrategie, die in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts in der Sozialversicherungspolitik unter Bismarck zum Ausdruck kam. Demgegenüber fand die Forderung nach präventiven, die Verfügungsgewalt des Kapitals über die menschliche Arbeitskraft einschränkenden sozialpolitischen Interventionen zunächst kaum Berücksichtigung. Doch trug der paternalistische, spätfeudale Staat durch die Einrichtung von Sozialversicherungsinstitutionen dem Tatbestand Rechnung, dass die Reproduktion der abhängig Beschäftigten und ihrer Angehörigen nicht von selbst durch marktvermitteltes Einkommen gewährleistet ist, sondern einer kollektiven Regelung bedarf. Neben diesem zentralstaatlich initiierten und regulierten Versicherungssystem, das an den Risiken der Lohnarbeit ansetzte (Arbeiterpolitik), kam der auf kommunaler Ebene angesiedelten Armenfürsorge erhebliche Bedeutung zu. Während sie in der Industrialisierungsphase den Prozess der Proletarisierung aktiv abstützte, entwickelte sie sich im Zuge des Ausbaus der Sozialversicherung immer mehr zur letzten Sicherung für diejenigen, denen die (dauerhafte) Eingliederung in das System der lohnabhängigen Erwerbsarbeit nicht gelang und ein Rückgriff auf die Familie nicht möglich war. Die Arbeiterversicherungspolitik und die Armenpolitik bildeten so zwei gegensätzlich konstruierte, aber sachlich eng miteinander verknüpfte Systeme staatlicher Sozialpolitik.

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Sozialpolitik und soziale Lage

Die staatliche Sozialpolitik in Deutschland hat bis zum Ende des 2. Weltkriegs – beginnend im Kaiserreich über die Weimarer Republik bis zum Nationalsozialismus – einen wechselvollen Verlauf genommen. Die Entwicklung nach dem 1. Weltkrieg, gekennzeichnet durch Novemberrevolution 1918 und die Gründung der Weimarer Republik, stellte einen wichtigen Wendepunkt in der Entwicklung der sozialstaatlichen Strukturen in Deutschland dar. In die Weimarer Reichsverfassung wurde die Soziale Sicherung erstmals als Staatsziel aufgenommen. Die Gewerkschaften wurden von den Arbeitgeberverbänden als Vertreter der Arbeiterschaft und Tarifverträge als Instrument zur Regelung der Arbeitsbedingungen anerkannt. Betriebsräte wirkten als Interessenvertretungen und erhielten erste Mitwirkungs- und Mitbestimmungsrechte. Insgesamt lässt sich in dieser Zeitspanne ein eher zögerlicher Ausbau feststellen, der sich primär auf die Arbeitnehmerrisiken, d. h. die soziale Sicherung der abhängig Beschäftigten und ihre Familienangehörigen, erstreckte. Die Entwicklung wurde zudem von teilweise dramatischen Rückschlägen unterbrochen: Inflation, Weltwirtschaftskrise, nationalsozialistische Machtübernahme. Insgesamt blieb – aus heutiger Sicht betrachtet – das Leistungsniveau notdürftig und das Leistungsspektrum auf wenige Risiken und Bevölkerungsgruppen beschränkt. Erst in der Nachkriegszeit, mit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland, kam es zur eigentlichen Expansion der Sozialpolitik. Zwar wurde an bestehende Vorkriegsstrukturen und -institutionen angeknüpft, durch ihren umfassenden quantitativen Ausbau erreichte die Sozialpolitik jedoch eine neue Qualität. Besonders zu erwähnen sind der Ausbau der Versorgungsstandards im Gesundheitswesen, die Betonung von Prävention und Rehabilitation, die Bereitstellung eines breiten Spektrums professioneller sozialer Dienste und Einrichtungen, die Einleitung einer aktiven Arbeitsmarkt- und Qualifizierungspolitik, die Forcierung einer auf Chancengleichheit orientierten Bildungspolitik, die Ansätze zur Humanisierung der Arbeitswelt sowie die Einführung des Familienleistungsausgleichs. Die bestehenden Sozialversicherungszweige wurden in Bezug auf ihren Deckungsgrad, die Art der geschützten Risiken, den erfassten Personenkreis und die Höhe des Leistungsniveaus weiterentwickelt, und durch die Einführung der dynamischen Rente im Jahr 1957 kam das Prinzip der Lebensstandardsicherung zum Durchbruch. Insgesamt verstärkte sich die Dominanz des Sozialversicherungsprinzips im System der sozialen Sicherung. Auf der anderen Seite wurde durch die Sozialhilfe eine Form der Grundsicherung geschaffen, die zwar von der Sozialversicherung abgeschottet blieb, die traditionellen Elemente der Armenfürsorge allerdings stark einschränkte und die Bedeutung individueller sozialer Hilfen unterstrich. Auch Fragen der Arbeitsbeziehungen und der Mitbestimmung spielten in der Nachkriegszeit und den ersten Jahren der Bundesrepublik eine zentrale Rolle. Das Tarifvertragsgesetz (1949) bildete den rechtlichen Rahmen für das entstehende dichte Netz von Tarifverträgen. Die paritätische Mitbestimmung in der Montanindustrie

Sozialpolitik in Deutschland

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(1951) und das Betriebsverfassungsgesetz (1952) sicherten den Arbeitnehmervertretungen Einflussmöglichkeiten auf Betriebs- und Unternehmensebene. Die Ausbauphase der Sozialpolitik, die in den Jahren der großen Koalition (1966 – 1969) und der sozial-liberalen Koalition (1969 – 1982) ihren Höhepunkt fand, wurde gegen Ende der 1970er Jahre durch eine fiskalisch motivierte Politik von Leistungsänderungen und -kürzungen abgelöst, denen aber auch einzelne Leistungsausweitungen und -verbesserungen gegenüberstanden (so vor allem im Bereich der Familienpolitik, der Kinder- und Jugendhilfe und der sozialen Dienste und Einrichtungen). Trotz der Einschnitte blieben die Grundlagen des Systems insgesamt erhalten. Auch die Spar- Kürzungspolitik der konservativ-liberalen Koalition (1982 – 1998) bewegte sich im Wesentlichen im Rahmen der vorhandenen und akzeptierten Strukturen, durch die Einführung der Pflegeversicherung als nunmehr fünfter Zweig der Sozialversicherung kam es Mitte der 1990er Jahre sogar noch zu einer weiteren Ausdehnung des Sozialversicherungsprinzips. Einen massiven Bedeutungszuwachs erlebte die Sozialpolitik durch den Prozess der deutschen Einigung ab 1998. Binnen kürzester Zeit wurde das gesamte westdeutsche Wirtschafts- und auch Sozialsystem auf die neuen Bundesländer übertragen. Der Sozialpolitik fiel die gesellschaftspolitisch wichtige Aufgabe zu, den ökonomischen Transformationsprozess von der sozialistischen Plan- zur kapitalistischen Marktwirtschaft abzufedern. Durch einen außerordentlich hohen sozialpolitischen Mitteleinsatz – und zwar insbesondere im Bereich der Arbeitsmarktpolitik – gelang es, die sozialen Folgeprobleme des Systemwechsels, der zu einem Zusammenbruch der ostdeutschen Wirtschaft führte, zu begrenzen und zu kanalisieren. Zugleich kam es zu erheblichen Verbesserungen im Versorgungs- und Leistungsniveau; vor allem die ältere Generation zählt zu den Gewinnern des Vereinigungsprozesses. Die Finanzierung dieser expansiven Sozialpolitik erfolgte in erster Linie durch Transfers aus den alten Bundesländern mit der Folge steil ansteigender Steuer- und vor allem Beitragsbelastungen. Unumstritten war der Ausbau des Systems der sozialen Sicherung nie. Insbesondere Menschen, die keiner staatlichen Absicherung bedürfen, um in Sicherheit zu leben, stehen einer ausgebauten Sozialpolitik und der Schmälerung ihrer Einkommen durch Steuer- und Beitragsabzüge oftmals kritisch gegenüber; das gleiche gilt für Unternehmen, die sich in ihrer einzelwirtschaftlichen Logik gegen die Einschränkung des Warencharakters der Arbeitskraft, die Regulierung des Arbeitsmarktes und ihren Finanzierungsbeitrag zur Sozialpolitik wenden. Allerdings kommt die Kritik an Reform- und Expansionsmaßnahmen nicht nur aus den Reihen von „Reichen“ und „Arbeitgebern“. Zustimmung oder Ablehnung hängen nicht zuletzt davon ab, wer in welchem Umfang im sozialpolitischen Verteilungskonflikt nicht (hinzu-)gewinnt – und dies kann auch die Arbeiterschaft oder die Mittelschicht sein. Daher waren auch in der sozialpolitischen Ausbauphase Reformen teilweise hart umstritten.

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Sozialpolitik und soziale Lage

Obgleich also Sozialpolitik als ein konfliktreiches Politikfeld gelten kann, ist für die Sozialpolitik in der Bundesrepublik bis etwa 2000 eher ein sozialer Grundkonsens typisch. Diese „Große Koalition der Sozialpolitik“ umfasste alle zentralen Akteure: neben den großen Volksparteien in erster Linie die Gewerkschaften, die Kirchen, die Wohlfahrtsverbände und auch die Arbeitgeberverbände. Die korporatistische Form der Sozialpolitik – dies betrifft vor allem die von den Gewerkschaften und Arbeitgebern paritätisch besetzte Selbstverwaltung in der Sozialversicherung sowie die Einbindung der privaten Anbieter von medizinischen und sozialen Leistungen in das System von Krankenversicherung und kommunaler Sozialpolitik – trug zu dieser Stabilität maßgeblich bei. „Sozialpartnerschaft“ und „Wohlfahrtskorporatismus“ sind die Charakteristika dieser Periode. Die Nähe zwischen SPD und CDU, was die Sozialpolitik betrifft, macht auch verständlich, warum die großen sozialpolitischen Reformen – von der Rentenreform 1957 über das Bundessozialhilfegesetz von 1961, das Arbeitsförderungsgesetz von 1968, die Rentenreform von 1992, die Einführung der Pflegeversicherung von 1995 bis hin zur sozialpolitischen Integration der neuen Bundesländer – von den beiden großen Parteien gemeinsam beschlossen worden sind, auch wenn andere Koalitionen im Deutschen Bundestag die Regierung gestellt haben. Hinzu kommt, dass im föderalen System der Bundesrepublik ein Zwang zum Konsens auch deswegen besteht, weil die meisten sozialpolitischen Gesetze und Reformvorhaben der Zustimmung des Bundesrates, der Länderkammer, benötigen und sehr häufig die jeweilige Opposition im Bundestag die Mehrheit im Bundesrat stellte. Der sozialpolitische Grundkonsens, der in der Leitformel von der sozialen Marktwirtschaft popularisiert wurde, vollzog sich auf der Grundlage des beispiellosen wirtschaftlichen Aufschwungs in der Nachkriegszeit, der zu einer raschen Steigerung des allgemeinen Wohlstands geführt und die Finanzierbarkeit von neuen Leistungen und Leistungsverbesserungen erleichtert hat. Hinzu kommen aber auch die spezifischen politischen Verhältnisse in Deutschland: Nach den Erfahrungen von Faschismus und Krieg war klar, dass mit einer „reinen“ Marktwirtschaft keine stabile demokratische Gesellschaft aufgebaut werden konnte, da gelebte Demokratie nicht nur formalrechtliche Gleichheit voraussetzt, sondern auf sozialen Bürgerrechten und sozialer Gerechtigkeit aufbaut. Die Weimarer Republik hatte gelehrt, dass eine blinde Unterwerfung von Gesellschaft und Ökonomie unter die Kräfte des Marktes und die Hinnahme von Massenarbeitslosigkeit, sozialer Unsicherheit und Armut politischen Extremismus und Gewalt fördert. Zu berücksichtigen ist darüber hinaus, dass das Deutschland der Nachkriegszeit an der Nahtstelle der Systemkonkurrenz zwischen Kapitalismus und Sozialismus lag. In der Auseinandersetzung mit der DDR galt es für die Bundesrepublik nachzuweisen, dass ein kapitalistisches Wirtschaftssystem nicht nur ökonomisch effizient ist und ein hohes Einkommens- und Konsumniveau garantiert, sondern durch die Verknüpfung mit sozialstaatlichen Strukturen zugleich für soziale Sicherheit und sozialen Ausgleich sorgen kann.

Sozialpolitik in Deutschland

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Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die langanhaltende ökonomische Prosperitätsphase, der damit verbundene materielle Reichtum der bundesdeutschen Gesellschaft und nicht zuletzt der Ausbau der Sozialpolitik untrennbar mit einem tief greifenden gesellschaftlichen und sozialen Strukturwandel in Deutschland verbunden sind. Steigender Wohlstand und eine erheblich verbesserte soziale Absicherung haben eine Emanzipation von traditionellen Abhängigkeiten bewirkt, die zwar die ökonomischen Zwänge nicht beseitigt, aber doch gelockert hat. Sie hat Voraussetzungen für reale Freiheitsspielräume geschaffen und eine individuelle Lebensplanung überhaupt erst in relevantem Ausmaß möglich gemacht. Die Entfaltung von individuellen Bedürfnissen und deren Verwirklichung in einer persönlichen Lebensperspektive sind so auch für Arbeitnehmer:innen und ihre Familien in den Bereich des Realisierbaren geraten. Verfolgt man die Entwicklung der Sozialpolitik seit der Jahrtausendwende, so lässt sich ein Kontinuitätsbruch erkennen (vgl. Pkt. 10 dieses Kapitels). Nach dem Ende der Vereinigungskonjunktur, dem Anschwellen der Massenarbeitslosigkeit in den neuen wie auch in den alten Bundesländern, der Entfesselung der internationalen Finanzmärkte und der Dominanz neoliberaler Theorien in der Wissenschaft, den Parteien und den Medien kommt es zu einer Grundsatzkritik an der Sozialpolitik überhaupt. Bis etwa 2014 beherrschen tiefgreifende Einschnitte in das soziale Leistungssystem das Bild, die sich als eine Kombination von Abbau und Umbau des deutschen Sozialstaats bezeichnen lassen. Derartige Paradigmenwechsel kennzeichnen vor allem die Veränderungen in der Alterssicherung und in der Arbeitsmarktpolitik. In den Jahren nach 2014 – bis hin zum aktuellen Rand – setzt hingegen eine erneute Verschiebung ein: Es kommt zu einer Stabilisierung, verbunden mit Revisionen von einzelnen Leistungskürzungen und auch Leistungsverbesserungen. Versucht man diesen Entwicklungsverlauf der Sozialpolitik in einer Zeittafel zu systematisieren (vgl. Übersicht I.2), lassen sich – grob gefasst – folgende Phasen unterscheiden: • • • • • • • •

1939 – 1871: 1871 – 1918: 1918 – 1933: 1933 – 1945: 1949 – 1990: 1991 – 2000: 2000 – 2014: Ab 2014:

Anfänge der Arbeitsschutzpolitik Einführung und Ausbau der Sozialversicherung im Kaiserreich Sozialpolitik in der Weimarer Republik Sozialpolitik im Nationalsozialismus Sozialpolitik in der Bundesrepublik (alte Bundesländer) Sozialpolitik nach der Wiedervereinigung Sozialpolitik im Ab- und Umbau Stabilisierung

1918 – 1933

1871 – 1918

1839 – 1871

Übersicht I.2

1923: Arbeitszeitverordnung

1918: Anordnung über die Regelung der Arbeitszeit gewerblicher Arbeiter (Achtstundentag)

1903: Kinderarbeitschutzgesetz

1891: Arbeiterschutzgesetz (Gewerbeordnung)

1878: Frauenarbeitsschutzgesetz (Gewerbeordnung)

1853: Gesetz über Fabrikinspektoren

1845: Preuß. Gewerbeordnung

1839: Preußisches Regulativ über die Beschäftigung jugendlicher Arbeiter in den Fabriken

Arbeitsrecht, Arbeitsschutz

1920: Betriebsrätegesetz

1918: Verordnung über Tarifverträge

1916: Hilfsdienstgesetz

Arbeitsbeziehungen

1927: Gesetz über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung

Arbeitsmarktpolitik

Zeittafel grundlegender sozialpolitischer Gesetze

1923: Reichsknappschaftsgesetz

1911: Sozialversicherung für Angestellte

1889: Gesetz betr. die Invaliditäts- und Alterssicherung

1884: Unfallversicherungsgesetz

1883: Gesetz betr. die Krankenversicherung der Arbeiter

Sozialversicherung

1924: Reichsfürsorgeverordnung

1922: Jugendwohlfahrtsgesetz

1842: Erste gesetzliche Regelungen zur Armenhilfe in Preußen

Fürsorge/Sozialhilfe

Familienpolitik

22 Sozialpolitik und soziale Lage

1949 – 1990

1933 – 1945

1951: Montanmitbestimmungsgesetz

1952: Betriebsverfassungsgesetz

1955: Personalvertretungsgesetz

1976: Mitbestimmungsgesetz

1952: Mutterschutzgesetz

1960: Jugendarbeitsschutzgesetz

1969: Lohnfortzahlungsgesetz

1973: Arbeitssicherheitsgesetz

1975: Arbeitsstättenverordnung

1949: Tarifvertragsgesetz

1933: Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit

Arbeitsbeziehungen

1951: Kündigungsschutzgesetz

1938: Arbeitszeitordnung

1935: Gesetz über die Wochenhilfe

Arbeitsrecht, Arbeitsschutz

1985: Beschäftigungsförderungsgesetz

1969: Berufsbildungsgesetz

1969: Arbeitsförderungsgesetz

1934: Gesetz zur Regelung des Arbeitseinsatzes

1933: Gesetz über Treuhänder der Arbeit

Arbeitsmarktpolitik

1989: Rentenreformgesetz

1988: Gesundheitsreformgesetz

1981: Künstlersozialversicherungsgesetz

1971: SchülerStudenten- und Kindergartenunfallversicherung

1957: Alterssicherung für Landwirte

1957: Neuregelung der Rentenversicherung

1955: Kassenarztrecht

1938: Gesetz über die Altersversorgung für das deutsche Handwerk

1933: Gesetz über den Aufbau der Sozialversicherung

Sozialversicherung

1974: Schwerbehindertengesetz

1961: Jugendwohlfahrtsgesetz

1961: Bundessozialhilfegesetz

1938: Jugendschutzgesetz

Fürsorge/Sozialhilfe

1990: Kinder- und Jugendhilfegesetz/ SGB VIII

1985: Erziehungsgeldgesetz

1954: Kindergeldgesetz

1935: Verordnung über die Gewährung von Kinderbeihilfen an kinderreiche Familien

Familienpolitik

Sozialpolitik in Deutschland 23

2000 –2014

1991 – 2000

2001: Reform des Betriebsverfassungsgesetzes

1995: Entgeltfortzahlungsgesetz

2003: 1. und 2. Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt (Hartz 1 und 2)

2000: Teilzeit- und Befristungsgesetz

1996: Arbeitnehmerentsendegesetz

1996: Arbeitsschutzgesetz

1996: Europäisches Betriebsrätegesetz

Arbeitsbeziehungen

1994: Arbeitszeitgesetz

Arbeitsrecht, Arbeitsschutz

2011: SGB III Instrumentenreform

2004: Hartz 4: = SGB II/Grundsicherung für Arbeitsuchende

2004: Hartz 3

2003: 1. und 2. Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt (Hartz 1 und 2)

1997: 3. Buch des SGB: Arbeitsförderung

1996: Altersteilzeitgesetz

Arbeitsmarktpolitik

2012: Pflegeneuausrichtungsgesetz

2007: GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz

2007: RV-Altersgrenzenanpassungsgesetz

2004: RV-Nachhaltigkeitsgesetz

2004: Alterseinkünftegesetz

2004: SGB XII/Sozialhilfegesetz

2004: SGB II/Grundsicherung für Arbeitsuchende

2001: Altersvermögensgesetz und Altersvermögensergänzungsgesetz 2003: GKV-Modernisierungsgesetz

2001: Bedarfsorientierte Grundsicherung im Alter

1995: Sozialhilfereformgesetz

1993: Asylbewerberleistungsgesetz

Sozialhilfe/Grundsicherung

2000: Reform der Renten wegen Erwerbsminderung

1997: Rentenreformgesetz

1994: Pflegeversicherung/SGB XI

1992: Gesundheitsstrukturgesetz

1991: Rentenüberleitungsgesetz

Sozialversicherung

2011: Familienpflegezeitgesetz

2008: Pflegezeitgesetz

2008: Kinderförderungsgesetz

2006: Elterngeldgesetz

2004: Tagesbetreuungsausbaugesetz

2004: Elternzeitgesetz

1995: Neuordnung des Familienleistungsausgleichs

Familienpolitik

24 Sozialpolitik und soziale Lage

2014 – 2019

2014: Tarifautonomiestärkungsgesetz = Einführung Mindestlohn

Arbeitsrecht, Arbeitsschutz

2014: Tarifautonomiestärkungsgesetz = Einführung Mindestlohn

Arbeitsbeziehungen

2014: GKV-Finanzstruktur- und Qualitätsentwicklungsgesetz

2019: Gesetz zur Modernisierung und Stärkung der beruflichen Bildung

2018: RV-Leistungsverbesserungs- und Stabilisierungsgesetz

2017: Rentenüberleitungsabschlussgesetz

2017: Betriebsrentenstärkungsgesetz

2017: EM-Leistungsverbesserungsgesetz

2016: Flexi-Rentengesetz

2015: Pflegestärkungsgesetz II

2015: Gesetz zur Stärkung der Gesundheitsförderung u. der Prävention

2014: Pflegestärkungsgesetz I

2014: RV-Leistungsverbesserungsgesetz

Sozialversicherung

2018: Qualifizierungschancengesetz

Arbeitsmarktpolitik

2018: Teilhabechancengesetz

2016: Bundesteilhabegesetz

2016: Gesetz zur Ermittlung von Regelbedarfen

Sozialhilfe/Grundsicherung

2019: Starke FamilienGesetz

2018: Gute Kita-Gesetz

2014: Elterngeld Plus

Familienpolitik

Sozialpolitik in Deutschland 25

26

Sozialpolitik und soziale Lage

7.2

Politikfelder und Strukturprinzipien

Sozialpolitik in Deutschland setzt sich aus einem breiten Spektrum unterschiedlicher Politikfelder, Regelungsbereiche und Institutionen zusammen, die sich weder eindeutig bestimmen lassen noch scharf voneinander abgegrenzt sind. Dazu zählen vor allem die folgenden Bereiche (vgl. Abbildung I.1): • • • • • • • • • • •

Sozialversicherung (Renten-, Kranken-, Pflege-, Unfall- und Arbeitslosenversicherung), Grundsicherung (Grundsicherung für Arbeitsuchende/SGB II, Grundsicherung im Alter, Sozialhilfe, Asylbewerberleistungen, Wohngeld), steuerfinanzierte Transfers (u. a. Kindergeld, Elterngeld, BAföG), Beamtenversorgung (Pensionen, Beihilfen) und Sondersysteme der Alterssicherung, Gesundheitswesen (ambulante und stationäre medizinische Versorgung, Versorgung mit Arznei-, Heil- und Hilfsmitteln, Rehabilitation), Sozialwesen, soziale Dienste (vor allem ambulante, teilstationäre und stationäre Versorgung von Pflegebedürftigen; Hilfen für Menschen mit Behinderungen, Tageseinrichtungen für Kinder), Tarifvertragswesen, Betriebsverfassung, Mitbestimmung, Arbeitsrecht, Arbeitsschutz, Arbeitsförderung, Arbeitsmarktpolitik, Kinder-, Jugend- und Familienpolitik.

Noch nicht berücksichtigt sind hierbei die sozialpolitischen Aktivitäten von nichtstaatlichen Trägern, so die betriebliche Sozialpolitik, berufsständische Sicherungssysteme und die privaten Vorsorge- und Versicherungseinrichtungen. Da der Staat diese Bereiche in zunehmendem Maße gesetzlich reguliert und zugleich über monetäre Anreize (Steuererleichterungen) fördert, nehmen sie eine Zwischenstellung zwischen der staatlich-öffentlichen Sozialpolitik und einer rein marktförmigen Absicherung ein. Wenn von Sozialstaat oder Wohlfahrtsstaat die Rede ist, so ist das Feld noch breiter und umfasst weitere Bereiche, so insbesondere • • • •

das Steuersystem, die kommunale Daseinsvorsorge, das schulische und berufliche Bildungssystem, den Wohnungsbau und das Mietrecht.

Das vorliegende Handbuch gliedert sich in seinen Kapiteln nicht an diesen Politikfeldern, Institutionen und Regelungsbereichen, sondern an übergreifenden sozialen

Sozialpolitik in Deutschland

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Abbildung I.1 Sozialstaat Deutschland

Sozialstaat Deutschland Bildungs‐ system

Sozialpolitik

System der sozialen Sicherung

Sozialversicherung

Arbeitsförderung

Grundsicherung

Gesundheitssystem, Pflege

Soziale Dienste, Sozialwesen

Transfers

Familienpolitik

Beamtenversorgung

Wohnungsbau, Mietrecht

Arbeitsrecht, Arbeitsschutz

Steuer‐ system

Tarifvertragswesen

Kommunale Daseins‐ vorsorge

Betriebsverfassung, Mitbestimmung

Betriebliche Altersvorsorge Private Altersvorsorge Private Kranken- u. Pflegeversicherung Berufsständische Versorgungssysteme

Risiken und Problemlagen, die jeweils unterschiedlichen sozialpolitischen Bearbeitungsformen unterliegen. So wird sichtbar, dass sich mehrere Institutionen und auch Politikfelder auf die gleichen Risiken und Probleme beziehen: • • • • • • • • •

Einkommen, Arbeit und Arbeitsmarkt, Arbeitsbeziehungen, Qualifikation, Arbeit und Gesundheit, Gesundheit und Gesundheitssystem, Pflegebedürftigkeit und Pflege, Familie und Kinder Alter.

Quer dazu stehen die Kapitel „Ökonomische Grundlagen und Finanzierung“ und „Soziale Dienste“. Der Blick auf das breite Spektrum der Sozialpolitik lässt erkennen, dass keineswegs von einem sorgfältig geplanten, in seinen einzelnen Elementen und Wirkungen aufeinander abgestimmten System sozialpolitischer Institutionen, Maßnahmen und Leistungen die Rede sein kann. Das unübersichtliche, teilweise in sich widersprüch-

28

Sozialpolitik und soziale Lage

liche Gebäude der Sozialpolitik ist – um im Bild zu bleiben – im Laufe der historischen Entwicklung vielfach erweitert und nach Teileinstürzen wiederaufgebaut worden. Diese Unübersichtlichkeit ist nicht zuletzt eine Konsequenz der bereits erwähnten Tatsache, dass sich dieser Auf- und Ausbau- aber auch Umbau- und Abbauprozess nicht planmäßig entwickelt hat, sondern aus einer langen Kette sozialer Auseinandersetzungen und Konflikte resultiert mit der Folge einer Vielfalt von Trägern, Rechtsgrundlagen, Finanzierungsverfahren, Leistungsarten und -voraussetzungen. Gleichwohl lassen sich grundlegende Strukturen und Prinzipien erkennen: •









Es dominiert die beitragsfinanzierte Sozialversicherung, die keine universelle Volks- oder Bürgerversicherung ist, sondern sich auf die abhängig Beschäftigten („Lohnarbeitszentrierung“) konzentriert. Sie lässt sich als eine spezifische Verbindung von Versicherungsprinzip und Solidarprinzip charakterisieren. Das Solidarprinzip mit entsprechenden interpersonellen Umverteilungswirkungen kommt insbesondere in der gesetzlichen Krankenversicherung zum Ausdruck; jedoch begrenzt sich die Solidarität, also das füreinander Einstehen im Falle von sozialen Problemen, auf die jeweilige Versichertengemeinschaft. Für die Besserverdienenden besteht die Option, sich dem Solidarverbund durch Wechsel in eine private Krankenversicherung zu entziehen. Die Lohnarbeitszentrierung wird ergänzt durch die Ehezentrierung der Sozialversicherung: Nicht oder nur geringfügig erwerbstätige Ehepartner werden abgleitet über ihren erwerbstätigen Ehepartner abgesichert, durch die Hinterbliebenenrente oder durch die kostenfreie Mitversicherung in der Krankenversicherung. Dadurch setzt die Sozialpolitik in Deutschland – verstärkt durch das Steuerrecht – Anreize für Ehefrauen, ihre Erwerbstätigkeit einzuschränken oder für eine längere Zeit ganz aufzugeben. Die Träger der Sozialversicherung sind keine staatlichen Einrichtungen, sondern rechtlich selbstständige Körperschaften des öffentlichen Rechts mit eigenen Haushalten. Verwaltet werden sie durch die Selbstverwaltung von Versicherten und Arbeitgebern, die hälftig auch die Beiträge entrichten. Selbstverwaltungs- und Paritätsprinzip legen die Grundlage für den korporatistischen Charakter zentraler Bereiche der deutschen Sozialpolitik. Das Sicherungsziel der Geldleistungen der Sozialversicherung bezieht sich seit der Rentenreform von 1957 auf die auf den Erwerbsstatus bezogene Lebensstandardsicherung. Dazu gehört nicht die Armutsvermeidung der Bevölkerung. Dies ist Aufgabe der fürsorgerechtlichen Sozialhilfe bzw. der Grundsicherung. Hier gilt das Subsidiaritätsprinzip. Geleistet wird erst bei Bedürftigkeit und im Nachrang zu familiären Unterhaltsleistungen. Das Subsidiaritätsprinzip prägt im Sinne einer institutionellen Rangordnung auch die Angebote an sozialen Diensten und Einrichtungen auf der kommunalen Ebene. Es kommt zu einem Vorrang der Wohlfahrtsverbände, Kirchen und anderer

Sozialpolitik in Deutschland



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privater Träger gegenüber den Kommunen, die erst nachrangig tätig werden, denen aber der Gewährleistungs- und Finanzierungsauftrag zukommt. Das Arbeits- und Sozialsystem ist durch ein komplexes Zusammenspiel verschiedener Akteure gekennzeichnet: Die Arbeitsbeziehungen werden von betrieblicher und überbetrieblicher Mitbestimmung geprägt, die Tarifvertragsparteien legen auf Basis der grundgesetzlichen garantierten Tarifautonomie in Tarifverträgen die wesentlichen Arbeits- und Einkommensbedingungen fest. Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände sind am System der beruflichen Ausbildung beteiligt und sind anerkannte Träger der Selbstverwaltung der Sozialversicherung. Auch bei der Sozial- und Arbeitsgerichtsbarkeit wirken die Vertreter von Arbeitnehmer- und Arbeitgeberseite mit. Die Interessen der Wirtschaft, vertreten durch Industrie- und Wirtschaftsverbände, fließen zudem über ein ausdifferenziertes Kammersystem (Industrie- und Handelskammern, Handwerkskammern) in den Prozess der Ausgestaltung der Sozialpolitik mit ein.

7.3

Zuständigkeiten und Regelungskompetenzen

Bund, Länder und Gemeinden Wie für andere Bereiche staatlichen Handelns in Deutschland gilt auch für die Sozialpolitik das Prinzip des Föderalismus, d. h. die Verteilung der Gesetzgebungs- und Regelungskompetenzen auf die unterschiedlichen staatlichen Ebenen mit jeweils eigenen verfassungsrechtlich geschützten Zuständigkeiten: Der Bund hat die Gesetzgebungskompetenz für alle Aufgaben, bei denen es um die Einheitlichkeit bzw. Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse geht. Die gilt vor allem für das Arbeitsrecht, den Arbeitsschutz, die Betriebs- und Unternehmensverfassung, die Arbeitsförderung sowie für die Sozialversicherung. Zugleich ist der Bund zuständig für die öffentliche Fürsorge, die aufgrund von Entwicklungen in der Praxis wie der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts in Richtung auf Versorgung und allgemeine soziale Angelegenheiten ausgeweitet worden ist. Der Fürsorgeauftrag bezieht sich u. a. auf die Grundsicherung für Arbeitsuchende, die Grundsicherung für Ältere, die Sozialhilfe, das Wohngeld, die Kinder- und Jugendhilfe sowie auf familienpolitische Leistungen. Die Länder können in einzelnen Bereichen gesetzgeberisch tätig werden; die Abgrenzung der jeweiligen Kompetenzen von Bund und Ländern ist im Rahmen der Bestimmungen zur konkurrierenden Gesetzgebung im Grundgesetz festgelegt. Insgesamt sind die sozialpolitischen Zuständigkeiten der Länder begrenzt, sie beziehen sich vor allem auf ausgewählte Felder des Gesundheits- und Sozialwesens. Die sozialpolitische Zuständigkeit der Kommunen, d. h. der kreisfreien Städte, der (Land)Kreise und der kreisangehörigen Städte und Gemeinden, erstreckt sich auf alle sozialen „Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft“ (Art. 28, Abs. 2 GG). Ihnen obliegt darüber hinaus die „Daseinsvorsorge“. Dazu zählen u. a. die Bereitstellung von

30

Sozialpolitik und soziale Lage

öffentlichen Einrichtungen und Diensten für die Bevölkerung, also Verkehrs- und Beförderungswesen, Gas-, Wasser- und Elektrizitätsversorgung, Müllabfuhr, Abwasserbeseitigung, Bildungs- und Kultureinrichtungen, Friedhöfe, Schwimmbäder, Feuerwehr usw. (Infrastruktur). Die Kommunen haben bei diesen Aufgaben einen großen Entscheidungs- und Handlungsspielraum. Diese betreffen insbesondere die so genannten freiwilligen Leistungen. Von den freiwilligen Leistungen der Kommunen sind die durch Bundes- oder Landesrecht vorgegebenen Pflichtaufgaben zu unterscheiden. Selbstverwaltung Das Angebot an sozialpolitischen Maßnahmen, Einrichtungen und Dienstleistungen im Rahmen des Sozialversicherungsrechts (Sozialgesetzbuch) oder spezieller Leistungsgesetze wird in den Gesetzen in vielen Fällen nur im Grundsatz vorgegeben, die konkrete Bestimmung von Mengen, Leistungsarten, Qualitäten und auch Preisen bzw. Honoraren erfolgt durch Verhandlungen und Verträge zwischen Leistungserbringern und Kostenträgern. Im Sozialversicherungssystem, insbesondere bei der Kranken- und Pflegeversicherung, fällt der Selbstverwaltung insofern die Aufgabe zu, die staatliche Rahmengesetzgebung auszufüllen (Steuerung auf der mittleren Ebene). Tarifautonomie Im Bereich der Arbeitsbeziehungen werden zentrale Problemfelder in weitgehender Autonomie von den Tarifvertragsparteien autonom geregelt. Dazu gehören die Festlegung des Entgelts, von Arbeitszeiten, Urlaub, betrieblichen Sozialleistungen, Rationalisierungs- und Kündigungsschutz und vieles andere mehr. Gesetzliche Vorschriften legen die Rahmenbedingungen für autonome Vereinbarungen fest (z. B. Tarifvertragsgesetz, Betriebsverfassungsgesetz, Arbeitnehmerentsendegesetz) oder setzen Mindestnormen (so z. B. durch das Arbeitszeitgesetz, das Urlaubsgesetz oder das Mindestlohngesetz). 7.4

Träger und Akteure

In Deutschland erfolgt die praktische Durchführung sozialpolitischer Maßnahmen durch eine Vielzahl von Trägern und Akteuren mit jeweils spezifischen Aufgaben und Interessen. Typisch für den deutschen Sozialstaat ist dabei, dass die Erbringung von Geldzahlungen ebenso wie von Sachleistungen, medizinischen, pflegerischen und übrigen sozialen Diensten nicht primär durch (zentral-)staatliche Institutionen erfolgt. Charakteristisch ist vielmehr eine dezentrale Leistungsstruktur bei gleichzeitiger Dominanz intermediärer Instanzen sowie in zunehmendem Maße auch privater und privatwirtschaftlicher Leistungsanbieter. Folgende Grundstruktur lässt sich erkennen: Für die Durchführung der sozialversicherungsrechtlich organisierten Sozialleistungen sind die nach den großen Sicherungsrisiken sowie intern nach regionalen

Sozialpolitik in Deutschland

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Kriterien gegliederten und durch Selbstverwaltung charakterisierten Sozialversicherungsträger zuständig. Dabei handelt es sich • • • • •

in der gesetzlichen Rentenversicherung um die Deutsche Rentenversicherung mit ihren regionalen Gliederungen, in der gesetzlichen Krankenversicherung um die einzelnen Krankenkassen, in der gesetzlichen Pflegeversicherung um die unter dem Dach der Krankenkassen angesiedelten Pflegekassen, in der gesetzlichen Unfallversicherung um die Berufsgenossenschaften und in der Arbeitslosenversicherung und Arbeitsförderung um die Bundesagentur für Arbeit mit ihren regionalen und örtlichen Gliederungen.

Die Erstellung und Erbringung der von den Sozialversicherungen garantierten Sachund Dienstleistungen erfolgt jedoch nur ganz selten in eigener Regie. Vielmehr findet sie in den weit überwiegenden Fällen durch private und privatwirtschaftliche Anbieter statt. Dieses auf Vertragsbeziehungen zwischen Versicherungen und Leistungsanbietern beruhende Sachleistungsprinzip ist insbesondere für die Krankenversicherung typisch, wobei sich hier die Leistungsanbieter zu Verbänden zusammengeschlossen haben (z. T. verbunden mit einem öffentlich-rechtlichen Status) und für die Sicherstellung des Angebotes (mit-)verantwortlich sind. Anders dagegen erfolgt die Erbringung der von Bund und Ländern in Sozialleistungsgesetzen garantierten Leistungen und Angebote, so für Leistungen des staatlichen Fürsorgeauftrags (z. B. Wohngeld, Ausbildungsförderung, Sozialhilfe und Jugendhilfe). Deren jeweilige Durchführung erfolgt nicht durch Bundes- und Landesbehörden, sondern ist auf die kommunale Ebene delegiert. Für Städte, (Land-) Kreise und Gemeinden als örtliche Träger handelt es sich dabei um Pflichtaufgaben, deren konkrete Ausgestaltung (das „Wie“) den Kommunen aber nicht im Einzelnen vorgegeben ist. In diesem Delegationsverfahren beteiligen die Kommunen (gemäß dem Subsidiaritätsprinzip) wiederum private Träger bzw. Anbieter, die sich in freigemeinnützige oder privat-erwerbswirtschaftliche Anbieter unterscheiden lassen. Zu den wichtigsten privaten Trägen gehören die Verbände der freien Wohlfahrtspflege. Dazu zählen insgesamt sechs Spitzenverbände: die Arbeiterwohlfahrt, der Deutsche Caritasverband, das Diakonische Werk, das Deutsche Rote Kreuz, der Paritätische Wohlfahrtsverband sowie die Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland. Im Zuge der Einführung der Pflegeversicherung und entsprechender Regelungen im Sozial- und Jugendhilferecht sind aber auch zunehmend privat-gewerbliche Unternehmen bzw. Freiberufler an der Erbringung sozialer Angebote beteiligt. Wieder andere Akteure gibt es im Bereich der sozialpolitischen Gesetze und Maßnahmen, welche im weitesten Sinne die Gestaltung der Arbeitsbedingungen betreffen. Als Instanzen, die die korrekte Anwendung der Arbeitsschutz- und Arbeitszeitregelungen kontrollieren, dienen die staatlichen Gewerbeaufsichtsämter bzw. die

32

Sozialpolitik und soziale Lage

Ämter für Arbeitsschutz sowie die Berufsgenossenschaften. Die Inanspruchnahme von Rechten erfolgt durch die berechtigten Arbeitnehmer:innen; Informations- und Aufklärungsaufgaben übernehmen die Personalabteilungen, die betrieblichen Interessensvertretungsorgane (Betriebs- und Personalräte) sowie die Tarifparteien.

8

Sozialpolitik der Europäischen Union

Die EU ist bis heute in ihrem Kern eine Wirtschaftsgemeinschaft, aber keine Sozialgemeinschaft. In den europäischen Verträgen ist eindeutig festgelegt, dass Maßnahmen der EU in die sozialen Sicherungssysteme der Mitgliedsstaaten allenfalls nachrangig eingreifen dürfen. Es gilt der Grundsatz der Subsidiarität. Zwar sind im Verlauf der europäischen Einigung auch soziale bzw. sozialpolitische Ziele in die Gemeinschaftsverträge aufgenommen bzw. in besonderen Erklärungen beschlossen worden, so u. a. die 1997 vom Europäischen Rat und vom Europäischen Parlament verabschiedete Europäische Säule Sozialer Recht (ESSR), doch sind die Formulierungen sehr allgemein gehalten und nicht verbindlich. Die gemeinschaftsrechtlichen Zuständigkeiten der Organe der EU – Kommission, Rat und Parlament – beziehen sich insofern auf nur wenige Felder der Sozialpolitik und leiten sich im Wesentlichen aus dem Auftrag ab, die wirtschaftlichen Grundfreiheiten, nämlich freier Warenverkehr, Dienstleistungsfreiheit, freier Kapital- und Zahlungsverkehr, Arbeitnehmerfreizügigkeit und Niederlassungsfreiheit, sicherzustellen und Wettbewerbsbeschränkungen auszuschalten. Beispielhaft dafür ist das EU-Gemeinschaftsrecht zur Sicherstellung des Grundsatzes der Arbeitnehmerfreizügigkeit. Es handelt sich hierbei um Regelungen hinsichtlich insbesondere •

der sozialen Sicherheit der Wanderarbeitnehmer:innen durch Abstimmung bzw. Anrechnung der Sicherungsansprüche aus den nationalen Sicherungssystemen bei grenzüberschreitender Beschäftigung; • der Gleichbehandlung von Männern und Frauen am Arbeitsplatz, insbesondere in Bezug auf die Verhinderung von Entgeltdiskriminierung; • des Arbeitsschutzes und der Arbeitsbedingungen, um durch die Festlegung von Mindestnormen Wettbewerbsverzerrungen zu vermeiden. In diesen Feldern einer den Binnenmarkt flankierenden Sozialpolitik greift die EU mit einer regulativen Politik ein. Sie erlässt Verordnungen oder Richtlinien, die dann zum nationalen Recht werden. Verordnungen sind mit Gesetzen vergleichbar und wirken unmittelbar in jedem Mitgliedsstaat. Richtlinien hingegen sehen verbindliche Ziele vor, überlassen die konkrete Umsetzung in nationale Gesetze jedoch den Mitgliedsstaaten. Zu den wichtigsten in den letzten Jahren verabschiedeten Richtlinien gehören die Entsenderichtlinie, die Dienstleistungsrichtlinie und die Arbeitszeitrichtlinie.

Sozialpolitik der Europäischen Union

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Es zählen jedoch nicht nur die erlassenen Normen. Zu berücksichtigen ist außerdem ein beträchtliches Maß an Richterrecht. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat wiederholt nationale Regelungen vor allem des Arbeitsrechts als mit den Gemeinschaftsverträgen als nicht vereinbar erklärt. Durch Urteile des EuGH ist auch die Gleichstellungspolitik vielfach konkretisiert worden. Zudem ergeben sich aus den gemeinschaftsrechtlichen Bestimmungen (freier Waren- und Dienstleistungsverkehr) mittelbare Auswirkungen auf die Gesundheits- und Sozialsysteme der einzelnen Staaten. So haben nach Rechtsprechung des EuGH die Versicherten der gesetzlichen Krankenkassen das Recht, Dienstleistungen (ärztliche Behandlung) und Waren (Arznei-, Heil- und Hilfsmittel) von Anbietern aus anderen EU-Ländern in Anspruch zu nehmen und die Kosten erstattet zu bekommen. Auch über eine eigenständige Beschäftigungspolitik und ein entsprechendes Instrumentarium verfügt die EU nicht. Ihre vertraglich fixierte Aufgabe ist es, die einzelstaatlichen Politiken zu unterstützen und zu koordinieren. Die Schwerpunkte liegen hierbei auf den Themen Förderung der Beschäftigungsfähigkeit, Qualifizierung und Flexibilisierung der Arbeitsmärkte. Eine wichtige Funktion hat hierbei der EUSozialfonds als einer der vier EU-Strukturfonds. Die Mittel aus dem Sozialfonds (kofinanziert durch nationale Mittel) fließen in Programme und Projekte der Mitgliedsstaaten zur Qualifizierung und Beschäftigung und haben das Ziel, strukturschwache Regionen zu fördern. Trotz aller Einschränkungen lässt sich nicht übersehen, dass die EU seit geraumer Zeit versucht, einen stärkeren Einfluss auf die nationalen Politiken zu nehmen. Deutlich wird dies durch die in ihren Zielen und Maßnahmen schon konkreteren „Weißbücher“ und „sozialpolitischen Agenden“, die die EU-Kommission (z. T. auch gemeinsam mit dem Rat) regelmäßig vorlegt. Zu einer Politikbeeinflussung in den Mitgliedsstaaten der EU führt auch die so genannte „Methode der offenen Koordinierung“. Dieses in der Beschäftigungspolitik entwickelte Koordinierungsverfahren ist schrittweise auf andere Felder der Sozialpolitik ausgeweitet worden, zum Beispiel auf die Bekämpfung von Ausgrenzung und Armut, die Alterssicherung, die Gesundheitspolitik und die Familienpolitik. Hiernach beschließt der Europäische Rat über Leitlinien und Ziele für die einzelnen Politikfelder und legt ein Set von empirisch überprüfbaren Indikatoren fest, um in einem Vergleich der Ergebnisse der nationalen Systeme über ergriffene Maßnahmen, die Folgen und den Grad der Zielerreichung Auskunft geben zu können. Es handelt sich also um ein Benchmarking- und Evaluationsverfahren, das auf die sozialpolitische Entwicklung in den Mitgliedsstaaten einwirken soll. Die Erwartung ist, dass es über das Aufgreifen von Best Practice-Beispielen und ein öffentlichkeitswirksames VoneinanderLernen zu einer Konvergenz, d. h. einer schrittweisen Angleichung der Sozialpolitik, kommt. Einen mittelbaren, aber sehr viel stärkeren Einfluss auf die nationale Sozialpolitik haben allerdings die Bestrebungen einer makroökonomischen Koordinierung der Mitgliedsländer. Im Gefolge der Finanz- und Verschuldungskrise greift die EU immer

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Sozialpolitik und soziale Lage

stärker in die Wirtschafts- und Haushaltspolitik der Länder (insbesondere im EuroRaum) ein. Da ein Großteil der nationalen Haushalte für Sozialausgaben eingesetzt wird, zielen Vorgaben zu einer Begrenzung der öffentlichen Ausgaben immer auch auf die Sozialpolitik. Um eine Zuspitzung oder Wiederholung der Haushaltsprobleme in den Euro-Ländern zu vermeiden und die dahinterstehenden wirtschaftspolitischen Ungleichgewichte zwischen den Ländern (Preise und Exportstärke, Leistungsbilanzüberschüsse und -defizite, Wettbewerbsvor- und -nachteile, Inflations- und Deflationstrends) auszugleichen, kommt ein Instrumentarium zur wirtschafts- und haushaltspolitischen Koordinierung zur Anwendung. Dieser sog. Fiskalpakt beinhaltet im Wesentlichen die folgenden Elemente: • Verankerung ausgeglichener Haushalte in den nationalen Verfassungen, • Festlegung mittelfristiger Haushaltsziele für jedes Land, • Annäherung an ein Haushaltsdefizit von 0,5 Prozent des BIP, • Berichterstattungspflichten gegenüber Rat und Kommission, • Überwachung durch Rat und Kommission, • Sanktionen bei Nicht-Erfüllung

9

Sozialstaat und soziale Gesellschaft

9.1

Sozialstaat und Grundgesetz

Die staatliche Sozialpolitik hat sich von ihren Anfängen im 19. Jahrhundert bis heute in zahlreiche Teilbereiche ausdifferenziert. Im Ergebnis ist ein – bei allen Defiziten, die in diesem Handbuch im Detail beschrieben und analysiert werden – weit ausgreifendes System der sozialen Sicherung entstanden, das nicht erst bei existenzbedrohenden Notlagen und bei Bedürftigkeit eingreift, sondern Einkommens-, Versorgungs- und Lebenslagen umfassend sichert. Die Ausgestaltung einer bis weit in die Mittelschichten hineinreichenden Sozialpolitik ist ein zentraler Faktor für die hohe Zustimmung, die nach empirischen Befunden der Sozialstaat in der Bevölkerung genießt. Dies gilt insbesondere für die Zweige der Sozialversicherung. Da die Leistungen der Sozialversicherung auf durch Beitragszahlungen erworbenen Rechtsansprüchen beruhen, kommen die Bürgerinnen und Bürger nicht als Bittstellende zum Staat und brauchen sich auch keiner Bedürftigkeitsprüfung zu unterziehen. Die spezielle Gestalt von Sozialpolitik und Sozialstaat ist Ergebnis einer langen Kette von sozialen Auseinandersetzungen, politischen Konflikten und Kompromissen. Das bedeutet, dass es keine automatische und lineare Entwicklung in der Gestaltung des Sozialstaates gibt: Wie ein Blick auf die Geschichte, aber auch auf die Gegenwart zeigt, können Phasen des quantitativen oder qualitativen Ausbaus durch Phasen

Sozialstaat und soziale Gesellschaft

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des Um- und Abbaus sozialpolitischer Leistungen abgelöst werden. Das Grundgesetz lässt jedoch keinen weitgehenden Abbau oder gar eine Eliminierung des Sozialstaates zu: Es verpflichtet auf die Schaffung und Bewahrung einer sozialen staatlichen und gesellschaftlichen Ordnung. „Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat“ heißt es in Art. 20 Abs. 1 GG. Und nach Art. 28 Abs. 1 Satz 1 des GG muss die verfassungsmäßige Ordnung in den Ländern „den Grundsätzen des republikanischen, demokratischen und sozialen Rechtsstaates im Sinne des Grundgesetzes entsprechen.“ Das hier formulierte Sozialstaatsgebot ist zwar inhaltlich unbestimmt – legt also nicht fest, welche sozialpolitischen Leistungen in welcher Höhe und Reichweite erforderlich sind – aber in seiner Rechtsprechung hat das Bundesverfassungsgericht das Sozialstaatsprinzip mehrfach als Verpflichtung des Staates interpretiert, für einen Ausgleich der sozialen Gegensätze und für eine gerechte Sozialordnung zu sorgen sowie die Existenzgrundlagen der Bürgerinnen und Bürger zu sichern und zu fördern. Demokratie und Sozialstaat bedingen demnach einander: Denn die gleichberechtigte gesellschaftliche und politische Teilhabe aller Bürgerinnen und Bürger ist nur dann gewährleistet, wenn die formal verbürgten Freiheitsrechte auch materiell und sozial fundiert sind. Neben diesem ausdrücklichen, wenngleich allgemeinem Gebot zum sozialen Handeln enthält das Grundgesetz weitere Artikel, die den Staat auf bestimmte soziale Grundwerte verpflichten. Von sozialpolitischer Bedeutung sind vor allem: • Art. 1 Abs. 1, der die Unantastbarkeit der Würde des Menschen betont. Hieraus leitet sich die Verpflichtung des Staates ab, jedem Bürger das Existenzminimum zu sichern. • Art. 3, der mit seinen Gleichheitssätzen den Staat verpflichtet, Ungleichbehandlungen abzubauen oder zu vermeiden. Dieser Passus hat in den zurückliegenden Jahren vor allem dazu beigetragen, dass Frauen im Sozial-, Arbeits- und Tarifrecht Männern gleichgestellt worden sind. Zugleich hat er Anlass zur Ausweitung der Behindertenpolitik gegeben. • Art. 6, der in Abs. 1 Ehe und Familie unter den besonderen Schutz der staatlichen Ordnung stellt und in Abs. 5 nichteheliche Kinder den ehelichen gleichstellt. Die wegweisenden familienorientierten Steuer- und Rentenrechtsurteile des Bundesverfassungsgerichtes der letzten Jahre basieren auf diesem Artikel.

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Übersicht I.3 Sozialstaat und Grundgesetz Art. 1

(1) Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.

Art. 3

(2) Männer und Frauen sind gleichberechtigt. Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin. (3) Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.

Art. 6

(1) Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutze der staatlichen Ordnung. (2) Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft. (3) Gegen den Willen der Erziehungsberechtigten dürfen Kinder nur auf Grund eines Gesetzes von der Familie getrennt werden, wenn die Erziehungsberechtigten versagen oder wenn die Kinder aus anderen Gründen zu verwahrlosen drohen. (4) Jede Mutter hat Anspruch auf den Schutz und die Fürsorge der Gemeinschaft. (5) Den unehelichen Kindern sind durch die Gesetzgebung die gleichen Bedingungen für ihre leibliche und seelische Entwicklung und ihre Stellung in der Gesellschaft zu schaffen wie den ehelichen Kindern.

Art. 9

(1) Alle Deutschen haben das Recht, Vereine und Gesellschaften zu bilden. (3,1) Das Recht, zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen zu bilden, ist für jedermann und für alle Berufe gewährleistet.

Art. 20

(1) Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat.

Art. 28

(1,1) Die verfassungsmäßige Ordnung in den Ländern muss den Grundsätzen des republikanischen, demokratischen und sozialen Rechtsstaates im Sinne dieses Grundgesetzes entsprechen.

9.2

Soziales Engagement in Familie und Gesellschaft

Auch wenn an der Ausformung und Durchführung der Sozialpolitik viele nichtstaatliche Träger und Akteure beteiligt sind, so handelt es sich im Kern doch um ein staatliches Politikfeld. Das politische Ziel, Wirtschaft und Gesellschaft nach sozialen Kriterien zu gestalten, also für eine soziale Marktwirtschaft und soziale Gesellschaft zu sorgen, lässt sich aber nicht allein durch staatliche Interventionen und Leistungen erreichen. Grundlegend für die Qualität einer Gesellschaft und damit für die Lebensbedingungen der Bevölkerung ist daneben auch die Fähigkeit einer Zivilgesellschaft, ihren sozialen und moralischen Zusammenhalt durch Bürgersinn, Gemeinwohlorientierung und bürgerschaftliches, soziales Engagement jenseits von Markt und Staat zu sichern.

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Der Sozialstaat baut auf einem Netz privater, informeller Unterhalts- und sonstiger Dienstleistungen auf und kann das Engagement in der Familie und im Gemeinwesen nicht einfach ersetzen. Auch die soziale Verantwortung der Unternehmen für ihre Beschäftigten und die Gesellschaft erübrigt sich durch Sozialpolitik nicht. Vielmehr kommt es darauf an, die Menschen zu befähigen und zu motivieren, Verantwortung für sich und das Gemeinwohl zu übernehmen und soziale Aufgaben auf freiwilliger Basis zu erfüllen. Und das „Soziale“ in der Marktwirtschaft setzt ein sozial verantwortliches Handeln der Unternehmen voraus, das nicht ausschließlich auf kurzfristige Renditevorteile und Profitkalküle abstellt. Es geht nicht nur um die wirtschaftliche Produktivität eines Gemeinwesens, sondern auch um die soziale Produktivität, nicht nur um das ökonomische Kapital, sondern auch um das Sozialkapital. Die Voraussetzungen für eine soziale Gesellschaft sind allerdings nicht automatisch gegeben, sie werden maßgeblich durch die gesellschaftlichen Strukturen und Rahmenbedingungen beeinflusst. Individuelles Verhalten und gesellschaftliche Verhältnisse bedingen einander. So ist es widersprüchlich, Gemeinsinn, mitmenschliche Solidarität und unentgeltliche Mitarbeit im Ehrenamt zu erwarten, zugleich aber eine Entwicklung hin zu einer marktradikale Konkurrenzökonomie zuzulassen, die alle Lebensbereiche durchdringt, den Menschen nur unter der Maxime von Eigennutz und Renditemaximierung sieht und ihn in diese Richtung formt. Die ökonomischen und sozialen Verhältnisse sind gestaltbar, die Bedingungen für familiäres und bürgerschaftliches Engagement lassen sich durch die Politik beeinflussen. Diese Aufgabe bezieht sich vor allem auf die Gestaltung von Arbeitsmarkt, Arbeitsverhältnissen und Arbeitszeit, wenn das Ziel besteht, das Arbeitsleben familienfreundlich zu gestalten. Auch die Bereitschaft, soziale Verantwortung gegenüber den Mitmenschen zu übernehmen, eine Familie zu gründen und Kinder zu haben, hängt entscheidend davon ab, ob es der Politik gelingt, den Beschäftigten Arbeitsplatzsicherheit, sozialen Schutz und damit Zukunftsperspektiven zu bieten. Die Empirie zeigt, dass die Familien, und hier in erster Linie Frauen, auch heute noch den Großteil an sozialen Dienstleistungen übernehmen. Der hohe Grad an familiär-häuslicher Versorgung von Pflegebedürftigen ist das beste Beispiel dafür. Dieses familiäre Leistungspotenzial lässt sich sozialpolitisch stützen und fördern, so durch ein Angebot an ambulanten und teilstationären Pflege- und Hilfsdiensten, durch Beratung und auch durch monetäre Anerkennungsleistungen. Ein beachtliches Ausmaß weist auch das soziale bürgerschaftliche Engagement der Menschen auf, etwa ein Viertel der Bevölkerung kann hier als aktiv tätig eingeschätzt werden. Sozialpolitik kann dabei unterstützend und fördernd wirksam werden, durch die Einrichtung von Selbsthilfekontaktstellen, von Informationsbörsen und durch die Finanzierung von infrastrukturellen Voraussetzungen. Insgesamt kommt der Sozialpolitik damit die Funktion zu, traditionelle Sicherungsformen, die an Bedeutung zu verlieren drohen, so insbesondere Familie und andere wichtige soziale Netzwerke, zu stärken und in ihrer Funktionsfähigkeit zu erhalten. Andererseits sorgt sie für Ersatz dort, wo diese nicht mehr existieren, versagt

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haben oder gestiegenen professionellen Ansprüchen nicht mehr genügen. Dies gilt insbesondere für viele soziale Dienste im Umfeld von Kinder-, Jugend-, Familie- sowie Alten- und Pflegehilfe.

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Sozialstaat zwischen Abbau, Umbau und Reform

10.1 Neoliberale Grundsatzkritik Kritik am Sozialstaat ist nicht neu; sie begleitet die Entwicklung der Sozialpolitik seit ihrem Beginn. Wie der historische Überblick seit 1949 zeigt, ist es in der Bundesrepublik vor allem in ökonomischen und politischen Krisenphasen, immer wieder zu heftigen politischen Auseinandersetzungen über die Wirkungen und die Ausrichtung der Sozialpolitik gekommen. Konjunkturelle Rezessionen, Stagnationsphasen, Massenarbeitslosigkeit und Defizite in den Haushalten der Gebietskörperschaften und Sozialversicherungsträger, hohe Belastung von Wirtschaft und Arbeitnehmer:innen durch Steuern und Beiträge haben zu Forderungen nach Leistungskürzungen geführt. Nicht nur Leistungsausbau und Ausdehnung von abgesicherten Risiken und berechtigten Personengruppen haben die Entwicklung geprägt, sondern auch Leistungsabbau und Umorientierungen, ohne dass es aber zu einem grundsätzlichen Richtungswechsel gekommen ist. Ein qualitativer Einschnitt erfolgte allerdings durch die Dominanz neoliberaler Denkmuster und Politikempfehlungen seit den 1980er Jahren. Im Zuge der Globalisierung der Waren- und Dienstleistungsmärkte, der Entfesselung des Finanzmarktkapitalismus und der Schwächung der Gewerkschaften einerseits, der Wirkmächtigkeit marktradikaler Vorstellungen einer Neuordnung von Wirtschaft und Gesellschaft andererseits, ist es – beginnend in den USA und in Großbritannien (Reagan und Thatcher) – in vielen Ländern zu einer grundsätzlichen Infragestellung von staatlichen Interventionen und der gewachsenen sozialpolitischen Regime gekommen. Es ging dabei nicht allein um das Pro und Kontra hinsichtlich einzelner Einschnitte und Leistungsverschlechterungen im System, sondern um einen Richtungswechsel. Auch in Deutschland haben sich in dieser Zeit die mehrheitlich vertretenen normativen Positionen verschoben und die neoliberalen Ordnungsideen an Wirkmächtigkeit gewonnen – und zwar in den Parteien, im öffentlichen und medialen Meinungsbild und auch in der konkreten Politik. Ab Mitte der 1990er Jahre, nach dem Ende der Vereinigungskonjunktur hatte sich angesichts einer anhaltenden Wachstumsschwäche, anschwellenden Arbeitslosigkeit und der steigenden Belastungen der öffentlichen Haushalte durch die Einigungsfolgen ein enormer Problemdruck aufgebaut, dessen Lösung aus neoliberaler Sicht nur durch radikalen Umbruch zu erreichen sei. Insbesondere der Prozess der fortschreitenden Globalisierung, so die Argumentation, mache Veränderungen des Sozialstaats und konkret der Sozialpolitik und ih-

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rer Ausgestaltung erforderlich. Die Krisendiagnose liest sich wie folgt: Die offenen Märkte, vor allem die globalisierten Finanzmärkte, verschärfen nicht nur die Konkurrenz auf der Ebene der Unternehmen, sondern verändern auch die ökonomischen Rahmenbedingungen ganzer Volkswirtschaften und verengen die politischen Handlungs- und Gestaltungsspielräume auf nationaler Ebene. Steuer-, Finanz-, Arbeitsmarkt- und Sozialsysteme der Staaten sehen sich im internationalen Standortwettbewerb einem ständigen Anpassungsdruck ausgesetzt. Der in Prosperitätsphasen ausgebaute Sozialstaat sei aufgrund seines überzogenen Niveaus sowie seiner leistungs- und wachstumshemmenden Strukturen sowie Finanzierungsprinzipien nicht überlebensfähig. Sozialpolitik habe sich zum Problemverursacher entwickelt und gefährde die Zukunftschancen der deutschen Wirtschaft. Richtschnur der geforderten Umgestaltung sind deshalb ein Rückzug des Staates und marktförmige oder marktkonforme Lösungen der Wohlfahrtsproduktion. Die politischen Schlussfolgerungen aus dieser Diagnose mündeten in einer Reihe von Forderungen, die auf einen quantitativen Abbau und qualitativen Umbau der Sozialpolitik zielten. Dazu zählen vor allem die Vorstellungen, • •

auf dem Arbeitsmarkt arbeitsrechtliche Regulierungen einzuschränken, das sozialpolitische Leistungsspektrum und -niveau in Richtung einer Basissicherung abzubauen und sich bei der Leistungsvergabe auf die Förderung der „wirklich Bedürftigen“ zu konzentrieren, • die soziale Sicherung stärker marktlich zu organisieren und Wettbewerbsstrukturen einzurichten, • die Belastung der Unternehmen durch Lohnnebenkosten (Sozialversicherungsbeiträge) nachhaltig zu reduzieren, • Arbeitslose durch nur noch knapp bemessene und bedürftigkeitsgeprüfte Transfers zur Arbeitsaufnahme zu veranlassen. Sozialpolitik sollte demnach auf einen flexiblen Arbeitsmarkt hin orientieren, den Selbststeuerungskräften des Marktes vertrauen, die Einkommensumverteilung begrenzen und die freie Entfaltung der Kräfte fördern. Die Hinnahme eines höheren Maßes an Unsicherheit und Ungleichheit sei unabdingbar, um über diesen Weg die Leistungs- und Konkurrenzfähigkeit der Volkswirtschaft zu verbessern, das dynamische Entwicklungspotenzial der Marktkräfte zu mobilisieren und die Arbeitslosigkeit abzubauen. Leitbild war ein Sozial- und Gesellschaftsmodell, das die Eigenverantwortung des Einzelnen für seine soziale Sicherung und seine Einkommens- und Lebenslage betont und die Verantwortung des Staates entsprechend zurücknimmt.

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10.2 Umbau des deutschen Sozialstaats Es ist nicht nur bei dieser Kritik geblieben; in der Politik wurde eine ganze Reihe der geforderten Maßnahmen des Abbaus und Umbaus auch umgesetzt. Die Stichworte „Agenda 2010“ und „Hartz-Gesetze“ bezeichnen diese Phase der Sozialpolitik, die in zentralen Bereichen zu einem Paradigmenwechsel geführt hat. Eine schwer überschaubare Vielzahl von Eingriffen in Sozialleistungsgesetze und auch von grundsätzlich neuen Regelungen lässt sich bis etwa 2014 feststellen. Es ist nicht möglich, ein dominantes oder gar einziges Strukturmuster aufzuzeigen, dafür handelt es sich bei der Sozialpolitik um ein zu vielschichtiges Politikfeld mit je unterschiedlichen Zielsetzungen, Adressaten, Instrumenten, Funktionen, Wirkungen und Institutionen. Auch ist es in dieser Restriktionsphase im Unterschied zu vielen anderen Ländern nicht zu einem durchgängigen Sozialabbau gekommen, in einigen Politikfeldern, und zwar vor allem in der Familienpolitik und in der Pflege, hat es auch Leistungsausweitungen gegeben. Gleichwohl lassen sich Trends identifizieren. Auffällig ist, dass zwar nicht der Sozialstaat demontiert worden ist – der Anteil der Sozialausgaben am Sozialprodukt erweist sich als bemerkenswert stabil –, dass sich aber einige Grundprinzipien des deutschen Sozialstaatsmodells verändert haben und neue Strukturen erkennbar sind. Privatisierung und Vermarktlichung Im System der sozialen Sicherung, insbesondere im Bereich der Rentenversicherung (seit Einführung der Riester-Rente), kommt es zu einer deutlichen Reduktion des Rentenniveaus. Das lange Jahre vorherrschende Leistungsziel der Lebensstandardsicherung gilt nur noch sehr eingeschränkt, das Ziel einer Minimal- oder Mindestsicherung gewinnt an Bedeutung. Eine ersetzende private, kapitalgedeckte Vorsorge durch Produkte des Versicherungs- und Finanzmarktes wird ausgebaut und gefördert. Die soziale Sicherung wird damit teilweise privatisiert und vermarktlicht. Der Staat reguliert die expandierenden Wohlfahrtsmärkte, um ein Mindestmaß an Sicherheit und Verbraucherschutz zu gewährleisten, und fördert zugleich die freiwillige private Vorsorge über Zuwendungen und Steuererleichterungen. Im Ergebnis verlieren Solidarprinzip und Einkommensumverteilung an Gewicht, da die private Vorsorge sozial stark selektiv und ausgrenzend wirkt. Der Trend der Privatisierung erfasst gleichermaßen die kommunale Sozialpolitik und Daseinsvorsorge: Die Kommunen ziehen sich aus der Wohnraumversorgung zurück, Wohnungsbestände werden an Konzerne verkauft. Das gleiche gilt für kommunale Krankenhäuser oder Pflegeheime. Aktivierung und Förderung der Beschäftigungsfähigkeit Das Ziel von Sozialpolitik, soziale Sicherheit vor den Risiken des Marktes zu gewährleisten, Einkommensungleichheiten zu begrenzen und Schutz zu bieten vor Ausgrenzung und Armut, wird zurückgedrängt. In den Vordergrund schiebt sich das

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Ziel, alle Arbeitsfähigen in den Arbeitsmarkt zu integrieren – und dies auch zu den schlechtesten Konditionen. In der Arbeitsmarktpolitik soll dies durch Fördermaßnahmen, durch Lohnsubventionen, die Absenkung von Transferleistungen an Arbeitslose sowie durch eine Verschärfung von Sanktionen und die Verschlechterung der Rechtsposition der Betroffenen erzwungen werden. Förden und Fordern lautet das Schlagwort. Es kommt zu einer Re-Kommodifizierung der Arbeitskraft, d. h. die Begrenzung des Warencharakters der Arbeitskraft durch sozial- und arbeitsrechtliche Schutzregelungen wird ausgedünnt. Der Staat zieht sich nicht einfach zurück, sondern wandelt sich vom „versorgenden“ zum „aktivierenden“ Sozialstaat. Bedeutungszuwachs von fürsorgerechtlichen Leistungen Durch die Zusammenführung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe und die gleichzeitige Erschwerung und Verkürzung des Anspruchs auf die Versicherungs- und Lohnersatzleistung Arbeitslosengeld wird die Existenzsicherung des größten Teils der Arbeitslosen auf die fürsorgerechtlich konstruierte Leistung Grundsicherung für Arbeitsuchende/Arbeitslosengeld II verlagert. Der Leistungsbezug wird an die strenge Kondition geknüpft, eine Erwerbstätigkeit oder Arbeitsgelegenheiten auch dann aufzunehmen, wenn mit der neuen Stelle ein sozialer Abstieg verbunden ist. Arbeitslose, die nicht binnen kurzer Zeit eine neue Beschäftigung finden, werden dann trotz womöglich langjähriger Beitragszahlungen gleich behandelt mit jenen, die noch nie in einem Beschäftigungsverhältnis gestanden haben. Dies ist für die Betroffenen ein tatsächliches, für alle (noch) Beschäftigten ein potenzielles Risiko. Die soziale Unsicherheit bei Arbeitslosigkeit wächst, Arbeitslosigkeit wird auch für die Mittelschichten zur existenziellen Bedrohung. Ausweitung von Niedriglöhnen und prekären Beschäftigungsverhältnissen Der Sektor der Niedriglohnbeschäftigung hat sich ausgeweitet. Dies ist zum einen Folge der hohen Arbeitslosigkeit, der Schwäche der Gewerkschaften, der Privatisierung staatlicher Unternehmen und des ungebrochenen Trends der Dienstleistungsbeschäftigung. Zum anderen wirkt die Ausformung der Sozial- und Beschäftigungspolitik auch gezielt in diese Richtung: Infolge des niedrigen Niveaus der Grundsicherung und ihres fehlenden Bezugs zum vormaligen Einkommen, der Bedürftigkeitsprüfungen und Sanktionsmechanismen sowie der Regelung, dass Arbeitslose auch Arbeitsverhältnisse mit einer Entlohnung unterhalb des tariflichen oder ortsüblichen Mindestniveaus annehmen müssen, können Arbeitslose in unterwertige Beschäftigung gedrängt werden. Zugleich werden Anreize gesetzt, nicht sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse auszuweiten, das betrifft vor allem Mini-Jobs, Leiharbeit, befristete Arbeitsverträge und neue Formen selbstständiger Arbeit. Vermischung der Prinzipien von gesetzlicher und privater Versicherung Unverändert bleibt die Sozialversicherung ein grundlegendes, auf die abhängig Beschäftigten konzentriertes System. Der Übergang zu einer universellen Versicherung,

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die sich allein am Bürgerstatus orientiert, ist nicht in Sicht. Aber durch die zunehmende staatliche Regulierung der privaten Sicherung, so in der privaten Krankenversicherung durch Basistarife und Einführung einer Versicherungspflicht, finden sich klassische Prinzipien der Sozialversicherung zunehmend auch im privaten System. Auf der anderen Seite prägen typische Elemente der Privatversicherung, so Wahltarife, Selbstbehalte, Kostenerstattung, die Sozialversicherung, während Elemente des Solidarausgleichs zurück genommen werden mit der Folge einer zunehmenden Belastung und Benachteiligung der Versicherten mit sog. „schlechten Risiken“. Wettbewerbsstrukturen bei den Leistungsanbietern Kommunen und Sozialversicherungsträger ziehen sich aus der direkten Erbringung sozialer Dienstleistungen zurück und übertragen die Aufgaben privaten Anbietern. Durch neue Vergabe- und Finanzierungsverfahren entwickelt sich zwischen den Anbietern ein scharfer Preiswettbewerb, der vor allem die Wohlfahrtsverbände und andere gemeinnützige Träger unter Druck setzt. Und in der gesetzlichen Krankenversicherung selber verschärft sich der Wettbewerb zwischen den einzelnen gesetzlichen Krankenkassen. Veränderungen in den Arbeitsbeziehungen Das System der Arbeitsbeziehungen hat sich formal nicht wesentlich verändert, aber die gelebte Praxis hat sich tiefgreifend gewandelt. Das früher umfassende und engmaschige Netz von branchenbezogenen Flächentarifverträgen, mit denen Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände die Arbeits- und Einkommensbedingungen regeln, hat in den letzten zwei Jahrzehnten viele Löcher bekommen. Die Erosion des Tarifsystems hat die Tarifbindung deutlich zurückgehen lassen. Die weißen Flecken auf der Tariflandkarte werden größer. Nur noch jede/r zweite Beschäftigte wird unmittelbar durch Tarifverträge geschützt. Auch die betriebliche Mitbestimmung hat an Reichweite verloren, der Anteil der Betriebe mit Betriebsräten geht kontinuierlich zurück. Das Ergebnis ist ein deutlich schwächeres Schutzniveau. Eine Ursache liegt in der Schwächung der gewerkschaftlichen Durchsetzungsmacht. Die Gewerkschaften haben seit der Jahrtausendwende erheblich an Mitgliedern verloren. Seit einigen Jahren gilt daher das Bestreben der Tarifparteien und der Politik der Stärkung des Tarifsystems. Durch die Erschließung neuer Mitgliederschichten durch die Gewerkschaften und durch die gesetzliche Förderung von Tarifbindung soll eine Trendumkehr eingeleitet werden. Bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie Das für den deutschen Sozialstaat typische Set an institutionellen Regelungen und Maßnahmen (u. a. abgeleitete soziale Sicherung, Ehegattensteuersplitting, geringfügige Beschäftigungsverhältnisse), das die traditionellen Geschlechterrollen materiell und sozial stützt und für Frauen, und hier insbesondere für Mütter, Erwerbsunterbrechungen und allenfalls Teilzeitarbeit vorsieht, wird zwar nicht abgeschafft aber

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doch modifiziert. In der Rentenversicherung findet eine langsame Umsteuerung von der Honorierung der Ehe hin zur Berücksichtigung der Erziehung von Kindern statt. Ferner fördert das Elternzeit- und Elterngeldgesetz die parallele Verknüpfung von Erwerbstätigkeit und Kindererziehung. Hinzu kommt der deutliche Ausbau der Kinderbetreuungsangebote. Dahinter steht nicht nur die Absicht der Geschlechtergleichstellung, sondern auch der Gedanke einer Sicherung und Förderung der Beschäftigungsfähigkeit von Frauen, sie sollen nach der Geburt von Kindern wieder ins Erwerbsleben zurückkehren, so dass die Bildungsinvestitionen in Frauen nicht fehlgeleitet sind. Bildung und Qualifikation: Investive Sozialpolitik Die traditionelle Blindstelle in der deutschen Sozialpolitik, nämlich die soziale Flankierung von schulischer und beruflicher Bildung wird im Zuge einer verstärkt auf Aktivierung und Vorsorge setzenden Strategie langsam überwunden. Insbesondere die Betreuung und Erziehung von (Klein)Kindern wird ausgebaut, um das zentrale Arbeitsmarktrisiko einer unzureichenden schulischen und beruflichen Qualifikation zu verringern. Investition in Bildung ist das Credo einer vorsorgenden Sozialpolitik. 10.3 Revisionen des Sozialabbaus Aller Grundsatzkritik am „wirtschaftsfeindlichen“ Sozialstaat zum Trotz hat sich die ökonomische Lage in Deutschland seit etwa 2005 laufend verbessert. Seitdem erweist sich Deutschland nicht mehr als „kranker Mann Europas“, sondern gleichsam als Musterschüler und Vorbild: Andauernde Wachstumsraten (lediglich kurzfristig durch die Finanzkrise unterbrochen) sowie ein kontinuierlicher Zuwachs der Beschäftigung und ein merklicher Abbau der Arbeitslosigkeit kennzeichnen die Situation. Bis heute dominiert in der politischen und medialen Debatte die These, genau der vorab skizzierte Sozialabbau und -umbau sei die Ursache für diese Entwicklung. Die vorliegenden ökonomischen Analysen und Daten weisen indes darauf hin, dass es sich sowohl bei der Zunahme der Arbeitsnachfrage und des Arbeitsvolumens als auch beim Rückgang von Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung primär um gesamtwirtschaftliche Niveaueffekte handelt. Diese sind bereits vor dem Inkrafttreten der Hartz-Gesetze eingetreten und haben sich seitdem über Jahre hinweg fortgesetzt. Ein sich selbst verstärkender Dauer-Effekt der Hartz-Gesetze, der bis hin zum aktuellen Rand für den kontinuierlichen Beschäftigungsaufbau kausal verantwortlich ist, lässt sich nicht erkennen. Der anhaltende Aufschwung wie auch die schnelle Überwindung der internationalen Finanzkrise waren im Wesentlichen von der Zunahme des Exports aus dem verarbeitenden Gewerbe getragen, der sich vor allem auf die Entwicklung innovativer Produkte, die hohe Lieferzuverlässigkeit und Fertigungsqualität, im Kern also auf Erfolge in der Innovations- und Qualifizierungspolitik und

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nicht auf niedrige Löhne und abgesenkte Leistungen bei Arbeitslosigkeit, zurückführen lassen. Hinzu kommen die Auswirkungen der temporären Arbeitszeitverkürzungen und des rasanten Zuwachses der Teilzeitarbeit. Im Zuge der günstigen ökonomischen Entwicklung und auch der Konsolidierung der öffentlichen Finanzen hat sich die Stimmungslage in der Sozialstaatsdebatte verschoben: Die Grundsatzkritik am Sozialstaat ist zwar nicht grundsätzlich verstummt, aber deutlich leiser geworden. Und unübersehbar ist auch, dass sich in der konkreten Sozialpolitik die Richtung verändert hat. Leistungsverbesserungen und partielle Revisionen des Paradigmenwechsels bestimmen das Bild: • Einführung des gesetzlichen Mindestlohns, • Begrenzung der Auswüchse von Leiharbeit und prekärer Beschäftigung, • Wiedereinführung der paritätischen Finanzierung in der Krankenversicherung durch Beteiligung der Arbeitgeber an den Zusatzbeiträgen, • Ausweitungen der Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung, • Ausweitung der Maßnahmen der aktiven Arbeitsmarktpolitik (Qualifizierung, Förderung des zweiten Arbeitsmarkts), • Mehrfache Leistungsverbesserungen und -ausweitungen in der Pflegeversicherung, • Leistungsverbesserungen in der Rentenversicherung vor allem im Bereich der Erwerbsminderungsrenten, • Stabilisierung des Rentenniveaus (zumindest) bis 2025. Es bleibt abzuwarten, ob dieser Trend auch dann anhält, wenn sich die wirtschaftlichen Bedingungen wieder verschlechtern sollten und sich die günstige Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt umkehrt.

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Reformperspektiven

Ebenso wie die praktische Sozialpolitik in ihren Ausprägungen und Prinzipien sowie deren Veränderungen von mehrheitlich vertretenen und politisch durchgesetzten Leitvorstellungen geprägt ist, also ohne ihre normativen Hintergründe nicht zu verstehen ist, beruht eine wissenschaftliche Analyse und Bewertung der Sozialpolitik und ihrer Entwicklungstrends immer auch auf Wertvorstellungen und normativ geprägten Einschätzungen. Das gilt im besonderen Maße für die Diskussion über Reformperspektiven und -alternativen. Reformen sind notwendig, um den neuen Herausforderungen gerecht zu werden und den Sozialstaat an die sich verändernden ökonomischen, sozialen und demografischen Verhältnisse anzupassen. Angesichts der Globalisierung der Wirtschaft, der Digitalisierung von Arbeitswelt und Lebenswelt, der Alterung der Bevölkerung, der andauernden Migrationsbewegungen, der Umbrüche in den Lebensformen und

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nicht zuletzt des Klimawandels ist auch und gerade die Sozialpolitik gefordert, die Zukunft positiv zu gestalten und den verbreiteten Zukunftsängsten entgegenzuwirken. Deshalb widmet das vorliegende Handbuch der Reformdiskussion in den einzelnen Kapiteln einen großen Raum, in denen nicht nur die großen Linien skizziert, sondern auch die schwierigen, häufig sogar grundlegenden Detailprobleme behandelt werden. An dieser Stelle soll dem nicht vorgegriffen werden. Vielmehr sollen nachfolgend einige zentrale Grundsätze skizziert werden. Insgesamt geht es darum, Sozialstaat und Sozialstaatsprinzip zugleich zu bewahren und weiter zu entwickeln. Normativer Bezugspunkt ist eine Gesellschaft, die durch soziale Sicherheit und sozialen Ausgleich charakterisiert ist und in der der Staat eine aktive und gestaltende Rolle spielt. Erst auf dieser Basis, so die These, bieten sich für alle Bürgerinnen und Bürger die Möglichkeiten einer freien Entfaltung und gleichberechtigten Teilhabe. Das Vertrauen auf die Sicherheit des Sozialstaates ist ein Kernfundament einer demokratischen und offenen Gesellschaft und eine unverzichtbare Voraussetzung für den gesellschaftlichen Zusammenhalt. 11.1 Soziale Sicherheit, ökonomische Effizienz und Zusammenhalt der Gesellschaft Ein ausgebauter Sozialstaat kann kein „billiger“ Staat sein. Soziale Leistungen, Einrichtungen und Dienste müssen über Abzüge vom Markteinkommen finanziert werden. Nur das kann verteilt werden, was auf dem Markt auch produziert und erwirtschaftet worden ist. Ein hohes Einkommens- und Wohlfahrtsniveau setzt eine hohe Effizienz im Wirtschaftsprozess voraus. Die Voraussetzungen dafür sind schwieriger geworden. Die Weltmarktkonkurrenz hat sich deutlich verschärft, ganze Volkswirtschaften mit ihren Sozialstandards befinden sich in Konkurrenzbeziehungen. Vor allem die Internationalisierung der Geld- und Kapitalmärkte lässt sich als eine neue Qualität der Globalisierung beschreiben, die die Optionen der Unternehmen erweitert und den Handlungsspielraum nationaler Politik begrenzt. Eine stärkere Abstimmung der Finanz- und Sozialpolitik zumindest auf europäischer Ebene wird notwendig, wenn ein Unterbietungswettlauf im Sinne eines Sozial-Dumpings verhindert werden soll. Ein von der Bevölkerung akzeptiertes „soziales Europa“ kann nur erreicht werden, wenn die einseitige Orientierung der EU-Politik auf das ungehemmte Wirken des eines freien Marktes aufgegeben und soziale Mindeststandards verbindlich vereinbart und durchgesetzt werden. Es sind keine Anzeichen dahingehend zu erkennen, dass Länder mit ausgebauten sozialstaatlichen Systemen in diesem verschärften Konkurrenzkampf zu unterliegen drohen. International vergleichende Analysen zeigen, dass es zwischen den Variablen Sozialleistungsniveau einerseits, Wachstumsrate, Beschäftigungs- und Arbeitslosigkeitsniveau andererseits keine eindeutigen Zusammenhänge gibt. Die These, ein möglichst niedriges Niveau an sozialen Leistungen und Standards mit einer entspre-

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chend geringen Steuer- und Abgabenbelastung sowie ein flexibler und deregulierter Arbeitsmarkt verbunden mit einer großen Ungleichverteilung von Einkommen und Vermögen seien die besten Voraussetzungen für eine günstige Position auf dem Weltmarkt und für ein hohes Wachstums- und Beschäftigungsniveau, hält einer empirischen und theoretischen Überprüfung nicht stand. Vielmehr können sich soziale Unsicherheit, Angst vor Arbeitslosigkeit, sozialem Abstieg und sozialer Ausgrenzung als Leistungs- und Motivationsbremse auswirken und den wirtschaftlichen Strukturwandel behindern. Das ist in einer Situation, in der infolge der Digitalisierung der Arbeit Betriebe wie Beschäftigte unter einem beschleunigten Veränderungs- und Anpassungsdruck stehen, auch ökonomisch von Nachteil. Wenn es hingegen gelingt, technologische, ökologische und konjunkturelle Umbrüche sozial abzufedern und zugleich den Wandel der Arbeitswelt durch eine breit angelegte und den Erwerbsverlauf begleitende Ausbildung und Qualifizierung der Beschäftigten zu begleiten, ist dies ein Gewinn für alle Beteiligten. Der Sozialstaat ist deshalb kein unproduktiver „Kostgänger“ einer Volkswirtschaft, sondern wirkt als produktiver Faktor positiv auf die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit zurück. Allerdings legitimiert nicht nur das „Produktivkraft-Argument“ den Sozialstaat. Sozialpolitik hat immer auch eigenständige Ziele, auch jenseits der Maßstäbe der ökonomischen Funktionalität. Der Umgang mit sozial Schwachen, mit Älteren, Behinderten, Familien und Kindern, das qualitative Niveau der gesundheitlichen und pflegerischen Versorgung, die Schaffung von gleichberechtigten Lebenschancen für die gesamte Bevölkerung – all diese Elemente haben einen eigenen Wert, der nicht durch den Hinweis auf ökonomische Effizienzverluste, verminderte Rentabilität oder entgangene Wachstumsraten außer Kraft gesetzt wird. Die Analyse der Lebens- und Arbeitsverhältnisse – aktuell und in der Zukunft – zeigt, dass in einer modernen Wissens- und Dienstleistungsgesellschaft der weit überwiegende Teil der Bevölkerung auf kollektive Sicherungseinrichtungen angewiesen ist und bleiben wird. Gerade weil sich traditionelle Lebensweisen und soziale Bindungen auflösen, Erwerbsverläufe instabiler werden und sich die Risiken auf dem Arbeitsmarkt verschärfen, hat das Bedürfnis nach sozialer Sicherheit und verlässlichen, allgemein zugänglichen und bedarfsgerechten Leistungsangeboten im Sozial- und Gesundheitswesen eine hohe Bedeutung. Sicherlich sind Menschen in einer höheren Einkommens- und Statusposition nicht zwingend auf die Leistungen des Sozialstaats angewiesen, sondern können sich wegen ihrer „guten Risiken“ womöglich günstiger privat absichern. Ein soziales Sicherungssystem jedoch, das sich tendenziell nur noch aus denjenigen zusammensetzt, die der Solidarität bedürfen, und von den Leistungs- und Finanzierungsfähigen verlassen wird, kann sich schnell zu einer diskriminierten Versorgung „zweiter Klasse“ entwickeln. Statt den Zusammenhalt der Gesellschaft zu stärken, käme es zu einer Auseinanderentwicklung.

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11.2 Weiterentwicklung der Sozialversicherung und Gestaltung des Arbeitsmarkts Der Sozialstaat ist ein Eckpfeiler für die Verbindung von ökonomischem Fortschritt, sozialem Ausgleich und demokratischer Gesellschaft. Der Sozialversicherung kommt hierbei eine besondere Bedeutung zu. Die fünf Zweige der Sozialversicherung haben sich mit ihren Elementen Lohn- und Beitragsorientierung, Lohnersatz und Leistungsdynamik bei den Geldleistungen, Bedarfsbezug bei den Sachleistungen sowie paritätische Mittelaufbringung und Selbstverwaltung als gut geeignet erwiesen, die großen Lebensrisiken wie Invalidität, Alter, Krankheit, Pflegebedürftigkeit, Arbeitslosigkeit, Unfall abzusichern. Konstitutiver Bestandteil der Sozialversicherung, der sie sowohl von der Privatversicherung als auch von Fürsorgesystemen unterscheidet, ist vor allem die Verknüpfung von Versicherungsprinzip und Solidarprinzip. Hier ergänzen sich Eigenverantwortung und sozialer Ausgleich, Leistungsorientierung und Lebensstandardsicherung. Die Finanzierung im Umlageverfahren macht die Sozialversicherung unabhängig von den Turbulenzen auf den internationalen Kapitalmärkten. Gleichwohl sind auch Defizite nicht zu übersehen: Die Begrenzung der einzelnen Zweige der Sozialversicherung auf die abhängig Beschäftigten lässt Sicherungslücken entstehen und ist bei der Finanzierung mit Verteilungsungerechtigkeiten verbunden. Vor allem die Sonderregelungen für Selbstständige wie auch für Beamte führen zu Privilegierungen. Zudem lässt sich die Unterstellung, dass Selbstständige ausreichend für sich vorsorgen können und vorsorgen werden, heute weniger denn je halten. Angesichts der Umbrüche in der Arbeitswelt nimmt die Zahl der ungesicherten Selbstständigen zu, dies betrifft nicht nur die Solo-Selbstständigen, sondern auch den Kreis von kleinen Selbstständigen im Dienstleistungssektor und hier im besonders stark wachsenden Maße in der digitalen Plattformökonomie. Mittlerweile verwischen die Grenzen zwischen abhängiger und selbstständiger Arbeit – häufig werden beide Tätigkeitsformen parallel ausgeführt oder es findet ein mehrfacher Wechsel im Erwerbsverlauf statt. Deswegen ist es an der Zeit, die Gesamtheit der Erwerbstätigen im Sinne einer Bürger- oder Erwerbstätigenversicherung in die Sozialversicherungssysteme zu überführen. Solidarität ist unteilbar – im Nehmen wie im Geben. Für die Gewährleistung von sozialer Sicherheit haben die Prinzipien von Lohnersatz und Lebensstandardsicherung eine unverändert große Bedeutung. Denn eine gesicherte Lebensführung und -planung ist in einem System, das lediglich eine Basissicherung bietet, nicht gewährleistet. Private Vorsorge kann hier keinen Ersatz bieten, denn die Absicherung über Versicherungs- und Finanzmärkte kennt weder ein definiertes Leistungsziel noch einen Solidarausgleich. Benachteiligt sind vor allem jene, die aufgrund ihrer ungünstigen Arbeitsmarkt-, Lebens- und Einkommenslage weder bereit noch fähig sind, zu sparen oder Versicherungsprämien zu zahlen. Deshalb gilt es, den Schutz durch die Sozialversicherung hinsichtlich des Personenkreises und des Leistungsniveaus wieder zu erweitern. Das betrifft die Rentenversicherung wie

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auch die Arbeitslosenversicherung. Wenn Arbeitslose schon nach kurzer Zeit kein Arbeitslosengeld mehr erhalten – und zwar weitgehend unabhängig von der Dauer der vormaligen Beitragszahlung – und auf die bedürftigkeitsgeprüfte Grundsicherung verwiesen werden, so hat dies dazu beigetragen, dass breite Teile der Bevölkerung Ängste vor einem sozialen Abstieg haben. Das Sozialversicherungssystem ist eng mit dem Arbeitsmarkt verbunden. Ein hohes Niveau an sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung sowie gute Löhne tragen nicht nur zu hohen Beitragseinnahmen bei, sondern verbessern auch die Leistungsansprüche Versicherten. Arbeitslosigkeit, diskontinuierliche Erwerbsverläufe, prekäre Beschäftigung, Niedriglöhne und die Ausdehnung von Teilzeitarbeit im unteren Stundenspektrum bewirken genau das Gegenteil. Arbeitslosigkeit und insbesondere die Langzeitarbeitslosigkeit führen zu gravierenden gesellschaftlichen und sozialen Folgeproblemen: Der Ausschluss aus der Erwerbsarbeit ist eng mit dem Risiko von Armut und sozialer Ausgrenzung verbunden, gefährdet die gesellschaftliche, kulturelle und politische Teilhabe und kann zur Desintegration ganzer Bevölkerungsgruppen führen. Die Sozialpolitik wäre allerdings überfordert, wenn sie versuchen würde, all diese Probleme nachträglich auszugleichen. Insofern bleiben Vermeidung und Bekämpfung von Arbeitslosigkeit und die Erhöhung des Beschäftigungsniveaus eine Daueraufgabe einer vorsorgenden, präventiven Politik. Zugleich muss es darum gehen, Arbeitsförderung und Qualifizierungsangebote auszuweiten sowie die Arbeitsverhältnisse sozialstaatlich zu regulieren. Das setzt vor allem voraus, die Tarifautonomie zu stärken, die Schutzwirkung von Tarifverträgen auszuweiten und ergänzend für einen ausreichend hohen Mindestlohn zu sorgen. So lassen sich Niedriglöhne und die aufklaffenden Lohnspreizungen eindämmen. Betroffen von den Problemen auf dem Arbeitsmarkt, die unmittelbare Auswirkungen auf die soziale Absicherung haben, sind vor allem Frauen. Damit ist die Aufgabe angesprochen, die „Zuverdienstrolle“ von Frauen, die durch Anreize im Sozial- und Steuerrecht ja noch gefördert wird, zu überwinden und die parallele Vereinbarkeit von Beruf und Kindererziehung sowie von Angehörigenpflege möglich zu machen, und zwar für beide Geschlechter. 11.3 Vorsorge und sozialer Ausgleich Die Vermeidung von sozialen Risiken und Problemen hat zweifelsohne Vorrang vor der reinen Nachsorge und Kompensation. Dieser Grundsatz gilt für die Krankenversicherung und das Gesundheitssystem wie für die Absicherung bei Arbeitslosigkeit und die Arbeitsmarktpolitik. Es ist immer besser, das Entstehen von Krankheiten zu vermeiden, statt eine aufwändige Behandlung durchzuführen. Und wenn das Auftreten von arbeitsbedingten Erkrankungen, Erwerbsminderung und beruflicher Frühausgliederung verhindert werden soll, müssen die Arbeitsbedingungen und -be-

Reformperspektiven

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lastungen müssen so gestaltet werden, dass die Beschäftigten in der Lage sind, die Regelaltersgrenze in Gesundheit zu erreichen. Auch ist es geboten durch eine ausreichende schulische und berufliche Bildung und durch ergänzende Qualifizierungsund Eingliederungsmaßnahmen die Beschäftigungsfähigkeit zu fördern statt Arbeitslosigkeit zu finanzieren. Dennoch kann sich Sozialpolitik nicht in der Vorsorge erschöpfen. Immer wird es auch notwendig sein, die Betroffenen bei eingetretenen Problemen zu unterstützen, ihnen ein ausreichendes Einkommen zu zahlen und gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen. Denn durch die Sicherung von Chancengerechtigkeit und die Förderung von Beschäftigungsfähigkeit allein können die einmal entstandenen sozialen Probleme nicht gelöst werden. Auch wenn es richtig ist, die Verantwortung der Menschen für ihr Leben zu betonen, so wäre es falsch, soziale Probleme im Kern als individuelles Fehlverhalten zu interpretieren. So ist Arbeitslosigkeit keine Folge unzureichender Beschäftigungsfähigkeit und fehlender Bereitschaft einen Arbeitsplatz aufzunehmen, sondern Ergebnis eines gesamtwirtschaftlichen oder regionalen Arbeitsplatzdefizits. Auch Sanktionen und scharfe Zumutbarkeitsregelungen schaffen keine Arbeitsplätze. Die Vermeidung von Armut und sozialer Ausgrenzung zählt unbestritten zu einer zentralen Aufgabe einer vorsorgenden Sozialpolitik. Erforderlich ist eine Veränderung der Einkommensverteilung. Die empirischen Befunde über die Verteilung von Einkommen und Vermögen lassen erkennen, dass in den zurückliegenden Jahren die soziale Ungleichheit in der Gesellschaft zugenommen hat. Und trotz der günstigen wirtschaftlichen Entwicklung und des Rückgangs der Arbeitslosigkeit hat sich die Betroffenheit von Einkommensarmut nicht vermindert, sondern eher erhöht. Vor allem jene Menschen und deren Kinder, die sich über längere Zeit in einer Armutslage befinden und deren Lebenswelten sich auf bestimmte „abgehängte“ Regionen, Städte und Stadteile konzentrieren, sind von sozialer Ausgrenzung bedroht. Ganz offensichtlich gibt es Lücken im der Grundsicherung vorgelagerten sozialen Netz, so bei der Absicherung von Arbeitslosen und beim Familienleistungsausgleich. Zugleich fällt das Leistungsniveau der Grundsicherung zu niedrig aus und muss angehoben werden. Der Ersatz des bisherigen Leistungssystems durch ein bedingungsloses Grundeinkommens ist jedoch kein akzeptabler Weg. Die Auszahlung eines pauschalen Transfers in ausreichender Höhe an die gesamte Bevölkerung – ohne Berücksichtigung des tatsächlichen Bedarfs und ohne jegliche Bedingungen – wäre nicht nur extrem teuer und mit einem Wegfall von allen anderen Sozialleistungen bis hin zur Sozialversicherung verbunden, sondern geht auch von der Auffassung aus, dass Geld alle Probleme löst. Maßnahmen zur Vermeidung und Bekämpfung von Armutslagen müssen jedoch auch auf die Problemursachen und auf die Förderung der Betroffenen zielen – so u. a. in Richtung auf Arbeitsmarktintegration, auf schulische und berufliche Bildung und eine Verbesserung des Wohnumfeldes.

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Sozialpolitik und soziale Lage

11.4 Verlässliche Finanzierung und Stärkung der Akzeptanz Wenn die notwendigen finanziellen Mittel fehlen bzw. verweigert werden, sind sozialpolitische Reformen nicht durchzusetzen. Die Frage nach einer verlässlichen Finanzierung der Systeme der sozialen Sicherung ist deshalb von entscheidender Bedeutung für die Stabilität und Entwicklungsfähigkeit des Sozialstaates. Verlässlichkeit in der Finanzierung bezieht sich dabei nicht nur auf das Niveau des Aufkommens von Steuern und Beiträgen, gleichermaßen wichtig ist es, bei der Lastenverteilung Gerechtigkeitsmaßstäbe zu berücksichtigen, weil nur so die Akzeptanz des Systems gesichert werden kann. Die in den nächsten Jahren absehbaren demografisch bedingten Belastungen in der Alterssicherung wie auch in der Pflege wiegen schwer, sie lassen sich begrenzen, wenn die Erwerbsbeteiligung weiter erhöht wird und wenn es gelingt, die Zugewanderten in Beschäftigung zu bringen. „Wegreformieren“ lassen sich die demografischen Belastungen allerdings nicht. Auch eine private Vorsorge muss finanziert werden und mindert das verfügbare Einkommen. Die fiskalische Notwendigkeit, hinsichtlich der ganzen Spannweite öffentlicher Aufgaben und Ausgaben Prioritäten zu setzen, wird anhalten. Das gilt auch für die schwierige Frage nach dem Vorrang und Nachrang von Aufgaben und Ausgaben innerhalb der Sozialetats. Zu prüfen ist, welches Leistungsspektrum und -niveau notwendig ist und was öffentlich und was privat finanziert werden soll. Die Grenzziehung zwischen öffentlichen und privaten Aufgaben und zwischen staatlicher und privater Vorsorge vor den Wechselfällen des Lebens ist dabei nicht festgeschrieben, sondern sollte an die veränderten Lebensformen und Lebensrisiken angepasst werden. Zugleich besteht die Aufgabe, in den sozialen Systemen Wirtschaftlichkeitsreserven aufzuspüren. So ist im Gesundheitssystem ein Nebeneinander von Überversorgung, Fehlversorgung und zugleich Unterversorgung festzustellen. Durch eine bessere Steuerung der Angebotsstrukturen und eine Ökonomisierung der Betriebsabläufe kann es gelingen, die knappen Ressourcen zielgenauer und effizienter einzusetzen. Dabei muss allerdings immer darauf geachtet werden, dass eine Rationalisierungsund Kostensenkungsstrategie nicht zu Lasten der Qualität der Leistungserbringung und des Personals geht. Genau dies ist Folge der fortschreitenden Privatisierung von öffentlichen Einrichtungen im Bereich des Gesundheits- und Sozialwesens (Krankenhäuser, Pflegeheime). Die immer wieder auftretenden Finanzierungsprobleme der Sozialversicherungsträger und die Erfahrungen von Beitragssatzsteigerungen bei gleichzeitigem Abbau von Leistungen haben das Vertrauen in die Systeme der sozialen Sicherung erschüttert. Die Zweifel an der Verlässlichkeit der Sozialpolitik sind gewachsen. Die von den Kritikern des Sozialstaats vehement vertretene und in den Medien aufgegriffene These, umlagefinanzierte Solidarsysteme seien auf Dauer nicht tragfähig und finanzierbar, findet Zustimmung. De Befürchtung greift um sich, in der Rentenversicherung

Literaturhinweise

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keinen entsprechenden Gegenwert für die eingezahlten Beiträge mehr zu erhalten. Gerade bei der jungen Generation wächst die Stimmung, dass angesichts des demografischen Umbruchs ein Ausstieg aus der Sozialversicherung die einzig rationale Antwort sei, um die soziale Absicherung durch individuelle Vorsorge in die eigene Hand nehmen zu können. Individuelle Vorsorge statt Solidarausgleich, Privatversicherung statt Sozialversicherung heißt die Schlussfolgerung, die zwar den Interessen des privaten Banken- und Versicherungswesens entspricht aber angesichts der Turbulenzen auf den internationalen Kapital- und Finanzmärkten alles andere als soziale Sicherheit erwarten lässt. Quantität und Qualität von sozialer Sicherung und Sozialpolitik hängen aber nicht nur davon ab, was sich eine Volkswirtschaft ökonomisch leisten kann. Viel entscheidender ist, welches Niveau und welche Ausformung an sozialer Sicherung sich die Menschen leisten wollen und welchen Beitrag an Solidarität sie zu geben bereit sind. Es bedarf immer der Bereitschaft der Bevölkerung, die hohen Lasten, die ein ausgebautes Sozialsystem unweigerlich verursacht, mit den entsprechenden Einbußen im verfügbaren Einkommen auch zu tragen. Nicht nur die Schwächeren, sondern auch die Stärkeren müssen das System stützen. Die Frage nach der Zukunftsfähigkeit eines Sozialstaates ist damit nicht zuletzt eine Frage nach seiner politischen Akzeptanz.

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Sozialpolitik und soziale Lage

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Sozialpolitik und soziale Lage

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Sozialwissenschaftliche Fachzeitschriften Journal of European Social Policy Kölner Zeitschrift für Soziologie Leviathan Soziale Bewegungen Soziale Passagen Soziale Welt Zeitschrift für Soziologie

Aktuelle Dokumente, Berichte, Analysen zu den Grundsatzfragen von Sozialpolitik und Sozialstaat finden sich auf www.sozialpolitik-aktuell.de zum Download.

II

Ökonomische Grundlagen und Finanzierung

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Sozialpolitik in der Marktwirtschaft

Sozialpolitik verfolgt das Ziel, soziale Risiken zu begrenzen und deren Folgen auszugleichen, Menschen bei der Bewältigung sozialer Probleme zu unterstützen sowie Einkommens-, Versorgungs- und Lebenslagen zu stabilisieren und zu verbessern. Mit ihren Maßnahmen bewegt sich Sozialpolitik auf dem Boden einer marktwirtschaftlich-kapitalistischen Wirtschaftsordnung. Die Erfahrungen haben gezeigt, dass das Marktsystem eine hohe ökonomische Leistungsfähigkeit aufweist und auf der Basis von Privateigentum an Produktionsmitteln, Autonomie von Produzenten und Konsumenten, freier Preisbildung, Wettbewerb und leistungsorientierter Entlohnung zu einer effizienten Allokation der Produktionsfaktoren beiträgt. Die Leistungsfähigkeit der Marktwirtschaft äußert sich in der anhaltenden Dynamik von Produktion und Produktivität, der Förderung und schnellen Umsetzung von neuen Technologien, in einem hohen gesamtgesellschaftlichen Einkommens- und Wohlstandsniveau sowie in einem umfassenden Angebot an Gütern und Dienstleistungen. Auf der anderen Seite ist eine sich selbst überlassene Marktwirtschaft krisenanfällig, kann Arbeitslosigkeit nicht vermeiden und zu einer ungleichen, sozial nicht akzeptablen Verteilung von Einkommen und Vermögen sowie von Lebenslagen insgesamt führen. Die Summe der wirtschaftlichen Eigeninteressen entspricht nicht dem gesamtgesellschaftlichen Interesse. Vielmehr schafft und verschärft ein ungehemmter Marktmechanismus soziale Probleme und gefährdet damit den gesellschaftlichen Zusammenhalt, versagt aber zugleich bei der verlässlichen Absicherung von sozialen Risiken und der bedarfsgerechten Versorgung mit sozialen Dienstleistungen und sozialer Infrastruktur. Durch den Einsatz der staatlichen Sozialpolitik soll dieser Entwicklung entgegengewirkt und die Marktwirtschaft ergänzt und korrigiert werden.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 G. Bäcker et al., Sozialpolitik und soziale Lage in Deutschland, https://doi.org/10.1007/978-3-658-06249-1_2

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1.1

Ökonomische Grundlagen und Finanzierung

Sozialpolitische Interventionsebenen und -formen

Die Eingriffe der Sozialpolitik in den Steuerungs- und Verteilungsmechanismus des Marktes lassen sich nach Interventionsebenen und -formen unterscheiden (Abbildung II.1): Durch die rechtliche Regulierung von Märkten, vor allem des Arbeitsmarktes, wird die Autonomie der Marktteilnehmer begrenzt und deren Verhalten in zentralen Bereichen gelenkt und normiert. • Durch sozialpolitische Geldzahlungen erhalten Personen, die kein oder kein ausreichendes Markteinkommen erzielen, einen Ausgleich; es kommt zu einer Korrektur der Einkommensverteilung. • Durch die Bereitstellung von Diensten und Einrichtungen im Bereich des Gesundheits- und Sozialwesens, die weitgehend unentgeltlich und nach Bedarf in Anspruch genommen werden können, wirkt der Staat als Produzent und/oder Finanzier von sozialen und gesundheitlichen Dienstleistungen.



Abbildung II.1 Sozialpolitik in der Marktwirtschaft Regulierung von Märkten

Einkommensumverteilung

Bereitstellung sozialer Dienste

Setzung eines Ordnungsrahmens durch gesetzliche Geund Verbote, Einschränkung der Vertragsfreiheit

Zahlung von Sozialeinkommen an Personen, die kein oder kein ausreichendes Markteinkommen erhalten

Unentgeltliche Inanspruchnahme von Sach- und Dienstleistungen, Steuerung von Angebot und Nachfrage nach Bedarfsmaßstäben

Medium

Recht

Geld

Staatliche Eigenproduktion oder Finanzierung privater Anbieter

Wirkung

Verhaltenssteuerung der Marktakteure

Korrektur der Markteinkommen

Ausschaltung des Markt-PreisMechanismus

Beispiele

Arbeitsmarkt, Versicherungsmarkt, Gesundheitsmarkt, Pflegemarkt

Geldleistungen der Sozialversicherung, Grundsicherung, Kindergeld

Gesundheitswesen, Sozialwesen, Bildungswesen

Interventionsform

Sozialpolitik in der Marktwirtschaft

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• Um die Zahlung der Geldleistungen sowie die Bereitstellung sozialer Dienste und Einrichtungen finanzieren zu können, erhebt der Staat Abgaben (Steuern und Beiträge). Regulierung von Märkten, insbesondere des Arbeitsmarktes Die wirtschaftsliberalen Prinzipien eines ungehinderten Wirkens von Angebot und Nachfrage, von Vertragsfreiheit und Wettbewerb kommen insbesondere auf dem Arbeitsmarkt nur eingeschränkt zur Wirkung. Der Arbeitsmarkt ist ein sozialstaatlich regulierter Markt, auf dem das Handeln der Akteure durch gesetzliche Ge- und Verbote geordnet wird. Beispiele für diesen Ordnungsrahmen sind u. a. (vgl. dazu ausführlich Kapitel „Arbeit und Arbeitsmarkt“; Kapitel „Arbeit und Gesundheit“ und Kapitel „Arbeitsbeziehungen“) • • • • • • • •

der gesetzliche Mindestlohn, die Mitbestimmung im Betrieb und Unternehmen, der Kündigungsschutz, die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall, die Schutzbestimmungen für besondere Personengruppen (so für Jugendliche und Menschen mit Behinderung), die Arbeitszeitvorschriften, Regelungen von Elternzeit- und Pflegezeit, der Arbeits- und Gesundheitsschutz.

Der Arbeitsmarkt ist zugleich dadurch charakterisiert, dass zentrale Regelungsbereiche von Arbeitsverhältnissen durch Kollektivvereinbarungen zwischen Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden bestimmt werden. Die im Rahmen von Koalitionsfreiheit und Tarifautonomie geschlossenen Tarifverträge legen Mindestnormen für Entlohnung, Arbeitszeit und Arbeitsbedingungen fest. Diese gesetzlichen und kollektivvertraglichen Regulierungen reagieren auf den Tatbestand, dass es sich beim Arbeitsmarkt um einen besonderen Markt handelt: Die auf dem Arbeitsmarkt gehandelte Ware „Arbeitskraft“ lässt nicht von ihren Verkäufern, den Arbeitnehmer:innen, trennen. Die Menschen, die ihre Arbeitskraft anbieten und einsetzen, bringen sich mit ihrer ganzen Person, mit ihren Interessen, lebensweltlichen Anforderungen und Bedürfnissen in den Arbeitsprozess ein. Die Beschäftigten stehen zugleich unter einem hohen Angebotsdruck, denn Aufnahme und Aufrechterhaltung eines Arbeitsverhältnisses und der Bezug eines Lohnes sind zur Sicherung des Lebensunterhalts zwingend erforderlich. Die Bedingungen und Ergebnisse auf dem Arbeitsmarkt sind damit von entscheidender Bedeutung für die Lebenslagen und -perspektiven der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung. Die Regulierungen auf dem Arbeitsmarkt zielen darauf ab, das Markt- und Machtungleichgewicht zwischen Arbeitsangebot und Arbeitsnachfrage, zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern auszugleichen, im Arbeitsleben soziale Maßstäbe zur

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Ökonomische Grundlagen und Finanzierung

Geltung zu bringen und die Beschäftigten vor Gesundheitsgefährdungen, unzumutbaren Arbeitsbedingungen, überlangen Arbeitszeiten und unzureichender Entlohnung zu schützen. Der Warencharakter der Arbeit wird eingeschränkt (Dekommodifizierung), ihre Marktabhängigkeit verringert. Von der Ordnung des Arbeitsmarktes gehen positive Wirkungen („externe Effekte“) auf die Wirtschaft und Gesellschaft insgesamt aus. So liegt die Sicherung von Gesundheit und Arbeitsfähigkeit der Beschäftigten im übergeordneten gesellschaftlichen Interesse und ist ein wichtiges Element einer vorbeugenden Sozialpolitik. Gesetzliche Mindestlöhne können dazu beitragen, dass das sozial-kulturelle Existenzminimum nicht unterschritten wird und die Notwendigkeit einer sozialpolitischen Einkommensaufstockung durch Leistungen der Grundsicherung vermieden wird. Eine Gesellschaft, die den sozialen Zusammenhalt gewährleisten und soziale Verwerfungen vermeiden will, ist aber auch ganz grundsätzlich auf einen sozialen Ausgleich am Arbeitsmarkt angewiesen. Nur auf der Grundlage verlässlicher Beschäftigungsperspektiven und existenzsichernder Entlohnung können die Arbeitnehmer:innen ihr Leben mit einem Mindestmaß an Sicherheit gestalten und planen. Nicht zuletzt lassen sich Berufstätigkeit und familiäre Aufgaben – insbesondere im Hinblick auf das Leben mit Kindern und Pflege von älteren Angehörigen – nur miteinander vereinbaren, wenn bei der Gestaltung von Arbeitszeiten und -bedingungen auch die familiären Anforderungen Berücksichtigung finden. Spezifische, sozialpolitisch motivierte Regulierungen, die über den allgemeinen Ordnungsrahmen der Marktwirtschaft hinausreichen, finden sich auch auf den Märkten der privaten Vorsorge und Versorgung. Abgestellt wird auf jenen Sektor der sozialen Absicherung, der nicht durch den Staat organisiert und dessen Finanzierung auch nicht über Abgaben sichergestellt wird, sondern privatwirtschaftlich gestaltet ist, sich über Preise finanziert und der angesichts der Vermarktlichung vieler Bereiche der Sozialpolitik an Gewicht gewonnen hat. Im Wesentlichen handelt es sich hier um Regulierungen auf den Finanz- und Versicherungsmärkten, auf den Märkten für soziale und gesundheitliche Dienstleistungen sowie auf den Märkten für Medizinprodukte und Arzneimittel. Ziel ist, die Dominanz der Anbieterseite zu begrenzen und die Position der Nachfrager und Verbraucher zu stärken, Informationsasymmetrien auszugleichen, Qualitätsmaßstäbe festzulegen und ein Mindestmaß an Sicherheiten zu garantieren. Folgende Beispiele sind zu nennen: • • •

Der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) unterliegt die Aufsicht über Lebensversicherungen. Im Bereich des Gesundheitswesens werden die Unternehmen der privaten Krankenversicherung durch das Bundesamt für das Versicherungswesen (BAV) beaufsichtigt. Die privaten Krankenversicherungen sind gesetzlich verpflichtet, einen Basistarif für alle anzubieten.

Sozialpolitik in der Marktwirtschaft

• • •

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Die Honorierung für Privatärzte wird durch die Gebührenordnung für privatärztliche Leistungen (GOÄ) geregelt. Die Zulassung von Arzneimitteln und die Bewertung von Risiken von Medizinprodukten werden u. a. durch das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) vorgenommen. Pflegeheime werden durch die Länderbehörden beaufsichtigt.

In dem Maße, wie der Staat private Altersvorsorge durch Steuererleichterungen oder direkte Zulagen fördert, legt er auch fest, welchen Anforderungen ein förderfähiges privates Vorsorgeprodukt genügen muss; dies gilt z. B. für die Förderung der privaten Altersvorsorge im Rahmen der „Riester-Rente“ (vgl. Kapitel „Alter“, Pkt. 8.2.2). Einkommensumverteilung durch Geldleistungen Die aus der Beteiligung am Wirtschaftsprozess erzielten Einkommen – Einkommen aus abhängiger Arbeit sowie Einkommen aus Gewinn und Vermögen – verteilen sich in einer Marktwirtschaft nach dem Kriterium des wirtschaftlichen Erfolges. Diese Einkommensverteilung weist gravierende Funktionsdefizite auf: •

Leer gehen die Personen aus, die keinen Zugang zum Arbeitsmarkt haben. Dazu zählen Kinder und Jugendliche, die noch nicht erwerbsfähig sind und/oder in einer Ausbildung stehen. Ohne Erwerbseinkommen bleiben aber auch dauerhaft Kranke und Behinderte sowie Menschen, die wegen familiärer Aufgaben (Kindererziehung, Pflege) häuslich gebunden sind. • Zu Einkommens- und Versorgungslücken kommt es bei einer Unterbrechung oder Beendigung von Arbeitsverhältnis und -einkommen durch Krankheit, Unfall, Invalidität, Arbeitslosigkeit und im Alter. • Die an Erfolg und Leistung orientierte Einkommensbemessung lässt besondere Bedarfslagen und erforderliche Ausgaben, die bei einer Person bzw. in einem Haushalt anfallen, unberücksichtigt: Das Markteinkommen reagiert nicht darauf, wenn beispielsweise der Unterhalt von Kindern sichergestellt werden muss, hohe Wohnkosten anfallen oder Ausgaben im Krankheitsfall zu finanzieren sind. • Der weit überwiegende Teil der Bevölkerung verfügt nicht über Kapitaleinkünfte, die hoch genug sind, um damit auch ohne Arbeit die Existenz zu sichern. Infolge dieser Defizite einer marktlichen Einkommensverteilung ist nicht gewährleistet, dass die gesamte Bevölkerung einen ausreichenden Lebensunterhalt erhält. Nicht nur die Existenzgrundlagen einer Großzahl von Menschen sind gefährdet; von Armut, Not und Einkommensunsicherheit gehen zugleich negative Effekte auf die gesamte Gesellschaft und Wirtschaft aus. Zwar kann im Rahmen des Marktsystems durchaus Vorsorge gegenüber Einkommensrisiken getroffen werden. Durch Sparen und Vermögensbildung oder durch den Abschluss von Versicherungen lassen sich Einkommensausfälle überbrücken. Aber die Reichweite einer privaten sozialen Ab-

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Ökonomische Grundlagen und Finanzierung

sicherung ist begrenzt. Ebenso begrenzt sind die Möglichkeiten eines Einkommensausgleichs im familiären Verbund (vgl. ausführlich: Kapitel „Einkommen“, Pkt. 4.1). Staatliche Sozialpolitik reagiert auf die Defizite der marktlichen Einkommensverteilung: Personen, die kein Markteinkommen erzielen oder deren Markteinkommen nicht ausreicht, um den Lebensunterhalt zu sichern, erhalten unter bestimmten Voraussetzungen über sozialpolitische Geldleistungen einen Ausgleich. Es kommt zu einer partiellen Entkopplung von Arbeit und Einkommen und damit ebenfalls zu einer Einschränkung des Warencharakters der Arbeitskraft. Der Grad der Dekommodifizierung hängt dabei davon ab, in welchem Maße der Anspruch auf Sozialeinkommen und die Leistungshöhe von einer vorangegangenen Erwerbstätigkeit abhängig sind. Finanziert werden die Zahlungen durch Abgaben (Steuern und Beiträge), mit denen die Markteinkommen belegt werden. Den Einkommensübertragungen stehen damit Einkommensabzüge gegenüber. Diese Umverteilung der Markteinkommen belastet Personen mit höherem und begünstigt Personen mit niedrigerem Einkommen (interpersonelle Umverteilung), gleicht die unterschiedliche Betroffenheit von sozialen Risiken aus (risikobezogene Umverteilung) und verlagert – so vor allem in der Alterssicherung – Einkommen in zeitlicher Hinsicht (intertemporale Umverteilung). Zielsetzung dieses Umverteilungsvorgangs ist es, Unterversorgung und Armut zu vermeiden, Einkommensausfälle bei den großen Lebensrisiken zu überbrücken, den Einkommensverlauf im Sinne einer Lebensstandardsicherung zu verstetigen und besondere Bedarfslagen zu berücksichtigen: •

Das Ziel der Armutsvermeidung ist in erster Linie Aufgabe der Systeme der Grundsicherung. • Der Einkommensausgleich bei Krankheit, Arbeitslosigkeit, Arbeitsunfällen, Erwerbsminderung und im Alter ist Aufgabe der Sozialversicherung und anderer gesetzlicher Vorsorgesysteme. • Besondere Bedarfslagen werden insbesondere durch den Familienleistungsausgleich (Kindergeld, Ausbildungsförderung) und durch Wohngeld und Elterngeld ausgeglichen. Bereitstellung von Dienstleistungen im Gesundheits-, Sozial- und Bildungswesen Die konstitutiven Elemente einer Marktwirtschaft, nämlich freies Spiel von Angebot und Nachfrage (Anbieter- und Konsumentensouveränität), Wettbewerb, Steuerung von Angebot und Nachfrage und Ressourcenallokation über den Preis, führen nicht automatisch und nicht immer zu einer optimalen Versorgung der Bevölkerung mit Gütern und Dienstleistungen. In einigen Bereichen kommt es zu gar keinem Angebot oder lediglich zu einer – an Bedarfsmaßstäben gemessenen – unzureichenden Versorgung. Ein solches Marktversagen tritt ein, wenn sich Konsum und Nutzen eines

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Gutes oder einer Dienstleistung nicht oder nur sehr eingeschränkt einem potenziellen Käufer zurechnen und auf ihn begrenzen lassen. Auch diejenigen, die nicht bezahlen, würden gleichermaßen von dem Angebot profitieren. Da unter diesen Bedingungen keine individuelle Zahlungsbereitschaft besteht, kommt es trotz eines hohen Bedarfs zu keiner privaten Bereitstellung der entsprechenden Güter oder Dienstleistungen. Wenn aus übergeordneten gesamtwirtschaftlichen und -gesellschaftlichen Gründen dennoch ein bedarfs- und flächendeckendes Angebot für notwendig gehalten wird, muss der Staat die Bereitstellung organisieren und die Finanzierung über öffentliche Abgaben sicherstellen. Es handelt sich dann um „öffentliche Güter“. Beispiele dafür finden sich nicht nur in den Bereichen innere und äußere Sicherheit, Bildungswesen, Verkehrswesen, Infrastruktur und Daseinsvorsorge, sondern auch im Sozial- und Gesundheitswesen (Kinder- und Jugendhilfe, Sozialarbeit, Gesundheitsdienst) (vgl. Kapitel „Soziale Dienste“, Pkt. 2.2). Probleme entstehen aber auch dann, wenn zwar Angebot und Nachfrage aufeinander treffen und sich ein Markt entwickelt, aber Versorgungsniveau und -qualität politisch-demokratisch gesetzten (Mindest)Kriterien nicht entsprechen. Als grundlegendes Ziel kann gelten, dass in bestimmten, herausgehobenen Lebensbereichen, so bei der Gesundheitsversorgung oder bei der Versorgung mit sozialen Dienstleistungen, alle Menschen entsprechend ihrem Bedarf die erforderlichen Leistungen in Anspruch nehmen können. Dazu ist der Markt-Preis-Mechanismus nicht in der Lage, denn die Steuerung des Marktes über Preise bindet die Nachfrage an das zur Verfügung stehende Einkommen der Käufer. Bei fehlender oder begrenzter Kaufkraft erfolgt keine oder eine nur unzureichende Berücksichtigung der Bedarfe. Werden Dienste hingegen öffentlich bereitgestellt und finanziert, kann deren Inanspruchnahme unentgeltlich oder gegen einen Kostenbeitrag erfolgen; es kommt dadurch zu einer Verschiebung des Nachfrageverhaltens und der ansonsten durch Kaufkraft und Preisrelationen beeinflussten Konsumentenpräferenzen. Hier handelt es sich um so genannte „meritorische Güter“, die zwar prinzipiell marktfähig sind, deren einkommensabhängige Nutzung aber als nicht akzeptabel angesehen wird. Zuteilung bzw. Inanspruchnahme der Dienste und Leistungen werden nicht über den Preis, sondern über administrative Regelungen gesteuert. Eine unentgeltliche Nutzung der Leistungen setzt deren öffentliche Finanzierung voraus; nicht erforderlich ist hingegen, dass die Erbringung auch immer in eigener Regie des Staates (Gebietskörperschaften oder Sozialversicherungsträger) erfolgt. Soziale und gesundheitliche Dienste und Einrichtungen werden im hohen Maße durch private Anbieter (Freiberufler, Einzelunternehmer, Konzerne) oder durch gemeinnützige Organisationen (Wohlfahrtsverbände) erbracht. Die Refinanzierung durch öffentliche Mittel dient nicht nur zur Kostendeckung, sondern ermöglicht auch die Erwirtschaftung von Gewinnen. Zwar müssen sich in weiten Bereichen auch die Nutzer an der Finanzierung beteiligen (durch Zuzahlungen, Selbstbehalte, Gebühren usw.), aber das Angebot der

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Ökonomische Grundlagen und Finanzierung

Privaten wird nicht gegen Entgelt verkauft, so dass Nutzer und Finanzier der Leistung nicht identisch sind. Damit stehen die privaten Leistungsanbieter außerhalb des normalen Markt- und Wettbewerbssystems. Allerdings werden durch die jeweiligen Vergabeverfahren und Finanzierungsformen zwischen den Anbietern marktförmige Wettbewerbsprozesse in Gang gesetzt. (vgl. dazu Kapitel „Gesundheit und Gesundheitssystem“, Pkt. 12.4; „Pflegebedürftigkeit und Pflege“, Pkt. 6.4 und „Soziale Dienste“, Pkt. 5.3). Um Versorgungsdefizite zu vermeiden und Qualitätsstandards zu sichern, werden staatliche Regulierungen erforderlich, die zu einem erheblichen bürokratischen Aufwand führen Soweit die Leistungsberechtigten zwischen verschiedenen Anbietern auswählen können, kommt es zudem darauf an, Transparenz auf den Wohlfahrtsmärkten zu schaffen. Beispiele für den Mix von öffentlicher (Länder und Kommunen, Sozialversicherungsträger) sowie privater Erbringung (gemeinnützige oder gewinnwirtschaftliche Anbieter) von Sach- und Dienstleistungen finden sich auf nahezu allen Feldern des Sozialstaates. Die Dominanz privater Leistungserbringer im Gesundheitswesen (so vor allem niedergelassene Ärzt:innen, Therapeuten:innen, Apotheken) oder im Sozialwesen (Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe, der Behindertenhilfe und der Kinderbetreuung durch die Verbände der Wohlfahrtspflege) ist nicht neu. Der Rückzug vor allem der Kommunen und der Sozialversicherungsträger aus vielen anderen Feldern der sozialen Dienste hat in den zurückliegenden Jahren aber insgesamt zu einem erheblichen Bedeutungszuwachs der privaten Anbieter geführt: Diese Tendenz zur Privatisierung findet sich vor allem bei • • •

Krankenhäusern und Rehabilitationskliniken, Pflegeheimen (stationäre und teilstationäre Versorgung), Leistungen der Arbeitsförderung (Berufsberatung, Arbeitsvermittlung, berufliche Weiterbildung).

Da die bedarfsbezogene Inanspruchnahme zu einer Übertragung spezifischer realer Leistungen führt, lässt sich hier von Realtransfers sprechen. Gefördert und finanziert werden Leistungsangebote (Objektförderung). Monetäre Transfers hingegen, die im Rahmen der Geldleistungsstrategie gezahlt werden, statten Personen bzw. Haushalte mit zusätzlicher Kaufkraft aus, legen aber nicht die individuelle Verwendung der Einkommen fest (Subjektförderung). Zwischen diesen beiden Strategien gibt es allerdings keine starren Grenzlinien; auch durch Geldleistungen kann die Einkommensverwendung gesteuert werden, wenn die Geldzahlung an einen bestimmten Verwendungszweck gebunden wird, so durch Kostenerstattungen oder die Vergabe von zweckgebundenen Gutscheinen.

Sozialpolitik in der Marktwirtschaft

1.2

63

Interdependenzen zwischen Sozialpolitik und Marktprozess

Sozialpolitik korrigiert die Verteilung des Sozialprodukts, greift in dessen Entstehung und Verwendung ein und finanziert sich über Steuern und Beiträge, die aus der Wertschöpfung abgezweigt werden. Die Beziehungen zwischen wirtschaftlicher Wertschöpfung und Sozialpolitik sind aber nicht einseitig. Beide Systeme beeinflussen sich gegenseitig. So hat das System der sozialen Sicherung Einfluss auf das Produktions-, Einkommens- und Beschäftigungsniveau, während wiederum die Strukturen des ökonomischen Systems auf die Sozialpolitik zurückwirken. Bei der Einschätzung der Wechselwirkungen stehen sich kontroverse Positionen gegenüber: Auf der einen Seite wird befürchtet, dass ein (zu) eng geknüpftes Netz der sozialen Sicherung die wirtschaftliche Dynamik beeinträchtige, Beschäftigung behindere und zu Wachstumseinbußen, Standortnachteilen im internationalen Wettbewerb und Arbeitsplatzverlusten führe. Auf der anderen Seite wird darauf verwiesen, dass gerade der Sozialstaat wirtschaftliches Wachstum und Beschäftigung sichere, eine unverzichtbare Voraussetzung sei für die Verknüpfung von effizienter Marktwirtschaft mit sozialem Ausgleich, zugleich aber immer wieder durch die Versäumnisse der Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik belastet werde. Im Mittelpunkt der Analyse steht zunächst die Frage, welche finanziellen Größenordnungen das System der sozialen Sicherung hat, wie die erforderlichen Mittel aufgebracht werden und wer die Belastungen trägt. Es geht um die zwei Seiten einer Medaille: den sozialpolitischen Leistungen steht deren Finanzierung gegenüber. „Lässt sich der Sozialaufwand, der auf den Bürgern und der Wirtschaft lastet, noch länger verkraften ?“ „Ist der Sozialstaat angesichts des Umbruchs in der Altersstruktur der Bevölkerung auch in der Zukunft tragfähig und finanzierbar ?“ – so oder ähnlich lauten die in der Politik wie in der Wissenschaft diskutierten Fragen. Ihre Beantwortung wird durch die Unübersichtlichkeit des Systems der sozialen Sicherung in Deutschland erschwert. Es folgt keinem wohldurchdachten Bauplan, sondern ist historisch gewachsen und damit in seiner Struktur und Entwicklung durch eine Vielzahl von ökonomischen, sozialen und politischen Faktoren beeinflusst. Im Ergebnis zeigt sich ein breites Spektrum einzelner Leistungen, die sich sowohl hinsichtlich ihrer Prinzipien, ihrer Ziele (Lebensstandardsicherung, Armutsvermeidung, Bedarfsdeckung), ihrer Ausgestaltung (anspruchsberechtigter Personenkreis, erfasste Tatbestände und Risiken, Leistungshöhe und -dauer, Bezugsvoraussetzungen usw.) als auch ihrer Finanzierung (Steuern, Beiträge) deutlich unterscheiden und durch verschiedene Institutionen und Träger verwaltet werden. Eine Systematisierung von Leistungen wie Zahlungsströmen ist deshalb unverzichtbar, um die Wirkungen der Sozialpolitik überprüfen zu können.

64

Ökonomische Grundlagen und Finanzierung

2

Finanzielle Dimensionen: Das Sozialbudget

2.1

Institutionen und Funktionen des Systems der sozialen Sicherung

Zur besseren Überschaubarkeit der Sozialleistungen und ihrer finanziellen und gesamtwirtschaftlichen Auswirkungen erstellt die Bundesregierung regelmäßig ein Sozialbudget. In diesem Sozialbudget werden (nahezu) alle Leistungen des Systems der sozialen Sicherung zusammengestellt, die öffentlich finanziert werden und/oder auf gesetzlicher Grundlage beruhen. Unberücksichtigt bleiben damit jene Felder sozialstaatlicher Gestaltung, die zwar Kosten verursachen, aber nicht in Preise übersetzt und direkt budgetwirksam werden, sondern über gesetzliche Regelungen bestimmte Gebote und Verbote aussprechen und das Handeln von Personen und Unternehmen beeinflussen (z. B. Familienrecht, Arbeitsrecht, Arbeitsschutz, Betriebs- und Unternehmensverfassung). Ausgeklammert bleibt zudem der gesamte Bereich des Bildungswesens. Als Sozialleistungen werden im Sozialbudget gerechnet: • • •

die direkten Einkommensübertragungen, die den Berechtigten überwiesen werden und deren Einkommen bilden bzw. vorhandene Einkommen erhöhen, wie Renten, Arbeitslosengeld oder Grundsicherung (direkte monetäre Transfers), die indirekten Leistungen, die beim Vorliegen bestimmter sozialer Tatbestände in Form von Steuerermäßigungen gewährt werden und das verfügbare Einkommen über diesen Weg erhöhen (indirekte monetäre Transfers), die sozialen Sach- und Dienstleistungen, die natural zur Verfügung gestellt und damit einen geldwerten Vorteil für die Betroffenen darstellen (Realtransfers).

Das Sozialbudget gliedert sich nach institutionellen und funktionellen Kriterien. Die institutionelle Aufgliederung zeigt, von welchen Einrichtungen und Trägern die Leistungen vergeben werden und welches Gewicht diese Institutionen im Gesamtsystem haben. Bei den „Institutionen“ im Sinne des Sozialbudgets handelt es sich um •

die verschiedenen Leistungen der Träger der fünf Zweige der Sozialversicherung, nämlich gesetzliche Rentenversicherung, gesetzliche Krankenversicherung, gesetzliche Unfallversicherung, soziale Pflegeversicherung und Arbeitslosenversicherung/Arbeitsförderung, • Leistungen der Förder- und Fürsorgesysteme wie Grundsicherung, Elterngeld, Wohngeld, Kindergeld, Ausbildungsförderung, • die Leistungen der beamtenrechtlichen Systeme, die den Sicherungsschutz der Personengruppe der Beamten und ihrer Angehörigen über Pensionen und Beihilfen organisieren,

Finanzielle Dimensionen: Das Sozialbudget

65

• Arbeitgeberleistungen, die gesetzlich vorgeschrieben sind (so die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall) oder aber auf freiwilliger bzw. tarifvertraglicher Grundlage beruhen (so die betriebliche Altersversorgung und die Zusatzversorgung im öffentlichen Dienst), • die Leistungen von Sondersystemen, die für die Angehörigen bestimmter Personengruppen gelten (so Altershilfe für Landwirte und die Versorgungswerke freier Berufe), • Entschädigungen wie Kriegsopferversorgung. In Tabelle II.1 und Abbildung II.2 findet sich ein Überblick über die Leistungen nach Institutionen (2018). Differenziert wird nach der Höhe der Ausgaben, nach dem relativen Anteil der Ausgaben innerhalb des Sozialbudgets und am Sozialprodukt. Folgende Strukturen werden deutlich: •

Eine überragende Bedeutung im sozialen Sicherungssystem hat die Sozialversicherung: Mehr als die Hälfte (60,9 %) aller Sozialleistungen werden über die Sozialversicherung abgewickelt. Darunter befinden sich die Rentenversicherung mit einem Anteil von 30,3 % und die Krankenversicherung mit einem Anteil von

Abbildung II.2 Sozialbudget: Struktur der Sozialleistungen nach Leistungsarten 2018, in Mrd. Euro und in % aller Sozialleistungen weitere Leistungen 3) : 57,0 Mrd. € = 5,7 % Betriebl. Altersversorgung: 28,3 Mrd. € = 2,7 %

Pflegeversicherung: 39,8 Mrd. € = 3,8 % Unfallversicherung: 13,9 Mrd. € = 1,3 %

Entgeltfortzahlung: 54,0 Mrd. € = 5,2 % Kindergeld/Familienleistungsausgleich: 46,2 Mrd. € = 4,5 %

Grundsicherung für Arbeitsuchende: 45,0 Mrd. € = 4,5 %

Rentenversicherung: 313,1 Mrd. € = 30,3 % Sozialbudget insgesamt1 ) : 995,9 Mrd. €

Sozialversicherung2) : 598,8 Mrd. € = 60,9 %

Jugend- u. Sozialhilfe: 86,4 Mrd. € = 8,4 %

Pensionen u. Beihilfen: 80,8 Mrd. € = 7,8 %

Krankenversicherung: 237,4 Mrd. € = 22,9 %

Arbeitslosenversicherung: 26,4 Mrd. € = 2,6 %

*) Geschätzte Werte 1) Sozialbudget insgesamt u. allgemeine Systeme konsolidiert um Beiträge des Staates 2) Ohne wechselseitige Verrechnung der einzelnen Institutionen. Summenbildung u. isolierte Prozentuierungen sind nicht möglich. 3) u. a. Wohngeld, BAföG, Elterngeld, PKV Quelle: Bundesministerium für Arbeit und Soziales (2018), Sozialbudget.

66

Tabelle II.1

Ökonomische Grundlagen und Finanzierung

Sozialbudget: Leistungen nach Institutionen 2018* Mrd. €

in %

% des BIP

Sozialbudget insgesamt

995,9

100,0

29,4

Sozialversicherungssysteme:

598,8

60,9

17,7

• Rentenversicherung

313,1

30,3

9,2

• Krankenversicherung

237,4

22,9

7,0

• Arbeitslosenversicherung

26,4

2,6

0,8

• Pflegeversicherung

39,8

3,8

1,2

• Unfallversicherung

13,9

1,3

0,4

Förder- u. Fürsorgesysteme, darunter:

188,4

18,2

5,6

• Grundsicherung für Arbeitsuchende

44,0

4,3

1,3

• Sozialhilfe

39,9

3,9

1,2

• Kinder- und Jugendhilfe

46,5

4,5

1,4

• Wohngeld

1,1

0,1

0,0

• Elterngeld

7,3

0,7

0,2

46,2

4,5

1,4

2,2

0,2

0,1

Systeme des öffentlichen Dienstes, darunter:

80,8

7,8

2,4

• Pensionen

60,3

5,8

1,8

• Beihilfen

16,4

1,6

0,5

Sondersysteme, darunter:

35,7

3,4

1,1

• Private Kranken- und Pflegeversicherung

25,8

2,5

0,7

• Versorgungswerke

6,5

0,6

0,2

• Alterssicherung der Landwirte

2,7

0,3

0,1

Arbeitgebersysteme, darunter:

97,1

9,4

2,9

• Entgeltfortzahlung

54,0

5,2

1,6

• Betriebliche Altersversorgung

28,3

2,7

0,8

• Zusatzversorgung

13,5

1,3

0,4

2,4

0,2

0,1

30,4



3 386,0

100,0

• Kindergeld & Familienleistungsausgleich • Ausbildungs-/Aufstiegsförderung

Entschädigungen Nachrichtlich: Steuerliche Leistungen ohne Familienleistungsausgleich Bruttoinlandsprodukt

29,4

* Geschätzt. Ohne wechselseitige Verrechnung der einzelnen Institutionen. Summenbildung deshalb nicht möglich. Quelle: Bundesministerium für Arbeit und Soziales (2018), Sozialbudget.

Finanzielle Dimensionen: Das Sozialbudget



• • •

67

22,9 %. An dritter Stelle folgt die soziale Pflegeversicherung mit einem Anteil von 3,8 %. Die Charakterisierung des deutschen Sozialstaats als „Sozialversicherungsstaat“ findet hier ihre empirische Bestätigung. Die Förder- und Fürsorgesysteme stehen mit einem Anteil von 18,2 % an zweiter Stelle. Darunter befinden sich mit einer Anteilsrelation von jeweils 4,5 % bis 3,9 % die Grundsicherung, das Kindergeld (einschließlich der steuerrechtlichen Freibeträge), die Kinder- und Jugendhilfe (hier insbesondere die Kindertagesstätten) sowie die Sozialhilfe. Mit einem Anteil von etwa 7,8 % aller Ausgaben schlagen die steuerfinanzierten beamtenrechtlichen Systeme zu Buche. Bei den Arbeitgeberleistungen, die 9,4 % aller Sozialleistungen ausmachen, sind vor allem die Ausgaben für die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall sowie für die betriebliche Altersversorgung von Bedeutung. Insgesamt verteilen sich die Sozialausgaben zu etwa 58 % auf Einkommensleistungen, zu 38 % auf Sachleistungen und zu 4 % auf Verwaltungsausgaben.

Die Gliederung des Sozialbudgets lässt erkennen, dass mehrere Institutionen Leistungen für denselben sozialen Zweck bereitstellen. Diese parallele Aufgabenerfüllung gilt beispielsweise für Rentenleistungen an ältere Menschen, die von der Rentenversicherung, der Beamtenversorgung, der betrieblichen Altersversorgung, der Zusatzversorgung im öffentlichen Dienst und von den berufsständischen Versorgungswerken übernommen werden. Gesundheitsleistungen wiederum zählen zum Aufgabenfeld von Krankenversicherung, Pflegeversicherung, Rentenversicherung, Unfallversicherung, Beamtenbeihilfe und Entgeltfortzahlung. Fasst man die Leistungen nach diesen Zwecksetzungen bzw. nach Gefährdungsbereichen zusammen, so zeigt sich in einer funktionellen Gliederung, dass • •

der Großteil der Sozialleistungen den beiden Funktionsgruppen „Alter und Hinterbliebene“ (38,5 %) und „Krankheit und Invalidität“ (43,8 %) zukommt, die zusammen genommen über 80 % aller Sozialleistungen umfassen, für die Funktionsgruppe „Kinder, Ehe, Mutterschaft“ 11,6 % und für die Funktionsgruppe „Arbeitslosigkeit“ 3,2 % aller Sozialausgaben aufgewendet werden.

2.2

Sozialleistungsquote

Die Summe aller Sozialleistungen belief sich in Deutschland im Jahr 2018 auf etwa 996 Mrd. Euro. Der Informationsgehalt dieses Wertes ist indes gering, da er keine Aussage darüber zulässt, ob das Leistungsniveau – auch im Vergleich zu anderen Ländern oder in der zeitlichen Entwicklung – als hoch oder niedrig einzuschätzen ist. Von entscheidender Bedeutung ist die Größe der Bevölkerung, auf die sich die Sozialleistungen beziehen. Stellt man die Zahl von etwa 82,5 Mio. Einwohnern in

68

Ökonomische Grundlagen und Finanzierung

Rechnung, so beziffern sich die Sozialleistungen auf rund 12 000 Euro pro Kopf der Bevölkerung. Aber auch bei einer Pro-Kopf-Berechnung bleiben internationale Vergleiche und Analysen des Entwicklungstrends der Sozialausgaben schwierig, da zugleich auch die Wirtschaftskraft des Landes berücksichtigt werden muss. Um eine Bewertung vornehmen zu können, müssen deshalb die Absolutbeträge ins Verhältnis gesetzt werden zum wirtschaftlichen und finanziellen Leistungsniveau der Gesellschaft. Grundlegende Kenngröße dafür ist das Bruttoinlandsprodukt, also die Summe aller im Inland produzierten Güter und Dienstleistungen. Bezieht man den Gesamtumfang der Sozialleistungen auf das Bruttoinlandsprodukt (BIP), so errechnet sich die Sozialleistungsquote. Ihre Höhe lag im Jahr 2018 bei 29,4 %. Insgesamt zeigt sich – wie aus Abbildung II.3 ersichtlich – eine im zeitlichen Verlauf leicht schwankende Sozialleistungsquote. Wegen unterschiedlicher Berechnungsverfahren des Sozialbudgets sind längerfristige Vergleiche allerdings nur eingeschränkt möglich. Die Schwankungen der Sozialleistungsquote im Zeitverlauf sind allerdings nicht nur Ergebnis der Ausgabenentwicklung, sondern auch der Entwicklung des BIP. Denn auch wenn die Ausgaben unverändert bleiben, aber die Bezugsgröße, nämlich das BIP sinkt, steigt die Quote. So ist der abrupte Anstieg von 2008 auf 2009 um 3,4 Prozentpunkte auch Ergebnis des starken Rückgangs des BIP infolge der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise. In Jahren eines konjunkturellen Aufschwungs, so zwischen 2004 und 2008, ist es hingegen zu einer gegenläufigen Bewegung gekommen. Die Dimension des Anstiegs im Jahr 2009 ist jedoch auch Folge einer Neuberechnung des Sozialbudgets ab 2009 (Erfassung auch der Grundleistungen der privaten Krankenversicherung). Die Daten belegen, dass sich die bei einer ausschließlich Betrachtung der absoluten Zahlen naheliegende Aussage, der Sozialstaat werde immer aufwändiger und teurer, nicht bestätigt. Auch im europäischen Vergleich liegt Deutschland nicht in der Spitze, sondern im oberen Mittelfeld (vgl. Tabelle II.2). Das ist umso bemerkenswerter, da ab 1990 die sozialen Folgelasten der deutschen Einheit und die schwierigen Verhältnisse auf dem Arbeitsmarkt zu verkraften waren. Die Höhe der Sozialausgaben und ihre Entwicklung dürfen nicht einseitig verstanden werden: Es handelt sich nicht nur um Kosten und Belastungen, sondern den Aufwendungen stehen immer auch Leistungen gegenüber, die für die jeweiligen Empfänger:innen mit einem Zufluss von Einkommen und einer Nutzungsmöglichkeit von sozialen Diensten und Einrichtungen verbunden sind. Kosten und Nutzen sind also zu bilanzieren. Das gilt aus individueller Sicht („Wer empfängt und wer zahlt ?“), aber auch aus übergreifender Perspektive („Welche gesellschaftlichen Funktionen erfüllen die Sozialleistungen und welche Belastungen fallen an ?“). Aber auch die Gleichung: „Je höher die Sozialausgaben und die Sozialleistungsquote, um so ‚sozialer‘ die Gesellschaft und umso besser die Lebenslage der Bevölkerung“ kann zu Fehlschlüssen führen. Eine solche umstandslose Gleichsetzung von Höhe der Sozialausgaben einerseits und der Wohlfahrtsposition der Gesellschaft an-

Finanzielle Dimensionen: Das Sozialbudget

69

29,1

29,0

29,2

29,4

29,5

29,4

2014

2015

2016

2017

2018

28,8

2012

2013

28,7

2011

30,6

29,9

27,2

26,8

28,9

27,8

2005

29,8

2001

29,1

28,8

28,7

2000

2004

28,6

1999

29,4

28,3

1998

28,7

28,3

1997

27,1

27,6

27,1

1994

26,5

1993

25,0

24,1

25,2

25,7

2010

2009*

2008

2007

2006

2003

2002

1996

1995

1992

1991

1990

1985

1980

1975

20,2

1970

19,4

1965

1960

18,3

26,3

Abbildung II.3 Sozialleistungsquote 1980 – 2018 in % des Bruttoinlandsprodukts

Ab 1991 einschließlich neue Bundesländer. Ab 2009 einschließlich der mit der GKV vergleichbaren Grundleistungen der Privaten Krankenversicherung. Vergleich mit den Vorjahren nur eingeschränkt möglich. Quelle: Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung (zuletzt 2019), Sozialbudget.

dererseits vernachlässigt, dass das Sozialbudget nur über den finanziellen Einsatz (input), aber nicht über das Ergebnis (output) informiert. Über die Wirksamkeit und Qualität der Sozialpolitik ist also noch nichts gesagt. Hohe Kosten können unter Umständen ein Indikator für besondere Ineffektivität und Ineffizienz sein, worauf vor allem die Verhältnisse in manchen Bereichen der gesundheitlichen Versorgung hindeuten. Hinsichtlich der Aussagefähigkeit der Sozialleistungsquote sind weitere Einschränkungen zu machen: Da auf Zahlungsvorgänge abgestellt wird, werden nur jene sozialen Dienstleistungen berücksichtigt, deren Erbringung erwerbsförmig und gegen Entgelt erfolgt. Dies bedeutet, dass die unentgeltlichen sozialen Hilfsleistungen im Kontext von Familie, Nachbarschaft, Selbsthilfegruppen und sozialem Ehrenamt außerhalb des Blickfeldes bleiben. Darüber hinaus begrenzt sich die Berechnung auf die öffentlichen sowie die gesetzlich vorgeschriebenen Aufwendungen für Sozialleistungen. Nicht erfasst werden hingegen die privaten Aufwendungen im Feld der sozialen Sicherung. Hierbei handelt es sich insbesondere um • Ausgaben, die für Privatversicherungen und private Vorsorge getätigt werden (müssen), sei es, weil kein Schutz durch die Sozialversicherung vorliegt (so bei

70





• •

Ökonomische Grundlagen und Finanzierung

Selbstständigen) oder weil Leistungsspektrum und Leistungsniveau der gesetzlichen Absicherung unzureichend sind oder als unzureichend wahrgenommen werden und ergänzender Sicherungsschutz in Anspruch genommen wird, Käufe von medizinischen und sozialen Gütern, Leistungen und Diensten aus laufendem Einkommen, wenn beispielsweise die Krankenkassen bestimmte Sachleistungen nicht übernehmen (so z. B. bei Zahnersatz oder bei Brillen) oder ambulante Pflegekräfte privat bezahlt werden müssen, Selbstbehalte als Zuzahlungen bei der Inanspruchnahme von Sach- und Dienstleistungen des sozialen Systems, so in der Krankenversicherung bei Arzneimitteln und Krankenhausaufenthalten. Im Bereich der Jugendhilfe werden z. B. viele Eltern durch Gebühren an den Kosten von Tageseinrichtungen für Kinder beteiligt, private Unterhaltszahlungen im familiären Verbund, durch Spenden und Eigenmittel finanzierte Leistungen von sozialen Projekten, Vereinen und Wohlfahrtsverbänden.

Diese Ausklammerung des großen Spektrums der Aufwendungen für private Vorsorge muss bei der Interpretation der Sozialleistungsquote und ihrer Entwicklung berücksichtigt werden, um Fehlschlüsse zu vermeiden. Dazu drei Beispiele: Eine erhöhte Zusatzbeteiligung der Kranken an den Kosten von Arzneimitteln mindert zwar die Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung und damit das Sozialbudget. In der Regel werden die Kosten allerdings lediglich auf die privaten Haushalte verlagert, nicht aber reduziert. Eine solche Kostenverlagerung ohne Begrenzung der Ausgaben tritt auch dann ein, wenn einzelne Leistungen der gesetzlichen Versicherung, z. B. beim Zahnersatz, reduziert werden und die Sicherungslücke durch den Abschluss einer privaten Zusatzversicherung geschlossen werden muss. In allen Fällen bleibt das gesamtwirtschaftliche Ausgaben- und Kostenvolumen weitgehend unverändert, aber die Sozialleistungsquote sinkt, weil die Beitragsfinanzierung durch private Käufe oder Prämien für Privatversicherungen abgelöst wird. Es ist also stets eine politische Bewertungs- und Entscheidungsfrage, welche Ausgaben und Leistungen als Sozialaufwand bezeichnet werden und in die Berechnung von Sozialbudget und Sozialleistungsquote eingehen. Dies macht nicht zuletzt internationale Vergleiche von Sozialleistungsquoten schwierig. Staatsquote Von der Sozialleistungsquote ist die Staatsquote zu unterscheiden. Sie ist ein Indikator für alle Zahlungsströme in einer Volkswirtschaft, die über den Staat laufen und ist damit wesentlich umfassender als die Sozialleistungsquote. Eingeschlossen sind neben den Sozialleistungen (ohne Steuervergünstigungen) die Subventionen, die staatliche Eigennachfrage (öffentliche Investitionen), der Staatsverbrauch (Personalausgaben, Militär usw.) und die Zinsaufwendungen für öffentliche Schulden. Wird die Gesamtsumme dieser Mittel ins Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt gesetzt, errechnet sich für 2017 eine Staatsquote von etwa 44 %.

Finanzielle Dimensionen: Das Sozialbudget

71

Die Erfassung auch der Transferzahlungen führt dazu, dass es sich bei der Staatsquote um eine sog. unechte Quote handelt. Da Sozialtransfers und Subventionen ja nicht vom Staat „verbraucht“, sondern im Sinne einer interpersonellen und intertemporalen Einkommensumverteilung nur „umgeleitet“ werden, schlagen sie sich bei den privaten Haushalten oder Unternehmen noch einmal in Form von Konsumoder Investitionsausgaben nieder. Staats(ausgaben)quote und private Ausgabenquote summieren sich deshalb auf einen über 100 % liegenden Wert. Die Höhe der Staatsquote wird demnach maßgeblich nicht nur dadurch beeinflusst, wie viele Personen im öffentlichen Dienst beschäftigt sind, welche Höhe die Verteidigungsausgaben aufweisen und welche öffentlichen Investitionen getätigt werden, sondern auch dadurch, ob die soziale Sicherung, und hier vor allem die Alterssicherung, über den Staat bzw. die Sozialversicherungsträger abgewickelt wird oder über private Versicherungsunternehmen. Obgleich die Rentenversicherung wie auch die private Lebensversicherung im Wesentlichen das Gleiche tun, nämlich die Organisierung einer Einkommensumverteilung zwischen den Generationen, führt der für die Wohlfahrtsstaaten charakteristische Weg einer Organisierung über die öffentliche Haushalte zu einer deutlichen Erhöhung der Staatsquote. Der gleiche Zusammenhang gilt für das Bildungswesen: In Ländern, die ein öffentlich finanziertes Bildungssystem bis hin zum Hochschulstudium kennen, liegt die Staatsquote höher als z. B. in den USA, weil dort ein Großteil der Bildungsausgaben privat finanziert werden muss. 2.3

Einflussfaktoren der Ausgabenentwicklung

Die Sozialleistungen werden sowohl in ihrem Niveau als auch in ihrer Entwicklungsrichtung durch sehr unterschiedliche Bestimmungsgrößen beeinflusst. Von Bedeutung sind insbesondere folgende Faktoren: Veränderungen im Leistungsrecht Wird der Kreis der Leistungsberechtigten ausgeweitet, das Leistungsniveau angehoben oder werden neue soziale Risiken und Tatbestände berücksichtigt, erhöht sich das Ausgabenvolumen. Im umgekehrten Fall, also bei Einschnitten im Leistungsrecht (Sozialabbau), mindern sich die Ausgaben bzw. die Ausgabenzuwächse. Für beide Fälle finden sich viele Beispiele in der jüngeren Vergangenheit: • Von grundsätzlicher Bedeutung für einen Leistungsausbau sind vor allem die Abdeckung der Pflegebedürftigkeit im System der Sozialversicherung ab 1995 und der forcierte Ausbau der Kindertagesbetreuung ab etwa 2004. • Die Überführung der Arbeitslosenhilfe in das neue System der Grundsicherung für Arbeitsuchende und parallel dazu die Ausdünnung des Anspruchs auf die Versicherungsleistung Arbeitslosengeld (im Rahmen der sog. Hartz-Gesetze ab 2005) haben zu einer Absenkung des Sicherungsniveaus bei Arbeitslosigkeit geführt. Ein

72

Ökonomische Grundlagen und Finanzierung

ebenfalls markanter Paradigmenwechsel in der Sozialpolitik ist durch die kontinuierliche Absenkung des Rentenniveaus und die Förderung der privaten Altersvorsorge eingeleitet worden (ab 2001 mit der Einführung der sog. Riester-Rente). Zahl und Struktur der Empfänger:innen von Einkommens- und Sachleistungen Die Zahl der Leistungsempfänger:innen hängt von der Bevölkerungsentwicklung, aber auch von den sozialen Bedarfs- und Problemlagen in der Gesellschaft ab. Nicht zuletzt spielt auch das Antrags- bzw. Nutzungsverhalten der Leistungsberechtigten eine Rolle: •









So führt steigende Arbeitslosigkeit zu wachsenden Empfängerzahlen von Arbeitslosengeld I und Arbeitslosengeld II. Mehraufwendungen im Gesundheitssystem wiederum können eine Folge von Veränderungen des Krankheitsspektrums in Richtung langwieriger, chronisch-degenerativer Krankheitszustände sein. Es liegt auf der Hand, dass sich aus diesen Trends kein „Erfolgsnachweis“ für höhere Lebensqualität ablesen lässt. Steigende Sozialausgaben bringen hier allerdings zum Ausdruck, dass sich die Gesellschaft an den Folgen der sozialen Risiken beteiligt und diese nicht allein privat getragen werden müssen. Auch die Verschiebungen im Altersaufbau der Bevölkerung sind mit Mehraufwendungen verbunden. Nimmt die Zahl der älteren Menschen zu, so erhöht sich die Zahl der Empfänger:innen von Altersrenten und von Leistungen der Pflegeversicherung. Bei einer Zuwanderung erhöht sich nicht nur die Bevölkerungszahl. Soll die Migration von Ausländern, Asylbewerbern und Schutzsuchenden sozialverträglich ablaufen, sind auch besondere Angebote an Integrationshilfen, Wohnraum, Qualifizierungsmaßnahmen sowie Einkommensleistungen notwendig. Veränderungen in der Sozialstruktur und den Lebensverhältnissen der Bevölkerung führen ebenfalls zu steigenden Anforderungen an die Sozialpolitik: Erhöht sich beispielsweise die Frauenerwerbstätigkeit, dann kann auch die Nachfrage nach Kinderbetreuungseinrichtungen steigen – wenn der Betreuungsbedarf nicht durch soziale und familiale Netzwerke ausgeglichen wird. Ein Mehrbedarf an Leistungen der sozialen Sicherung tritt auch dann auf, wenn sich infolge neuer Lebensformen (z. B. Zunahme von Ein-Personen-Haushalten) die Tragfähigkeit der familiären Unterstützungsnetze mindert und infolgedessen im wachsenden Maße öffentliche soziale Dienste und Einrichtungen benötigt werden. Die Zahl der Leistungsempfänger:innen hängt auch davon ab, inwieweit die Berechtigten Sachleistungen und Einkommensleistungen tatsächlich in Anspruch nehmen. Auf der einen Seite ist bekannt, dass es vor allem bei Leistungen der Grundsicherung eine hohe Dunkelziffer der Nichtinanspruchnahme gibt. Auf der anderen Seite zeigt sich, dass eine Ausweitung von Angeboten (wie z. B. Kindertagesstätten, ambulante Pflegedienste, Arztdichte) auch zu einer verstärkten Nutzung führt.

Finanzielle Dimensionen: Das Sozialbudget

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Leistungsmenge Bei Dienstleistungen kann sich die Leistungsmenge je Fall infolge verbesserter Qualitätsstandards, neuer Diagnose- und Therapiemöglichkeiten, expansiver Anbieterstrategien sowie eines veränderten Inanspruchnahmeverhaltens nach oben entwickeln. Dies gilt insbesondere im Gesundheits- und Sozialwesen. Einkommensentwicklung Da der überwiegende Teil der Lohnersatzleistungen der Sozialversicherung an die Lohnentwicklung gekoppelt ist (Lohndynamisierung), kommt es bei steigenden Arbeitnehmereinkommen auch zu einem Ausgabenzuwachs der Lohnersatzleistungen. Auch die Beschäftigten im Sozial- und Gesundheitswesen nehmen an der allgemeinen Einkommensentwicklung teil. Angesichts der hohen Personalintensität der sozialen Dienstleistungen führt dies zu deren Verteuerung. Kosten- und Preisentwicklung Preiseffekte im Sozial- und Gesundheitswesen ergeben sich durch die Entwicklung des medizinisch-technischen Fortschritts, durch höhere Leistungsqualität oder durch eine verbesserte Personalausstattung. Diese Ausgabentrends können sich überlagern und verstärken, aber auch gegenläufig entwickeln und kompensieren. Sie machen sich teilweise nur langsam und langfristig bemerkbar (wie z. B. die Auswirkungen des demografischen Wandels und der Veränderung der Sozialstruktur), können allerdings auch kurzfristig wirksam werden (wie z. B. in Folge eines Anstiegs der Arbeitslosigkeit, der Kostenentwicklung oder von Veränderungen im Leistungsrecht). Um nun festzustellen, ob sich der Ausgabenzuwachs im Rahmen der wirtschaftlichen Wertschöpfung bewegt oder aber über- bzw. unterproportional entwickelt, muss dieser mit der Höhe des Bruttoinlandsprodukts und seiner Entwicklung verglichen werden. Steigen die Ausgaben stärker als die volkswirtschaftliche Wertschöpfung, erhöht sich die Sozialleistungsquote, im umgekehrten Fall verringert sie sich. Wirtschaftswachstum und Sozialausgaben sind allerdings keine voneinander unabhängigen Größen. Niedrige und abflachende Wachstumsraten im Konjunkturabschwung gehen einher mit steigenden Arbeitslosenzahlen und erhöhten Belastungen der Sozialleistungsträger, sodass gerade in der Krise die Quote nach oben tendiert. 2.4

Sozialleistungen im europäischen Vergleich

Sollen die Sozialleistungssysteme der Mitgliedsstaaten der Europäischen Union hinsichtlich Niveau und Struktur der Ausgaben miteinander verglichen werden, dann muss auf die Angaben des Statistischen Amtes der Europäischen Gemeinschaften (Eurostat) Bezug genommen werden.

74

Ökonomische Grundlagen und Finanzierung

Eurostat berechnet die Sozialausgaben für die EU-Mitgliedsstaaten nach einheitlichen Kriterien, die allerdings infolge der Nicht-Berücksichtigung von indirekten Leistungen und von betrieblichen Sozialleistungen vom deutschen Berechnungsverfahren abweichen. Für einen Vergleich sind vor allem die jeweiligen Sozialleistungsquoten (die in der Terminologie der EU als Sozialschutzquoten bezeichnet werden) und ihr Verlauf in den zurückliegenden Jahren von Interesse. Aus Tabelle II.2 lässt sich entnehmen, dass die Sozialschutzquote in Deutschland mit 28,2 % (2017) im unteren Bereich des oberen Drittels der EU-Staaten liegt. In den 28 Mitgliedsstaaten der EU bewegt sich die Spannweite zwischen Frankreich (31,8 %) und Rumänien (14,4 %). Die ost- bzw. südosteuropäischen Mitgliedsstaaten insgesamt, deren Wohlstandsniveau immer noch weit unterhalb der „alten“ EU-Staaten liegt, fallen sämtlich in das untere Drittel der Skala. Verfolgt man die Entwicklung im Zeitablauf, dann zeigt sich allerdings ein Annäherungsprozess (Konvergenz) zwischen den Mitgliedsstaaten. Die Abstände zwischen den Sozialschutzquoten haben sich schrittweise verringert. Ein aussagefähiger Vergleich der Sozialschutzquoten wird durch viele Abweichungen bei den jeweiligen Berechnungsverfahren erschwert. Auch bleibt zu beachten, dass nur die Bruttosozialleistungen in die Berechnung eingehen. Vor allem in den skandinavischen Ländern unterliegen aber viele Einkommensleistungen der direkten Besteuerung. Im Ergebnis liegen hier die Nettosozialleistungen bzw. Nettosozialleistungsquoten deutlich niedriger als die entsprechenden Bruttogrößen. Im Vergleich zwischen den EU-Staaten wird auch sichtbar, dass die einzelnen Funktionsgruppen der sozialen Sicherung in den jeweiligen Ländern ein unterschiedliches Gewicht haben. Einheitlich ist gleichwohl, dass die Bereiche „Alter und Hinterbliebene“ sowie „Invalidität“ zusammengefasst in fast allen Ländern jeweils gut die Hälfte der Gesamtleistungen ausmachen. Deutlich niedriger als in Deutschland und in den meisten EU-Ländern, nämlich bei knapp 19 % (2018), liegt nach Angaben der OECD die Sozialleistungsquote in den USA. Dieser Wert ist nicht allein ein Ausdruck niedriger Sozialleistungen, sondern auch Folge der Konvention, die Aufwendungen für die private soziale Sicherung bei den Sozialausgaben nicht zu berücksichtigen. So führt die in großen Teilen immer noch weitgehend privatwirtschaftliche Organisation der Krankenversicherung in den USA keineswegs zu insgesamt geringeren Gesundheitsausgaben. Vielmehr summieren sich die öffentlichen und privaten Gesundheitsausgaben auf rund 17 % des amerikanischen Sozialprodukts und nehmen mit diesem Wert im internationalen Vergleich die Spitzenposition ein; zugleich erweisen sich aber der Krankenversicherungsschutz und die Gesundheitsversorgung als lückenhaft, da ein großer Teil der Bevölkerung nur unzureichend abgesichert ist. An den nachfolgenden Stellen folgen mit deutlichem Abstand die Schweiz mit 12 % sowie Deutschland und Frankreich mit jeweils 11,2 %.

Finanzielle Dimensionen: Das Sozialbudget

75

Tabelle II.2 Sozialschutzquoten in den 28 EU-Mitgliedsstaaten 2000 – 2017 in % des BIP 2000

2005

2010

2015

2017

Frankreich

27,2

28,9

31,0

31,9

31,8

Finnland

23,6

24,8

28,5

31,4

30,3

Dänemark*

27,4

28,6

31,4

31,0

29,9

Österreich

27,1

27,1

28,8

29,1

28,6

Belgien

23,8

25,6

27,9

29,0

27,6

Italien

22,9

24,4

27,6

28,8

28,2

Schweden

27,8

28,9

28,2

28,8

28,5

Niederlande

22,7

23,8

27,4

28,1

27,6

Deutschland*

27,7

27,8

28,6

28,0

28,2

Griechenland*

17,5

19,9

25,4

25,8

25,9

Großbritannien

22,6

25,7

28,1

27,4

26,4

Portugal

18,5

22,3

24,4

24,7

23,7

Spanien

19,0

28,9

31,0

31,9

31,8

Slowenien

23,1

22,1

23,9

23,3

22,3

Luxemburg

18,0

21,4

22,1

22,0

22,1





20,8

21,4

20,5

Polen

19,1

19,4

19,2

19,0

19,6

Ungarn

19,2

20,9

22,0

19,0

18,3

Zypern*

13,5

16,2

18,5

19,4

18,7

Tschechien

17,4

17,4

19,4

18,4

18,0

Slowakei

18,5

15,5

17,7

17,7

17,6



14,2

16,5

17,3

16,6

Malta

16,3

17,5

19,1

16,7

15,9

Estland*

13,6

12,3

17,4

15,9

16,4

Irland

14,0

16,1

23,9

15,0

14,4

Litauen

15,2

12,8

18,2

14,8

14,4

Lettland

15,0

11,7

18,0

14,7

14,5

Rumänien*

12,7

13,3

17,3

14,3

14,4

Kroatien

Bulgarien

* Daten für 2016 Quelle: Eurostat (2019), Ausgaben des Sozialschutzes, ESSOSS.

76

Ökonomische Grundlagen und Finanzierung

3

Finanzierung der sozialen Sicherung

3.1

Sozialpolitik als Einkommensumverteilung

Die im Sozialbudget festgehaltenen Sozialausgaben beziffern sich auf rund 996 Mrd. Euro im Jahr. Der Sozialstaat produziert die erforderlichen Finanzmittel nicht aus sich selbst heraus, sondern greift durch Steuern und Beiträge auf die im Wirtschaftsprozess erzielten Einkommen zurück (vgl. Abbildung II.4). Sozialpolitik ist immer Einkommensumverteilungspolitik, die eine reine Marktverteilung korrigiert (vgl. Kapitel „Einkommen“, Pkt. 1.3): Diejenigen Personen und Haushalte, die in der Primärverteilung (Aufteilung des Volkseinkommens im Marktprozess) keine oder keine ausreichenden Einkommen beziehen, erhalten durch sozialstaatliche Umverteilung (Sekundärverteilung) Anteile von den Einkommen der anderen. Empfänger:innen sind all die, die nicht (mehr) am Erwerbsprozess teilnehmen können (wie z. B. ältere Menschen, Kranke, Arbeitslose) oder deren Einkommen aufgestockt wird, weil z. B. Kinder zu unterhalten oder die Mietbelastungen zu hoch sind. Das Verhältnis von (nicht erwerbstätigen) Empfänger:innen von Einkommensleistungen und den (erwerbstätigen) Beitrags- und Steuerzahler:innen lässt sich auch als ökonomische Abhängigkeitsquote bezeichnen. •









Durch die öffentliche Bereitstellung von Einrichtungen und Diensten im Gesundheits- und Sozialwesen und der Daseinsvorsorge können Leistungen (weitgehend) ohne direkte Bezahlung in Anspruch genommen werden. Dadurch verbessern sich die Versorgungslage und indirekt auch die Einkommenslage der Nutzer. Belastet werden im Gegenzug jene, deren Einkommen durch Steuern oder Beiträge vermindert werden. Belastet werden können Arbeitnehmereinkommen (Einkommen aus abhängiger Arbeit) sowie Einkommen aus Unternehmertätigkeit und Vermögen. Auch Lohnersatzleistungen sind steuerpflichtig (z. B. Renten) oder beitragspflichtig (z. B. Krankengeld). Durch indirekte Steuern (Mehrwertsteuer, spezielle Verbrauchsteuern wie Tabak-, Alkohol-, Mineralölsteuern usw.) werden bei der Einkommensverwendung aus der Wertschöpfung Ressourcen abgeleitet. Verbrauchsteuern, die in die Preise der Güter und Dienstleistungen eingehen, reduzieren die Kaufkraft der Einkommen, nicht nur die der Markteinkommen, sondern auch die der Sozialeinkommen. Durch die Besteuerung einzelner Lohnersatzleistungen sowie des privaten Konsums finanzieren die Sozialleistungsempfänger:innen ihre Einkommen teilweise selbst mit. Das betrifft z. B. Familien, die über die gezahlten Verbrauchsteuern auch zur Finanzierung des Kindergelds beitragen. Neben den direkten müssen auch die indirekten, über Steuervergünstigungen geregelten Sozialleistungen finanziert werden. Direkte Leistungen, wie z. B. das Wohngeld, führen zu Staatsausgaben und erfordern deshalb Steuereinnahmen; indirekte Leistungen, wie z. B. steuerliche Erleichterungen für Familien und für

Finanzierung der sozialen Sicherung

77

Ehepaare, vermindern das Steueraufkommen und erfordern deshalb Steuermehreinnahmen an anderer Stelle. Hinter der Umleitung von Geldströmen steht zugleich ein realwirtschaftlicher Prozess: Den monetären Größen entspricht immer ein realer Gegenwert, denn die Geldzahlungen nutzen den Empfänger:innen ja nur insofern, wenn mit dem übertragenen Abbildung II.4 Finanzierung der Sozialpolitik im Wirtschaftskreislauf Nettosozialprodukt = Volkseinkommen beitragsfreie

beitragspflichtige

Arbeitnehmer- und Arbeitgeberbeiträge

Privater Verbrauch

Lohnsteuer

Einkommensteuer/

Arbeitnehmereinkommen

Verbrauchsteuern

Gewinnsteuern

Einkommens- und

Einkom. aus Unternehmertätigkeit und Vermögen

Steuerfinanzierte Bundeszuschüsse

Öffentliche Haushalte Bund Länder Gemeinden Staatsausgaben, darunter

Monetäre Transfers wie: Sozialhilfe/Grundsicherung, Arbeitslosengeld II Sozialgeld, Wohngeld, Elterngeld, BAföG, Kindergeld, Kriegsopferversorgung , , Beamtenversorgung Bereitstellung von sozialen Diensten/Einrichtungen: Gesundheits-, Sozial- und Bildungswesen, Daseinsvorsorge

Sozialversicherungshaushalte

GRV

BA/ ALV

GKV

SPV

GUV

Leistungen der Sozialversicherungsträger Lohnersatzleistungen wie Renten, Arbeitslosengeld, Krankengeld, Pflegegeld

Sach- und Dienstleistungen wie ambulante und stationäre medizinische Versorgung, Reha, Arbeitsförderung, Pflegedienst

Vereinfachte Darstellung des Modells einer geschlossenen Volkswirtschaft Ohne Berücksichtigung von Rückkopplungseffekten: z. B. Belastung von Lohnersatzleistungen mit Steuern und Sozialversicherungsbeiträgen.

78

Ökonomische Grundlagen und Finanzierung

Geld auf dem Markt Güter und Dienstleistungen gekauft werden können. Umverteilt werden also nicht nur Einkommen, sondern damit auch Ansprüche auf Güter und Dienstleistungen. Das Gesamtvolumen der in einer Volkswirtschaft erstellten Güter und Dienstleistungen, das in der Höhe des Sozialprodukts zum Ausdruck kommt, ist die einzige Quelle, die zur Einkommensverwendung genutzt werden kann. Es gilt die nach dem Sozialökonomen Mackenroth benannte „Mackenroth-These“, dass das, was eine Gesellschaft für die Versorgung der Erwerbstätigen wie der Nicht-Erwerbstätigen aufwendet, immer vom Sozialprodukt der laufenden Periode abgezweigt werden muss. Den Konsumansprüchen der Bevölkerung steht nichts anderes zur Verfügung als die Ergebnisse der jeweils aktuellen Produktion, die von der erwerbstätigen Bevölkerung erwirtschaftet (oder aus dem Ausland bezogen) wird. Es ist im Wesentlichen die mittlere Generation, die die Güter und Dienstleistungen produziert. Die Generation der Kinder und Jugendlichen ist in der Regel noch nicht, die ältere Generation dagegen nicht mehr in der Lage bzw. verpflichtet, sich durch Erwerbstätigkeit an der Erstellung des Sozialprodukts zu beteiligen. Aus gesamtwirtschaftlicher Sicht macht es auch keinen prinzipiellen Unterschied, über welchen Träger die Ausgaben finanziert werden, sei es über die Sozialversicherungen oder über den Staat (Bund, Länder und Gemeinden), und ob die Finanzierung über Steuern oder Beiträge erfolgt. Wachsende Ausgaben für Renten oder für die Unterstützung von Arbeitslosen können bei gegebenem Sozialprodukt (Volkseinkommen) und bei Konstanz der anderen Staatsausgaben nur durch höhere Abzüge vom Primäreinkommen bzw. indirekt über höhere Verbrauchsteuern durch steigende Preise finanziert werden. 3.2

Finanzierungsverfahren: Umlagefinanzierung und Kapitaldeckung

Bei der Finanzierung der Sozialleistungen wird in Deutschland auf die Bildung von Vermögensrücklagen weitgehend verzichtet. Dies gilt gleichermaßen für die steuerfinanzierten, über die öffentlichen Haushalte abgewickelten Leistungen wie für die beitragsfinanzierten Leistungen der Sozialversicherungsträger. Es dominiert das Umlageverfahren. Nach diesem Verfahren werden die Leistungen jeder Periode aus dem laufenden Beitragsaufkommen der gleichen Periode finanziert. Dies gilt auch für jene Einkommensübertragungen, die im Rahmen der Sozialversicherung (wie die Altersund Erwerbsminderungsrenten oder Leistungen bei Pflegebedürftigkeit) durch einen großen zeitlichen Abstand zwischen individueller Beitragszahlung und späteren Leistungen charakterisiert sind. So werden in der Rentenversicherung die eingehenden Beiträge sofort wieder zur laufenden Rentenzahlung ausgegeben. Die Versicherungsträger verfügen über keine nennenswerten Rücklagen, sondern nur über Liquiditätsreserven, um kurzfristige Schwankungen im Kassenbestand überbrücken zu können. Die jeweilige Rentnergeneration wird also nur von der jeweiligen Beitragszahlergeneration versorgt. Das bedeutet, dass ein Beitragszahler mit seiner Beitrags-

Finanzierung der sozialen Sicherung

79

zahlung nur zur Bestreitung der aktuellen Rentenausgaben beiträgt, nicht aber seine eigene spätere Rente finanziert. Es kommt zu einer Einkommens- und Kaufkraftübertragung zwischen den Generationen. Aus der Beitragszahlung erwächst zwar eine Anwartschaft auf eine eigene Rente in der Zukunft, der tatsächliche Wert dieser Anwartschaft bzw. die konkrete Höhe der späteren Rente hängt aber weniger von den Gegebenheiten zur Zeit der Beitragszahlung und juristischen Garantien (Eigentumscharakter der Anwartschaften) ab, sondern von den sozioökonomischen und politischen Bedingungen, die zum Zeitpunkt der Auszahlung der Rente herrschen werden. Maßgeblich für die zukünftige Höhe des Beitragsaufkommens sind beim Umlageverfahren die Zahl der beitragspflichtig Beschäftigten und das Lohnniveau in der Volkswirtschaft. Zugleich kommt auf die Fähigkeit und Bereitschaft der Politik an, bei der nachfolgenden Generation solche Beitragssätze einzufordern, wie dies zur Bestreitung der politisch definierten Leistungsansprüche im Alter erforderlich ist. Demgegenüber beruhen kapitalfundierte Finanzierungsverfahren auf der Kombination von Ansparen und Entsparen. Beim Kapitaldeckungsverfahren im strengen Sinne (Anwartschaftsdeckungsverfahren) werden die Beiträge der Versicherten nicht zur laufenden Rentenzahlung verwendet, sondern in einem Kapitalstock (Anlage in Immobilien und Wertpapieren) angesammelt. Auf diese Weise wird für jeden Versicherten im Verlauf seines Arbeitslebens das Deckungskapital aufgebaut, das notwendig ist, um zusammen mit den Zinserträgen die spätere Rente zu finanzieren. Beim modifizierten Kapitaldeckungsverfahren (Abschnittsdeckungsverfahren) werden Vermögensbestände gebildet, um die Finanzierung der Ausgaben innerhalb eines mehrjährigen Deckungsabschnitts zu gewährleisten. Der während dieses Deckungsabschnitts erhobene Beitragssatz muss so kalkuliert werden, dass die laufenden Beitragseinnahmen der Versicherten, das vorhandene Vermögen und etwaige Zinserträge ausreichen, um die Leistungsausgaben während dieses Zeitraums zu finanzieren. Der angesammelte Kapitalstock wird dabei nicht dem einzelnen Versicherten zugerechnet, sondern kollektiv der Solidargemeinschaft. So gesehen ist das modifizierte Kapitaldeckungsverfahren eine Kombination aus strengem Kapitaldeckungs- und Umlageverfahren. Das Kapitaldeckungsverfahren wird insbesondere in der privaten Lebensversicherung und im Rahmen der betrieblichen Altersversorgung (Direktversicherung, Pensionskassen und Pensionsfonds) praktiziert. Da die Versicherungsunternehmen angesichts der Freiwilligkeit eines Vertragsabschlusses die Zahl ihrer Versicherten und das Prämienaufkommen nicht längerfristig kalkulieren können, muss nach einem kapitalfundierten Verfahren gearbeitet werden, um die Leistungsansprüche später auch unabhängig von Einzahlungen einlösen zu können. Die tatsächliche Höhe der aus dem Kapitalstock resultierenden Leistungen hängt von der Wertsteigerung und der Verzinsung des Kapitals bzw. von den Veräußerungserlösen der Kapitaltitel ab. Im Unterschied zum Umlageverfahren kommt es hierbei nicht nur auf die Situation im Inland an, sondern auf die Entwicklung des internationalen Kapitalmarktes. Angesichts der Verflechtung des Finanzsektors werden Kapi-

80

Ökonomische Grundlagen und Finanzierung

talanlagen weltweit getätigt, verbunden allerdings mit Wechselkursrisiken außerhalb des Währungsraums und nicht zuletzt mit politischen Risiken. Das privatwirtschaftliche Kapitaldeckungsverfahren lässt sich auf ein gesetzliches Rentenversicherungssystem, das mehr oder minder die Gesamtbevölkerung absichert, nicht oder nur mit großen Problemen übertragen. Notwendig wäre der Aufbau eines riesigen Kapitalstocks, der das laufende Sozialprodukt bei weitem übersteigen würde und ein Mehrfaches des in der Volkswirtschaft produktiv angelegten Kapitals betragen müsste. Kapital in der erforderlichen Größenordnung könnte in Deutschland weder rentierlich angelegt noch später zum richtigen Zeitpunkt wieder in Form liquider Mittel zur Verfügung gestellt werden. Zu Problemen kommt es auch immer dann, wenn der Staat das Kapital der Rentenversicherung für andere Zwecke benutzen würde, z. B. für die Finanzierung von Haushaltsdefiziten. Schließlich müssten zum Aufbau des Kapitalstocks über viele Jahre hinweg Beiträge angespart werden, die dann nicht mehr zur Finanzierung der laufenden Ausgaben zur Verfügung stünden oder die zusätzlich zu zahlen wären. Auch die mit der deutschen Wiedervereinigung eingeleitete Übertragung des Sozialversicherungssystems auf die Bevölkerung in den neuen Ländern konnte nur im Rahmen der Umlagefinanzierung praktiziert werden und wäre bei einem Kapitaldeckungsverfahren nicht möglich gewesen. Weitere Risiken ergeben sich vor allem bei Inflationen oder Währungsreformen. Auch dafür legt die Geschichte der Rentenversicherung in Deutschland Zeugnis ab: Ursprünglich sollte das Kapitaldeckungsverfahren angewendet werden. Das angesammelte Kapital ist jedoch zwei Mal vom Staat zur Kriegsfinanzierung missbraucht worden; die noch übrig gebliebenen Reste wurden anschließend zwei Mal durch Währungsreformen entwertet. Aber selbst dann, wenn zur Finanzierung der Alterssicherung ein größerer Kapitalstock aufgebaut werden könnte, lässt sich der ökonomische Tatbestand nicht umgehen, dass die Sozialeinkommen nur aus dem laufenden Sozialprodukt finanziert werden können. Das für den Einzelnen naheliegende Verhalten, durch Sparen bzw. durch den Abschluss von Lebensversicherungen vorzusorgen, um im Alter oder in schlechten Zeiten dann von den Erträgen des Vermögens bzw. von der Abschmelzung des Vermögens zu leben, ist aus gesamtwirtschaftlicher Sicht, d. h. für alle Bürger, nicht möglich. Eine gesamte Gesellschaft und Volkswirtschaft kann spätere Ausgaben nicht durch Sparen vorfinanzieren und damit die Belastungen zeitlich verschieben. Was die einen sparen, wird durch die anderen, die sich verschulden, entsprechend ausgegeben. Denn nur derjenige kann Geld anlegen und ein Vermögen bilden, der einen Schuldner bzw. Investor findet. Da jedem Gläubiger ein Schuldner gegenübersteht, rechnen sich innerhalb einer Gesamtwirtschaft Schulden und Guthaben gegeneinander auf. Umgekehrt gilt, dass Vermögen nur aufgelöst und in Konsum umgewandelt werden kann, wenn sich ein Anleger findet, der bereit ist, zu sparen und auf Konsum zu verzichten (vgl. auch Pkt. 7.6 dieses Kapitels zu der Frage einer Umstellung vom Umlage- zum Kapitaldeckungsverfahren).

Finanzierung der sozialen Sicherung

81

Für die Finanzierung der Alterssicherung folgt daraus, dass auch bei einem kapitalgedeckten System die Zahlung von Renten nur möglich ist, wenn die Jüngeren zugunsten der Älteren auf Konsum verzichten. Denn wenn das angesparte und in Aktien, Immobilien, Wertpapieren angelegte Kapital veräußert werden soll, müssen sich Käufer für diese Anlagen finden. Im Wesentlichen wird dies die Generation sein, die sich selbst gerade in der Erwerbsphase befindet und nun ihrerseits Geld für die eigene Alterssicherung anlegen möchte. Nicht nur das Umlageverfahren basiert also auf dem Miteinander der Generationen, sondern auch das Kapitaldeckungsverfahren. 3.3

Finanzierung der Sozialleistungen über Beiträge und Steuern

Betrachtet man die Finanzierung der Sozialleistungen im Einzelnen, so ist der Unterschied zwischen Steuern und Beiträgen grundlegend. Die Wahl zwischen diesen beiden Finanzierungsarten hängt von der Aufgabenstellung und Zielsetzung der jeweiligen Leistung und dem institutionellen Status des Leistungsträgers ab. Welche Gebietskörperschaft für die Finanzierung der Sozialleistungen außerhalb der Sozialversicherung zuständig ist, lässt sich aus Übersicht II.1 entnehmen. Übersicht II.1 Finanzierungszuständigkeiten der Gebietskörperschaften in der Sozialpolitik, ausgewählte Beispiele Bund:

Elterngeld, Grundsicherung für Arbeitsuchende, Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung, Arbeitsmarktprogramme, Zuschüsse zur Rentenversicherung, zur Krankenversicherung, zur Bundesagentur für Arbeit und zur Alterssicherung der Landwirte Gemeinsam mit den Ländern Kriegsopferversorgung, Wohngeld und Ausbildungsförderung

Länder:

Krankenhausfinanzierung, Ausbau der Pflegeinfrastruktur, öffentliches Gesundheitswesen, Arbeitsmarktprogramme, Förderung von sozialen Einrichtungen und Diensten Gemeinsam mit dem Bund Kriegsopferversorgung, Wohngeld und Ausbildungsförderung Unterstützung der Kommunen, insb. bei der Sozial- und Jugendhilfe

Kommunen:

Sozialhilfe, Grundsicherung für Arbeitssuchende (Kosten der Unterkunft und soziale Dienste), Kinder- und Jugendhilfe, freiwillige soziale Leistungen, insb. soziale Dienste und Einrichtungen

Indirekte Sozialleistungen durch steuerliche Vergünstigungen – so z. B. der Familienleistungsausgleich über das System von Steuerfreibeträgen und Kindergeld – führen zu Steuermindereinnahmen bei der Einkommensteuer. Da das Aufkommen aus der Einkommensteuer Bund, Ländern und Kommunen gemeinsam (nach einem bestimmten Anteilsschlüssel) zusteht, werden die Gebietskörperschaften in diesem Anteilsverhältnis belastet. Bund, Länder und Kommunen finanzieren als Arbeitgeber im vollen Umfang die soziale Sicherung ihrer Beamten sowie mit dem hälftigen Arbeitgeberbeitrag die Sozialversicherungsleistungen ihrer Arbeiter und Angestellten.

82

Ökonomische Grundlagen und Finanzierung

Generell gilt folgende Unterscheidung: •

Leistungen, die den Ausfall des Arbeitseinkommens ersetzen sollen und die die Funktion einer Risikovorsorge wahrnehmen, werden über Versicherungssysteme mit eigenständigen Haushalten abgewickelt. Bei den Trägern der Systeme der Sozialversicherung handelt es sich um „Parafisci“, d. h. mit staatlicher Hoheitsgewalt ausgestattete Träger der öffentlichen Finanzwirtschaft. Sie werden (weit überwiegend) über Beiträge finanziert. Ergänzend kommen Zuschüsse aus dem Bundeshaushalt hinzu. Beiträge sind zweckgebunden und haben den Charakter von individuell zurechenbaren Vorleistungen, die Rechtsansprüche auf Versicherungsleistungen begründen. Zwischen der Beitragszahlung und der Höhe des versicherten Arbeitseinkommens auf der einen Seite und der Berechnung der Höhe der Geldleistungen auf der anderen Seite besteht eine enge Verbindung (Äquivalenzverhältnis). Dies gilt allerdings nicht für die Sach- und Dienstleistungen, die vor allem die Krankenversicherung prägen. • Systeme, bei denen zwischen Finanzierung, Leistungsberechtigung und Leistungshöhe kein Zusammenhang besteht, werden über die Haushalte der öffentlichen Gebietskörperschaften (Bund, Länder und Gemeinden) finanziert. Sie sind Teil der allgemeinen Staatsausgaben und erhalten ihre Mittel aus dem allgemeinen Steueraufkommen. Entsprechend der überragenden Bedeutung der Sozialversicherung im deutschen Sozialstaat sind die Sozialversicherungsbeiträge die mit Abstand wichtigste Finanzierungsart des Sozialleistungssystems. Ihr Stellenwert kommt zum Ausdruck, wenn man die öffentlichen Einnahmen in den Gesamtdimensionen betrachtet (vgl. Tabelle II.3). Die Einnahmen aus den Beiträgen zur Sozialversicherung sind mit 480 Mrd. Euro merklich höher als die Einnahmen aus der Besteuerung der Einkommen (330 Mrd. Euro) oder der Umsatzsteuer (226 Mrd. Euro). Das Aufkommen aus dem Steuersystem insgesamt beläuft sich auf 735 Mrd. Euro; daraus ist die Gesamtheit der Ausgaben von Bund, Ländern und Gemeinden zu finanzieren. Die Sozialversicherungsbeiträge werden von den Versicherten (Arbeitnehmer:innen, Selbstständige, Empfänger:innen von Lohnersatzleistungen und sonstige Personen) und den Arbeitgebern gezahlt. Als Sozialbeiträge der Versicherten im weiteren Sinne rechnet das Sozialbudget auch Zahlungen der Versicherten im Bereich von Sondersystemen (u. a. private Krankenversicherung, private Altersvorsorge) und in der betrieblichen Altersversorgung. Zu den Arbeitgeberbeiträgen im weiteren Sinne zählen in der Finanzierungssystematik des Sozialbudgets darüber hinaus die so genannten unterstellten Beiträge; dies sind rechnerische Gegenwerte für Leistungen, die Arbeitnehmer:innen von den Arbeitgebern direkt erhalten (so Beamtenversorgung, Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall und betriebliche Altersversorgung).

Finanzierung der sozialen Sicherung

83

Tabelle II.3 Einnahmen des (Sozial-)Staates, Eckdaten 2018 Mrd. € Einnahmen des Sozialbudgets Sozialbeiträge insgesamt

1 060,7 693,5

darunter: • Beiträge der Versicherten

327,9

darunter • Arbeitnehmer:innen

247,8

• Selbstständige

17,6

• Leistungsempfänger:innen (u. a. Rentner:innen)

47,3

• Übrige

15,2

• Beiträge der Arbeitgeber • Unterstellte Beiträge der Arbeitgeber (u. a. Entgeltfortzahlung)

274,7 91,0

• Zuschüsse des Staates

350,2

Einnahmen aus Sozialversicherungsbeiträgen

501,4

• Rentenversicherung

222,3

• Krankenversicherung/Gesundheitsfonds

224,9

• Bundesagentur für Arbeit/Arbeitslosenversicherung

35,2

• Pflegeversicherung

37,1

• Unfallversicherung

13,5

Steuereinnahmen (Bund, Länder, Gemeinden) insgesamt

776,3

darunter: • Steuern vom Einkommen insgesamt

332,1

darunter: • Lohnsteuer • Steuern vom Umsatz (ohne spezielle Verbrauchsteuern)

208,2 234,8

Die Summe der Einnahmen der einzelnen Versicherungszweige ist wegen der Zahlungen der einzelnen Sozialversicherungsträger untereinander höher als die tatsächlichen Gesamteinnahmen. Quelle: Bundesministerium für Arbeit und Soziales (2019), Sozialbudget; Statistisches Bundesamt (2019), Fachserie 14, Reihe 4, Steuerhaushalt.

84

3.4

Ökonomische Grundlagen und Finanzierung

Sozialversicherung und Beitragsfinanzierung

Beitragszahlende sind in erster Linie die versicherungspflichtig Beschäftigten und deren Arbeitgeber. Es herrscht das Prinzip der Parität, d. h. die Zahlungen werden zu gleichen Teilen vom Arbeitnehmer und Arbeitgeber geleistet. Allerdings gibt es Ausnahmen: So werden die Beiträge zur Unfallversicherung allein von den Arbeitgebern gezahlt. Arbeitnehmer:innen, die mit ihrem Einkommen eine Grenze (Versicherungspflichtgrenze) überschreiten, unterliegen nicht mehr der Versicherungs- und Beitragspflicht in der gesetzlichen Krankenversicherung und der sozialen Pflegeversicherung und haben die Möglichkeit, entweder freiwillig weiter versichert zu bleiben oder in eine private Versicherung überwechseln (zu den Folgen vgl. Kapitel „Einkommen“, Pkt. 5.1). Beitragszahlungen erfolgen zusätzlich durch Rentner:innen (Kranken- und Pflegeversicherung der Rentner), durch Krankengeldempfänger:innen (Beitragspflicht zur Renten- und Arbeitslosenversicherung) sowie durch freiwillig Versicherte und bestimmte Gruppen von Selbstständigen. Auch die Sozialversicherungsträger übernehmen Beitragsleistungen: So zahlt die Bundesagentur für Arbeit für ihre Leistungsempfänger:innen (Arbeitslosengeld, Kurzarbeitergeld, Unterhaltsgeld) Beiträge an die Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung. Die Rentenversicherung zahlt den hälftigen Beitragssatz für die Krankenversicherung der Rentner, die Krankenversicherung zahlt für die Krankengeldempfänger:innen den hälftigen Beitragssatz an die Rentenversicherung und die Arbeitslosenversicherung. Hier wird also gleichsam der Arbeitgeberanteil übernommen. Auch zahlt die Pflegeversicherung Rentenversicherungsbeiträge für nicht erwerbsmäßig tätige Pflegepersonen. Schließlich übernimmt der Bund Beitragszahlungen für die Kindererziehungszeiten in der Rentenversicherung. Die Höhe der Beiträge richtet sich nach dem versicherungspflichtigen Bruttoarbeitsentgelt, das unabhängig von seiner Höhe mit einem einheitlichen Prozentsatz belastet wird. Auf Einkommen, die oberhalb der Beitragsbemessungsgrenzen liegen, werden keine Beiträge erhoben; im Gegenzug begründen sie auch keine Ansprüche. Der jeweilige Beitragshöchstbetrag in den einzelnen Versicherungszweigen errechnet sich, indem der Betrag der jeweiligen Beitragsbemessungsgrenze mit dem jeweiligen Beitragssatz multipliziert wird. Die Grenzwerte werden jährlich entsprechend der allgemeinen Einkommensentwicklung angepasst (Dynamisierung). Die Werte für das Jahr 2020 finden sich in Tabelle II.4. Die Beitragsbemessungsgrenze in der Renten- und Arbeitslosenversicherung entspricht etwa dem 2,1fachen des Durchschnittsverdienstes; der Grenzwert in der Kranken- und Pflegeversicherung übersteigt das Durchschnittseinkommen um rund 42 %.

Finanzierung der sozialen Sicherung

85

Tabelle II.4 Beitragssätze, Grenzwerte und Rechengrößen der Sozialversicherung 2020 West

Ost

Monat

Jahr

Monat

Jahr

• Rentenversicherung

6 900

82 800

6 450

77 400

• Arbeitslosenversicherung

6 900

82 800

6 450

77 400

• Kranken- u. Pflegeversicherung

4 688

56 520

4 688

56 520

5 213

62 550

5 213

62 550

Beitragsbemessungsgrenzen (in Euro)

Versicherungspflichtgrenze (in Euro) • Kranken- u. Pflegeversicherung Mini- und Midi-Beschäftigung (in Euro) • Geringfügigkeitszone

450

450

• Midi-Zone/Übergangsbereich

451 – 1 300

451 – 1 300

Beitragssätze (in %) • Rentenversicherung

18,6

• Arbeitslosenversicherung

2,5

• Krankenversicherung1)

15,7 (14,6 + 1,1)

• Pflegeversicherung

3,05

• Zusatzbeitrag für Kinderlose

0,25

Monatliche Höchstbeiträge (in Euro) für Versicherte in der … • Rentenversicherung

641,70

599,85

86,25

80,63

409,22

409,22

• Pflegeversicherung3)

71,49

71,49

• Kinderlosenbeitrag

11,72

11,72

• Arbeitslosenversicherung • Krankenversicherung2)

1) Der allgemeine, paritätisch finanzierte Beitragssatz der GKV liegt bei 14,6 %. Hinzu kommt ein (für das Jahr 2020 geschätzter) durchschnittlicher Zusatzbeitrag von 1,1 %. Den Zusatzbeitrag zahlen ab 2019 nicht mehr allein die Versicherten, sondern paritätisch auch die Arbeitgeber. Er wird einkommensabhängig und ohne feste Obergrenze erhoben. 2) mit Zusatzbeitrag von 1,1 % 3) ohne Sonderbeitrag für Versicherte ohne Kinder Quelle: Bundesministerium für Arbeit und Soziales.

86

Ökonomische Grundlagen und Finanzierung

Abbildung II.5 Beitragsabzüge bei Mini- und Midijobs (Übergangsbereich) 07/2019) 32 30

Arbeitgeberpauschalbeitrag:28%* + 2% Steuer = 30%

28 26

in % des Bruttoarbeitsentgelts

24

Regulärer Arbeitnehmerbeitrag***

22

Regulärer Arbeitgeberbeitrag

20,0

20

20,1

18

17,3

16 14 12 10,4

10 8 6 3,6 % Eigenbeitrag Rentenversicherung **

4 2

Übergangsbereich/Midijobs

Minijobs

1300

1280

1240

1200

1160

1120

1080

1040

1000

960

920

880

840

800

760

720

680

640

600

560

520

480

450

440

400

360

320

280

240

200

160

120

80

40

0

0

Arbeitsentgelt

Quelle: Eigene Berechnungen nach Gleitzonenrechner der Deutschen Rentenversicherung Bund.

Besondere Bedingungen gelten für die geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse (Minijobs) und für die Midijobs (vgl. Kapitel „Einkommen, Pkt. 5.1): •

Im Einkommensbereich bis zu 450 Euro/Monat (Minijobs) herrscht in der Kranken-, Pflege- und Arbeitslosenversicherung Versicherungs- und Beitragsfreiheit. In der gesetzlichen Rentenversicherung besteht hingegen eine Versicherungs- und Beitragspflicht. Allerdings haben die Beschäftigten die Möglichkeit, sich von der Versicherungspflicht befreien zu lassen (opt-out-Regelung). Die Arbeitgeber sind zur Zahlung eines Pauschalbeitrags und einer Pauschalsteuer verpflichtet (15 % GRV, 13 % GKV und 2 % Steuern mit Abgeltungswirkung). • Im Übergangsbereich zwischen 451 und 1 300 Euro (Midi-Jobs) erhöhen sich die Arbeitnehmerbeitragssätze gleitend. Nach dem Überschreiten der 450 Euro Grenze erreicht die Beitragsbelastung also erst schrittweise den vollen Beitragssatz. Der Arbeitgeberanteil zur Sozialversicherung liegt in der Gleitzone konstant auf der Höhe der geltenden Beitragssätze (vgl. Abbildung II.5). Die Beitragssätze in der Renten-, Arbeitslosen-, Kranken- und Pflegeversicherung werden durch Gesetz bzw. Verordnung bundeseinheitlich festgelegt. In der Krankenversicherung gelten Besonderheiten: Hier fließen die Beitragseinnahmen (und auch der Bundeszuschuss) in einen Gesundheitsfonds. Aus dem Gesundheitsfonds erhalten die einzelnen Krankenkassen eine einheitliche Pauschale pro Versichertem plus

Finanzierung der sozialen Sicherung

87

besondere Zuweisungen, die Alter, Geschlecht und Gesundheitszustand der Versicherten berücksichtigen (Risikostrukturausgleich). Reichen die Mittel aus dem Gesundheitsfonds nicht aus, um die Ausgaben einer Krankenkasse zu finanzieren, müssen die Kassen Zusatzbeiträge erheben, die bis Ende 2018 allein von den Versicherten zu bezahlen waren. Ab 2019 werden auch die Arbeitgeber beteiligt, so dass die paritätische Mittelaufbringung wieder hergestellt worden ist. Tabelle II.5 informiert über die Entwicklung der Beitragssätze seit 1990 (Gesamtdeutschland). In den einzelnen Versicherungszweigen zeigt sich ein unterschiedliches und unübersichtliches Bild: •

In der Rentenversicherung steigt der Beitragssatz zwischen 1990 und 1997 von 18,7 % auf einen bisherigen Höchststand von 20,3 %. Der Anstieg ist u. a. eine Folge der raschen Erhöhung der ostdeutschen Renten. Zwischen 1999 und 2011 kommt es zu einer Dämpfung des Beitragssatzes aufgrund höherer Bundeszuschüsse und der Absenkung des Rentenniveaus. Die gute Beschäftigungsentwicklung führt ab 2012 zu einer Rückführung der Beitragssätze auf bis zu 18,6 % (2019). • In der Krankenversicherung zeigt sich ein leichter, aber kontinuierlicher Anstieg des (durchschnittlichen) Beitragssatzes. Ab Juli 2005 müssen die Versicherten einen pauschalen Sonderbeitrag von 0,9 % zahlen, das Prinzip der Parität wird durchbrochen. Der Sonderbeitrag wurde ab 2009 in einen kassenindividuellen Zusatzbeitrag überführt, der ebenfalls allein die Versicherten belastet. Die Höhe des Zusatzbeitrags war zunächst einkommensunabhängig, ab 2015 aber einkommensabhängig. Der Zusatzbeitrag liegt im Jahr 2019 im Durchschnitt aller Kassen bei 0,9 % und wird wieder paritätisch aufgebracht. • In der Arbeitslosenversicherung erhöht sich 1991 – angesichts der hohen Arbeitslosigkeit in den neuen Ländern – der Beitragssatz auf 6,8 %. Zwischen 1993 und 2006 liegt er konstant bei 6,5 %. Ab 2007 kommt es infolge von Kürzungen beim Arbeitslosengeld (Hartz-Gesetze), Einschnitten in der aktiven Arbeitsmarktpolitik, zwischenzeitlich erhöhten Bundeszuschüssen und eines ab etwa 2010 einsetzenden deutlichen Rückgangs der Arbeitslosigkeit zu einer Absenkung des Satzes auf 3 % (2011) und 2019 auf 2,5 %. • In der Pflegeversicherung ist der seit Einführung der Versicherung geltende Beitragssatz von 1,7 % bis 2007 zunächst konstant gehalten worden. Seit 2006 müssen kinderlose Versicherte einen Sonderbeitrag von 0,25 % zahlen. Infolge der steigenden Zahl von Pflegebedürftigen und zugleich von Leistungsverbesserungen steigt ab 2008 der Beitragssatz schrittweise an – auf 2,55 % im Jahr 2017 und auf 3,05 % im Jahr 2019. Betrachtet man den Gesamtsozialversicherungsbeitragssatz, dann fällt auf, dass dieser in den Jahren zwischen 1990 und 1997 um 6,5 Prozentpunkte auf 42,1 % angehoben worden ist. Dieser starke Anstieg ist ganz wesentlich Folge der der Finanzierung der Belastungen der deutschen Einheit zu einem großen Teil über Sozialversiche-

88

Tabelle II.5

Ökonomische Grundlagen und Finanzierung

Beitragssatzentwicklung in den Zweigen der Sozialversicherung 1990 – 2020

Jahr

Rentenversicherung

Krankenversicherung1)

Arbeitslosenversicherung

Pflegeversicherung2)

Gesamt

1990

18,7

12,6

4,3

35,6

1991

17,7

12,2

6,8

36,7

1992

17,7

12,8

6,3

36,8

1993

17,5

13,4

6,5

37,4

1994

19,2

13,2

6,5

38,9

1995

18,6

13,2

6,5

1,0

39,3

1996

19,2

13,5

6,5

1,7

40,9

1997

20,3

13,6

6,5

1,7

42,1

1999

19,5

13,6

6,5

1,7

41,3

2000

19,3

13,6

6,5

1,7

41,1

2001

19,1

13,6

6,5

1,7

40,9

2002

19,1

14,0

6,5

1,7

41,3

2003

19,5

14,3

6,5

1,7

42,0

2004

19,5

14,2

6,5

1,7

41,9

2005

19,5

14,2

6,5

1,7

41,9

2006

19,5

14,2

6,5

1,7

41,9

2007

19,9

14,8

4,2

1,7

40,6

2008

19,9

14,9

3,3

1,95

40,1

2009

19,9

14,9

2,8

1,95

39,6

2010

19,9

14,9

2,8

1,95

39,6

2011

19,9

15,5

3,0

1,95

40,4

2012

19,6

15,5

3,0

1,95

40,1

2013

18,9

15,5

3,0

2,05

39,45

2014

18,9

15,5

3,0

2,05

39,45

2015

18,7

14,6 + 0,9

3,0

2,35

39,55

2016

18,7

14,6 + 1,1

3,0

2,35

39,75

2017

18,7

14,6 + 1,1

3,0

2,55

39,95

2018

18,6

14,6 + 1,0

3,0

2,55

39,75

2019

18,6

14,6 + 0,9

2,5

3,05

39,65

2020

18,6

14,6 + 1,1

2,5

3,05

39,85

1) bis 2008 durchschnittlicher Beitragssatz; ab 2009 einheitlicher Beitragssatz zum Gesundheitsfonds, ab 2005 einschließlich des Sonderbeitrags von 0,9 %, ab 2015 allgemeiner, paritätischer Beitragssatz und jeweilige Zusatzbeiträge (Durchschnittswerte) 2) ab 2005 ohne Arbeitnehmersonderbeitrag für Kinderlose (0,25 %) Quelle: Bundesministerium für Arbeit und Soziales.

Finanzierung der sozialen Sicherung

89

rungsbeiträge. Seit 1999 ist ein leichter Rückgang des Gesamtsozialversicherungsbeitrags zu erkennen. Dahinter steht auch das Ziel der jeweiligen Bundesregierungen, eine Grenze von 40 % nicht zu überschreiten. Das wird ab 2009 eingehalten. Der Blick auf den Gesamtbeitragssatz verdeckt, dass durch Veränderungen im Leistungs- und Finanzierungsrecht zwischen den einzelnen Zweigen der Sozialversicherung Verschiebungen stattfanden, die den Beitragssatz bei der einen Versicherungsart ermäßigten, ihn jedoch bei der anderen erhöhten. Ein Beispiel unter vielen für diese oft kritisierten „Verschiebebahnhöfe“ sind die verringerten Beitragsleistungen der Arbeitslosenversicherung an die Krankenversicherung, die zu einer Entlastung der Arbeitslosen- und zu einer Belastung der Krankenversicherung geführt haben. Soweit sich diese internen Verschiebungen wechselseitig ausgleichen, ändert sich freilich nichts am Gesamtsozialversicherungsbeitrag. Die Sozialversicherungsbeiträge belasten die Einkommen aus abhängiger Arbeit, denn sowohl die Arbeitnehmer- als auch die Arbeitgeberbeiträge sind Bestandteile der Arbeitseinkommen und gehen in die Arbeitskosten ein: Bei den Arbeitgeberbeiträgen handelt es sich um den Teil des Arbeitseinkommens, der auf dem Gehaltsnachweis nicht ausgewiesen, sondern bereits vor der Festsetzung des Bruttoentgelts abgezweigt wird. Will man, um beispielsweise internationale Vergleiche vornehmen zu können, wissen, wie hoch die Belastung der Arbeitseinkommen insgesamt ist, dann müssen die Beitragsabzüge ins Verhältnis zu den Bruttoentgelten einschließlich der Arbeitgeberbeiträge gesetzt werden. Bei dieser Berechnung fallen die Abzugsquoten niedriger aus als die Beitragssätze, da der Bezugswert größer ist. 3.5

Steuerfinanzierte Sozialleistungen

3.5.1 Sozialausgaben und öffentliche Haushalte

Aus dem allgemeinen Steueraufkommen werden alle Sozialleistungen außerhalb der Sozialversicherung finanziert. Aus Steuermitteln werden aber auch die Zuschüsse des Bundes zur Sozialversicherung (zur Rentenversicherung und zur Krankenversicherung) bestritten. Bundeszuschüsse sind zur ergänzenden Finanzierung der Sozialversicherung unverzichtbar, um jene Aufgaben und Ausgaben der Sozialversicherung auszugleichen, die einen allgemeinen gesellschaftspolitischen Charakter haben. Es wäre verteilungspolitisch nicht zu vertreten, gesamtgesellschaftliche Aufgaben, von denen auch jene profitieren, die keine Beiträge gezahlt haben, allein durch den begrenzten Kreis der Beitragszahlenden (noch dazu mit linearem Belastungstarif) zu finanzieren. Dies ist eine Aufgabe der Steuerpolitik. Dies betrifft – um ein Beispiel zu nennen – die Kriegsfolgelasten bei der Rente. Eine Frage ist, ob die derzeitigen Zuschüsse ausreichend hoch sind, um diesen Ausgleich zu gewährleisten. Der Staat übernimmt schließlich die letzte Garantie für die Finanzierbarkeit der Sozialversicherungsausgaben (Bundesgarantie). Insbesondere bei der Arbeitslosen-

90

Ökonomische Grundlagen und Finanzierung

versicherung ist diese Garantie unabdingbar, denn das Risiko Massenarbeitslosigkeit erweist sich als ein allgemeines wirtschaftspolitisches Problem, das nicht versicherungsmathematisch kalkulierbar und deswegen im engeren Sinne überhaupt nicht versicherbar ist. Eine Zweckbindung einer speziellen Steuer für eine spezielle Staatsausgabe gibt es nicht. Zwischen der Steuerlast der einzelnen Bürger und der Höhe von Sozialleistungen besteht im Unterschied zur Beitragsfinanzierung kein zurechenbarer Zusammenhang. Das Steueraufkommen der jeweiligen staatlichen Ebene wird für die Vielzahl öffentlicher Aufgaben und Ausgaben verwendet. Insofern stehen die steuerfinanzierten Ausgaben für die soziale Sicherung immer in Konkurrenz zu anderen Ausgabenpositionen. Zu erwähnen sind u. a. die Ausgaben für Verteidigung, Umwelt, Landwirtschaft, Verkehr, Forschung, Entwicklungshilfe – um nur einzelne Posten des Bundeshaushaltes aufzuführen. In den Länder- und Kommunalhaushalten dominieren eindeutig die Personalausgaben (einschließlich Pensionen und Beihilfen), so insbesondere in den Tätigkeitsfeldern Schule und Hochschule, innere Sicherheit, öffentliche Verwaltung und Daseinsvorsorge. Fragt man nach den Aufgabenbereichen und nach dem Anteil, den die Ausgaben für Soziales – wobei die Abgrenzung des Bereichs „Soziales“ häufig sehr unterschiedlich ausfällt – an den Haushalten der Gebietskörperschaften ausmachen, so ergibt sich folgendes Bild: Bundeshaushalt Im Bundeshaushalt, dessen Gesamtvolumen (2019/Soll) knapp 360 Mrd. Euro beträgt, fallen gut die Hälfte aller Ausgaben (50,4 %) für den Bereich „Soziale Sicherung, Familie/Jugend, Arbeitsmarkt“ an (vgl. Tabelle II.6 und Abbildung II.6). Allein die Zuschüsse des Bundes für die Rentenversicherung schlagen mit 97,8 Mrd. Euro, das sind 27,4 % aller Ausgaben, zu Buche. Seit Mitte der 1990er Jahre sind in Folge der mehrfach angehobenen Bundeszuschüsse zur Rentenversicherung die Aufwendungen für diesen Aufgabenbereich deutlich angestiegen. Seit 2004 leistet der Bund auch Zuschüsse an die Krankenversicherung, die 2019 eine Höhe von 16,0 Mrd. Euro erreichen. Eine hohe Bedeutung haben auch die Ausgaben, die der Bund seit 2005 für die Leistungen nach dem SGB II (Grundsicherung für Arbeitsuchende) trägt. Sie belaufen sich auf 27,4 Mrd. Euro, das sind 7,7 %. Gegenüber 2005, dem Einführungsjahr des SGB II, hat sich der Anteil an den Gesamtausgaben aber deutlich verringert: von 13,5 % auf 7,7 %.

Finanzierung der sozialen Sicherung

91

Tabelle II.6 Ausgaben des Bundes für soziale Sicherung 2010, 2015, 2019 2010*

Ausgaben insgesamt

2015**

2019**

Mrd. €

%

Mrd. €

%

Mrd. €

%

303,7

100

306,9

100

356,4

100

darunter: Soziale Sicherung, Familie, Jugend, Arbeitsmarktpolitik

158,6

52,2

154,3

50,3

179,5

50,4

80,7

26,6

81,2

26,5

97,8

27,4

Bundeszuschuss an die allgemeine RV

39,9

13,1

31,5

10,3

36,3

10,2

Zusätzlicher Bundeszuschuss

19,1

6,3

22,2

7,2

26,1

7,3

Beiträge für Kindererziehungszeiten

11,6

3,8

12,1

3,9

15,4

4,3

6,0

2,0

5,4

1,8

5,4

1,5

3,9

1,3

2,2

0,7

2,4

0,7

13,1

4,3

0

0

0

0

33,9

11,0

37,6

10,5

darunter: • Leistungen an die Rentenversicherung darunter:

Bundeszuschuss an die knapp. RV • Alterssicherung der Landwirte • Bundeszuschuss an die BA • Arbeitsmarktpolitik darunter Arbeitslosengeld II/SGB II (inkl. Kosten der Unterkunft)

35,9

11,8

25,6

8,3

27,4

7,7

• Kinderzuschlag

0,4

0,1

0,3

0,1

0,7

0,2

• Wohngeld

0,9

0,3

0,5

0,2

0,5

0,1

• Elterngeld

4,6

1,5

5,9

1,9

6,9

1,9

• Kriegsopferleistungen

1,9

0,6

1,2

0,4

0,7

0,2

• Leistungen an die GKV

15,7

5,2

12,9

4,2

0,8

0,2





6,1

2,0

16,0

4,5

• Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung

* Ist-Zahlen (Haushaltsabschluss) ** Soll-Zahlen (Haushaltsplan) Quelle: Bundesministerium der Finanzen.

92

Ökonomische Grundlagen und Finanzierung

Abbildung II.6 Ausgabenstruktur des Bundeshaushaltes 2019 in Mrd. Euro und in % aller Ausgaben (Haushaltplan) weitere Ausgaben: 30,4 Mrd. €; = 8,5 % Versorgungsleistungen/Beihilfen: 10,7 Mrd. € = 3,0% Zinsausgaben: 17,6 Mrd. € = 4,9 % Wirtschaftl. Zusammenarbeit: 10,2 Mrd. € = 2,9 %

Rentenversicherung: 97,8 Mrd. € = 27,4 %

Öffentliche Sicherheit: 6,2 Mrd. € = 1,7 % Forschung, Wissenschaft. Bildung, Kultur: 25,7 Mrd. € = 7,2 %

Gesamtausgaben: 356,4 Mrd. Euro

Wohnungsbau/Städtebau 3,8 Mrd. € = 1,1%

Soziale Sicherung, Familie/Jugend, Arbeitsmarkt: 179,5 Mrd. € = 50,4 %

Familien:8,3 Mrd. = € 2,3 % Gesetzl. Krankenvers.: 16,0 Mrd. € = 4,5 % Arbeitsmarkt: 37,6 Mrd. € = 10,5 %

Verkehr, Nachrichtenwesen 22,1 Mrd. € = 6,2 % Wirtschaft/Energie: 5,1 Mrd. € = 1,4 %

Weitere Leistungen

1) : 5,7

%

Ernährung, Landwirtchaft, : 1,4 Mrd. € = 0,4 % Verteidigung: 43,7 Mrd. € = 12,3 %

1) u. a. Wohngeld, Kriegsopferleistungen, Landwirtschaftliche Sozialpolitik, Grundsicherung im Alter Quelle: Bundesministerium der Finanzen, Haushaltsplan 2019.

Länderhaushalte In den Länderhaushalten haben die Ausgaben für den Bereich „Soziale Sicherung und Gesundheit“ ein vergleichsweise geringes Gewicht; in Nordrhein-Westfalen beispielsweise errechnet sich für 2017 ein Anteil von etwa 10,0 %. Der Grund liegt in der verfassungsrechtlich festgelegten nachrangigen Zuständigkeit der Länder für soziale Aufgaben. Auf Landesebene dominieren stattdessen die Ausgaben für Bildung und Wissenschaft sowie für innere Sicherheit. Von Bedeutung sind außerdem die allgemeinen Finanzzuweisungen (in erster Linie in Richtung der Kommunen). Hinter den Zuweisungen der Länder an die Kommunen (vgl. Pkt. 3.6 dieses Kapitels) steht auch eine indirekte Finanzierung der kommunalen Sozialleistungen. Gemeinden Bei den Gemeinden summieren sich die Ausgaben für „Soziale Sicherung, Gesundheit, Sport und Erholung“ auf etwa 37 % der gesamten Ausgaben (vgl. Pkt. 3.6 dieses Kapitels).

Finanzierung der sozialen Sicherung

93

3.5.2 Steuersystem und Steuerverteilung

Einen Überblick über die wesentlichen Steuerarten und ihre Aufkommenshöhe gibt Tabelle II.7. Die hier genannten Steuern machen gut 95 % des gesamten Steueraufkommens aus. Die restlichen Steuerarten des Steuersystems sind – bezogen auf das Gesamtvolumen – vergleichsweise unbedeutend. Die Steuerarten mit dem höchsten Aufkommen sind (2018) die Lohnsteuer mit 26,8 % und die Umsatzsteuer (Einfuhrumsatzsteuer und Mehrwertsteuer) mit 30,2 %. Die Steuern vom Einkommen insgesamt machen 45 % des Gesamtvolumens aus, darunter haben die Gewinnsteuern, nämlich die Einnahmen aus der Körperschaftsteuer Anteile von 4,0 %, aus der veranlagten Einkommensteuer von 8,1 % und aus der nicht veranlagten Steuer vom Ertrag von 2,8 %. Das Verhältnis zwischen direkten Steuern (Einkommen-, Gewerbe-, Erbschaftsteuer) und indirekten Steuern (Umsatzsteuer und andere Verbrauch- und Aufwandsteuern) liegt bei rund 55 % (direkte Steuern) zu 45 % (indirekte Steuern), (zu den Verteilungswirkungen von Einkommen- und Umsatzsteuer vgl. Kapitel „Einkommen“, Pkt. 3.1). Das Gesamtsteueraufkommen verteilt sich nach bestimmten Zuordnungen und Verteilungsschlüsseln auf die einzelnen staatlichen Ebenen. Dem föderativen Staatsaufbau in der Bundesrepublik Deutschland entspricht ein dezentralisiertes Aufgabenund Finanzsystem, so wie es im Grundgesetz geregelt ist. Folgende Steuerarten fließen jeweils einer öffentlichen Gebietskörperschaft allein zu: • • •

Der Bund erhält die Einnahmen aus dem Solidaritätszuschlag und aus den meisten speziellen Verbrauchsteuern (so u. a. Mineralölsteuer, Tabaksteuer, Versicherungssteuer). Den Ländern stehen u. a. die Einnahmen aus der Kraftfahrzeugsteuer, Grunderwerbsteuer und Erbschaftsteuer zu. Die Gemeinden haben Anspruch auf die Einnahmen u. a. aus der Grundsteuer und Teilen der Gewerbesteuer sowie aus örtlichen Verbrauch- und Aufwandsteuern.

Die ertragsreichsten Steuern werden nach einem komplizierten und zwischen den Beteiligten stets strittigen Schlüssel auf die Bundes-, Länder- und Gemeindehaushalte verteilt, damit die zugewiesenen Aufgaben angemessen erfüllt werden können und die Steuereinnahmen der drei Ebenen sich ungefähr in gleicher Weise entwickeln. Zu diesen Gemeinschaftsteuern zählen vor allem die Lohn- und Einkommensteuer und die Umsatzsteuer. Ein abnehmendes Gewicht kam in den vergangenen Jahren der Finanzierung der öffentlichen Ausgaben über Nettokreditaufnahme (Kreditaufnahme abzüglich Tilgung) zu. Die Neuverschuldung sank bzw. im Bundeshaushalt und einzelnen Länderhaushalten wurde auf sie sogar gänzlich verzichtet. Zugleich sorgten auch die niedrigen

94

Ökonomische Grundlagen und Finanzierung

Tabelle II.7

Aufkommen aus den wichtigsten Steuerarten 2010 – 2018 2010

Steuereinnahmen insgesamt

2015

2018

Mrd. €

In %

Mrd. €

In %

Mrd. €

In %

530,6

100

673,3

100

776,3

100

darunter: Steuern vom Einkommen

204,5

38,6

204,5

38,6

351,8

45,3

darunter: • Lohnsteuer

G

127,9

24,1

178,9

24,1

208,2

26,8

• Veranlagte Einkommensteuer

G

31,2

5,9

48,6

5,9

60,4

7,8

• Nicht veranlagte Steuer vom Ertrag

G

13,0

2,5

17,9

2,5

23,2

3,0

• Zinsabschlagsteuer bzw. Abgeltungsteuer

G

8,7

1,6

8,3

1,6

6,9

0,9

• Körperschaftsteuer

G

12,0

2,3

19,6

2,3

33,4

4,3

• Solidaritätszuschlag

B

11,7

2,2

15,9

2,2

18,9

2,4

Gewerbesteuer

K

35,7

6,7

45,7

6,7

55,8

7,2

Grundsteuer

K

11,3

2,1

13,2

2,1

14,2

1,8

Umsatzsteuer

G

180,0

33,9

209,9

33,9

234,8

30,2

Energiesteuer

B

39,8

7,5

39,6

7,5

40,9

5,3

Tabaksteuer

B

13,5

2,5

14,9

2,5

14,3

1,8

Versicherungssteuer

B

10,3

1,9

12,4

1,9

13,8

1,8

KFZ-Steuer

B

8,5

1,6

8,8

1,6

9,1

1,2

Erbschaftsteuer

L

4,4

0,8

6,3

0,8

6,8

0,9

Grunderwerbsteuer

L

5,3

1,0

11,2

1,0

14,1

1,8

Bund

226,0

42,6

291,6

42,6

330,8

42,1

Länder

209,6

39,5

257,9

39,5

305,6

40,6

Gemeinden

70,6

13,3

70,6

13,3

105,2

14,3

EU

24,4

4,6

24,4

4,6

21,7

3,0

Aufteilung auf die Gebietskörperschaften 2017

G = Gemeinschaftliche Steuer; B = Bundessteuer; L = Landessteuer; K = Kommunale Steuer Quelle: Bundesministerium der Finanzen (zuletzt 2019), Datensammlung zur Steuerpolitik; Statistisches Bundesamt (2018), Fachserie 14, Reihe 4, Steuerhaushalt.

Finanzierung der sozialen Sicherung

95

Zinssätze für eine erhebliche Entlastung bei den Ausgaben. Und für die Haushalte der Gemeinden sind Einnahmen aus Gebühren und Beiträgen von hohem Gewicht. Durch ein Finanzausgleichssystem zwischen Bund, Länder und Gemeinden fließen finanzschwachen Bundesländern und Gemeinden ergänzende Mittel zu. Zu unterscheiden ist zwischen dem vertikalen Finanzausgleich zwischen Körperschaften unterschiedlicher Rangordnung (wenn z. B. der Bund finanzschwache Länder durch Ergänzungszuweisungen unterstützt) und dem horizontalen Finanzausgleich zwischen Körperschaften auf gleicher Ebene. Wichtigstes Element des horizontalen Finanzausgleichs sind die Ausgleichszahlungen zwischen finanzstarken und finanzschwachen Bundesländern. Empfänger sind in erster Linie die ostdeutschen Länder. Ziel des Finanzausgleichs ist es, das Verfassungspostulat der „Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse“ zu garantieren. Setzt man die Steuerbelastungen ins Verhältnis zum Sozialprodukt, dann errechnet sich die gesamtwirtschaftliche Steuerquote (Steuereinnahmen der Gebietskörperschaften in Relation zum Bruttoinlandsprodukt). Diese weist zwischen 2000 und 2010 in eine sinkende Tendenz auf (von 23,2 % auf 21,4 %); steigt seitdem aber wieder leicht an – bis auf 23,6 % im Jahr 2018 (Abbildung II.7). Die Sozialbeitragsquote (Sozialbeiträge in Relation zum Bruttosozialprodukt) weist ebenfalls leichte Schwankungen auf: Der Wert pendelt zwischen 18,1 % (2000)., 17,6 % (2004) und 16,9 % (2018).

Abbildung II.7 Abgabenquoten (Steuern und Sozialbeiträge) in % des Bruttoinlandsprodukts1) 1995 – 2018 45

40

40,1

40,6

41,4 38,2

39,3

38,4

39,3

39,3

40,1 40,5

Abgaben insgesamt

35

30 Steuern

25

20

15

22,9

22,0

21,9

18,1

18,7 18,5

22,4

22,0

16,9

16,4

20,6 17,6

22,9

22,9

23,4 23,6

16,5

16,4

16,7 16,9

Sozialabgaben 10

5

0

1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018

1) in der Abgrenzung des Europäischen Systems der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung Quelle: Bundesministerium der Finanzen (zuletzt 2019), Datensammlung zur Steuerpolitik, Datenportal.

96

Ökonomische Grundlagen und Finanzierung

Die Abgabenquote insgesamt liegt 2018 bei 40,5 %. Im zeitlichen Verlauf lässt sich zwischen 2000 und 2010 eine sinkende Tendenz erkennen (von 41,4 % auf 39,3 %); seitdem steigt sie wieder leicht an, führt aber nicht zurück auf das Niveau von 2000. Ein „Marsch in den Abgabenstaat“, wie er immer wieder befürchtet wird, ist nicht zu erkennen (Abbildung II.7). 3.5.3 Finanzierung der Sozialleistungen im europäischen Vergleich

Im europäischen Vergleich der Abgabenquoten liegt Deutschland im unteren Mittelfeld. Nach den Berechnungen der OECD wird für Deutschland eine Quote von 37,5 % (2017) ausgewiesen. Deutlich höhere Quoten haben vor allem die skandinavischen Staaten (Dänemark: 46,0 %, Schweden: 44,0 %, Finnland: 43,3 %) sowie Frankreich (46,2 %). Unter dem deutschen Niveau liegen die osteuropäischen Länder sowie Großbritannien Der Vergleich allein auf der Ebene von Gesamtabgabenquoten verdeckt, dass sich zwischen den Ländern auch die Finanzierungarten bei den Sozialleistungen deutlich unterscheiden. Zwar erfolgt die Finanzierung der Sozialleistungen in allen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union im Wesentlichen über drei Einnahmearten: Staatliche Zuweisungen aus Steuermitteln, Sozialbeiträge der geschützten Personen (dies sind überwiegend abhängig Beschäftigte, Selbstständige, Rentner:innen) sowie Sozialbeiträge der Arbeitgeber. Aber der Stellenwert dieser Einnahmearten variiert sehr stark (vgl. Abbildung II.8): •

Im Jahr 2017 wurden in den meisten EU-Ländern die Sozialleistungen vor allem durch Sozialbeiträge finanziert. Die höchsten Anteile hatten Tschechien (74,9 %), Polen (68,7 %), Deutschland (64,9 %) und Österreich (63,4 %). • Unterscheidet man bei den Beiträgen zwischen Arbeitgeberbeiträgen und den Beiträgen der geschützten Personen, waren in fast allen Ländern die Arbeitgeberanteile höher als die der Versicherten. Zur Arbeitgeberfinanzierung zählen sowohl die tatsächlich gezahlten Beiträge als auch die rechnerisch unterstellten Beiträge. Bei den letzteren handelt es sich um arbeitsrechtlich vorgeschriebene, direkt ausgezahlte Leistungen wie Entgeltfortzahlung oder betriebliche Altersvorsorge. • Dagegen finanzierten mit Dänemark (77,0 %), Schweden (51,9 %), Großbritannien (50,6 %) und Finnland (49,1 %) vier Länder ihre Sozialleistungen mehrheitlich durch Steuermittel. Andersherum ließen sich in Polen (18,3 %) und den Niederlanden (22,9 %) die niedrigsten Steueranteile beobachten. Diese Abweichungen finden ihre Erklärung in den unterschiedlichen Wohlfahrtsstaatstypen in Europa: In Skandinavien dominiert der Typ eines ausgebauten Systems der sozialen Sicherung auf steuerfinanzierter Basis; demgegenüber prägt in Kontinentaleuropa das beitragsfinanzierte Sozialversicherungssystem (Bismarck-Typus) die Sozialpolitik.

Finanzierung der sozialen Sicherung

97

Abbildung II.8 Finanzierung der Sozialleistungen nach Arten in ausgewählten EU-Ländern in % der Gesamteinnahmen 2017 100% 7,2

80%

9,1 13,8

15,8

19,1 23,1

10,1

9,6

16,2

13,5 26,9

13,0

24,4 30,7 21,5

37,9 27,2

31,9

34,4

60%

31,8

41,2 36,5

34,2

50,5 47,2

77,0

29,3

51,0

20%

Sozialbeiträge der geschützten Personen

45,1 32,2

40%

sonstige Einnahmen

50,6

49,1

Sozialbeiträge der Arbeitgeber

47,7 39,3

39,3

36,7

35,4

33,5 23,9

22,9

18,3

Staatliche Beiträge/Steuern

0%

Quelle: Eurostat (2019), Einnahmen des Sozialschutzes, ESSOSS.

3.6

Kommunale Sozialpolitik und ihre Finanzierung

Im steuerfinanzierten Bereich der sozialen Sicherung hat die kommunale Sozialpolitik eine zentrale Bedeutung. Trotz der Tendenz einer Verlagerung sozialpolitischer Aufgaben auf die zentralstaatliche Ebene (so durch die Einführung der Pflegeversicherung und durch die gemeinsam mit dem Bund getragene Grundsicherung für Arbeitsuchende) sind immer noch die Kommunen hauptzuständig für die soziale Infrastruktur der Gesellschaft und für die Daseinsvorsorge (vgl. auch Kapitel „Soziale Dienste“, Pkt. 3.1.2). In ihre Verantwortung fällt die Sicherstellung eines bedarfsgerechten und bürgernahen Angebots an sozialen Einrichtungen und Dienstleistungen. Zugleich sind sie örtliche Träger der Sozialhilfe und der Jugendhilfe. Die Kommunen – kreisfreie Städte, (Land-)Kreise und kreisangehörige Städte – regeln in Selbstverwaltung alle Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft, soweit nicht Bund oder Länder zuständig sind. Zu den wichtigsten Aufgaben zählen soziale Leistungen, Kultur, Gesundheit, Sport und Erholung, Straßenbau und Verkehrswesen, Energie- und Wasserversorgung, Stadtreinigung, öffentliche Ordnung, Bau- und Wohnungswesen sowie Wirtschaftsförderung. Mit ihrer Gesetzgebungskompetenz haben Bund und Länder die Möglichkeit, die Kommunen und die Kommunalverbände zur Wahrnehmung bestimmter örtlicher Aufgaben zu verpflichten und den Standard der Aufgabenerfüllung vorzugeben.

98

Ökonomische Grundlagen und Finanzierung

Übersicht II.2 Aufgaben der Kommunen Freiwillige Selbstverwaltungsaufgaben sind ganz in das Belieben einer Kommune gestellt; so ist es ausschließlich Sache der Gemeinden, einzelne soziale Projekte und Maßnahmen zu fördern. Pflichtige Selbstverwaltungsaufgaben sind Leistungen, die den Gemeinden durch Bundes- und/oder Landesgesetze vorgeschrieben sind. Bei der Art und Weise ihrer Durchführung haben die Gemeinden jedoch einen Gestaltungs- und Ermessensspielraum. Dies betrifft im sozialen Bereich vor allem die Sozialhilfe und die Jugendhilfe. Staatliche Aufgaben werden den Gemeinden durch Gesetz übertragen, die Gemeinden fungieren als staatliche Unterbehörde; bei der Aufgabendurchführung bleibt kein Spielraum. Die Kosten werden vom Bund oder Land übernommen. Die Auszahlung des Wohngelds beispielsweise ist eine staatliche Aufgabe.

Bei den kommunalen Aufgaben allgemein und den sozialpolitischen Aufgaben im Besonderen ist zu unterscheiden, ob es sich um eigene Aufgaben der Gemeinden (freie Selbstverwaltungsaufgaben) oder um Aufgaben handelt, die den Gemeinden gesetzlich vorgegeben sind. Bei den sozialen Leistungen der Kommunen handelt es sich zum weitaus größten Teil um Pflichtaufgaben. Maßgebend sind hier die Sozialhilfe nach SGB XII, die Kinder- und Jugendhilfe nach SGB VIII und die Grundsicherung für Arbeitsuchende nach SGB II. Trägerschaft und Ausführungszuständigkeiten des SGB II sind komplex geregelt: Träger der Leistungen nach dem SGB II sind die Bundesagentur für Arbeit einerseits und die Landkreise und kreisfreien Städte als kommunale Träger andererseits. Die Trägerschaft richtet sich nach bestimmten Aufgabenkatalogen, die Ausführungszuständigkeiten sind in Art. 91e GG mit dem Zusammenwirken von Bund, Ländern und Gemeinden/Gemeindeverbänden festgelegt. Zur einheitlichen Durchführung der Grundsicherung für Arbeitsuchende bilden die Träger im Gebiet jeder Kommune (kreisfreie Städte und Landkreise) eine gemeinsame Einrichtung (Jobcenter). Neben den gemeinsamen Einrichtungen gibt es aber auch in einem Viertel der Fälle kommunale Träger (2018: 110 zugelassene kommunale Träger). Die Finanzierungszuständigkeit der Kommunen bezieht sich auf den Großteil der Kosten von Unterkunft und Heizung sowie auf Leistungen wie Kinderbetreuung, Schuldner- und Suchtberatung, psychosoziale Betreuung, soweit sie zur Eingliederung in das Erwerbsleben erforderlich sind. Im Jahr 2017 wird nahezu die Hälfte (48 %) der gesamten Ausgaben durch Aufwendungen der Sozialhilfe (hier vor allem Hilfe zur Pflege und Eingliederungshilfe für behinderte Menschen) gebunden, wobei zu unterscheiden ist zwischen Leistungen in und außerhalb von Einrichtungen (vgl. dazu Kapitel „Einkommen“, Pkt. 6.4). Mit knapp 21 % schlagen die Ausgaben im Rahmen der Grundsicherung für Arbeitsuchende und mit gut 19 % die Ausgaben der der Kinder- und Jugendhilfe (u. a. Jugendarbeit, Hilfe zur Erziehung, Kindertagesbetreuung) zu Buche. Von großer Bedeutung

Finanzierung der sozialen Sicherung

99

Abbildung II.9 Soziale Leistungen in den Kommunalhaushalten der Flächenländer 2017 Leistungen für Bildung und Teilhabe: 0,4 Mrd. € = 0,5%

Jugendhilfe: 11,5 Mrd. € = 19,5%

Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz: 3,7 Mrd. € = 6,3% Sonstige soziale Leistungen: 2,1 Mrd. € = 3,6%

Leistungen nach dem SGB II: Kosten der Unterkunft: 12,3 Mrd. €; 20,8%

Soziale Leistungen: 58,8 Mrd. €

Sozialhilfe außerhalb von Einrichtungen: 9,6 Mrd. € = 16,2%

Sozialhilfe in Einrichtungen: 18,8 Mrd. € = 31,8%

Quelle: Deutscher Städtetag (2019), Stadtfinanzen.

sind angesichts der hohen Zahl von Flüchtlingen und Schutzsuchenden auch die Ausgaben nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (6,3 % der Gesamtausgaben (vgl. Abbildung II.9). Die zur Wahrnehmung der kommunalen Aufgaben notwendigen Einnahmen stammen im Wesentlichen aus drei Quellen: • • •

Steuereinnahmen, Gebühren und Beiträge, Finanzzuweisungen vom Land.

Die Finanzverfassung weist den Kommunen das Aufkommen an den Realsteuern (Gewerbesteuer und Grundsteuer) und den örtlichen Aufwand- und Verbrauchsteuern zu. Ergänzend erhalten die Gemeinden Anteile aus den Gemeinschaftsteuern. Der Gestaltungsspielraum der Kommunen bei den Steuereinnahmen ist gering, da das Steuerrecht durch den Bundesgesetzgeber geregelt wird. Das gilt auch für die Vereinbarungen über die Aufteilung der Gemeinschaftsteuern, die zwischen Bund und Ländern ohne direktes Mitentscheidungsrecht der Gemeinden erfolgen. Eine beschränkte Flexibilität besteht bei den Realsteuern, deren Aufkommen die Gemeinden durch die Festlegung der Steuersätze (Hebesätze) beeinflussen können. Von den Steuern sind Gebühren und Beiträge zu unterscheiden. Bei diesen handelt es sich um Einnahmen, denen eine konkrete Gegenleistung gegenübersteht:

100

Ökonomische Grundlagen und Finanzierung

Beiträge sind eine Art Umlage der Kosten für den Bau und die Pflege einer Einrichtung oder Anlage auf diejenigen, die dadurch einen potenziellen wirtschaftlichen Vorteil haben (so z. B. Anliegerbeiträge für den Anschluss an eine Straße oder für den Bau einer Kanalisation). • Gebühren sind eine Beteiligung an den Kosten für eine einzeln zurechenbare Leistung: Verwaltungsgebühren werden für Amtshandlungen (Ausstellen eines Ausweises, Gerichtsgebühren usw.), Benutzungsgebühren für die Inanspruchnahme öffentlicher Einrichtungen und Anlagen erhoben. Benutzungsgebühren bzw. Nutzungsentgelte finden sich im Bereich von Ver- und Entsorgung (Abwasserbeseitigung, Abfallbeseitigung, Straßenreinigung. •

Im sozialen, kulturellen und sportlichen Bereich kann es eine vollständige Kostendeckung durch Benutzungsgebühren bzw. -entgelten nicht geben, da dadurch die Inanspruchnahme der entsprechenden Leistungen und Angebote erheblich eingeschränkt und eine gesellschafts- und sozialpolitisch erwünschte bedarfsdeckende Versorgung verhindert würde. Das gilt u. a. für Jugendfreizeiteinrichtungen, Kindertagesstätten, Schuldnerberatungsstellen, Familien- und Erziehungsberatungsstellen wie auch für Eintrittsentgelte bei Schwimmbädern, Museen, Theatern oder öffentlichen Büchereien. Bei jedem Angebot ist deshalb nach Maßgabe der politischen Ziele, aber auch nach Finanzlage der Kommunen zu entscheiden, ob – und wenn ja – in welcher Höhe Gebühren bzw. Eintrittsgelder erhoben werden. Um die begrenzte finanzielle Leistungsfähigkeit bestimmter Bevölkerungsgruppen zu berücksichtigen, sind auch Gebührenermäßigungen (so für Arbeitslose, Bezieher:innen von Grundsicherung, Schüler:innen, Studierende) oder einkommensabhängig gestaffelte Gebühren (Elternbeiträge in Kindertagesstätten) möglich. Unterstützt durch finanzielle Zuwendungen vom Bund und dem jeweiligen Bundesland gehen immer mehr Kommunen dazu über, bei den Kindertagesstätten ganz oder nach Altersstufen der Kinder differenziert auf Gebühren zu verzichten. Tabelle II.8 zeigt die Struktur der kommunalen Einnahmen und Ausgaben, hier bezogen auf die Flächenländer (2018). Mit den Steuereinnahmen werden 40 %, mit Gebühren, Beiträgen und Einnahmen aus wirtschaftlicher Tätigkeit hingegen nur 13 % der Gesamteinnahmen der Gemeinden abgedeckt. Zusammengenommen reicht dies zum Haushaltsausgleich bei weitem nicht aus. Deswegen haben die Kommunen Anspruch auf zusätzliche Zuweisungen vom Land im Rahmen des kommunalen Finanzausgleichs, wobei allerdings die Höhe des Anteils und die Modalitäten der Vergabe Sache des Landes sind. Der Finanzausgleich hat mehrere Ziele: Er soll dazu dienen, die Finanzlage der Gemeinden allgemein zu verbessern, Unterschiede in der Steuerkraft zwischen armen und reichen Gemeinden auszugleichen und Sonderbelastungen einzelner Gemeinden zu berücksichtigen. Zugleich ist er ein Mittel, mit dem landespolitische Ziele umgesetzt werden können. Der Finanzausgleich erfolgt auf drei Wegen: durch allgemeine Zuweisungen (Schlüsselzuweisungen), Sonderlastenausgleich (für Krankenhäuser, Schulen, öffentlicher Per-

Finanzierung der sozialen Sicherung

101

Tabelle II.8 Kommunale Einnahmen und Ausgaben 2010 – 2018 (alte Länder) 2010

Einnahmen

2015

2018

Mrd. €

%

Mrd. €

%

Mrd. €

%

175,4

100

219,1

100

254,4

100

40.0

Darunter • Steuern

63,9

36,4

84,8

38,7

100,6

26,9

18,4

34,9

15,9

41,3

16,4

3,3

1,9

4,3

2,0

6,8

2,7

23,0

13,1

32,5

14,8

38,2

15,2

• Zahlungen von Bund und Land

54,6

31,1

77,0

35,1

92,3

36,7

• Investitionszahlungen von Bund u. Land

10,1

5,8

7,4

3,4

8,2

3,3

• Gebühren

16,2

9,2

17,9

8,2

19,9

7,9

5,9

3,4

8,7

4,0

32,7

13

24,8

14,1

22,9

10,5 250,1

100

darunter: • Gewerbesteuer • Anteil an der Umsatzsteuer • Anteil an der Einkommensteuer

• Beiträge, Erwerbseinnahmen, Erlöse • Sonstige Einnahmen Ausgaben

182,3

• Personal

45,1

24,7

54,1

25,1

62,3

24,9

• Sachaufwand

38,6

21,2

46,1

21,4

52,2

20,9

• Soziale Leistungen

41,9

23,0

53,4

24,8

60,9

24,4

4,3

2,4

3,1

1,4

2,7

1,1

23,2

12,7

23,7

11,0

26,3

10,5

7,4

4,1

8,5

3,9

41,6

16,6

21,8

12,0

26,7

12,4

• Zinsen • Sachinvestitionen • Zahlungen a. öffentlichen Bereich • Sonstige Ausgaben Finanzierungssaldo

100

− 6,9

215,6

100

+ 3,5

In den west- und ostdeutschen Flächenländern, d. h. ohne Stadtstaaten Quelle: Deutscher Städtetag, Gemeindefinanzberichte (zuletzt 2018); Stadtfinanzen 2019.

+ 1,3

102

Ökonomische Grundlagen und Finanzierung

sonennahverkehr) und objektbezogene Zuweisungen für bestimmte Vorhaben und Investitionen (so für Wohnungsbau- und Verkehrsprogramme, Kindergartenbau, soziale Modellprogramme, Maßnahmen der kommunalen Beschäftigungspolitik). Insgesamt machen die Zahlungen von Land und Bund (ohne Investitionszuweisungen) knapp 37 % der Gesamteinnahmen (2018/alte Bundesländer) aus. Der Anteil liegt in den Gemeinden der neuen Bundesländer noch höher, da die eigenständige Steuerkraft der ostdeutschen Gemeinden im Schnitt immer noch gering ist. Alle laufenden, d. h. regelmäßig wiederkehrenden Ausgaben und deren Finanzierung werden in den Haushaltsplänen der Kommunen den Verwaltungshaushalten zugeordnet, einmalige Ausgaben für Investitionen und deren Finanzierung den Vermögenshaushalten. Über Kreditaufnahme finanziert werden können allein (unter bestimmten Voraussetzungen) Investitionen im Vermögenshaushalt. Die Daten über die kommunalen Ausgaben und Einnahmen geben einen Überblick über die Gesamtlage der Kommunen (in den Flächenländern). Insofern handelt es sich um Durchschnittswerte. Die Verhältnisse in einzelnen Städten und Landkreisen weichen von diesem Durchschnitt erheblich ab. So weisen Städte mit einem hohen Besatz von florierenden Großunternehmen aus Industrie und Dienstleistungen einen merklich höheren Anteil an Gewerbesteuereinnahmen aus als Städte aus den regionalen Krisenregionen. Im Ergebnis stecken insbesondere die Kommunen in den strukturschwachen Regionen (so im Ruhrgebiet) in gravierenden Finanzierungsproblemen. Hohen Sozialausgaben stehen unzureichende Einnahmen gegenüber. Durch die Zuweisungen der Länder an die Kommunen wird diese Problematik nur teilweise gelöst. Ausgaben im Verwaltungshaushalt (also keine Investitionen !) müssen über Kassenkredite abdeckt werden. Kommunen in einer solch prekären Finanzlage stehen unter der Aufsicht des zuständigen Bundeslandes und unterliegen der Haushaltssicherung, d. h. sie sind zur Aufstellung eines Haushaltssicherungskonzeptes verpflichtet, mit dem durch Ausgabenminderungen und Mehreinnahmen ein Ausgleich erreicht werden soll. Leistungen dieser Kommunen, die freiwillig und nicht gesetzlich geboten sind, müssen von der Aufsichtsbehörde genehmigt werden. Für bestimmte soziale Aufgaben sind nicht die Städte, (Land-)Kreise und Gemeinden zuständig, sondern die höheren Kommunalverbände als überörtliche Träger von sozialen Diensten. Dies gilt insbesondere für die überörtlichen Träger nach den Bestimmungen der Sozialhilfe gemäß SGB XII und des Kinder- und Jugendhilfegesetzes (SGB VIII). Sie finanzieren sich hauptsächlich durch Umlagen der angehörigen Gemeinden. Zur Vertretung gemeinsamer Interessen insbesondere gegenüber Ländern und Bund schließen sich die Gemeinden zu Verbänden zusammen. Zu den kommunalen Spitzenverbänden gehören der Deutsche Städtetag (Zusammenschluss der kreisfreien Städte), der Deutsche Landkreistag (Zusammenschluss der Landkreise) und der Deutsche Städte- und Gemeindebund (Zusammenschluss der kreisangehörigen Städte). Sie organisieren sich auf Bundesebene und teilweise auch auf Länderebene.

Finanzierung der sozialen Sicherung

103

Die Gemeinden bieten nur im geringen Maße die sozialen Dienste, Einrichtungen und Leistungen in eigener Trägerschaft an. Typisch für das deutsche Sozialstaatsmodell ist vielmehr das Subsidiaritätsprinzip, das den frei-gemeinnützigen Trägern – hier insbesondere den Wohlfahrtsverbänden und den kirchlichen Einrichtungen – und auch privatwirtschaftlichen Anbietern Vorrang bei der Leistungserbringung einräumt (vgl. Kapitel „Soziale Dienste“, Pkt. 3.2). Die anfallenden Kosten werden hingegen weit überwiegend öffentlich finanziert, zum einen aus den kommunalen Haushalten, zum anderen aber auch aus den Sozialversicherungskassen. Eigenmittel (vor allem Spenden, Mitgliedsbeiträge, Einnahmen aus der Kirchensteuer) spielen bei den Angeboten von Wohlfahrtsverbänden und kirchlichen sozialen Einrichtungen eine nur nachrangige Rolle. Bei der Finanzierung der Einrichtungen und Dienste freier Träger durch die Kommunen ist zwischen Zuwendungen, Entgeltvereinbarungen und Leistungsverträgen zu unterscheiden (vgl. Kapitel „Soziale Dienste“, Pkt. 5.2). Im Gesundheits- und Pflegebereich zahlen die Kranken- und Pflegeversicherung im Rahmen von Verträgen Leistungsentgelte an die Anbieter, deren Leistungen dann von Betroffenen entsprechend dem Sachleistungsprinzip (weitgehend) kostenfrei in Anspruch genommen werden können. 3.7

Belastung von Arbeitnehmer:innen und Unternehmen

3.7.1 Einkommensminderung durch Beiträge und Steuern

Die zur Finanzierung der Staatsausgaben insgesamt und der Sozialausgaben im Besonderen erhobenen Abgaben führen im Prozess der sozialstaatlichen Umverteilung zu Einkommensminderungen der Beitrags- und Steuerpflichtigen. Angesichts der überragenden Bedeutung von Sozialversicherungsbeiträgen und Lohnsteuern konzentriert sich die Belastung vor allem auf die Arbeitnehmereinkommen. Wenn vor dem Hintergrund verteilungs-, wirtschafts- und beschäftigungspolitischer Gesichtspunkte nach der Höhe und Entwicklungsrichtung der Abgabenlast gefragt wird, ist deshalb zu untersuchen, in welchem Maße die Abzüge die Bruttoarbeitsentgelte mindern und wie sich die Nettoposition darstellt. Dabei ist zunächst auf der Basis von Durchschnittswerten zu rechnen. Tabelle II.9 lässt erkennen, dass sich die Gesamtabzugsquote seit 1992 kaum erhöht hat: von 33,7 % auf 34 % im Jahr 2018. Auch die Belastungsquoten durch die Lohnsteuer weisen nur geringe Veränderungen auf. Die mit dem progressiven Steuertarif verbundenen Inflationseffekte sind weitgehend aufgefangen worden. Wenn nämlich das allgemeine Lohn- und Gehaltsniveau aufgrund des Preisanstiegs rein nominal steigt, fallen immer mehr Beschäftigte mit ihrem Einkommen in die Progressionszone („heimliche Steuererhöhung“). Mehrstufigen Steuersenkungen (Anhebung des Grundfreibetrages, Reduzierung des Eingangssteuersatzes und Abflachung

104

Ökonomische Grundlagen und Finanzierung

Tabelle II.9 Jahr

Durchschnittliche Lohnabzugsquoten 1991 – 2018

Löhne- und Gehälter je Arbeitnehmer

Abzüge der Arbeitnehmer in % vom Brutto

Brutto1) in €/Monat

Netto2) in €/Monat

Lohnsteuer

Sozialbeiträge

Gesamtabzüge

1991

1 659

1 159

16,1

14,1

30,2

1995

2 001

1 327

18,3

15,4

33,7

2000

2 090

1 398

17,3

15,9

33,2

2001

2 138

1 446

16,6

15,7

32,3

2002

2 168

1 463

16,6

15,9

32,5

2003

2 195

1 467

16,8

16,4

33,2

2004

2 206

1 498

15,8

16,3

32,1

2005

2 212

1 502

15,5

16,6

32,1

2006

2 229

1 498

15,8

17,0

32,8

2007

2 261

1 513

16,3

16,8

33,1

2008

2 314

1 540

16,6

16,8

33,4

20093)

2 314

1 542

16,1

17,3

33,4

2010

2 372

1 603

15,1

17,3

32,4

2011

2 454

1 644

15,5

17,5

33,0

2012

2 521

1 684

15,8

17,4

33,2

2013

2 574

1 716

16,1

17,3

33,3

2014

2 647

1 761

16,2

17,3

33,5

2015

2 721

1 805

16,4

17,2

33,6

2016

2 788

1 847

16,4

17,4

33,8

2017

2 857

1 888

16,4

17,5

33,9

2018

2 946

1 945

16,5

17,4

34,0

1) Bruttoeinkommen aus unselbständiger Arbeit, ohne die tatsächlichen und unterstellten Sozialbeiträge der Arbeitgeber; 2) abzüglich Lohnsteuer u. Sozialbeiträge der Arbeitnehmer:innen 3) Ab 2009 Verbuchung der Beiträge für die Regelleistungen der PKV als Sozialbeiträge Quelle: Statistisches Bundesamt (zuletzt 2019), Volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen, Fachserie 18 Reihe 1.5.

Finanzierung der sozialen Sicherung

105

der Progressionszone) haben hier für einen Ausgleich gesorgt (vgl. Kapitel „Einkommen“, Pkt. 3.1). Da es sich bei den Abzugsquoten um Durchschnittsgrößen handelt, lassen sich auf dieser Basis noch keine Aussagen über die tatsächliche Belastung von einzelnen Einkommen bzw. Einkommensgruppen treffen. Zwei Faktoren führen zu Verzerrungen: •



Die Bruttolohn- und -gehaltssumme, die hier als Maßstab dient, unterliegt nur teilweise der Beitragspflicht. Belastungsfrei durch Beiträge sind beispielsweise die Beamteneinkommen und sowie Arbeitnehmerentgelte unterhalb der Geringfügigkeits- und oberhalb der Beitragsbemessungsgrenzen. Insofern liegt die durchschnittliche Sozialabgabenquote je beschäftigten Arbeitnehmer niedriger als der hälftige Gesamtbeitragssatz zur Sozialversicherung. Die Lohnsteuerabzüge liegen aufgrund des progressiven Einkommensteuertarifs je nach Einkommenshöhe unterschiedlich hoch. Zudem variiert die Steuerlast nach Familienstand und Steuerklassenwahl (vgl. auch Kapitel „Einkommen“, Pkt. 3.1).

Um die Belastung ausgewählter Einkommensgruppen realistischer zu bestimmen, kann mit einer Modellrechnung (Steuertarif 2018, mit Solidaritätszuschlag, ohne Kirchensteuer) gearbeitet werden (vgl. Abbildung II.10): •



Bezogen auf die Beitragssätze des Jahres 2019 und den Einkommensteuertarif 2019 zeigt sich, dass im unteren Einkommensbereich zunächst nur die Arbeitnehmerbeiträge ins Gewicht fallen. Wenn die Beschäftigten mit ihrem Verdienst die Mini-und Midijob-Grenzen überschreiten, muss auf jeden Einkommenseuro der Beitragssatz von 20,6 % entrichtet werden. Hingegen bleibt die Belastung durch die Lohnsteuer zunächst gering, da die Besteuerung erst oberhalb des Grundfreibetrags eines zu versteuernden Einkommens von 9 168 Euro/Jahr einsetzt (vgl. Kapitel „Einkommen“, Pkt. 3.1). Infolge des progressiven Verlaufs der Lohnsteuer steigen die Steuerabzüge mit steigendem Gesamteinkommen dann schrittweise an, während die Sozialversicherungsbeitragssätze konstant bleiben. Mit Erreichen der Beitragsbemessungsgrenze in der gesetzlichen Krankenversicherung und der sozialen Pflegeversicherung von 4 538 Euro/Monat im Jahr 2019 sinkt aber die durchschnittliche Belastung des Bruttoarbeitsentgelts durch die Arbeitnehmerbeiträge, da auf die Einkommensbestandteile oberhalb dieses Betrags keine Beiträge zur GKV und SPV mehr zu entrichten sind. Zu einem weiteren Rückgang der durchschnittlichen Belastung durch Arbeitnehmerbeiträge kommt es, wenn die Beitragsbemessungsgrenze (West) in der gesetzlichen Rentenversicherung und der Arbeitslosenversicherung (2019: 6 700 Euro/Monat) überschritten wird. So liegt bei einem Bruttolohn von 6 500 Euro die durchschnittliche Belastung durch die Arbeitnehmerbeiträge bei nur noch 17,2 %. Die durchschnittliche Belastung durch die Lohnsteuer beträgt bei diesem Einkommen demgegenüber 25,6 %.

106

Ökonomische Grundlagen und Finanzierung

Abbildung II.10 Beitrags- und Steuerabzüge in % des Bruttolohns bei Arbeitnehmer:innen im Einkommensbereich zwischen 450 und 6 800 Euro, 2019

45

Abzüge in % insgesamt

40

42,9

42,0

43,3

38,3 34,7

35 29,6

30

25

Lohnsteuer

9,5

14,6

20,1

20,1

21,4

18,2

24,0

25,6

26,6

17,2

16,8

19,7

20

17,8 15,7

15 11,8 10

40,6

20,1

20,1 18,0 Arbeitnehmerbeiträge

17,8

10,4

5 Minijobs1) Übergangsbereich 0-450 € 450-1300 €

BMG2) GKV/SPV: 4.538 €

BMG3) GRV/ALV: 6.700 €

6800 6700 6600 6500 6400 6300 6200 6100 6000 5900 5800 5700 5600 5500 5400 5300 5200 5100 5000 4900 4800 4700 4600 4500 4400 4300 4200 4100 4000 3900 3800 3700 3600 3500 3400 3300 3200 3100 3000 2900 2800 2700 2600 2500 2400 2300 2200 2100 2000 1900 1800 1700 1600 1500 1400 1300 1200 1100 1000 850 800 700 600 500 450 300 200 100

0

*) Steuerklasse I, Alleinverdiener, einschließlich Solidaritätszuschlag; 1) Bei Befreiung von der Rentenversicherungspflicht; 2) Beitragsbemessungsgrenze gesetzliche Krankenversicherung und soziale Pflegeversicherung, 3) Beitragsbemessungsgrenze (West) gesetzliche Rentenversicherung und Arbeitslosenversicherung Quelle: Eigene Berechnungen nach Bundesministerium der Finanzen, Abgabenrechner; Deutsche Rentenversicherung Bund, Übergangsbereichrechner

Insgesamt kommt es zu der Situation, dass die effektive Gesamtbelastung kontinuierlich ansteigt, in einem konvexen Verlauf zunächst steiler, dann aber schwächer. Bei einem Einkommen von 3 000 Euro liegt die Belastung bei 34,7 %, bei einem Einkommen von 6 700 Euro bei 43,3 %. Infolge des regressiven Belastungsverlaufs bei den Arbeitnehmerbeiträgen oberhalb der Beitragsbemessungsgrenzen schwächt sich der progressive Verlauf der Gesamtbelastung ab. Während für die Beschäftigten die Nettolöhne entscheidend sind, die ihnen nach Abzug von Steuern und Beiträgen verbleiben, zählen für die Unternehmen die Arbeitsgesamtkosten, in die die (steuerfreien) Arbeitgeberbeiträge und andere Lohnnebenkosten (unterstellte Arbeitgeberbeiträge) einfließen. Die – wiederum auf gesamtwirtschaftlichen Durchschnittswerten (!) basierenden Daten (Abbildung II.11) – lassen erkennen, dass sich im Jahr 2017 folgende Abweichungen ergeben: •

33,0 % zwischen den Bruttolöhnen und den Nettolöhnen,

Finanzierung der sozialen Sicherung

107

• 17,5 % zwischen den gesamten Arbeitskosten und den Bruttolöhnen, • 45,6 % zwischen den Arbeitskosten und den Nettolöhnen. Dieser Abgabenkeil von 45,6 % hat zur Folge, dass ein durchschnittliches Nettoeinkommen von 1 945 Euro im Monat für den Arbeitgeber mit Arbeitskosten von 3 574 Euro im Monat verbunden ist. Für die Beurteilung der ökonomischen und verteilungspolitischen Folgen der Steuer- und Abgabenbelastung ist allerdings nicht allein die Quote entscheidend, sondern die Frage, ob die steigenden Abgaben aus den Zuwächsen oder aus dem Bestand heraus finanziert werden. Erhöhen sich Bruttolöhne und -gehälter im gleichen Maße wie die Abzüge, können die Belastungen ausgeglichen werden und die Nettoeinkommen bleiben konstant. Übersteigt der Zuwachs der Bruttolöhne die Steigerung der Abzüge, so erhöhen sich die Nettoeinkommen. Für die Einkommensentwicklung im langfristigen Verlauf ist charakteristisch, dass die Nettoeinkommen trotz zunehmender Abzugsquoten beachtlich gestiegen sind. Und auch unter Berücksichtigung der Inflationsrate ergibt sich ein realer, d. h. inflationsbereinigter Einkommenszuwachs (vgl. Kapitel „Einkommen“, Pkt. 2.2.3).

Abbildung II.11 Durchschnittliche Nettolöhne, Bruttolöhne und Arbeitskosten je Arbeitnehmer:in im Monat, 1991 – 2018

3.489

969

1.003

915

858

748

2018: 3.574 € Arbeitnehmerentgelt = Arbeitskosten = Bruttolöhne 2.948 € + Arbeitgeberbeiträge 626 €

2018: 2.948 € Bruttolöhne = Nettolöhne 1.945 € + Arbeitnehmerabzüge 1.003 €

Sozialbeiträge Arbeitnehmer & Lohnsteuer 1.888

1.806

1.644

1.542

1.446

1.159

1.316

1.513

1.716

1.945

1.502

1.367

710

702

1.329

1.467

696

1.327

692

674

591

728

772

810

497

489

Sozialbeiträge Arbeitgeber* = Lohnnebenkosten

607

566

2.857

543

527

2.792

531

532

2.651

2.739

500

1.000

364

1.500

415

2.023 2.000

470

2.322

2.566

513

2.471

2.500

2.514

2.727

579

3.020 3.000

626

3.328 3.153

3.593

626

3.500

2018: 1.945 € Nettolöhne

Nettolöhne je Abeitnehmer

500

0

1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018

* Tatsächliche und unterstellte Sozialbeiträge Quelle: Statistisches Bundesamt (zuletzt 2018), Volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen, Fachserie 18 Reihe 1.5.

108

Ökonomische Grundlagen und Finanzierung

Daraus folgt, dass ausreichende Zuwächse der Bruttoeinkommen eine Voraussetzung sind, um zu verhindern, dass Lohnsteuer- und Beitragssatzerhöhungen die Arbeitnehmereinkommen real mindern. Sozialpolitische Mehrausgaben sind insofern politisch umso leichter durchzusetzen, je höher der Zuwachs der Arbeitseinkommen ist, weil dann die Belastungssteigerungen auf die Zuwachsraten beschränkt bleiben können. Beitragssatzanhebungen in Phasen niedriger Entgeltsteigerungen rufen hingegen größere Widerstände hervor, da die Nettoeinkommen in diesem Fall verringert würden. 3.7.2 Belastung der Unternehmen durch Lohnnebenkosten

Der Sozialstaat wirkt sich als Kostenfaktor für die Unternehmen aus. Er greift durch Regulierungen in den Arbeitsmarkt ein, setzt Rahmenbedingungen für den Einsatz von Arbeit im betrieblichen Produktionsprozess und normiert die Gestaltung von Arbeitsverhältnissen. Durch vielfältige arbeits- und tarifrechtliche Ge- bzw. Verbote werden einer allein auf kurzfristige Renditekalküle setzenden betrieblichen Personalpolitik Schranken gesetzt. Aus einzelwirtschaftlicher Sicht betrachtet lägen die Arbeitskosten ohne diese Eingriffe niedriger. Da es sich hierbei in erster Linie um indirekte Kosten handelt, ist es jedoch nur schwer möglich, die finanziellen Belastungen

Abbildung II.12

Lohn- bzw. Personalnebenkosten

Personalgesamtkosten

Bruttoarbeitsentgelte

Personalnebenkosten

Entgelt für geleistete Arbeitszeit

Arbeitgeberbeiträge zur SV

Sonderzahlungen: Weihnachtsgeld, erfolgsabhängige Zahlungen

Vergütung freier Tage: Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall, bezahlte Feiertag, Urlaub Betriebliche Altersvorsorge Sonstige Personalnebenkosten

Erweiterte Nebenkostendefinition Personal-/Lohnnebenkostenquote =

Personalnebenkosten Personalgesamtkosten

Finanzierung der sozialen Sicherung

109

infolge von Arbeitsmarktregulierungen zu quantifizieren. Zu beziffern wäre, ob z. B. ein Arbeitskräfteeinsatz ohne Kündigungsschutz oder ohne Arbeitsschutz zu Kostenentlastungen führen würde. Noch schwieriger ist es, die Kosten dieser gesetzlichen und tariflichen Regulierungen mit ihrem betriebs- und volkswirtschaftlichen Nutzen zu bilanzieren. Eindeutiger zu bestimmen und zu beziffern sind hingegen die durch die Sozialpolitik verursachten betrieblichen Kosten, wenn es sich um direkte Zahlungen handelt, die ein Unternehmen zusätzlich zu den Arbeitsentgelten leisten muss. Diese Kosten lassen sich als Lohn- oder Personalnebenkosten bezeichnen; auch findet sich der Begriff „Zusatzkosten“. Die Frage allerdings, welche Elemente der Arbeitskosten zu den Lohnnebenkosten zu zählen sind, ist seit jeher strittig. Das Statistische Bundesamt definiert in Entsprechung einer EU-Verordnung und den Standards der ILO als Lohnnebenkosten • • • •

die tatsächlichen und unterstellten Sozialbeiträge der Arbeitgeber, die Kosten für die berufliche Aus- und Weiterbildung, die sonstigen Aufwendungen und die Steuern auf die Lohnsumme oder Beschäftigtenzahl.

Als Personalnebenkosten gelten zusätzlich jene Lohnkostenbestandteile, die über das reine Stunden- bzw. Monatsentgelt für geleistete Arbeitszeit hinausgehen: • Sonderzahlungen, • Sachleistungen, • Leistungen zur Vermögensbildung der Arbeitnehmer, • Vergütung für nicht gearbeitete Tage (Urlaub, Feiertage und sonstige arbeitsfreie Tage), • Bruttolöhne und -gehälter der Auszubildenden. Diese Zuordnung von Sonderzahlungen (wie Weihnachtsgeld, Urlaubsgeld, Erfolgsbeteiligungen), Sachleistungen und vermögenswirksamen Leistungen als Personalnebenkosten ist allerdings wenig einsichtig, da die Zahlungsweise des Arbeitsentgelts nichts daran ändert, dass auch Sonderzahlungen ein tarif- und/oder individualvertraglicher Bestandteil des Entgelts für die geleistete Arbeit sind. Bei einer Bewertung von Sonderzahlungen als Personalnebenkosten kommt es nämlich zu dem Paradox, dass die Nebenkosten steigen, wenn sich der erfolgsabhängige Teil der Entlohnung erhöht. Sie würden hingegen sinken, wenn die Tarifparteien vereinbaren, dass das gesonderte Urlaubs- oder Weihnachtsgeld in die monatliche Tarifvergütung eingearbeitet wird. Die letztverfügbaren Daten (2016) über die Arbeitskosten und Lohnnebenkosten im produzierenden Gewerbe und im Dienstleistungsbereich lassen erkennen, dass der Anteil der Lohnnebenkosten an den gesamten Bruttoarbeitskosten bei 23,1 % liegt.

110

Ökonomische Grundlagen und Finanzierung

Werden zu den Lohnnebenkosten noch die Vergütungen für nicht gearbeitete Tage (Urlaubs- und Feiertage) hinzugerechnet, liegt der Anteil im Jahr bei 33,2 %. Gegenüber 2012 (33,7 %) und 2004 (34,7 %) zeigt sich dabei ein leichter Rückgang. Insgesamt wird deutlich, dass die Lohnnebenkosten einschließlich der Vergütung für nicht gearbeitete Tage eine begrenzte Bedeutung im Rahmen der Bruttoarbeitskosten insgesamt haben. Dies gilt insbesondere für die Arbeitgeberbeiträge zur Sozialversicherung: Sie machten 2016 lediglich 13 % der Bruttoarbeitskosten aus. Zwar liegt der Arbeitgeberbeitragssatz zu den Zweigen der Sozialversicherung deutlich höher. Diese Abweichung erklärt sich daraus, dass als Bemessungsgrundlage für die Arbeitgeberbeiträge nur die Bruttolöhne und -gehälter dienen. Die Bruttolöhne und -gehälter sind aber wesentlich niedriger als die Arbeitskosten, denn sie beinhalten weder die tatsächlichen noch die unterstellten Sozialbeiträge der Arbeitgeber. Hinzu kommt, dass die Beitragsbelastung nur bis zur Beitragsbemessungsgrenze reicht. Eine Anhebung des paritätischen Beitragssatzes zur Rentenversicherung um beispielsweise einen Prozentpunkt und des Arbeitgeberbeitragssatzes entsprechend um 0,5 Prozentpunkte führt insofern zu einer nur minimalen Erhöhung der Arbeitskosten insgesamt. Grob berechnet würden in diesem Fall die Arbeitgeberbeiträge um 2,6 %, die Lohnnebenkosten um 1 % und die Personalgesamtkosten um 0,4 % steigen. Bei der Kostenkalkulation eines Unternehmens kommt es nicht allein auf die Nebenkosten, sondern auf die Höhe und Entwicklung der Personal- bzw. Arbeitsgesamtkosten an, also auf alle Aufwendungen, die einem Arbeitgeber durch die Beschäftigung von Arbeitskräften entstehen. Ökonomisch ist es letztlich unerheblich, wie sich die Arbeitskosten in ihre einzelnen Bestandteile aufteilen. Auch die Arbeitgeberbeiträge sind ein Teil der Arbeitsgesamtkosten; sie könnten auch als nicht ausbezahlter „Soziallohn“ bezeichnet werden. Die Begriff lichkeiten „Neben- oder Zusatzkosten“ verwirren eher. Der Charakter der Arbeitgeberbeiträge als Lohnbestandteil wird deutlich, wenn man einmal unterstellt, dass die versicherten Beschäftigten die Sozialversicherungsbeiträge alleine zahlen müssten. Dann könnte bei Wegfall der hälftigen Arbeitgeberbeiträge das ausgewiesene Bruttoeinkommen entsprechend höher ausfallen. Die Kostenposition des Unternehmens bliebe gleich, und trotz der vollen Beitragszahlung würde sich auch die Nettoeinkommensposition der Beschäftigten nicht verändern (unter Ausklammerung steuerrechtlicher Folgewirkungen). In den Arbeitsgesamtkosten sind auch die Folgen der Arbeitszeitverkürzungen der letzten Jahre berücksichtigt – ob es sich um die Wochenarbeitszeitverkürzung, Urlaubsverlängerung oder Übergang zu Teilzeitarbeit handelt. Denn maßgeblich für die Arbeitskosten ist allein das Entgelt je Arbeitsstunde (in das ein Ausgleich für die tariflichen Arbeitszeitverkürzungen eingegangen ist). Die Dauer der jeweiligen persönlichen Arbeitszeit stellt hingegen keinen zusätzlichen Kostenfaktor dar: Ob bei einer Betriebszeit von beispielsweise 16 Stunden am Tag der Arbeitsplatz von 2 Beschäftigten (2 × 8 Stunden) oder 3 Beschäftigten (3 × 6 Stunden) besetzt ist, ist von der Arbeitskostenseite her gesehen nicht entscheidend, da die Stundenentgelte gleich sind. Anders zu beurteilen sind die Folgewirkungen auf die Betriebskosten (u. U. Verkür-

Finanzierung der sozialen Sicherung

111

zung der Betriebszeiten, steigende Erstellungskosten für Arbeitsplatze usw.). Diese können durch kürzere individuelle Arbeitszeiten steigen, gleichzeitig erhöht sich bei kürzeren Arbeitszeiten aber auch die Arbeitsproduktivität. Verlängerte Arbeitszeiten (Verlängerung der Wochenarbeitszeit, Verkürzung des Urlaubs) sind hingegen – bei gleichem Monatseinkommen – identisch mit einem gekürzten Stundenentgelt. Dass die Arbeitsgesamtkosten – bemessen in Währungseinheiten – in Deutschland im Vergleich zu vielen anderen Ländern der Welt hoch liegen, ist unbestritten. Hohe Arbeitskosten und hohe Löhne sind Spiegelbild einer durch Massenwohlstand gekennzeichneten Gesellschaft. Eine hohe gesamtgesellschaftliche Einkommensund Wohlstandsposition sowie ein eng geknüpftes Netz der sozialen Sicherung lassen sich nicht mit niedrigen Arbeitskosten vereinbaren. Zu fragen ist deshalb nicht, ob die Arbeitskosten hoch sind, sondern ob sie zu hoch sind – mit negativen Rückwirkungen auf die Ertragslage und Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen sowie auf die Sicherung und Schaffung von Arbeitsplätzen. Die absoluten Werte der Arbeitskosten je Stunde geben auf diese Frage keine Antwort. Ob sie ökonomisch verkraftet oder nicht mehr verkraftet werden können, hängt ab von dem Leistungsergebnis, das in einem Betrieb, einer Branche oder in der Volkswirtschaft insgesamt erwirtschaftet wird und das den Kosten gegenübersteht. Auskunft über das Leistungsergebnis gibt die Arbeitsproduktivität, die den Produktionsoutput je Arbeitsstunde widerspiegelt. Setzt man die Arbeitskosten ins Verhältnis zur Arbeitsproduktivität, so ermitteln sich die Lohnstückkosten. Die Lohnstückkosten lassen erkennen, wie viel Lohn (einschließlich der Lohnnebenkosten) für eine Produkt- oder Dienstleistungseinheit gezahlt werden muss. In den entwickelten Volkswirtschaften ergeben sich trotz hoher Arbeits- und Sozialkosten vergleichsweise niedrige Lohnstückkosten, weil auch die Arbeitsproduktivität hoch ist. Die hohe Kapitalintensität der Produktion, der Einsatz neuer Technologien, die effiziente Arbeitsorganisation und der gute Qualifikationsstand der Beschäftigten wirken sich unmittelbar positiv auf das wirtschaftliche Leistungsergebnis aus. Hohe Löhne, ein hohes Sozialleistungsniveau und hohe Produktivität stehen also in einem Wechselverhältnis zueinander. In einer dynamischen Wirtschaft steigt die Arbeitsproduktivität. Das Produktionsergebnis kann mit einem geringeren Einsatz von Arbeit, d. h. mit sinkenden Arbeitsstunden und Arbeitskosten, hergestellt werden. Werden die Lohnsätze erhöht, um die Beschäftigten am Zuwachs der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit zu beteiligen, erhöhen sich die Lohnstückkosten nicht, wenn sich diese Erhöhung im Rahmen des Produktivitätsfortschritts bewegt. Der kostenneutrale Verteilungsspielraum wird ausgeschöpft. Genau diese Entwicklung ist für die Situation in der Bundesrepublik charakteristisch; in mehreren Jahren ist noch nicht einmal dieser Spielraum genutzt worden. Welche Auswirkungen hat nun eine Erhöhung der Arbeitgeberbeitragssätze ? Im Unterschied zu einer tariflichen Lohnerhöhung, die die Gewerkschaften gegenüber den Arbeitgeberverbänden erst durchsetzen müssen, wird eine Beitragssatzanhebung

112

Ökonomische Grundlagen und Finanzierung

durch die Politik verfügt und unmittelbar wirksam. Dies kann bei den Unternehmen zu unterschiedlichen Reaktionen führen: •

• •

Sie versuchen, die Belastungen durch höhere Preise zu überwälzen (Vorwälzung). Inwieweit und in welchem Zeitraum das gelingt, hängt ab von den Bedingungen auf den Märkten im nationalen und internationalen Rahmen (u. a. Konjunkturlage, Preiselastizität der Nachfrage, Wettbewerbsposition des Unternehmens, Wechselkursentwicklung). Sie verzichten auf Preisreaktionen, da sich die Mehrkosten durch die gestiegene Produktivität auffangen lassen. Sie versuchen, die erhöhten Belastungen in den anstehenden tariflichen und betrieblichen Entgeltvereinbarungen auf die normalen Lohnsteigerungen anzurechnen (Rückwälzung).

3.8

Kosten und Belastungen einer privaten Absicherung

Bei der Diskussion über die Aussagefähigkeit von Sozialbudget und Sozialleistungsquote wurde deutlich, dass die Ausgaben für soziale Sicherung nicht nur durch öffentliche Abgaben, sondern auch privat finanziert werden. Eine besondere Bedeutung haben hier: • • • • • •

Prämienzahlungen in der privaten Kranken- und/oder Pflegeversicherung, für Vollversicherungen wie für Zusatzversicherungen, Einzahlungen in die private Altersvorsorge auf individueller Basis (Lebensversicherungen, Banksparpläne, Investmentfonds) oder im Rahmen betrieblicher Leistungssysteme (z. B. in Form einer Entgeltumwandlung), Zuzahlungen zu den Sachleistungen der Krankenversicherung (bei Arznei-, Heilund Hilfsmitteln, Krankenhausaufenthalten usw.), Entrichtung von Gebühren bei der Inanspruchnahme von sozialen Einrichtungen und Diensten, Übernahme des Eigenanteils in der stationären Altenpflege, private Käufe von sozialen und gesundheitlichen Gütern und Diensten. Beispiel dafür sind u. a. der Kauf von nicht erstattungsfähigen Arzneimitteln oder die individuelle Vergütung von Pflegepersonal bei einer ambulanten Versorgung.

Die Abgrenzung zwischen privater und öffentlicher Absicherung ist nicht eindeutig, die Grenzen verschwimmen: Personen, die nicht der sozialen Pflegeversicherung angehören, sind in der privaten Pflegeversicherung versicherungspflichtig. In der privaten Altersvorsorge ist ein Obligatorium (Vorsorgepflicht) immer wieder in der Diskussion. Zugleich wird die private Vorsorge im erheblichen Maße durch Mittel gefördert (steuerliche Entlastungen und Zahlung von Zulagen sowie Beitrags- und

Finanzierung der sozialen Sicherung

113

Steuerfreiheit bei Entgeltumwandlung). Gefördert wiederum werden nur Vorsorgeformen („Riester-Rente“), die den gesetzlichen Kriterien entsprechen (vgl. Kapitel „Alter“, Pkt. 8.2.2). Genaue Informationen über das Volumen der privaten Zahlungen und die Belastung der Haushaltseinkommen liegen nicht vor. Einzelne Daten lassen jedoch erkennen, dass es sich um beachtliche Größenordnungen handelt: • • • •

Die private Krankenversicherung beziffert für das Jahr 2017 ihr Volumen an Beitragseinnahmen auf 39 Mrd. Euro. Die ausgezahlten Versicherungsleistungen belaufen sich auf 27 Mrd. Euro. Bei Lebensversicherungen, Pensionskassen und Pensionsfonds summieren sich die Beitragseinnahmen (2018) auf 152,5 Mrd. Euro. Die Leistungen allein von Lebensversicherungen betragen knapp 100 Mrd. Euro. Die vom Statistischen Bundesamt ausgewiesenen Ausgaben für Gesundheit (ohne Einkommensleistungen) werden zu 13,5 % (2017) durch die privaten Haushalte getragen. Die privaten Zuzahlungen allein für Arzneimittel betrugen 2017 rund 2,1 Mrd. Euro.

Durch den Ausbau der privaten Vorsorge in der Alterssicherung und infolge von Leistungsausgrenzungen, Privatisierungen und erweiterten Zuzahlungen in der gesetzlichen Krankenversicherung ist die Bedeutung der privaten Absicherung in den zurückliegenden Jahren gestiegen. Diese Gewichtsverlagerung von öffentlichen zu privaten Ausgaben und Vorsorgeformen bedeutet jedoch nicht, dass nun das Belastungsniveau automatisch sinkt. Auch bei privaten Sicherungsformen müssen aus dem verfügbaren Einkommen Bestandteile für soziale Ausgaben bzw. soziale Vorsorge abgezweigt werden – und zwar ohne einen Arbeitgeberbeitrag. Wenn also ein realistischer Eindruck über die Gesamtbelastung gewonnen werden soll, dann reicht der Blick allein auf die Entwicklung von Beitragssätzen, Gebühren und Steuern nicht aus. Die Einkommensminderungen durch die private Vorsorge müssen den Abgaben hinzugerechnet werden. Das gilt insbesondere für die Alterssicherung: Um die infolge des sinkenden Rentenniveaus entstehenden Versorgungslücken auszugleichen, sollen 4 % des Arbeitsentgelts für private Vorsorge („Riester-Rente“) eingesetzt werden. In der Summe errechnet sich damit im Jahr 2018 für die Arbeitnehmer:innen eine Belastung von 13,3 % des Einkommens (9,3 % hälftiger Beitragssatz + 4 % privater Vorsorgeabzug). Ein Wechsel von der Sozial- zur Privatversicherung und damit die Zahlung von privatrechtlichen Prämien statt sozialversicherungsrechtlicher Beiträge wirkt auch auf und die Belastungsstruktur: Privatversicherungen arbeiten nach dem Prinzip Äquivalenz, d. h. dass sich die beanspruchbaren Leistungen an den Prämienzahlungen bemessen und sich diese wiederum nach den Wahrscheinlichkeiten des Risikoeintritts ausrichten. Bei der Krankenversicherung heißt dies: Je größer das Erkran-

114

Ökonomische Grundlagen und Finanzierung

kungsrisiko, desto teurer ist der private Versicherungsschutz beim Abschluss eines Vertrages. Und je umfassender die Risikoabdeckung, desto höher ist der Preis einer Police. Bei dieser risiko- und leistungsäquivalenten Prämiengestaltung bleibt die von der Höhe des Einkommens abhängige Zahlungsfähigkeit unberücksichtigt. Demgegenüber kommt es bei den Beiträgen zur Sozialversicherung nicht auf die individuellen Risikowahrscheinlichkeiten an. Der Beitrag richtet sich nach der Höhe des Einkommens und zugleich sind die Versicherungsleistungen durch Elemente des Solidarausgleichs charakterisiert (Leistungen ohne Beitragszahlungen oder ohne äquivalente Beitragszahlungen). Bei einer privaten Krankenversicherung werden insofern diejenigen stärker belastet, die aufgrund von Familienstand, Alter, Vorerkrankungen und Berufssituation höhere Risiken tragen, während die Personen mit „guten Risiken“, das sind solche mit den Merkmalen jung, kinderlos, gesund und hohes Einkommen, mit einer finanziellen Entlastung rechnen können. Zu einer Verschiebung der Belastungsstruktur führen auch Zuzahlungs- und Eigenbeteiligungsregelungen. Denn Zuzahlung bedeutet, dass die Gesundheitskosten, beispielsweise für Arzneimittel, anders finanziert werden: Während beim reinen Sachleistungsprinzip die Belastungen im Solidarverbund von allen Versicherten getragen und die Unternehmen über Arbeitgeberbeiträge mit herangezogen werden, müssen bei der Selbstbeteiligung die Kranken zusätzlich zu ihren Beitragsleistungen einen Teil der Kosten übernehmen. Entlastet werden die (aktuell) gesunden Versicherten sowie die Arbeitgeber. In welche Richtung Ausgaben- und Belastungsniveau bei einer Ausweitung der privaten Absicherung tendieren, ist unbestimmt. Bleiben Privatversicherung und private Vorsorge freiwillig, muss damit gerechnet werden, dass nur ein Teil der bislang über die Sozialversicherung Geschützten entsprechende Verträge abschließen wird, da Fähigkeit oder Bereitschaft fehlen, die Ausgaben zu tragen. Der abgesicherte Personenkreis verringert sich, der soziale Schutz geht in Abhängigkeit von Risikobetroffenheit, Einkommenslage und sozialem Status zurück. Bei Zuzahlungsregelungen kann – wie in aller Regel intendiert – die Inanspruchnahme gesundheitlicher Leistungen sinken. Je nach Höhe und Ausgestaltung der Zuzahlung sind auch hier sozial selektive Effekte zu erwarten. Ob allerdings über diesen Weg die Ausgaben- und Kostendynamik im Gesundheitswesen gebremst wird, ist eher ungewiss. Die bisherigen Erfahrungen sprechen dagegen. Zudem zeigen die empirischen Befunde, dass private Krankenversicherungen, die durchgängig mit dem Kostenerstattungsverfahren sowie Selbstbeteiligungs- und Wahltarifen operieren, in vielen Leistungsbereichen einen stärkeren Ausgabenzuwachs je Versicherten als die gesetzlichen Kassen aufweisen (vgl. Kapitel „Gesundheit und Gesundheitssystem“, Pkt. 5.2.3). Zu berücksichtigen ist zudem, dass im privaten Sektor höhere Verwaltungs- und vor allem Abschlusskosten (Akquisition, Werbung, Marketing) entstehen und Gewinne erwirtschaftet werden müssen. Hinzu kommt, dass der Übergang zu einer kapitalgedeckten privaten Vorsorge in der Aufbauphase mit Mehrbelastungen ver-

Finanzierungsprobleme des Sozialstaats

115

bunden ist: Bevor Leistungen ausgezahlt werden können, muss durch eine laufende Zuführung von Mitteln ein Kapitalstock aufgebaut werden. In dieser Phase sind jedoch zugleich die im Umlageverfahren erworbenen Ansprüche zu bedienen und zu finanzieren (vgl. Pkt. 7.6 dieses Kapitels). Diese Zusammenhänge und Daten lassen erkennen, dass es in der Diskussion über das Für und Wider von privater Vorsorge und öffentlicher sozialer Sicherung auf eine nüchterne Analyse ankommt, ob der eine oder andere Weg ökonomisch effizienter und gesellschaftspolitisch akzeptabler ist. Auf jeden Fall macht es aus gesamtwirtschaftlicher Sicht wenig Sinn, steigende Sozialausgaben, wenn sie öffentlich über Beiträge und Steuern finanziert werden, als Zwangsabgaben und als Ausdruck einer unerwünschten Kostenexpansion zu erklären und demgegenüber dieselben Ausgabenzuwächse, wenn sie privat über Versicherungsprämien oder Marktpreise finanziert werden, als Ausdruck eines zukunftsträchtigen Wachstumsmarktes mit Beschäftigungs- und Gewinnchancen zu begrüßen. Bei der Gegenüberstellung von öffentlicher und privater Finanzierung darf allerdings nicht aus den Augen gelassen werden, dass Pflichtbeiträge zur Sozialversicherung (und erst recht allgemeine Steuerabzüge) von weiten Teilen der Bevölkerung anders wahrgenommen und bewertet werden als private Ausgaben für die soziale Sicherheit. Während Beiträge unmittelbar dem Einfluss des Staates unterliegen, im Quellenabzugsverfahren automatisch einbehalten werden, erscheinen private Ausgaben als freiwillige Entscheidungen, die dem Einzelnen Wahlmöglichkeiten gemäß seinen individuellen Präferenzen eröffnen und ein unmittelbares Verhältnis von Leistung und Gegenleistung sicherstellen. Ob und in welchem Maße diese Einschätzung geteilt wird, hängt ganz generell ab von der politisch-kulturellen, historisch entwickelten Einstellung der Bevölkerung gegenüber dem Staat und Sozialstaat. Da die private Absicherung außerhalb der unmittelbaren Verantwortung von Staat und Politik steht, kann sich die Politik bei einem Übergang zur privaten Vorsorge entlasten. So stehen Beitragssatzerhöhungen in der Sozialversicherung im Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit und müssen legitimiert werden, während die Anhebungen von Prämien bei der Privatversicherung weitgehend unbeachtet bleiben und von der Politik nicht zu verantworten sind.

4

Finanzierungsprobleme des Sozialstaats

Der Rückblick auf die Sozialpolitik seit Mitte der 1990er Jahre lässt eine Abfolge von Finanzierungsproblemen und -krisen erkennen. Die Situation in den Haushalten von Bund, Ländern und Gemeinden sowie in den Sozialversicherungshaushalten war immer wieder durch Defizite gekennzeichnet, die bei den Gebietskörperschaften durch eine wachsende Neuverschuldung und bei den Sozialversicherungsträgern (denen eine Verschuldung nicht möglich ist) durch steigende Beitragssätze ausgeglichen wurden. Zugleich prägten Einschnitte in das soziale Netz die Entwicklung, um über

116

Ökonomische Grundlagen und Finanzierung

diesen Weg die Ausgaben zu senken bzw. den Ausgabenzuwachs zu begrenzen, begleitet durch Steuersenkungen für Unternehmen und Bezieher hoher Einkommen. Beginnend in den Jahren nach etwa 2012 ändert sich jedoch das Bild. Die Steuer- wie die Beitragseinnahmen steigen deutlich an, in den öffentlichen Haushalten kommt es zu einer Rückführung der Neuverschuldung bis hin zu einem völligen Verzicht auf eine Neuverschuldung („schwarze Null“). Auch die Haushalte der Sozialversicherungsträger melden Überschüsse, was – so bei der Rentenversicherung – zu einer Absenkung der Beitragssätze geführt und zugleich Leistungsverbesserungen möglich gemacht hat. Welche Faktoren stehen hinter dieser zweigeteilten Entwicklung ? 4.1

Konjunktur- und Arbeitsmarktabhängigkeit der Sozialversicherungssysteme

Will man wissen, durch welche Einflüsse das Finanzgleichgewicht in den Sozialversicherungshaushalten gestört werden kann, ist es notwendig, die einzelnen Faktoren zu analysieren, die auf die Entwicklung einerseits der Einnahmen und andererseits der Ausgaben einwirken. Zu berücksichtigen ist dabei, dass die Einnahmen im Wesentlichen durch lohnbezogene Beiträge bestimmt sind und dass in Systemen, die nach dem Umlageverfahren finanziert werden, Rücklagen allenfalls zum Ausgleich von kurzfristigen Disproportionalitäten zwischen Einnahmen und Ausgaben ausreichen. •



Die Ausgaben errechnen sich bei den Geld- bzw. Lohnersatzleistungen der Rentenund Arbeitslosenversicherung als das Produkt von Zahl der Leistungsempfänger:innen (Rentner:innen oder Arbeitslose) und der durchschnittlichen Höhe der Leistungen (Altersrenten oder Arbeitslosengeld). Die Ausgabenhöhe bei den Sachund Dienstleistungen der Kranken- und Pflegeversicherung hängt ab von der Leistungsmenge (z. B. Zahl der ärztlichen Behandlungen, Arzneimittelverordnungen oder Pflegesachleistungen) und den durchschnittlichen Kosten je Leistung. Die Einnahmen errechnen sich – bei gegebenem Beitragssatz und ohne Berücksichtigung von Zuschüssen aus dem Bundeshaushalt – als Produkt von Zahl der Beitragspflichtigen und der durchschnittlichen Höhe der Bruttolöhne, die der Bemessung der Beitragszahlung zugrunde liegen.

Von einer Ausgabenexpansion ist zu sprechen, wenn die Ausgaben – im Verhältnis zum Sozialprodukt oder zur Einkommensentwicklung – überproportional steigen. Eine Einnahmeschwäche liegt vor, wenn die Entwicklung von beitragspflichtigem Einkommen und Beitragseinnahmen hinter den Zuwachsraten des Sozialprodukts oder des allgemeinen Einkommensniveaus zurückbleibt. Eine Analyse der Ausgabenentwicklung in der Sozialversicherung zeigt, dass bei den Geldleistungen der Ausgabenzuwachs in erster Linie Folge wachsender Bedarfs-

Finanzierungsprobleme des Sozialstaats

117

lagen und Leistungsempfängerzahlen ist. Ursächlich waren hier vor allem die hohe und steigende Arbeitslosigkeit sowie die Zunahme der Rentenempfänger:innen. Von der durchschnittlichen Höhe der Leistungen geht hingegen kein expansiver Effekt aus, da sich die Leistungsberechnung an der allgemeinen Lohnentwicklung orientiert. Durch mehrfache Einschnitte im Leistungsrecht ist es sogar zu Leistungskürzungen je Fall gekommen. Bei den Sach- und Dienstleistungen, hier insbesondere im Gesundheitswesen, sind sowohl ein Mengen- als auch ein Preiszuwachs charakteristisch. Im Verhältnis zur allgemeinen wirtschaftlichen Entwicklung, bezogen auf das Bruttoinlandsprodukt, lässt sich jedoch kein überproportionaler Ausgabenanstieg der gesetzlichen Krankenversicherung feststellen. Seit Jahren schwanken die Ausgaben der GKV in Prozent des BIP zwischen 6,5 % und 7,0 %. Die Einnahmen der Sozialversicherung hängen im hohen Maße von der Zahl der versicherungspflichtig Beschäftigten ab. Im Zuge der anhaltenden Wachstumskrise und der hohen Zahl an Arbeitslosen haben sich die sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisse seit Beginn der 1990er Jahre kontinuierlich verringert (Abbildung II.13). Die Zahl der Erwerbstätigen insgesamt hingegen hat sich in diesem Zeitraum weit stabiler verhalten. Dies weist darauf hin, dass auf dem Arbeitsmarkt

Abbildung II.13 Erwerbstätige und sozialversicherungspflichtig Beschäftigte 1992 – 2018, in Mio. und in % (Index 1992 =100)

Erwerbstätige

in Mio. 38,2

37,6

37,7

38,1

39,3

39,1

39,1

38,9

40,3

41,6

42,7

43,6

44,8

40,6

32,9 Sozialversicherungspflichtig Beschäftigte 29,3

28,2

29,3 27,7

27,2

27,8

27,6

26,5

26,4

27,5

30,2

27,7

117,3

Erwerbstätige

Index: 1992 =100

110,1

100,0

105,8 99,6 92,8

102,0 89,3

31,4

111,7

99,8

112,2

107,2

107,8

93,6

114,2

102,9

96,9

Sozialversicherungspflichtig Beschäftigte

1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018

Quelle: Bundesagentur für Arbeit (zuletzt 2019), Beschäftigungsstatistik – Statistisches Bundesamt (zuletzt 2019), Erwerbstätigenrechnung.

118

Ökonomische Grundlagen und Finanzierung

eine Umschichtung von Arbeitsverhältnissen, die mit Beiträgen belegt sind, hin zu sozialversicherungsfreien Beschäftigungsformen (selbstständige Tätigkeiten, geringfügige Beschäftigung, Werk- und Honorarverträge) stattgefunden hat. Äußerst schwach hat sich bis etwa 2005 zudem die Lohnhöhe je versicherungspflichtig Beschäftigten entwickelt. Dafür waren im Wesentlichen die niedrigen Tarifabschlüsse, die Zunahme von Teilzeitarbeit zu Lasten von Vollzeitarbeit und die Ausbreitung von Niedriglöhnen verantwortlich. Eine mit dieser Lohnentwicklung verbundene sinkende Lohnquote (Anteil der Bruttoeinkommen aus abhängiger Arbeit am Volkseinkommen, vgl. Kapitel „Einkommen“, Pkt. 2.2.2) signalisiert, dass sich die Beitragserhebung auf einen sukzessive kleiner werdenden Anteil des gesamten Volkseinkommens bezogen hat und ein größer werdender Teil des Volkseinkommens, das sind Einkommen aus Unternehmertätigkeit und Vermögen sowie nicht versicherungspflichtige Arbeitnehmereinkommen, außerhalb der Finanzierungspflicht rückte. Insofern lassen sich die Finanzierungsprobleme der Sozialversicherungsträger in diesem Zeitraum durchaus als Einnahmeschwäche identifizieren. Die Einnahmen sind hinter der allgemeinen Entwicklung des Sozialprodukts zurückgeblieben (vgl. am Beispiel GKV Kapitel „Gesundheit und Gesundheitssystem“, Pkt. 12.3). Im Ergebnis führt die Finanzierung der Sozialversicherung vorrangig durch lohnbezogene Beiträge dazu, dass die Einnahmen von der Arbeitsmarktlage sowie von der durchschnittlichen Höhe der Arbeitsentgelte abhängig sind. Zwar verringern sich bei einer rückläufigen Zahl von sozialversicherungspflichtig Beschäftigten auch die Zahl und Höhe von Leistungsanwartschaften und entsprechend die anfallenden Ausgaben. Und niedrige Löhne bzw. niedrige Zuwachsraten des Lohnniveaus schlagen sich in der Höhe der späteren Leistungen nieder und begrenzen die Anpassungsdynamik. Aber diese auf dem Äquivalenz- und Versicherungsprinzip basierende Korrespondenz zwischen Einnahmen und Ausgaben greift nur sehr langfristig und trifft auch nur für die Geldleistungen zu, nicht aber für die Sach- und Dienstleistungen der Sozialversicherung. Aus Abbildung II.13 lässt sich entnehmen, dass sich die negative Entwicklung der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung ab etwa 2005 verändert. Erst langsam, dann aber zunehmend kommt es zu steigenden Beschäftigtenzahlen – von 26,4 Mio. im Jahr 2005 auf 32,9 Mio. im Jahr 2018. Dies entspricht einem Anstieg von 25 %. Der tiefe Konjunktureinbruch in Folge der internationalen Finanzkrise in den Jahren 2008 und 2009 konnte in Deutschland (jedoch nicht in den meisten anderen Ländern der EU) schnell und ohne große Verwerfungen auf dem Arbeitsmarkt überwunden werden. Da es in den Folgejahren auch zu höheren Tarifabschlüssen und Einkommensverbesserungen bei den abhängig Beschäftigten kam, stiegen entsprechend die Beitragseinnahmen bei den Versicherungsträgern. Die Rentenversicherung verzeichnete wachsende Reserven (Nachhaltigkeitsreserve) und auch im Gesundheitsfonds wurden Rücklagen aufgebaut. Der restriktive, auf Leistungseinschnitte sowie auf Um-

Finanzierungsprobleme des Sozialstaats

119

bau- und Privatisierungsmaßnahmen zielende Kurs der Sozialpolitik wurde zwar nicht grundsätzlich rückgängig gemacht (so blieb es bei der kontinuierlichen Absenkung des Rentenniveaus und auch bei der Begrenzung des Schutzbereichs der Arbeitslosenversicherung), aber doch gelockert. Im Bereich der Kranken-, Pflege- und Rentenversicherung kam es zu Leistungsverbesserungen (vgl. dazu in den jeweiligen Kapiteln). 4.2

Konjunktur- und Arbeitsmarktabhängigkeit der Steuerfinanzierung

Im Unterschied zum Sozialversicherungssystem lassen sich Finanzierungsprobleme bei steuerfinanzierten Sozialleistungen, die aus Haushaltsmitteln des Bundes, der Ländern oder der Kommunen gezahlt werden, nicht von den Finanzierungsproblemen der öffentlichen Haushalte insgesamt trennen. Monetäre und Realtransfers außerhalb der Sozialversicherung sind Teil der öffentlichen Gesamtausgaben und werden über das allgemeine Steueraufkommen (bzw. über Kreditaufnahme) finanziert. Eine direkte Zurechnung von einzelnen Steuern zu einzelnen Ausgaben gibt es wegen des Non-Affektationsprinzips nicht. Ungleichgewichte in den öffentlichen Haushalten haben deshalb – sowohl auf der Einnahmen- wie auf der Ausgabenseite – vielfältige Gründe, die an dieser Stelle nicht im Einzelnen analysiert werden können. Gleichwohl lassen sich zentrale Ursachen für die gegenläufige Entwicklung von Einnahmen und Ausgaben, die über viele Jahre hinweg die öffentlichen Haushalte belastet hat, benennen: • Zwar fällt bei einer Steuerfinanzierung die Konjunktur- und Arbeitsmarktabhängigkeit der Einnahmen weniger stark als bei der Beitragsfinanzierung aus, da – wenn auf die Einkommensteuer insgesamt und die Lohnsteuer im Besonderen Bezug genommen wird – der Kreis der Zahlungspflichtigen weiter als bei den Sozialversicherungsbeiträgen gesteckt ist und zudem alle Einkommen erfasst werden. Dennoch leidet auch das Aufkommen aus der Lohnsteuer unter einer schlechten Arbeitsmarktlage und niedrigen Wachstumsraten. Denn Arbeitslose zahlen keine Lohnsteuer und viele Bezieher:innen von Niedrigeinkommen bleiben mit ihrem Einkommen unterhalb des Grundfreibetrags. Hingegen führen ein Beschäftigungsaufbau und Einkommenszuwächse (die realen Zuwächse können unter Berücksichtigung des Preisniveauanstiegs deutlich niedriger liegen) zu einem Anstieg des Steueraufkommens. • Auch die Steuern auf den Verbrauch werden in ihrer Ergiebigkeit von der Lage auf dem Arbeitsmarkt und der Konjunkturentwicklung beeinflusst, da letztlich das den Haushalten zur Verfügung stehende Einkommen den Rahmen für die Konsumausgaben bestimmt. • Eine ungünstige Wirtschafts- und Arbeitsmarktlage schlägt sich zugleich bei den Ausgaben von Bund, Ländern und Gemeinden nieder: Es erhöhen sich die Emp-

120

Ökonomische Grundlagen und Finanzierung

fängerzahlen von Sozialleistungen (vor allem Arbeitslosengeld II, Wohngeld) sowie die Bundeszuschüsse an die BA und an die Rentenversicherung. Bei einem Rückgang der Arbeitslosigkeit kommt es hingegen zu Entlastungen. • Hinzu kommt, dass die Steuerreformen der zurückliegenden Jahre insbesondere im Bereich der Unternehmensbesteuerung (Körperschaftsteuer) und der Einkommensteuer (in mehreren Stufen) zu Steuerentlastungen geführt haben, die ihrerseits mit dazu beigetragen haben, dass sich in den Haushalten von Bund, Ländern und Gemeinden das Steueraufkommen nur schwach entwickelt hat. • Der Anstieg der zum Haushaltsausgleich erforderlich Neuverschuldung hatte eine wachsende Zinsbelastung der öffentlichen Haushalte zur Folge. Der in den 2010er Jahren einsetzende Trend hin zu einer Haushaltskonsolidierung lässt sich maßgeblich durch die verbesserte Lage der Gesamtwirtschaft und auf dem Arbeitsmarkt erklären. Während viele der EU-Staaten unter Wachstumsschwäche, hoher Arbeitslosigkeit und anhaltenden Finanzierungsproblemen leiden, hat sich Deutschland vom „kranken Mann Europas“ zum „Musterschüler“ entwickelt. Diese günstigen ökonomischen Rahmenbedingungen haben die Umsetzung der Regelungen der Schuldenbremse und des Fiskalpaktes in Deutschland erst möglich gemacht. Die 2009 im Grundgesetz verankerte Schuldenbremse sieht vor, dass die strukturelle, also nicht konjunkturbedingte, jährliche Nettokreditaufnahme des Bundes maximal 0,35 % des Bruttoinlandsproduktes betragen darf. Für die Länder wird ab 2020 die Nettokreditaufnahme ganz verboten. Ausnahmen sind bei Naturkatastrophen oder schweren Rezessionen gestattet. Umstritten bleibt, ob diese Einengung der staatlichen Haushaltspolitik zu einer dauerhaften Abschwächung des Wirtschaftswachstums und zu Einschränkungen von öffentlichen Investitionen wie auch Sozialausgaben führt. Diese Sorge gilt auch für den EU-Fiskalpakt: Der 2013 in Kraft getretene Vertrag legt fest, dass Unterzeichnerstaaten, die die Konvergenz-Kriterien der EU nicht einhalten (jährliches Haushaltsdefizit höchstens 0,5 % des BIP und max. 60 % Verschuldungsobergrenze in Relation zum BIP) sanktioniert werden können. Daneben müssen die einzelnen Staaten Schuldenbremsen einführen. Insgesamt zeigt sich, dass die Finanzierung der öffentlichen Ausgaben allgemein und der sozialen Sicherung insbesondere entscheidend von der Höhe und Entwicklung der Arbeitnehmereinkommen abhängt, da es eine Finanzierung jenseits der direkten oder indirekten Belastungen der Arbeitnehmereinkommen nicht geben kann. Dieser gesamtwirtschaftliche Zusammenhang lässt sich auch anhand der Daten aus der Volkwirtschaftlichen Gesamtrechnung verdeutlichen: Das Bruttoarbeitnehmerentgelt (einschließlich der Arbeitgeberbeiträge zur Sozialversicherung) macht etwa 70 % des Volkseinkommens aus (Lohnquote). Die restlichen 30 % des Volkseinkommens, das sind die Einkommen aus Unternehmertätigkeit und Vermögen, reichen als Finanzierungsquelle für die Summe aller Sozialausgaben schon allein rechnerisch nicht aus.

Finanzierungsprobleme des Sozialstaats

4.3

121

Arbeitslosigkeit: Sinkende Einnahmen und wachsende Ausgaben

Ein niedriger Beschäftigungsstand berührt Ausgaben- und Einnahmenseite gleichermaßen negativ. Dem steigenden Finanzbedarf auf der einen Seite steht eine durch dieselben Ursachen verschlechterte Einnahmesituation auf der anderen Seite gegenüber: • Mehrausgaben entstehen bei der Bundesagentur für Arbeit und beim Bund durch den Anstieg der passiven Leistungen (Arbeitslosengeld I und II) sowie durch die notwendig werdenden Maßnahmen der aktiven Arbeitsmarktpolitik. Aber auch die Rentenversicherung wird von der schlechteren Arbeitsmarktlage betroffen, weil die Zahl der arbeitsmarktbedingten Frühverrentungen zunimmt. • Mindereinnahmen infolge von Arbeitslosigkeit schlagen sich sowohl bei den Steuern wie bei den Beiträgen nieder. Im Steuersystem ergeben sich Verluste vor allem bei der Lohn- und Einkommensteuer. Bei den Beitragseinnahmen der Sozialversicherungsträger muss in erster Linie die Bundesagentur für Arbeit Einbußen hinnehmen, da Arbeitslose – seien sie registriert oder nicht – keine Beiträge zahlen. Bei der Kranken-, Pflege- und Rentenversicherung fallen die Beitragsverluste geringer aus, da die BA für ihre Leistungsempfänger:innen die Beitragszahlungen an die anderen Sozialversicherungsträger teilweise übernimmt, verbunden mit entsprechend höheren Ausgaben (vgl. im Einzelnen Kapitel „Einkommen“, Pkt. 5.5). Die Beitragsleistungen für Empfänger:innen von Arbeitslosengeld I und insbesondere von Arbeitslosengeld II sind jedoch in den letzten Jahren gekürzt bzw. in der GRV ganz gestrichen worden, so dass der Ausgleich nur begrenzt wirkt. Zudem wächst der Kreis der Arbeitslosen, die keinen Anspruch auf Leistungen (mehr) haben und für die insofern auch keine Beiträge gezahlt werden. Nach Berechnungen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung summierten sich im Jahr 2017 die gesamtfiskalischen, direkten und indirekten Kosten der Arbeitslosigkeit auf 53 Mrd. Euro. Im Jahr 2003 – bei einer deutlich höheren Arbeitslosigkeit – waren es noch 91,5 Mrd. Euro. Diese Berechnungen beziehen sich nur auf die unmittelbaren Kosten der registrierten Arbeitslosigkeit, also ohne aktive Arbeitsmarktpolitik und ohne die monetär schwer fassbaren Kosten wie Dequalifizierung, gesundheitliche Beeinträchtigungen usw. Verschärfend kommt hinzu, dass sich auf dem Arbeitsmarkt jene Beschäftigungsverhältnisse ausgedehnt haben, die nicht der Versicherungs- und Beitragspflicht unterliegen, so Arbeitsverhältnisse unterhalb der Geringfügigkeitsgrenze (Minijobs), Selbstständigkeit, Werkverträge (vgl. Kapitel „Arbeit und Arbeitsmarkt“ Pkt. 3.3 Arbeitslosigkeit war vor allem in den neuen Bundesländern ein gravierendes Problem. Der seit der Einführung der Wirtschafts- und Währungsunion einsetzende Trend stark rückläufiger Beschäftigten- und ansteigender Arbeitslosenzahlen hat ein

122

Ökonomische Grundlagen und Finanzierung

eklatantes Missverhältnis zwischen Beitragszahlenden und Leistungsempfangenden entstehen lassen. Da die hohen Sozialleistungen in den neuen Bundesländern nicht aus Eigenmitteln finanziert werden konnten, war und ist ein Finanzverbund bzw. Finanzierungsausgleich mit den alten Bundesländern, in den auch die Sozialversicherungsträger einbezogen sind, zwingend erforderlich. Verteilungspolitisch problematisch ist eine Finanzierung allein durch die Gruppe der Beitragszahlenden aber immer dann, wenn es sich wie bei der Bewältigung der sozialen Folgen der Transformationskrise um allgemeine gesellschaftspolitische Aufgaben handelt, die dann auch von der Allgemeinheit über Steuermittel finanziert werden müssten. 4.4

Finanzierungsprobleme der kommunalen Sozialpolitik

Mit besonderen Problemen hatten und haben die Gemeinden zu kämpfen, deren Haushaltslage seit Mitte der 90er Jahre durch ein anhaltendes Missverhältnis zwischen stagnierenden oder nur schwach steigenden Einnahmen und Ausgabenzuwächsen charakterisiert war. Dies hat sich erst seit etwa 2015 verändert – allerdings nicht in jeder Kommune gleichermaßen. Mittlerweile stehen den reichen Kommunen vor allem aus den südlichen Bundesländern arme Kommunen aus den strukturschwachen Regionen in den westlichen und nördlichen Bundesländern gegenüber. Bei den Ausgaben kommt den Sozialleistungen ein wachsendes Gewicht zu: •

Die Zahl der Empfänger:innen von Sozialhilfe und der entsprechenden Ausgaben (insbesondere im Bereich der Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderungen) steigt kontinuierlich an. Und auch bei der Hilfe zur Pflege ist ein Wiederanstieg der Ausgaben zu verzeichnen (vgl. Kapitel „Pflegebedürftigkeit und Pflege“, Pkt. 10.1). • Seit der Zusammenführung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe (vgl. Kapitel „Einkommen“, Pkt. 6.2) in das neue Leistungssystem des SGB II (Arbeitslosengeld II und Sozialgeld) müssen die Kommunen weit überwiegend die Kosten für Unterkunft und Heizung und für die sozialen Dienste tragen. Trotz rückläufiger Arbeitslosigkeit bewegt sich die Ausgabensumme seit 2006 auf einem konstant hohen Niveau von rund 12 Mrd. Euro. • Der Ausbau von Tageseinrichtungen für Kinder sowie von Ganztagsangeboten im Schulbereich (vgl. Kapitel „Familie“, Pkt. 8.1) verlangt hohe Investitionen und führt infolge von Personalausgaben, Sachkosten und Zuschüsse an freie Träger zu zusätzlichen und dauerhaften Belastungen in den Verwaltungshaushalten. Obgleich Bund und Land die Kommunen bei dieser Aufgabe finanziell unterstützt haben bzw. sie an anderer Stelle entlastet haben (so durch die Übernahme der Kosten der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung durch den Bund), bleibt das Problem eines Verstoßes gegen das Konnexitätsprinzip („Wer bestellt, muss auch bezahlen“). Vom Bund werden Aufgaben übertragen, ohne dass

Finanzierungsprobleme des Sozialstaats

123

sichergestellt ist, dass den Kommunen dafür auch Finanzmittel in voller Höhe zur Verfügung gestellt werden. • Im besonderen Maße gefordert waren und sind die Kommunen durch die hohe Zuwanderung von Asylbewerbern und Schutzsuchenden in den Jahren seit 2015. Obgleich sich die Migrationszahlen deutlich rückläufig entwickeln und der Bund die Kommunen mit einem erheblichen Mitteleinsatz unterstützt, bleiben die Kommunen in der finanziellen und politischen Verantwortung. Zuwanderung äußert sich konkret in den Städten und Gemeinden, hier kommt es darauf an, für die Bleibeberechtigten Integrationsperspektiven zu schaffen, was vor allem die Bereiche Wohnen, Arbeitsmarkt, gesundheitliche Versorgung, Kinderbetreuung, Schule und Qualifikation sowie auch Einkommensleistungen (nach dem Asylbewerberleistungsgesetz bzw. – nach Anerkennung – nach dem SGB II) betrifft. Soweit dies nicht oder nur unzureichend gelingt, wird das Potenzial für auf flammende soziale Konflikte in den Städten und Stadtteilen gelegt, und zwar vor allem dort, wo sich ohnehin schon die sozialen Problemlagen häufen. Die Kommunen haben über Jahre hinweg auf die gegenläufige Entwicklung von Einnahmen und Ausgaben mit Personalabbau, Leistungseinschränkungen, einer stark rückläufigen Investitionstätigkeit und mit Anhebungen von Gebühren und Beiträgen reagiert. Im Unterschied zum Bund und zu den Ländern haben sie kaum Handlungsmöglichkeiten, ihre steuerliche Einnahmenbasis zu verbessern: Bei den Gemeinschaftsteuern sind sie im Wesentlichen von den Entscheidungen des Bundesgesetzgebers abhängig. Eigenständig gestalten lassen sich lediglich die Hebesätze der Realsteuern (Grundsteuer, Gewerbesteuer). Aufgrund der Konkurrenz der Gemeinden untereinander in dem Bemühen um Wirtschaftsförderung und Unternehmensansiedlung ist der Spielraum zu einer Erhöhung der Gewerbesteuer aber sehr begrenzt. Gerade finanzschwachen Gemeinden in Regionen, die durch wirtschaftliche Strukturkrisen gekennzeichnet sind und die dringend auf Investoren und neue Arbeitsplätze angewiesen sind, ist dieser Weg versperrt. Da die Kommunen in weiten Teilen ihrer Aufgabenerfüllung durch bundes- und landesrechtliche Verpflichtungen gebunden sind (Pflichtaufgaben), konzentrieren sich die Leistungseinschränkungen auf die freiwilligen Aufgaben. Einsparungen erfolgen vor allem durch Veräußerung von Vermögen, Schließung oder Verkauf von Einrichtungen und vom kommunalen Wohnungsbestand (Privatisierung), Reduzierung von Angeboten, restriktive Handhabung von Kann- und Soll-Leistungen, Kürzung von Zuschüssen an freie Träger. Unter dem Druck der Finanzierungskrise in den Kommunen haben sich neue Formen einer flexiblen Haushaltsführung etabliert (Budgetierung, Kontrakt-Management, neue Steuerungsmodelle), von denen nicht nur Einsparungen, sondern vor allem eine effiziente, produkt- und kundenorientierte Leistungserstellung erwartet werden (vgl. Kapitel „Soziale Dienste“, Pkt. 6.2).

124

Ökonomische Grundlagen und Finanzierung

5

Bevölkerungsentwicklung und Finanzierung des Sozialstaates

5.1

Bedingungen und Folgewirkungen des demografischen Umbruchs

Für die Finanzierungsfähigkeit des Sozialstaates sind neben den ökonomischen Bedingungen die Folgewirkungen des demografischen Umbruchs von entscheidender Bedeutung. Es ist bekannt, dass in allen entwickelten Staaten aufgrund der Doppelwirkung einer anhaltend niedrigen Geburtenrate und einer weiter ansteigenden Lebenserwartung in den nächsten Jahrzehnten die Gesamtbevölkerung zurückgehen und sich zugleich die Altersstruktur der Bevölkerung grundlegend verschieben wird. Da insbesondere die ältere Generation zu den Leistungsempfängern im Sozialstaat zählt, wirkt sich hier der demografische Umbruch im besonderen Maße aus: Die Zahl älterer Menschen wächst, während gleichzeitig die Zahl der Menschen im mittleren, aktiven Lebensalter sinkt, die erwerbsfähig sind und die die Finanzierungsmittel für die sozialen Systeme bereitstellen müssen. Diese Probleme betreffen vor allem die Alterssicherungssysteme, neben der Rentenversicherung auch die Beamtenversorgung, die betriebliche Altersversorgung sowie die private Altersvorsorge (vgl. Kapitel „Alter“, Pkt. 12). Die ältere Generation ist zahlenmäßig größer als früher und die Phase des Ruhestands dauert länger. Zu Mehrbelastungen kommt es darüber hinaus in der gesundheitlichen Versorgung, im Pflegebereich und im weiten Bereich der sozialen Infrastruktur für ältere Menschen. Ältere Menschen weisen eine höhere Krankheitshäufigkeit als junge auf, insbesondere in Bezug auf chronische Erkrankungen, Multimorbidität und Behinderungen, und verursachen daher im Vergleich pro Kopf im Schnitt deutlich höhere Kosten. Zunehmen werden insbesondere Zahl und Anteil der sehr alten, hochbetagten Menschen (über 80jährige), die ein besonders hohes Risiko der Pflegebedürftigkeit aufweisen (vgl. Kapitel „Pflegebedürftigkeit und Pflege“, Pkt. 1.3). Den steigenden Ansprüchen an die Versorgung mit medizinischen und sozialen Dienstleistungen im Krankheits- und Pflegefall steht eine ebenfalls durch soziale und demografische Strukturverschiebungen beeinflusste Entwicklung gegenüber, die traditionelle familiäre Hilfsformen weniger tragfähig werden lässt. Durch die Scherenbewegung von wachsendem Hilfebedarf und sinkenden/veränderten familiären Selbsthilfemöglichkeiten steigt die Nachfrage nach professionellen ambulanten, teilstationären und stationären sozialen Diensten (vgl. Kapitel „Soziale Dienste“, Pkt. 2.4). Um die Dimensionen der zukünftigen Entwicklung zu ermitteln, müssen mittelund längerfristig orientierte Modellrechnungen vorgenommen werden. Derartige Bevölkerungsvorausberechnungen basieren auf Annahmen über die zu erwartenden demografischen Trends. Je nach Annahme weichen die Ergebnisse erheblich voneinander ab, und zwar umso stärker, je weiter der Blick in die Zukunft reicht. Die Berechnungen sind also mit hohen Unsicherheiten behaftet, und dürfen nicht als Prognosen verstanden werden. Wenn das Statistische Bundesamt in seinen Modellberechnungen unterschiedliche Varianten benennt, so geschieht dies genau aus dem

Bevölkerungsentwicklung und Finanzierung des Sozialstaates

125

Grunde der Unsicherheit. Alle Annahmen sind gleich wahrscheinlich oder unwahrscheinlich. Dies betrifft auch die so genannte „mittlere Annahme“, die nur deshalb in der öffentlichen Wahrnehmung eine so große Rolle spielt, weil unterstellt wird, dass eine „mittlere“ Position eine höhere Wahrscheinlichkeit aufweist. Trotz dieser Einwände gegenüber sehr langfristigen Vorausberechnungen kann es keinen grundlegenden Zweifel an deren Erfordernis geben. Politik ist zwingend auf eine mittelfristige und längerfristige Orientierung angewiesen, da Entscheidungen und Maßnahmen bzw. Nicht-Entscheidungen und Nicht-Maßnahmen langfristige Folgewirkungen haben und nicht ohne weiteres revidierbar sind. Dies gilt im besonderen Maße für die Leistungen der sozialen Infrastruktur und der sozialen Sicherung, die die Lebenslage und die finanziellen Belastungen über Generationen hinweg prägen. Die Älteren von morgen leben heute schon, und die Erwerbstätigengeneration von morgen setzt sich aus den Kindern von heute zusammen. Wie hoch die Zahl der Leistungsempfänger:innen und das Erwerbspersonenpotenzial in Zukunft sein werden, ist also keinesfalls völlig unklar. Bei den demografischen Modellberechnungen kommt es im Wesentlichen auf die Faktoren Geburtenrate, Lebenserwartung und Zuwanderung an. Längerfristige Bevölkerungsvorausberechnungen lassen Entwicklungskorridore sichtbar werden. Sie zeigen aber auch auf, wo es Interventionsmöglichkeiten zur Gegensteuerung gibt. Die Faktoren Geburtenrate und Zuwanderung sind nicht unveränderbar; sie unterliegen Einflüssen, die zu einem Teil (aber nicht insgesamt) auch politisch gestaltbar sind. Geburtenhäufigkeit Die Geburtenziffer liegt (2018) bei etwa 1,6 Kindern je Frau im gebärfähigen Alter. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Geburtenhäufigkeit in den alten Bundesländern seit Mitte der 70er Jahre relativ stabil ist (nach einem deutlichen Rückgang in der zweiten Hälfte der 60er Jahre), während sie in den neuen Bundesländern seit der Wiedervereinigung drastisch rückläufig war, sich aber schnell erholt und auf das westdeutsche Niveau eingependelt hat (vgl. Abbildung II. 14). Die Geburtenziffer steigt seit 2000 zwar leicht an, mit Blick auf die Zukunft spricht aber wenig dafür, dass ein insgesamt grundlegender und dauerhafter Umschwung im generativen Verhalten einsetzt und eine Geburtenrate (von etwa 2,1) erreicht wird, die allein die Konstanz der Bevölkerung sichern würde. Das würde voraussetzen, dass die derzeit hohe Quote der Frauen, die kinderlos bleiben (vgl. Kapitel „Familie“, Pkt. 4.1), zurückgeht und dass zugleich die Kinderzahl je Frau ansteigt. Jedoch dürfen Trends auch nicht einfach fortgeschrieben werden. Der internationale Vergleich zeigt, dass Deutschland zu den Staaten mit der niedrigsten Geburtenhäufigkeit zählt und dass in einer Reihe von europäischen Ländern höhere Geburtenziffern (z. B. Frankreich mit 1,8 und Dänemark mit 1,7 Kindern je Frau) realisiert werden. Um ein solches Niveau zu erreichen, müssen allerdings die Rahmenbedingungen für die Entscheidung, ein Leben mit Kindern zu führen, verbessert werden. Das gilt vor allem für die Vereinbarkeit von Berufstätigkeit und Kindererziehung.

126

Ökonomische Grundlagen und Finanzierung

Abbildung II.14 Zusammengefasste Geburtenziffer 1980 – 2018 – Durchschnittliche Zahl der Kinder je Frau im gebärfähigen Alter 2 1,94 1,8

Neue Bundesländer

1,73

1,64 1,6

1,54

Alte Bundesländer 1,44

1,52

1,4

1,48

1,46

1,45

1,2 Neue Bundesländer

2)

1,57

1,57

1,41

1,39

1,38

1,60

Deutschland

1,47

1,36

1,34 1,28

1,59

1,61

1,21

1

0,8

0,6

0,84

1980

1985

1990

1995

2000

2005

2010

2011*

2012

2013

2014

2015

2016

2017

2018

Berechnet nach der Geburtsjahrmethode Quelle: Statistisches Bundesamt (zuletzt 2019), Zusammengefasste Geburtenziffern.

Lebenserwartung Für die sozialpolitische Betrachtung der Lebenserwartung bzw. Sterblichkeit sind von Bedeutung sowohl • •

die durchschnittliche Lebenserwartung (bezogen auf ein neugeborenes Kind) als auch die fernere Lebenserwartung (durchschnittliche Restlebenserwartung von Personen, die ein bestimmtes Alter bereits erreicht haben).

Die durchschnittliche Lebenserwartung gibt insbesondere Auskunft über die Zahl der Bevölkerung; je höher die Lebenserwartung desto größer die Bevölkerungszahl – die niedrige Geburtenhäufigkeit wird teilweise kompensiert. Die fernere Lebenserwartung informiert über die noch übrig bleibenden Lebensjahre. Die Summe aus erreichtem Alter und fernerer Lebenserwartung erhöht sich mit zunehmendem Alter, da die Risiken, früh zu sterben, überwunden sind. Die wichtigste Maßgröße ist hier die fernere Lebenserwartung der älteren Menschen (ab einer Altersgrenze von 65 Jahren), die also – in der Regel – nicht mehr erwerbstätig sind und Renten gleich welcher Art erhalten. Da diese Gruppe überwiegend von Ein-

Bevölkerungsentwicklung und Finanzierung des Sozialstaates

127

kommensübertragungen lebt, bedeutet eine Verlängerung der ferneren Lebenserwartung, dass sich die Dauer der Übertragungen verlängert und die Ausgaben in den Alterssicherungssystemen steigen. Die Lebenserwartung ist in allen entwickelten Ländern durch einen langfristigen Anstieg gekennzeichnet. Die mittlere Lebenserwartung liegt 2015/2017 bei 78,4 Jahren (Männer) bzw. 83,2 Jahren (Frauen); die fernere Lebenserwartung von 65jährigen beträgt 17,8 Jahre (Männer) bzw. 21,0 Jahre (Frauen). Für die Zukunft kann von einem weiteren, langsamen Anstieg ausgegangen werden. Dafür sprechen die Trends der zurückliegenden Jahre, die internationalen Vergleiche (die Lebenserwartung in Deutschland liegt im Mittelfeld vergleichbarer Länder) sowie die Erwartungen über Entwicklung der Lebens- und Arbeitsbedingungen, des medizinisch-technischen und pharmakologischen Fortschritts und der gesundheitlichen und pflegerischen Versorgung (vgl. Abbildung II.15). Die Vorausberechnungen des Statistischen Bundesamtes (Variante L1 „Geringer Anstieg“) gehen für 2060 davon aus, dass sich mittlere wie fernere Lebenserwartung erhöhen, und zwar bis auf 20,4 Jahre (Männer) bzw. 23,2 Jahre (Frauen) bei den über 65jährigen. Damit würden Männer ab dieser Altersgruppe im Schnitt 85,4 Jahre und Frauen sogar 88,2 Jahre alt.

Abbildung II.15

Fernere Lebenserwartung im Alter von 65 Jahren 1901 – 2060 in Jahren

25 23,2 20,4

21,0

21,0 17,8

20,9

20,7

20,7

20,6

20,5

20,4

20,3

20,2

19,9

19,8

19,7

19,6

19,2

17,8

17,7

17,5

17,4

17,3

17,2

17,1

16,9

16,8

16,5

16,3

16,1

15,9

15,1

14,6

15,3 13,2

12,8 13,7

11,9 12,6

10,4 11,1

10

13,8

15

16,4

18,3

20

Vorausberechnung

Frauen

Männer

2060

2015/17

2014/16

2013/15

2010/12

2009/11

2008/10

2007/09

2006/08

2005/07

2004/06

2003/05

2002/04

2001/03

2000/02

1998/00

1993/95

1970/72

1960/62

1949/51

1932/34

0

1901/10

5

Bis 1932/34: Deutsches Reich; 1949/51 bis 1980/82: alte Bundesländer; ab 1991/93: Deutschland; 2060: Annahmen der 14. koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung (Variante L1: „geringer Anstieg“) Quelle: Statistisches Bundesamt (zuletzt 2019), Sterbetafel; 14. koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung.

128

Ökonomische Grundlagen und Finanzierung

Wanderungsbewegung Die zu erwartenden Veränderungen im Umfang und in der Altersstruktur der Bevölkerung hängen nicht allein von der Geburten- und Sterberate ab. Sie werden darüber hinaus auch stark von der Nettozuwanderung (Zuwanderung nach Deutschland abzüglich von Ab- bzw. Rückwanderungen) beeinflusst. In der Vergangenheit haben die Zuwanderungen die jährlichen Geburtendefizite (Saldo von Sterbefällen und Geburten) mehr als ausgeglichen, sodass die Einwohnerzahl in Gesamtdeutschland von 78 Mio. (1970) auf rund 83 Mio. (2018) gestiegen ist (vgl. Abbildung II.16). Die zukünftige Einschätzung der Nettozuwanderung erweist sich als besonders schwierig. Der Trend der Zuwanderung ist nämlich in einem hohen Maße durch politische Entscheidungen und Regelungen bestimmt (z. B. Zuwanderungsgesetz, Ost-Erweiterung der EU, Umgang mit Asylbewerber:innen, Schutzsuchenden und Bürgerkriegsflüchtlingen). Er hängt aber auch ab von den wirtschaftlichen, arbeitsmarktlichen und sozialen Rahmenbedingungen in Deutschland. Die empirischen Befunde zeigen, dass die Nettozuwanderung in Zeiten eines Arbeitsmarktungleichgewichts mit hoher Arbeitslosigkeit und schwacher konjunktureller Entwicklung eher rückläufig ist, bei einem Beschäftigungszuwachs und einer Kräfteknappheit in bestimmten Sektoren, Berufen und Tätigkeitsprofilen wieder zunimmt. Vor allem aber

282.197

1.585.112

1.185.432

997.552

914.241

1.550.721

1.464.724

1.226.493

797.886

1.080.936

711.991

958.299

678.969

798.282

670.605

737.889

682.146

661.855

639.064

780.175

697.632

842.543

623.255

841.158

674.038

802.456

755.358

959.691

677.494

767.555

1.082.553

1.502.198

720.127

782.071

1.139.402

1.134.641

Fortgezogene

Wanderungssaldo

1.365.178

Zugezogene

1.865.122

2.136.954

Abbildung II.16 Wanderungen zwischen Deutschland und dem Ausland 1992 – 2018: Zugezogene, Fortgezogene und Wanderungssaldo

499.944 550.483

368.945

399.680

127.677

219.288

2018

2017

2016

2015

2014

2013

2012

2011

2010*

2008*

2006

2004

2002

2000

1998

1996

1994

1992

-55.743

* Die Daten von 2008 bis 2010 sind nur eingeschränkt mit den anderen Jahren vergleichbar, da Melderegisterbereinigungen durchgeführt worden sind. Quelle: Statistisches Bundesamt (zuletzt 2019), Bevölkerung – Wanderungen.

Bevölkerungsentwicklung und Finanzierung des Sozialstaates

129

hängt die Zuwanderung von der Situation in den Auswanderungsländern ab, wie die Bürgerkriege in Syrien, Afghanistan und im Irak beispielhaft zeigen. Insofern ist es kaum möglich, zuverlässige Prognosen zu erstellen, die weit bis in die Mitte dieses Jahrhunderts hinein reichen. Zu unterscheiden wäre dabei nach verschiedenen Gruppen: Asylbewerber:innen, Arbeitsmigrant:innen einschließlich Familiennachzug aus Drittländern, Zuwanderung von EU-Ausländer:innen und nach deren Alters- und Geschlechterverteilung sowie Qualifikation. Die Altersstruktur der Zu- und Abgewanderten ist deshalb von Interesse, da in der Tendenz die Jüngeren zuwandern, die Älteren abwandern. Insgesamt weisen alle Anzeichen darauf hin, dass der positive Wanderungssaldo, der in Deutschland zwischen 1950 und 1995 über 8 Millionen Menschen betragen hat, nicht abbrechen wird. Dies ist nicht zuletzt angesichts der schnell wachsenden Weltbevölkerung wenig wahrscheinlich. Das Statistische Bundesamt geht in seiner Variante 15 von einem Wanderungssaldo von jährlich 220 000 Personen aus. Die Ereignisse seit 2012/2013 zeigen, dass diese Annahmen wohl zu niedrig gegriffen sind. Allein im Jahr 2015, dem Höhepunkt der Flüchtlingszuwanderung, lag der Wanderungssaldo bei über 1,1 Mio. Personen. In den Jahren danach ist ein deutlicher Rückgang zu registrieren, der aber den Saldo von 200 000 Personen weit übertrifft. Zu bedenken ist dabei, dass die Zuwanderung nicht nur an leistungsstaatliche und finanzielle Grenzen stößt (Ausbau und dauerhafte Sicherstellung von Integrations-, Wohnungs-, Bildungs- und Infrastrukturangeboten für die Zugewanderten), sondern zweifelsohne auch an politische Grenzen, was die Integrationsbereitschaft und -fähigkeit der deutschen Bevölkerung, aber auch die der zugewanderten Bevölkerung betrifft. Es gilt aber in jedem Fall: Selbst bei einem hohen Wanderungssaldo werden die Zuwanderungsgewinne das Geburtendefizit nicht ausgleichen können. Rückgang und Alterungsprozess der Bevölkerung werden gebremst, nicht aber gestoppt. 5.2

Bevölkerungsvorausberechnungen und demografische Belastungen

Nach der Vorausberechnung des Statistischen Bundesamtes (Variante 15) geht die gesamte Wohnbevölkerung von 83 Millionen (2018) auf 80,7 Millionen im Jahr 2040 und auf 74,8 Millionen im Jahr 2060 zurück (vgl. Tabelle II.10). Unter den Annahmen dieser Variante hält sich also der Rückgang der Gesamtbevölkerung in engen Grenzen. Wenn in einem dicht besiedelten Land die Bevölkerungszahl im Jahr 2060 noch immer über dem Niveau von 1960 liegt, kann diese Entwicklung kaum als dramatisch angesehen werden. Dass trotz der niedrigen Geburtenziffer der Bevölkerungsrückgang nur vergleichsweise schwach ausfällt, ist Folge sowohl der Zuwanderung als auch der steigenden Lebenserwartung. Die Zahl der älteren Menschen (65+) wird stark steigen, von 18,5 Mio. im Jahr 2018 auf 22,6 Mio. im Jahr 2040 (und danach in etwa konstant bleiben). Es sind gerade die geburtenstarken Jahrgänge („Baby-Boomer“), die nach

130

Ökonomische Grundlagen und Finanzierung

Tabelle II.10 Bevölkerung und demografische Belastungsquotienten 1960 – 2060 Im Alter von < 20

Im Alter von

20 < 65 > 65

Jahr

Bevölkerung in Mio.

1960

20,8

43,9

8,5

1970

23,4

43,9

1980

21,0

1990

Insgesamt

< 20

65

> 80

Kinder/ Jugend-

Alten-

Gesamt-

in % der Bevölkerung

Quotient1) in %

73,2

28,4

11,6

1,6

47,3

19,3

66,6

10,8

78,1

30,0

13,8

2,0

53,4

24,6

78,0

45,3

12,2

78,4

26,8

15,5

2,7

46,3

26,9

73,2

17,3

50,5

11,9

79,8

21,7

14,9

3,8

34,2

23,6

57,8

2000

17,4

51,2

13,7

82,3

21,1

16,6

3,8

34,0

26,8

60,8

2015

15,0

49,8

18,1

82,2

18,3

21,1

5,8

30,3

34,7

65,0

Vorausberechnung 2020

15,3

49,8

18,3

83,4

18,3

21,9

7,1

30,7

36,7

67,4

2030

15,5

46,0

21,4

82,9

18,6

25,9

7,2

33,6

46,6

80,2

2040

14,2

44,0

22.6

80,8

17,6

28,0

9,0

32,3

51,4

83,7

2050

12,3

42,7

22,1

77,8

15,8

28,4

11,4

30,7

51,8

82,4

2060

12,9

39,9

22,0

74,8

17,2

29,4

10,4

32,3

55,2

87,5

1) in % der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter, hier: der 20 bis 65jährigen. Vorausberechnung: Variante („Kontinuität bei stärkerer Zuwanderung“) (G1 − L1 − W2) • mittlere bzw. fernere Lebenserwartung im Jahr 2060: 82,5 Jahre (Männer) und 86,4 Jahre (Frauen) • Geburtenhäufigkeit annähernd konstant: 1,4 Kinder je Frau im gebärfähigen Alter • Wanderungssaldo jährlich 220 000 Personen ab 2021 Quelle: Statistisches Bundesamt (2019), 14. koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung.

2020 ins Rentenalter nachrücken. Von größerer Bedeutung ist aber, dass sich der Anteil der älteren Bevölkerung (65 Jahre und älter) an der Gesamtbevölkerung immer weiter erhöht: von etwa 21 % (2018) auf etwa 30 % (2060). Mit anderen Worten: Nahezu jeder Dritte wird dann zur älteren Generation zählen. Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass mit dem Anstieg der Lebenserwartung auch die Zahl der Jahre ansteigt, die in guter Gesundheit verbracht werden. Im besonderen Maße wird die Zahl der Hochbetagten (80 Jahre und älter) wachsen. Da die Menschen, die diese Altersgrenze erreichen und überschreiten, mit steigender Wahrscheinlich krank und pflegebedürftig werden, ist die Betrachtung der zahlenmäßigen Entwicklung dieser Bevölkerungsgruppe von einem besonderen sozialpolitischen Interesse. Die Vorausberechnungen – wieder in der genannten Variante – gehen davon aus, dass sich die Zahl der Hochbetagten in diesem Zeitraum fast

Bevölkerungsentwicklung und Finanzierung des Sozialstaates

131

verdreifachen wird und dass ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung von 6,5 % (2018) auf 10,4 % (2060) steigt (vgl. ausführlich Kapitel „Alter“, Pkt. 2.1). Hingegen werden sich Zahl und Anteil der Menschen sowohl im jüngeren als auch im mittleren Alter schrittweise verringern. Wenn von der demografischen Alterung der Gesellschaft gesprochen wird, ist diese gegenläufige Entwicklung gemeint. Das Durchschnittsalter in der Bevölkerung steigt. Setzt man nun die ältere Bevölkerung zu der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter (20 bis unter 65 Jahre) in Relation, so errechnet sich der Altenquotient. Wie Tabelle II.10 und Abbildung II.17 zeigen, wird der Altenquotient rapide ansteigen: Nach der Modellrechnung liegt er im Jahre 2060 bei 55,2 % und wird sich damit gegenüber 2000 mehr als verdoppeln. 100 Menschen im erwerbsfähigen Alter stehen dann etwa 81 ältere Menschen gegenüber. In der wissenschaftlichen und politischen Debatte ist es üblich geworden, die sozial- und gesellschaftspolitischen Folgewirkungen dieses grundlegenden demografischen Umbruchs als „dramatisch“ zu charakterisieren. Bei der Rentenversicherung, so eine gängige These, sei eine weitreichende Absenkung des Rentenniveaus erforderlich, wenn ein rasanter Anstieg der Beitragssätze und eine Überbelastung der nachrückenden jüngeren Generation vermieden werden sollen.

Abbildung II.17

Demografische Quotienten1): Alten-, Jugend- und Gesamtquotient 1990 – 2060 Vorausberechnung

90

87,5 83,7

80 80,2

78,0 70

60

73,2

Gesamtquotient

66,6

66,3 57,8

67,4

60,8

55,2

53,4

50 47,3

51,4 46,6

46,3

40

34,2

30 24,6

20

82,4

26,9 23,6

34,0

35,7 30,6

36,7 6,7 30,7 0,7

33,6

26,8

51,8 Altenquotient 32,3

32,3

30,7

Kinder- und Jugendquotient

19,3 10

0

1960

1970

1980

1990

2000

2018

1) in % der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter (20 bis 65 Jahre) Quelle: Tabelle II.10.

2020

2030

2040

2050

2060

132

Ökonomische Grundlagen und Finanzierung

Derartige Schlussfolgerungen sind jedoch vorschnell und verkürzt. Die Verhältnisse erweisen sich als komplexer, da die zukünftigen finanziellen Belastungen des Sozialstaates nicht allein aus der Gegenüberstellung von „älterer“ Bevölkerung und Bevölkerung „im erwerbsfähigen Alter“ abgeleitet werden können. Der Blickwinkel ist zu erweitern: Es geht um die Relation von „Aktiven“ zu „Inaktiven“ insgesamt, d. h. um das Problem, welcher Anteil der Wertschöpfung auf all jene Personen übertragen werden muss, die über kein Einkommen aus Erwerbstätigkeit verfügen. Die Einkommensübertragungen an ältere Menschen machen nur einen Teil der gesamten Einkommensübertragungen der Erwerbstätigen an die Nicht-, Noch-nichtund Nicht-mehr-Erwerbstätigen aus. Empfänger:innen von Übertragungen sind gleichermaßen Kinder und Jugendliche, die das Erwerbsalter noch nicht erreicht haben: Zwar müssen immer mehr ältere Menschen versorgt werden, aber zugleich sinkt durch die niedrige Geburtenrate der Versorgungsaufwand für jüngere Menschen. Der Kinder- und Jugendquotient, d. h. das Verhältnis der unter 20jährigen zu den 20 bis 60jährigen, geht bis zum Jahre 2050 langsam zurück. Fasst man den Kinder- und Jugendquotienten und den Altenquotienten zusammen, errechnet sich der Gesamtquotient. Sein Anstieg fällt weniger steil aus als der Anstieg des Altenquotienten (vgl. Tabelle II.10 und Abbildung II.17). Aber auch der Gesamtquotient informiert nur ungenau über das Verhältnis zwischen der erwerbstätigen und nichterwerbstätigen Bevölkerung. Denn von der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter zwischen 20 und 65 Jahren sind längst nicht alle Menschen auch tatsächlich erwerbstätig. Nicht erwerbstätig sind Personen in Ausbildung, Hausfrauen, Erwerbsunfähige und Arbeitslose. Auf der anderen Seite geben nicht alle älteren Arbeitnehmer:innen bereits mit 65 Jahren ihre Erwerbstätigkeit auf. Für die Zukunft ist vielmehr damit zu rechnen, dass die Erwerbstätigkeit jenseits des 65. Lebensjahres ansteigt. Auf der anderen Seite bleibt zu fragen, ob der mit dem Lebensalter von 20 Jahren angesetzte Eintrittszeitpunkt in die mittlere Altersgruppe realistisch ist. Wenn immer mehr Jugendliche eine qualifizierte und länger dauernde Ausbildung absolvieren, dann dürfte sich das Berufseintrittsalter in Zukunft nach hinten verschieben. Das wiederum führt zu einer Verringerung der mittleren, erwerbsfähigen Altersgruppe. Notwendig ist also eine genaue Bestimmung der ökonomischen Abhängigkeitsquote, also des Verhältnisses von (nicht erwerbstätigen) Empfänger:innen von Einkommensleistungen und den (erwerbstätigen) Beitragsund Steuerzahler:innen. Bei der Interpretation von Gesamtquotienten ist einschränkend zu bedenken, dass Umschichtungen zwischen abnehmenden Jugend- und ansteigenden Alterslasten keineswegs automatisch erfolgen. Während nämlich der Unterhalt älterer Menschen nahezu vollständig von den steuer- und beitragsfinanzierten Sicherungsinstitutionen getragen wird, muss der individuelle Unterhalt der Kinder und Jugendlichen zu einem großen Teil privat, d. h. von den Eltern, bestritten werden. Eine umstandslose Umschichtung ist allein deswegen nicht möglich, weil durch Steuer- bzw. Beitrags-

Bevölkerungsentwicklung und Finanzierung des Sozialstaates

133

abzüge alle Erwerbstätigen betroffen sind und die Empfänger:innen anonym sind, während die individuellen Ausgaben für Kinder von ihren Eltern finanziert werden. Außerdem ist zu berücksichtigen, dass die Belastungen durch die Zunahme der Älteren über der Entlastung liegen, die sich durch den Rückgang der Versorgungsaufwendungen für die Jungen ergibt. So verursachen im Gesundheits- und Pflegebereich die Senioren im Vergleich zu den Jüngeren deutlich höhere Kosten. Bei den öffentlichen Aufwendungen für Kinder und Jugendliche darf schließlich nicht vergessen werden, dass in vielen Bereichen von Geld- und Dienstleistungen noch ein Nachholbedarf besteht (vgl. Kapitel „Familie und Kinder“, Pkt. 11). 5.3

Bevölkerungsumbruch und wirtschaftliche Rahmenbedingungen

Generatives Verhalten, Sterblichkeit und Zuwanderung sind wichtige, aber nicht allein ausschlaggebende Determinanten der langfristigen Entwicklung des Sozialstaates. Hinsichtlich der Besetzungsstärke der aktiven Generation kommt es nämlich nicht auf die Zahl der Erwerbsfähigen, sondern auf die Zahl der tatsächlich Erwerbstätigen an. Insofern ist die zukünftige Entwicklung der Erwerbsbeteiligung der Bevölkerung von entscheidender Bedeutung. Demografische Berechnungen müssen also mit Prognosen über die Entwicklung von Arbeitsmarkt, Arbeitslosigkeit und Erwerbstätigkeit kombiniert werden. Auf demografische Vorausberechnungen reduzierte Aussagen geben notwendigerweise ein einseitiges und damit falsches Bild über die Zukunft. 5.3.1 Entwicklung von Erwerbsbeteiligung und Erwerbstätigkeit

Eine entscheidende Zukunftsfrage ist, wie sich das Erwerbspersonenpotenzial entwickeln und zwischen Erwerbstätigen und Erwerbslosen einschließlich stiller Reserve aufteilen wird. Zu unterscheiden ist hier zwischen Arbeitsangebot und Arbeitsnachfrage. Das zukünftige Arbeitsangebot hängt von der Anzahl, Altersstruktur und Geschlechterverteilung der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter ab. Zu berücksichtigen sind also gleichermaßen demografische Faktoren wie auch Verhaltensfaktoren, die in der Erwerbsbereitschaft oder -neigung zum Ausdruck kommen. Wenn es dazu kommt, dass sich die Frauenerwerbstätigenquote weiter erhöht und zugleich der Ausstieg aus dem Berufsleben erst später, jenseits des 65. Lebensjahres einsetzt, wird die Entwicklung der Erwerbstätigen einen anderen Verlauf nehmen als die Entwicklung der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter. Einen demografischen Determinismus gibt es nicht. Dies bedeutet allerdings auch, dass die Zuwanderung einer hohen Zahl von Flüchtlingen noch nicht automatisch zu einer Erhöhung der versicherungspflichtig Beschäftigten führt. Dies wird nur unter bestimmten, jedoch politisch gestaltbaren Voraussetzungen gelingen.

134

Ökonomische Grundlagen und Finanzierung

Die Entwicklung des Erwerbspersonenpotenzials ist jedoch nicht mit der Entwicklung der tatsächlich auf dem Arbeitsmarkt realisierten Erwerbstätigkeit gleichzusetzen. Wenn das zunächst konstant bleibende, dann leicht absinkende Erwerbspersonenpotenzial in Zukunft tatsächlich in Erwerbstätigkeit umgesetzt werden soll, müssen nicht nur die (registrierte) Arbeitslosigkeit deutlich verringert und zugleich Personen aus der stillen Reserve in Beschäftigung kommen. Voraussetzung ist auch eine entsprechende und dauerhafte Arbeitsnachfrage. Ob und inwieweit es nun gelingt, das Erwerbspersonenpotenzial auszuschöpfen und die unternehmensseitige Nachfrage nach Arbeit zu erhöhen, ist wesentlich abhängig von den zu erwartenden bzw. zu gestaltenden gesamtwirtschaftlichen Rahmenbedingungen, insbesondere in Bezug auf Wachstum und Produktivität. 5.3.2 Entwicklung von Sozialprodukt, Abgaben und verfügbarem Einkommen

Für die Finanzierung der Sozialleistungen an eine wachsende Zahl älterer Menschen ist es nicht nur entscheidend, wie groß die Zahl der im Erwerbsleben stehenden aktiven Bevölkerung ist und welchen Finanzierungsbeitrag sie über Steuern oder Beiträge leisten. Wichtig für die Zahlungsbereitschaft und Zahlungsfähigkeit im generativen Übertragungsprozess ist gleichermaßen, welche Höhe die individuellen Einkommen haben, die in Zukunft erwirtschaftet werden. Die Einkommensentwicklung entscheidet, ob es gelingt, steigende Beitrags- und/oder Steuerbelastungen auch ohne Realeinkommensverluste zu verkraften. Zu berücksichtigen sind also die gesamtwirtschaftlichen Trends, nämlich die Zuwachsraten von Beschäftigung, Sozialprodukt, Produktivität und Arbeitseinkommen. Der Verteilungskonflikt zwischen den Generationen lässt sich entschärfen, wenn es zu weiter rückläufiger Arbeitslosigkeit, steigenden Erwerbsquoten und Produktions-, Produktivitäts- und Einkommenszuwächsen kommt. Eine einfache Rechnung kann den Zusammenhang verdeutlichen: Wenn ein jahresdurchschnittlicher Anstieg der durchschnittlichen pro-Kopf Arbeitnehmereinkommen (brutto) von real 1,5 % unterstellt wird, errechnet sich in 40 Jahren eine Erhöhung um gut 80 %. Bei einer Erhöhung von 1 % im Jahresdurchschnitt sind es immer noch rund 50 %. Bezieht man sich auf die jahresdurchschnittliche (reale) Wachstumsrate des BIP von ebenfalls 1,5 %, steigt das BIP pro Einwohner noch stärker, da ja die Bevölkerungszahl rückläufig ist. Unter diesen Bedingungen, also aus einem steigenden Wohlstand heraus, müssen und können die demografischen Belastungen bewältigt werden. Welche Abzugsbelastungen und entsprechende Netto-Einkommensentwicklungen können angenommen werden ? Die wechselseitigen Interdependenzen zwischen Bevölkerungsentwicklung, Arbeitsmarkt, Wirtschaftswachstum, Einkommensentwicklung und den Einnahmen und Ausgaben von Sozialversicherung und Gebietskörperschaften müssten in Projektionen modelliert werden, die an dieser Stelle aber nicht möglich sind.

Bevölkerungsentwicklung und Finanzierung des Sozialstaates



135

Die Höhe des zu erwartenden Beitragssatzes zur Rentenversicherung hängt neben den demografischen Faktoren entscheidend davon ab, mit welcher Altersgrenze und mit welchem Renteneintrittsalter gerechnet wird. Zum anderen muss entschieden werden, von welchem Rentenniveau ausgegangen wird. Nach einer Projektion des Bundesarbeitsministeriums aus dem Jahr 2016 (Gesamtkonzept der Alterssicherung) wäre ein Einfrieren des Niveaus auf eine sog. Haltelinie von 46 % – dieser Wert würde im Jahr 2026 erreicht – mit einem Beitragssatz von 25,8 % verbunden. Bei einer Garantie des Niveaus von 48 % müsste der Beitragssatz im Jahr 2060 – so die Berechnungen im Gesamtkonzept – 26,9 % betragen. • Es ist davon auszugehen, dass sich auch die Beitragssätze für die Kranken- und Pflegeversicherung erhöhen werden. Hier wirken sich nicht nur die demografischen Faktoren aus, sondern auch die allgemeinen Kostentrends bei den personalintensiven medizinischen und sozialen Dienstleistungen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass Rentner:innen Beitragszahlende in der Kranken- und Pflegeversicherung sind. Zugleich bleibt zu bezweifeln, ob mit der Verlängerung der Lebenserwartung auch eine entsprechende Verlängerung der Morbiditäts- und Pflegephase verbunden ist. Es spricht im Gegenteil viel dafür, dass sich bei steigender Lebenserwartung die Phase, in der mit erhöhten Risiken zu rechnen ist, in höhere Altersgruppen verschiebt. Wenn die Erhöhung der Lebenserwartung mit einem Zugewinn an gesunden Lebensjahren verbunden ist, fällt der demografisch bedingte Ausgabenanstieg in der Kranken- und Pflegeversicherung deutlich niedriger aus, als wenn mit einer steigenden Häufigkeit und längeren Dauer von Krankheit und Pflegebedürftigkeit zu rechnen ist (vgl. dazu Kapitel „Pflegebedürftigkeit und Pflege“, Pkt. 1.3). • Trotz insgesamt steigender Beitragssätze werden unter der Annahme langfristig steigender Bruttoeinkommen bei den Erwerbstätigen immer noch Nettorealeinkommenszuwächse anfallen. Die Entwicklung vollzieht sich über einen Zeitraum von mehreren Jahrzehnten, sprunghafte Beitragssatzanstiege muss es deshalb nicht geben. Die demografischen Belastungen können aus den Zuwächsen der Bruttoeinkommen getragen und ohne Konsumverzicht bewältigt werden. • Werden die zu erwartenden Beitragssätze als zu hoch angesehen, ist nach den Alternativen zu fragen. Sollen die Systeme der Alterssicherung verbreitete Altersarmut vermeiden und der Lebensstandard in der Ruhestandsphase sichern, dann müssen bei einem sinkenden Rentenniveau anderweitige Maßnahmen ergriffen werden, um diese Ziele zu erreichen. Kostenlos ist dies aber nicht zu haben. Die Auswirkungen des demografischen Wandels lassen sich nicht durch andere Finanzierungs- und Leistungssysteme umgehen. Auch der Ausbau der kapitalfundierten Systeme ändert daran nichts. So sind die Sparbeträge bei der Riester-Rente wie auch die arbeitnehmerfinanzierte betriebliche Altersversorgung im Rahmen der Entgeltumwandlung ebenfalls mit Einkommensabzügen verbunden.

136

Ökonomische Grundlagen und Finanzierung

Die skizzierten Szenarien dürfen nicht den Eindruck erwecken, dass die Zukunft so und nicht anders aussehen wird. Die Unsicherheiten bei den wirtschaftlichen Prognosen – zumal über einen Zeitraum bis zum Jahr 2060 – sind noch einmal größer als bei den demografischen Vorausberechnungen. Deshalb kann nicht einfach abgewartet und das Eintreffen günstiger ökonomischer Konstellationen unterstellt werden. Kommt es nämlich nicht dazu und muss eine ungünstige wirtschaftliche Entwicklung befürchtet werden, dann müssen die demografischen Belastungen unter den Bedingungen von hoher Arbeitslosigkeit, Wachstumsschwäche und Einkommensstagnation bewältigt werden. Es bedarf also eines aktiven wirtschafts- und beschäftigungspolitischen Handelns. So lassen sich eine steigende Alterserwerbstätigkeit und die Integration von Frauen in den Arbeitsmarkt nicht einfach per Knopfdruck verordnen. Durch Betriebs-, Arbeitszeit- und Familienpolitik müssen die Voraussetzungen für die Vereinbarkeit von Beruf und Familie verbessert werden. Ein längerer Verbleib älterer Arbeitnehmer:innen im Beruf setzt voraus, dass entsprechende Arbeitsplätze angeboten werden und sich Betriebe wie Beschäftigte frühzeitig auf eine verlängerte Lebensarbeitszeit vorbereiten. Mit der Heraufsetzung von Altersgrenzen ist es nicht getan – damit wird lediglich festgelegt, dass eine nicht um Abschläge gekürzte Rente erst später bezogen werden kann (vgl. Kapitel „Alter“, Pkt. 13.4). Eine besondere Herausforderung stellt die Aufgabe dar, die große Zahl von Zuwanderern nicht nur aufzunehmen, sondern auch tatsächlich zu integrieren. Vorausschauende Maßnahmen in allen Teilbereichen der Sozial- und Gesellschaftspolitik sind gefordert, wenn soziale Probleme vermieden werden sollen. Inwieweit Beitragssatzanhebungen in der skizzierten Größenordnung als tragbar angesehen werden, hängt nicht nur von der Einschätzung ihrer ökonomischen Rückwirkungen ab, sondern von der politisch-psychologischen Bewertung steigender Abgaben. Obgleich es sich um zukünftige, erst langfristige und schrittweise auftretende Entwicklungen handelt, werden die hohen Beitragssätze in der politischen Diskussion auf die Gegenwart bezogen; kurzfristiger Handlungsbedarf erscheint geboten. Vernachlässigt wird dabei, dass höhere Beitragssätze in der Zukunft womöglich leichter zu verkraften sind als niedrigere Beitragssätze in der Gegenwart. Freilich können steigende Beitrags- und Steuerabzüge, selbst wenn sich die Nettoeinkommen real erhöhen, mit nachlassender Akzeptanz verbunden sein. Die Schere zwischen verfügbaren Nettolöhnen auf der einen Seite und Arbeitskosten auf der anderen Seite, wie sie in der betrieblichen Kostenrechnung zu Buche schlagen (Bruttoarbeitsentgelt zuzüglich Arbeitgeberbeiträge und anderer Lohnnebenkosten), wird immer größer. Diese hohe Grenzbelastung durch Abgaben („Wie viel bleibt von einem Mehrverdienst noch übrig ?“) dürfte nicht ohne Konsequenzen bleiben und den Anreiz zum Ausweichen in Schattenarbeit erhöhen.

Wechselwirkungen zwischen Sozialpolitik und ökonomischem System

6

Wechselwirkungen zwischen Sozialpolitik und ökonomischem System

6.1

Sozialstaat in der Kritik

137

Das sozialstaatliche System mit seinen Ausgaben- und Finanzierungsströmen hat vielfältige Rückwirkungen auf den ökonomischen Prozess. Zugleich berühren Veränderungen der ökonomischen Verhältnisse wiederum die Sozialpolitik. Verfolgt man die politische und wissenschaftliche Diskussion über Richtung und Ergebnisse dieses Zusammenhangs, so nimmt die These, wie sie vor allem aus wirtschaftsliberaler Sicht vertreten wird, einen breiten Raum ein, dass der Sozialstaat hinsichtlich seiner Regulierungsdichte und Dimension sowie seiner Leistungs- und Finanzierungsprinzipien eine eher kontraproduktive Wirkung auf das ökonomische System habe. Sozialpolitik wird als (mit)verantwortlich angesehen für Wachstumsprobleme, für Nachteile im globalisierten Wettbewerb und für Verwerfungen auf dem Arbeitsmarkt. Nach dieser Kritik ist das System der sozialen Sicherung also nicht nur teuer, sondern gefährdet auch die wirtschaftlichen Grundlagen und entzieht sich damit die eigene materielle Basis. Eine Auseinandersetzung mit dieser These setzt voraus, die unterschiedlichen Argumentationslinien auseinander zu halten und zu systematisieren. Folgende Kritikpunkte stehen im Mittelpunkt der Debatte und dienen als Begründung für den Abund Umbaus des Sozialstaates: •

Sozialstaat als Wachstumsbremse: Durch die vielfältigen Eingriffe des Sozialstaates in den Marktprozess werden Ressourcen fehlverwendet und die Wachstumskräfte der Volkswirtschaft geschwächt. Die Aufwendungen für konsumtive Sozialleistungen belasten Unternehmen und Arbeitnehmer:innen, überbeanspruchen die öffentlichen Haushalte und begrenzen öffentliche und private Investitionen. Zugleich beeinträchtigen die hohen Abgaben die Bereitschaft mehr zu arbeiten und zu leisten; Selbstverantwortung und Eigeninitiative werden geschwächt. • Überbelastung des Faktors Arbeit: Die über Arbeitnehmerbeiträge und Arbeitgeberbeiträge (Lohnnebenkosten) am Faktor Arbeit ansetzende Finanzierung der Sozialversicherung führt zu steigenden Arbeitskosten. Die Kosten lassen sich am Markt nicht mehr realisieren, Arbeitsplätze werden gefährdet und abgebaut. • Soziale Sicherung als Beschäftigungssperre: Die Sozialleistungen an Arbeitssuchende sind fehlerhaft ausgestaltet und im Niveau zu hoch bemessen. Der Abstand zum Arbeitseinkommen ist zu gering; es lohnt sich für die Leistungsempfänger:innen nicht, aus der Arbeitslosigkeit heraus niedrig bezahlte Arbeit aufzunehmen. Es entsteht eine „Arbeitslosigkeitsfalle“. • Sozialstaat als Hindernis im Prozess der Globalisierung: Im verschärften internationalen Wettbewerb kann der Standort Deutschland mit seinen hohen Ar-

138

Ökonomische Grundlagen und Finanzierung

beitskosten, Sozialstandards und Abgabenbelastungen nicht mehr mithalten; die Wettbewerbsfähigkeit wird gefährdet, Arbeitsplätze und Investitionen werden ins Ausland verlagert. 6.2

Sozialstaat und wirtschaftliche Dynamik

Die wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland ist durch ein kontinuierliches Wachstum des Sozialprodukts geprägt. Verfolgt man die Entwicklung seit 2000, so zeigt sich im europäischen Vergleich ein Zuwachs von etwa 30 %, der in etwa dem EU-Durchschnitt (EU 28) entspricht. Die nachholenden mittel- und osteuropäischen Länder liegen höher, aber auch die entwickelten Wohlfahrtsstaaten wie Schweden und Dänemark übertreffen Deutschland. Aus diesen Befunden lässt sich daher nicht ablesen, dass ein kostenintensives Netz der sozialen Sicherung sich als Hindernis für die wirtschaftliche Dynamik auswirkt und den Anforderungen eines Marktes entgegensteht, der durch einen steigenden internationalen Konkurrenzdruck gekennzeichnet ist. Auch gibt es keine Befunde, die im Fall von Deutschland von einem expansiven Sozialstaat sprechen lassen: •

Die Sozialleistungsquote ist in den letzten Jahrzehnten weitgehend unverändert geblieben (vgl. Pkt. 2.2 dieses Kapitels). Das gleiche gilt für die Staatsquote. • Auch die gesamtwirtschaftliche Abgabenquote verläuft bemerkenswert konstant. Gerade bei den höheren Einkommen lässt sich eine leistungshemmende Belastung durch steigende Steuer- und Beitragsabzüge nicht erkennen. Im Zuge der Steuerreformen ist es mehrfach zu Steuerentlastungen gekommen. Dies trifft insbesondere für die Unternehmenssteuern zu (vgl. Kapitel „Einkommen“, Pkt. 3). • Im europäischen Vergleich der Sozialleistungs- und Abgabenquoten liegt Deutschland im Mittelfeld. Insgesamt zeigt sich, dass es wischen Sozialleistungs-, Staats- und Abgabenquoten einerseits und Wachstumsraten keine eindeutigen Zusammenhänge gibt. Diese Unbestimmtheit erklärt sich auch daraus, dass zwar der Sozialstaat in den gesamtwirtschaftlichen Kreislauf eingreift, der Volkswirtschaft aber keine Mittel entzieht. Da Sozialpolitik Umverteilungspolitik ist, bleiben die für die Finanzierung der sozialen Sicherung benötigten Einnahmen nicht in den Haushalten von Gebietskörperschaften und Sozialversicherungsträgern stecken. Die Gelder fließen als durchlaufende Posten in die Privathaushalte zurück. Es handelt sich realwirtschaftlich um eine Verlagerung von Einkommens- und Konsumansprüchen auf andere Personen bzw. um eine zeitliche Verlagerung im Lebensverlauf. Verändern kann sich freilich die Einkommensverwendung, wenn man etwa unterstellt, dass Sozialleistungsempfänger:innen aufgrund ihrer insgesamt schlechteren Einkommens- und Versorgungslage einen größeren Teil ihres Einkommens konsumieren als dies diejenigen tun, de-

Wechselwirkungen zwischen Sozialpolitik und ökonomischem System

139

ren Einkommen durch den Abzug von Beiträgen und Steuern gemindert worden ist. Die gesamtwirtschaftliche Konsumnachfrage kann sich also vergrößern. Dies ist gerade in Krisenzeiten wichtig, da Sozialpolitik Einkommensausfälle bei Arbeitslosigkeit teilweise kompensiert und damit die gesamtwirtschaftliche Nachfrage stabilisiert (eingebauter Konjunkturstabilisator). Das Verhältnis zwischen Wirtschaft und Sozialpolitik darf also nicht als Einbahnstraße missverstanden werden, charakteristisch sind die wechselseitigen Beziehungen: Einerseits ist das System der sozialen Sicherung von der Leistungskraft des privaten Sektors abhängig, da die Finanzmittel aus der Wertschöpfung gespeist werden, also nur das verteilt werden kann, was produziert wurde. Erst eine leistungsfähige Wirtschaft schafft die Voraussetzungen für die Verteilung und Finanzierung eines hohen Sozialleistungsniveaus. Andererseits wirkt das soziale System selbst als produktiver Faktor positiv auf die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der Volkswirtschaft zurück. Die positive Rückwirkung zu quantifizieren, ist allerdings nur schwer möglich. So entsteht das Problem, dass zwar die Kosten des Sozialstaates bekannt sind, laufend ausgewiesen werden und sich einzelwirtschaftlich zurechnen lassen, dass sich aber der Nutzen, da er nur in gesamtwirtschaftlicher und gesamtgesellschaftlicher Sicht erkennbar ist, nicht exakt beziffern und noch weniger zurechnen lässt. Gleichwohl lassen sich zentrale Punkte benennen: •

Offensichtlich ist der produktive Beitrag der Sozialausgaben hinsichtlich ihrer investiven Wirkungen in das Humankapital. Sie sichern die Gesundheit und die langfristige Arbeitsfähigkeit der Arbeitskraft und vermeiden vorzeitigen Verschleiß. Die Arbeitsbereitschaft wird gefördert und so die Arbeitsproduktivität erhalten und gesteigert. An erster Stelle sind hier die Leistungen des Arbeitsschutzes, der Gesundheitsförderung und -sicherung und der Rehabilitation zu nennen (vgl. Kapitel „Arbeit und Gesundheitsschutz“). • Sozialpolitik sichert und fördert die Qualifikation der Beschäftigten durch Maßnahmen der Ausbildung und Weiterbildung, befähigt sie, sich dem technologischen und ökonomischen Strukturwandel und den Anforderungen der Digitalisierung offensiv anzupassen, statt sich gegen Veränderungen zu stemmen. Das gilt im Besonderen für die Absicherung gegen die Beschäftigungsrisiken sowie für die aktive Arbeitsmarktpolitik (vgl. Kapitel „Arbeit und Arbeitsmarkt“). • Eine eindrucksvolle Bestätigung haben die positiven ökonomischen Wirkungen des deutschen Sozialstaatsmodells in der internationalen Finanz- und Wirtschaftskrise nach 2008 gefunden. Trotz des tiefen Einbruchs des BIP ist es gelungen, Einbrüche bei der Beschäftigung weitgehend zu vermeiden und einen schnellen Wiederaufschwung einzuleiten: Der Einsatz arbeitsmarktpolitischer Instrumente (vor allem Kurzarbeit) wie auch das Zusammenwirken der Betriebs- und Tarifvertragsparteien in Richtung von Beschäftigungspakten und temporären Arbeitszeitverkürzungen haben dafür gesorgt, dass Massenentlassungen vermieden und die Belegschaften in den Unternehmen gehalten worden sind.

140

Ökonomische Grundlagen und Finanzierung

• Auch Maßnahmen zur besseren Vereinbarkeit von Beruf und Familie (Kindertagesbetreuung, Pflegezeit, Elternzeit) und zur Förderung der Beschäftigung von älteren Arbeitnehmer:innen haben einen investiven und produktiven Charakter. Sie tragen dazu bei, die Beschäftigungsquote zu erhöhen und führen deshalb zu einer leichteren Bewältigung der demografischen Herausforderungen. • Die politisch-gesellschaftliche Stabilisierungs- und Integrationsfunktion des sozialstaatlichen Systems ist eine entscheidende Voraussetzung für ein leistungsfähiges Wirtschaftssystem. Ohne eine garantierte soziale Absicherung gegen die sozialen Risiken und Wechselfälle des Lebens wäre der Einsatz motivierter und qualifizierter Arbeitskräfte nicht möglich. In fortgeschrittenen, individualisierten Gesellschaften, die unter einem erheblichen Modernisierungsdruck stehen, ist soziale Unsicherheit kein Leistungsanreiz, sondern eine Gefahr für die gesellschaftliche Integration. • Nicht zuletzt schafft und sichert der Sozialstaat Arbeitsplätze, insbesondere im weiten Komplex sozialer und gesundheitlicher Dienste. So war die Einführung der Pflegeversicherung zwar mit Beitragsbelastungen verbunden, aber zugleich hat die Pflegeversicherung durch ihre Sach- und Dienstleistungen zu einem deutlichen Anstieg der Pflegedienste und der Zahl der dort Beschäftigten geführt (vgl. Kapitel „Pflegebedürftigkeit und Pflege“, Pkt. 7.2). Die Orientierung der Sozialpolitik auf die wirtschaftliche Leistungskraft ist jedoch kein Selbstzweck. Die Erhöhung von Wachstum, Produktivität und Beschäftigung kann nur dann als Erfolgsmaßstab gelten, wenn über diesen Weg die Lebensbedingungen der Bevölkerung verbessert werden. Eine so verstandene Mehrung der individuellen und gesellschaftlichen Wohlfahrt greift über ökonomische Indikatoren weit hinaus und umfasst auch solche Merkmale wie soziale, politische und kulturelle Teilhabe, gleichwertige Lebensbedingungen, sozialer Ausgleich, soziale Sicherheit und Armutsvermeidung. Sozialstaat und soziale Gesellschaft sind insofern eigenständige Wohlfahrtsindikatoren, deren Wert möglicherweise entgangenen Wachstumssteigerungen entgegengestellt werden muss. 6.3

Sozialstaat, Arbeitskosten, Lohnnebenkosten und Arbeitsnachfrage

In Zeiten hoher Arbeitslosigkeit gewinnt die kritische Aussage an Gewicht, der Sozialstaat selbst sei ein entscheidender Grund für die Entstehung und Verfestigung der Beschäftigungsprobleme. Diese These bezieht sich nicht nur auf die Rückwirkungen der Sozialpolitik auf Wachstum und Beschäftigungsniveau aus makroökonomischer Perspektive, sondern beruht auch auf einer mikroökonomischen Sichtweise. Arbeitslosigkeit wird als Gleichgewichtsstörung auf dem Arbeitsmarkt interpretiert und gilt dann als durch den Sozialstaat verursacht, wenn sich Angebot und Nachfrage nach Arbeit infolge sozialpolitischer Regelungen und Leistungen und deren Auswirkungen

Wechselwirkungen zwischen Sozialpolitik und ökonomischem System

141

auf das Verhalten der Beteiligten nicht ausgleichen können. Zu unterscheiden ist also zwischen den Auswirkungen der Sozialpolitik auf die Nachfrage am Arbeitsmarkt, die von den Unternehmen getätigt wird, und auf das Angebot am Arbeitsmarkt, das von den Arbeitskräften ausgeht. „Sozialstaatsinduzierte Arbeitslosigkeit“ bezogen auf die Arbeitsnachfrage wird aus Sichtweise der mikroökonomisch-neoklassischen Arbeitsmarkttheorie durch folgende Faktoren hervorgerufen: •

Das Niveau der Arbeitskosten gilt wegen der hohen Lohnnebenkosten und vor allem wegen des gesetzlichen Mindestlohns als zu hoch, mit der Folge einer rückläufigen Arbeitsnachfrage und einer Substitution von Arbeit durch Kapital (technologische Rationalisierung) oder einer Verlagerung von Arbeitsplätzen ins Ausland. • Im unteren Bereich des Arbeitsmarktes, auf dem Feld von Arbeiten mit niedrigen Qualifikationsanforderungen insbesondere im Dienstleistungssektor, verhindern die zu hohen Arbeitskosten das Entstehen von so genannten Einfacharbeitsplätzen. Infolge der Grundsicherung und des gesetzlichen Mindestlohns sind die Löhne nach unten hin nicht offen. Dadurch rechnet es sich für die Unternehmen nicht, niedrigproduktive Arbeitsplätze bereitzustellen. Sind Dienstleistungen, auf die nicht unbedingt zurückgegriffen werden muss, zu teuer, werden sie nicht am Markt nachgefragt sondern eher in Eigenarbeit erledigt. • Sozialpolitisch begründete arbeits- und tarifrechtliche Regelungen für einzelne Arbeitnehmergruppen wirken kontraproduktiv, da z. B. der Kündigungsschutz sowie besondere Arbeitszeit- und Arbeitsschutzvorgaben die Kosten für die Unternehmen erhöhen und Inflexibilitäten schaffen. Sind aber die Kosten für die geschützten Personengruppen im Verhältnis zu ihrem Ertrag zu hoch, rentiert sich die Beschäftigung für die Unternehmen nicht; statt Ältere oder Schwerbehinderte werden Jüngere eingestellt. Arbeitslosigkeit und weitere Beschäftigungsbenachteiligungen, die durch soziale Schutzgesetze bekämpft werden sollen, werden durch diese Eingriffe also erst geschaffen. Bei einer Auseinandersetzung mit diesen Argumentationslinien steht die Kontroverse über den Zusammenhang von Lohn- bzw. Arbeitskosten und Beschäftigung im Mittelpunkt. Strittig ist vor allem die These, schon aus rein binnenwirtschaftlicher Sicht sei ein möglichst niedriges Arbeitskosten- und damit Lohn- und Sozialniveau die entscheidende Voraussetzung für mehr Beschäftigung. Empirische und theoretische Analysen zeigen indes, dass diese Argumentation wenig tragfähig ist. Denn die dahinterstehende Vorstellung, der Grad der Beschäftigung hänge unmittelbar von der Lohnhöhe ab, und bei hinreichend niedrigem Lohn stelle sich immer Vollbeschäftigung ein bzw. werde unfreiwillige Arbeitslosigkeit überwunden, verabsolutiert das abstrakte, auf die kurze Frist ausgerichtete mikroökonomische Marktgleichgewichtmodell und klammert alle typischen Besonderheiten des Arbeitsmarktes aus:

142





• •





Ökonomische Grundlagen und Finanzierung

Die Erwartung, über niedrigere Arbeitskosten und entsprechend niedrige Preise die Nachfrage zu beleben und über diesen Weg die Beschäftigung zu steigern, lässt die Nachfragefunktion des Lohnes und die Rückkopplung des Arbeitsmarktes mit den Gütermärkten außer Acht. Bei der Arbeitsnachfrage der Unternehmen handelt es sich um eine aus dem am Markt absetzbaren Produktions- bzw. Dienstleistungsvolumen abgeleitete Nachfrage. Nicht unterschieden werden die kurz- und langfristige Perspektive. Deshalb wird die längerfristige Rückkopplung der Lohnhöhe mit dem arbeitssparenden technischen Fortschritt übersehen und die Funktion der Lohnentwicklung als Antrieb der Produktivitätsentwicklung und somit der wirtschaftlichen Leistungs- und Wettbewerbsfähigkeit eines Landes vernachlässigt. Die Empirie des Arbeitsmarktes liefert keine Hinweise für ein überzogenes Lohnniveau, wie Höhe und Entwicklungsverlauf der Lohnstückkosten einschließlich der Lohnnebenkosten zeigen (vgl. Pkt. 3.7.2 dieses Kapitels). Die These, dass eine nivellierte Lohnstruktur den Aufbau einfacher Dienstleistungsarbeitsplätze verhindere, steht quer zur Realität. Wie Verteilungsanalysen erkennen lassen, müssen Niedriglöhne nicht geschaffen werden, denn sie existieren bereits. Die praktizierte Niedriglohnstrategie hat aber nicht dazu geführt, dass dadurch zusätzliche Arbeitsplätze entstanden sind. Vielmehr hat sich über viele Jahre hinweg am Arbeitsmarkt ein Substitutionsmechanismus entfaltet; billigere Arbeit hat teurere Arbeit verdrängt. Ein Beispiel für diesen Substitutionseffekt ist die Ausweitung der sozialversicherungsfreien, häufig prekären Beschäftigungsverhältnisse zu Lasten sozialversicherungspflichtiger, arbeits- und tarifrechtlich abgesicherter Arbeitsverhältnisse. Mit der Einführung des gesetzlichen Mindestlohns im Jahr 2015 ist es keinesfalls zu einem Rückgang der Beschäftigung gekommen, wie dies von vielen Ökonomen immer wieder vorhergesagt wurde. Arbeitsplätze im Niedriglohnbereich sind nicht entfallen, sondern die Beschäftigten sind besser bezahlt worden. Die schlechten Beschäftigungschancen einzelner Personengruppen und die personelle Strukturierung der Arbeitslosigkeit (vgl. Kapitel „Arbeit und Arbeitsmarkt“, Pkt. 5.4) sind Folge eines Selektions- und Verdrängungseffektes von Arbeitskräften beim Zugang in die Arbeitslosigkeit und beim Abgang aus der Arbeitslosigkeit. Sozialpolitische Schutzregelungen sind eine Antwort auf dieses Problem. Ohne diese Regelungen sähe die Situation von Menschen mit Behinderungen oder Älteren noch schlechter aus. Gleichwohl ist bei der konkreten Ausgestaltung der personengruppenbezogenen Schutzpolitik darauf zu achten, dass sich einzelne Regelungen nicht als berufliches Einstiegshemmnis auswirken. Elternzeit, familienpolitisch motivierte Freistellungs- und Teilzeitansprüche können sich erst dann nicht mehr gegen die Beschäftigung von Frauen auswirken, wenn die Unternehmen erwarten müssen, dass auch Väter von ihnen Gebrauch machen.

Wechselwirkungen zwischen Sozialpolitik und ökonomischem System

6.4

143

Soziale Sicherung und Arbeitsangebot

Die Sozialpolitik wirkt auf vielfältige Weise, in unterschiedlicher Richtung und mit jeweils besonderen Zielsetzungen auf das Arbeitsangebot ein. Frage, ob es sich für Arbeitslose überhaupt lohne, eine Arbeit aufzunehmen, da es sich aufgrund der hohen Sozialleistungen ohne Arbeit besser als mit (niedrig entlohnter) Arbeit leben lasse, markiert nur einen Ausschnitt aus der ganzen Spannweite der Wechselbeziehungen zwischen Sozialpolitik und Arbeitsangebot. Das Verhältnis zwischen Erwerbsarbeit und Sozialleistungen ist im System der sozialen Sicherung eindeutig definiert: Zur Bestreitung des Lebensunterhalts muss vorrangig die eigene Arbeitskraft eingesetzt werden. Ein Wahlrecht zwischen der Einkommenserzielung durch Erwerbsarbeit oder dem Bezug von Sozialleistungen, wie es in den Konzepten eines bedingungslosen Grundeinkommens vertreten wird (vgl. Kapitel „Einkommen“, Pkt. 9.1) gibt es nicht. Nur dann, wenn Erwerbsarbeit wegen fehlender Arbeitsfähigkeit (Krankheit, Invalidität, Alter, Kindererziehung, Behinderung) oder wegen fehlender Arbeitsplätze (Arbeitslosigkeit) nicht (mehr) möglich oder zumutbar ist, besteht ein Anspruch auf Sozialleistungen. Durch das lohn- und beitragsorientierte Sozialversicherungssystem werden zugleich Arbeitsanreize gesetzt, da die Höhe der Absicherung entscheidend von der Aufnahme einer versicherungspflichtigen Beschäftigung und deren Dauer sowie von der Höhe des Verdienstes abhängt. So werden bei der Rentenversicherung im Unterschied zu einem Grundrentensystem nur bei einer langjährigen Erwerbsbeteiligung ausreichend hohe Renten gezahlt (vgl. Kapitel „Alter“, Pkt. 6.5.2). Die Möglichkeit, ohne Erwerbseinkommen und nur mit Sozialleistungen leben zu können, hängt von der Leistungshöhe, der Leistungsdauer und den Bezugsvoraussetzungen ab. Je niedriger die Leistungen und je kürzer die Bezugsdauer, umso größer der materielle Druck, möglichst die Erwerbstätigkeit aufrechtzuerhalten bzw. möglichst schnell wieder aufzunehmen. Ganz generell lässt sich feststellen, dass die sozialversicherungsrechtlichen Lohnersatzleistungen in ihrem Niveau so bemessen sind, dass sie stets unterhalb des vorherigen Arbeitseinkommens liegen. Die These, ohne Erwerbsarbeit lebe es sich besser als mit, trifft nicht zu. Dies gilt nicht nur aus materiell-finanzieller Sicht. Qualitative Studien kommen zu dem Ergebnis, dass sich die Menschen bei der Aufnahme von Erwerbsarbeit nicht vorrangig an monetären Nutzen-Kosten-Kalkülen orientieren. Die Anreizstrukturen und das tatsächliche Verhalten der Menschen können nicht gleichgesetzt werden, da andere Faktoren und Beweggründe für die Bereitschaft zur Erwerbstätigkeit viel entscheidender sind. Im Falle von Arbeitslosigkeit fallen die Einkommenseinbußen besonders hoch aus: Bei der Versicherungsleistung „Arbeitslosengeld“ sind Verluste von bis zu 45 % zu verkraften (vgl. Kapitel „Arbeit und Arbeitsmarkt“, Pkt. 6.2.2). Und das bedürftigkeitsgeprüfte Arbeitslosengeld II deckt lediglich das sozial-kulturelle Existenzminimum ab und liegt damit in aller Regel deutlich unter dem Einkommensniveau bei Erwerbstätigkeit. (vgl. Kapitel „Einkommen“, Pkt. 6.1.2)

144

Ökonomische Grundlagen und Finanzierung

Sozialleistungen an erwerbsfähige, aber arbeitslose Personen sind zudem mit Zumutbarkeitsanforderungen und im Fall der Verweigerung einer Arbeitsaufnahme mit finanziellen und administrativen Sanktionen verbunden. Einen Einkommens- und Statusschutz sieht die Grundsicherung nicht vor – im Grundsatz muss jedwede Arbeit angenommen werden, und bei der Versicherungsleistung Arbeitslosengeld verringert sich der Einkommensschutz mit zunehmender Dauer der Arbeitslosigkeit (vgl. Kapitel „Arbeit und Arbeitsmarkt“, Pkt. 6.2.3). In den zurückliegenden Jahren sind sowohl die Zumutbarkeitsanforderungen verschärft als auch die Leistungen bei Arbeitslosigkeit mehrfach abgebaut worden, begründet jeweils damit, den Anreiz zur Arbeitsaufnahme zu erhöhen und unechte, weil freiwillige Arbeitslosigkeit zu beseitigen. Positive Effekte auf dem Arbeitsmarkt sind dadurch nicht eingetreten. Dies zeigt, dass Arbeitslosigkeit keine Folge fehlender Bereitschaft ist, freie, niedrig entlohnte Arbeitsplätze zu besetzen. Repräsentative empirische Befunde (und nicht nur Einzelbeispiele) für eine verbreitete Erscheinung von Arbeitsunwilligkeit, mangelnder Mobilitätsbereitschaft und unzureichendem Anpassungsverhalten gibt es nicht. Durch einen größeren finanziellen und administrativen Druck, Arbeit aufzunehmen, entstehen nicht plötzlich neue Arbeitsplätze. Das Kernproblem ist das gesamtwirtschaftliche Arbeitsmarktungleichgewicht mit einer Diskrepanz zwischen offenen Stellen und Arbeitsuchenden. Wäre es anders, dann müsste die hohe Arbeitslosigkeit in bestimmten Regionen mit regional und örtlich spezifischen Verhaltensmustern der Arbeitslosen erklärt werden. Davon kann aber keine Rede sein. Von großer Bedeutung für das Arbeitsangebot sind die Regelungen der Rentenversicherung. Durch die Festlegung von Altersgrenzen, die zum Bezug einer Altersrente berechtigen, konstituiert sich die Lebensphase des Alters, in der Erwerbstätigkeit wohl noch möglich wäre, aber nicht mehr eingefordert wird. Der Zeitpunkt des Übergangs in die Nach-Erwerbsphase ist primär sozialpolitisch bestimmt, aber auch finanzierungs- und arbeitsmarktpolitische Gründe spielen eine entscheidende Rolle. Die Vorverlegung der Altersgrenze galt lange Zeit als ein bewusst eingesetztes Instrument, um das Arbeitsangebot älterer Arbeitnehmer:innen zu reduzieren und den Arbeitsmarkt zu entlasten. Die gegen Ende der 90er Jahre einsetzende Anhebung der vorgezogenen Altersgrenzen und die 2012 in Kraft getretene schrittweise Heraufsetzung der Regelaltersgrenze auf 67 Jahre sind hingegen Maßnahmen nicht nur zur Ausgabenminderung bei der Rentenversicherung sondern auch zur Ausweitung des Erwerbspersonenpotenzials. Vergleichbare Rückwirkungen auf die Angebotsseite des Arbeitsmarktes haben die Regelungen zur Anerkennung einer Rente wegen Erwerbsminderung (vgl. Kapitel „Alter“, Pkt. 6.4.2). Das Sozialleistungssystem fördert zugleich das Arbeitsangebot. So zielen die Rehabilitationsmaßnahmen im Bereich der Kranken-, Renten- und Unfallversicherung sowie der Arbeitsverwaltung darauf ab, die Arbeitsfähigkeit wiederherzustellen und die Wiedereingliederung in das Arbeitsleben zu ermöglichen. Maßnahmen der Arbeitsförderung (Umschulung, Fortbildung, Mobilitätshilfen, Trainingskurse usw.) sollen

Wechselwirkungen zwischen Sozialpolitik und ökonomischem System

145

Qualifikation und Vermittlungsfähigkeit von Arbeitslosen verbessern (vgl. Kapitel „Qualifikation“, Pkt. 10.2). Widersprüchliche Auswirkungen auf das Arbeitsangebot insbesondere von Frauen haben die Maßnahmen der Familienpolitik: Auf der einen Seite gibt das Sozialleistungssystem Ehepartnern vielfältige Anreize, nicht, oder nur geringfügig erwerbstätig zu sein. Orientiert wird auf Frauen und Mütter und das traditionelle Leitbild der Ernährer- und Hausfrauenehe. In diese Richtung einer längeren Unterbrechung oder gar Aufgabe der Berufstätigkeit wirken vor allem die Mitversicherung in der Krankenversicherung, die Hinterbliebenenrente sowie das Ehegattensplitting im Steuerrecht. Auf der anderen Seite stehen Regelungen, die helfen sollen, die Erwerbstätigkeit trotz Erziehungsaufgaben nicht aufzugeben und Beruf und Familie parallel miteinander zu vereinbaren. Beispiele dafür sind die Eltern(teil)zeit, das Elterngeld und der Ausbau der Infrastruktur für Kinder (Tageseinrichtungen usw.). Diese Widersprüchlichkeit ist Ausdruck des sich wandelnden Frauen- und Familienleitbildes (vgl. Kapitel „Familie und Kinder“, Pkt. 2). 6.5

Sozialstaat, internationaler Wettbewerb und Globalisierung

Die Befürchtungen wachsen, dass im Zeichen der Globalisierung die in einem hohen Maße auf den Export angewiesene Bundesrepublik (mit einem Exportanteil von mehr als einem Drittel des Bruttoinlandsprodukts) ihren hohen Sozialstandard in der Konkurrenz zu anderen Staaten mit anderen sozialpolitischen Systemen nicht mehr halten kann. Versteht man unter Globalisierung die wachsende wirtschaftliche Verflechtung der Nationalstaaten durch den Handel mit Waren und Dienstleistungen sowie die Mobilität von Kapital, Technologie und Arbeit, so hat sich infolge der Liberalisierung von Welthandel und internationalen Kapitalmärkten, der Verbilligung der Transportkosten und der Herausbildung neuer Informationssysteme der Wettbewerbsdruck zweifelsohne verschärft. Unübersehbar ist auch, dass es längst nicht mehr nur um die traditionelle Konkurrenz nationaler Endprodukte geht; durch die Existenz transnationaler, global operierender Unternehmen stehen ganze Produktions- und Dienstleistungsstandorte und Volkswirtschaften in Konkurrenz zueinander. Der Faktor Kapital wird international mobil, während demgegenüber der Faktor Arbeit naturgemäß weitgehend stationär bleibt (allerdings kommt es auch hier vermehrt zur Wanderung von Arbeitskräften aus Niedriglohnländern in die wohlfahrtsstaatlichen Hochlohnländer Europas – mit einem entsprechenden Druck auf die Lohnsätze). Als eine besondere Form der Globalisierung lässt sich schließlich die Internationalisierung der Finanz- und Kapitalmärkte bezeichnen. Die Frage ist, ob die Bundesrepublik Deutschland mit ihrem sozialstaatlichen System in diesem Konkurrenzkampf unterliegt. Zunächst ist darauf zu verweisen, dass im Wettbewerb neben der preislichen Komponente auch andere Faktoren wie Qua-

146

Ökonomische Grundlagen und Finanzierung

lität, Produktinnovation, Service usw. von maßgeblicher Bedeutung sind. Bezieht man sich auf die Hauptkomponente der preislichen Wettbewerbsfähigkeit, auf die Arbeitskosten, liegt es auf der Hand, dass diese nicht in ihrer absoluten Höhe zu bewerten sind. Es ist bekannt, dass der Lebensstandard in Deutschland und damit die Arbeitskosten je Stunde höher liegen als beispielsweise in den Ländern Asiens oder Osteuropas, aber auch höher als in vielen OECD- und EU-Ländern. Ein aussagefähiger Indikator für die kostenseitige Wettbewerbsfähigkeit eines Landes ist die Entwicklung der Lohnstückkosten, also die Arbeitskosten in ihrem Verhältnis zur Stundenproduktivität (vgl. Pkt. 3.7.2 dieses Kapitels). Betrachtet man die Entwicklung der Lohnstückkosten in der Bundesrepublik im Verhältnis zu den maßgeblichen Wettbewerbsländern im Euro-Raum (vgl. Abbildung II. 18) so lässt sich feststellen, dass sich diese in den Jahren von 2000 bis 2018 nur schwach erhöht haben, während in anderen Ländern ein deutlicher Anstieg zu verzeichnen ist. Von einer sozialstaatlich induzierten Kostenkrise Deutschlands kann nicht gesprochen werden; die Steigerung von Lohnkosten wie von Lohnnebenkosten einschließlich der Unterschiede von Arbeitszeit, Urlaub und Fehlzeiten sind durch Produktivitätssteigerungen verdient worden. Seit vielen Jahren weist Deutschland eine außerordentlich hohe und wachsende Exportquote auf. Zwar sind auch die Einfuhren kräftig gestiegen, weil im Zuge der vernetzten, arbeitsteiligen Weltwirtschaft immer mehr (Vor-)Produkte auf dem Weltmarkt und nicht in der Heimat besorgt werden; entscheidend ist aber, dass die

Abbildung II.18

Lohnstückkostenentwicklung im Euro-Raum, 2000 – 2018

145 141,3

140

135

130

IT

134,2

BE

132,5

FR

128,9

GR

128,1

ES

122,7

DE

125

120

115

110

105

100

95

2000

2001

2002

2003

2004

2005

2006

2007

2008

2009

2010

2011

Quelle: Eurostat (2019); Berechnungen des IMK/Hans-Böckler-Stiftung.

2012

2013

2014

2015

2016

2017

2018

NL

Wechselwirkungen zwischen Sozialpolitik und ökonomischem System

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Exporte die Importe bei weitem übertreffen. Die anhaltenden Außenhandels- und Leistungsbilanzüberschüsse, die Deutschland auch gegenüber Ländern mit niedrigen Löhnen und niedrigen Sozialstandards erwirtschaftet – auch und gerade mit den EUMitgliedsstaaten aus Süd- und Osteuropa –, sind ein Ausdruck dieser Entwicklung. Die gesamtwirtschaftliche Betrachtung auf der Ebene von Durchschnittswerten (zu unterscheiden ist bei der Produktivitäts- und Lohnstückkostenentwicklung sowohl zwischen Dienstleistungsbereich und Industrie als auch zwischen den einzelnen Sektoren der Industrie) schließt allerdings ein, dass es in einzelnen Branchen und Betrieben, vor allem im Bereich arbeitsintensiver Produktion und bei unterdurchschnittlicher Produktivitätsentwicklung, zu massiven Problemen durch den intensivierten internationalen Wettbewerb kommt – mit der Folge eines Niedergangs ganzer Produktionszweige und des Verlustes von Arbeitsplätzen. Strukturverschiebungen dieser Art sind aber nicht nur als Verlust zu verstehen, denn wenn der Weltmarkt wächst und die aufrückenden Staaten Nachfrage entfalten, wird sich diese Nachfrage in wachsenden deutschen Exporten anderer, höherwertiger Güter niederschlagen. Nun konkurrieren die Betriebe mit ihren Produkten auf den Weltmärkten nicht zu Kosten in nationaler Währung, sondern es sind ganz maßgeblich die Wechselkursrelationen, die die Preise bestimmen. Der Wechselkursmechanismus gleicht die Kostenvorteile und -nachteile von Ländern zumindest zum Teil aus. Der Wechselkurs auf den Devisenmärkten ist einerseits eine Reaktion auf die Kostensituation und Wettbewerbsfähigkeit. Da sich die Kapitalbewegungen weitgehend von den Handelsbewegungen gelöst haben, wird er aber im zunehmenden Maße durch die Zinsdifferenzen auf dem Weltfinanzmarkt und spekulative Bewegungen beeinflusst. Kommt es auf diese Weise zu einem steigenden Wechselkurs, wirkt er sich als Wettbewerbserschwernis aus und macht den Stückkosten- und Preisvorsprung teilweise wieder zunichte. Exporterleichternd wirken hingegen sinkende Wechselkurse. Die Bewegungen auf den internationalen Finanz- und Kapitalmärkten haben die Wettbewerbsstärke des Standorts Deutschland bislang nicht beeinträchtigt: Zwar ist es zu einer enormen Aufblähung des kurzfristig anlagesuchenden Finanzkapitals gekommen. Bei den Realkapitalien hingegen fällt die Mobilität schwächer aus, die Zuwachsrate der grenzüberschreitenden Direktinvestitionen ist weit weniger steil als die Entwicklung bei den Finanzanlagen; als Hauptmotiv für Auslandinvestitionen gilt eindeutig die Nähe zum Absatzmarkt; niedrige Löhne oder Sozialstandards haben eine nachrangige Bedeutung. Die empirischen Befunde, dass die internationale Wettbewerbsfähigkeit des Sozialstaats Deutschland nicht gefährdet ist, dürfen allerdings nicht zu voreiligen Schlussfolgerungen verleiten: •

In Zeiten schwachen Wachstums und anhaltend hoher Arbeitslosigkeit können Unternehmensentscheidungen über Standortwahl und Investitionen im Ausland oder Inland einen starken Druck auf Staat, Gewerkschaften und Belegschaften ausüben. Angesichts offener Kapitalmärkte und weltübergreifender Produktions-

148

Ökonomische Grundlagen und Finanzierung

und Investitionsentscheidungen der großen multinationalen Unternehmen erhält die Seite des Kapitals neue strategische Optionen, die es ihr erlaubt, soziale Regulationen der einzelnen Staaten zu unterlaufen. Für die gesellschaftlichen Machtverhältnisse, für die Aktionsmöglichkeiten des souveränen Sozial- und Interventionsstaates bleibt das nicht ohne Folgen; die Handlungsautonomie der Nationalstaaten vor allem hinsichtlich der Steuer-, Fiskal- und Geldpolitik verengt sich zusehends. Die Gefahr besteht, dass dadurch ein internationaler Sozialabbau- und Deregulierungswettlauf ausgelöst wird. Auch Länder mit günstigen Standortbedingungen können sich dieser Abwärtsspirale nur schwer entziehen, wenn die Konkurrenzländer eine systematische liberale Angebots- und Kostenreduktionspolitik treiben. • Die Bedeutung der preislichen Komponente im globalen Wettbewerb nimmt zu, da bei zunehmender freier Beweglichkeit des Anlagekapitals und internationaler Vernetzung der Produktion Technologie und Produktivität nicht mehr an das Land gebunden sind, in dem sie mittels dessen Arbeits- und Sozialsystem und dank seiner Infrastruktur produziert wurden. Die transnational agierenden Unternehmen haben die Möglichkeit, die Herstellung von Produkten und deren Vertrieb länderübergreifend zu organisieren und bei der Produktion an anderen Standorten die höchste Produktivität quasi mitzunehmen. • Die gesamtwirtschaftliche Durchschnittsentwicklung sagt noch nichts über die durchaus schwierige Lage einzelner Branchen aus; der sich hier niederschlagende weltwirtschaftliche Strukturwandel wird unter dem Druck der Arbeitsmarktlage zu einer Bedrohung der Beschäftigten und gibt Anlass, Verschlechterungen der Arbeits- und Sozialbedingungen hinzunehmen. Unternehmensentscheidungen über Produktions- und Investitionsverlagerung ins Ausland wirken immer auch als Druckmittel auf Belegschaften und Gewerkschaften. Es kommt zu Bleibebzw. Ansiedlungsverhandlungen, deren Preis Konzessionen bei Löhnen, Unternehmenssteuern, Arbeitszeiten und anderen arbeits-, tarif- und sozialrechtlichen Standards sind. Durch die internationale Vereinbarung von arbeits- und sozialrechtlichen Standards (z. B. hinsichtlich des Arbeitsschutzes) kann hier ein Gegengewicht gesetzt werden. Zu nennen sind in diesem Zusammenhang die Übereinkommen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) sowie die Richtlinien und Verordnungen auf der Ebene der Europäischen Union (vgl. Kapitel „Sozialpolitik und soziale Lage“, Pkt. 8). Eine Veränderung der Wettbewerbsbeziehungen in der EU hat sich im Gefolge der Europäischen Währungsunion ergeben. Durch die einheitliche europäische Währung ist für gut 40 % des deutschen Außenhandels der Wechselkursmechanismus aufgehoben. Damit ist der Binnenhandel in der EU auf eine stabile Basis gestellt worden, da Schwankungen der Währungsparitäten entfallen. Wechselkurse haben freilich auch als Korrekturfaktor bei abweichenden Kosten- und Preisentwicklungen gewirkt. Da Wechselkursanpassungen und nationale Zinspolitik als Puffer ausfallen, werden im

Finanzierungsalternativen

149

Euro-Raum Kosten- und Preisunterschiede in der Produktion unmittelbar sicht- und vergleichbar: Eine preissteigernde, den Produktivitätsspielraum übertreffende Erhöhung der Lohnstückkosten in einem Land, eine Folge beispielsweise hoher Lohnzuwächse oder Beitragssatzanhebungen, schlägt sich sofort als Wettbewerbs- und Absatzhindernis nieder, wenn sich diese Entwicklung nicht auch in den anderen Ländern findet. Andersherum bedeuten Stückkostenminderungen Wettbewerbs- und Absatzvorteile. Dieser Zusammenhang prägt die Situation im Euro-Raum; der enorme Wettbewerbsvorteil von Deutschland hat die Folgewirkungen der Bankenkrise verstärkt und ist ein zentraler Grund für die krisenhafte Finanz- und Wirtschaftslage vor allem in den südeuropäischen Euro-Ländern.

7

Finanzierungsalternativen

7.1

Ausgabenentwicklung: Entscheidungen über Prioritäten

Sozialpolitik sieht sich immer mit der Frage nach der Finanzierbarkeit konfrontiert. Was tun, wenn in den Systemen der Sozialversicherung infolge einer wieder wachsenden Arbeitslosigkeit, vermehrter Pflegebedürftigkeit, einer steigenden Zahl von Rentner:innen und von Kostensteigerungen im Gesundheitssystem die Ausgaben die Einnahmen überschreiten ? Wie stark sollen bzw. können die Beitragssätze steigen ? Wie lassen sich darüber hinaus die Mittel für notwendige Leistungsverbesserungen aufbringen ? Es bleibt die schwierige Aufgabe, den Sozialstaat angesichts der ökonomischen, politischen, technologischen und demografischen Herausforderungen verlässlich und zukunftssicher zu finanzieren. Die Antwort, alle Systeme dauerhaft mit mehr Geld auszustatten, mag auf der Hand liegen, löst aber das Problem nicht. Denn die Knappheit der öffentlichen wie auch der privaten Mittel lässt sich nicht umgehen. Es geht deshalb nicht nur darum, Lücken und Unterversorgungen im sozialen Netz aufzudecken und Wünschenswertes aufzulisten, sondern auch über Prioritäten und Nachrangigkeiten im Sozialleistungssystem zu entscheiden, d. h. über das erforderliche Leistungsspektrum und Sicherungsniveau sowohl innerhalb als auch zwischen den einzelnen sozialen Risikobereichen und Politikfeldern. Diese Entscheidung über die Notwendigkeit von Leistungen und über die zeitlichen und sachbezogenen Prioritäten ist immer auch eine Entscheidung über die Grenzziehung zwischen öffentlicher und privater Finanzierung. Sie steht nicht ein für alle Mal fest, sondern muss vor dem Hintergrund veränderter Lebensformen und neuer bzw. anderer sozialer Probleme stets neu getroffen werden. Eine schlichte Privatisierungs- und Abbaustrategie ist jedoch kein Erfolgskonzept. „Markt und privat“ heißt weder, dass damit die gesamtwirtschaftlichen Belastungen sinken, noch dass die Leistungserstellung automatisch billiger und besser erfolgt (vgl. Pkt. 3.8 dieses Kapitels). Zu beachten sind dabei die zeitlichen Perspektiven: Kurzfristige fiskalische

150

Ökonomische Grundlagen und Finanzierung

Entlastungen müssen mit möglichen Mehrausgaben, die mittel- und längerfristig entstehen, bilanziert werden. So können erhöhte Zuzahlungen im Gesundheitswesen die Inanspruchnahme von medizinischen Leistungen und entsprechend die Ausgaben reduzieren; wirken die Zahlbeträge jedoch abschreckend und verhindern einen rechtzeitigen Arztkontakt, können schwerwiegende Erkrankungen mit hohen Folgekosten die Konsequenz sein. Anders herum können Mehrausgaben in der Gegenwart durch Minderausgaben in der Zukunft belohnt werden. Das gilt vor allem für Ausgaben in der gesundheitlichen und sozialen Prävention. Reformen können auch zu Einsparungen führen. Dies lässt sich erreichen, wenn Fehlsteuerungen in den Systemen vermieden und Effektivität und Effizienz der Leistungen erhöht werden. Vor allem bei den Ausgaben für Sach- und Dienstleistungen, z. B. im Gesundheitswesen, finden sich Rationalisierungsreserven, deren Ausschöpfen die Leistungsqualität verbessern kann (vgl. Kapitel „Gesundheit und Gesundheitssystem“, Pkt. 13.4). Bei den Geldleistungen sind derartige Reserven schwieriger zu finden. Wie die Analyse des Niveaus der sozialen Absicherung in den einzelnen Gefährdungsbereichen zeigt, kann von einer allgemeinen Überversorgung im sozialen System keine Rede sein. Das schließt nicht aus, besondere Privilegien, so z. B. das hohe Leistungsniveau in der Beamtenversorgung, abzuschaffen oder finanzielle Spielräume für Mehrausgaben durch Umschichtungen zu gewinnen. Ein Beispiel: Wenn die eigenständige soziale Absicherung von Frauen im Alter verbessert werden soll und dafür Mehraufwendungen notwendig werden, kann dies finanziert werden, wenn auf der anderen Seite der an der Hausfrauenehe geknüpfte Sicherungsschutz (Hinterbliebenenrente, kostenfreie Mitversicherung in der Krankenversicherung, Ehegattensplitting, Förderung von Minijobs) abgebaut wird. Neben Reformen auf der Ausgabenseiten bedarf es Anpassungen und Alternativen auf der Einnahmenseite. Auch wenn es angesichts enger Verteilungsspielräume schwierig ist, Beitragssätze zu erhöhen, so kann dieser Weg dennoch nicht tabuisiert werden. Denn eine einnahmenorientierte Ausgabenpolitik in der Sozialversicherung, die die Festschreibung der Beitragssätze unabhängig von den sozialen Bedarfen und Anforderungen zum Prinzip erhebt, lässt das sozialpolitische Sicherungsziel aus den Augen: Eine Festschreibung des Beitragssatzes in der Rentenversicherung trotz der demografischen Umwälzungen erzwingt ein starkes Absenken des Rentenniveaus. Das Ziel der Rentenversicherung „Lebensstandardsicherung“ muss aufgegeben werden, immer mehr ältere Menschen müssen ihre unzureichende Rente durch Leistungen der Grundsicherung aufstocken. Wenn aber die Rente trotz langjähriger Beitragspflicht das Niveau der von Vorleistungen unabhängigen Grundsicherung nicht übersteigt, werden Legitimation und Akzeptanz der Rentenversicherung gefährdet (vgl. Kapitel „Alter“, Pkt. 6.6.1). Die Festschreibung des allgemeinen Beitragssatzes in der Krankenversicherung und die Ausweichmöglichkeit der Krankenkassen, den Zusatzbeitrag zu erhöhen, kann aufgrund der Wettbewerbssituation zwischen den einzelnen Kassen in Widerspruch geraten zu den gesundheitlichen Behandlungsbedarfen der Versicherten und

Finanzierungsalternativen

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zu einer qualitativ unzureichenden Versorgung gerade der teuren Fälle von chronisch und Mehrfacherkrankten führen. Bei der Sicherstellung der steuerfinanzierten Sozialleistungen, die sich in den Haushalten von Bund, Ländern und Gemeinden als Ausgaben niederschlagen, ist die Lage der öffentlichen Haushalte eine entscheidende Größe. Nach geltender nationaler und europäischer Rechtslage sind einer Kreditfinanzierung öffentlicher Ausgaben engste Grenzen gesetzt (Schuldenbremse, europäischer Fiskalpakt). Allerdings dürfen in einer konjunkturellen Schwächephase einnahmebedingte Defizite nicht mit Ausgabenkürzungen beantwortet werden. Eine solche Parallelpolitik läuft nämlich Gefahr, eine kumulative Abwärtsbewegung der Wirtschaft in Gang zu setzen; die gesamtwirtschaftliche Nachfrage würde reduziert mit der Folge noch größerer Steuerausfälle, eines weiteren Nachfragerückgangs und steigender Arbeitslosigkeit. Auf ausreichende öffentliche Einnahmen kann deshalb nicht verzichtet werden. Naturgemäß sind Forderungen nach Steuerentlastungen populär. Eine Politik niedriger Steuern bei einem gleichzeitigen Abbau der Staatsverschuldung entzieht aber einem handlungsfähigen Sozialstaat den Boden. Ein Staat mit einem hohen Niveau an Sozialleistungen, einem dichten Netz an sozialer Infrastruktur und einem ausgebauten Bildungswesen kann aber kein armer oder billiger Staat sein. Deutschland liegt im internationalen Vergleich mit seiner Abgabenbelastungen im Mittelfeld. Es ist deswegen weniger eine ökonomische, sondern vielmehr eine politische Frage, in welche Richtung sich Abgabenniveau und -struktur entwickeln. Die anhaltende Kontroverse über Steuersenkungen oder -steuererhöhungen und über die Verteilung der Steuerlast ist letztlich Ausdruck unterschiedlicher Vorstellungen über die Rolle des Sozialstaates in der Marktwirtschaft. Hinter dem Plädoyer für möglichst niedrige öffentliche Abgaben steht – ausgesprochen oder unausgesprochen – das Verständnis eines nur residualen Sozialstaates, während das Modell eines aktiven, gesellschaftsgestaltenden Sozialstaates eine hohe Abgabenquote erfordert und eine stärkere Besteuerung hoher und höchster Einkommen sowie von Vermögen nicht zum Tabu erklärt. Aber nicht nur die Frage nach dem Niveau von Einnahmen und Ausgaben im Sozialstaat wird strittig diskutiert. In der wissenschaftlichen und politischen Diskussion über die zukünftige Entwicklung der Sozialpolitik wird auch hinterfragt, ob es bei den gegenwärtigen Prinzipien und Strukturen der Finanzierung bleiben kann. Im Mittelpunkt der kritischen Debatte steht das lohnbezogene Beitragssystem der Sozialversicherung; es mehren sich die Stimmen, die die lohnbezogene Beitragsfinanzierung durch andere Finanzierungsverfahren ergänzen bzw. ersetzen wollen. Klammert man jene radikalen Konzeptionen aus der Betrachtung aus, die von einer weitgehenden Ablösung der beitragsfinanzierten Sozialversicherung durch eine steuerfinanzierte Grundrente oder ein bedingungsloses Grundeinkommen ausgehen und damit auf der Finanzierungs- wie auf der Leistungsseite eine völlige Abkehr vom gegenwärtigen System vorsehen (vgl. Kapitel „Einkommen“, Pkt. 9.1), so konzentrieren sich die Überlegungen auf die Ansätze,

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• • • • •



Ökonomische Grundlagen und Finanzierung

die Sozialversicherung stärker durch Zuschüsse aus dem Bundeshaushalt zu finanzieren, um die Beitragsbelastungen und Beitragssätze entweder linear absenken zu können oder begrenzt auf den Bereich der Niedrigentgelte, den Kreis der Beitragszahlenden in Richtung einer Erwerbstätigen- und Bürgerversicherung auszuweiten, neben den Entgelten aus abhängiger Arbeit auch andere Einkommen der Beitragspflicht zu unterwerfen, die Arbeitgeberbeiträge anders zu bemessen, festzuschreiben oder ganz abzuschaffen, die Beitragsbemessung in der Krankenversicherung von den Arbeitsentgelten zu lösen, den Beitrag als eine fixe (Kopf-)Pauschale je Versicherten zu gestalten und einkommensschwache Haushalte durch steuerfinanzierte Zuschüsse aus dem Bundeshaushalt zu entlasten, das Umlageverfahren der Sozialversicherung durch ein Kapitaldeckungsverfahren zu ergänzen oder abzulösen.

7.2

Stärkere Steuerfinanzierung der Sozialversicherung

Die Finanzierung der einzelnen Zweige der Sozialversicherung über bruttolohnbezogene Beiträge mit einem einheitlichen Beitragssatz, der je zur Hälfte von den versicherungs- und beitragspflichtigen Arbeitnehmer:innen und ihren Arbeitgebern gezahlt wird, zählt zu einem tragenden Bestandteil des Sozialversicherungsprinzips und weist unbestreitbare Vorzüge auf: Das Finanzierungsverfahren genießt durch das versicherungstypische Entsprechungsverhältnis von Leistung und Gegenleistung eine hohe Akzeptanz bei den Versicherten und stößt auf einen (im Vergleich zur Steuerzahlung) geringeren Abgabenwiderstand. Zugleich fließen die an die Löhne und deren Entwicklung gekoppelten Einnahmen vergleichsweise stetig und sind gut kalkulierbar. Schließlich verfügen die beitragsfinanzierten Systeme über eine relative finanzielle Autonomie. Da sie nicht in die öffentlichen Haushalte eingegliedert und vom allgemeinen Steueraufkommen abhängig sind, sind sie fiskalpolitisch motivierten Eingriffen und den Begehrlichkeiten anderer öffentlicher Etats weniger direkt ausgesetzt. Einwände gegen dieses Finanzierungssystem beziehen sich vor allem auf den Lohnbezug bei der Beitragserhebung. Die Konzentration der Belastungen auf das Arbeitseinkommen (durch Arbeitnehmer- und Arbeitgeberbeiträge) gilt als beschäftigungshemmend, da der Faktor Arbeit verteuert und deswegen unzureichend nachgefragt werde. Vorgeschlagen wird stattdessen, einen größeren Teil der Sozialversicherungsausgaben durch Steuern zu finanzieren, was Beitragssatzsenkungen ermöglicht, aber im Gegenzug auch Steuererhöhungen (Einkommen- und/oder Verbrauchsteuern) erfordert. Soweit die unterschiedlichen Formen einer Beitragsentlastung und Umfinanzierung auf eine Beschäftigungswirkung zielen, so basieren sie auf der These, die

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Arbeitslosigkeit allgemein sowie die besonderen Beschäftigungsprobleme von Unqualifizierten im Besonderen seien eine Folge überhöhter Arbeitskosten und könnten durch eine Reduzierung der Lohnnebenkosten gelöst werden. Wie vorne analysiert, lässt sich diese These aber empirisch nicht bestätigen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Arbeitgeberbeiträge zur Sozialversicherung nur einen vergleichsweise kleinen Teil der gesamten Personalkosten ausmachen (vgl. Pkt. 3.7.2 dieses Kapitels). Innerhalb der EU zeigt sich, dass zu den Staaten mit einer günstigen Arbeitsmarktlage sowohl jene zählen, die durch Beitragsfinanzierung charakterisiert sind, als auch jene, die ihre Sozialleistungen überwiegend über Steuern finanzieren. In den Ländern mit überwiegend steuerfinanzierten Sozialsystemen, so z. B. in Dänemark, sind zwar die Arbeitgeberbeiträge und Lohnnebenkosten niedrig. Den hohen Steuerbelastungen stehen indes auch hohe Bruttoarbeitsentgelte gegenüber, da für die Beschäftigten die Höhe der verfügbaren Einkommen entscheidend ist. Dies verweist darauf, dass eine Finanzierung über Einkommen- oder Verbrauchsteuern ebenfalls auf die Höhe der Arbeitskosten zurück wirkt. Allerdings lassen sich die Auswirkungen einer steuerbetonten Umfinanzierung der Sozialversicherung auf Niveau und Struktur der Arbeitskosten vorab kaum bestimmen, da sie letztlich im Verteilungskonflikt entschieden werden. So bleibt offen, in welchem Maße die Gewerkschaften beispielsweise einen Anstieg des Preisniveaus, der durch eine Mehrwertsteuererhöhung bewirkt würde, in den Tarifverhandlungen zur Geltung bringen und kompensieren können. Bei einer Reduzierung der Beiträge sind also zwingend die Wirkungen durch die Gegenfinanzierung zu berücksichtigen. Auf der einen Seite erfolgt durch die Beitragssatzsenkungen eine Entlastung von Unternehmen und Beschäftigten mit der Folge sinkender Arbeitskosten bei den Unternehmen und steigender Nettoeinkommen sowie Nachfragepotenziale bei den Beschäftigten. Auf der anderen Seite werden durch Steuererhöhungen (z. B. Anhebung von Einkommensteuer oder Mehrwertsteuer) kontraktive, nachfragemindernde Effekte ausgelöst. Im Einzelnen ist also zu prüfen, wie sich die Entlastungen und Belastungen im Saldo auf die gesamtwirtschaftliche Nachfrage und das Beschäftigungsniveau auswirken. Bei einer gezielten Beitragsentlastung im unteren Einkommenssegment werden die Beschäftigungseffekte zudem durch mögliche Substitutions- und Verdrängungseffekte begrenzt. Wenn die Nachfrage nach Güter und Dienstleistungen insgesamt unverändert bleibt, ist zu erwarten, dass die Subventionierung der Arbeitskosten im unteren Einkommensbereich zu einem Umschichtungsprozess auf dem Arbeitsmarkt führt: Für die Unternehmen ist es rentabel, subventionierte Arbeitsverhältnisse zu Lasten regulärer, voll beitragspflichtiger Arbeitsverhältnisse auszudehnen. Dies kann z. B. bedeuten, dass Vollzeitarbeitsplätze in mehrere subventionierte Teilzeitarbeitsplätze aufgespalten werden.

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7.3

Ökonomische Grundlagen und Finanzierung

Bürgerversicherung

Der Beitragspflicht zur Sozialversicherung unterliegt nur ein Teil der Erwerbsbevölkerung. Zwar ist der versicherungspflichtige Personenkreis in den einzelnen Zweigen der Sozialversicherung unterschiedlich weit gesteckt (vgl. Kapitel „Einkommen“, Pkt. 5.1), doch grundsätzlich gilt, dass Selbstständige und Beamte außerhalb der Systeme stehen. Zusätzliche Lücken entstehen durch die Regelungen der versicherungsfreien geringfügig Beschäftigten sowie durch die Versicherungspflichtgrenze in der Kranken- und Pflegeversicherung, deren Überschreiten einen Wechsel zur Privatversicherung ermöglicht. Aus dieser Konstruktion der Sozialversicherung ergeben sich Probleme der Verteilungsgerechtigkeit, da sich gerade jene Gruppen dem Solidarausgleich entziehen können, die in der Regel ein überdurchschnittlich hohes Einkommen haben und zugleich günstigere Risiken aufweisen. Probleme ergeben sich auch auf der Seite der Finanzierung: Die Analyse des Arbeitsmarktes zeigt, dass jene Beschäftigungsverhältnisse an Bedeutung gewinnen, die nicht der Beitragspflicht unterliegen (vgl. Kapitel „Arbeit und Arbeitsmarkt“, Pkt. 3). Dadurch gehen den Sozialversicherungsträgern Einnahmen verloren. Durch eine Einbeziehung der gesamten (Erwerbs-)Bevölkerung in die Sozialversicherung könnten deshalb die Einnahmenbasis verbreitert, der Beitragssatz gesenkt und zugleich der Sicherungsschutz verbessert werden. In diese Richtung zielen die Vorschläge zur Einführung einer Erwerbstätigen- oder Bürgerversicherung. In der Diskussion über eine Bürgerversicherung spielt ein weiterer Aspekt eine zentrale Bedeutung: Als Bemessungsgrundlage für die Beiträge gelten bisher nur die Einkommen aus abhängiger Beschäftigung, und dies auch nur bis zur Beitragsbemessungsgrenze. Die auch für viele Arbeitnehmer:innen und Rentner:innen immer bedeutender werdenden Gewinn- und Vermögenseinkünfte (wie Zinsen und Mieten) oder Einkünfte aus einer selbstständigen Nebentätigkeit bleiben unberücksichtigt. Durch eine Erweiterung der Bemessungsgrundlage auf alle Einkommen, flankiert durch eine Anhebung der Beitragsbemessungsgrenze, könnte insofern das Beitragsaufkommen erhöht werden. Ob sich diese Grundgedanken des Konzeptes einer Erwerbstätigen- oder Bürgerversicherung umsetzen lassen und welche finanziellen Entlastungen zu erreichen sind, lässt sich nur klären, wenn auf die einzelnen Zweige der Sozialversicherung Bezug genommen wird. Angesichts der großen Unterschiede zwischen den Versicherungszweigen kann es kaum eine einheitliche Lösung geben: Arbeitslosenversicherung In der Arbeitslosenversicherung macht eine Bürgerversicherung mit dem Ziel einer umfassenden Absicherung der gesamten Wohnbevölkerung wenig Sinn, da sich dieses System naturgemäß nur auf den Kreis der Erwerbstätigen bzw. Erwerbslosen bezieht. Aber auch der Einbezug der derzeit nicht versicherungspflichtigen Selbstständigen, Beamten sowie geringfügig Beschäftigten in die Finanzierung der Ar-

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beitslosenversicherung wirft Probleme auf, da nicht klar ist, ob diese Gruppen auch ohne Einschränkungen leistungsberechtigt sind, und zwar nicht nur in Bezug auf die aktiven Leistungen der Arbeitsförderung, sondern auch hinsichtlich der passiven Lohnersatzleistungen. So ist zu berücksichtigen, dass der Status „Arbeitslosigkeit“ bei vormaliger Selbstständigkeit nur schwer zu fassen ist und auch nicht von einem „Lohnersatz“ ausgegangen werden kann. Um dieses Problem zu umgehen, liegt es nahe, es bei den Lohnersatzleistungen beim gegenwärtigen Finanzierungsverfahren und der Leistungsberechtigung zu belassen, die Leistungen der im Prinzip allen offen stehenden aktiven Arbeitsmarktpolitik hingegen über eine alle Erwerbstätigen erfassende, zweckgebundene Arbeitsmarktabgabe zu finanzieren. Rentenversicherung Bei der Rentenversicherung ist zu berücksichtigen, dass in Systemen mit lohn- und beitragsäquivalenten Leistungen den Beitragsmehreinnahmen durch die Versicherungspflicht aller Erwerbstätigen auch Anwartschaften und – mit zeitlicher Verzögerung – Mehrausgaben gegenüberstehen. Dauerhafte finanzielle Entlastungseffekte, die sich in niedrigeren Beitragssätzen niederschlagen könnten, sind also durch eine Erweiterung des Versichertenkreises und/oder eine Anhebung der Beitragsbemessungsgrenze nicht zu erreichen. Auch ist fraglich, ob eine Beitragserhebung auf Vermögenseinkünfte und ein entsprechender Aufbau von Rentenanwartschaften sinnvoll sind. Da Vermögenseinkünfte unabhängig vom Lebensalter entstehen, bedarf es hier keines Einkommensersatzes durch Zahlung von Renten. Aus diesen Gründen sollte das Ziel einer Ausweitung der Versicherungspflicht im Wesentlichen vorrangig darauf abstellen, Sicherungslücken bei Selbstständigen zu schließen. Zielgruppen sind dabei nicht nur die traditionellen Selbstständigen, sondern auch die neuen Formen selbstständiger Tätigkeiten im Rahmen der Plattformökonomie. Auf jeden Fall sind eine Fülle von Übergangsproblemen (z. B. hinsichtlich der Zukunft der Versorgungswerke der freien Berufe, der Bezahlung der Arbeitgeberbeiträge usw.) zu lösen. Als rechtlich wie politisch besonders schwierig erweist sich eine Überführung der Alterssicherung der Beamten in die Rentenversicherung (vgl. Kapitel „Alter“, Pkt. 13.3). Krankenversicherung Bei der Krankenversicherung (und weitgehend analog auch bei der Pflegeversicherung) ergibt sich eine andere Situation, da die Sachleistungen, die das Leistungsspektrum prägen, in keinem Äquivalenzverhältnis zur Höhe der Beitragszahlungen stehen. Mehreinnahmen durch eine Verbreiterung der Bemessungsbasis (Beitragserhebung auf Vermögenseinkünfte und Anhebung der Beitragsbemessungsgrenze) haben also keine entsprechenden Mehrausgaben zur Folge. Zwar führt die Ausweitung der Versicherungspflicht durch Aufhebung der Versicherungspflichtgrenze und durch die Einbeziehung von Selbstständigen und Beamten neben den

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Ökonomische Grundlagen und Finanzierung

Beitragsmehreinnahmen auch zu Leistungsansprüchen und entsprechenden Ausgaben. Da aber die bisher privat Versicherten eine niedrigere Morbidität aufweisen und somit geringere Kosten verursachen, errechnet sich auch insofern finanziell ein Plus. Die Probleme liegen jedoch im Detail (vgl. Kapitel „Gesundheit und Gesundheitssystem“, Pkt. 13.3): •

Dienen Arbeitseinkommen und Kapitaleinkommen gemeinsam als Beitragsbemessungsgrundlage und bleibt es bei einer (möglicherweise auch angehobenen) Beitragsbemessungsgrenze, dann werden die Kapitaleinkommen all jener Versicherten nicht erfasst, die bereits mit ihrem Arbeitseinkommen bzw. ihrer Rente an die Beitragsbemessungsgrenze heran reichen oder diese überschreiten. Kapitaleinkünfte würden also nur bei den Arbeitnehmer:innen mit niedrigem und mittlerem Arbeitseinkommen verbeitragt. • Probleme ergeben sich aber auch bei der Erfassung der Einkünfte aus Vermögen. Nahezu unmöglich ist es, Mieten und Pachten mit Beiträgen zu belegen, da hier häufig Negativeinkünfte anfallen. Und bei den Kapitaleinkünften wie Zinsen, Dividenden, Kursgewinnen ist für die Kassen bei der Beitragserhebung eine enge Zusammenarbeit mit dem Finanzamt unumgänglich, da sie selbst nicht zu einem zweiten Finanzamt werden können. • Durch die Einbeziehung aller Einkommensarten in die Beitragspflicht und durch die Erweiterung des Versichertenkreises wird es – wie angestrebt – zu Beitragssatzsenkungen kommen. Dadurch wird aber zugleich das Prinzip der Beitragsparität zwischen Versicherten und ihren Arbeitgebern gelockert. Da nämlich die Beiträge auf weitere Einkommensarten allein von den Versicherten zu tragen sind, verschiebt sich das Beitragsaufkommen zu Lasten der Versicherten, während die Arbeitgeber uneingeschränkt von den niedrigeren Beitragssätzen profitieren. 7.4

Arbeitgeberbeiträge: Abschaffung oder Umstellung auf einen Wertschöpfungsbeitrag

Die paritätische Finanzierung der Sozialversicherung wird unter dem Eindruck der Debatte um Lohnnebenkosten und Standortwettbewerb immer wieder in Frage gestellt. Dabei steht das Ziel im Mittelpunkt, die von den Arbeitgebern zu zahlenden Lohnnebenkosten zu verringern. Bereits die Finanzierung der Pflegeversicherung, bei der (ab 1995) der Arbeitgeberbeitrag durch den Wegfall eines bezahlten Feiertages kompensiert wurde, ist als ein Schritt in diese Richtung zu bewerten. Varianten eines Ausstiegs aus der paritätischen Beitragsfinanzierung Dieser Effekt einer Entlastung der Arbeitgeber lässt sich auch erreichen, ohne dass das Prinzip der Beitragsparität förmlich geändert wird: Sämtliche Konzepte, die auf

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eine Reduktion der Leistungen der Sozialversicherung und auf eine Ausweitung privater Vorsorge zielen, wirken in diese Richtung. Denn die Belastungen durch die private Altersvorsorge (z. B. im Rahmen der „Riester-Rente“) müssen allein von den Versicherten bzw. Arbeitnehmer:innen aufgebracht werden. Auf einen grundsätzlichen Systemwechsel bei der Finanzierung der Sozialversicherung stellen die Vorstellungen ab, die Arbeitgeberbeiträge auf dem gegenwärtigen Niveau einzufrieren und nur noch die Arbeitnehmerbeiträge (nach oben) variabel zu gestalten. Bei festgeschriebenen Arbeitgeberbeitragssätzen beträfen dann steigende Beitragssätze allein die Arbeitnehmer:innen bzw. die Versicherten. Noch weitergehender wäre der Schritt, die Arbeitgeberbeiträge ganz abzuschaffen und die Bruttolöhne und -gehälter der Beschäftigten zum Zeitpunkt der Umstellung entsprechend zu erhöhen. Da diese Kompensation nur einmal wirkt, müssten dann die Lasten zukünftiger Beitragssatzsteigerungen im Unterschied zur paritätischen Finanzierung ausschließlich von den Versicherten getragen werden. Die Arbeitskosten würden sich durch die Ausbezahlung der Arbeitgeberbeiträge zunächst nicht vermindern. Zu einer relativen Entlastung kommt es erst schrittweise, wenn nämlich die Arbeitgeber nicht mehr von den steigenden Ausgaben und einem entsprechenden Anstieg der Prämien betroffen werden. Ein Ausstieg der Arbeitgeber aus der Sozialversicherungsfinanzierung hätte aber auch sozial- und gesellschaftspolitische Konsequenzen: Die Arbeitgeber müssten sich aus der Selbstverwaltung der Sozialversicherung zurückziehen; das Partnerschaftsmodell der sozialen Marktwirtschaft, das die Verantwortung der Arbeitgeber auch für das System der sozialen Sicherung betont, würde in Frage gestellt. Nicht zuletzt würde das Interesse der Arbeitgeber an einer Ausgaben- und Kostenbegrenzung im Gesundheitssystem entfallen. Wertschöpfungsbeitrag Trotz der Dominanz der Vorstellungen, die Arbeitgeberbeiträge zu reduzieren oder gar ganz abzuschaffen, spielt die Überlegung, die Arbeitgeberbeiträge von der lohnauf eine wertschöpfungsbezogene Bemessungsgrundlage umzustellen, immer noch eine Rolle. Die Forderung nach einer Umbasierung der Arbeitgeberbeiträge beruht auf der Erwartung, dass ein Wertschöpfungsbeitrag • •

zu höheren Einnahmen als der lohnbezogene Arbeitgeberbeitrag führe, da die Löhne bei anhaltender Rationalisierung und technologisch bedingter Arbeitslosigkeit keine ergiebige Finanzierungsquelle mehr seien, eine Kostenentlastung der arbeitsintensiv produzierenden Branchen und Betriebe und eine Mehrbelastung der Branchen und Betriebe bewirke, die mit einem hohen Kapitaleinsatz arbeiten. Dies wird als ein Beitrag zur Schaffung von Arbeitsplätzen im Dienstleistungssektor und zur Verminderung des Einsatzes von arbeitssparenden Technologien in der kapitalintensiven Produktion gesehen.

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Ökonomische Grundlagen und Finanzierung

Die Frage ist, ob diese Erwartungen realistisch sind. Um dies beurteilen zu können, muss das Finanzierungsverfahren des Wertschöpfungsbeitrags verdeutlicht werden: Bei einem Wertschöpfungsbeitrag bezieht sich die Bemessungsgrundlage des Arbeitgeberbeitrags auf die gesamte Wertschöpfung eines Betriebes. Neben den versicherungspflichtigen Löhnen und Gehältern werden deshalb auch die nicht beitragspflichtigen Arbeitsentgelte (oberhalb der Beitragsbemessungsgrenze) sowie zusätzlich Gewinne, Zinsen, Mieten, Pachten erfasst. Hinzu kommen die Abschreibungen. Die Bemessungsgrundlage des Wertschöpfungsbeitrags entspricht damit in etwa der breiten Grundlage der Mehrwertsteuer. Da die neue Bemessungsgrundlage mehr als doppelt so groß ist wie die alte, fällt bei einer aufkommensneutralen Umstellung der Arbeitgeberbeiträge der Beitragssatz deutlich niedriger aus. Durch die Belastung des Faktors Kapital, der bislang von den Arbeitgeberbeiträgen nicht erfasst wurde, kommt es zugleich zu einer verminderten Belastung des Faktors Arbeit. Zwar gleichen sich im Durchschnitt aller Betriebe die Be- und Entlastungen aus, aber bestimmte Betriebe und Branchen der Volkswirtschaft können mit Entlastungen rechnen, während andere Betriebe und Branchen stärker als bislang belastet werden. Die nahe liegende Vermutung, dass durch einen Wertschöpfungsbeitrag vor allem die Dienstleistungsbetriebe gefördert werden und der industrielle Bereich zu den Verlierern zählt, lässt sich empirisch nicht bestätigen. Die Gleichsetzung von Kapitalintensität und Industrie ist falsch. Trotz Rationalisierung und Automation ist die Arbeitsintensität in weiten Teilen des verarbeitenden Gewerbes unverändert hoch. Will man die Be- und Entlastungen ökonomisch bewerten, dann genügt es nicht, nur die prozentuale Veränderung der Beitragsbelastung zu beziffern. Die Kostenzuwächse müssen in den Rahmen der betrieblichen Gesamtkosten gestellt werden. Dann aber erweisen sich die Effekte der Umbasierung als eher marginal. Bezogen auf den Bruttoproduktionswert (Umsatz) bzw. Nettoproduktionswert (Wertschöpfung) der Unternehmen liegen die Be- und Entlastungen bei einer Veränderung der Beiträge zur Rentenversicherung im Schnitt deutlich unter +/− 1 % bzw. +/− 2 %. Bei näherem Hinsehen wird die Geringfügigkeit einsichtig: Kostenverschiebungen ergeben sich allein durch die Veränderung der Arbeitgeberbeiträge zur Rentenversicherung. Diese Arbeitgeberbeiträge machen jedoch nur einen Teil der Lohnnebenkosten, einen noch geringeren Teil der Arbeitskosten und schließlich nur noch ein Minimum der betrieblichen Gesamtkosten aus. Diese Ergebnisse lassen die Erwartung von Beschäftigungswirkungen fraglich erscheinen. Arbeitslosigkeit und technologische Entwicklung lassen sich auch theoretisch nur unzureichend durch das Verhältnis von Kapital- und Lohnkosten erklären: In der betrieblichen Wirklichkeit wird nämlich die Wahl des Produktionsverfahrens nicht primär durch den Preis von Arbeit und Kapital bestimmt. Das Einsatzverhältnis von Kapital und Arbeit ist – zumindest auf mittlere Sicht – weitgehend (technisch) vorgegeben. Unter den Bedingungen internationaler Konkurrenz ist die Anwendung technologischer Neuentwicklungen eine Wettbewerbsgröße, die sich vergleichswei-

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se unabhängig von Verschiebungen des Lohnniveaus ergibt. Zu fragen ist sicherlich auch, ob eine Abbremsung des Substitutionsprozesses von Arbeit durch Kapital, also des Produktivitätsfortschrittes, überhaupt gewollt ist. Die mit der Umbasierung verbundene Erwartung, dass die Bemessungsgrundlage „Wertschöpfung“ weniger konjunkturempfindlich und vor allem ergiebiger ist als die Lohnsumme, geht von der Annahme aus, dass die Zahl der Beschäftigten sinkt und mit dem Prozess der Kapitalintensivierung und Produktivitätssteigerung eine verteilungspolitische Entwicklung einhergeht, in der die Zunahme der Produktivität nicht durch eine Tarifpolitik ausgeglichen wird, die den Verteilungsspielraum für eine Erhöhung der Lohnsätze einsetzt. Für die Gesamtsumme des beitragspflichtigen Arbeitseinkommens ist aber nicht die Menge, d. h. die Zahl der Beschäftigten oder der Arbeitsstunden, sondern immer das Produkt von Menge und Preis, d. h. von Arbeitsstunden und Arbeitsentgelt je Stunde, entscheidend. Wird der durch die Rationalisierung ausgelöste Anstieg der Arbeitsproduktivität durch Lohnerhöhungen weitergegeben, dann bleibt die Lohnsumme eine ergiebige Bemessungsgrundlage. Wenn dieser produktivitätsorientierte Lohnanstieg hingegen unterbleibt, sich also der Zuwachs der Arbeitsproduktivität allein oder hauptsächlich zugunsten der Einkommen aus Unternehmertätigkeit und Vermögen auswirkt und die Lohnquote dauerhaft sinkt, wird durch die Umbasierung des Arbeitgeberbeitrages ein höheres Aufkommen erzielt. 7.5

Finanzierung der Krankenversicherung durch Kopfpauschalen

In die Richtung einer radikalen Umfinanzierung zielt der auf die gesetzliche Krankenversicherung bezogene Vorschlag, den Arbeitgeberbeitrag gänzlich abzuschaffen und zugleich den am Arbeitsverhältnis und Arbeitseinkommen ansetzenden Versichertenbeitrag durch eine allgemeine Pauschalprämie bzw. Kopfpauschale zu ersetzen. Diese Forderung ist in den Jahren nach der Jahrtausendwende intensiv vertreten und diskutiert, aber letztlich verworfen worden. Danach zahlt jeder (erwachsene) Versicherte ohne Berücksichtigung seines Einkommens und seiner finanziellen Leistungsfähigkeit eine gleich hohe Prämie an seine Krankenkasse. Diejenigen, die aufgrund ihres niedrigen Einkommens dadurch finanziell überfordert werden, erhalten einen steuerfinanzierten Ausgleich. Dieses Modell, das eine Vielzahl von Varianten aufweist, ist durch folgende Eckpunkte charakterisiert: •

Die Arbeitgeberbeiträge zur gesetzlichen Krankenversicherung werden zum Umstellungszeitpunkt als Bruttolohn an die Beschäftigten ausbezahlt und versteuert; aus den bisherigen Lohnnebenkosten werden direkte Lohnkosten. Zukünftige Steigerungen der Ausgaben der Krankenversicherung berühren die Arbeitgeber dann nicht mehr, da die Prämien allein von den Versicherten zu zahlen sind.

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Ökonomische Grundlagen und Finanzierung



Die Höhe der kasseneinheitlichen Pauschalprämie errechnet sich, indem die Gesamtausgaben durch die Zahl der Mitglieder dividiert werden. Der am Arbeitseinkommen orientierte soziale Ausgleich der gesetzlichen Krankenversicherung wird abgeschafft, da sich die Prämie unabhängig von der Höhe und Zusammensetzung des Einkommens eines Versicherten errechnet. Es bleibt der Ausgleich zwischen unterschiedlichen Gesundheitsrisiken, da die Prämienhöhe nicht nach Gesundheitsrisiko/Vorerkrankung, Geschlecht und Lebensalter differiert. • Der soziale Ausgleich wird auf das Steuer-Transfer-System übertragen. Versicherte mit geringem Einkommen, die durch die Zahlung der Pauschalprämie überfordert werden, erhalten einen steuerfinanzierten Zuschuss aus dem Bundeshaushalt. Als Maßstab für die Überforderung dient der Belastungssatz zum Zeitpunkt der Umstellung (Arbeitnehmerbeitragssatz in % des Bruttoeinkommens). Da sich die Ausgleichszahlung allerdings nicht am Bruttolohn, sondern am gesamten Haushaltseinkommen orientiert, wird ein Anrechnungsverfahren in Anlehnung an die sozialhilferechtliche Bedürftigkeitsprüfung erforderlich. • Kinder werden entweder automatisch kostenfrei mitversichert – mit der Folge einer Erhöhung der allgemeinen Pauschalprämie, oder für Kinder muss eine spezifische Pauschalprämie gezahlt werden, die dann durch Steuermittel ausgeglichen wird. Die kostenfreie Mitversicherung von nicht erwerbstätigen Ehepartnern entfällt. Das Kopfpauschalenmodell begründet sich zentral aus der Zielsetzung, die Gesundheitskosten von den Lohnkosten abzukoppeln, die Arbeitgeber zu entlasten und positive Arbeitsmarkteffekte einzuleiten. Fraglich ist allerdings nicht nur, ob über diesen Weg Beschäftigung geschaffen wird, offen bleibt auch, ob die steuerfinanzierten Zuschüsse verlässlich und in ausreichender Höhe gezahlt werden und sichergestellt ist, dass all jene Haushalte, bei denen die Pauschalprämie die Belastungsgrenze – gemessen an der bisherigen einkommensabhängigen Beitragszahlung – übersteigt, entlastet werden. Die Dimensionen des erforderlichen Finanzierungsvolumens sind beachtlich: Je nach Modellvariante werden Zuschussbedarfe von bis zu 30 Mrd. Euro fällig. Es spricht wenig dafür, dass Mittel in einer derartigen Größenordnung bereitgestellt und die Steuern entsprechend erhöht werden; noch ungewisser ist, ob die Zahlungen dauerhaft gesichert sind. Angesichts von konkurrierenden Ausgaben im Bundeshaushalt und der Widerstände gegenüber einer Anhebung von Einkommen- und/ oder Verbrauchsteuern dürften die steuerfinanzierten Zuschüsse unter einem ständigen Kürzungsdruck stehen. Sind aber die Zuschüsse nicht ausreichend, geraten die Kassen in ein Defizit und den Versicherten im unteren Einkommensbereich werden höhere Zahlungen zugemutet.

Finanzierungsalternativen

7.6

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Kapitaldeckungsverfahren statt Umlageverfahren

Die demografischen Belastungen in der Alterssicherung lassen Überlegungen aktuell werden, die zu erwartenden Beitragssatzsteigerungen in der Rentenversicherung durch einen teilweisen oder gar vollen Übergang vom Umlage- zur Kapitaldeckungsverfahren zu vermeiden. Eine solche Verschiebung vom Umlage- zum Kapitaldeckungsverfahren ließe sich innerhalb der Rentenversicherung erreichen. Alternativ dazu kann darauf abgestellt werden, die Proportionen zwischen (weiterhin) umlagefinanzierter Rentenversicherung und kapitalfundierter privater und betrieblicher Vorsorge zu Lasten der Rentenversicherung zu verändern. Dieser zweite Weg bestimmt, beginnend mit der „Riester-Reform“, die Alterssicherungspolitik der letzten Jahre (vgl. Kapitel „Alter“, Pkt. 13.1). Es wird aber auch diskutiert, einen kapitalfundierten Staatsfonds neben oder innerhalb der Rentenversicherung einzurichten. Die Vorstellungen, durch Kapitaldeckung die demografischen Belastungen leichter bewältigen zu können, beruhen auf dem Konzept, durch Zuführung von Mitteln einen Kapitalstock aufzubauen und diesen in Zeiten stark besetzter Altersjahrgänge wieder abzuschmelzen. Durch Vorfinanzierung in der Gegenwart sollen also spätere Belastungen umgangen und die Rentner:innen an der Ertragskraft der Kapitalmärkte beteiligt werden. Nun zeigt aber die ökonomische Analyse, dass es eine Ansammlung von Konsumgütern von Periode zu Periode, ein Sparen im individuellen Sinne, in der Volkswirtschaft insgesamt nicht gibt. Aus gesamtwirtschaftlicher Sicht versagt die für den Einzelnen sinnvolle Strategie, zukünftige Einkommensbelastungen durch den Aufbau eines Kapitalstocks und seine spätere Auflösung vorzufinanzieren. Denn bei einem kapitalgedeckten Rentenversicherungssystem, das nahezu die gesamte Bevölkerung absichert, bildet allein das Entwicklungsniveau der Volkswirtschaft im Jahr der Rentenauszahlung, also die dann produzierte Menge an Gütern und Diensten und die daraus erwachsenden Einkommen, die Grundlage für die Alimentierung der älteren Generation (vgl. Pkt. 3.2 dieses Kapitels). Dieser Zusammenhang lässt sich verdeutlichen, wenn gefragt wird, wie ein Kapitaldeckungsverfahren im Unterschied zum Umlageverfahren auf eine wachsende Alterslast reagiert. Wenn die Zahl der Alten im Verhältnis zur Zahl der Erwerbstätigen zunimmt, dann gibt es beim Umlageverfahren zwei Möglichkeiten, die auch miteinander kombiniert werden können: Entweder müssen die Beitragssätze (oder Staatszuschüsse) erhöht, oder das Leistungsniveau der Rentenversicherung muss sinken (z. B. durch eine Umstellung der Rentenformel). Beim Kapitaldeckungsverfahren müssen die Alten bzw. die Lebensversicherung ihr Vermögen liquidieren, da Geld für den laufenden Lebensunterhalt benötigt wird. Allein aus den Vermögenserträgen lassen sich erforderlichen Einkommenssummen nicht erwirtschaften. Wenn nun die Älteren entsparen, d. h. ihre Wertpapiere veräußern und in Konsum umwandeln wollen, die nachfolgende Zahl der jüngeren Sparer und Käufer von Wertpapieren aber

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Ökonomische Grundlagen und Finanzierung

demografisch bedingt sinkt, kann es zu unterschiedlichen Anpassungsreaktionen auf den Märkten kommen: •

Entweder sparen die Jüngeren zusätzlich, was zu einer Einschränkung ihres Konsums führt (diese Minderung des verfügbaren Einkommens hat eine vergleichbare Wirkung für die Jüngeren wie Beitragserhöhungen). • Oder der Realwert der zum Verkauf angebotenen Wertpapiere sinkt infolge des Angebotsüberhangs und des begrenzten Absorptionsvermögens des Kapitalmarktes (dieser Kursverfall entspricht in seinen Auswirkungen für die Alten einer Absenkung des Rentenniveaus). Diese Reaktionen können sich vermischen, sie werden auch nicht schlagartig auftreten, sondern allmählich einsetzen. Dadurch können die demografischen Belastungen gemildert, aber nicht übergangen werden. Immer geht es darum, dass die Konsumnachfrage der Älteren und der Konsumverzicht der Jüngeren zur Deckung gebracht werden müssen. Auch beim Kapitaldeckungsverfahren kommt es im Prinzip zum gleichen Ergebnis, das beim Umlageverfahren durch offene Beitragserhöhung und/ oder Leistungskürzungen erreicht wird. Dies geschieht allerdings nicht durch direkte, politisch bestimmte Maßnahmen wie beim Umlageverfahren, sondern durch (unsichtbare) ökonomische Anpassungsprozesse auf den Kapitalmärkten. Die Belastung könnte bei kapitalfundierten Systemen durch den Export und späteren Import von Kapital gemildert werden. Die Auflösung von Auslandsvermögen erlaubt dann zusätzliche Importe, aus denen der Konsumbedarf der Rentner:innen bestritten werden kann. In diesem Fall kann eine wachsende Alterslast bewältigt werden, ohne dass die inländischen Erwerbstätigen auf Konsum verzichten müssen. Diesen Vorteilen der Kapitalbildung im Ausland steht aber der Nachteil gegenüber, dass die Alterssicherung mit Wechselkursrisiken belastet wird. Die Risiken des Kapitaltransfers ließen sich bei einer Anlage in Hartwährungsländern verhindern, genau diese aber werden mit denselben demografischen Umbrüchen konfrontiert wie Deutschland und sind ihrerseits bestrebt, kapitalgedeckte Vorsorge auszubauen. Eine Problemmilderung könnte auch dann auftreten, wenn die Kapitalfundierung zu einer insgesamt höheren Sparquote sowie zu höheren Investitionen und in Folge zu einem steigenden Sozialprodukt führen würde. Aber die Annahmen, die dieser Argumentation zu Grund liegen, sind auf jeder Stufe der Kausalkette ungewiss; empirische Hinweise, dass Kapitaldeckung einen Wachstumspfad auf höherem Niveau begründet, finden sich nicht. So ist es bei einer stärkeren Kapitaldeckung keinesfalls sicher, dass die gesamtwirtschaftliche Spartätigkeit tatsächlich steigt. Es ist auch möglich, dass die Kapitalbildung für die Alterssicherung durch eine verminderte Spartätigkeit für andere Zwecke (z. B. Erwerb von Grundvermögen) substituiert wird. Schließlich hängen Investitionsrate und Wirtschaftswachstum keinesfalls ausschließlich von der Ersparnis ab, sondern von einer Vielzahl von Faktoren (z. B. Nachfrage, Löhne, Produktivität, Arbeitskräfteangebot, Infrastruktur usw.)

Literaturhinweise

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Ökonomische Grundlagen und Finanzierung

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Regelmäßige Veröffentlichungen Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik, Memorandum Bundesministerium für Arbeit und Soziales: Sozialbudget Bundesministerium für Wirtschaft: Jahreswirtschaftsbericht Jahresgutachten des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung

Zeitschriften DIW-Wochenbericht Ifo-Schnelldienst Monatsberichte der Deutschen Bundesbank Soziale Sicherheit Sozialer Fortschritt Vierteljahreshefte zur Wirtschaftsforschung Wirtschaft und Statistik Wirtschaftsdienst WSI-Mitteilungen Zeitschrift für Sozialreform

Aktuelle Gutachten, Berichte, Analysen zur Finanzierung des Sozialstaats finden sich auf www.sozialpolitik-aktuell.de/finanzierung-berichte.html zum Download.

III

Einkommen

1

Einkommensrisiken und Sozialpolitik

1.1

Einkommen und Lebenslage

In einer entwickelten, hoch arbeitsteiligen Gesellschaft wie der Bundesrepublik Deutschland müssen die meisten für die persönliche Lebensführung notwendigen Güter und Dienstleistungen gekauft werden. Damit wird die Verfügung über Geld, d. h. über ein ausreichendes und kontinuierlich fließendes Einkommen, zu einer grundlegenden Voraussetzung für den individuellen Lebensstandard. Je höher das Einkommen, umso besser ist die Versorgung mit materiellen Gütern und mit Dienstleistungen. Dies betrifft nicht nur die Versorgung mit Nahrungsmitteln und Bekleidung, die Größe und Qualität der Wohnung, die Ausstattung mit Gebrauchsgütern, den Besitz eines Kraftfahrzeuges, sondern auch Freizeit und Urlaubsgestaltung, soziale Kontakte und Kommunikation, Bildung, kulturelle Betätigung sowie die Inanspruchnahme persönlicher und sozialer Dienstleistungen. Ganz allgemein lässt sich sagen, dass heute eine Teilhabe am wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Leben ohne ausreichendes Einkommen nicht möglich ist. Aber nicht nur die Höhe des Einkommens ist für die Lebenslage entscheidend, es kommt auch darauf an, wie die Menschen ihr Einkommen erhalten. Denn es macht einen qualitativen Unterschied, ob ein eigenes, kontinuierliches Arbeitseinkommen bezogen wird, über das man selbst verfügen kann, oder ob die Existenzsicherung von familiären Unterhaltsleistungen, z. B. des Ehemannes für seine nichterwerbstätige Frau, abhängig ist. Es ist auch ein Unterschied im Grad der Eigenständigkeit, Verlässlichkeit und Planbarkeit der Lebensführung, ob z. B. ältere Menschen mit einer Rente rechnen können, die den Lebensstandard sichert, auf die ein Rechtsanspruch besteht und die jährlich der allgemeinen Einkommensentwicklung angepasst wird, oder aber ob die Betroffenen auf bedürftigkeitsgeprüfte, womöglich von Ermessensentscheidungen abhängige Fürsorgeleistungen angewiesen sind, die gerade einmal das Existenzminimum abdecken. Als entwürdigend kann es empfunden werden, von privater Wohltätigkeit oder karitativer Barmherzigkeit abhängig zu sein. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 G. Bäcker et al., Sozialpolitik und soziale Lage in Deutschland, https://doi.org/10.1007/978-3-658-06249-1_3

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166

Einkommen

Deutschland zählt zu den reichsten Ländern der Welt. Betrachtet man die Höhe des Volkseinkommens, so dürften eigentlich keine Einkommens- und Versorgungsprobleme bestehen. Das Volkseinkommen beträgt rund 2,5 Billionen Euro (2018), das entspricht bei 82,7 Millionen Einwohnern einem Pro-Kopf-Einkommen von etwa 30 000 Euro im Jahr. Doch solch ein Durchschnittswert sagt wenig aus. Statistische Mittelwerte ebnen Unterschiede in der Einkommensverteilung rechnerisch ein, machen soziale Ungleichheiten unkenntlich. Auch bei der Vermögensverteilung macht es keinen Sinn, aus der Gesamtsumme der Geldvermögen einen pro-Kopf Wert von fast 70 000 Euro abzuleiten, denn ein kleiner Teil der Bevölkerung verfügt über ein deutlich höheres Geldvermögen, während der größte Teil wesentlich weniger aufweist – bis hin zur Verschuldung. Eine Gleichverteilung von Einkommen und Vermögen gibt es nicht und kann es in einer Markt- und Leistungsgesellschaft auch nicht geben. Soziale Ungleichheiten prägen das Gesicht heutiger Gesellschaften. Die grundlegende Frage ist allerdings, wie groß die Unterschiede zwischen „unten“ und „oben“ sind, wie stark die „Mitte“ der Gesellschaft besetzt ist und welche Entwicklung im Zeitverlauf sich zeigt, ob also die Ungleichheit gewachsen ist oder sich verringert hat. Bei der Verteilung des erwirtschafteten Wohlstands geht es dabei nicht nur um die absolute Höhe der Einkommen, sondern vor allem auch um die relative Stellung von einzelnen Personen, Personengruppen oder Haushalten in der Hierarchie der Einkommen und Vermögen wie auch der Lebensbedingungen insgesamt. Untergliedert man die Bevölkerung nach demografischen und sozialen Merkmalen, dann fällt auf, dass es signifikante Unterschiede u. a. zwischen den Geschlechtern, Altersgruppen, Haushaltszusammensetzungen, Nationalitäten und Regionen gibt. Gleichermaßen signifikante Abweichungen zeigen sich, wenn man nach dem schulischen und beruflichen Bildungsabschlusses, dem Erwerbsstatus (Erwerbstätige, Arbeitslose, Rentner:innen), der berufliche Stellung (Arbeiter:in, Angestellte, Beamt:in, Selbstständige) oder den Tätigkeitsanforderungen (Qualifikation) unterscheidet. Zu fragen ist auch, ob es inmitten einer Wohlstandsgesellschaft Armut gibt. Armut wie auch Reichtum sind dabei immer relative Tatbestände. In einem wohlhabenden Land wie Deutschland beginnt Armut nicht erst bei Hunger und Unterernährung, sondern beim Unterschreiten des soziokulturellen Existenzminimums, das sich nach dem allgemeinen Einkommens- und Lebensstandardniveau bemisst. In einer Marktwirtschaft stellt die Beteiligung am Erwerbsprozess die Grundlage der Einkommenserzielung dar. Die Markteinkommen – das sind Einkommen aus abhängiger Arbeit (Löhne und Gehälter) sowie Gewinne und Vermögenseinkünfte – sind ein Spiegelbild der am Markt erstellten und mit Preisen bewerteten Güter und Dienstleistungen. Die Entstehungsseite des Sozialprodukts, also die Produktion, und die Verteilungsseite des Sozialprodukts, also die Einkommenserzielung, bedingen sich gegenseitig. Wenn aber Einkommensansprüche nur durch den Einsatz von Kapital und Arbeit erwachsen, sind mit dieser Einkommensverteilung zwangsläufig Probleme verbunden: Wovon sollen die Güter des täglichen Bedarfs und die Mieten

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gezahlt werden, wenn Menschen in die Arbeitslosigkeit entlassen werden und das Arbeitseinkommen entfällt ? Wie bestreiten Erwerbsunfähige ihren Lebensunterhalt ? Welches Einkommen erhalten Ältere, die aus dem Beruf ausgeschieden sind ? Wie kann die Erziehung und Ausbildung von Kindern finanziert werden, wenn sich das Erwerbseinkommen nicht nach der familiären Situation richtet ? Und wie ist es mit der Einkommenssicherung bestellt, wenn Beschäftigte krank werden, ihr Arbeitseinkommen verlieren und zugleich die Rechnungen für ärztliche Behandlung und Arzneimittel bezahlen müssen ? Diese Fragen machen deutlich, dass die Einkommensverteilung über den Markt systematische Lücken aufweist und durch sozialpolitische Regelungen korrigiert und ergänzt werden muss. Wenn davon ausgegangen wird, dass Höhe und Verteilung der Einkommen für die Lebenslage der Menschen von entscheidender Bedeutung sind, so heißt dies allerdings nicht, die Verfügung über Geld sei der ausschließliche Bestimmungsfaktor für die individuelle Lebenslage, und die Höhe des Volkseinkommens sei der treffende Indikator für die Wohlfahrt einer Gesellschaft. Um eine Aussage über die Lebensqualität treffen zu können, müssen die Lebens-, Arbeits und Umweltbedingungen, unter denen das Einkommen erzielt wird, in Rechnung gestellt werden. Von entscheidender Bedeutung ist auch, welches Maß an öffentlicher Infrastruktur bereitsteht und ohne direkte Bezahlung genutzt werden kann. Das betrifft so wichtige Bereiche wie das Bildungswesen, die Versorgung mit sozialen Diensten und Einrichtungen, Kultur und Freizeitgestaltung sowie das öffentliche Verkehrswesen. Gleichermaßen ist zu berücksichtigen, wofür das Einkommen verwandt wird bzw. verwandt werden muss. Zu fragen ist nach den Qualitäten der Einkommensverwendung und nicht nur nach deren Quantitäten. Dieser Zusammenhang wird beispielhaft deutlich, wenn in der Gesellschaft der Produktions- und Einkommenszuwachs um den Preis von Umweltschädigungen erfolgt und ein großer Teil des zusätzlichen Einkommens nur dazu dient, um die Folgekosten dieser Entwicklung, z. B. durch nachträglichen Umweltschutz, abzudecken. Gleichermaßen fragwürdig ist ein Produktions- und Einkommenszuwachs, der um den Preis wachsender sozialer Ungleichheiten und Spannungen erreicht wird. Die sozialen Auswirkungen einer solchen Wachstumsstrategie können dann auch zu finanziellen Folgekosten führen, wenn etwa die Kriminalität steigt und wachsende Ausgaben für öffentliche und private Sicherheit (Mehraufwendungen für Polizei, Wachdienste, Alarmanlagen) anfallen. Schließlich ist auch immer zu bilanzieren, mit welchen individuellen Anforderungen und Belastungen ein bestimmtes Einkommen erzielt wird. Ein Einkommen, das mit niedrigen Wochenarbeitszeiten, einem ausgedehnten Jahresurlaub und unter humanen Arbeitsbedingungen erreicht wird, ist anders zu bewerten als ein Einkommen, das mit hohen Arbeitsbelastungen, mit langen und ungünstigen Arbeitszeiten oder mit Überstunden und Nebentätigkeiten verbunden ist. Arbeiten in einer Familie beide Elternteile kann der tatsächliche Zuwachs an disponiblem Einkommen recht gering sein, denn die Kosten für Kinderbetreuung, für ein zweites Kfz im Haushalt, für außerhäusiges Essen usw. müssen gegengerechnet werden.

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Einkommen

Niveau und Wachstum des Volkseinkommens lassen sich deshalb nicht automatisch mit einer Erhöhung des Wohlstands und der Lebensqualität gleichsetzen. Unberücksichtigt bleibt bei dieser monetär-statistischen Betrachtung zudem die gesamte Versorgung mit nicht-marktlichen Gütern und Dienstleistungen. Denn auch in entwickelten Gesellschaften kommt dem Sektor unbezahlter Arbeit eine hohe Bedeutung zu. Zu erwähnen sind die Familien, Erziehungs- und Eigenarbeit, die Nachbarschaftshilfe und das soziale Ehrenamt (vgl. Kapitel „Soziale Dienste“, Pkt. 8). All diese Tätigkeiten bleiben, weil sie nicht formell entlohnt werden, außerhalb der Berechnung des Volkseinkommens. Werden sie hingegen erwerbsförmig gestaltet (wenn beispielsweise bislang ehrenamtlich Tätige angestellt und für ihre Arbeit bezahlt werden) erhöhen sich rein rechnerisch Sozialprodukt und Volkseinkommen, ohne dass dies eine entsprechende Verbesserung der Versorgungs- und Wohlfahrtslage der Gesellschaft bedeuten muss. Unberücksichtigt bleiben bei der Einkommensmessung durch die amtliche Statistik auch jene Einkommen, die durch Schatten- oder Schwarzarbeit entstehen. Über die Verteilung des erwirtschafteten Wohlstandes in einer Gesellschaft kann nicht „objektiv“ entschieden werden, ausschlaggebend sind sowohl die Verhältnisse auf dem Arbeits- und Kapitalmarkt als auch die Ergebnisse von politischem Handeln. Weil es gegensätzliche Interessen gibt, sind Verteilungskonflikte strukturell angelegt: So streiten Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände über Lohnerhöhungen und oftmals wird ein Kompromiss erst nach einem Streik erzielt. Und in der Politik herrschen höchst unterschiedliche Vorstellungen über die Höhe von Steuern auf der einen Seite und von Sozialleistungen auf der anderen Seite. Die Liste der strittigen Themen ist lang. So muss politisch entschieden werden, wie hoch das sozial-kulturelle Existenzminimum sein soll. Kontrovers ist die Frage nach Besteuerung von Vermögen und Erbschaften. Die Beispiele ließen sich fortsetzen. Es zeigt sich: Parteien kämpfen mit ihren verteilungspolitischen Konzepten um politische Mehrheiten; Verbände aller Art suchen ihre Interessen zur Geltung zu bringen. Wenn von Einkommensrisiken in einer Marktwirtschaft die Rede ist, dann sind verschiedene Problemdimensionen zu unterscheiden: •

Fehlendes Erwerbseinkommen Menschen, die nicht erwerbsfähig sind oder denen aus anderen Gründen der Zugang zum Arbeitsmarkt versperrt ist, sind ohne einen Einkommenszufluss aus einer anderen Quelle in ihrer Existenz gefährdet. • Ausfall des Erwerbseinkommens Wenn das Erwerbseinkommen ausfällt, weil wegen Krankheit, Invalidität oder fortgeschrittenem Alter Arbeit nicht (mehr) möglich ist, weil wegen der Geburt von Kindern die Erwerbstätigkeit unterbrochen wird oder weil Arbeitsplätze fehlen und Arbeitslosigkeit entsteht, stellt sich zwingend die Frage nach einem (zumindest partiellen) Ersatz des ausgefallenen Arbeitseinkommens. Um diese Funktion eines Einkommens- bzw. Lohnersatzes zu erfüllen, muss sich die Höhe

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der Leistung an der Höhe des vormaligen Erwerbseinkommens orientieren. Und hinsichtlich der Dauer des Bezugs besteht Bedarf nach einer zeitlich begrenzten oder unbefristeten (so bei der Alterssicherung) Einkommensleistung. • Unstetigkeit und Unsicherheit des Erwerbseinkommens Da die Lebensführung zu einem großen Teil durch fixe Kosten bestimmt wird (z. B. Mietzahlungen), kann eine Unstetigkeit der Erwerbseinkommen sehr schnell zu Problemen führen. Lebensführung und -planung werden in Frage gestellt, wenn ungewiss ist, ob im nächsten Monat noch mit einem Einkommen gerechnet werden kann. Dem Problem einer fehlenden Stetigkeit der Einkommenserzielung kommt vor allem bei selbstständigen Erwerbseinkünften Bedeutung zu, da die Betroffenen das Unternehmensrisiko alleine zu tragen haben. Aber auch bei Arbeitnehmerverdiensten spielt dieses Problem eine wachsende Rolle, nämlich bei den sich ausbreitenden atypischen Formen von Erwerbstätigkeit wie Saisonarbeit, Scheinselbstständigkeit, Arbeit auf Basis von Honorar- oder Werkverträgen, befristete Beschäftigung oder bei Beschäftigungsverhältnissen mit ergebnisorientierter Entlohnung. • Fehlende Bedarfsangemessenheit des Erwerbseinkommens Die Höhe des Arbeitseinkommens ist daraufhin zu bewerten, ob es ausreicht, um auch spezifischen Bedarfslagen gerecht zu werden. Der Einkommensbedarf richtet sich dabei stark nach der familiären und sozialen Situation, in der die Menschen leben. Versorgung, Erziehung und Ausbildung von Kindern beispielsweise erhöhen den Einkommensbedarf. Auch bei Krankheiten steigt der Einkommensbedarf, denn nicht nur das Arbeitseinkommen entfällt, sondern es entstehen zugleich Mehraufwendungen für medizinische und pflegerische Leistungen, die in vielen Fällen den finanziellen Dispositionsspielraum der Betroffenen bei Weitem übersteigen. • Fehlende Leistungsangemessenheit des Erwerbseinkommens Wenn sich in einer Marktwirtschaft der finanzielle Ertrag einer Teilhabe am Erwerbsleben nach dem Kriterium der „Leistung“ richtet, dann bleibt stets offen, ob die Höhe des Arbeitseinkommens tatsächlich in einem als angemessen bzw. „gerecht“ empfundenen Verhältnis zur Arbeitsleistung und zur Ausbildung steht. Eine anspruchsvolle Tätigkeit mit einer hohen Qualifikation und mit einer hohen Verantwortung sollte besser als eine einfache Tätigkeit bezahlt werden. Aber was ist eine „anspruchsvolle“ und was eine „einfache“ Tätigkeit ? Wie werden die Maßstäbe gesetzt ? Und wie lässt es sich z. B. rechtfertigen, dass anspruchsvolle technische Tätigkeiten, die überwiegend von Männern ausgeübt werden, deutlich besser bezahlt werden als anspruchsvolle soziale Dienstleistungen, die überwiegend von Frauen ausgeübt werden ?

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1.2

Einkommen

Existenzsicherung durch Erwerbsarbeit und familiäre Unterstützung

Die Gefahr, kein ausreichendes oder überhaupt kein Arbeitseinkommen zu erhalten, hängt eng mit den Bedingungen und Voraussetzungen eines marktwirtschaftlichen Wirtschaftssystems zusammen. Kennzeichnend für diese Wirtschaftsordnung ist der Tatbestand, dass der weit überwiegende Teil der Bevölkerung seinen Lebensunterhalt nur durch abhängige (Lohn)Arbeit sichern kann. Nahezu 90 % aller Erwerbstätigen sind heute abhängig beschäftigt. Die Zahl der Selbstständigen hat sich in den letzten Jahrzehnten ständig verringert, steigt allerdings seit einigen Jahren wieder leicht an. Mangels anderer, von der individuellen Arbeitsleistung unabhängiger Einkommensarten (Vermögens- und Gewinneinkünfte) besteht ein mehr oder minder starker Zwang, die Arbeitskraft auf dem Arbeitsmarkt anzubieten, um als Gegenleistung für die Tätigkeit ein entsprechendes Entgelt zu erhalten. Der Arbeitslohn ist damit die wesentliche Einkommensquelle, mit der die zum Lebensunterhalt notwendigen Güter und Dienstleistungen gekauft werden können. Die (Verkaufs)Chancen auf dem Arbeitsmarkt bestimmen ganz entscheidend die Lebensbedingungen der Bevölkerung. Diese Koppelung von Einkommen und abhängiger Arbeit hat weitreichende soziale Konsequenzen: Während Vermögenseinkommen unabhängig von der persönlichen und sozialen Situation des Eigentümers fließen, z. B. werden Zinsen auch bei Krankheit und im Alter gezahlt, geraten abhängig Beschäftigte in Existenzprobleme, wenn der Einsatz der Arbeitskraft vorübergehend oder dauerhaft nicht möglich ist. Aber auch für „kleine“ Selbstständige, die im eigenen Betrieb bzw. als „Solo-Selbstständige“ tätig sind, führen Krankheit oder Invalidität zu existenziellen Einkommensrisiken. Den Einkommensrisiken bei abhängiger Erwerbsarbeit kann individuell nur begrenzt ausgewichen werden, denn in der Regel stehen weder ausreichende Vermögenseinkünfte zur Verfügung, noch lässt sich der Einkommensbedarf durch Eigenarbeit ersetzen: Als Alternative zu den Arbeitseinkommen böten sich arbeitsfreie Einkünfte aus Vermögen (Zinsen, Mieten, Vermögensauflösung) oder Gewinnen an. Zwar haben in den hoch entwickelten Industriegesellschaften auch Arbeitnehmerhaushalte Geldund Grundvermögen bilden können. Aber die durchschnittliche Höhe der Geldanlagen reicht allenfalls aus, um für wenige Monate den Ausfall des Arbeitseinkommens zu ersetzen und den Lebensstandard zu sichern. Im Bereich der Produktion von Gütern spielen Eigenarbeit und Haushaltsproduktion keine Rolle mehr. Die Versorgung mit Nahrungsmitteln, mit Gütern des täglichen Bedarfs und langlebigen Gebrauchsgütern verläuft nahezu ausschließlich über den Markt. Anders sieht es bei Dienstleistungs- und Handwerkstätigkeiten aus, die sowohl auf dem Markt angeboten, aber auch im hohen Maße in Eigenarbeit erbracht werden. Eine verstärkte individuelle bzw. familiäre Erbringung von Dienstleistungen kann den Einkommensbedarf aber nur mindern und nicht ersetzen. Ein Mehr an

Einkommensrisiken und Sozialpolitik

171

Eigenarbeit kann auch mit zusätzlichem Einkommensbedarf verbunden sein, wenn man z. B. an die Ausstattung mit technischen Gerätschaften denkt, die für ein „do it yourself “ erforderlich sind. Der traditionelle, ursprüngliche Weg, mit Einkommensproblemen umzugehen, bestand in der Unterstützung der nicht Erwerbstätigen bzw. nicht Erwerbsfähigen durch ihre Familie. Bis weit in das 20. Jahrhundert hinein waren es die Familien, die den Lebensunterhalt ihrer älteren und kranken Angehörigen durch Unterhaltsleistungen gesichert haben. Die in Deutschland in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einsetzende Sozialversicherungspolitik war zunächst nur als Ergänzung, nicht aber als Ersatz der Familienhilfe angelegt. Schon bald zeigte sich, dass im Zuge von Industrialisierung und Modernisierung der Gesellschaft die traditionellen familiären Unterstützungssysteme brüchig wurden. Zur familiären Hilfe müssen die objektive Fähigkeit und die subjektive Bereitschaft bestehen. Die Fähigkeit zur Unterstützung hängt zentral von der Einkommensposition des „Ernährers“ ab. Insofern bleiben Höhe und Kontinuität von familiären Unterhaltsleistungen eng an Höhe und Kontinuität der Erwerbseinkommen gebunden. Beim Ausfall des Ernährers infolge von Krankheit, Arbeitslosigkeit, Erwerbsunfähigkeit oder Tod gerät unmittelbar die gesamte Familie in Existenznöte. Ein Rückgriff auf entfernte Verwandte ist zur Abdeckung von Einkommensausfällen nur sehr begrenzt möglich und muss, zumal wenn es um dauerhafte Leistungen geht, als gering eingeschätzt werden. Bei der Bereitschaft zur Unterstützung muss zudem berücksichtigt werden, dass der Wandel von Familienstrukturen und Lebensformen (Auflösung des Mehrgenerationenhaushalts, sinkende Kinderzahl, Zunahme der Alleinerziehenden, sinkende Heirats- und wachsende Scheidungshäufigkeit, zunehmende berufliche und regionale Mobilität, steigende Lebenserwartung) eine Auflockerung traditioneller Verpflichtungen eingeleitet hat (vgl. Kapitel „Familie und Kinder“, Pkt. 2). Der Trend zur Individualisierung der Lebensformen und das Bestreben zum Abbau finanziell bestimmter persönlicher Abhängigkeiten haben dazu geführt, dass sich in modernen Gesellschaften familiäre Unterhalts- und Unterstützungsleistungen weitgehend auf Leistungen zwischen (Ehe)Partnern einerseits und zwischen Eltern und ihren Kindern andererseits beschränken. In jeder Gesellschaft muss nicht nur Erwerbsarbeit, sondern gleichermaßen familiäre Erziehungs- und Hausarbeit geleistet werden. Diese Reproduktionsarbeit erfolgt unentgeltlich und außerhalb des Arbeitsmarktes. Entsprechend der tradierten geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung ist Erziehungs- und Hausarbeit auch heute noch im Wesentlichen die Arbeit von Frauen. Das gilt gleichermaßen für die häusliche Pflege von älteren Angehörigen. Zwar verbindet ein großer und wachsender Teil von Frauen Berufstätigkeit und Kindererziehung, aber die Erwerbsbiografien sind häufig durchbrochen. Fehlt die aus marktförmiger Erwerbstätigkeit gewonnene Einkommensgrundlage, sind (Ehe)Frauen auf Unterhaltsleistungen ihres erwerbstätigen (Ehe)Mannes angewiesen. Nach diesem Modell übernimmt der Ehemann die Ernährer- und Versorgerfunktion. Aber auch die Arbeitseinkommen der großen Zahl der

172

Einkommen

teilzeitbeschäftigten (Ehe)Frauen reichen zur individuellen Existenzsicherung kaum aus. Entscheidende Größe zur Sicherstellung des Lebensunterhalts von Mann und Frau ist das gemeinsam erworbene Haushaltseinkommen. Aus dem von den Eltern erzielten Haushaltseinkommen müssen auch die Aufwendungen für die Kinder bestritten werden, da diese in der Regel über kein eigenes Einkommen verfügen. Eltern sind gegenüber minderjährigen oder erwachsenen Kindern, die wegen einer weiterführenden Ausbildung noch nicht erwerbstätig sind, zum Unterhalt verpflichtet. Familie und Ehe sind insofern bis heute eine grundlegende Versorgungsinstanz. Das System der privatrechtlichen Unterhaltspflichten zwischen den Ehegatten untereinander sowie von Eltern gegenüber ihren Kindern und von Kindern gegenüber ihren Eltern ist im Einzelnen im Bürgerlichen Gesetzbuch geregelt und wird durch die Rechtsprechung konkretisiert. 1.3

Sozialpolitik als Einkommensverteilungspolitik

Die mit der Erwerbsarbeit in Marktwirtschaften verbundenen Einkommensrisiken bilden den systematischen und historischen Ausgangspunkt für sozialstaatliche Interventionen und Leistungen. Sozialpolitik ist immer auch Einkommensverteilungspolitik. Durch die Zahlung von Sozialeinkommen werden die Ergebnisse der Marktverteilung korrigiert und die strenge Koppelung von Einkommen und Erwerbsarbeit gelockert: So bleibt der Lebensunterhalt unter bestimmten Bedingungen auch dann gesichert, wenn wegen Arbeitslosigkeit, Alter, Krankheit oder Invalidität nicht (mehr) gearbeitet werden kann. Damit mindert sich der unbedingte Angebotszwang der Arbeitskraft; der Warencharakter der Arbeitskraft wird eingeschränkt (Dekommodifizierung), jedoch nicht außer Kraft gesetzt. Der Grad der Dekommodifizierung hängt dabei davon ab, in welchem Maße der Anspruch auf Sozialeinkommen und dessen Leistungshöhe von einer vorangegangenen Erwerbstätigkeit abhängig sind. Sozialpolitik als Einkommensverteilungspolitik setzt auf unterschiedlichen Ebenen an, hat unterschiedliche Ziele und bedient sich unterschiedlicher Instrumente. Grundlegend ist die auch in den folgenden Ausführungen vorgenommene Abgrenzung von Arbeitseinkommen und Sozialeinkommen: Niveau und Struktur der Arbeitseinkommen, so wie sie auf dem Arbeitsmarkt erzielt werden, geben Auskunft über die primäre Verteilung. • Diese Primäreinkommen werden durch die Zahlung von Sozialeinkommen nachträglich korrigiert. Im Rahmen dieser Sekundärverteilung erhalten jene Personen ein Einkommen, die kein Arbeitseinkommen (mehr) beziehen oder aber deren Arbeitseinkommen nicht ausreicht, um unabweisbare persönliche Bedarfslagen abzudecken. Der Staat finanziert die Sozialeinkommen im Wesentlichen durch Steuern und Beiträge, die vom Arbeitseinkommen abgezogen werden und dieses entsprechend verringern. •

Einkommensrisiken und Sozialpolitik

Abbildung III.1

173

Einkommensarten: Ausgewählte Beispiele

Einkommensarten: Ausgewählte Beispiele Erwerbseinkommen Abhängige Arbeit

Kapital

Sozialeinkommen Sozialversicherung

Private Übertragungen Kindesunterhalt

Löhne

Zinsen

Renten

Ehegattenunterhalt

Gehälter

Gewinne

Arbeitslosengeld

Freiwillige Zahlungen

Dividenden

Krankengeld

Mieten/ Pachten

Grundsicherung SGBII/Hartz IV Sozialhilfe

Weitere Transfers Direkt Kindergeld

Indirekt Steuerfreibeträge

Elterngeld

Bei der Abgrenzung der Primärverteilung von der nachträglich einsetzenden Sekundärverteilung muss berücksichtigt werden, dass es eine isolierte Betrachtung der Primärverteilung letztlich nicht geben kann, weil zwischen der Verteilung der Arbeitseinkommen und der sozialstaatlichen Sekundärverteilung ein Wechselverhältnis besteht. Die umverteilten Einkommensströme wirken in einem bestimmten, freilich quantitativ kaum ermittelbaren Ausmaß auf die primäre Einkommensentstehung, -verwendung und -verteilung im Arbeits- und Produktionsprozess zurück. Ein Beispiel: Die Arbeitslosenunterstützung dämpft den bei Massenarbeitslosigkeit entstehenden Druck auf die Arbeitslöhne. Der lohnsenkende Konkurrenzmechanismus der „industriellen Reservearmee“ der Arbeitslosen wird eingeschränkt, wenn sie einen ausreichenden Einkommensersatz erhalten und nicht unter dem Zwang stehen, auch die Arbeitsplätze mit den niedrigsten Löhnen annehmen zu müssen. Es ist diese Rückwirkung der Sozialleistungen auf die Arbeitslöhne, die den Anstoß gibt für die ständigen Auseinandersetzungen in der Sozialpolitik um Höhe, Dauerhaftigkeit und Reichweite der Arbeitslosenunterstützung. Ein vergleichbarer Zusammenhang besteht zwischen der Höhe der Grundsicherung, mit der das Existenzminimum der Gesellschaft definiert wird, und den Arbeitseinkommen, insbesondere in den unteren Lohngruppen.

174

Einkommen

Bei den Sozialeinkommen handelt es sich weit überwiegend um direkte Geldzahlungen, um monetäre Transfers, die die Einkommenslage der Leistungsempfänger:innen unmittelbar verbessern. Bei den indirekten monetären Leistungen erfolgt die Verbesserung der Einkommenslage durch steuerliche Erleichterungen: Beim Vorliegen bestimmter sozialer Tatbestände, z. B. beim Unterhalt von Kindern, mindert sich die Steuerschuld. Einkommenswirkungen gehen aber auch von der Bereitstellung sozialer und gesundheitlicher Sach- und Dienstleistungen aus: Gesundheitliche Leistungen wie ärztliche Behandlung, Arzneimittelversorgung, Unterbringung und Behandlung im Krankenhaus oder die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe können weitgehend kostenlos in Anspruch genommen werden und verbessern somit die Einkommenslage der Betroffenen mittelbar. Es handelt sich um reale Transfers, deren Nutzung sich nach dem persönlichen Bedarf richtet. Weil die sozialen Sach- und Dienstleistungen außerhalb des Markt-Preis-Mechanismus stehen und für ihre Inanspruchnahme kein Preis oder nur nicht kostendeckende Gebühren gezahlt werden müssen, entstehen den Betroffenen geldwerte Vorteile. Private Ausgaben werden eingespart, soweit die kostspieligen sozialen Sach- und Dienstleistungen überhaupt aus dem laufenden Arbeits- oder Sozialeinkommen finanziert werden können. Es wäre zwar denkbar, die Einkommen der Betroffenen durch spezifische Transfers so weit aufzustocken, dass die sozialen und medizinischen Dienste auf dem Markt gekauft werden könnten. Die Erfahrungen zeigen jedoch, dass die Versorgung mit diesen Leistungen über den Markt weder in quantitativer noch in qualitativer Sicht zu tragbaren Ergebnissen führt (vgl. Kapitel „Gesundheit und Gesundheitssystem“, Pkt. 11 und Kapitel „Soziale Dienste“, Pkt. 2.2). Die Einkommens(um)verteilungspolitik zielt zunächst einmal nicht auf die Veränderung der Ursachen der Einkommensrisiken, wie z. B. Krankheit, Invalidität und Arbeitslosigkeit. Diese Risiken werden als gegeben vorausgesetzt und ihre Folgen durch Sozialleistungen ausgeglichen (kompensatorische Politik). Eine präventive oder vorbeugende Politik versucht hingegen, die Entstehung von Einkommensrisiken zu verhindern, d. h. Arbeitslosigkeit zu vermeiden, Frühinvalidität, Krankheiten und Unfälle zu begrenzen. Zwischen kompensatorischer und präventiver Strategie muss allerdings kein Gegensatz bestehen; die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall und die Zahlung von Krankengeld beispielsweise sind Voraussetzungen dafür, dass Krankheiten auskuriert und womöglich Folgeerkrankungen vermieden werden. Auch wenn der kompensatorische Einkommensausgleich die Ursachen für fehlende oder unzureichende Arbeitseinkommen nicht aufgreift, so bedeutet doch jede Lockerung des unbedingten Angebotszwangs der Arbeitskraft infolge von Sozialeinkommen ein Stück reale Freiheit für die Betroffenen. Kranke müssen erst dann wieder arbeiten, wenn dies ihr Gesundheitszustand erlaubt; Arbeitslose brauchen nicht jeden Arbeitsplatz anzunehmen; Erwerbsgeminderte haben Anspruch auf eine Rente, wenn eine Arbeit aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr möglich ist.

Einkommensverteilung

175

Sozialpolitik als Einkommensumverteilung sichert den Lebensunterhalt der Menschen und ermöglicht dadurch die Teilhabe aller am materiellen Wohlstand der Gesellschaft. Jedoch bedeutet gesellschaftliche Teilhabe mehr als nur die Verfügung über Einkommen. Es geht um die gleichberechtigte Beteiligung am wirtschaftlichen, sozialen, politischen und kulturellen Leben. Gesellschaftsgestaltende Sozialpolitik kann sich deshalb nicht darin erschöpfen, möglichst hohe Transferleistungen zu garantieren. Verbesserung von Bildung und Ausbildung, Abbau von Arbeitslosigkeit, Förderung beim Zugang zum Arbeitsmarkt, Ausbau der öffentlichen Kinderbetreuung – all dies sind Maßnahmen, die die Menschen befähigen, ihren Unterhalt aus eigenem Erwerbseinkommen zu bestreiten und unabhängig von Sozialtransfers zu leben. Dieses Ziel lässt sich indes nicht durch Kürzungen von Leistungen oder gar durch die Versagung von Ansprüchen erreichen, sondern nur durch eine Bildungs-, Arbeitsmarkt- und Familienpolitik, die die Erwerbsintegration fördert und verbessert und dadurch den Rückgriff auf Transferzahlungen begrenzt.

2

Einkommensverteilung

2.1

Grundfragen einer Verteilungsanalyse

Allgemeine Aussagen über „die“ Einkommensverteilung sind nicht sinnvoll. Eine Analyse der Einkommensverteilung setzt Klärungen voraus. Zu erläutern ist, welcher Einkommensbegriff verwendet, welche Empfängereinheit bzw. -gruppe betrachtet und auf welche räumliche und zeitliche Dimension abgestellt wird. Einkommensart • Zu unterscheiden ist zwischen dem Faktoreinkommen und dem personellen Einkommen. Das Faktoreinkommen beziffert die Einnahmen, die durch den Einsatz des Faktors Arbeit (Einkommen aus unselbstständiger Beschäftigung) und den Einsatz des Faktors Kapital (Einkommen aus Unternehmertätigkeit und Vermögen) entstehen. Eine Person kann mehrere Einkommensarten beziehen, so z. B. neben Löhnen auch Gewinne, Zinsen, Mieten. • Während die Faktoreinkommen Markteinkommen und Ausdruck der Primärverteilung sind, handelt es sich bei den sozialpolitischen Geldleistungen um Sozialeinkommen, die über die sozialstaatliche Sekundärverteilung gesteuert werden. • Die Maßnahmen der Sekundärverteilung werden durch Steuern und Beiträge finanziert. Die Bruttoeinkommen werden durch den Abzug von Steuern und Beiträgen gemindert, übrig bleiben die Nettoeinkommen. • Werden die Einkommen in laufenden Preisen ausgewiesen, handelt es sich um Nominaleinkommen. Um die Entwicklung des Realeinkommens, also der tatsächlichen Kaufkraft des Einkommens, zu erkennen, müssen die durchschnittlichen Preiserhöhungen aus der Einkommensentwicklung herausgerechnet werden.

176

Einkommen

Einkommensempfänger:innen • Die Empfängereinheit des Einkommens kann sich entweder auf eine einzelne Person (personelles Einkommen) oder eine Personen- und Bedarfsgemeinschaft (Familien- oder Haushaltseinkommen) beziehen. Das personelle Einkommen ist ein Individualeinkommen, während beim Haushaltseinkommen alle Einkommen zusammengefasst werden, die den Haushaltsmitgliedern zufließen und gemeinsam verwendet werden. • Das personelle wie das Haushaltseinkommen kann sozialen Gruppen zugeordnet werden. Die Gruppierung erfolgt u. a. nach der sozialen Stellung (Arbeiter, Angestellte, Selbstständige, Qualifikation), dem Geschlecht, der Haushaltsgröße (Zahl der Kinder) und dem Lebensalter (Generationenvergleich). Die Einkommensverteilung kann innerhalb einer Gruppe oder zwischen einzelnen Gruppen analysiert werden. So vergleicht eine intragenerationale Analyse die Einkommensverteilung z. B. innerhalb der Gruppe der älteren Menschen, eine intergenerationale Analyse vergleicht die Einkommen z. B. zwischen älterer und mittlerer Generation. Räumliche Dimension • Einkommensanalysen beziehen sich im Regelfall auf das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland. Wegen der immer noch erheblichen Abweichungen von Einkommensniveau und -struktur zwischen den alten und den neuen Bundesländern kann aber auch eine getrennte Erfassung dieser beiden Gebiete informativ sein. Darüber hinausgehende Vergleiche zwischen einzelnen Regionen Deutschlands, z. B. zwischen einzelnen Bundesländern oder städtischen und ländlichen Regionen, können räumliche Besonderheiten und Unterschiede noch deutlicher machen. • Bei internationalen Vergleichen, denen vor allem im Rahmen der Europäischen Union Bedeutung zukommt, sollen die Unterschiede hinsichtlich Einkommensniveau und -struktur zwischen einzelnen Ländern sichtbar gemacht werden. Zeitliche Dimension • Wenn sich die Betrachtung auf einen bestimmten Zeitpunkt bezieht, handelt es sich um eine Querschnittanalyse. Werden Querschnittsdaten über Jahre hinweg verfolgt, lassen sich allgemeine Entwicklungstrends erkennen. Da der Datenerhebung jeweils unterschiedlich zusammengesetzte Personengruppen zugrunde liegen, ist der Aussagewert allerdings begrenzt. Erst bei einer Längsschnittanalyse werden bei identischen Personen bzw. Haushalten Einkommensdaten im Zeitablauf erfasst. Diese Vorgehensweise ermöglicht es, die Entwicklungsdynamik von Einkommenspositionen im Einzelnen zu beobachten und zu vergleichen. So kann z. B. beurteilt werden, ob eine im Querschnitt feststellbare niedrige Einkommensposition für die Betroffenen ein Dauerzustand ist oder schnell überwunden wird, dafür aber neue Personengruppen in diese Position gelangen.

Einkommensverteilung



177

Möglich ist auch, die Einkommensposition von Personen oder von Geburtsjahrgängen (Kohorten) in ihrem gesamten Lebensablauf zu untersuchen. Diese Analyse lässt sich erweitern zu einem Vergleich der Einkommensposition zwischen verschiedenen Kohorten. Hier interessiert z. B. aktuell die Frage, ob die heute Jüngeren in Zukunft ein ähnliches Einkommensniveau wie die heute Älteren erzielen werden, oder ob dann, wenn sie selbst ins Rentenalter kommen, aufgrund der demografischen Veränderungen schlechtere Bedingungen vorherrschen (vgl. Kapitel „Alter“, Pkt. 12.3).

Als ein grundlegendes Problem bei Analysen der Einkommensverteilung erweist sich der Tatbestand, dass das statistische Datenmaterial vielfach lückenhaft ist und nur zeitverzögert zur Verfügung steht. Häufig werden unterschiedliche Einkommensarten erfasst, so dass Vergleiche nur beschränkt möglich sind. Da die Daten über Höhe und Zusammensetzung der persönlichen Einkommen aus Umfragen ermittelt werden, muss davon ausgegangen werden, dass die Einkommen, und hier insbesondere Einmalzahlungen und Nebeneinkommen, nicht vollständig abgebildet werden. Vor allem im oberen Einkommensbereich ist mit Untererfassungen zu rechnen. Zudem sind bei den Stichproben bestimmte Haushalte bzw. Personen unterrepräsentiert. Auch dies betrifft in erster Linie den Bereich der höheren Einkommen. Auch Bewertungsfragen spielen eine Rolle. Zu entscheiden ist beispielsweise, wie mit einem selbst genutzten Wohneigentum umzugehen ist. Da keine Mietzahlungen anfallen, erhöht sich für die Betroffenen faktisch ihr Einkommen. 2.2

Gesamtwirtschaftliche Einkommensverteilung

2.2.1 Bruttoinlandsprodukt und Volkseinkommen

Die in einer Volkswirtschaft in einer Periode, d. h. in einem Jahr, erzeugten Güter und Dienstleistungen sind das, was (ohne Berücksichtigung der Außenverflechtung – Exporte etc.) für Investitionen und für Konsumzwecke zur Verfügung steht. Bewertet man die Summe dieser Güter und Dienstleistungen mit Preisen, so errechnet sich das Sozialprodukt. Durch die Produktion von Gütern und die Erstellung von Dienstleistungen entstehen zugleich Einkommen, die den beteiligten Faktoren Arbeit und Kapital zufließen und sich zum Volkseinkommen summieren. Die Entstehungsseite des Sozialprodukts, also die Produktion, und die Verteilungsseite des Sozialprodukts, also die Einkommenserzielung, bedingen sich gegenseitig. Im Jahr 2018 beziffert sich das Bruttoinlandsprodukt auf einen Betrag von 3 344 Mrd. Euro und das Volkseinkommen auf 2 503 Mrd. Euro. Das Volkseinkommen fällt wegen verschiedener Abzüge niedriger aus als das Bruttoinlandsprodukt (BIP), insbesondere die Abschreibungen werden in Anrechnung gebracht. Typisch für die Situation seit Gründung der Bundesrepublik ist ein kontinuierliches Wachs-

178

Einkommen

tum dieser beiden Aggregatgrößen. Die Wachstumsraten waren in der Nachkriegszeit sehr hoch („Wirtschaftswunder“). Ab Anfang der 1970er Jahre zeigt sich eine Abschwächung. Aber auch in der jüngeren Vergangenheit – so für die Jahre seit 2000 – weist der Trend nach oben, der Zuwachs (in jeweiligen Preisen) von BIP und Volkseinkommen liegt zwischen 2000 und 2018 bei rund 55 %, preisbereinigt bei rund 27 %. Üblich ist es, das Volkseinkommen durch die Zahl der Einwohner zu teilen. Die so ermittelte Höhe des pro-Kopf Volkseinkommens ist ein zentraler Indikator zur Messung des Wohlstands einer Gesellschaft. Im internationalen Vergleich zählt Deutschland zu den wohlhabendsten Ländern. Und auch im europäischen bzw. EU-Kontext rangiert Deutschland im Spitzenfeld. Die Zuordnung des Volkseinkommens auf Kapital und Arbeit wird als funktionelle Primärverteilung bezeichnet. Die volkswirtschaftliche Gesamtrechnung unterscheidet zwischen • •

Einkommen aus unselbstständiger Arbeit (Arbeitnehmerentgelte) und Einkommen aus Unternehmertätigkeit und Vermögen.

Übersicht III.1 Verteilung des Sozialprodukts nach der Systematik der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung Bruttoinlandsprodukt

Bruttowertschöpfung in der Produktion von Waren und Dienstleistungen nach Abzug von Vorleistungen

Bruttonationaleinkommen

= Bruttoinlandsprodukt abzüglich des Saldos aus Zuflüssen von Primäreinkommen ans Inland/Abflüsse aus dem Inland

Nettonationaleinkommen

= Bruttonationaleinkommen abzüglich Abschreibungen

Nettonationaleinkommen zu Faktorkosten

= Nettonationaleinkommen abzüglich Subventionen und ohne Produktions- und Importabgaben

= Volkseinkommen

= Summe aller Erwerbs- und Vermögenseinkommen, die Inländern (Personen, die ihren Wohnsitz in Deutschland haben) zufließen.

= − Arbeitnehmerentgelt und − Einkommen aus Unternehmertätigkeit und Vermögen darunter: Arbeitnehmerentgelt

= Bruttolöhne und -gehälter und Sozialbeiträge der Arbeitgeber

Bruttolöhne und -gehälter

= Arbeitnehmerentgelt abzüglich Sozialbeiträge der Arbeitgeber

Nettolöhne und -gehälter

= Bruttolöhne und -gehälter abzüglich Lohnsteuer und Sozialbeiträge der Arbeitnehmer

Einkommensverteilung

179

Die Arbeitnehmerentgelte umfassen die Bruttolöhne und -gehälter sowie die Arbeitgeberbeiträge zur Sozialversicherung. Berücksichtigt werden die Bruttolöhne und -gehälter aller Arbeitnehmergruppen und alle Einkommensbestandteile. Dazu zählen laufende Verdienste inklusive Zuschläge für Überstunden, Nacht- und Sonntagsarbeit usw., Sonderzahlungen (Urlaubsgeld, Weihnachtsgeld, Gratifikationen, vermögenswirksame Leistungen), Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall sowie Arbeitgeberbeiträge zur Renten-, Kranken-, Pflege-, Arbeitslosen- und Unfallversicherung einschließlich der unterstellten Arbeitgeberbeiträge (Personalnebenkosten, vgl. Kapitel „Ökonomische Grundlagen und Finanzierung“, Pkt. 3.7.2). 2.2.2 Arbeits- und Kapitaleinkommen, Lohnquote

Eine verteilungs- aber auch wirtschaftspolitisch zentrale Frage ist, wie sich die Arbeits- und Kapitaleinkommen im Zeitverlauf entwickelt haben und wie das Verhältnis zwischen diesen beiden aggregierten Faktoreinkommen aussieht. Zieht man von den Arbeitnehmerentgelten die Sozialbeiträge der Arbeitgeber ab, erhält man die Bruttolöhne und -gehälter. Sie betrugen 2018 je Beschäftigten im Durchschnitt etwa 2 948 Euro/Monat (vgl. Tabelle III.1). Die Indexdarstellung (vgl. Abbildung III.2) zeigt, dass die Bruttolöhne im Zeitraum 1995 bis 2018 um rund 75 % angestiegen sind, dass aber der Anstieg der Unternehmens- und Vermögenseinkommen mit rund 89 % stärker ausgefallen ist. Dies bedeutet, dass die abhängig Beschäftigten vom insgesamt gestiegenen Verteilungsvolumen und Wohlstand in diesen Jahren nur unterproportional profitiert haben. Die disparate Entwicklung zwischen Gewinn- und Lohneinkommen setzt ab 2003 ein. Unter dem Druck steigender Arbeitslosenzahlen und einer strukturellen Schwächung der Gewerkschaften (Abnahme der Tarifbindung der Beschäftigten, vgl. Kapitel „Arbeitsbeziehungen“, Pkt. 3.3) sind die Tariferhöhungen und auch die effektiven Arbeitsentgelte hinter dem Produktivitätswachstum zurückgeblieben. Zugleich wurde durch die Deregulierung und Flexibilisierung des Arbeitsmarktes der Ausbau des Niedriglohnsektors beschleunigt (vgl. Pkt. 2.3.3 dieses Kapitels). Zum steilen Anstieg der Unternehmens- und Vermögenseinkommen ab 2003 haben auch die Deregulierungen auf den Finanzmärkten beigetragen. Der Einbruch in den Jahren 2008 und 2009 spiegelt hingegen die Folgewirkungen der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise wider, die auch Deutschland getroffen hat. Es kam zu Einbrüchen bei den Gewinnen der Unternehmen und vor allem zu Vermögensverlusten auf den Finanz- und Kapitalmärkten, die aber bereits bis 2010 weitgehend überwunden worden sind. Setzt man die Bruttoeinkommen aus unselbstständiger Arbeit (Arbeitnehmerentgelte) ins Verhältnis zum Volkseinkommen, so errechnet sich die Lohnquote. Ihr Spiegelbild ist die Unternehmens- und Vermögenseinkommensquote. Lohn- und Gewinnquote ergänzen sich zu 100 %.

180

Einkommen

Abbildung III.2 Entwicklung der Bruttolöhne/-gehälter sowie Unternehmens- und Vermögenseinkommen 1995 – 2018, Indexdarstellung, 1995: 100 189,0

180 175,0 170

164,9

160

150

Unternehmens- und Vermögenseinkommen

140

130

Bruttolöhne und -gehälter (ohne Arbeitgeberbeiträge)

120

110

100

1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018

Quelle: Statistisches Bundesamt (zuletzt 2019), Volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen, Fachserie 18, Reihe 1.4.

Die Lohnquote liegt seit 2012 konstant bei etwa 69 % des Volkseinkommens, am aktuellen Rand ist sie auf rund 72 % gestiegen. Das bedeutet, dass das Volkseinkommen zu mehr als zwei Dritteln auf die Einkommen aus unselbstständiger Arbeit entfällt und zu knapp einem Drittel auf die Einkommen, die aus Vermögen und Unternehmertätigkeit fließen (Gewinne, Dividenden, Zinsen, Mieten, Pachten). Ausdrücklich zu erwähnen ist, dass in die Lohnquote nur die funktionalen Einkommen einfließen, die nicht immer mit den personellen Einkommen identisch sind. Das heißt, dass Personen, die ihr Einkommen aus einer abhängigen Beschäftigung beziehen, zusätzlich auch Einkommen aus Vermögen erhalten können. Genaue Zahlen zu dieser so genannten „Querverteilung“ liegen in der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung nicht vor. Der Aussagewert der Lohnquote wird auch dadurch beeinträchtigt, dass es sich bei der Kategorie „Einkommen aus Unternehmertätigkeit“ um eine Sammelgröße handelt, in die sehr unterschiedliche Einkommen eingehen. Enthalten sind neben den Gewinnen auch die Einkünfte von „kleinen“ selbstständigen Erwerbstätigen und Landwirten, die sich durchaus als eine Art von Arbeitseinkommen interpretieren lassen. Von der Entwicklung der Lohnquote (Absenkung, Konstanz oder Erhöhung) lässt sich nicht unmittelbar auf eine Verschlechterung oder Verbesserung des Einkommensniveaus aus abhängiger Beschäftigung schließen. Bei einem insgesamt steigen-

Einkommensverteilung

181

den Sozialprodukt und Volkseinkommen kann auch bei einer sinkenden Lohnquote noch ein Zuwachs entstehen. In diesem Fall verschlechtert sich aber notwendigerweise die relative Einkommensposition gegenüber den Unternehmens- und Vermögenseinkommen. 2.2.3 Durchschnittliche Brutto-, Netto- und Nettoreallöhne

Aus Sicht der Beschäftigten sind für die Bewertung ihrer Einkommenslage nicht die Bruttolöhne, sondern vielmehr die Nettolöhne die entscheidende Größe. Diese errechnen sich, wenn vom Bruttolohn die direkten Steuern und die Arbeitnehmerbeiträge zur Sozialversicherung abgezogen werden. Im Ergebnis liegen die durchschnittlichen Nettolöhne je Beschäftigten 2018 bei knapp 1 950 Euro im Monat, bei einem Bruttobetrag von 2 950 Euro. In diesem beachtlichen Unterschied kommt die Abzugsquote von gut einem Drittel des Bruttowertes zum Ausdruck. Die Zuwachsraten der Brutto- sowie Nettolöhne seit 1991 macht Tabelle III.1 sichtbar. Auffällig ist, dass die Zuwachsraten bei den Nettolöhnen bis etwa 2010 nur sehr gering ausfallen, seitdem gibt es aber einen leichten, aber recht regelmäßigen Anstieg im Schnitt um 2,5 % jährlich. Allerdings muss dabei die Entwicklung des Preisniveaus berücksichtigt werden. Denn durch die Inflation wird die reale Kaufkraft der Einkommen gemindert, die Zuwächse der Nettorealeinkommen fallen dadurch geringer aus. So sind zwischen 1990 und 2010 (im gesamtdeutschen Durchschnitt) überwiegend reale Einkommensverluste aufgetreten. Nach 2010 ändert sich indes auch hier das negative Bild. Es kommt seitdem zu Zuwächsen bei den Nettorealverdiensten. Bei dieser Einkommensentwicklung muss allerdings bedacht werden, dass der Berechnung durchschnittliche Monatsentgelte zu Grunde liegen. Infolge der anhaltenden Expansion von Teilzeitbeschäftigungsverhältnissen, die ja auf Grund der kürzeren Arbeitszeiten durch niedrige Monatseinkommen charakterisiert sind, kommt es zu einer Unterschätzung der Einkommenszuwächse. Die durchschnittlichen Stundenlöhne (brutto, netto und nettoreal) sind stärker angestiegen als die hier aufgezeigten Monatsentgelte. Anders als der gesamtdeutsche Durchschnitt haben sich die Arbeitseinkommen in den neuen Bundesländern entwickelt. Seit Einführung der Wirtschafts- und Währungsunion und der Vereinigung haben sich dort sowohl die Brutto- wie auch die Nettolöhne rasch nach oben entwickelt. Im Zuge dieser deutlichen Einkommenssteigerungen hat sich der Abstand zu den alten Bundesländern merkbar verringert, gleichwohl noch nicht eingeebnet.

182

Einkommen

Tabelle III.1 Entwicklung der Arbeitnehmereinkommen 1991 – 2018 Jahr

Durchschnittliche Lohn- und Gehaltssumme je Arbeitnehmer brutto €/Monat

netto gegenüber Vorjahr in %

€/Monat

nettoreal gegenüber Vorjahr in %

gegenüber Vorjahr in %

1991

1 659

1 159

1995

2 001

1 327

2000

2 090

1 398

2001

2 138

2,3

1 446

3,4

1,4

2002

2 168

1,4

1 463

1,2

− 0,2

2003

2 195

1,2

1 467

0,3

− 0,8

2004

2 206

0,5

1 498

2,1

0,5

2005

2 212

0,3

1 502

0,3

− 1,4

2006

2 229

0,7

1 498

− 0,3

− 1,7

2007

2 261

1,4

1 513

1,0

− 1,3

2008

2 314

2,4

1 540

1,8

− 0,8

2009

2 314

0,0

1 542

0,1

− 0,2

2010

2 372

2,5

1 603

4,0

2,9

2011

2 454

3,5

1 644

2,6

0,4

2012

2 521

2,7

1 684

2,4

0,5

2013

2 574

2,1

1 716

1,9

0,3

2014

2 647

2,8

1 761

2,6

1,8

2015

2 721

2,8

1 806

2,6

2,2

2016

2 788

2,5

1 847

2,3

1,8

2017

2 857

2,5

1 888

2,2

0,4

2018

2 948

3,2

1 945

3,0

1,1

Quelle: Statistisches Bundesamt (zuletzt 2019), Volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen, Fachserie 18, Reihe 1.4.

Einkommensverteilung

2.3

183

Arbeitseinkommen

2.3.1 Lohndifferenzierung

Die Höhe der Bruttolohn und -gehaltssumme kennzeichnet das gesamtwirtschaftliche Niveau der Arbeitseinkommen. Niveauberechnungen sind aber notwendigerweise Durchschnittsberechnungen. Dahinter verbirgt sich eine nach unten und oben breit aufgefächerte Lohn- und Gehaltsstruktur der rund 40 Millionen abhängig Beschäftigten. Grundsätzlich ist dabei zwischen Tarifentgelten und den effektiven Arbeitsentgelten zu unterscheiden. Im Folgenden beziehen wir uns auf effektiven Löhne. Die Tariflöhne werden im Kapitel „Arbeitsbeziehungen“ behandelt. Bei Analyse der Verdienstunterschiede muss berücksichtigt werden, dass die Höhe der Bruttomonatsverdienste maßgeblich von der geleisteten Arbeitszeit abhängt. Es liegt auf der Hand, dass bei einer Vollzeitarbeit (womöglich noch aufgestockt durch Überstunden) ein höherer Verdienst anfällt als bei einer Teilzeitarbeit oder bei einem Minijob. Deswegen ist es aussagekräftiger, von den Bruttostundenlöhnen auszugehen. Die Verdienststatistik zeigt, dass es zwischen niedrigen Stundenlöhnen (nach unten begrenzt durch den gesetzlichen Mindestlohn) und Spitzenlöhnen (nach oben hin unbegrenzt) eine außerordentlich große Spannweite gibt, die sich in den zurückliegenden Jahren noch ausgeweitet hat. Folgende Faktoren spielen hierbei eine zentrale Rolle: •

Die Abweichungen widerspiegeln den schulischen und beruflichen Bildungsabschluss und konkret die im Arbeitsprozess geforderten Qualifikation. Das Statistische Bundesamt unterscheidet in der Verdienststatistik zwischen fünf Leistungsgruppen (LG): Beschäftigte in leitender Stellung (LG 1), herausgehobenen Fachkräfte (LG 2), Fachkräfte (LG 3), angelernte Beschäftigte (LG 4) und ungelernte Beschäftigte (LG 5). Während (2017) in der oberen Leistungsgruppe der Bruttostundenverdienst bei 40,14 Euro liegt, erreicht er in der unteren Leistungsgruppe nur 12,88 Euro. • Diese qualifikations- und tätigkeitsbezogene Differenzierung wird überlagert durch die Knappheit bzw. den Überschuss an bestimmten Arbeitskräften. So sind unqualifizierte und gering qualifizierte Beschäftigte im besonderen Maße von Arbeitslosigkeit betroffen, was tendenziell zu einer Absenkung ihrer Löhne führt. • Die Höhe der Stundenlöhne hängt entscheidend von den einzelnen Wirtschaftsbranchen ab. Unter dem Einfluss unterschiedlicher branchentypischer Produktions-, Produktivitäts- und Gewinnentwicklungen sowie der Wettbewerbskonstellationen auf den Weltmärkten lassen sich bestimmte Wirtschaftszweige (wie Luftfahrt, Finanz- und Versicherungsdienstleistungen, Energieversorgung, Maschinenbau) als Hochlohnbranchen bezeichnen. Andere Wirtschaftszweige (wie das Gastgewerbe, der Einzelhandel, die Gebäudereinigung oder die Wach- und

184





Einkommen

Sicherheitsdienste) gelten hingegen als Niedriglohnbranchen. So liegen in der Mineralölverarbeitung, den Finanz- und Versicherungsdienstleistungen oder in der Luftfahrt die durchschnittlichen Bruttostundenentgelte mehr als doppelt so hoch, z. T. sogar dreimal so hoch wie in den Niedriglohnbranchen – so bei der Leiharbeit, im Gastgewerbe, in Call-Centern oder bei den Wach- und Sicherheitsdiensten (vgl. Abbildung III.3). Da die sektorale Wirtschaftsstruktur in den einzelnen Regionen stark differiert, prägt sich auch eine interregionale Lohndifferenzierung aus. In Deutschland sind die regionalen Unterschiede vor allem durch die nach wie vor niedrigeren Einkommen in den neuen Bundesländern charakterisiert. Die Wirtschaft in den neuen Bundesländern insgesamt ist – mit Ausnahmen – immer noch produktivitäts- und wachstumsschwächer als in den alten Ländern. Neben den ökonomischen Faktoren kommt schließlich auch institutionellen Faktoren wie der Ausgestaltung von Tarifverträgen, dem gewerkschaftlichen Organisationsgrad der Beschäftigten und damit der Durchsetzungsmacht der Gewerkschaften in der Tarifpolitik eine wichtige Bedeutung für die sehr unterschiedliche Höhe der Arbeitseinkommen zu (vgl. Kapitel „Arbeitsbeziehungen“). Werden nur

Abbildung III.3 Durchschnittliche Bruttostundenverdienste bei Vollzeitarbeit* in ausgewählten Hoch- und Niedriglohnbranchen 2018 Kokerei und Mineralölverarbeitung

42,19

Luftfahrt

38,50

Finanz- u. Versicherungsdienstleistungen

37,54

Pharmaindustrie

35,36

Chemie

34,03

Energieversorgung

33,85

Information u. Kommunikation

32,35

Maschinenbau

30,48

Gesundheits- und Sozialwesen

26,40

Insgesamt**

24,06

Herstellung von Bekleidung

24,54

Kfz-Handel, Instandhaltung und Reparatur

22,56

Baugewerbe

20,99

Pflegeheime

19,20

Einzelhandel

18,89

Nahrungsmittelindustrie

18,78

Verkehr u. Lagerei

18,75

Überlassung von Arbeitskräften

15,09

Call Center

14,85

Gastgewerbe

14,54 0

5

10

15

20

25

30

35

* einschließlich Sonderzahlungen ** Produzierendes Gewerbe und Dienstleistungsbereich insgesamt. Quelle: Statistisches Bundesamt (2019), Fachserie 16 Reihe 2.3, Verdienste und Arbeitskosten.

40

45

Einkommensverteilung

185

wenige Beschäftigte und Betriebe in einem Wirtschaftsbereich von einem Tarifvertrag erfasst oder bestehen vorhandene Tarifverträge lediglich aus Minimalkompromissen, dann ist die Ausbreitung eines Niedriglohnsektors – wie in bestimmten Branchen des Dienstleistungsbereichs zu beobachten – wahrscheinlich. Dies kann zu großen Unterschieden zwischen gewerkschaftlich gut und weniger gut organisierten Branchen führen. Darüber hinaus kommt es im Dienstleistungssektor darauf an, ob eine Branche marktbestimmt oder öffentlich reguliert oder im öffentlichen Eigentum und damit nicht marktbestimmt ist. • Vor allem infolge der insgesamt rückläufigen Tarifbindung (vgl. Kapitel „Arbeitsbeziehungen“, Pkt. 3.3) hat sich die Ungleichheit in der Verteilung der Arbeitseinkommen verstärkt. Die Lohnstruktur driftet auseinander, da es in den zurückliegenden Jahren nur noch begrenzt gelungen ist, das untere und mittlere Lohnsegment durch Tarifverträge zu gestalten. Mindestlöhne sichern nur nach unten ab, haben aber keine Auswirkung auf die große Mitte der Verdienstskala, die zu schrumpfen droht. Hinsichtlich der sozialpolitischen Rückwirkungen einer niedrigen Arbeitseinkommensposition muss bedacht werden, dass im deutschen Sozialversicherungssystem die Sozialeinkommen überwiegend eine Ersatzfunktion für die ausgefallenen Arbeitseinkommen wahrnehmen: Die Konstruktionsprinzipien der Sozialversicherung übertragen die relative Position in der Hierarchie der Erwerbseinkommen auch auf Phasen, in denen aufgrund allgemeiner Lebensrisiken der Erwerbseinkommensbezug unterbrochen oder beendet ist. Damit ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass eine untere Position im Erwerbsleben auch auf Phasen der Nichterwerbsarbeit übertragen wird und sich im gesamten Lebenseinkommen niederschlägt. 2.3.2 Geschlechterhierarchie: Gender pay gap

Die durchschnittlichen Stundenverdienste von Frauen liegen deutlich unter denen der Männer. Wenn dabei von Frauenlohndiskriminierung die Rede ist, dann geht es heute weniger um eine offene Diskriminierung, wenn nämlich für identische Arbeiten Frauen weniger als Männer erhalten, sondern um eine versteckte Diskriminierung: Die Frauenbeschäftigung konzentriert sich auf Branchen, Tätigkeiten und Berufe, die geringer bewertet und entlohnt werden als Berufe, in denen vorwiegend Männer arbeiten. Das Bild einer geschlechtsspezifischen Verteilung der Arbeitseinkommen wird durch die Ergebnisse der Verdienststatistik unterstrichen (Abbildung III.4): 2018 erhielten die weiblichen Beschäftigten im produzierenden Gewerbe und bei den Dienstleistungen (Vollzeitbeschäftigung) einen durchschnittlichen Bruttostundenverdienst von 21,94 Euro, der um 17,2 % unter dem Stundenlohn der Männer (26,51 Euro) lag. Dieser „gender pay gap“ ist eine Folge der in mehrfacher Hinsicht benachteiligten Stellung von Frauen auf dem Arbeitsmarkt:

186





Einkommen

Der Frauenanteil an den Beschäftigten ist vor allem in den Branchen hoch, die ein insgesamt niedriges Verdienstniveau aufweisen. Wie aus Abbildung III.4 ersichtlich, betrifft dies u. a. das Gastgewerbe, den Einzelhandel und die Bekleidungsindustrie. In den Hochlohnbranchen hingegen ist der Frauenanteil gering. In allen Branchen zeigt sich aber gleichermaßen eine – jeweils unterschiedlich hohe – Spanne zwischen Männer- und Frauenstundenverdiensten. Berücksichtigt man die Einteilung der beruflichen Anforderungen nach Leistungsgruppen, zeigt sich, dass Frauen in den höheren Leistungsgruppen schwächer, in den unteren, schlecht bezahlten Leistungsgruppen hingegen stärker vertreten sind.

Gründe für die ungleiche Verteilung der Geschlechter auf die Leistungsgruppen liegen in den weiterhin vorhandenen Zugangsbeschränkungen für Frauen zu höheren Positionen und in den oftmals diskontinuierlichen Erwerbsverläufen von Frauen, die aufgrund der Vereinbarkeitsproblematik bestehen und sich negativ auf berufliche Aufstiege auswirken. Auch die Berufswahl, bei der sich Mädchen nach wie vor stark auf frauentypische Berufe konzentrieren, hat einen Einfluss auf die ungleiche Verdiensthöhe. Abbildung III.4 Durchschnittliche Bruttostundenverdienste von Vollzeitbeschäftigten nach Geschlecht in ausgewählten Branchen 2018 42,65 €

Mineralölverarbeitung: Frauenanteil 16,5%

39,84 € 37,02 €

KFZ-Industrie: Frauenanteil 12,3 %

32,45 € 34,88 €

Energieversorgung: Frauenanteil 19,0 %

Männer

29,39 €

Frauen

35,85 €

Chemische Industrie: Frauenanteil 21,4 %

29,21 € 34,36 €

Information/Kommunikation: Frauenanteil 25,2 %

26,30 € 30,94 €

Maschinenbau: Frauenanteil 12,5 %

27,19 € 31,03 €

Bekleidungsindustrie: Frauenanteil 63,3 %

20,71 € 26,51 €

Prod. Gewerbe & Dienstleistungen insgesamt: Frauenanteil 30,3 %

21,94 € 23,95 €

öffentliche Verwaltung: Frauenanteil 40 %

22,83 € 20,52 €

Einzelhandel: Frauenanteil 48,8 %

17,13 € 20,45 €

Nahungs-und Genussmittelindustrie: Frauenanteil 34,7 %

15,50 € 15,29 €

Gastgewerbe: Frauenanteil 43,7 %

13,58 € 0

10

20

30

Quelle: Statistisches Bundesamt (2019), Fachserie 16, Reihe 2.3, Verdienste und Arbeitskosten.

40

Einkommensverteilung

187

In die Bewertung von beruflichen Leistungen und Anforderungen gehen nicht zuletzt geschlechtsspezifische Vorurteile ein. Die Besonderheiten des Arbeitsvermögens, die vor allem Frauen zugeschrieben werden, wie Verantwortung, Ausdauer, psycho-soziale Kompetenzen, werden eher gering gewichtet. Offensichtlich wird der Grundsatz „gleicher Lohn für gleichwertige Arbeit“ verletzt, weil nicht zu begründen ist, dass ein Elektromonteur (in Regel ein Mann) deutlich mehr verdient als eine Pflegekraft in der Altenpflege (in der Regel eine Frau). Diese niedrige Bewertung von Frauenarbeit ist nicht zuletzt eine Widerspiegelung traditioneller Rollenmuster. In der Orientierung auf die Hausfrauen- und Versorgerehe gilt das Einkommen der Frau als „Zuverdienst“, das Einkommen des Mannes hingegen als „Familienlohn“. 2.3.3 Niedriglöhne

Aus sozialer und sozialpolitischer Sicht von besonderer Bedeutung sind die Arbeitseinkommen am unteren Ende der Hierarchie – auch als Niedriglöhne bezeichnet. Von Niedriglöhnen kann gesprochen werden, wenn der Bruttoverdienst einen bestimmten Schwellenwert in Prozent des Durchschnittsverdienstes unterschreitet. Strittig bei der Definition von Niedriglöhnen ist – weil letztlich nur normativ zu beurteilen – welcher Prozentsatz des Durchschnittsverdienstes als maßgeblich angesehen wird, ob der Durchschnitt als arithmetisches Mittel oder Median berechnet wird, welche Datenquelle aussagefähig ist und welche Einkommen aus welchen Beschäftigungsverhältnissen einzubeziehen sind (z. B. nur reguläre Beschäftigungsverhältnisse oder auch Ausbildungsverhältnisse, Minijobs und Aushilfstätigkeiten, nur die Regelvergütung oder auch Überstundenzuschläge). Entsprechend der jeweils getroffenen Annahmen und Berechnungsverfahren kommen die vorliegenden Erhebungen und Auswertungen zu unterschiedlichen Ergebnissen über die Größe des Niedriglohnsektors. Um beurteilen zu können, ob Niedriglöhne das Ergebnis niedriger Lohnsätze oder geringer Arbeitszeiten sind, muss zudem der Einfluss unterschiedlicher Arbeitszeitdauern (z. B. Vollzeit, Teilzeit) ausgeschaltet werden. Letztlich sind deshalb nur Stundenverdienste ein geeigneter Indikator. Unter Einbeziehung aller Beschäftigungsverhältnisse und einer Definition von Niedrigverdiensten als Stundenverdienste unterhalb von zwei Dritteln des mittleren Einkommens (Median) kommt das Institut Arbeit und Qualifikation auf der Datenbasis des Sozio-Oekonomischen Panels zu dem Befund (Abbildung III.5), dass 2016 • •

nahezu ein Viertel aller Beschäftigten in Deutschland (22,7 %) im Niedriglohnsektor arbeitet, in den neuen Ländern die Quote mit 35 % deutlich höher liegt als die Quote in den alten Ländern (20,3 %).

188

Einkommen

Abbildung III.5

Niedriglohnbeschäftigte 1995 – 2016 in % aller Beschäftigten

45 Ostdeutschland

40 37,2

36,8

37,3

40

38,9

37,8

38,8

40,1

37,1

38,9 36,8

36,5

35,1

35

35

30 Deutschland

25

20 16,6

16,7

17,8

10

11,8

12,4

21,4

17,9

18,4

22,6

18,8

15 13,7

21,3

14,9

23,6

24,1

20,6

20,8

19,1

22,9

22,6

19,5

19,7

22,7

20,3

Westdeutschland

5

0

1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016

Quelle: Kalina, T., Weinkopf, C. (2018), Niedriglohnbeschäftigung 2016, IAQ-Report 2018-06. Datenbasis SOEP.

Seit 2010 verharrt die auch im internationalen Vergleich sehr hohe Quote auf einem nahezu konstanten Niveau. Diese Konstanz des Anteilswertes verdeckt jedoch, dass die absoluten Beschäftigtenzahlen mit Niedriglöhnen weiter zugenommen haben. 2016 arbeiteten nahezu 8 Mio. Personen zu einem Stundenlohn von weniger als 10,44 Euro (Niedriglohnschwelle für Gesamtdeutschland). Bei den Beschäftigten im Niedriglohnsektor handelt es sich nicht um eine homogene Gruppe, wie der Abbildung III.6 zu entnehmen ist. Ein besonders hohes Risiko tragen vor allem: • Minijob-Beschäftigte (83,6 %), • Jugendliche (unter 25jährige: 58,6 %), • Unqualifizierte (Beschäftigte ohne Berufsausbildung: 44 %). Diese Niedriglohnquoten müssen allerdings mit ihren Beschäftigungsanteilen gewichtet werden, um einen aussagefähigen Eindruck über die Struktur des Niedriglohnsektors in Deutschland zu erhalten. Da die „Risikogruppen“ teilweise nur klein sind, setzt sich der Niedriglohnsektor mehrheitlich aus anderen Gruppen zusammen. Unter allen Beschäftigten im Niedriglohnsegment dominieren:

Einkommensverteilung

189

• unbefristet Beschäftigte (76,8 %), • Beschäftigte mit Berufsausbildung (63,5 %), • Vollzeitbeschäftigte (40,7 %). Im Niedriglohnbereich befinden sich demnach weit überwiegend Beschäftigte mit einer Berufsausbildung und in einem unbefristeten Beschäftigungsverhältnis. Und nahezu die Hälfte der Betroffenen arbeitet auf Vollzeitbasis. Für die Ausbreitung von Niedriglöhnen sind mehrere Faktoren verantwortlich, so vor allem • • • •

die Ausweitung des durch Kleinbetriebe dominierten Dienstleistungssektors, die rückläufige Durchsetzungsmacht von Gewerkschaften und Betriebsräten und die Erosion der Tarifbindung, die Privatisierung von ehemaligen Staatsbetrieben, die Deregulierung der Dienstleistungsmärkte.

Nicht zuletzt haben die sog. Hartz-Reformen den Trend verstärkt und beschleunigt. So sehen die Regelungen des SGB II vor, dass jede Arbeit, soweit sie nicht gegen Gesetz (Mindestlohn) oder die guten Sitten verstößt, anzunehmen ist. Auch Arbeiten sind zumutbar, deren Entlohnung unterhalb des Tarif- oder branchenüblichen Lohns

Abbildung III.6

Struktur der Niedriglohnbeschäftigten 2016 in % aller Niedriglohnbeschäftigten

Minjob

in % der jeweiligen Gruppe (Niedriglohnquote) 83,6

35,5

reguläre Teilzeit

23,8

23,8

Vollzeit

13,9

40,7

Unbefristet

19,3

76,8

Befristet

38,7

23,2

Ausländer

37,4

17,5

Deutsche

21,1

82,7

über 54 Jahre

25,1

26,3

45 -54 Jahre

18,4

23,2

35 - 44 Jahre

17,2

16,8

25 - 34 Jahre

22,9

20,2

unter 25 Jahre

58,6

13,5

Frauen

29,2

62,6

Männer

16,6

37,4

Universität/FH

9,1

10,9

Mit Berufsausbildung

22,1

63,5

Ohne Berufsausbildung

25,6 0

20

44 40

60

80

100

0

20

40

60

80

Quelle: Kalina, T., Weinkopf, C. (2018), Niedriglohnbeschäftigung 2016, IAQ-Report 2018-06. Datenbasis SOEP.

100

190

Einkommen

liegt. Flankiert werden diese Bestimmung durch Sanktionsmechanismen (vgl. Kapitel „Arbeit und Arbeitsmarkt“, Pkt. 6.3). Insgesamt herrscht dadurch ein Druck, eine Arbeit auch zu den schlechtesten Konditionen anzunehmen – vor allem im Bereich atypischer und prekärer Beschäftigungsverhältnisse (Leiharbeit, befristete Beschäftigung, Teilzeitarbeit, Minijobs), in denen Niedriglöhne besonders stark verbreitet sind. Die Konzessionsbereitschaft bezieht sich dabei nicht nur auf die Empfänger:innen von Arbeitslosengeld II, sondern reicht darüber hinaus auch in den Kreis der Beschäftigten in Normalarbeitsverhältnissen hinein. Die tatsächliche oder nur empfundene Gefahr, bei Verlust des Arbeitsplatzes sehr schnell auf das Niveau der existenzminimalen Grundsicherung und auf Bedürftigkeitsprüfungen verwiesen zu werden, hat zu Unsicherheiten und Abstiegsängsten insgesamt geführt. Die sozialen und sozialpolitischen Negativwirkungen von Niedriglöhnen sind nicht zu übersehen. Selbst bei einer Vollzeitbeschäftigung kann es dazu kommen, dass das Monatseinkommen nicht existenzsichernd ist und noch nicht einmal das Bedarfsniveau der Grundsicherung erreicht (insbesondere in Städten mit einem hohen Mietpreisniveau) und dass – vorausgesetzt es besteht „Bedürftigkeit“ in Bezug auf das Haushaltseinkommen – aufstockende Leistungen beantragt werden können. Insofern ist häufig von „Armutslöhnen“ („working poor“) die Rede. Niedriglöhne führen in diesen Fällen zu steigenden Sozialausgaben und werden damit durch den (Sozial)Staat subventioniert. Das gilt gleichermaßen für die Gefahr, im Alter nur niedrige Renten zu erhalten und auf aufstockende Leistungen der Grundsicherung angewiesen zu sein, da niedrige (Monats)Einkommen zu entsprechend niedrigen Rentenentgeltpunkten führen. Da bei einer Teilzeittätigkeit im Niedriglohnsektor, und insbesondere im Bereich der Minijobs, die Monatseinkommen nur sehr gering ausfallen bzw. begrenzt sind, erhöhen sich hier die genannten Risiken. Rund 5 Millionen Beschäftigte haben (2018) ein Hauptbeschäftigungsverhältnis mit einem Monatseinkommen von nur bis zu 450 Euro. Die Begrenzung auf einen solch geringen Verdienst ist Folge spezieller steuer- und sozialversicherungsrechtlicher Regelungen, in deren Folge der Bruttoverdienst nicht durch Abzüge geschmälert wird (vgl. dazu ausführlich Pkt. 5.1 dieses Kapitels). So entsteht ein Anreiz, dass vor allem Ehefrauen ihre Erwerbstätigkeit lediglich als „Zuverdienst“ ausüben. Die Steuer- und Beitragsfreiheit wirkt wie eine „gläserne Decke“ hinsichtlich des Umfangs und auch der Qualität der Erwerbsbeteiligung; sie verhindert, dass das Arbeitsangebot ausgeweitet und über ein höheres Stundenvolumen und damit über ein höheres Einkommen eine eigenständige Existenzsicherung möglich wird.

Einkommensverteilung

191

2.3.4 Mindestlöhne und Mindestausbildungsvergütung

Existenz und Verbreitung von Niedriglöhnen sind unmittelbar davon abhängig, ob es für die betroffenen Beschäftigten bzw. Betriebe und Branchen überhaupt Tarifverträge gibt oder ob tarifliche Einstufungen Anwendung finden. (vgl. Kapitel „Arbeitsbeziehungen“, Pkt. 3.3). Denn gerade jene Branchen, Betriebe und Tätigkeiten, in denen Niedriglöhne eine große Verbreitung haben, so insbesondere im Dienstleistungssektor sowie in Klein- und Kleinstbetrieben, werden von Tarifverträgen nicht oder nur teilweise erfasst. Trotz dieser Probleme wurde in Deutschland im Unterschied zu den meisten europäischen Ländern über lange Jahre hinweg auf einen allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn verzichtet. Zwar gab und gibt es branchenspezifische Mindestlöhne, die auf Tarifverträgen basieren und von der Politik für allgemeinverbindlich erklärt sind (vgl. Kapitel „Arbeitsbeziehungen“, Pkt. 4.2). Aber eine umfassende Regelung trat erst 2015 in Kraft – nach langen, höchst kontroversen Auseinandersetzungen in der Politik wie auch in der Wissenschaft. Der Satz wurde zunächst auf 8,50 Euro in der Stunde festgelegt, 2017 erfolgte eine Anhebung auf 8,84 Euro, 2019 auf 9,19 Euro sowie 2020 auf 9,35 Euro. Damit ist eine Untergrenze fixiert, die den Lohnwettbewerb nach unten und Strategien des Lohndumpings begrenzen und die Voraussetzungen für eine eigenständige Existenzsicherung verbessern soll. Allerdings sind folgende Personengruppen aus dem Geltungsbereich des Mindestlohngesetzes ausgenomen: • Praktikanten (6 Wochen), • Auszubildende, • Jugendliche bis 18 Jahre ohne Berufsabschluss (hier gibt es überhaupt keinen Mindestlohn, auch keinen abgesenkten), • Langzeitarbeitslose für einen Zeitraum von 6 Monaten nach ihrer Einstellung. Die Höhe des Mindestlohns wird auf Vorschlag der ständigen Kommission der Tarifpartner (Mindestlohnkommission) durch eine Rechtsverordnung festgelegt. Die Kommission wird alle fünf Jahre durch die Bundesregierung neu berufen. Sie besteht aus einem Vorsitzenden, je drei stimmberechtigten ständigen Mitgliedern der Arbeitnehmer- und der Arbeitgeberseite, sowie zwei Mitgliedern aus Kreisen der Wissenschaft ohne Stimmrecht (beratende Mitglieder). Die Frage nach der Zahl der Beschäftigten, die 2015 den Mindestlohn erhalten haben, ist nicht leicht zu beantworten, da sich die Datenquellen und Erhebungsmethoden unterscheiden. Nach Berechnungen des Statistischen Bundesamtes auf Basis der Verdienststrukturerhebung haben vor Einführung des gesetzlichen Mindestlohns 5,5 Millionen Menschen weniger als 8,50 Euro pro Stunde verdient. 4 Millionen von ihnen sind seit Anfang 2015 unter den Schutz des Mindestlohngesetzes gefallen, für die übrigen 1,5 Millionen galten die Ausnahmeregelungen. Verbessert in ihrem Ein-

192

Einkommen

kommen haben sich insbesondere Arbeitnehmer:innen in Ostdeutschland, geringfügig Beschäftigte, Personen ohne Berufsausbildung, Beschäftigte in kleineren Unternehmen sowie Frauen sowie ganz generell Beschäftigte in den Niedriglohnbranchen. Noch schwieriger fällt es, zuverlässig den Personenkreis jener Beschäftigten zu ermitteln, denen der Mindestlohn von den Betrieben gesetzeswidrig vorenthalten wird. Während das Statistische Bundesamt in der Verdiensterhebung, die auf Angaben von Betrieben basiert, für 2016 rund 750 Tsd. Beschäftigungsverhältnisse unterhalb der Mindestlohngrenze ausweist, kommt das DIW auf der Datengrundlage des SOEP auf rund 1,8 Mio. Beschäftigte, die im Jahr 2016 weniger als 8,50 Euro je Stunde verdienten. Verstöße gegen den Mindestlohn können zum einen dadurch bedingt sein, dass der höhere Stundenlohn schlichtweg nicht bezahlt wird oder dass zwar die Löhne angepasst werden, die Arbeitszeit aber unbezahlt verlängert wird. Zum anderen gibt es die Praxis, dass bislang zusätzliche Lohnbestandteile wie Zulagen in den Stundenlohn eingerechnet werden. Die Auswirkungen des gesetzlichen Mindestlohns auf die wirtschaftliche Entwicklung fallen positiv aus. Die in der Debatte um die Einführung des Mindestlohns verbreiteten Bedrohungsszenarien eines massenhaften Verlustes von Arbeitsplätzen, haben sich nicht bestätigt, wie der anhaltende Beschäftigungsanstieg seit 2015 zeigt. Aber es stellen sich große Herausforderungen bei der Durchsetzung und Kontrolle der Mindestlöhne, die in den Aufgabenbereich der Zollbehörden im Rahmen der Finanzkontrolle Schwarzarbeit (FKS) fällt. Die derzeitigen Kontrollen und personellen Kapazitäten reichen nicht aus, um Verstöße effektiv aufzudecken und zu ahnden. Dabei wirkt es sich nachteilig aus, dass die Entgeltbestandteile nicht im Gesetz definiert werden. Die Unübersichtlichkeit und Unklarheit der Regelungen zu den anrechnungsfähigen und nicht anrechnungsfähigen Entgeltbestandteilen erschweren die Kontrollen zusätzlich. Um sicherzustellen, dass der Mindestlohn tatsächlich für jede Arbeitsstunde bezahlt wird, besteht in bestimmten Branchen die Pflicht, die Arbeitszeiten zu notieren (Dokumentationspflicht). Über die erforderliche Höhe und die Anpassung des Mindestlohns ist bereits im Vorfeld der Verabschiedung des Gesetzes kontrovers diskutiert worden. Diese Debatte hält an. Kritisiert wird, dass der Ausgangswert zu niedrig angesetzt worden sei und nicht ausreiche, um bei einem Ein-Personen-Haushalt in allen Fällen einen aufstockenden Grundsicherungsbezug zu vermeiden und um – bei sinkendem Rentenniveau – auch bei einer kontinuierlichen Erwerbstätigkeit eine Altersrente oberhalb des Grundsicherungsniveaus zu garantieren. Kritisiert wird auch das vom Gesetz vorgegebene Anpassungsverfahren. Danach soll sich die Empfehlung der Kommission grundsätzlich an der vorangegangenen Entwicklung der durchschnittlichen Tariflöhne orientieren, was zur Folge hat, dass dadurch die relative Position des Mindestlohnes im Gefüge der Tariflöhne weitgehend festgeschrieben wird. Seit 2020 besteht auch eine gesetzliche Mindestausbildungsvergütung (vgl. dazu Kapitel „Qualifikation“, Pkt. 8.2).

Einkommensverteilung

193

2.3.5 Einkommensverläufe

Die bisher präsentierten Daten zeigen Momentaufnahmen der Verdienststruktur. Sie bilden die Verteilung der Arbeitseinkommen zu einem Zeitpunkt ab. Um einen vollständigen Eindruck zu erhalten, wäre es aber erforderlich, die Einkommenslagen der Beschäftigten auch im Zeitverlauf zu betrachten. Empirisch abgesicherte Längsschnittanalysen der je individuellen Entwicklung der Arbeitseinkommen im Lebensverlauf liegen jedoch nur begrenzt vor. Eine solche dynamische Betrachtung ist deswegen von Bedeutung, da ein (relativ) niedriger Verdienst zu Beginn der Berufstätigkeit im Zuge eines beruflichen Aufstiegs durch einen (relativ) höheren Verdienst ausgeglichen werden kann. Aber oftmals ist das Gegenteil wahrscheinlich: Womöglich bleiben Beschäftigte, die aufgrund einer fehlenden Berufsausbildung einen ungünstigen Berufseinstieg gehabt haben, auf Dauer im unteren Bereich der Einkommensstruktur stecken. Eine lediglich kurzfristige Verweildauer im Niedriglohnbereich ist also anders zu bewerten als ein längerfristiger oder gar dauerhafter Verbleib in der unteren Stufe der Berufs- und Einkommenshierarchie. Es kommt also auf den Entwicklungstrend der Erwerbseinkommensposition über einen längeren Zeitraum an. Die vorliegenden Längsschnittuntersuchungen zeigen, dass Benachteiligungen beim Berufseintritt im gesamten Erwerbsleben nachwirken und dass sich die Berufs- und Einkommensmobilität in einem engen Rahmen bewegt. Die viel zitierte „Karriere vom Tellerwäscher zum Millionär“ ist nach wie vor nur eine sehr seltene Ausnahme. Zu erkennen ist weiterhin, dass sich die Erwerbs- und Einkommensbiografien von Männern und Frauen grundlegend unterscheiden. Denn die Erwerbsbeteiligung von Frauen ist in einem hohen Maße durch Diskontinuitäten gekennzeichnet. Durch die Phasenfolge von Vollzeiterwerbstätigkeit, familienbedingter Erwerbsunterbrechung oder -reduzierung, zwischenzeitlicher (häufig geringfügiger) Beschäftigung und beruflichem Wiedereinstieg, gelingt den Frauen mit Kindern ein dem Muster kontinuierlicher Vollzeitarbeit entsprechender traditioneller Karriereverlauf in der Regel nicht. Die Brüche in der Berufsbiographie von Frauen schlagen sich damit im Vergleich zu dem Typus „kontinuierliche Vollzeitarbeit“ in einem deutlich reduzierten Lebenseinkommen nieder. Aber auch für die Berufs und Einkommensmobilität von Männern kann keinesfalls durchgängig von erwerbsbiographischen Kontinuitäten und einem Modell der Aufstiegskarriere ausgegangen werden: So belegen die Rentenversicherungsdaten, dass die Entgeltposition vieler Arbeiter in der letzten Phase ihrer Berufstätigkeit absinkt. Unsicher wird die Einkommensposition insbesondere nach längeren Phasen von Arbeitslosigkeit oder Arbeitsunfähigkeit. Diskontinuierliche Erwerbsverläufe vermindern die Chancen, einen qualifikationsadäquaten beruflichen Wiedereinstieg zu erreichen, der einen Anschluss an die vorherige Einkommensposition bieten würde.

194

2.4

Einkommen

Einkommen aus selbstständiger Tätigkeit

„Die“ Selbstständigen gibt es nicht. Die Unterschiedlichkeit der so definierten Personengruppe ist denkbar groß: Auf der einen Seite stehen Inhaber von großen Personenunternehmen mit extrem hohen Einkommen und Vermögen oder auch Freiberufler mit einem Spitzeneinkommen (Ärzte, Rechtsanwälte usw.) Auf der anderen Seite finden sich Solo-Selbstständige, die wie z. B. der Betreiber eines Kiosks oder ein selbstständiger Werkvertragsnehmer trotz überlanger Arbeitszeiten nur ein geringes Einkommen erwirtschaften und womöglich Anspruch auf aufstockende Grundsicherungsleistungen haben (vgl. Kapitel „Arbeit und Arbeitsmarkt“, Pkt. 6.4). Gemeinsam ist den Selbstständigen, dass sie eine wirtschaftliche Tätigkeit auf eigene Rechnung ausüben, also nicht auf Rechnung eines Arbeitgebers arbeiten. Die Umsätze bzw. Honorare, die diese Personen erzielen, sind nicht mit dem persönlichen Bruttoeinkommen identisch. Abzuziehen sind die Betriebsausgaben (vor allem Personalkosten, Mieten, Investitionen bzw. Abschreibungen). Die verbleibenden Erträge/ Gewinne wiederum sind nicht mit den persönlichen Nettoeinkommen gleichzusetzen. Gemindert werden die verfügbaren Einkommen durch die Steuerabzüge (wobei je besondere steuerrechtliche Regelungen zu beachten sind) sowie durch die Beiträge zur Krankenversicherung und durch die Aufwendungen für die Altersvorsorge. Die für die abhängige Beschäftigung typische Beteiligung der Arbeitgeber an der Finanzierung der sozialen Sicherung gibt es bei der selbstständigen Beschäftigung systembedingt nicht. Selbstständige unterliegen in aller Regel auch nicht der Sozialversicherungspflicht. Einige Ausnahmen bestätigen diese Regel: So sind u. a. Handwerker, Landwirte (Alterssicherung der Landwirte) und Künstler (Künstler-Sozialversicherung) in die gesetzliche Alterssicherung einbezogen (vgl. Pkt. 5.1 dieses Kapitels). Während die Einkommen aus abhängiger Arbeit zwischen den Beschäftigten und ihren Arbeitgebern vertraglich festgelegt sind und kontinuierlich gezahlt werden, gibt es diese Form der Stetigkeit und Verlässlichkeit bei den Einkommen aus selbstständiger Tätigkeit nicht. Das Einkommen (Einnahmen abzüglich Betriebsausgaben) von Selbstständigen entwickelt sich am Markt und ist abhängig von vielen Einflussfaktoren, die nur zum Teil aktiv beeinflusst werden können. Die Umsätze unterliegen saisonalen und konjunkturellen Schwankungen und die Erlöse können bei geringer Nachfrage, verschärfter Konkurrenz und/oder hohen Kosten nur niedrig ausfallen. Insofern ist (Solo-)Selbstständigkeit eine riskante Erwerbsform. Auch die Art und Weise der Tätigkeit unterliegt keinen gesetzlichen Regulierungen, was die Dauer, Lage und Verteilung der Arbeitszeit sowie den Arbeits- und Gesundheitsschutz betrifft (vgl. Kapitel „Arbeit und Gesundheitsschutz“, Pkt. 6). Auf der anderen Seite sind die Einkommen, die Selbstständigen zufließen, nicht in zwingend mit dem Einsatz von Arbeitskraft und Arbeitszeit verbunden. Insbesondere bei Einzelunternehmen und Personenunternehmen ist es nicht nur möglich, sondern auch durchaus üblich, dass Inhaber nur zeitlich begrenzt oder auch gar nicht mehr im Unternehmen tätig sind, da andere, angestellte Personen – so etwa Geschäftsführer –

Einkommensverteilung

195

die Leitungsaufgaben übernehmen. Dies ist bei Ein-Personenunternehmen und freiberuflich Tätigen naturgemäß nicht der Fall. Zusätzlich kompliziert wird die Analyse der Einkommensverhältnisse von Selbstständigen dadurch, dass sowohl mehrfache Wechsel zwischen abhängiger und selbstständiger Tätigkeit als auch die zeitgleiche Kombination von abhängiger Beschäftigung und selbstständiger Tätigkeit keine Seltenheit mehr sind. So kann eine Teilzeittätigkeit im Angestelltenverhältnis verbunden werden mit einer freiberuflichen Tätigkeit im Rahmen von Werkverträgen. Oder aber Industriearbeiter in ländlichen Regionen bessern ihr Einkommen durch Führung eines kleinen landwirtschaftlichen Betriebs auf (Nebenerwerbslandwirte). Daten über die Höhe und Verteilung der Bruttoeinkommen aus selbstständiger Tätigkeit liegen nur begrenzt vor und sind angesichts der breiten Spannweite selbstständiger Tätigkeiten nur mit Vorsicht zu interpretieren. Fließen doch in Durchschnittswerte sowohl die Einkommen von „Kümmerexistenzen“ als auch von Spitzenverdienern ein. Gleichwohl zeigen die Befunde des Mikrozensus, dass Selbstständige im Schnitt ein deutlich höheres Einkommen haben als abhängig Beschäftigte. Erfragt werden im Mikrozensus allerdings nicht die Bruttoeinkommen, sondern die persönlichen Nettoeinkommen im Monat – d. h. die Summe aller Einkunftsarten abzüglich von Steuern und Sozialversicherungsbeiträgen. 2.5

Haushaltseinkommen

2.5.1 Zusammentreffen von Erwerbseinkommen, Sozialeinkommen und Abgaben

Niedrige Erwerbseinkommen, Monatsverdienste wie auch Stundenlöhne, können als Risikofaktoren für eine schlechte Einkommens- und Versorgungslage bezeichnet werden, sie sind damit aber nicht gleichzusetzen. Auch umgekehrt ist eine gute Position in der Verdiensthierarchie noch kein Garant für eine gute Einkommens- und Versorgungslage. Der Grund für diese Offenheit der Beziehung zwischen individuellem Erwerbseinkommen und Lebensstandard liegt darin, dass die Höhe des tatsächlich verfügbaren persönlichen Einkommens von weiteren Komponenten abhängt: •

Neben Löhnen und Gehältern fallen möglicherweise auch Einkommen aus einem Nebenverdienst an sowie – zumindest im kleinen Maßstab – Zinsen, Dividenden, Mieteinnahmen usw. Diese Einkommensarten zählen ebenfalls zum sog. Markteinkommen. • Sozialeinkommen (vor allem Leistungen der Sozialversicherung und der Grundsicherung, aber auch Kindergeld, Wohngeld und Elterngeld) stocken das Markteinkommen auf. Sozialeinkommen werden gerade dann gezahlt, wenn das Arbeitseinkommen ausfällt, nur gering ist oder ganz fehlt.

196

Einkommen



Private Unterhaltsleistungen (so die Zahlungen, die eine alleinerziehende Mutter für ihre Kinder erhält), erhöhen das Einkommen der Mutter, mindern aber das Einkommen des Vaters. • Auf der anderen Seite kommt es zu Einkommensminderungen, da die BruttoMarkteinkommen aber auch manche Sozialeinkommen durch Steuern und Sozialversicherungsbeiträge belastet werden. • Entscheidend ist schließlich, dass die weit überwiegende Zahl der Menschen nicht alleine lebt, sondern gemeinsam mit Partnern und/oder Kindern in einem Mehrpersonenhaushalt. Vom dem persönlichen Einkommen müssen also womöglich mehrere Personen leben. In einem Mehrpersonenhaushalt wiederum fließen aber häufig auch mehrere persönliche Einkommen zusammen. Was also für die Bestimmung der Einkommenslage zählt, ist das verfügbare Einkommen auf der Ebene des Haushalts, der eine Einkommens- und zugleich Verbrauchsgemeinschaft darstellt. Allerdings sind nicht alle Bestandteile des verfügbaren Einkommens tatsächlich disponibel, d. h. frei einsetzbar. Zu unterscheiden ist zwischen den variablen und den fixen Ausgaben, die in einem Haushalt anfallen. Von zentraler Bedeutung bei den fixen Ausgaben sind die Wohnkosten einschließlich der Nebenkosten. Angesichts der Verwerfungen auf dem Wohnungsmarkt und der steigenden Mieten beanspruchen die Wohnungskosten einen wachsenden Anteil des Einkommens. Dabei sind nicht nur erhebliche Unterschiede zwischen Regionen, Städten und auch Stadtteilen zu berücksichtigen. Hinzu kommt, dass Haushalte mit einem niedrigen Einkommen relativ viel stärker belastet sind als Haushalte mit einem hohen Einkommen. Während im Durchschnitt aller Haushalte (2016) 35 % des Budgets für Wohnen, Energie und Wohnungsinstandhaltung eingesetzt werden mussten, waren es in Haushalten mit einem Einkommen im unteren Bereich bis zu 50 %. Bevorzugt sind hingegen Haushalte mit einem sehr hohen Einkommen, für die die Wohnungskosten eine weniger wichtige Bedeutung haben. Besonders gut gestellt sind ihrer Versorgungslage Haushalte, die ein zins- und tilgungsfreies Wohneigentum nutzen können. Selbst genutztes Wohneigentum stellt insofern eine Art zusätzliches Einkommen dar. Die Einkommenslage auf der Ebene des Haushalts setzt sich aus einem Mix mehrerer Einkommensarten zusammen. Je nach Haushaltskonstellation sowie Lebenslage und Lebensphase fällt dieser Einkommensmix unterschiedlich aus: Arbeitseinkommen haben in Haushalten, in denen zumindest ein Partner (vollzeitig) erwerbstätig ist, das entscheidende Gewicht, während in Haushalten von Arbeitslosen die Bedeutung der Sozialeinkommen hoch ist. Dies gilt gleichermaßen für die Haushalte, in denen die ältere Generation lebt. In aller Regel fließen in diesen Haushalten mehrere Sozialleistungen zusammen. So können viele Rentnerhaushalte neben den Ansprüchen auf Alters- und Hinterbliebenenrenten aus der gesetzlichen Rentenversicherung noch Ansprüche auf betriebliche Renten und auf Wohngeld geltend machen. Auch bei Haushalten, die überwiegend von Arbeitslosengeld II leben, kommen häufig

Einkommensverteilung

197

mehrere Einkommen zusammen, da gemäß dem Nachrangprinzip nur dann geleistet wird, wenn alle anderen Einkommen (von Familienmitgliedern) sowie die vorrangigen Sozialleistungen wie Kindergeld oder Unterhaltsvorschuss ausgeschöpft worden sind. Bei den einzelnen Haushalten ist weder die Höhe des Gesamteinkommens noch dessen Zusammensetzung im Zeitablauf konstant. Typisch ist ein wechselhafter Verlauf. In (Ehe)Paarhaushalten kommt der Frage eine entscheidende Bedeutung zu, ob neben dem Mann auch die Frau erwerbstätig ist und zwei Erwerbseinkommen zusammenfließen. Werden Kinder geboren, mindert sich für die Phase der Elternzeit und häufig darüber hinaus das gemeinsame Erwerbseinkommen, wenn ein Partner – in der Regel die Frau – die Erwerbstätigkeit unterbricht oder einschränkt. Auf der anderen Seite ergeben sich Ansprüche auf Kindergeld sowie eventuell Elterngeld und Wohngeld, die die Verluste zwar nicht ausgleichen, aber doch mildern. Der wechselhafte Verlauf von Höhe und Struktur des Haushaltseinkommens wird darüber hinaus durch weitere Lebensereignisse wie Arbeitslosigkeit, Scheidung, Auszug der Kinder oder Übergang in die Phase des Ruhestandes geprägt. Die bei weitem wichtigste Quelle der Einkommen der Haushalte sind (2018) mit über 70 % die Markteinkommen (darunter Einkommen aus Vermögen von knapp 10 %). Die Sozialeinkommen haben einen Anteil von gut 20 %. Die privaten Übertragungen (z. B. Unterhaltszahlungen, private Zuwendungen zwischen Haushalten) stellen die kleinste Komponente der Bruttoeinkommen. Diese Einkommenszuflüsse werden durch Steuern (11 %) und Sozialversicherungsbeiträge (13,4 %) gemindert, so dass die Spanne zwischen dem Bruttohaushaltseinkommen und dem verfügbaren Haushaltseinkommen im Durchschnitt aller Haushalte bei knapp 25 % liegt. Der Saldo aus empfangenen und geleisteten öffentlichen Übertragungen ist im Durchschnitt aller Haushalte also negativ, d. h. die Gesamtsumme der Bruttomarkteinkommen liegt höher als das verfügbare Einkommen nach Umverteilung: Die Sozialeinkommen gleichen die Einkommensabzüge durch direkte Steuern und Beiträge nicht aus. Für diesen sog. negativen Transfersaldo gibt es gleich mehrere Gründe: •

Die Einkommensersatzleistungen der Sozialversicherung werden nur beim Eintritt des Risikos gezahlt. Nur wenn z. B. eine krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit vorliegt und Krankengeld gezahlt wird, nimmt der Transfersaldo einen positiven Wert an. Das ist der Sinn einer auf den Risikoausgleich zielenden Versicherung. • Die Erwerbstätigenhaushalte müssen über ihre Einkommensabzüge die Rentnerhaushalte finanzieren. Diese Einkommensumschichtung zwischen den Generationen darf aber nicht nur kurzfristig, d. h. in einer Periode betrachtet werden (Querschnittbetrachtung). In einer Längsschnittbetrachtung wird sichtbar, dass die Haushalte, die jetzt Beiträge zahlen, später Renten erhalten und dass diese umso höher sind, je höher die vorherigen Erwerbseinkommen waren. Diese intertemporale Umverteilung ist Folge der Lebensstandsicherungsfunktion der Sozialversicherung.

198

Einkommen

• Aus den Beitrags- und Steuerabzügen werden nicht nur die Sozialeinkommen finanziert, die in die Haushalte zurückfließen, sondern auch die realen Transfers (z. B. die Sachleistungen der Krankenversicherung, soziale Dienste und Einrichtungen der Kommunen). Und finanziert aus den Steuereinnahmen werden die allgemeinen Staatsausgaben (öffentliche Verwaltung, Bildungswesen, Verteidigung, Polizei usw.). Der Staat „bereichert“ sich also nicht auf Kosten seiner Bürger:innen. • Durchschnittseinkommen und Transfersalden fallen bei verschiedenen soziodemografischen Gruppen und Haushaltstypen unterschiedlich hoch aus (vgl. Abbildung III.7). Der Abstand ist bei den Haushalten mit geringem Primäreinkommen (Arbeitslose, Alleinerziehende, Rentner:innen) recht gering – bei Erwerbstätigenund Paarhaushalten hingegen deutlich größer. Doch insgesamt ändert das nur wenig an den erheblichen Einkommensunterschieden insgesamt.

Abbildung III.7 Durchschnittliche Bruttoeinkommen und verfügbare Einkommen privater Haushalte* nach Haushaltstyp 2017 (in Euro pro Monat)

2.908 Im Ruhestand 2.566

2.792 Nicht-Erwerbstätige 2.462 brutto netto

1.389 Arbeitslose 1.353

5.770 Arbeitnehmer/-innen 4.153

4.474 Haushalte insgesamt 3.399 0

1.000

2.000

3.000

4.000

* Ohne Selbstständigenhaushalte Quelle: Statistisches Bundesamt (2019), Fachserie 15, Reihe 1, Laufende Wirtschaftsrechnungen.

5.000

6.000

Einkommensverteilung

199

2.5.2 Bedarfsgewichtete Pro-Kopf Einkommen: Nettoäquivalenzeinkommen

Die Höhe der verfügbaren Haushaltseinkommen sagt noch wenig aus über die Einkommenslage der Personen, die in den Haushalten leben. Da die Haushalte nämlich eine unterschiedliche Größe und Zusammensetzung aufweisen, führt die Betrachtung allein des Gesamteinkommens zu falschen Schlussfolgerungen. So wird ein und dasselbe Haushaltseinkommen hinsichtlich des Lebensstandards anders zu bewerten sein, wenn lediglich eine Person damit ihren Lebensbedarf bestreitet, als wenn eine Haushaltsgemeinschaft mit zwei Erwachsenen und zwei Kindern davon leben muss. Erforderlich ist deshalb eine Umrechnung des Haushaltseinkommens auf die jeweiligen Haushaltsmitglieder. Aber auch Pro-Kopf-Einkommensgrößen erweisen sich als begrenzt aussagekräftig, da hier die unrealistische Annahme gemacht wird, dass jede Person in einem Haushalt den gleichen Einkommensbedarf hat. Tatsächlich weisen aber Kinder geringere Bedarfe als erwachsene Personen auf. Zudem wird nicht berücksichtigt, dass es beim gemeinsamen Wirtschaften mehrerer Personen zu Kostenvorteilen kommt (Kostendegression). So muss ein Vierpersonenhaushalt für die Stromrechnung nicht viermal so viel zahlen wie ein Einpersonenhaushalt. Um die Einkommen von Haushalten unterschiedlicher Größe und Zusammensetzung miteinander vergleichbar zu machen, werden bei Verteilungsanalysen sog. Äquivalenzziffern verwendet, die sowohl die Bedarfsunterschiede zwischen Erwachsenen und Kindern als auch die Haushaltsgrößenersparnisse in Rechnung stellen. Üblich ist es, mit einer Äquivalenzskala zu rechnen, bei der Alleinstehenden bzw. der Bezugsperson in Mehrpersonenhaushalten ein Gewicht von 1 zugeordnet wird, weiteren Haushaltsmitgliedern ab 14 Jahren ein Gewicht von 0,5 und Kindern unter 14 Jahren ein Gewicht von 0,3. Das bedeutet, dass beispielsweise bei einem Vier-Personen-Haushalt (Eltern und Kinder von 17 und 12 Jahren) das Gesamteinkommen nicht durch 4,0 geteilt wird, sondern durch 2,3, nämlich 1+0,5+0,5+0,3. Wenn das verfügbare Haushaltsgesamteinkommen durch die Summe der Gewichte der Haushaltsmitglieder dividiert wird, ergibt sich das bedarfsgewichtete ProKopf-Einkommen als personeller Wohlstandsindikator. Es wird auch als Nettoäquivalenzeinkommen bezeichnet. Zu berücksichtigen dabei ist, dass diese Methode auf Annahmen beruht: So wird bei der Umrechnung des Haushaltseinkommens auf das Pro-Kopf-Einkommen unterstellt, dass sämtliche Einkommen der Haushaltsmitglieder in den gemeinsamen Pool einfließen. In der Realität kann sich jedoch auch das Gegenteil vollziehen, wenn etwa der Hauptverdiener einen Teil seines Verdienstes vorab für sich reserviert. Unterstellt wird des Weiteren, dass die Äquivalenzziffern die Bedarfsunterschiede korrekt widerspiegeln und dass die einfließenden Einkommen tatsächlich entsprechend der Äquivalenzziffern aufgeteilt werden, so dass alle Haushaltsmitglieder das gleiche Wohlstandsniveau erreichen. Dies muss in der Lebenswirklichkeit aber nicht immer so sein. Gleichwohl: Um aber überhaupt eine über Einzelfälle hinausreichende Ver-

200

Einkommen

gleichbarkeit von Haushaltseinkommen zu erreichen, führt an generalisierten Annahmen kein Weg vorbei. Verteilung der Nettoäquivalenzeinkommen Tabelle III.2 ist zu entnehmen, dass im Jahr 2016 das monatliche Nettoäquivalenzeinkommen einen Median-Wert von 1 600 Euro aufweist. Mittelwerte lassen allerdings noch keine differenzierten Analysen zu, denn sie ebnen die große Spannweite zwischen hohen und niedrigen Einkommen ein. Will man mehr über die Einkommensverteilung wissen, ist es notwendig, die Abweichungen von den Mittelwerten zu erfassen. Erst dann kann feststellt werden, wie stark die Bevölkerungsanteile besetzt sind, die mit ihren bedarfsgewichteten Pro-Kopf-Einkommen den Mittelwert überoder unterschreiten. Zum einen kann analysiert werden, wie stark die Einkommensgruppen besetzt sind, die den Mittelwert unter- oder überschreiten. So weist Abbildung III.8 auf eine große Spreizung hin: Im Jahr 2016 müssen 8,3 % der Bevölkerung mit einem Nettoäquivalenzeinkommen von weniger als der Hälfte des Durchschnitts (hier: arithmetisches Mittel) auskommen. Personen, deren Nettoäquivalenzeinkommen das Durchschnittseinkommen stark unterschreitet, können als armutsgefährdet angesehen werden (vgl. dazu Pkt. 7.2 dieses Kapitels). Auf der anderen Seite verfügen 19,2 % der Bevölkerung über ein Einkommen, das oberhalb von 150 % des Durchschnitts liegt. Eine weitere Möglichkeit zur Betrachtung der Struktur der Nettoäquivalenzeinkommen besteht darin, eine Aufteilung der Einkommen nach Quintilen (Fünftel) oder Dezilen (Zehntel) vorzunehmen. Dazu werden die Nettoäquivalenzeinkommen in Fünftel oder Zehntel gruppiert, vom untersten, ersten bis zum obersten Quintil bzw. Dezil. Untersucht wird dann, wieviel Prozent der gesamten Einkommen an das erste, zweite usw. Quintil bzw. Dezil fließen.

Tabelle III.2

Nettoäquivalenzeinkommen der privaten Haushalte 1995 – 2016 Perioden 1995 – 1999

Jahre 2000 – 2004

2006 – 2009

2010 – 2014

1996

2015

2016

Median des Äquivalenzeinkommens (real, zu Preisen von 2016, in €) im Monat

1 389

1 447

1 416

1 492

1 399

1 546

1 600

im Vorjahr

18 832

19 801

19 718

20 083

18 828

20 103

20 580

Einkommensanteile (Quintile) (Äquivalenzeinkommen im Monat) untere 20 %

10,1

9,8

obere 20 %

34,5

35,6

9.4 36,7

Quelle: Statistisches Bundesamt (2018), Datenreport.

9,2

10,0

9,0

36,7

35,0

36,7

8.9 36,6

Einkommensverteilung

201

Abbildung III.8 Schichtung der Bevölkerung nach relativer Einkommensposition 1985 – 2016 In % des durchschnittlichen bedarfsgewichteten Haushaltsnettoeinkommens 100%

90%

3,4

3,5

3,7

3,5

3,7

4,3

4,2

4,4

7

7,3

8,8

7,6

8

7,3

8,4

9,1

12,4

11,7

9,6

9,4

9,7

9,6

10,4

9,4

18,6

18,6

17,9

20,4

18

18,1

16

15,8

80%

7,1

> 200%

12,1 150 bis 200%

13,3 70%

60%

125 bis 150%

18,6

50% 26,5

26,7

27,3

28,2

29,1

26

25,8

100 bis 125%

24,4

40%

22

30%

20%

75 bis 100 % 23,2

24,1

23,9

9

8,1

1985

1989

24,8

24,1

24,5

23,5

23,2

8,8

7,5

8,4

10

11,2

12,4

1993

1997

2001

2005

2010

2014

18,6 50 bis 75 %

10%

0%

8,3

0 bis 50 %

2016

1985 und 1990 alte Bundesländer Quelle: Statistisches Bundesamt (zuletzt 2018), Datenreport, Datenbasis SOEP.

Zu erkennen ist, dass 2016 der Anteil der unteren 20 % der Einkommen (unterstes Quintil) bei 8,9 % liegt, der Anteil der oberen 20 % (oberstes Quintil) hingegen bei 36,6 %, was auf Einkommensungleichheit hindeutet. Dieser Befund bestätigt sich, wenn die Höhe des Gini-Koeffizienten betrachtet wird. Dieser mathematische Indikator zur Messung von Einkommensungleichheit kann Werte zwischen 0 (völlige Gleichverteilung) und 1 (einer besitzt alles) annehmen. Zunahme der Ungleichverteilung Verfolgt man die Entwicklung der Verteilung der Nettoäquivalenzeinkommen über einen längeren Zeitraum hinweg, ist nicht zu übersehen, dass sich die Spannweite zwischen „unten“ und „oben“ vergrößert hat. Die Ungleichheit hat deutlich zugenommen, und dies trotz der günstigen gesamtwirtschaftlichen Entwicklung und des Rückgangs der Arbeitslosigkeit. So weist der Gini-Koeffizient einen zwar wechselvollen, aber insgesamt steigenden Verlauf auf. Auffällig ist der steile Anstieg zwischen 2000 und 2005 sowie die erneute Zunahme seit 2010 (Abbildung III.9). Schaut man genauer hin, dann zeigt sich, dass sich die einzelnen Einkommensgruppen – nach Dezilen untergliedert – im Zeitverlauf sehr unterschiedlich ent-

202

Einkommen

Abbildung III.9

Gini-Koeffizient der verfügbaren Haushaltseinkommen 1991 – 2016

0,300 0,295

0,290

0,291

0,285

0,285

0,287

0,286

0,279

0,280

0,277

0,272

0,273

0,270

0,288

0,289

0,280

0,291

0,290

0,260

0,254

0,257

0,255

0,259

0,249

0,250

0,249

0,249

0,252

0,247

0,240

0,251

0,250

0,230

0,220

1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016

Quelle: Spannagel, D.; Molitor, K. (2019), WSI-Verteilungsbericht 2019, WSI-Report Nr. 53, Datenbasis SOEP.

wickelt haben (Abbildung III.10). Indexiert man das durchschnittliche Einkommen jedes Dezils auf das Jahr 1991, lässt sich erkennen, dass die realen Einkommen der oberen Gruppen/Dezile deutlich angestiegen sind, wohingegen die untersten Gruppen/Dezile sogar Verluste aufweisen. Wenn also eine wachsende Ungleichheit festgestellt werden kann, dann ist dies in erster Linie eine Folge des Auseinanderdriftens der Einkommen am oberen und unteren Rand. Der Anteil der Personen, die einem Armutsrisiko unterliegen, ist gewachsen. Und zugenommen hat zugleich der Kreis derjenigen, die man als „einkommensreich“ bezeichnen kann und deren Einkommen sich zu großen Teilen aus Kapitaleinkommen zusammensetzen (vgl. Pkt. 8 dieses Kapitels). Bei der Interpretation dieser Befunde ist zu beachten, dass es sich jeweils um Zeitpunkterhebungen handelt und nicht um Einkommensverläufe einzelner Personen. Deshalb kann nicht geschlussfolgert werden, dass die Einkommensgruppen/Dezile stets mit denselben Personen bzw. Haushalten besetzt sind. Ganz im Gegenteil gibt es auf der Einkommensskala persönlichen Auf- und Abwärtsprozesse. Eine Aufwärtsentwicklung der Einkommensposition kann beispielsweise durch eine berufliche Karriere, durch Überwindung von Arbeitslosigkeit oder durch einen Übergang von Teilzeit- auf Vollzeitarbeit ausgelöst werden. Für eine Verschlechterung der Einkommensposition können z. B. der Eintritt von (Langzeit)Arbeitslosigkeit, berufliche Abstufungen oder Erkrankungen verantwortlich sein. Insbesondere Versorgung und

Einkommensverteilung

203

Abbildung III.10 Entwicklung des durchschnittlichen verfügbaren Haushaltseinkommens nach Dezilen 1991 – 2016

Quelle: Grabka, M., Goebel, J., Liebig, St. (2019), Wiederanstieg der Einkommensungleichheit, DIW-Wochenbericht 19/2019, S. 346.

Erziehung von Kindern erweisen sich als ein Grund für Einkommens- und Wohlstandseinbußen von Frauen in der mittleren Lebens- und Erwerbsphase. Aus den Befunden des Sozio-Oekonomischen Panels lässt sich entnehmen, dass zwar die Einkommensmobilität ausgeprägt und ein langjähriges Verweilen in einer Einkommensgruppe eher selten ist. Die Auf- und Abwärtsentwicklung bewegt sich allerdings weit überwiegend zwischen den angrenzenden Einkommensklassen. Die Chance, im Lebensverlauf vom unteren bis in den obersten Einkommensbereich zu gelangen, ist gering. 2.5.3 Verteilungswirkungen des Sozialstaats

Inwieweit vermindert der Sozialstaat durch die Doppelwirkung von Einkommensleistungen auf der einen, Steuer- und Beitragsabzügen auf der anderen Seite die Ungleichheiten bei der Einkommensverteilung ? Zur Beantwortung dieser Frage müssen die Haushaltsmarkteinkommen mit den verfügbaren Haushaltseinkommen verglichen werden. Nimmt man wieder den Gini-Koeffizienten als Maßgröße, ist das Ergebnis eindeutig: Die verfügbaren Einkommen sind deutlich gleichmäßiger verteilt als die Markteinkommen: Allerdings vergrößert sich im Zeitverlauf seit 1991 in beiden Fällen das Maß der Ungleichverteilung (Abbildung III.11). Dies zeigt, dass trotz eines erheblichen Mitteleinsatzes im Rahmen der sozialstaatlichen Umverteilung der Prozess der Einkommensspreizung zwar abgebremst aber nicht ausgeglichen werden konnte. Die Ausgleichsfunktion des Sozialstaates ist damit in den zurückliegenden Jahren unter zunehmenden Druck geraten. Da die Ungleichheit der Markteinkommen zugenommen hat, wird es immer schwieriger und aufwändiger eine nachträgliche Korrektur zu erreichen.

204

Einkommen

Abbildung III.11 Einkommensungleichheit von Markteinkommen und verfügbarem Einkommen seit 1991 – 2015 (Gini-Koeffizient) 0,55 0,50 0,45 0,40 0,35 0,30 0,25 0,20 1991

1993

1995

1997

1997

2001

2003

2005

2007

2009

2011

2013

2015

Quelle: Grabka, M., Goebel, J. (2018), Einkommensverteilung in Deutschland: Realeinkommen sind seit 1991 gestiegen, aber mehr Menschen beziehen Niedrigeinkommen, DIW-Wochenbericht 21/2018, S. 454.

Das Ausmaß der Ausgleichswirkung durch die sozialstaatliche Umverteilung hängt zum einen von der Dimension wie von der Struktur des Systems der sozialen Sicherung ab. Zum anderen kommt es auf die Verteilungswirkung von Steuern und Beiträgen an. Besonders wirksam ist die Umverteilung bei jenen Leistungen, die Personen begünstigen, die – so insbesondere Arbeitslose und andere Nichterwerbstätige – bei den Markteinkommen völlig leer ausgehen. Strittig ist die Bewertung von Renten/ Pensionen. Rechnet man sie zu den Sozialeinkommen, wirkt der Sozialstaat stark, rechnet man sie zu den Markteinkommen, betrachtet sie also als quasi zeitverschobene Einkommen aus der Erwerbsphase, reduziert sich der Gini-Koeffizient der Markteinkommen erheblich. Die hier skizzierte Analyse der Verteilungswirkungen des Sozialstaates begrenzt sich auf die messbaren monetären Dimensionen. Bei der Bewertung der Wohlfahrtslage der Bevölkerung muss aber auch in Rechnung gestellt werden, mit welchem zeitlichen Aufwand und welchen körperlichen und psychischen Belastungen die Einkommen erzielt werden. So ist eine bestimmte Einkommensposition, die nur durch Überstunden, Wochenend- und/oder Nachtarbeit oder Zuschläge für körperliche Belastungen erreicht wird, sicherlich anders zu bewerten als dieselbe Einkommensposition, die sich primär durch Vermögenserträge, also durch arbeitsfreies Einkommen, ergibt.

Steuern und Einkommensverteilung

205

Schließlich dürfen bei einem Vergleich der individuellen Wohlfahrtspositionen die Verteilungswirkungen der Inanspruchnahme der Angebote der öffentlichen Infrastruktur sowie sozialen Sach- und Dienstleistungen nicht ausgeklammert werden. Ein Problem ist allerdings, dass sich diese Realtransfers den Individuen oder Haushalten nur schwer zuordnen lassen. Da die Inanspruchnahme von Sach- und Dienstleistungen und die Nutzung öffentlicher Einrichtungen nicht von der Höhe der Steuer- und Beitragszahlung abhängig sind, sondern bedarfsbezogen erfolgen, könnte man erwarten, dass reale Transfers annähernd gleich verteilt werden. Doch gibt es eine Fülle von empirischen Belegen, die darauf hinweisen, dass gerade einkommensschwache Bevölkerungsgruppen von den Realtransfers unterproportional profitieren. Hierbei handelt es sich um ein komplexes ökonomisches und sozialkulturelles Problem, dessen Ursachen an einzelnen Beispielen zu verdeutlichen sind. Eine sozial selektive Inanspruchnahme öffentlicher Güter und Dienste ist u. a. eine Folge von •

fehlenden formalen Voraussetzungen, da z. B. der Besuch einer Hochschule eine Hochschulzugangsberechtigung (Abitur) voraussetzt, • fehlenden finanziellen Voraussetzungen, wenn z. B. eine weiterführende Ausbildung an einer unzureichenden Ausbildungsförderung scheitert oder die Benutzung öffentlicher Kultureinrichtungen (Oper, Theater) durch die zwar subventionierten, aber immer noch hohen Eintrittspreise verhindert wird, • selektiven Angebotsstrukturen, wenn sich z. B. die medizinische, schulische und weitere infrastrukturelle Versorgung in „besseren“ Wohnvierteln und Stadtteilen konzentriert, • mangelnder Bedarfsartikulation bestimmter Bevölkerungsgruppen aufgrund von Informationsdefiziten oder eines schichtdifferenten Verhaltens (soziale Distanz gegenüber Ärzten oder Lehrern, soziale Unterschiede im Umgang mit Krankheiten).

3

Steuern und Einkommensverteilung

3.1

Belastung durch direkte und indirekte Steuern

Der Staat ist zur Finanzierung seiner vielfältigen Aufgaben auf ausreichende und stabile Einnahmen angewiesen. Die Einnahmebasis wird im Wesentlichen durch Steuern sichergestellt. Ohne ein ergiebiges Steueraufkommen kann es keinen aktiven (Sozial)Staat geben. Die Erhebung von Steuern hat deshalb vorrangig einen fiskalischen Zweck. Im deutschen Steuersystem finden sich vielfältige Steuerarten, deren Aufkommen sich auf Bund, Länder und Gemeinden verteilt (zu den Steuerarten und ihrer Aufkommenshöhe und -entwicklung (vgl. Kapitel „Ökonomische Grundlagen und Finanzierung“, Pkt. 3,5.2). Da Steuererhebung immer bedeutet, dass die Markteinkommen vermindert oder (durch Verbrauchsteuern) die Preise für die Kon-

206

Einkommen

sumenten erhöht werden, bedarf die Steuerpolitik in einer Demokratie im besonderen Maße der Zustimmung der Bürger:innen. Entscheidende Kriterien für die Akzeptanz des Steuersystems sind die Fragen nach der Verwendung der Steuereinnahmen und nach der gerechten Verteilung der Steuerlast. Was soziale Gerechtigkeit in der Steuerpolitik konkret bedeutet, lässt sich zwar nicht eindeutig bestimmen, aber auf der allgemeinen Ebene herrscht Einigkeit darüber, dass bei der Besteuerung der Einkommen Rücksicht auf die Belastbarkeit und Leistungsfähigkeit zu nehmen ist und insofern Personen mit einem höheren Einkommen nicht nur absolut, sondern auch relativ stärker zur Finanzierung der Staatsaufgaben beitragen sollten. Dauerhaft kontrovers wird die Frage diskutiert, ob die aktuelle Struktur des Steuersystems in der Kombination von Einkommensteuern und Verbrauchsteuern „gerecht“ ist. Wenn unter verteilungspolitischen Gesichtspunkten darauf abgestellt wird, die Belastung von hohen und höchsten Einkommen zu Gunsten von niedrigen und mittleren Einkommen zu verschieben, dann lässt sich dies durch Veränderung des Tarifverlaufs bei der Einkommensteuer (Anhebung des Grundfreibetrags, Verlängerung und Ausgestaltung der Progressionszone, Anhebung des Spitzensteuersatzes) erreichen. In dieselbe Richtung zielt die Forderung nach einer stärkeren Besteuerung von Erbschaften und einer (Wieder)Besteuerung des Vermögens. Die Steuerpolitik hat aber nicht allein fiskalische und verteilungspolitische Ziele zu beachten. Einzelnen Verbrauchsteuern wird die Aufgabe zugewiesen, ein bestimmtes, gesellschaftlich erwünschtes Verhalten zu fördern. Ökosteuern beispielsweise sollen zur Einsparung von Energie, Klimasteuern zur Verringerung des CO2 Ausstoßes und Tabaksteuern zu Eindämmung des Rauchens führen. Ob diese Ziele durch die steuerlich bewirkte Anhebung von Preisen erreicht werden, bleibt allerdings offen. Die Empirie zeigt, dass die gesamtwirtschaftliche Steuerbelastung (Anteil aller Steuereinnahmen am BIP) einen konstanten Verlauf aufweist und im Jahr 2018 bei 23,6 % liegt. Die ergiebigste Steuer ist und bleibt die Lohnsteuer, konjunkturabhängig sind die Anteilswerte der Gewinnsteuern (veranlagte Einkommensteuer, nicht veranlagte Steuern vom Ertrag, Körperschaftsteuer, Gewerbesteuer). Und im Verhältnis zwischen direkten und indirekten Steuern gewinnen die indirekten Steuern (Umsatzsteuer und andere Verbrauch und Aufwandsteuern) leicht an Gewicht (vgl. dazu Kapitel „Ökonomische Grundlagen und Finanzierung“, Pkt. 3.5.2). Aufgrund der Vielgestaltigkeit des Steuersystems und der Wechselwirkungen zwischen Besteuerung und dem wirtschaftlichen Verhalten von Personen und Unternehmen lässt sich nur schwer bestimmen, in welche Richtung und in welchem Maße die Besteuerung die Markteinkommen umverteilt. So kommt es zur Beurteilung der effektiven Belastungen nicht allein auf die Steuersätze an. Maßgebend ist vielmehr, auf welche Bemessungsgrundlage sich die Sätze beziehen und welche Möglichkeiten es gibt, die Bemessungsgrundlage durch das Ausnutzen von Ausnahme- und Sondertatbeständen zu verringern. Das Steuerrecht bietet insbesondere den Unternehmen und den Spitzenverdienern eine Fülle von Ansatzpunkten der Steuerverminderung oder gar -vermeidung.

Steuern und Einkommensverteilung

207

Zudem gilt, dass die Verteilungswirkungen des Steuersystems durch den Vorgang der Steuerzahlung noch nicht erfasst sind. Es kommt darauf an, ob Steuern überwälzt werden können und Steuerzahllast und Steuertraglast deshalb voneinander abweichen. Möglichkeiten dazu bieten sich bei den unternehmens- und gewinnbezogenen Steuern, da hier versucht werden kann, die Belastungen auf Preise, Löhne und/oder Vorlieferanten zu verlagern. Ob dies gelingt, hängt entscheidend von der Markt- und Machtlage ab. Hingegen gibt es bei der Lohnsteuer kaum Überwälzungschancen, sie muss von den Arbeitnehmer:innen gezahlt und auch getragen werden. Die Mehrwertsteuer wie die anderen Verbrauchsteuern werden in der Regel voll auf die Preise überwälzt, so dass die Konsumenten als Steuerträger anzusehen sind. Da mit zunehmendem Einkommen der Anteil des Konsums am Gesamteinkommen sinkt und die Sparquote entsprechend steigt, verringert sich die relative Belastung durch die Mehrwertsteuer mit steigendem Einkommen (regressiver Belastungsverlauf). Stärker belastet werden hingegen Personen mit geringem Einkommen oder kinderreiche Familien, da in beiden Fällen die Konsumquote hoch liegt und die indirekten Steuern im Unterschied zur Einkommensteuer keine Rücksicht auf das Existenzminimum nehmen. Eine Entlastung bei der Mehrwertsteuer bringt allerdings der ermäßigte Steuersatz von 7 % (insbesondere auf Nahrungsmittel).

Tabelle III.3 Eckwerte des Einkommensteuertarifs 2001 – 2019 in Euro Grundfreibetrag Ledige

Eingangssteuersatz in %

Spitzensteuersatz in %

Steuerfreies Jahresarbeitsentgelt Steuerklasse I/IV

III

2001

7 206

19,9

48,5

10 380

19 436

2002

7 235

19,9

48,5

10 367

19 475

2004

7 664

16,0

45,0

10 782

20 416

2006

7 664

15,0

42,0

10 782

20 416

2008

7 664

15,0

42,0/45,0*

10 782

20 416

2010

8 004

14,0

42,0/45,0*

10 674

20 210

2012

8 004

14,0

42,0/45,0*

10 863

20 482

2014

8 354

14,0

42,0/45,0*

11 352

21 453

2016

8 652

14,0

42,0/45,0*

11 823

22 381

2018

9 000

14,0

42,0/45,0*

12 354

23 434

2019

9 168

14,0

42,0/45,0*

12 618

23 956

* Reichensteuer, Steuersatz von 45 % bei einem Einkommen oberhalb von 257 000 € Quelle: Bundesministerium der Finanzen.

208

Einkommen

Die Belastungswirkung der Einkommensteuer (Lohnsteuer, veranlagte Einkommensteuer, nicht veranlagte Steuer vom Ertrag, Körperschaftsteuer) wird durch den progressiv verlaufenden Steuertarif bestimmt: Mit steigendem Einkommen müssen höhere Steuern bezahlt werden, und zwar nicht nur in absoluter Höhe, sondern auch in Relation zum Einkommen. Für das Steueraufkommen bedeutet dies, dass das Gros der Einnahmen aus der Einkommensteuer von den Steuerpflichtigen im oberen Einkommenssegment aufgebracht wird. So haben 2016 die oberen 25 % der Steuerpflichtigen (mit steuerpflichtigen Einkünften oberhalb von 50 645 Euro im Jahr; wobei zusammen veranlagte Ehepaare als ein Steuerpflichtiger rechnen) 77,5 % des gesamten Aufkommens gestellt, während die unteren 25 % der Steuerpflichtigen zum Aufkommen aus der Einkommensteuer überhaupt nicht beigetragen haben. In Abbildung III.12 wird der Steuertarif 2019 wiedergegeben. Es lassen sich drei Zonen des Tarifverlaufs (bemessen am Jahreseinkommen) unterscheiden: •

Im Bereich niedriger Einkommen, die einen Grundfreibetrag unterschreiten, muss keine Einkommensteuer entrichtet zu werden. Die Höhe dieses Grundfreibetrages liegt bei 9 168 Euro (alleinstehend) bzw. 18 336 Euro (verheiratet). Diese Regelung spiegelt die verfassungsrechtlich gebotene Steuerfreistellung des am Sozialhilfeniveau bemessenen Existenzminimums wider. • Überschreitet das Einkommen den Grundfreibetrag, beginnt die Besteuerung mit einem Eingangssteuersatz von 14 %, d. h. von dem ersten oberhalb des Grundfreibetrags verdienten Euro müssen 0,14 Euro an den Staat abgeführt werden. Mit steigendem Einkommen steigt der Steuersatz linear an. • Die Zone der linearprogressiven Besteuerung endet mit einem Spitzensteuersatz von 42 %, der bei einem Jahreseinkommen von rund 56 000 Euro (allein stehend) bzw. 112 000 Euro (verheiratet) erreicht wird. Jedes Einkommen oberhalb dieser Grenzwerte wird dann mit 42 % versteuert. • Ab einem Jahreseinkommen von rund 265 000 Euro greift die sog. Reichensteuer mit einem Steuersatz von 45 %. Ausdrücklich zu betonen ist, dass dieser Tarifverlauf die Grenzsteuerbelastung wiedergibt. Bei der Grenzbetrachtung geht es darum, um welchen Prozentsatz das jeweils zusätzliche Einkommen belastet wird. So bezahlt ein Spitzenverdiener nicht auf sein gesamtes Einkommen den Steuersatz von 42 %. Die durchschnittliche Steuerbelastung des gesamten Einkommens liegt deutlich niedriger, da alle Steuerzahler zunächst vom Grundfreibetrag profitieren und die nachfolgenden Einkommensbestandteile beginnend mit dem Eingangssteuersatz erst langsam höher besteuert werden. Aus Abbildung III.12 ist zu erkennen, dass die durchschnittliche Steuerbelastung weit unterhalb der Grenzsteuerbelastung liegt und mit steigendem Einkommen auch schwächer ansteigt. Bei einem Jahreseinkommen von 55 000 Euro (Spitzensteuersatz von 42 %) beträgt die durchschnittliche Steuerbelastung rund 26 %.

Steuern und Einkommensverteilung

209

Abbildung III.12 Grenz- und Durchschnittssteuersätze 2019, in % des zu versteuernden Jahreseinkommens, ohne Solidaritätszuschlag Spitzensteuersatz 42,0

40

42,0

42,0

39,4

Grenzsteuersätze 37,3

35

35,1 32,9

30

30,8 28,6

25

26,5

26,0

24,3

24,6

23,1

20

28,5

27,4

21,4 19,6

Eingangssteuersatz

15

17,6

15,6 14,0

Durchschnittssteuersätze = effektive Steuerbelastung

15,2 12,1

10 7,6

5

64.000

62.000

60.000

58.000

56.000

54.000

52.000

50.000

48.000

46.000

44.000

42.000

40.000

38.000

36.000

34.000

32.000

30.000

28.000

26.000

24.000

22.000

20.000

18.000

16.000

14.000

12.000

8.000

1,2

10.000

6.000

4.000

0

2.000

Zu versteuerndes Jahreseinkommen 0

Quelle: Eigene Darstellung nach Bundesministerium der Finanzen (2019), Grenz- und Durchschnittsbelastung nach Tarif 2018.

3.2

Sozialpolitik durch Steuerpolitik

Sozialpolitische Ziele lassen sich durch steuerpolitische Maßnahmen nur begrenzt erreichen. Denn selbst ein Verzicht auf Besteuerung kann unzureichendes oder fehlendes Einkommen nicht ersetzen. Zwar ließe sich nach dem Modell der sog. Negativsteuer eine Verbindung zum Steuersystem insofern herstellen, dass das Finanzamt beim Unterschreiten einer bestimmten Einkommensschwelle statt Steuern zu erheben, Sozialeinkommen, also Negativsteuern, auszahlt. Kritische Analysen dieses Modells kommen jedoch zu dem Ergebnis, dass es weder praktikabel noch finanzierbar ist (vgl. Pkt. 9.1 dieses Kapitels). Steuerfreibeträge Sozialpolitik durch Steuerpolitik bedeutet, dass beim Vorliegen bestimmter Lebensumstände oder besonderer Aufwendungen die Steuerlast gemindert wird und sich eine relative Besserstellung hinsichtlich der Nettoeinkommensposition im Vergleich zu anderen Personen bzw. Haushalten mit gleichem Bruttoeinkommen ergibt. Strittig ist, ob Steuerfreibeträge lediglich die Zielgruppen begünstigen oder ob sie als Aus-

210

Einkommen

gleich ungleicher Leistungsfähigkeit gerechtfertigt sind. Die Liste der einzelnen Sonderregelungen ist umfänglich. Das Einkommensteuerrecht kennt u. a.: • • •

Kinderfreibeträge, Freibeträge für Betreuung, Erziehung und Ausbildung von Kindern, Freibeträge wegen erhöhter Sonderausgaben oder außergewöhnlicher Belastungen (z. B. bei Krankheitskosten, Behinderungen, Heimunterbringung, Unterhaltsleistungen gegenüber bedürftigen Angehörigen).

Die Berücksichtigung von Freibeträgen bedeutet, dass sich das zu versteuernde Einkommen, also die steuerliche Bemessungsgrundlage, um den entsprechenden Betrag vermindert. Entsprechend dem Tarifverlauf der Einkommensteuer wirken sich die Freibeträge sehr unterschiedlich aus: Je höher das Einkommen liegt, umso höher fallen die Entlastungen aus, da im oberen Einkommensbereich die Steuersätze hoch sind. Personen, die mit ihrem Einkommen nur im Eingangsbereich der Steuerprogression liegen, können hingegen mit nur einer sehr geringen Steuerersparnis rechnen. Um diese problematische Wirkung von Freibeträgen auszugleichen, kann auch der Weg gewählt werden, von der Steuerschuld einen festen, von der Höhe des Einkommens und der Steuerschuld unabhängigen Betrag abzuziehen. Das wird bei der Förderung von haushaltsnahen Dienstleistungen in Privathaushalten praktiziert. Fördermaßnahmen über Steuerentlastungen haben immer den Effekt, dass jene völlig leer ausgehen, die überhaupt keine Steuern zahlen, sei es, weil kein steuerpflichtiges Einkommen vorliegt oder weil das Einkommen den Grundfreibetrag nicht übersteigt. In diesen Fällen kann eine Förderung nur über direkte Transfers erfolgen. Dies ist beim Kindergeld der Fall, das dann in Anspruch genommen werden kann, wenn die steuerliche Entlastung durch den Freibetrag nicht greift oder niedriger als das Kindergeld ausfällt. Rechtlich und systematisch ist das Kindergeld also eine einkommensteuerrechtliche Leistung; es ist eine Art Negativsteuer, die vom Staat ausgezahlt wird. (vgl. Kapitel „Familie und Kinder“, Pkt. 6.1.2). Vergleichbar verläuft die steuerliche Förderung der privaten Altersvorsorge: Die Anspruchsberechtigten können entweder eine Zulage beantragen, oder – wenn sich dies bei höheren Einkommen als günstiger erweist – private Altersvorsorgeaufwendungen als Sonderausgaben von der Steuer absetzen. Es gilt die jeweils günstigste Variante, wobei das Finanzamt die Prüfung vornimmt (vgl. Kapitel „Alter“, Pkt. 8.2.2). Ehegattensteuersplitting Besondere Bedingungen weist das Einkommensteuerrecht für Verheiratete auf. Die Ehepartner werden nach dem Grundsatz des Steuersplittings nicht individuell, sondern gemeinsam veranlagt. Jeder Partner wird so behandelt, als habe er vom Gesamteinkommen genau die Hälfte verdient. Das so gesplittete Einkommen wird dann jeweils nach dem Steuersatz für Ledige versteuert. Dadurch ergeben sich erhebliche

Steuern und Einkommensverteilung

211

finanzielle Vorteile für Ehepaare, bei denen nur der Mann verdient oder bei denen die Einkommensdifferenz zwischen Mann und Frau sehr groß ist. Denn aufgrund des progressiven Verlaufs der Einkommensteuer ist die Steuerschuld von zwei halben Einkommen geringer als die eines Gesamteinkommens in der gleichen Höhe (vgl. dazu ausführlich Kapitel „Familie und Kinder“, Pkt. 6.4.2). Sind beide Ehepartner erwerbstätig, dann entscheidet die Wahl der Steuerklassen darüber, bei wem sich die Entlastungen durch das Steuersplitting und die Grundfreibeträge niederschlagen. Bei der Kombination der Steuerklassen III/V wird der in III eingestufte Besserverdienende – in aller Regel der Mann – stark entlastet, während in der Steuerklasse V sehr hohe Abzüge anfallen. 90 % der in Steuerklasse V Veranlagten sind Frauen. Für viele Ehefrauen liegt deshalb die Frage nahe, ob sie angesichts des geringen Nettoverdienstes überhaupt mehr als geringfügig arbeiten sollen. Das Steuerrecht setzt also starke Anreize für die traditionelle Hausfrauenehe oder für eine lediglich geringfügige Beschäftigung. Zu beachten ist bei der Steuerklassenwahl auch, dass alle am Nettoeinkommen berechneten Lohnersatzleistungen wie Arbeitslosengeld, Unterhaltsgeld, Krankengeld, Übergangsgeld und Mutterschaftsgeld bei der Steuerklasse V entsprechend gering ausfallen. Steuerliche Behandlung von Altersvorsorge und Alterseinkünften Im Steuerrecht werden die verschiedenen Formen von Altersvorsorgeaufwendungen und Alterseinkünften sehr unterschiedlich behandelt. Versorgungsbezüge der Beamten werden als nachträglich gezahltes Arbeitsentgelt gewertet und unterliegen voll der Steuerpflicht (nachgelagerte Besteuerung). Bei den Renten aus der Rentenversicherung befinden wir uns in einem Übergangsprozess von der vorgelagerten auf die nachgelagerte Besteuerung. Seit 2005 werden die Renten schrittweise, über einen Zeitraum von 45 Jahren, einer regulären Besteuerung unterworfen, allerdings bleibt eine angemessene Altersvorsorge steuerfrei. Im Gegenzug werden die Vorsorgeaufwendungen (Arbeitnehmerbeiträge) schrittweise (volle Wirkung im Jahr 2025) von der Besteuerung freigestellt (vgl. Kapitel „Alter“, Pkt. 6.5.6). Sehr unterschiedliche steuerliche Regelungen gelten auch für die einzelnen Durchführungswege der privaten und betrieblichen Altersvorsorge. Die im Rahmen der Rentenreform 2002 („Riester-Rente“) eingeführte Förderung der privaten Altersvorsorge sieht ein Optionsmodell zwischen einer Sonderausgaben-Anrechnung oder Zulagen vor. Die betriebliche Altersvorsorge wird durch die Möglichkeit der Entgeltumwandlung gefördert; der für die Altersvorsorge verwandte Teil des Bruttoentgelts bleibt steuer- und beitragsfrei (vgl. im Einzelnen Kapitel „Alter“, Pkt. 8.2.2).

212

4

Einkommen

Existenzsicherung ohne Erwerbseinkommen

Wenn wegen Krankheit, Unfällen, Arbeitslosigkeit, Mutterschaft die Erwerbstätigkeit unterbrochen bzw. erst gar nicht möglich ist oder wegen Invalidität oder fortgeschrittenem Alter ganz aufgegeben wird und damit das Erwerbseinkommen ausfällt, muss die Existenzsicherung über andere Wege gewährleistet werden. Existenzsicherung außerhalb von Erwerbsarbeit lässt sich in verschiedenen, sich teilweise ergänzenden Formen denken und praktizieren. In historischer Perspektive kommt den traditionellen Problemlösungen, nämlich Unterstützung durch familiäre Hilfen (Unterhaltsleistungen), private Wohltätigkeit (Zuwendung in Form von Spenden usw.) und Armenfürsorge zentrale Bedeutung zu. Mit dem Übergang zu einer entwickelten Marktgesellschaft gewinnen betriebliche Absicherungen sowie Vermögensbildung und Privatversicherung an Gewicht. Gemeinsam ist der familiären wie der marktförmigen Absicherung, dass der Staat in den Prozess der Einkommenstransfers nicht eingeschaltet ist; es werden zwar rechtliche Rahmenbedingungen gesetzt, aber über die öffentlichen Haushalte keine Gelder bewegt. Dies verändert sich bereits, wenn familiäre und marktförmige Absicherungen steuerlich gefördert werden. Von einer echten staatlichen bzw. öffentlichen sozialen Sicherung kann aber erst gesprochen werden, wenn die Leistungen gesetzlich festgelegt sind, über staatliche bzw. öffentlich-rechtliche Träger ausgezahlt und über Abgaben finanziert werden.

Übersicht III.2 Einkommenssicherung bei sozialen Risiken und Notlagen Absicherungsform

Instanz

(1)

Familiäre Unterstützung, Unterhaltszahlungen

Familie/Gemeinschaft

(2)

Private Wohltätigkeit, Spenden

(Zivil)Gesellschaft

(3)

Private Vorsorge: Sparen/Vermögensbildung

Markt

(4)

Private Vorsorge: Privatversicherungen

Markt

(5)

Absicherung durch betriebliche Sozialleistungen

Betrieb/Markt

(6)

Steuerliche Förderung von (1), (2), (3), (4), (5)

Staat

(7)

Fürsorgeleistungen/Grundsicherung

Staat/Kommune

(8)

Sozialversicherung

Staat/Parafisci

(9)

Förderleistungen

Staat

Existenzsicherung ohne Erwerbseinkommen

4.1

213

Private Vorsorge durch Vermögensbildung

Wenn die Wechselfälle des Lebens zu Einkommensrisiken führen, die die Existenzsicherung gefährden und zugleich der Rückgriff auf Hilfen im Familienverband nicht möglich oder gewünscht ist, dann bietet es sich an, durch Sparen beizeiten vorzusorgen. Durch das Zurücklegen eines Teils des laufenden Einkommens und den Aufbau eines Geld-, Produktiv- und/oder Grundvermögens ist es möglich, im Risikofall über eine Reserve zu verfügen, die aufgelöst und zur Bestreitung des Lebensunterhalts eingesetzt werden kann. Zudem entsteht aus den Erträgnissen des Vermögens ein Einkommen, das die Menschen an den Zuwächsen der Wirtschaft beteiligt und unabhängig vom Arbeitseinsatz fließt. Lassen sich also über Vorsorgesparen und Vermögensbildung die Einkommensrisiken bewältigen ? Die Analyse zeigt, dass dieser Weg eines intertemporalen Einkommensausgleichs auf enge Grenzen stößt und die staatliche Sozialpolitik ergänzen, aber nicht ersetzen kann (vgl. auch Kapitel „Alter“, Pkt. 5.2.2). Dieses Ergebnis gründet auf mehreren Faktoren. Fehlende Abschätzbarkeit der Risiken Zwar ist jedem Menschen bekannt, dass im Leben eine Reihe von Wechselfällen eintreten wird. Aber unbekannt ist, wann, wie häufig, wie lange und in welcher Höhe die Risiken eintreffen. So bleibt offen, wann und mit welchem Schweregrad der Lebenslauf durch Erkrankungen, Unfälle, fehlende Erwerbsfähigkeit, Erwerbsminderung oder Arbeitslosigkeit unterbrochen wird. Im ungünstigen Fall treten die Unterbrechung oder gar der Verlust des Erwerbseinkommens bereits auf, ehe überhaupt mit der Vermögensbildung begonnen worden ist. Und sind Reserven vorhanden, dann reichen die Beträge in der Regel nur zur Überbrückung kurzer Phasen aus. Hinzu kommt, dass bei Erkrankungen und Unfällen zusätzliche Ausgaben anfallen. Der Vorsorgebedarf für das Alter hingegen ist absehbar, da auf eine bestimmte Altersgrenze, ab der die Erwerbstätigkeit aufgegeben und das Erwerbseinkommen entfällt, orientiert werden kann. Unklar ist hingegen die Höhe des Vorsorgebedarfs, da sich die individuelle Lebensdauer, für die dann der Kapitalstock reichen muss, nicht abschätzen lässt (sog. biometrisches Risiko). Bei einem langen Leben können sich selbst hohe Rücklagen als unzureichend erweisen. Ungewiss ist, wann der Zustand der Pflegebedürftigkeit eintritt. In aller Regel ist dies erst im hohen Alter der Fall, aber Behinderungen und schwere Erkrankungen können bereits in jungen Jahren zur Pflegebedürftigkeit führen, Sicherheitsrisiken bei der Vermögensanlage Vermögensbildung vollzieht sich in unterschiedlichen Anlageformen (so Sparpläne, Kauf von Aktien und festverzinslichen Anleihen, Beteiligung an Investmentfonds). Immer ist es das Ziel, an den Erfolgen auf den Kapitalmärkten beteiligt zu werden und Renditen zu erzielen. Je höher die mögliche Rendite, umso höher allerdings auch die Risiken. Wie die Erfahrungen zeigen, unterliegt der internationale Kapitalmarkt

214

Einkommen

ausgeprägten Schwankungen; Phasen steigender Kurse werden durch Phasen sinkender Kurse abgelöst. Unkalkulierbar bleibt auf jeden Fall, wie sich die reale Verzinsung entwickelt und wie hoch der Kapitalwert ist, wenn die Bestände aufgelöst, also die Papiere verkauft werden müssen. Im Extrem kann es bei risikoreichen Anlagen zu einem völligen Verlust des Vermögens kommen. Konkurrierende Verwendungszwecke des Vermögens Wenn die Menschen durch Sparen Rücklagen bilden, dann geschieht dies nicht nur, um Vorsorge vor sozialen Risiken zu treffen. Sparen ist der übliche Weg, um größere Anschaffungen und Ausgaben tätigen zu können. Dem Sparen steht also immer wieder das „Entsparen“ gegenüber. In der Realität konkurrieren dabei unterschiedliche Verwendungszwecke. Der Erwerb von Wohneigentum ist eine der wichtigsten Vermögensbildungsformen. Dies erfordert in aller Regel die Aufnahme von Hypothekenkrediten und ein langjähriges Tilgen der Schuld. Im Alter zahlt sich der Erwerb des selbst genutzten Wohneigentums aus, wenn nämlich die Zins- und Tilgungsverpflichtungen ausgelaufen sind und der Ertrag in den ersparten Mietzahlungen liegt. Müsste das langsam aufgebaute Eigentum zur Abdeckung von Einkommensausfällen eingesetzt und aufgelöst werden, wäre dies mit erheblichen Verlusten verbunden. Fehlende Vorsorgebereitschaft Der Aufbau eines nennenswerten Vermögens (das also diesen Namen verdient) setzt voraus, dass frühzeitig, d. h. spätestens mit Beginn der Berufstätigkeit regelmäßig Beträge vom laufenden Einkommen abgezweigt werden. Sparen bedeutet also Konsumverzicht. Dazu fehlt es aber oft an Einsicht und Bereitschaft. Zukünftige Bedarfe, zumal für weit entfernt liegende Phasen wie das Alter oder für den Fall von Pflegebedürftigkeit, werden gegenüber gegenwärtigen Bedarfen unterschätzt oder minder gewichtet. Dem kann zwar durch Aufklärung und Information entgegengewirkt werden. Aber gerade im jüngeren Lebensalter, und insbesondere in der Phase der Familiengründung, sind die Konsumbedarfe meist groß und dringend. Bei Freiwilligkeit der Vorsorge kann also nur mit einer begrenzten Vorsorgebereitschaft gerechnet werden. Fehlende Sparfähigkeit Das Problem der subjektiven Bereitschaft zur individuellen Vorsorge fällt zusammen mit dem Problem der objektiven Fähigkeit, überhaupt regelmäßig zu sparen. Diese Fähigkeit hängt ab von der Position der Menschen im Erwerbsleben und in der Einkommenshierarchie sowie von den privaten Lebensumständen. Je höher das Erwerbseinkommen, je höher (im Lebenslauf) die berufliche Position, je geringer die Belastungen durch Aufwendungen für Kinder – desto größer ist die Vermögensbildungsfähigkeit. Auch Erbschaften bzw. Schenkungen konzentrieren sich auf das Segment der oberen Einkommen. Die vorliegenden Befunde über die Vermögens-

Existenzsicherung ohne Erwerbseinkommen

215

verteilung in Deutschland belegen diesen Zusammenhang (vgl. Punkt 8 dieses Kapitels). Im Umkehrschluss heißt dies, dass ein großer Teil der Bevölkerung von der Vermögensbildung weitgehend ausgeschlossen ist. Hier handelt es sich insbesondere um jüngere Menschen, Niedrigeinkommensbezieher, Arbeitslose, Menschen mit einer Behinderung, Eltern mit mehreren Kindern, Alleinerziehende und Migranten, wobei sich die Gruppen teilweise überschneiden. Zwar kann der Staat bei diesen Gruppen die Vermögensbildung fördern, so durch Eigenheimzulagen, Sparzulagen, Altersvorsorgezulagen, wie die Erfahrungen zeigen aber nur mit geringem Erfolg. Verschuldung Die fehlende Sparfähigkeit eines großen Teils der Bevölkerung äußert sich in der hohen Verschuldungsquote privater Haushalte. Rund 1,7 % der Haushalte weisen (im Querschnitt betrachtet) auf Grund von Bau- und Konsumschulden ein „negatives“ Vermögen auf (vgl. Pkt. 8 dieses Kapitels). In einer solchen Situation führt ein sozialpolitisch nicht abgesicherter Einkommensausfall zur Unfähigkeit, den Zins- und Tilgungsverpflichtungen nachkommen zu können. Es kommt zur Situation der Überschuldung. Einsatz des Vermögens bei Inanspruchnahme fürsorgerechtlicher Sozialleistungen Fürsorgerechtlich ausgestaltete Sozialleistungen (Sozialhilfe, Grundsicherung) sind nachrangige Leistungen, die erst gezahlt werden, wenn kein verwertbares Vermögen (Geldvermögen, Sachvermögen, Lebensversicherungen, Haus- und Grundbesitz) vorhanden ist. Ein Leistungsbezug setzt also die Auflösung und den Verzehr des Vermögens voraus. Dies aber führt dazu, dass langjährige Anstrengungen insbesondere bei der Altersvorsorge vernichtet werden. Durch besondere Regelungen bei der Anrechnungsfreistellung kann diesem Problem teilweise entgegen gewirkt werden. 4.2

Private Vorsorge durch Privatversicherungen

Das Problem des im Einzelfall nicht vorhersehbaren Risikoeintritts und des nicht vorher bestimmbaren Bedarfs an Mitteln kann über den Weg einer Versicherung gelöst werden. Versicherung bedeutet, dass sich Personen zusammenschließen, die von gleichartigen Risiken betroffen sind. Unter der Voraussetzung einer ausreichend großen Zahl an Versicherten, der Zufälligkeit des Eintritts der Versicherungsfälle und ihrer Unabhängigkeit wird ein gegenseitiger Risikoausgleich möglich. Durch die Schätzbarkeit der Schadensfälle lässt sich die erforderliche Höhe der von den Versicherten zu zahlenden Prämien kalkulieren. Je größer das individuelle Risiko des Versicherten, desto teurer ist der private Versicherungsschutz. Der Leistungsumfang (z. B. Art der Schadensfälle) kann vertraglich vereinbart werden. Und auch hier gilt, dass bei einem weit gespannten Versicherungsschutz der Preis einer Police steigt.

216

Einkommen

Fehlende Versicherungsfähigkeit von Risiken und besonderen Einkommensbedarfen Nicht alle Wechselfälle im Lebensverlauf lassen sich über eine Versicherung absichern. Ein Einkommensausfall als solcher oder eine fehlende Erwerbsfähigkeit sind nicht versicherungsfähig. Das gilt auch für besondere Einkommensbedarfe in spezifischen Lebenssituationen, wie z. B. Belastungen durch Kindesunterhalt oder hohe Wohnkosten. Es kommt darauf an, ob sich bestimmte Risiken kalkulieren lassen. Das ist möglich bei Krankheit, Erwerbs- und Berufsunfähigkeit, Alter, Unfällen, Pflegebedürftigkeit. Das Risiko Arbeitslosigkeit hingegen erweist sich als nicht versicherbar, da das wahrscheinlichkeitsstatistische Gesetz der großen Zahl nur bei voneinander unabhängigen Einzelrisiken gilt. Diese Voraussetzung ist bei Arbeitslosigkeit nicht gegeben, da das Risiko zwar nicht völlig zufällig auftritt, aber im Wesentlichen von konjunkturellen und strukturellen Faktoren bestimmt wird und sich Eintrittswahrscheinlichkeit und Schadenshöhe deshalb nicht versicherungstechnisch kalkulieren lassen. Dies gilt umso mehr in einer Zeit, in der wirtschaftliche Krisen und Einbrüche im Beschäftigungsniveau über die Zusammenhänge des Weltmarktes schnell auf andere nationalen Volkswirtschaften übertragen werden. Sind aber die Risiken zu groß und in Zeitpunkt, Umfang, Dauer und Qualität nicht quantifizierbar, führt dies zu einem Versagen auf dem Versicherungsmarkt; es finden sich keine Versicherer. Fehlende Versicherungsbereitschaft, Obligatorium Die Mitgliedschaft in einer Privatversicherung ist freiwillig; auch der gewählte Leistungsumfang beruht auf individueller Vereinbarung zwischen Versicherung und Versicherungsnehmer. Wegen der Fehleinschätzung von Risiken und der Höhergewichtung aktueller Bedarfe sind Lücken im Sicherungsschutz absehbar, denn die Bereitschaft zu Lasten des Gegenwartskonsums hohe Versicherungsprämien zu zahlen, ist begrenzt. Als Ausweg aus diesem Dilemma kann der Gesetzgeber eine Versicherungspflicht einführen. Dies gilt u. a. für die KFZ-Haftpflichtversicherung und findet sich auch im Bereich der privaten Krankenversicherung. So müssen sich Bürgerinnen und Bürger, die nicht in der gesetzlichen Krankenversicherung versichert sind, einen Vertrag zu bestimmten Mindestkonditionen bei einem privaten Versicherungsunternehmen abschließen (Obligatorium). Risikobezogene Prämienkalkulation Bei einer Privatversicherung berechnet sich die Höhe der individuellen Prämienleistungen an der Wahrscheinlichkeit des individuellen Risikoeintritts, d. h. es ergeben sich unterschiedlich hohe Prämien nach der Schadenserwartung (versicherungstechnisches Äquivalenzprinzip). Die Schadenserwartung lässt sich vor Vertragsabschluss aufgrund von statistischen Erfahrungswerten, Selbstauskünften oder Gesundheitsprüfungen feststellen.

Existenzsicherung ohne Erwerbseinkommen

217

Die Orientierung der Beiträge am individuellen Risiko hat zur Folge, dass „schlechte Risiken“ hohe Prämien, „gute Risiken“ dagegen niedrige Prämien zahlen müssen. Zu den „schlechten Risiken“ zählen bei einer privaten Krankenversicherung u. a.: • Personen mit Vorerkrankungen, • Versicherte, die erst im höheren Lebensalter einen Vertrag abschließen. • Menschen mit Behinderungen. Zu den „schlechten Risiken“ bei einer privaten Rentenversicherung zählen aufgrund ihrer höheren Lebenserwartung Frauen. Da sie ihre Rente länger beziehen, fällt bei gleichen Prämienzahlungen die monatliche Rente niedriger aus als bei den Männern. Eine Privatversicherung, die mit einer allgemeinen, statt mit einer risikobezogenen Prämie operiert und beispielsweise Männer und Frauen gleich einstuft („UniSex Tarife“), würde in der Konkurrenz zu anderen Versicherungsunternehmen, die diesen Weg nicht gehen, unterliegen. Die männlichen Versicherten würden zu der für sie günstigeren Konkurrenz mit risikobezogenen Tarifen abwandern; je stärker dann aber der zurück bleibende Versichertenbestand durch Frauen bestimmt ist, umso stärker müssten dann die Prämien steigen. Ein Uni-Sex Tarif kann demnach nur durchgesetzt werden, wenn alle Versicherungsunternehmen dazu gesetzlich verpflichtet sind. Die risikobezogene Prämienkalkulation richtet sich nicht nach der Zahlungsfähigkeit bzw. nach dem Einkommen. Innerhalb einer jeweiligen Risikoklasse müssen Personen, die kein oder nur ein geringes Einkommen haben, die identischen Prämien zahlen wie Personen mit einem hohen Einkommen. Die Belastungsquote steigt also mit sinkendem Einkommen. Individualorientierte Prämienkalkulation Eine Privatversicherung versichert nur individuelle Risiken, nicht aber Personengemeinschaften bzw. Familien. So muss in der privaten Krankenversicherung bei einer Familie mit mehreren Kindern für jedes Kind ein Versicherungsvertrag mit einer individuellen Prämienberechnung geschlossen werden. Risiko- und individualorientierte Prämienkalkulation führen im Ergebnis zu einer sozialen Selektion, da sich „schlechte Risiken“ und niedriges Einkommen überlagern. Beschäftigte im unteren Einkommenssegment werden deshalb bei einer privaten Versicherung finanziell überfordert – mit der Folge eines fehlenden oder nur unzureichenden Schutzes. Im besonderen Maße benachteiligt sind Personen, die über kein eigenes Einkommen verfügen, sei es wegen Arbeitslosigkeit, Kindererziehung, Ausbildung oder dauerhafter Erwerbsunfähigkeit. Da für Privatversicherungen der Grundsatz der Vertragsfreiheit grundlegend ist, gibt es keinen Zwang (Kontrahierungszwang) für einen Versicherer, einen Vertrag abschließen zu müssen. Auch eine Vertragskündigung ist möglich. Deswegen müssen „schlechte Risiken“ damit rechnen, überhaupt kein Angebot zu erhalten.

218

Einkommen

Die Vertragsfreiheit eröffnet den Verbrauchern einen großen Gestaltungsspielraum, eine maßgeschneiderte Versicherungspolice abzuschließen. Vielfältigkeit und Intransparenz der Angebote machen es jedoch schwer, sich auf dem Versicherungsmarkt zurecht zu finden. Unabhängige Information und Aufklärung sind deshalb gerade im Bereich der privaten Vorsorge unverzichtbar. Eine wichtige Rolle kommt hierbei der Verbraucherberatung zu. Zum Schutz der Kunden unterliegt der Versicherungsmarkt bestimmten Regulierungen. Als Regulierungsbehörde fungiert die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin). Mit ihrer Aufsicht über Versicherungsunternehmen soll erreicht werden, dass die Belange der Versicherten ausreichend gewahrt bleiben und die vertraglichen Verpflichtungen aus den Versicherungsverträgen, die einen sehr langen Zeitraum abdecken, jederzeit erfüllbar sind. So dürfen Versicherungsgeschäfte grundsätzlich erst dann betrieben werden, wenn das Unternehmen bestimmte Voraussetzungen erfüllt und eine aufsichtsbehördliche Erlaubnis hat. Bei der laufenden Aufsicht achtet die Bundesanstalt u. a. darauf, dass für die erwarteten Leistungen angemessene Prämien erhoben und ausreichende versicherungstechnische Rückstellungen gebildet werden. Die Kapitalanlage muss den gesetzlichen Qualifikationen genügen – insbesondere in Bezug auf Sicherheit. Bei Lebensversicherungen hat die Versicherungsaufsicht darüber zu wachen, dass die Überschussbeteiligungen angemessen sind. Bei Krankenversicherungen müssen Prämienanpassungen genehmigt werden. 4.3

Staatlich organisierte soziale Sicherung

Die offenkundigen Defizite einer privaten und privatwirtschaftlichen Absicherung von sozialen Risiken haben in der historischen Entwicklung von Marktwirtschaften Anlass und Notwendigkeit zum Aufbau staatlicher sozialpolitischer Sicherungssysteme gegeben. Das in der zweiten Hälfte des Ende des 19. Jahrhunderts in Deutschland entstandene und seitdem ausgebaute sowie mehrfach veränderte System der sozialen Sicherung zeichnet sich durch ein breites Spektrum sozialpolitischer Leistungen aus. Nicht immer fällt es leicht, in der Vielfalt der Leistungsbereiche den Überblick zu wahren. Eine Systematisierung ist notwendig. Zu unterscheiden ist zunächst grundsätzlich zwischen Geldleistungen einerseits sowie Sach- und Dienstleistungen andererseits. Im Mittelpunkt dieses Kapitels stehen die Geldleistungen, die den Empfängern unmittelbar zufließen, ihr Einkommen erhöhen und nach Maßgabe der individuellen Präferenzen verwendet werden können. Bei den Sach- und Dienstleistungen handelt es sich hingegen um spezifische, öffentlich finanzierte Angebote unterschiedlicher Einrichtungen und Träger, die im Bedarfsfall in Anspruch genommen werden können. Da ihre Inanspruchnahme weitgehend kostenfrei erfolgt, verbessern sie die Einkommensposition auf indirektem Wege. Sach- und Dienstleistungen haben vor allem im Gesundheitswesen sowie im

Existenzsicherung ohne Erwerbseinkommen

219

Übersicht III.3 Die wichtigsten Geldleistungen der sozialen Sicherung Sozialrechtsbereich

Träger

Geldleistungen

Gesetzl. Rentenversicherung (SGB VI)

Deutsche Rentenversicherung Bund und regionale Träger

Rente wegen Alters, Erwerbsminderungsrente, Rente wegen Todes

Gesetzl. Krankenversicherung (SGB V)

Krankenkassen (Orts-, Betriebs-, Innungs- und Ersatzkassen, Bundesknappschaft)

Krankengeld, Mutterschaftsgeld

Soziale Pflegeversicherung (SGB XI)

Pflegekassen, organisatorische Angliederung an die GKV

Pflegegeld

Gesetzl. Unfallversicherung (SGB VII)

Berufsgenossenschaften

Verletztengeld, Unfallrente, Hinterbliebenenrente

Arbeitslosenversicherung/ Arbeitsförderung

Bundesagentur für Arbeit/ Arbeitsagenturen

Arbeitslosengeld, Kurzarbeitergeld, Konkursausfallgeld, Unterhaltsgeld

Sozialhilfe (SGB XII)

Sozialämter

Hilfe zum Lebensunterhalt, Grundsicherung im Alter u. bei Erwerbsminderung

Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II)

Job-Center (Gemeinsame Einrichtung von Arbeitsagenturen und Kommunen oder zugelassene komm. Träger)

Arbeitslosengeld II, Sozialgeld

Wohngeld

Wohngeldämter

Wohngeld

Kindergeld

Familienkassen bei den Arbeitsagenturen

Kindergeld, Kinderzuschlag

Elterngeld

je nach Landesrecht verschiedene Stellen

Elterngeld

Ausbildungsförderung

Ämter für Ausbildungsförderung

Ausbildungsförderung

Kriegsopferversorgung/ Soziale Entschädigung (SGB XIV)

Versorgungsämter/Integrationsämter

Beschädigtenrente, Hinterbliebenenrente

Sozialwesen eine zentrale Bedeutung (vgl. Kapitel „Gesundheit und Gesundheitssystem“ und „Soziale Dienste“). Die Geldleistungen im System der sozialen Sicherung weisen eine große Spannweite auf (vgl. Übersicht III.3). Unterschiede zeigen sich u. a. bei Leistungstatbeständen und Leistungsvoraussetzungen, Adressaten, Höhe und Dauer der Leistungen, Finanzierungsregelungen sowie den institutionellen und administrativen Strukturen. Es lassen sich jedoch idealtypische Gestaltungsmodelle der sozialen Sicherung benen-

220

Einkommen

nen, die sich durch jeweils spezifische Prinzipien charakterisieren lassen und denen die Einzelleistungen zugeordnet werden können. Zu unterscheiden ist zwischen dem • Fürsorgemodell, • Versorgungsmodell und • Sozialversicherungsmodell. Personen, die in ihrer Lebenslage unter das Existenzminimum zu sinken drohen, über kein Einkommen oder Vermögen verfügen und auch nicht auf Unterhaltsleistungen von Angehörigen zurückgreifen können, werden durch die öffentliche Fürsorge unterstützt. Die Leistungen orientieren sich in Art und Höhe am jeweiligen Einzelfall. Ausschlaggebend ist die Besonderheit der individuellen Notlage. Ein fest umrissener Rechtsanspruch existiert nicht. Die Leistung ist streng nachrangig (subsidiär), sie erfolgt nur dann, wenn alle anderen Einkommensquellen und Unterhaltsmöglichkeiten ausgeschöpft sind und Bedürftigkeit festgestellt wird. Abgesichert wird das Existenzminimum. Die Fürsorge wird über allgemeine Steuermittel finanziert. Nach dem Prinzip der Versorgung erhalten Bürger:innen eine öffentliche Grundversorgung, denkbar wäre z. B. eine allgemeinen Bürgerrente, eine Kindergrundsicherung oder ein bedingungsloses Grundeinkommen. Die (Versorgungs)Leistung wird über den Staatshaushalt abgewickelt, ist steuerfinanziert und steht unabhängig von einer Vorleistung (durch Beiträge oder Steuern) zu. Die Leistung wird als ein für alle gleicher Pauschalbetrag gezahlt, kann aber auch einkommensabhängig gestaffelt sein. Anders als beim Fürsorgemodell wird jedoch keine strenge Bedürftigkeitsprüfung vorgenommen. Die Zahlung der Grundversorgung erfolgt beim Vorliegen der Anspruchstatbestände (z. B. Erreichen der Altersgrenze) entweder auf Antrag oder auch automatisch. Die Grundversorgung liegt in ihrer Höhe oberhalb des Existenzminimums und soll eine Teilhabe am sozialen und gesellschaftlichen Leben ermöglichen. Die Sozialversicherung orientiert sich an den Prinzipien der Privatversicherung, modifiziert diese aber in entscheidenden Punkten. Sie ist charakterisiert durch eine auf Personengruppen oder die Gesamtbevölkerung bezogene Versicherungspflicht und durch einen nach Art, Umfang und Höhe weitgehend gesetzlich vorgeschriebenen Leistungskatalog. Es gibt keinen Risiko- oder Leistungsausschluss. Der versicherungstypische Risikoausgleich wird mehrfach durch Elemente des Solidarausgleichs ergänzt. So berechnen sich die Beiträge nicht nach dem individuellen Risiko, sondern als Prozentsatz vom Einkommen. Leistungen wiederum werden bei bestimmten Situationen auch dann gezahlt, wenn keine Beiträge entrichtet worden sind, z. B. Rentenansprüche bei Arbeitslosigkeit oder Mitversicherung von Ehepartnern und Kindern in der Krankenversicherung. Auf die Versicherungsleistungen besteht ein individuell einklagbarer Rechtsanspruch. Die Höhe der Geldleistungen orientiert sich am vormaligen Erwerbseinkommen. Eine Anrechnung von Einkommen oder Vermögen (Bedürftigkeitsprüfung) findet nicht statt.

Existenzsicherung ohne Erwerbseinkommen

221

Da es sich bei diesen Modellen um Idealtypen handelt, kommen sie in der Wirklichkeit nicht in reiner Form vor. Sie überlagern und vermischen sich, denn Sozialpolitik ist historisch gewachsen und spiegelt in ihren Strukturen die jeweiligen sozialen Probleme, Interessen und politischen Kräfteverhältnisse wider. Gleichwohl gilt für das Sozialleistungssystem in Deutschland, dass seit den Bismarck’schen Sozialreformen das Sozialversicherungsmodell dominiert. Das Fürsorgemodell ist – in modifizierter Form – für die Sozialhilfe und die Grundsicherung für Arbeitssuchende charakteristisch. Als Leistung nach dem Versorgungsmodell können das Kindergeld oder Entschädigungen nach SGB XIV bezeichnet werden. Zwischen Versorgungs- und Fürsorgemodell stehen die steuerfinanzierten Förderleistungen wie Wohngeld und Ausbildungsförderung. So soll die Zahlung von Wohngeld soll dazu beitragen, dass das Menschenrecht auf Wohnen gewährleistet und eine übermäßige Miet- und Nebenkostenbelastung in unteren Einkommensgruppen vermieden wird. 4.4

Ausformung der sozialen Sicherung im europäischen Vergleich

Die für Deutschland typische, auf die Sozialversicherung konzentrierte Ausformung des Systems der sozialen Sicherung unterscheidet sich stark von den Systemen in vielen anderen Ländern Europas. Zwar weisen – in Unterschied z. B. zu den USA – die Mitgliedsstaaten der EU mehr oder minder ausgebaute Sozialsysteme auf. Auch ist in monetär-quantitativer Sicht (Sozialleistungs- bzw. Sozialschutzquoten, vgl. Kapitel „Ökonomische Grundlagen und Finanzierung“, Pkt. 2.4) ein Angleichungsprozess des Sozialschutzes zu erkennen. Aber unterhalb der hoch aggregierten Indikatoren dominieren in Abhängigkeit der nach Nation je spezifischen, historisch gewachsenen politischen, sozialen, kulturellen und ökonomischen Faktoren die Abweichungen bei den institutionellen Arrangements sowie bei den konkreten Regelungen und Leistungen. Die unterschiedlichen politisch-institutionellen Ausprägungen der sozialen Sicherung in den einzelnen Ländern lassen sich einzelnen „Wohlfahrtsstaatstypen“ zuordnen. Die üblich gewordene Abgrenzung zwischen dem „liberalen“, „konservativen“, „skandinavischen“ und „südeuropäischen“ Typus macht sich vor allem an der Frage fest, inwieweit der Wohlfahrtsstaat die Zwänge der Märkte, insbesondere des Arbeitsmarktes, lockert. Folgt man dieser Typologie und begrenzt sich auf die Einkommensleistungen (klammert also die Regulierungen auf dem Arbeitsmarkt sowie das Angebot von Sach- und Dienstleistungen aus), dann lassen sich folgende Merkmale skizzieren: Bei dieser Typisierung sollte allerdings bewusst bleiben, dass die Zuordnung der einzelnen Sicherungsformen sehr pauschal erfolgt. Im Detail erweisen sich die Strukturen und Leistungen der einzelnen Länder als sehr viel komplexer. Zudem ist zu berücksichtigen, dass im anhaltenden Prozess des Um- und Abbaus des Sozialstaates,

222

Einkommen

Übersicht III.4 Ausprägung der sozialen Sicherung (Geldleistungen) nach Wohlfahrtsstaatstypen liberales Modell

skandinavisches Modell

konservatives Modell

südeuropäisches Modell

Großbritannien

Dänemark

Deutschland

Spanien

Familiäre Absicherung

+

+

+

+++

Private, marktliche Absicherung

+++

+

+

++

betriebliche Absicherung

++

+

++

+

Fürsorgeförmige, einkommensgeprüfte Transfers

+++

+

++

++

Sozialversicherung

+

+

+++

+

(Staatsbürger)Versorgung

+

+++

+

+

Beispiele:

+++ stark

++ mittel

+ schwach

der mehr oder minder alle europäischen Länder erfasst hat, einzelne Sicherungsformen an Bedeutung gewonnen bzw. verloren haben. An Bedeutung gewonnen haben im Zuge des Abbaus des Leistungsniveaus von Sozialversicherung und Versorgung („Privatisierung des Sozialstaats“) sowohl die marktliche als auch die fürsorgeförmige Absicherung. Schließlich wird bei einem Blick auf einzelne Länder schnell deutlich, dass es auch innerhalb der jeweiligen Sicherungsformen erhebliche Varianzen gibt. Von der Sozialversicherung kann ebenso wenig gesprochen werden wie von der Fürsorge bzw. Sozialhilfe. Die Vielfalt der Ausgestaltungsmöglichkeiten einer Sozialversicherung wird bei einem Verweis auf folgende Punkte sichtbar: •

abgesicherter Personenkreis (übergreifend im Sinne einer Volks- bzw. Bürgerversicherung oder selektiv, d. h. nur für bestimmte Berufs- bzw. Bevölkerungsgruppen), • abgesicherte Risiko- bzw. Leistungstatbestände (z. B. bei der Rentenversicherung nur Altersrente oder auch Rente wegen Erwerbsminderung und Hinterbliebenenrente), • Anspruchsvoraussetzungen (Existenz und Dauer von Vorversicherungs- und Wartezeiten),

Existenzsicherung ohne Erwerbseinkommen

• • • • • • • • •

223

Individual- oder Familienorientierung (z. B. nur eigenständige Renten oder auch abgeleitete Renten wie Witwen/Witwerrenten und Waisenrenten), Leistungsberechnung (strenges oder schwaches Äquivalenzprinzip, ausgebauter oder schwacher Solidarausgleich, Leistungsabsicherung durch Sockel- bzw. Mindestbeträge), Höhe des Leistungsniveaus (in Orientierung am Brutto- oder Nettoeinkommen, an der Beitragshöhe und -dauer, am letzten oder am lebensdurchschnittlichen Einkommen), Leistungsanpassung (regelgebundene Dynamisierung oder diskretionäres Verfahren, Orientierung am Preisniveauanstieg oder an der Einkommensentwicklung), Abzugsbelastungen (Besteuerung oder Steuerfreiheit von Sozialversicherungsleistungen, Beitragspflichtigkeit von Sozialversicherungsleistungen für andere Versicherungszweige), Leistungsdauer (z. B. „Aussteuerung“ aus der Arbeitslosenversicherung und aus der Krankenversicherung nach einer längeren Dauer der Betroffenheit), Finanzierung (Arbeitnehmerbeiträge, Arbeitgeberbeiträge, steuerfinanzierte Zuschüsse), Finanzierungsverfahren (Umlagefinanzierung oder [Teil]Kapitaldeckung), Versicherungsform (konkurrierende Versicherungen oder Monopolversicherung, privat-rechtlicher oder öffentlich-rechtlicher Status, Spartenversicherung oder Einheitsversicherung).

Auch bei den fürsorgetypischen Leistungen finden sich vielfältige Ausprägungen, dies gilt insbesondere für Mindestsicherungssysteme (in Deutschland Grundsicherung/Sozialhilfe). Dessen Gestalt hängt u. a. von folgenden Elementen ab: • • • • • • • • •

anspruchsberechtigter Personenkreis (universelles System oder begrenzt auf bestimmte Bevölkerungsgruppen; Berücksichtigung oder Nicht-Berücksichtigung von Staatsangehörigkeit, Wohnsitzdauer und Lebensalter), Vorrang einer Arbeitsaufnahme (Zumutbarkeitskriterien), Sanktionen bei Verstoß gegen Anforderungen, Anrechnung von eigenem Einkommen und Vermögen (Freibeträge), Rückgriff auf Einkommen und Vermögen von Angehörigen, Berechnung der Leistungshöhe (Berechnungsverfahren, Berücksichtigung von Sonderbedarfen und Miete, Leistungen für Haushaltsangehörige), Leistungsdauer, Leistungsanpassung (Dynamisierung oder diskretionäres Verfahren, Orientierung am Preisniveauanstieg oder an der Einkommensentwicklung), Finanzierung.

Insgesamt gilt, dass die konkrete Wirkung der sozialen Sicherung auf die Einkommenslage der Bevölkerung weniger von den institutionellen Strukturen, sondern

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Einkommen

entscheidend von den Leistungstatbeständen und -voraussetzungen sowie vor allem von der Leistungshöhe abhängt. Die Frage, ob die sozialpolitischen Geldleistungen in ihrer Höhe mehr als nur das Existenzminimum abdecken, den Lebensstandard sichern und trotz fehlender bzw. unzureichender Markteinkommen eine Teilhabe am gesamtgesellschaftlichen Wohlstand ermöglichen, kann aber erst beantwortet werden, wenn das Netto-Leistungsniveau (also nach Abzug von Steuern und Beiträgen) ins Verhältnis zum jeweiligen nationalen Durchschnittseinkommen gesetzt wird.

5

Sozialversicherung

Mehr als 60 % aller Sozialleistungen werden in Deutschland über das System der Sozialversicherung abgewickelt (vgl. Kapitel II „Ökonomische Grundlagen und Finanzierung“, Pkt. 2.1). Die Bedeutung der Sozialversicherung wird auch durch den breiten Kreis der Versicherten unterstrichen: •

Nahezu 90 % der Bevölkerung gehören der gesetzlichen Krankenversicherung und der sozialen Pflegeversicherung an. • In der gesetzlichen Rentenversicherung sind rund 80 % der Bevölkerung im Alter von 20 bis unter 65 Jahren versichert. • Alle Arbeitnehmer:innen sind in der gesetzlichen Unfallversicherung versichert. • In der Arbeitslosenversicherung ist der weit überwiegende Teil der Arbeitnehmer:innen versichert. Wie die Auflistung zeigt, handelt es sich nicht um die Sozialversicherung, sondern um ein gegliedertes System mit mehreren Versicherungszweigen, die jeweils unterschiedliche Risiken und Tatbestände abdecken. Versicherungstechnisch gesehen stellen die einzelnen Versicherungszweige spezielle Risikokollektive dar; ein generelles Risikokollektiv würde im Gegensatz dazu eine Einheitsversicherung begründen. Innerhalb der Versicherungszweige wiederum sind unterschiedliche Versicherungsträger für die Leistungsdurchführung zuständig. Die Versicherungsträger gliedern sich entsprechend ihrer Entstehungsgeschichte nach Berufsstand, Wirtschaftszweig und Region. Zwar weist jeder Versicherungszweig seine Besonderheiten auf, dennoch gibt es gemeinsame Strukturmerkmale, die nachfolgend skizziert werden sollen. Einen umfassenden Überblick über das Leistungsrecht der einzelnen Versicherungszweige bieten die nachfolgenden, an den sozialen Gefährdungsbereichen orientierten Kapitel dieses Lehrbuchs: • Arbeitsförderung/Arbeitslosenversicherung: Kapitel „Arbeit und Arbeitsmarkt“

Sozialversicherung

225

• Unfallversicherung: Kapitel „Arbeit und Gesundheit“ • Krankenversicherung: Kapitel „Gesundheit und Gesundheitssystem“ • Pflegeversicherung Kapitel „Pflegebedürftigkeit und Pflege“ • Rentenversicherung: Kapitel „Alter“ 5.1

Versicherungsschutz und Versicherungspflicht

Die Mitgliedschaft in allen Zweigen der Sozialversicherung knüpft im Wesentlichen an ein Arbeitsverhältnis an. Bis heute steht damit die Absicherung der abhängig Beschäftigten im Mittelpunkt des sozialen Schutzes. Mittelbar gesichert sind die Familienangehörigen der abhängig Beschäftigten. So haben in der Kranken- und Pflegeversicherung nicht oder nur geringfügig erwerbstätige Ehepartner und Kinder den vollen Versicherungsschutz durch die beitragsfreie Familienversicherung, und in der Renten- sowie Unfallversicherung werden Ehepartner und Kinder beim Tod der unterhaltspflichtigen Versicherten durch die Hinterbliebenenversorgung abgesichert. Auch wenn damit die Sozialversicherung den Großteil der Gesamtbevölkerung erfasst, lässt sich nicht von einer Volksversicherung sprechen, da die selbstständig Erwerbstätigen überwiegend ausgeklammert sind und auch für einzelne Gruppen der abhängig Beschäftigten Versicherungsfreiheit besteht. Die für die Sozialversicherung typische Versicherungspflicht begründet sich aus vier Gesichtspunkten: •

Eine Versicherungspflicht ist notwendig, um einen umfassenden Schutz zu erreichen. Bei einer Regelung auf freiwilliger Basis, wie sie für die Privatversicherung typisch ist, ist dies nicht gewährleistet. • Fehlt ein Versicherungsschutz im Alter oder bei Krankheiten und soll im Notfall dennoch die Existenzsicherung der Betroffenen gewährleistet werden, muss letztlich die Allgemeinheit über die Zahlung der steuerfinanzierten Sozialhilfe bzw. Grundsicherung für die Folgen der unzureichenden Vorsorge aufkommen. Dies kommt einer Benachteiligung derjenigen gleich, die vorgesorgt haben. • Eine Pflichtmitgliedschaft ist erforderlich, um den Solidarausgleich zu Gunsten insbesondere von Familien mit Kindern, Niedrigverdienern, Behinderten oder Arbeitslosen finanzieren zu können. Andernfalls würden die über den Solidarausgleich Belasteten, das sind die „guten“ Risiken, z. B. kinderlose und/oder gut verdienende Beschäftigte im jüngeren Alter, aus der Versichertengemeinschaft ausscheiden und zu einer Privatversicherung überwechseln („negative Selektion“). Da Privatversicherungen keinen Solidarausgleich kennen, können sie für

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diesen Personenkreis günstigere Konditionen bieten. Übrig blieben bei der Sozialversicherung die „schlechten“ Risiken, und in Folge der negativen Risikoauslese müssten die Beiträge angehoben werden, was wiederum den Abwanderungstrend zur Privatversicherung verstärken würde. • Langfristig angelegte, nach dem Umlageverfahren finanzierte Versicherungszweige, und hier insbesondere die Rentenversicherung, sind auf eine Versicherungspflicht zwingend angewiesen, um die Einnahmen- und Ausgabenentwicklung überhaupt kalkulieren zu können. Eine Umlagefinanzierung der Alterssicherung funktioniert nicht, wenn ungewiss bliebe, wie groß der Kreis der Beschäftigten ist, die Versicherungsmitglieder sind und Beiträge zahlen. Dies ist der Grund, warum private Lebensversicherungen nach dem Kapitaldeckungsverfahren arbeiten müssen. Das Prinzip der Versicherungspflicht bei abhängiger Beschäftigung gilt allerdings nicht lückenlos, es gibt Ausnahmen von der Regel. Auf der anderen Seite unterliegen einzelne Gruppen von Selbstständigen und auch von Nichterwerbstätigen der Versicherungspflicht. Versicherungsfreiheit der Beamten Für die soziale Sicherung der Beamten gelten beamtenrechtliche Vorschriften; sie sind insofern von der Versicherungspflicht befreit. Im Krankheitsfall sind sie über Beihilfen und ergänzende Leistungen aus der privaten Krankenversicherung abgesichert. Die Alters- und Erwerbsminderungssicherung erfolgt über Pensionen (vgl. zur Altersversorgung der Beamten Kapitel „Alter“, Pkt. 7.1). Zur Finanzierung der Arbeitslosenversicherung müssen Beamte nicht beitragen. Versicherungspflichtgrenze in der Kranken- und Pflegeversicherung In der Kranken- und Pflegeversicherung endet für Beschäftigte die Versicherungspflicht, wenn sie mit ihrem Arbeitsentgelt die Versicherungspflichtgrenze überschreiten. Der (jährlich angepasste) Grenzwert liegt im Jahr 2020 bei 5 213 Euro im Monat und entspricht damit in etwa dem 1,5fachen des Durchschnittseinkommens. Oberhalb dieses Einkommens können die Betroffenen wahlweise aus der gesetzlichen Versicherung ausscheiden und in die Privatversicherung wechseln oder aber als freiwillige Mitglieder in der gesetzlichen Versicherung bleiben. In aller Regel werden sie sich für den Wechsel entscheiden, wenn die Privatversicherung ihnen günstigere Konditionen bietet. Damit können sich gerade Besserverdienende dem Solidarausgleich entziehen. Existenz und Höhe von Versicherungspflichtgrenzen sind von besonderem Interesse für die privaten Krankenversicherungen (vgl. im Einzelnen Kapitel „Gesundheit und Gesundheitssystem“, Pkt. 5.2).

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Versicherungsfreiheit bei geringfügiger Beschäftigung: Minijobs Ausnahmen von der Versicherungspflicht bestehen (mit Ausnahme der Unfallversicherung) bei jenen Beschäftigungsverhältnissen, die nur kurzzeitig andauern oder bei denen nur ein geringes Einkommen anfällt. Diese geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse liegen dann vor, • wenn das Beschäftigungsverhältnis nicht länger als für 70 Arbeitstage oder 3 Monate im Jahr vereinbart ist, ohne Berücksichtigung von Arbeitszeit und Arbeitsentgelt, oder • wenn bei dauerhafter Beschäftigung das Arbeitseinkommen 450 Euro im Monat nicht übersteigt. Eine Begrenzung der Wochenstunden gibt es nicht. Durch den gesetzlichen Mindestlohn von 9,35 Euro in der Stunde (2020) errechnet sich aber eine maximale regelmäßige Arbeitszeit von 11,2 Stunden in der Woche. Mehrere geringfügige Beschäftigungen sind zusammenzurechnen. Wenn die Grenzwerte überschritten werden, besteht Versicherungspflicht (mit Ausnahme der Arbeitslosenversicherung). Versicherungsfrei bleibt eine geringfügige Nebenbeschäftigung neben einer Hauptbeschäftigung. Im Bereich der geringfügigen Beschäftigung („Minijobs“) fallen für die Versicherten keine Beiträge in der Kranken-, Pflege-und Arbeitslosenversicherung an, im Gegenzug entstehen aber auch keine Leistungsansprüche. Die geringfügig Beschäftigten unterliegen zwar seit 2013 der Rentenversicherungspflicht, haben allerdings die Möglichkeit, sich von der Versicherungspflicht befreien zu lassen (opt-out Regelung). Der weit überwiegende Teil der Minijobber (mehr als 80 %) votiert für die Befreiung. Die Aufnahme einer geringfügigen Beschäftigung ist nur bei jenen Personen möglich, die bereits anderweitig materiell und sozial abgesichert, insbesondere krankenversichert sind. Da das Risiko zu erkranken und ggf. mit hohen Kosten konfrontiert zu werden, gleichsam alltäglich ist und bereits kurzfristig eintreten kann, ist ein Versicherungsschutz unabdingbar. Eine freiwillige Versicherung in der GKV oder eine private Versicherung kommen bei einem Minijob kaum in Betracht, da die Höhe der Beiträge bzw. Prämien in keinem Verhältnis zu dem Maximaleinkommen von 450 Euro stehen. Hier greift ein zentrales Merkmal des deutschen Sozialversicherungssystems: die abgeleitete Absicherung über den Familien- und Eheverbund sowie die Vernetzung zwischen den Sozialversicherungszweigen. Während bei den geringfügig Nebenbeschäftigten die in der Hauptbeschäftigung geltende Krankenversicherung Schutz bietet, werden bei den geringfügig Hauptbeschäftigten folgende Regelungen wirksam: •

Ehepartner sind im Rahmen der beitragsfreien Mitversicherung von Familienangehörigen in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) versichert (dies gilt aber nicht für die private Krankenversicherung).

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Schüler:innen sind ebenfalls durch die Familienversicherung abgesichert; Studierende (bis zu einer Altersgrenze von 25 Jahren) unterliegen dem Schutz der Familienversicherung oder der Studentischen Krankenversicherung. • Rentner:innen sind in der Krankenversicherung der Rentner (KVdR) oder in der PKV versichert. • Arbeitslose bleiben Mitglied ihrer bisherigen Krankenversicherung. Soweit sie Arbeitslosengeld I oder II beziehen, werden die Beiträge von den Leistungsträgern übernommen; Leistungsempfänger:innen im Rechtskreis des SGB II (sog. Aufstocker), die zwar erwerbsfähig aber nicht arbeitslos sind, realisieren ihren Krankenversicherungsschutz ebenfalls durch die Beitragszahlung des Leistungsträgers. Die Zahl der geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse hat erheblich zugenommen, insbesondere was die geringfügigen Nebentätigkeiten betrifft (vgl. Kapitel „Arbeit und Arbeitsmarkt“, Pkt. 3.3). Dahinter steht das Interesse der Unternehmen an preiswerten und flexiblen Arbeitskräften, Interesse besteht aber auch bei jenen Beschäftigten, die als Schüler:innen und Studierende, Rentner:innen anderweitig oder als Ehefrauen über den Ehemann abgesichert sind oder die als Nebenbeschäftigte ein abgabenfreies Zusatzeinkommen erhalten. Versicherungsfreiheit und Versicherungspflicht von Selbstständigen Die Ausrichtung der Sozialversicherung als Arbeitnehmerversicherung beruht im Grundsatz auf der Annahme, dass selbstständig Erwerbstätige nicht als schutzwürdig anzusehen sind, da sie sich eigenverantwortlich absichern können und werden. Die historische Entwicklung hat allerdings gezeigt, dass diese Annahme keinesfalls immer der Realität entspricht. Um insbesondere das Entstehen von Altersarmut zu vermeiden, sind im Laufe der Jahre einzelne Gruppen von Selbstständigen in den Schutzbereich der gesetzlichen Versicherung einbezogen worden. Versicherungspflichtig sind heute u. a. • • • • • •

Handwerker in der gesetzlichen Rentenversicherung, selbstständige Lehrer und Erzieher, Pflegepersonen, Hebammen, Hausgewerbetreibende in der gesetzlichen Rentenversicherung, land- und forstwirtschaftliche Unternehmer und ihre Familienangehörigen in der gesetzlichen Krankenversicherung und in der Alterssicherung der Landwirte, Künstler und Publizisten in der gesetzlichen Renten- und Krankenversicherung, Angehörige bestimmter freier Berufe wie Ärzte und Rechtsanwälte in besonderen berufsständischen Versorgungswerken, Arbeitnehmerähnliche Selbstständige (Selbstständige mit einem Auftraggeber) in der gesetzlichen Rentenversicherung.

Charakteristisch für all diese Regelungen ist, dass ein systematischer Umgang mit der Selbstständigkeit nicht sichtbar wird. Vor allem die sog. neuen Selbstständigen blei-

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ben bei der im Wesentlichen nach bestimmten Berufen und Tätigkeiten vorgenommenen Zuordnung außen vor. Der Schluss, dass gerade jene Selbstständigen, die keinem Pflichtversicherungsschutz unterliegen, am besten und ehesten in der Lage sind, freiwillig und privat für ihr Alter vorzusorgen, erweist sich als falsch. Da die soziale Absicherung in der Regel auf freiwilliger Basis beruht, kann es dazu kommen, dass sich die Betroffenen nicht darum kümmern oder sich außer Stande sehen, aus ihrem Bruttoeinkommen noch Beiträge für eine private Altersvorsorge oder eine Berufs-/Erwerbsunfähigkeitsversicherung zu zahlen. Im Alter droht dann die Angewiesenheit auf Leistungen der Grundsicherung im Alter, die aus dem allgemeinen Steueraufkommen finanziert werden muss. Schon jetzt stellen ehemals Selbstständige einen Großteil der Grundsicherungsempfänger:innen (vgl. Kapitel „Alter“, Pkt. 9.1). Versicherungspflicht bei Scheinselbstständigkeit Von den arbeitnehmerähnlichen Selbstständigen sind jene Personen zu unterscheiden, die ihre selbstständige Tätigkeit nur zum Schein ausüben, um sozial und arbeitsrechtliche Schutzregelungen und die entsprechenden Beitragsbelastungen zu umgehen, die tatsächlich aber abhängig Beschäftigte sind. Liegt eine solche Scheinselbstständigkeit vor, so werden die Betreffenden als Arbeitnehmer:innen angesehen. Sie sind dann grundsätzlich in allen Zweigen der Sozialversicherung versicherungsund beitragspflichtig. Die einzelfallbezogene Prüfung, ob eine Scheinselbstständigkeit vorliegt, obliegt dabei den Sozialversicherungsträgern. Der Auftraggeber gilt als Arbeitgeber und hat die Arbeitgeberhälfte der Sozialversicherungsbeiträge zu zahlen. Scheinselbstständigkeit wird vermutet, wenn Erwerbstätige • •

in der Regel und im Wesentlichen nur für einen Auftraggeber tätig sind, arbeitnehmertypische Arbeitsleistungen erbringen, insbesondere Weisungen des Auftraggebers unterliegen und in dessen Arbeitsorganisation eingegliedert sind, • nicht unternehmerisch am Markt auftreten, • mit Ausnahme von Familienangehörigen keine versicherungspflichtigen Arbeitnehmer:innen beschäftigen. Versicherungspflicht ohne Erwerbstätigkeit Der Gestaltungsspielraum der Sozialversicherung kommt darin zum Ausdruck, dass eine Versicherungspflicht auch für Lebenslagen oder Lebensphasen vorgesehen werden kann, in denen keine Erwerbstätigkeit ausgeübt wird. Die Zahl der Beispiele für derartige Regelungen ist lang: Versicherungspflichtig sind • •

in der Unfallversicherung: Kindergartenkinder, Schüler:innen, Studierende, in der Kranken- und Pflegeversicherung: Studierende, Beziehende von Elterngeld, Empfänger:innen von Arbeitslosengeld I und Arbeitslosengeld II, Rentner:innen der gesetzlichen Rentenversicherung,

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Einkommen

in der Rentenversicherung: Empfänger:innen von Lohnersatzleistungen nach dem SGB III (Arbeitslosengeld, Kurzarbeitergeld, Unterhaltsgeld), Beziehende von Krankengeld, Personen, für die eine Kindererziehungszeit anzurechnen ist, Personen, die eine nicht erwerbsmäßige Pflege ausüben.

Von der Frage der Versicherungspflicht ist die Frage der Beitragszahlung zu unterscheiden, die in den vorgenannten Fällen sehr unterschiedlich geregelt wird. Versicherungspflicht in einer Privatversicherung Die Grenzlinien zwischen verpflichtender Sozialversicherung und freiwilliger privater Vorsorge durch Privatversicherungen sind nicht klar gezogen. Vielmehr gibt es Anzeichen für eine Vermischung beider Sicherungsformen: So besteht schon seit langem die Möglichkeit, sich – auch als Selbstständiger oder Nichterwerbstätiger – in der gesetzlichen Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung freiwillig zu versichern. Eine Pflicht zur privaten Versicherung sieht die Pflegeversicherung vor: Alle privat Krankenversicherten sind gesetzlich verpflichtet, auch eine private Pflegeversicherung abzuschließen und aufrechtzuerhalten. Die privaten Unternehmen unterliegen einem Kontrahierungszwang, d. h. sie sind zum Vertragsabschluss verpflichtet. Sie müssen dasselbe Leistungsspektrum wie die soziale Pflegeversicherung haben und sich auch hinsichtlich der Beitragsberechnung an die Maßstäbe der sozialen Pflegeversicherung Versicherung anpassen (vgl. Kapitel „Pflegebedürftigkeit und Pflege“, Pkt. 5.3). Auch muss sich jede/r Bürger:in krankenversichern, entweder freiwillig in der gesetzlichen Krankenversicherung oder in einer privaten Krankenversicherung. Die privaten Krankenversicherungen unterliegen ebenfalls einem Kontrahierungszwang und müssen einen Basistarif anbieten, der das Leistungsspektrum der gesetzlichen Krankenversicherung umfasst. 5.2

Leistungsvoraussetzungen

Die Sozialversicherung beruht wie die Privatversicherung auf dem Kausalprinzip. Ein Einkommensausfall als solcher begründet noch keinen Anspruch auf Versicherungsleistungen. Dies entspräche einer Orientierung am Finalprinzip. Beim Kausalprinzip dagegen besteht ein Anspruch erst dann, wenn der Risikofall eingetreten ist und ein Anspruchsgrund vorliegt. Für den gleichen sozialen Tatbestand können unterschiedliche Anspruchsgründe maßgeblich sein. So kann eine Arbeitsunfähigkeit Folge eines Unfalls oder einer Krankheit sein. Zuständig für die Leistungen sind dann entweder die Unfallversicherung oder die Krankenversicherung. Hier unterscheiden sich nicht nur die zuständigen Institutionen, was immer wieder zu Auseinandersetzungen über

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die Kostenträgerschaft führt, auch die Leistungen weichen in Art und Höhe vielfach voneinander ab, so dass auf den gleichen sozialen Tatbestand durchaus unterschiedlich reagiert werden kann. Die Leistungen der Versicherung sind darüber hinaus an Vorleistungen des Versicherten geknüpft. Vorherige Versicherungspflicht und Beitragszahlung sind erforderlich. In der Arbeitslosen- und Rentenversicherung wird die Leistung zusätzlich noch an eine Mindestversicherungszeit (Wartezeit) gebunden. Wird diese Zeit (fünf Jahre in der Rentenversicherung, ein Jahr beim Arbeitslosengeld) nicht erreicht, bestehen keine Leistungsansprüche. Unfall- und Krankenversicherung leisten hingegen sofort. Versicherungsleistungen richten sich nicht nach Bedürftigkeitskriterien. Im Falle des Risikoeintritts besteht ein unabdingbarer individueller Rechtsanspruch auf normierte Leistungen, und zwar unabhängig von der konkreten Bedarfslage, ohne Ansehen der persönlichen und finanziellen Verhältnisse, d. h. ohne Ermessensentscheidungen und Überprüfungen. Damit ist ein hohes Maß an Sicherheit und Verlässlichkeit gewährleistet. 5.3

Höhe, Bezugsdauer und Anpassung der Lohnersatzleistungen

Die Geldleistungen in der Sozialversicherung werden nach dem (modifizierten) Äquivalenzprinzip berechnet. Danach hängt die (relative) Höhe der Ansprüche aus der Renten-, Kranken-, Unfall- und Arbeitslosenversicherung unmittelbar von der Höhe des individuellen versicherungs- und beitragspflichtigen Arbeitsentgelts bzw. der zuvor eingezahlten Beiträge ab. Zwischen Zahlbetrag und Einkommens- bzw. Beitragshöhe, zwischen Leistung und Gegenleistung also, besteht ein Entsprechungsverhältnis. Ein hohes Arbeitsentgelt führt zu relativ hohen, ein niedriges zu relativ niedrigen Versicherungsleistungen. Dabei bleibt unberücksichtigt, in welcher Arbeitszeit die Einkommenshöhe erreicht worden ist. Die Höhe des Haushaltseinkommens oder Maßstäbe von Bedarf und Bedürftigkeit spielen bei der Leistungsberechnung keine Rolle. Eine Mindestleistung gibt es nicht. Die Geldleistungen der Sozialversicherung haben damit eine Lohnersatzfunktion. Die durch das Arbeitsentgelt erzielte Einkommensposition soll zumindest teilweise beibehalten werden können. Ob jedoch die Leistungen so hoch sind, dass tatsächlich von einem Lohnersatz gesprochen werden kann, hängt von den Berechnungsmaßstäben und vom Sicherungsniveau ab. Die Abweichungen zwischen den einzelnen Versicherungszweigen sind groß: • Unterschiede finden sich beim Einkommensmaßstab: Die eher kurzfristigen, zeitlich begrenzten Leistungen wie Krankengeld, Arbeitslosengeld und Unterhaltsgeld orientieren sich am letzten Arbeitsentgelt, während bei der Berechnung der Rente das lebensdurchschnittliche Einkommen zugrunde gelegt wird.

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Einkommen

Die Leistungssätze fallen unterschiedlich aus: Beim Krankengeld werden 70 % des letzten Bruttoeinkommens, beim Arbeitslosengeld 60 bzw. 67 % des letzten Nettoeinkommens abgedeckt. Die Höhe der Rente berechnet sich nicht nach einem festen Prozentsatz von der Lebenseinkommensposition, sondern hängt neben der Höhe der Beitragsleistung maßgeblich von der Dauer der versicherungspflichtigen Beschäftigung ab.

Unterschiedlich geregelt ist die Beitragspflichtigkeit der Lohnersatzleistungen: Von den Renten werden der halbe Beitrag zur Finanzierung der Krankenversicherung der Rentner und der volle Beitrag zur Pflegeversicherung abgezogen, das Krankengeld wird um die (hälftigen) Beiträge zur Renten- und Arbeitslosenversicherung gekürzt. Zusätzlich zahlt der Versicherungsträger noch die andere Hälfte des Beitrags. Arbeitslosengeld, Unterhaltsgeld und Arbeitslosengeld II bleiben dagegen abzugsfrei. Hier sind die Bundesagentur für Arbeit bzw. beim SGB II der Bund für die Zahlung der Beiträge an die Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung zuständig. Die tatsächliche Höhe der Lohnersatzleistungen wird schließlich durch ihre steuerliche Belastung bestimmt. In der Regel erfolgt keine Minderung durch direkte Steuerabzüge. Die Renten allerdings unterliegen der schrittweisen Umstellung zur nachgelagerten Besteuerung (vgl. Kapitel „Alter“, Pkt. 6.5.6). In allen Versicherungszweigen reicht die Entgeltabsicherung nur bis zu einer maximalen Entgelthöhe: Jene Einkommensbestandteile bleiben beitragsfrei, im Risikofall aber auch ungeschützt, die die Beitragsbemessungsgrenze übersteigen. Die Beitragsbemessungsgrenze liegt 2020 in der Renten- und Arbeitslosenversicherung bei 6 900 Euro im Monat (alte Bundesländer) bzw. bei 6 450 Euro (neue Bundesländer). In der Kranken- und Pflegeversicherung beträgt die Grenze einheitlich für West und Ost 5 213 Euro (vgl. Kapitel „Ökonomische Grundlagen und Finanzierung“, Tabelle II.4). Durch die Koppelung der Beitragsbemessungsgrenze an die Entwicklung der Bruttolohn- und Gehaltssumme passt sie sich jährlich dem allgemeinen Einkommenszuwachs an (Dynamisierung). Die Beitragsbemessungsgrenze führt dazu, dass das Gesamteinkommen hoch Verdienender zu einem relativ geringen Prozentsatz abgesichert ist, so dass häufig private Zusatzversicherungen abgeschlossen werden. Nur die Renten werden grundsätzlich zeitlich unbefristet gezahlt. Alle anderen Einkommensersatzleistungen sind zeitlich befristet. Krankengeld kann längstens 78 Wochen bezogen werden, Arbeitslosengeld im Grundsatz 1 Jahr, bei älteren Arbeitslosen bis zu längstens 18 Monaten. Beim Arbeitslosengeld ist die Bezugsdauer auch nach der Dauer der Beitragszahlung gestaffelt. Bei längerfristigen Leistungen, insbesondere bei der Rente, stellt sich die Frage, wie die einmal festgesetzte Leistung an die wirtschaftliche Entwicklung angepasst wird. Würde beispielsweise die beim Erreichen der Altersgrenze errechnete Rente für die Dauer der Lebenszeit unverändert gelten, käme es zu zwei Problemen: In einer Welt von anhaltenden Preissteigerungen würde der Realwert der nominell konstanten Rente kontinuierlich sinken. Doch auch eine Realwertsicherung durch Inflations-

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ausgleich verhindert nicht, dass bei wachsenden Arbeitseinkommen der Lebensstandard der Rentner:innen im Verhältnis zu dem der aktiv Beschäftigten relativ abfällt und die ältere Generation ihre einmal erreichte relative Einkommensposition nicht beibehalten kann. Durch die Anbindung der Rentenzahlung an eine feste Bezugsgröße, nämlich an die durchschnittliche Entwicklung der Einkommen der Arbeitnehmer:innen im Vorjahr (dynamische Rente), wird dieses Problem vermieden und eine Teilhabe der Rentner:innen am allgemeinen Einkommenszuwachs ermöglicht. Auf dieser Grundlage kann von einer Lebensstandardsicherungsfunktion der Rente gesprochen werden. Die für die Rentenversicherung maßgebenden Anpassungssätze werden auf andere Zweige des Systems der sozialen Sicherung übertragen: Sie gelten u. a. bei den Unfallrenten und bei den Kriegsopferrenten. 5.4

Organisation und Selbstverwaltung

In den Sozialversicherungszweigen gibt es verschiedene Versicherungsträger, die sich nach Branchen, Betrieben und regionalen Gesichtspunkten gliedern. Es zeigt sich folgendes Bild (Stand 2019): •

Die Aufgaben der Krankenversicherung werden von 109 Krankenkassen (Ortskrankenkassen, Betriebskrankenkassen, Innungskrankenkassen, Ersatzkassen und Landwirtschaftliche Krankenkassen) durchgeführt. Die einzelnen Kassenarten und Kassen stehen in Konkurrenz zueinander; die Versicherten können wählen, in welcher Kasse sie versichert sein wollen. • Die Rentenversicherung gliedert sich in die Deutsche Rentenversicherung Bund, in die Deutsche Rentenversicherung Bahn, Knappschaft, See und in die 11 regionalen Zweige der Deutschen Rentenversicherung. • Die Unfallversicherung besteht aus 34 gewerblichen und 20 landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaften. Hinzu kommen noch 54 Unfallversicherungsträger der öffentlichen Hand. • Lediglich die Arbeitslosenversicherung/Arbeitsförderung ist einheitlich strukturiert. Sie wird von der Bundesagentur für Arbeit, den 11 Regionaldirektionen und den 184 Arbeitsagenturen verwaltet. Die Sozialversicherungsträger sind in Form selbstständiger öffentlich-rechtlicher Körperschaften organisiert, die ihre Aufgaben eigenverantwortlich in eigenem Namen durch eigene Organe erfüllen. Die Sozialversicherungsträger verfügen über Finanzhoheit und sind damit von den öffentlichen Haushalten getrennt. Dem Staat obliegt die Aufsichtspflicht. Aufsichtsbehörde über die bundesunmittelbaren Sozialversicherungsträger und sonstigen Einrichtungen ist das Bundesamt für soziale Sicherung.

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Einkommen

Charakteristisch für die Organisation der Sozialversicherung ist der Grundsatz der Selbstverwaltung. Vorstand und Vertreterversammlung (bzw. Verwaltungsrat bei der Krankenversicherung) der einzelnen Sozialversicherungsträger sind paritätisch mit Vertretern der Versicherten und der Arbeitgeber besetzt. Ausnahmen ergeben sich u. a. bei der Bundesagentur für Arbeit, deren Verwaltungsrat drittelparitätisch (Gewerkschaften, Arbeitgeber, öffentliche Körperschaften) besetzt ist. Die Selbstverwaltungsorgane werden in den im sechsjährigen Turnus stattfindenden Sozialwahlen gewählt. Bei der Bundesagentur für Arbeit benennen Gewerkschaften, Arbeitgeber und öffentliche Körperschaften ihre Vertreter. Für die Sozialwahlen sind statt echter Wahlhandlungen sog. Friedenswahlen typisch: Bei der überwiegenden Mehrzahl der Versicherungsträger einigen die sich zur Wahl antretenden Verbände der Arbeitgeber und der Versicherten schon im Vorfeld auf genauso viele Kandidaten, wie Sitze in den Organen zu vergeben sind. Bei den Versicherungsträgern, bei denen echte Wahlen (Briefwahl) stattfinden, liegt die Wahlbeteiligung mit rund 30 % (Rentenversicherung, 2017) sehr niedrig. Das geringe öffentliche Interesse an der Selbstverwaltung ist auch Folge ihres geringen Gestaltungsspielraums. Leistungsrecht und Finanzierungsrecht unterliegen weitgehend dem Gesetzgeber. Bei der Krankenversicherung haben die einzelnen Kassen das Recht, die Zusatzbeiträge autonom festzulegen und Verträge mit den Leistungsanbietern zu schließen. Für die Sozialversicherung besteht eine eigene Gerichtsbarkeit (Sozialgerichtsbarkeit). Die Sozialgerichte bis hin zum Bundessozialgericht sind paritätisch besetzt, den hauptamtlichen Richter:innen stehen Laienrichter:innen zur Seite, die jeweils von den Arbeitgeberverbänden und den Gewerkschaften benannt werden. 5.5

Finanzierung

Die Zweige der Sozialversicherung finanzieren sich im Wesentlichen durch lohnbezogene Beiträge. Im Unterschied zur Privatversicherung mit ihren strengen Äquivalenzgrundsätzen werden die Beiträge aber nicht nach der individuellen Risikowahrscheinlichkeit (risikoäquivalente Beiträge) bemessen, sondern machen bei allen Versicherten den gleichen Prozentsatz vom versicherungspflichtigen Einkommen aus. Die Belastung erfolgt damit einkommensproportional. Bemessungsgrundlage für die Beitragserhebung ist das versicherungspflichtige Bruttoarbeitsentgelt. Andere persönliche Einkommen wie Gewinne, Mieten oder Vermögenseinkünfte bleiben außerhalb der Bemessungsgrundlage. Im Unterschied zur Tarifgestaltung der Einkommensteuer unterliegt das Bruttoarbeitsentgelt bereits ab dem ersten Euro voll der Beitragspflicht; einen Grundfreibetrag oder die Berücksichtigung von Werbungskosten und speziellen Freibeträgen kennt das Beitragsrecht nicht.

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Der Teil der Arbeitsentgelte, der oberhalb der Beitragsbemessungsgrenze liegt, bleibt allerdings beitragsfrei. Aufgrund der Beitragsbemessungsgrenze fällt die relative Einkommensbelastung umso geringer aus, je mehr das Arbeitsentgelt den Grenzwert überschreitet. Die Belastung durch Sozialversicherungsbeiträge wirkt dadurch tendenziell regressiv, zumal in die Bemessungsgrundlage für die Beiträge nur bestimmte, nämlich die sozialversicherungspflichtigen Einkommen eingehen, andere Einkünfte (z. B. aus selbstständiger Tätigkeit) unberücksichtigt bleiben. Die Verteilungswirkungen von direkten Steuern und Sozialversicherungsbeiträgen unterscheiden sich insofern stark. Grundelemente des Einkommensteuerrechts wie Erfassung sämtlicher Einkommen, Eingangssteuersätze, Spitzensteuersätze und progressiv ausgestaltete Grenzsteuersätze kennt die Sozialversicherung nicht. Aus ökonomischer Sicht lassen sich Beiträge damit als staatliche Abgaben verstehen, die wie direkte Steuern wirken, aber hohe Einkommen begünstigen. Diese im internationalen Vergleich übliche Gleichstellung von Lohnsteuern und Sozialversicherungsbeiträgen als Abzüge vom Bruttoeinkommen verwischt jedoch die grundlegenden Unterschiede zwischen beiden Abgabenarten: Beiträge fließen nicht in den allgemeinen Staatshaushalt, sondern sind zweckgebunden. Leistungen wie auch Anwartschaften sind eigentumsrechtlich geschützt, auf sie besteht ein unabdingbarer Anspruch. Zudem kommt es auf die zeitliche Perspektive an. Im Lebensverlauf relativiert sich das Problem einer regressiven Verteilungswirkung, da die Beitragsbemessungsgrenze bei den Geldleistungen dazu führt, dass auch die Leistungsansprüche nach oben hin begrenzt sind. Bei den Sach- und Dienstleistungen der Sozialversicherung hingegen, die unabhängig von der Beitragshöhe, also nach dem Bedarfs- und nicht nach dem Äquivalenzprinzip, vergeben werden, greift diese Leistungsbegrenzung nicht. Hier kommt es in der Kranken- und Pflegeversicherung auf der Finanzierungsseite tatsächlich zu einer Besserstellung von Versicherten mit einem hohen Einkommen. Solange es eine Versicherungspflichtgrenze gibt, würde einer Anhebung oder gar Aufhebung der Beitragsbemessungsgrenze dazu führen, dass die noch verbliebenen gut verdienenden freiwillig Versicherte dann in eine private Krankenversicherung wechseln, da dort die Prämien nicht einkommensabhängig ausgestaltet sind. Die Beiträge zur Sozialversicherung werden jeweils zur Hälfte vom Arbeitnehmer und Arbeitgeber gezahlt. Lediglich in der Unfallversicherung zahlt der Arbeitgeber alleine, da die Unfallversicherung die Arbeitgeberhaftpflicht abgelöst hat. Der Zahlungsvorgang sagt jedoch noch wenig darüber aus, wer die Belastungen tatsächlich trägt. Zu unterscheiden ist zwischen Zahllast und Traglast. Die Traglast kann durch Überwälzung verringert werden. Die Arbeitgeber können versuchen, die Beiträge über die Preise auf die Konsumenten ab- oder durch Abstriche bei den Bruttoeinkommen auf die Beschäftigten zurückzuwälzen (vgl. Kapitel „Ökonomische Grundlagen und Finanzierung“, Pkt. 3.7.2). Da die Sozialversicherungsträger in den jeweiligen Versicherungszweigen eigenständig sind und über Finanzautonomie verfügen, kommt es dazu, dass die einzelnen Träger entsprechend dem für sie gültigen Verhältnis von Beitragsaufkommen und

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Einkommen

Ausgabevolumen eine unterschiedliche Finanzlage aufweisen. Dies betrifft die Träger der Krankenversicherung, die den Ausgleich zwischen ihren Einnahmen aus dem Gesundheitsfonds und den Ausgaben durch die Festlegung eines kassenspezifischen Zusatzbeitrags erreichen müssen. Ein Risikostrukturausgleich zwischen den Kassen und Kassenarten trägt hier dazu bei, die Ausschläge der Beitragssätze zu begrenzen (vgl. Kapitel „Gesundheit und Gesundheitssystem“, Pkt. 5.1.4). Bei der Rentenversicherung sind die Beitragssätze gesetzlich vorgegeben. Um Finanzungleichgewichte der einzelnen Träger zu vermeiden, besteht ein voller Finanzausgleich zwischen den Trägern. Gesetzlich vorgegeben sind auch die Beitragssätze zur Arbeitslosen- und zur Pflegeversicherung. Zwischen den Sozialversicherungszweigen gelten wechselseitige Beitragsverpflichtungen: • • • •

die Bundesagentur für Arbeit zahlt für ihre Leistungsempfänger:innen Beiträge an die Kranken-, Pflege- und Rentenversicherung, die Rentenversicherung zahlt die Hälfte des Beitrages für die Krankenversicherung der Rentner, die Krankenversicherung zahlt für die Krankengeldempfänger:innen die hälftigen Beiträge an die Rentenversicherung und an die Bundesagentur für Arbeit, die Pflegeversicherung zahlt für nicht erwerbsmäßige Pflegepersonen Beiträge an die Rentenversicherung.

Der besondere Charakter der Sozialversicherung kommt schließlich darin zum Ausdruck, dass der Bund aus allgemeinen Steuermitteln Zuschüsse zur Finanzierung der Rentenversicherung (vgl. Kapitel „Alter“, Pkt. 6.7.2) und der Krankenversicherung (vgl. Kapitel „Gesundheit und Gesundheitssystem“, Pkt. 5.1.4) leistet. Der Bund kommt auch für die Beitragszahlung bei Kindererziehung auf. 5.6

Solidarausgleich

Die einzelnen Versicherungszweige sind durch eine je spezifische Kombination von Versicherungsprinzip und Solidarausgleich charakterisiert. Die Verteilungswirkungen der Sozialversicherung gehen also über den reinen Risikoausgleich hinaus und zielen auch auf eine Einkommensumverteilung. Krankenversicherung Die interpersonelle Umverteilung zu Gunsten der Personen bzw. Haushalte mit niedrigem Einkommen kommt im besonderen Maße bei der Krankenversicherung zum Ausdruck. Da bei der Krankenversicherung weit über 90 % der Ausgaben durch Sachund Dienstleistungen getätigt und diese nach Bedarfsmaßstäben bereitgestellt werden, greift das versicherungstechnische Äquivalenzprinzip hier nicht. Das heißt, dass

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auch bei geringen Beitragszahlungen die gleichen Sach- und Dienstleistungen in Anspruch genommen werden können wie bei hohen Beitragszahlungen. So richtet sich eine Krankenhausbehandlung in ihrer Dauer und Intensität allein nach medizinischen Notwendigkeiten und nicht nach der Höhe des eingezahlten Beitrags. Zudem werden die Beiträge nicht – wie bei der privaten Krankenversicherung – nach dem individuellen Risiko bzw. Risikoklassen (Vorerkrankungen, Alter beim Versicherungseintritt, Geschlecht), sondern allein an der Höhe des Arbeitsentgelts bemessen; auch der Beitragssatz für die Krankenversicherung der Rentner liegt nicht höher als der allgemeine Beitragssatz. Schließlich bleiben bei der Bemessung des individuellen Beitrags die Leistungen für Familienangehörige unberücksichtigt. Diese Regelungen führen zusammengenommen dazu, dass sich auf der Leistungsseite der Krankenversicherung mehrere Umverteilungsprozesse überlagern. Eine Umverteilung findet statt zwischen • • • •

Menschen mit unterschiedlichen Erkrankungswahrscheinlichkeiten (sozialversicherungstechnischer Risikoausgleich), jüngerer und älterer Generation (intergenerativer Risikoausgleich). Kinderlosen und Kinderreichen (familienbezogene Umverteilung), Beziehern hoher und niedriger Arbeitsentgelte (Einkommensumverteilung).

Betrachtet man diesen Umverteilungsprozess im Versicherungsverlauf, können sich die Begünstigungen und Belastungen freilich einebnen. Im Längsschnitt gesehen kann nämlich der/die zunächst überdurchschnittlich belastete, weil gesunde, kinderlose und gut verdienende Versicherte, später zu den Begünstigten zählen, wenn er/sie chronisch erkrankt oder Kinder zu versorgen sind oder wenn er/sie als Rentner:in von dem günstigen Beitragssatz profitiert. Ähnliches gilt für die Verteilungswirkungen der Pflegeversicherung, da auch hier zwischen individuellen Beiträgen und Leistungen kein Zusammenhang besteht. Allerdings wird der Solidarausgleich durch die Fixierung von Leistungshöchstbeträgen sowohl beim Pflegegeld wie bei den Sachleistungen begrenzt. Das für die Krankenversicherung typische Bedarfsdeckungsprinzip gilt bei der Pflegeversicherung nicht (vgl. Kapitel „Pflegebedürftigkeit und Pflege“, Pkt. 5.1). Rentenversicherung Sach- und Dienstleistungen haben in der Rentenversicherung einen geringen Stellenwert. Die nach dem Äquivalenzprinzip bemessenen Geldleistungen dominieren. Insofern fällt in diesem Versicherungszweig die interpersonelle Umverteilung deutlich schwächer aus. Nimmt man jedoch die private Lebensversicherung als Maßstab, so beschränkt sich die Rentenversicherung nicht auf die Abdeckung der sog. biometrischen Risiken (finanzielle Konsequenzen eines langen Lebens, von Tod und Invalidität), sondern bewirkt auch vielfältige Umverteilungseffekte. Zu berücksichtigen sind insbesondere die einkommens- und nicht risikobezogene Beitragsbemessung,

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die Hinterbliebenenversorgung, die Rentenberechnung bei einer Erwerbsminderung (Zurechnungszeiten), die Berücksichtigung beitragsfreier und beitragsgeminderter Zeiten, die Fremdrenten sowie Aufwertung von Anwartschaften während der Kindererziehungszeit (vgl. Kapitel „Alter“, Pkt. 6.5.2.). Die Verteilungswirkungen der Rentenversicherung lassen sich auch im Generationenvergleich (intergenerative Umverteilung) analysieren: In der Querschnittbetrachtung interessiert vor allem das Einkommensverhältnis zwischen der erwerbstätigen Bevölkerung und den Rentenbeziehern. Indikator für diese Relation ist das Rentenniveau (vgl. Kapitel „Alter“, Pkt. 6.6.1). • In der Längsschnittbetrachtung werden die Einkommenspositionen zwischen verschiedenen Altersjahrgängen bzw. Gruppen von Jahrgängen miteinander verglichen. Aus diesem Blickwinkel kann gefragt werden, ob die nachrückenden Kohorten gegenüber ihren Vorgängerkohorten besser oder schlechter gestellt werden. •

Arbeitslosenversicherung Wiederum besondere Bedingungen weist die Arbeitslosenversicherung auf. Ihre über den versicherungsimmanenten Risikoausgleich hinausreichenden Verteilungswirkungen lassen sich schwer abschätzen, da es eine privatwirtschaftliche Versicherung gegen Arbeitslosigkeit, die als Maßstab dienen könnte, nicht gibt. Das Risiko „Arbeitslosigkeit“ ist kein versicherbares, individuelles Risiko im engeren Sinne, da Unterbeschäftigung von konjunkturellen und strukturellen Faktoren bestimmt wird und sich Eintrittswahrscheinlichkeit und Schadenshöhe nicht versicherungstechnisch kalkulieren lassen. Dies ist auch der Grund dafür, dass der Bund den Defizitausgleich bei der Arbeitslosenversicherung übernimmt. Auch die Arbeitslosenversicherung arbeitet mit einkommensbezogenen und nicht mit risikoäquivalenten Beiträgen. Da das Risiko, arbeitslos zu werden und zu bleiben, sehr ungleich verteilt ist (vgl. Kapitel „Arbeit und Arbeitsmarkt“, Pkt. 5.4) und einzelne Arbeitnehmergruppen – wie z. B. Arbeiter:innen und Angestellte im öffentlichen Dienst oder gut qualifizierte Beschäftigte in der Privatwirtschaft – eine hohe Beschäftigungssicherheit aufweisen, lässt sich von einer interpersonellen Einkommensumverteilung in Richtung der stark von Arbeitslosigkeit gefährdeten Beschäftigten ausgehen. Überproportional häufig erhalten dann Beschäftigte mit geringer Qualifikation und einem eher niedrigen Einkommen sowie Beschäftigte in bestimmten Branchen und Berufen Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung. Fraglich ist jedoch, ob die Einkommensabsicherung bei Arbeitslosigkeit überhaupt als „Begünstigung“ aufgefasst werden kann. Die Lohnersatzleistungen machen nur einen Teil der Ausgaben der Bundesagentur für Arbeit aus. Daneben stehen im Rahmen der Arbeitsförderung die Maßnahmen der aktiven Arbeitsmarktpolitik, die allgemeinpolitischen Zielen dienen und in ihrer Wirkung weit über den Kreis der Versicherten hinausreichen.

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Interregionaler Einkommensausgleich Die Sozialversicherung berücksichtigt bei einzelnen Versicherungsträgern, so insbesondere bei den Ortskrankenkassen und den Regionalträgern der Rentenversicherung, regionale Strukturen. Das Leistungsrecht ist jedoch in allen Versicherungszweigen bundeseinheitlich geregelt. Das gilt auch für die neuen Bundesländer. Lediglich bei der Rentenversicherung wird der aktuelle Rentenwert zwischen den alten und neuen Bundesländern bis 2024 noch getrennt berechnet (vgl. Kapitel „Alter“, Pkt. 6.5.4). Auch die Finanzierung der Sozialversicherung erfolgt bundeseinheitlich (bei der Arbeitslosenversicherung/Arbeitsförderung) oder wird über Finanzausgleichsverfahren (in der Rentenversicherung und weitgehend in der Krankenversicherung) bundeseinheitlich gestaltet. Diese Ausgestaltung der Sozialversicherung führt zu erheblichen Umverteilungseffekten zwischen den Regionen bzw. Bundesländern Deutschlands: Denn einerseits sind die Risiken regional ungleich verteilt – dies betrifft vor allem die Arbeitslosigkeit – und andererseits weisen die Bundesländer ein unterschiedlich hohes Einkommensniveau und damit Beitragsaufkommen auf. „Reiche“ Bundesländer unterstützen über diesen Weg die „ärmeren“ und zusätzlich noch von besonderen Problemen betroffenen Bundesländer. Der interregionale Solidarausgleich in der Sozialversicherung findet seine Entsprechung im Länderfinanzausgleich und ist Ausdruck des verfassungsrechtlichen Gebots der Herstellung der Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse. Er ist besonders ausgeprägt im Verhältnis zwischen den alten und den neuen Bundesländern. Würde die Einnahmenbasis der Sozialversicherung hingegen regionalisiert, käme es zu deutlichen Beitragssatzdifferenzen zu Lasten der strukturschwachen und zu Gunsten der prosperierenden Länder. 5.7

Versicherungsfremde Leistungen und steuerfinanzierte Zuschüsse

In allen Zweigen der Sozialversicherung wird das versicherungsförmige Äquivalenzprinzip durch Elemente des sozialen Ausgleichs ergänzt. Abweichungen vom reinen Risikoausgleich zeigen sich in mehrfacher Hinsicht: • •

Die Beiträge werden nicht nach dem individuellen Risiko, sondern nach dem Arbeitseinkommen bemessen. Leistungsansprüche haben zum Teil auch jene, die nicht zum Kreis der Versicherten und Beitragspflichtigen zählen. Dies betrifft zum Beispiel Rentenzahlungen an Spätaussiedler im Rahmen des Fremdrentengesetzes. In der Arbeitsförderung können Leistungen wie Berufsberatung, Arbeitsvermittlung, Maßnahmen zur Berufsvorbereitung und Berufsausbildung auch von Personen in Anspruch genommen werden, die nicht versicherungs- und beitragspflichtig beschäftigt sind.

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Beitragsfrei mitversichert sind in der Kranken- und Pflegeversicherung Familienangehörige (nicht erwerbstätige Ehepartner und Kinder). • Bei der Leistungsberechnung werden Zeiten berücksichtigt, für die keine Beiträge gezahlt worden sind; dies gilt für die Anerkennung von Ersatz-, Zurechnungsund Anrechnungszeiten in der Rentenversicherung oder die beitragsfreie Versicherung in der Arbeitslosenversicherung während der Elternzeit. • Die Leistungsanwartschaften bzw. die späteren Leistungen werden für Versicherte, die sich in besonderen Lebensphasen befinden, höher bewertet, als es aufgrund der gezahlten Beiträge gerechtfertigt wäre. So werden in der Rentenversicherung die Entgeltpunkte durch die Höherbewertung von Zeiten der Berufsausbildung und der Kindererziehung angehoben. In der Arbeitslosenversicherung erhalten Arbeitslose mit Kindern einen höheren Leistungssatz. • Die Beitragsäquivalenz wird schließlich durch den interregionalen Ausgleich durchbrochen. Die besonderen Aufgaben und Belastungen in den neuen Bundesländern werden durch den Finanztransfer von West nach Ost ausgeglichen. Die Frage ist, ob diese Leistungen des Sozialausgleichs zum originären, versicherungstypischen Aufgabenspektrum einer Sozialversicherung zählen, oder ob es sich um allgemeine Staatsaufgaben handelt, die der Staat der Sozialversicherung lediglich übertragen hat. Ist das letztere der Fall, ist eine Finanzierung dieser „versicherungsfremden“ Aufgaben aus Beitragsmitteln problematisch. Zur berücksichtigen ist nämlich, dass die Solidargemeinschaft der Versicherten nur einen Teil Bevölkerung erfasst, die versicherungspflichtigen Arbeitnehmer:innen, während andere – in der Regel besser verdienende – Beschäftigtengruppen (wie Beamte, Selbstständige) eigenständige Sicherungssysteme aufweisen, nicht beitragspflichtig und von daher auch nicht in den Solidarausgleich eingebunden sind. Infolge der Versicherungspflichtgrenze in der Kranken- und Pflegeversicherung kommt es überdies dazu, dass Beschäftigte im höheren Einkommensbereich zwischen Sozialversicherung und Privatversicherung wählen und sich – wenn es für sie vorteilhaft ist – dem Solidarausgleich entziehen können. Aus ordnungs- und verteilungspolitischen Gesichtspunkten wäre es geboten, allgemeine Staatsaufgaben auch durch die Allgemeinheit zu finanzieren. Das angemessene Finanzierungsinstrument wäre die Einkommensteuer, da diese alle Personen und Einkommen erfasst und die Belastung nach dem Prinzip der Leistungsfähigkeit erfolgt. Die Zuschüsse, die der Bund an die Renten- und Krankenversicherung zahlt, sind Ausdruck dieser Problematik. Da die Zuschüsse aus dem allgemeinen Steueraufkommen finanziert werden, ist allerdings nicht zurechenbar, über welche Steuer die entsprechende Finanzierung erfolgt (über indirekte und direkte Steuern) und wie sich die Belastungen verteilen (vgl. Pkt. 3.1 dieses Kapitels). Nicht klar ist vor allem, ob die Bundeszuschüsse in ihrer Höhe ausreichen, um die als versicherungsfremd zu

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bezeichnenden Aufgaben abzudecken. Um zu einer Beurteilung zu kommen, muss entschieden werden, wie versicherungskonforme von versicherungsfremden Leistungen abzugrenzen sind. Hierbei kommt man nicht ohne politische Werturteile aus. Wird nämlich allein die Privatversicherung mit ihrem Grundsatz der Beitragsäquivalenz als Maßstab genommen, gewährt die Sozialversicherung im großen Umfang versicherungsfremde Leistungen. Werden hingegen der soziale Ausgleich und das Solidaritätsprinzip als Wesenselemente der Sozialversicherung angesehen, werden Leistungen, die der Privatversicherung fremd sind, geradezu konstitutiv für die Sozialversicherung. Der Aufgabe einer sachgemäßen Abgrenzung zwischen versicherungskonformen und versicherungsfremden Leistungen in der Sozialversicherung kommt man näher, wenn unterschieden wird zwischen Maßnahmen des internen sozialen Ausgleichs, die sich auf die Versichertengemeinschaft beschränken, und Maßnahmen des externen sozialen Ausgleichs, die an außen stehende Personen gehen, ohne dass diese einen eigenen Beitrag bezahlt haben: In der Rentenversicherung sind für den internen Ausgleich Zurechnungs- und Anrechnungszeiten sowie Höherbewertungen charakteristisch. Für den externen Ausgleich stehen insbesondere Kindererziehungszeiten, Ansprüche nach dem Fremdrentengesetz und die Kriegsfolgelasten. Die Dimensionen dieser Leistungen werden durch den gegenwärtigen Bundeszuschuss (allgemeiner Bundeszuschuss und zusätzliche Bundeszuschüsse) und die Beitragszahlungen des Bundes für Kindererziehungszeiten abgedeckt (vgl. Kapitel „Alter“, Pkt. 6.7.2). Bei der Krankenversicherung lassen sich allgemeine, gesellschaftspolitische Aufgaben, die über den Kreis der Versicherten hinaus reichen, bei einigen Leistungen (Leistungen bei Schwangerschaft, Mutterschaftsgeld, Krankengeld bei Betreuung eines erkrankten Kindes) identifizieren. Hier erhalten die Krankenkassen – seit 2004 – Zuschüsse aus dem Bundeshaushalt. Eine erhebliche Belastung mit allgemeinen, gesellschaftspolitischen Aufgaben weist die Arbeitslosenversicherung auf, da viele Maßnahmen und Angebote der Arbeitsförderung (wie u. a. Benachteiligtenförderung, Berufsberatung, Arbeitsvermittlung, Aussiedlerintegration, Sprachförderung, berufliche Eingliederung Behinderter) von der gesamten Bevölkerung in Anspruch genommen werden können. Zu berücksichtigen ist zudem, dass die Sozialversicherungen allein aufgrund ihrer Größe eine allgemeine Stabilitäts- und Gestaltungsfunktion für die Gesellschaft wahrnehmen und zu positiven externen Effekten führt, von denen auch jene profitieren, die nicht versichert bzw. unmittelbar betroffen sind. So kann niemand vom Nutzen des Arbeitsmarktausgleichs und einer aktiven Arbeitsmarktpolitik ausgeschlossen werden. Dem in den einzelnen Versicherungszweigen im unterschiedlichen Maße auftretenden Problem einer inadäquaten Finanzierung der Leistungen, kann durch zwei unterschiedliche Maßnahmen entgegengetreten werden:

242

• •

Einkommen

Durch eine Erhöhung und Verstetigung der steuerfinanzierten Bundeszuschüsse kann die Allgemeinheit der Steuerzahler stärker zur Finanzierung gesamtgesellschaftlicher Aufgaben der Sozialversicherung heran gezogen werden. Durch eine Verallgemeinerung der Versicherungspflicht im Sinne einer Volksoder Bürgerversicherung und durch die Ausweiterung der Beitragsbemessung auf das gesamte Einkommen würde die Bevölkerung insgesamt in den Schutz und zugleich Solidarausgleich der Sozialversicherungssysteme eingebunden. Dies betrifft vor allem die Finanzierung der Kranken- und Pflegeversicherung (vgl. Pkt. 9.2 dieses Kapitels).

In der Debatte um die Finanzierung der Sozialversicherung spielen nicht nur ordnungs- und verteilungspolitische Argumente eine Rolle. Aus arbeitsmarktpolitischer Sicht wird auch thematisiert, ob eine stärkere Steuerfinanzierung zu einer Entlastung der Arbeitskosten allgemein und der Lohnnebenkosten insbesondere beiträgt und zu positiven Beschäftigungseffekten führen kann (vgl. Kapitel „Ökonomische Grundlagen und Finanzierung“, Pkt. 7.2). 5.8

Leistungsfähigkeit und Leistungsgrenzen der Sozialversicherung

Da die Sozialversicherung das System der sozialen Sicherung in Deutschland bestimmt, sind Aussagen über ihre Leistungsfähigkeit zugleich auch Aussagen über die Qualität der Sozialpolitik insgesamt. Allgemein kann festgestellt werden, dass die Sozialversicherung sich in ihren einzelnen Zweigen als stabil und zugleich anpassungsfähig erwiesen hat und ein zentraler Faktor ist für die hohe Akzeptanz, die das Sozialstaatsprinzip bislang in der Bevölkerung erfahren hat. Dafür ist eine Reihe von Gründen ausschlaggebend: • Aus dem Versicherungsprinzip folgt, dass die Menschen ihre Ansprüche an den Sozialstaat aus ihren Beitragszahlungen ableiten können. Sie stehen dem Staat nicht als Bittsteller gegenüber, sondern als selbstbewusste Bürger:innen, die sich ihren Rechtsanspruch erarbeitet und verdient haben. Die Beitragszahlungen begründen eigentumsrechtlich geschützte Anwartschaften. • Der versicherungsförmige Lohnersatz führt zu einer Verstetigung des Einkommens im Lebenslauf und ermöglicht eine längerfristige Lebensplanung. Wenn lediglich eine Leistung auf dem Niveau des (sozial-kulturellen) Existenzminimums gezahlt würde, hätte der Eintritt von Krankheiten, Unfällen, Arbeitslosigkeit oder Invalidität unmittelbar einen drastischen Absturz im Lebensstandard zur Folge. • Einbezogen in die Sozialversicherung sind nicht nur die sog. „wirklich Bedürftigen“, sondern (fast !) die gesamte der Bevölkerung. Dies ist einerseits notwendig, um den Solidarausgleich finanzieren zu können, bedeutet andererseits aber auch,

Sozialversicherung

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dass über die Mittelschicht hinaus ein großes Interesse an der Stabilität und Leistungsfähigkeit des Sozialstaates besteht. • Durch das Prinzip von Leistung und Gegenleistung und den Verzicht auf Einkommens- und Bedürftigkeitsprüfungen kommt es nicht zur Diskriminierung der Leistungsempfänger:innen: Die für vorleistungsunabhängige Transfers, insbesondere für die Grundsicherung, typischen Debatten über Missbrauch werden weitgehend vermieden. • Da die Beiträge nicht in den allgemeinen Staatshaushalt fließen, sondern zweckgebunden sind und zwischen Beiträgen und Geldleistungen ein Entsprechungsverhältnis besteht, ist der Abgabenwiderstand bei Beitragszahlungen geringer als bei Steuerzahlungen. • Durch ihre relative Finanzautonomie kann sich die Sozialversicherung dem unmittelbaren Zugriff der Finanzminister entziehen. Fiskalisch motivierte Leistungskürzungen sind bei rein steuerfinanzierten, über die öffentlichen Haushalte abgewickelten Transfers sehr viel leichter möglich. Die Sozialversicherung ist aber auch mit mehrfachen Problemen und Herausforderungen konfrontiert, die ihre Stabilität und Akzeptanz gefährden können. Im Mittelpunkt steht hier regelmäßig die Situation in der Rentenversicherung. Zu befürchten ist, dass angesichts des sinkenden Rentenniveaus das Ziel der Lebensstandardsicherung nicht mehr erreicht werden kann und dass die Altersrenten von Niedrigverdienern selbst nach langjähriger Beitragszahlung noch unter dem Niveau der Grundsicherung liegen. Hinzu kommen die längerfristig angelegten Probleme des demografischen Wandels. Eine weitere grundlegende Frage ist, ob die Geldleistungen der Sozialversicherung in der Lage sind, die Einkommensrisiken der Bevölkerung wirklich umfassend abzudecken. Ist doch der Schutz durch die Sozialversicherung in ihrer gegenwärtigen Struktur an bestimmte Voraussetzungen geknüpft: • • • • •

Es muss überhaupt eine Erwerbstätigkeit mit entsprechendem Erwerbseinkommen vorliegen bzw. vorgelegen haben. Die Erwerbstätigkeit muss der Versicherungs- und Beitragspflicht unterliegen. Die Erwerbstätigkeit muss kontinuierlich und von längerer Dauer sein. Die Höhe des Erwerbseinkommens muss deutlich oberhalb des Existenzminimums liegen. Der risikobedingte Einkommensausfall muss – außer im Fall von Invalidität und Alter – zeitlich begrenzt bleiben.

Diese Voraussetzungen können zu folgenden Problemen führen: • Ungeschützt bleiben diejenigen Personen, die kein (versicherungspflichtiges) Beschäftigungsverhältnis (haben) aufnehmen können. Hier handelt es sich vor allem um Jugendliche, die nach Beendigung ihrer Schul- oder Hochschulausbildung

244









Einkommen

keine Beschäftigung finden oder um Frauen, die aus familiären Gründen ihre Erwerbstätigkeit für längere Zeit unterbrochen oder ganz aufgegeben haben. Es besteht weder Anspruch auf Arbeitslosengeld noch werden Rentenanwartschaften aufgebaut. Ungeschützt bleiben auch diejenigen Personen, die zwar erwerbstätig sind, aber nicht der Versicherungspflicht unterliegen. Von besonderer Bedeutung sind hier die geringfügig Beschäftigten und die wachsende Zahl der Menschen, die ihre berufliche Tätigkeit in der Grauzone zwischen neuer Selbstständigkeit in der Plattformökonomie und abhängiger Beschäftigung ausüben. Nicht oder nur unzureichend geschützt sind diejenigen Arbeitnehmer:innen, die kurzfristig beschäftigt sind oder deren Erwerbsbiographie Unterbrechungen aufweist: Denn Anspruchsvoraussetzungen (Wartezeit in der Renten- und Arbeitslosenversicherung), Leistungsdauer (beim Arbeitslosengeld) und Leistungshöhe (bei der Rente) sind an die Versicherungs- bzw. Beitragsdauer geknüpft. Unzureichend abgesichert sind alle Bezieher:innen von Niedrigeinkommen. Da die Lohnersatzleistungen das vorherige Arbeitseinkommen immer nur anteilig abdecken, geraten aus niedrigen Arbeitseinkommen abgeleitete Ansprüche auf Rente, Krankengeld oder Arbeitslosengeld sehr schnell in eine prekäre Zone. Eine Einkommenseinbuße von z. B. gut 40 % (beim Arbeitslosengeld) bei einem Arbeitseinkommen, das zwar niedrig, aber gerade noch auskömmlich ist, ist gleichbedeutend mit einem Absinken unter das Existenzminimum. Da die Sozialversicherung bei ihren Geldleistungen weder Bedarfskriterien berücksichtigt noch Mindestleistungen vorsieht, gibt es keinen Mechanismus, der diesen „Fall nach unten“ aufhalten kann. Betroffen sind nicht zuletzt die Teilzeitbeschäftigten, da Teilzeitarbeit als individuelle Form der Arbeitszeitverkürzung ohne Lohnausgleich erfolgt, also mit proportionalen Einbußen im Bruttoeinkommen verbunden ist. Bei der Rente fallen die Anwartschaftsverluste infolge von Teilzeitarbeit umso höher aus, je größer das Gewicht der Teilzeitarbeit im gesamten Versicherungsverlauf ist und je stärker die Arbeitszeit und damit das Bruttoeinkommen gegenüber der Vollzeitnorm reduziert wird. Unzureichend abgesichert sind diejenigen, die nicht nur kurzfristig, sondern längerfristig arbeitslos oder krank sind, denn der Versicherungsschutz dünnt sich in dem Maße aus, je länger das Risiko andauert. So ist Langzeitarbeitslosigkeit, die im hohen Maße das Arbeitsmarktgeschehen prägt, gleichbedeutend mit einem Verlust des Arbeitslosengeldanspruchs. Eine mehrjährige Krankheit bedeutet, dass der Krankengeldanspruch ausläuft.

Es sind in erster Linie Frauen, die keine ausreichend hohen und vor allem eigenständigen Sicherungsansprüche bei den Risiken Invalidität, Alter und Arbeitslosigkeit aufweisen. Denn die Normalität kontinuierlicher Vollzeiterwerbsarbeit gilt faktisch nur für den traditionellen Lebens- und Erwerbsverlauf von Männern. Zwar zeigt sich bei der Alterssicherung aufgrund der gestiegenen Erwerbsbeteiligung von Frauen ein

Sozialversicherung

245

generell positiver Entwicklungstrend hin zu höheren Rentenanwartschaften. Auch gleicht die Rentenversicherung Lücken in den Erwerbsverläufen in bestimmten Situationen aus, so insbesondere durch die rentenrechtliche Anerkennung von Kindererziehungs- und Pflegezeiten, so dass die Versicherungsbiographien kein reines Spiegelbild der Erwerbsbiographien darstellen. Gleichwohl kann auf absehbare Zeit von einer annähernden Gleichverteilung von Einkommen und Renten zwischen Männern und Frauen, insbesondere zwischen Ehemännern und Ehefrauen, nicht die Rede sein. Denn auch dann, wenn die Erwerbsunterbrechung nach der Geburt von Kindern nur kurz ist, macht sich die Diskontinuität des Berufsverlaufs in einer (im Vergleich zu den Männern) niedrigeren Berufs- und Einkommensposition und in verlorenen Aufstiegschancen bemerkbar. Da eine – aufgrund von Niedrigentgelten und/oder einer geringen individuellen Arbeitszeit (Teilzeit) – schlechte Einkommensposition und kurze Versicherungsdauer sehr häufig miteinander verknüpft sind, konzentrieren sich niedrige Renten auf Frauen. Wenn der (Teilzeit-)Lohn kaum das individuelle Existenzminimum sichert und der Lebensunterhalt nur im Partnerkontext gewährleistet werden kann, kann keine Rente erwartet werden, die höher ist als die Grundsicherung. Es ist ein Widerspruch, dass in der aktuellen Debatte einerseits zwar regelmäßig die niedrigen Frauenrenten (Stichwort „gender-pension gap“) kritisiert werden, dass aber auf der anderen Seite das vorgelagerte Problem, nämlich die Ausweitung der Teilzeitarbeit, insbesondere auf der Basis von Minijobs, eher hingenommen, ja noch durch steuerund sozialrechtliche Regelungen gefördert wird. Zwar stehen verheirateten Frauen bei Krankheit (im Rahmen der Familienhilfe) und im Alter (Hinterbliebenenrente) die vom versicherten Ehemann abgeleiteten (Unterhaltsersatz)Ansprüche zu. Doch diese Regelungen bleiben unbefriedigend: Es fehlt ein eigenständiger Anspruch, der die persönliche Abhängigkeit vom Mann überwindet. Die Unsicherheit abgeleiteter Ansprüche wird spätestens bei der Scheidung sichtbar. Die vom Mann abgeleitete Sicherung der Frau bezieht sich außerdem allein auf den Tatbestand der Ehe und wird auch von daher zunehmend fragwürdig. Denn ausgeschlossen werden andere Formen partnerschaftlichen Zusammenlebens. Und auch an der Lebenslage der wachsenden Zahl allein erziehender (lediger oder geschiedener) Mütter geht die abgeleitete Sicherung vorbei. Durch die Ehefixierung wird also der eigentliche schutz- und sicherungsbedürftige Tatbestand, nämlich die Kindererziehung, nicht erfasst. Die Analyse verdeutlicht, dass die Sozialversicherung unter erheblichem Reformdruck steht: Zu lösen sind nicht nur die Finanzierungsprobleme, sondern auch die Fragen nach einer Ausweitung der Versicherungspflicht, dem Leistungsniveau, der Gewichtung von Äquivalenzprinzip und sozialem Ausgleich und dem Verhältnis von Sozialversicherung und Privatversicherung.

246

Einkommen

6

Grundsicherung

6.1

Grundsicherung als letztes soziales Netz

6.1.1 Grundsicherungssysteme und Leistungsprinzipien

Den Gegenpol zur Sozialversicherung stellt die fürsorgeförmige Grundsicherung dar. Sie hat die Aufgabe eines „letzten sozialen Netzes“ und greift bei jenen Notlagen, die weder durch eigene oder familiäre (Selbst)Hilfe noch durch vorgelagerte Sozialleistungen abgedeckt werden. Die Grundsicherung definiert damit das sozial-kulturelle Existenzminimum in der Gesellschaft. Die Hilfe erfolgt unabhängig von einer Vorleistung, die Höhe der Leistung orientiert sich nicht an einem vormaligen Erwerbseinkommen. Die gesetzliche Leitmaxime ist, Menschen die Führung eines Lebens zu ermöglichen, das „der Würde des Menschen entspricht“ (§ 1 (1) SGB II und SGB XII). Dieser Leitsatz bezieht sich auf Artikel 1 des Grundgesetzes („Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlicher Gewalt.“) und weist auf ein Selbstverständnis der Grundsicherung hin, das sich von den Grundsätzen der traditionellen Armenfürsorge unterscheidet. Qualitativ unterschiedlich ist vor allem die Postulierung eines rechtlich garantierten Anspruchs auf eine die menschenwürdige Lebensführung sicherstellende Leistung, die ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben garantiert. Die Leistungen der Grundsicherung sind in mehrere Teilsysteme und -gesetze ausdifferenziert (Abbildung III.13), die sich auf jeweils unterschiedliche Personenkreise beziehen: •

Für erwerbsfähige Menschen (dazu zählen u. a. Arbeitslose, Niedrigverdiener, teilweise Erwerbsgeminderte) und ihre Angehörigen ist die Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II) zuständig. • Ältere Menschen und dauerhaft Erwerbsgeminderte sind die Zielgruppe Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung (SGB XII). • Kinder und Erwachsene unter 65 Jahren, die zeitweise voll erwerbsgemindert sind, können Geldleistungen der Sozialhilfe (Hilfe zum Lebensunterhalt) (SGB XII) beantragen. Zudem finanziert die Sozialhilfe besondere Sach- und Dienstleistungen (so vor allem Hilfe zur Pflege, Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderungen). • Asylbewerber und Flüchtlinge/Schutzsuchende können Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz erhalten. Das einkommensabhängige Wohngeld kann als eine ergänzende Grundsicherung interpretiert werden; da allerdings der Fürsorgecharakter (keine Bedarfsdeckung, keine strenge Nachrangigkeit) fehlt, wird das Wohngeld häufig als gesonderte Leistung dargestellt.

Grundsicherung

247

Abbildung III.13 Grundsicherungssysteme

Grundsicherungssysteme in Deutschland

Grundsicherung für Arbeitsuchende

Sozialhilfe

Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung

Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz

Erwerbsfähige Personen im Alter zwischen 15 Jahren und der Regelaltersgrenze

Personen im Alter unterhalb der Regelaltersgrenze

Personen im Alter oberhalb der Regelaltersgrenze und Erwerbsgeminderte

Asylbewerber und Flüchtlinge

Erwerbsfähigkeit von mehr als 3 Stunden am Tag

Zeitweise voll erwerbsgemindert

Erreichen der Regelaltersgrenze oder dauerhafte volle Erwerbsminderung

Asylbewerber sowie geduldete und vollziehbar zur Ausreise verpflichtete Ausländer

Zentrale Leistungen

Arbeitslosengeld II Sozialgeld Kosten der Unterkunft

Hilfe zum Lebensunterhalt Kosten der Unterkunft

Grundsicherung Kosten der Unterkunft

Grundleistungen Barbedarf Unterkunft

Empfängerzahlen (am Jahresende)

Leistungsempfänger 2018: 5.865.234

Leistungsempfänger 2018: 369.850

Leistungsempfänger 2018: 1.079.000

Leistungsempfänger 2018: 411.000

Gesetzliche Grundlage

SGB II

SGB XII

SGB XII

Asylbewerberleistungsgesetz

System

Personenkreis

Leistungsvoraussetzung

Die Teilsysteme sind nach Bevölkerungsgruppen differenziert und hinsichtlich der Niveaus, der Bezugsbedingungen und der Rechtstellung der Betroffenen sozial hierarchisiert: Am oberen Ende der Hierarchie steht die Grundsicherung für Ältere, am unteren Ende stehen die Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz. Und innerhalb der Gruppe der arbeitsmarktnahen Hilfebedürftigen (Anspruch auf Arbeitslosengeld II) haben junge Erwachsene (bis 25 Jahren) die schlechtesten Bedingungen und werden zugleich in einem besonderen Maße mit Sanktionen bedroht. Die Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem SGB XII als vormalige universelle Grundsicherung hat – quantitativ gesehen – heute eine nur noch nachrangige Bedeutung, aber ihr kommt eine Referenzfunktion für die anderen Systeme zu. Die Leistungsprinzipien des SGB XII und hierbei insbesondere die Regelungen über die Bemessung der Höhe der Hilfe zum Lebensunterhalt und deren Anpassung an die wirtschaftliche Entwicklung stellen den Maßstab dar sowohl für die Altersgrundsicherung als auch für die Grundsicherung für Arbeitsuchende und haben Auswirkungen auf die Einkommensteuer (steuerfreies Existenzminimum) und das Pfändungs- und Unterhaltsrecht.

248

Einkommen

Abbildung III.14 Empfänger von Leistungen der Grundsicherung insgesamt, am Jahresende 2018, in Mio. und in %

Sozialgeld (SGB II) 1,65 Mio. = 22,3%

Arbeitslosengeld II (SGBII) 4,14 Mio. = 55,9% Insgesamt: 7,41 Mio.

Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung 1,08 Mio. = 14,6%

= 9,0 % der Bevölkerung

Laufende Hilfe zum Lebensunterhalt außerhalb von Einrichtungen 0,12 Mio. = 1,7% Regelleistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz 0,41 Mio. = 5,5%

Empfänger außerhalb von Einrichtungen Quelle: Statistisches Ämter des Bundes und der Länder (2019), Sozialberichterstattung.

Im Jahr 2018 gab es insgesamt 7,4 Mio. Empfänger:innen von Geldleistungen der unterschiedlichen Systeme der Grundsicherung (Abbildung III.14). Das entspricht rund 9,0 % der Bevölkerung. Jeder 9. Einwohner hat also ein so geringes Einkommen, dass auf Leistungen der Grundsicherung zurückgegriffen werden muss. Der weitaus größte Teil der Personen (78,2 %) bezieht Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem SGB II (auch als Hartz IV bezeichnet). Die Empfänger der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung machen 14,6 % aus. Von Bedeutung sind angesichts der starken Zuwanderung von Flüchtlingen seit 2014 auch die Leistungsempfänger:innen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz mit einem Anteil im Jahr 2018 von 5,5 % aller Grundsicherungsempfängerinnen und -empfänger. Allerdings zeigt sich hier eine rückläufige Entwicklung. 2015 wurden noch knapp eine Million Empfänger nach dem Asylbewerberleistungsgesetz registriert; das entsprach einem Anteil von 12,2 % aller Empfänger:innen von Grundsicherungsleistungen insgesamt. Nicht erfasst sind bei diesen Daten jene Leistungsempfänger:innen der Sozialhilfe, die in Einrichtungen, z. B. Pflegeheimen, leben und die Anspruch auf eine monetäre Zuwendung haben, um damit Kleidung kaufen zu können und über einen Barbetrag

Grundsicherung

249

(sog. Taschengeld) zu verfügen. Im Jahr 2018 waren dies rund 249 000 Menschen. Ebenfalls nicht erfasst sind die Bezieher von Wohngeld. Das Wohngeld ist zwar eine einkommensgeprüfte, aber keine bedürftigkeitsgeprüfte Sozialleistung. So besteht Anspruch auf Wohngeld auch für Personen bzw. Haushalte, deren Einkommen oberhalb der Grundsicherungsschwelle liegt. Auch findet keine Vermögensanrechnung statt. Die einzelnen Grundsicherungssysteme weisen nicht nur hinsichtlich des Adressatenkreises, sondern auch hinsichtlich der Leistungen und der Finanzierung wichtige Unterschiede auf, aber gemeinsam ist die Prägung durch das Bedarfsdeckungsprinzip, das Individualisierungsprinzip und das Nachrangprinzip. Bedarfsdeckungsprinzip Nach dem Bedarfsdeckungsprinzip ist maßgebendes Kriterium für die Leistungsbemessung der jeweils vorliegende individuelle Bedarf im Hinblick auf ein „menschenwürdiges Leben“. Die Leistung bezieht sich auf die Bedarfs- und Haushaltsgemeinschaft, in der die Anspruchsberechtigten leben. Das Bedarfsdeckungsprinzip kommt in folgenden Punkten zum Ausdruck: •

Es ist Aufgabe der Grundsicherung, eine gegenwärtige Notlage rechtzeitig und wirksam zu vermeiden. Die Leistung setzt also im Bedarfsfall aktuell ein, d. h. in der Praxis oft sofort und nicht erst am Ende eines Monats. Gegenwartsbezug heißt allerdings auch, dass grundsätzlich die Übernahme von Schulden ausgeschlossen ist. Da der Anspruch auf Grundsicherung nicht gepfändet werden kann, gefährden vorhandene Schulden die Deckung des notwendigen Lebensunterhalts nicht. Eine Ausnahme gilt für die Übernahme von Mietschulden, wenn diese zum Verlust der Wohnung führen würden. • Die Grundsicherung ist (bis auf Ausnahmen) nicht rückzahlbar, sondern wird als Zuschuss geleistet. • Die Grundsicherung ist zwar keine rentenähnliche Dauerleistung, wird aber solange gezahlt, wie der Bedarf besteht, ist also im Grundsatz ein zeitlich unbefristeter Anspruch. • Die Grundsicherung tritt in Vorleistung, wenn vorrangige Ansprüche zwar vorhanden sind, diese aber nicht oder nicht schnell genug realisiert werden können. Der Anspruch geht dann auf den Grundsicherungsträger über. Individualisierungsprinzip Nach dem Individualisierungsprinzip richten sich Art, Form und Maß der Leistung nach der Besonderheit des Einzelfalles. Maßstab sind die individuelle Notlage, die jeweilige Art des Bedarfes und die jeweiligen örtlichen Verhältnisse. Individualisierungsprinzip und Ermessensspielraum erlauben eine variable, problemadäquate Hilfestellung, sie können für die Leistungsempfänger:innen andererseits aber auch Unsicherheit und die Gefahr von Willkür beinhalten.

250

Einkommen

Der erhebliche Verwaltungsaufwand, der mit der Anspruchsprüfung und Bewilligung von Leistungen in jedem Einzelfall verbunden ist, hat dazu geführt, dass die Grundsicherungsleistungen weitgehend nach festen Sätzen, d. h. pauschaliert kalkuliert werden. Mit dem Pauschalbetrag können die Leistungsberechtigten eigenverantwortlich wirtschaften. Die Kosten der Unterkunft werden hingegen in jedem Einzelfall berücksichtigt. Nachrangprinzip/Subsidiaritätsprinzip Das Nachrangprinzip bedeutet, dass kein Anspruch auf Grundsicherung besteht, wenn die Hilfesuchenden sich zur Beschaffung des notwendigen Lebensunterhalts für sich und ihre Familien selbst helfen können oder wenn Leistungsansprüche gegenüber Angehörigen oder auf andere Sozialleistungen bestehen. Vorrang vor der Grundsicherung haben damit •

(mit einigen Ausnahmen) sämtliche Einkommen und Einkommensarten wie Arbeits- und Gewinneinkommen, sozialversicherungsrechtliche Lohnersatzleistungen, Transfers, private Übertragungen, • verwertbares Vermögen, wie Geldvermögen, Sachvermögen, Lebensversicherungen, Haus- und Grundbesitz, soweit es bestimmte Grenzen („Schonvermögen“) übersteigt, • Leistungen unterhaltsverpflichteter Angehöriger. Aus dem Nachrangprinzip folgt, dass erwerbsfähige Menschen und die mit ihnen in einer Bedarfsgemeinschaft lebenden Personen alle Möglichkeiten zur Beendigung oder Verringerung ihrer Hilfebedürftigkeit ausschöpfen und die eigene Arbeitskraft zur Bestreitung des Lebensunterhalts einsetzen müssen. Erwerbstätigkeit hat also Vorrang vor einem Leistungsanspruch. Die Grundsicherung ist also keineswegs mit einem bedingungslosen Einkommen gleichzusetzen. Geleistet wird erst dann, wenn Bedürftigkeit vorliegt und keine Möglichkeit besteht, zumutbare Verdienste auszuüben, oder wenn die Betroffenen hierzu körperlich oder geistig nicht in der Lage sind oder die Erziehung von Kindern dadurch gefährdet wird. 6.1.2 Leistungshöhe: Regelbedarfe und Kosten der Unterkunft

Der durch die Grundsicherung zu gewährleistende notwendige Lebensunterhalt ist mehr als das reine Existenzminimum („das zum Lebensunterhalt Unerlässliche“), sondern orientiert sich am menschenwürdigen Leben und soll ein soziokulturelles Existenzminimum garantieren. Zum notwendigen Lebensunterhalt zählt der Bedarf eines Menschen insbesondere an Ernährung, Kleidung, Hausrat und Unterkunft einschließlich Heizung. Erfasst sind gleichermaßen die persönlichen Bedürfnisse des täglichen Lebens; zu ihnen gehören auch Sozialkontakte und die Teilhabe am gesellschaftlichen und kulturellen Leben. Eine gesetzliche Bestimmung dessen, was genau

Grundsicherung

251

als soziokulturelles Minimum zu verstehen ist, gibt es jedoch nicht. Dies ist eine politisch-normative Entscheidung, bei der die allgemeinen Lebensverhältnisse und deren Entwicklung zu berücksichtigen sind und die stets kontrovers diskutiert wird. Allerdings hat das Bundesverfassungsgericht den Gesetzgeber verpflichtet, das Bemessungsverfahren transparent und nachvollziehbar zu gestalten. Der Bedarf der Grundsicherung setzt sich zusammen aus • • • •

dem Regelbedarf, den Leistungen für Unterkunft und Heizung, den Sonderbedarfen. Kinder haben darüber hinaus Anspruch auf Leistungen für Bildung und Teilhabe.

Regelbedarfe Der gesamte Bedarf des notwendigen Lebensunterhalts wird nach bestimmten Sätzen erbracht, also pauschaliert berechnet. Leben Personen nicht allein, sondern mit Partnern und/oder Kindern in einer Bedarfsgemeinschaft zusammen, wird dies bei der Festsetzung der Regelbedarfe berücksichtigt. Die Abstufung der Regelbedarfe soll dem Tatbestand Rechnung tragen, dass mit einem größeren Haushalt Kostenvorteile bei der Haushaltsführung verbunden sind. Es werden also Äquivalenzskalen berücksichtigt (vgl. dazu auch Pkt. 2.5.2 dieses Kapitels). In den Regelbedarfen sind auch Positionen wie Bekleidung, Hausrat, Gebrauchsgütern von längerer Gebrauchsdauer und höherem Anschaffungswert, Renovierung der Wohnung, laufender Schulbedarf für Kinder sowie Ausgaben bei besonderen Anlässen (Weihnachtsbeihilfe, Taufe, Kommunion, Konfirmation, Heirat usw.) enthalten. Die frühere, bis 2005 geltende Regelung einer je gesonderten Beantragung dieser einmaligen, d. h. nichtregelmäßig anfallenden Leistungen ist damit ersetzt worden. Zu den gesondert zu beantragenden einmaligen Bedarfen zählen ausschließlich Leistungen für • • •

Erstausstattung für die Wohnung einschließlich Haushaltsgeräten, Erstausstattung für Bekleidung bei Schwangerschaft und Geburt sowie mehrtätige Klassenfahrten der Kinder.

Ziel der Pauschalierung war zum einen die Reduzierung des Verwaltungsaufwandes, der mit Einzelfallprüfungen verbunden ist. Zum anderen sollten auf der Basis eines längerfristig feststehenden und monatlich ausgezahlten Betrages die Spielräume für die Leistungsberechtigten erweitert werden. So wird es ermöglicht und zugleich zugemutet, die Ausgabengestaltung eigenverantwortlich zu regeln, selbst über die Prioritäten der Geldverwendung zu entscheiden und für größere Anschaffungen Rücklagen zu bilden. Der mühsame und häufig entwürdigende Weg von Ämterbesuchen, Einzelbeantragung, Bewilligung und möglicherweise Widersprüchen kann entfallen.

252

Einkommen

Tabelle III.4

Regelbedarfe und Regelbedarfsstufen 2020 Euro/Monat

1

Erwachsene alleinstehende/alleinerziehende Person

100 %

432

2

Erwachsene Partner in einer Ehe bzw. Lebenspartnerschaft

90 %

389

3

Volljährige bis zur Vollendung des 25. Lebensjahres und 25jährige, die ohne Zusicherung des Jobcenters aus dem Elternhaus ausgezogen sind.

80 %

345

Kinder 4

15 bis 17 Jahre

328

5

6 bis 14 Jahre

308

6

0 bis 6 Jahre

250

Fraglich ist jedoch, ob der Pauschalsatz für die vormaligen einmaligen Leistungen ausreichend hoch bemessen ist, um bei entstehendem Bedarf auch größere Anschaffungen zu tätigen. So bedarf es eines erheblichen Zeitvorlaufs bis eine Summe angespart ist, die ausreicht, um beispielsweise eine defekte Waschmaschine zu ersetzen. Für den Fall, dass ein unabweisbar gebotener Bedarf auf keine andere Weise abgedeckt werden kann, so durch Rückgriff auf das Schonvermögen oder auf Gebrauchtwarenlager, können ergänzende Darlehen beantragt werden. Die Rückzahlung erfolgt in Teilbeträgen von bis zu 5 % des Eckregelsatzes. Mehrbedarfszuschläge Da bei einzelnen Gruppen von Personen, die sich in besonderen Lebenslagen befinden, der pauschalierte Regelbedarf den besonderen Verhältnissen nicht gerecht wird, sind ergänzende Mehrbedarfszuschläge vorgesehen. Mehrbedarfszuschläge in Höhe von 17 % der maßgebenden Regelbedarfsstufe gelten für •

ältere Menschen ab dem 65. Lebensjahr mit einem Schwerbehindertenausweis und dem Merkzeichen „G“ (= Gehbehindert), • voll erwerbsgeminderte Personen unter 65 Jahren mit einem Schwerbehindertenausweis und dem Merkzeichen „G“, • Schwangere ab der 12. Woche. Alleinerziehende mit einem Kind unter sieben Jahren bzw. mit zwei oder drei Kindern unter 16 Jahren erhalten einen Zuschlag von 36 % der Regelbedarfsstufe 1; bei vier oder mehr Kindern 12 % für jedes Kind, höchstens aber 60 % der Regelbedarfsstufe 1. Einen Zuschlag von 35 % der maßgebenden Regelbedarfsstufe erhalten Behinderte über 15 Jahre, denen Eingliederungshilfe gewährt wird. Für Kranke und Behinder-

Grundsicherung

253

te mit einer kostenaufwändigen Ernährung wird ein Mehrbedarf „in angemessener Höhe“ anerkannt. Kosten der Unterkunft Die Unterkunftskosten werden, da sie sehr unterschiedlich ausfallen, in ihrer tatsächlichen Höhe (Miete und Nebenkosten einschließlich Heizkosten) übernommen. Die Kosten müssen allerdings angemessen sein und dürfen das „vertretbare Maß“, üblicherweise orientiert an den Mietobergrenzen nach dem Wohngeldgesetz, nicht überschreiten. Die Angemessenheit der Aufwendungen wird in der Regel von dem örtlich zuständigen kommunalen Träger der Grundsicherung in einer Richtlinie festgelegt. Unangemessen hohe Kosten sind längstens für sechs Monate zu übernehmen, wenn durch Wohnungswechsel oder Untervermietung eine Senkung der Aufwendungen nicht möglich oder nicht zumutbar ist. Den Grundsicherungsträgern ist es überdies möglich, Leistungen für eine Mietwohnung durch eine Pauschale abzugelten, wenn der örtliche Wohnungsmarkt angemessenen Wohnraum in Höhe der Pauschale bietet. Übernahme von Vorsorgeaufwendungen Im Regelfall übernehmen die Träger der Grundsicherung die Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträge, Beiträge an die Rentenversicherung werden seit 2011 nicht mehr gezahlt. Leistungen für Bildung und Teilhabe Für Kinder und Jugendliche aus Familien, die Arbeitslosengeld II, Sozialhilfe oder Kindergeld mit Kinderzuschlag bzw. Wohngeld erhalten, können Hilfen für Bildung und Teilhabe beantragt werden. Durch die Leistungen soll das menschenwürdige Existenzminimum von Kindern und Jugendlichen sowie von Schülern im Bereich der gesellschaftlichen Teilhabe und Bildungsteilhabe sichergestellt werden: • Hilfen für Lernförderung, • Teilhabemöglichkeiten am sozialen und kulturellen Leben (angeleitete Aktivitäten im Bereich Sport, Kultur, Freizeit), • ein Zuschuss zum gemeinschaftlichen Mittagessen in Kita und Schule, • Kita- und Schulausflüge sowie mehrtägige Klassenfahrten, • Schüler-Beförderungskosten, • Aufwendungen für den persönlichen Schulbedarf. Die Leistungen werden als Sach- und Dienstleistungen, so in Form von Gutscheinen oder Direktzahlungen an Leistungsanbieter erbracht. Damit soll sichergestellt werden, dass die Leistungen bei den Kindern und Jugendlichen auch tatsächlich ankommen. Abweichend davon werden die Leistungen für persönlicen Schulbedarf und für Schülerbeförderung als Geldleistung erbracht.

254

Einkommen

Gesamtbedarf Die Höhe des sozialhilferechtlichen Gesamtbedarfs lässt sich nicht einfach bestimmen, sie hängt ab von der Haushaltsgröße, dem Alter der Familienangehörigen, besonderen Bedarfssituationen und von den übernommenen Kosten der Unterkunft. Vor allem die Mietkosten unterscheiden sich sehr stark nach den Regionen, aber auch innerhalb einer Region und Stadt nach Wohnlagen, Bausubstanz und dem Alter der Wohnung. Einen Einblick in die nach Haushaltskonstellationen aufgeschlüsselte durchschnittliche Höhe der anerkannten Bedarfe für Leistungsempfänger:innen nach dem SGB II bietet Abbildung III.15 dieses Kapitels. 6.1.3 Bedürftigkeitsprüfung und Einkommensanrechnung

Die jeweiligen Gesamtbedarfe sind nicht mit der konkreten, d. h. ausgezahlten Höhe der Grundsicherung identisch, da stets das Nachrangprinzip zu beachten ist. Ein Anspruch besteht erst dann, wenn der Bedarf höher ist als die anzurechnenden Einkommen und das verwertbare Vermögen. Nur bei völliger Mittellosigkeit entspricht der Zahlbetrag auch dem Bedarf. In aller Regel liegt aber anzurechnendes Einkommen vor, so dass die Grundsicherung den Differenzbetrag zum Bedarf ausgleicht. In diesen Fällen kann von aufstockenden oder ergänzenden Leistungen gesprochen werden. Zum anzurechnenden Einkommen zählen u. a. • • • • •

Netto-Arbeitsentgelte bei Erwerbstätigkeit. Allerdings bleibt im Bereich des SGB II ein Teil der Netto-Verdienste anrechnungsfrei, Netto-Einkommen aus selbstständiger Tätigkeit, Vermögen, Vermietung und Verpachtung, Lohnersatzleistungen der Sozialversicherung (Arbeitslosengeld, Unterhaltsgeld, Krankengeld, Altersrenten, Erwerbsminderungsrenten, Hinterbliebenenrenten usw.), Kindergeld, Kinderzuschlag (beide gelten als Einkommen des Kindes), Elterngeld, Zahlungen aus der Unterhaltsvorschusskasse, private Unterhaltszahlungen.

Doch es gibt auch einzelne Ausnahmen: Nicht anzurechnen sind u. a. Leistungen der Stiftung „Mutter und Kind“, das Pflegegeld aus der Pflegeversicherung sowie Grundrenten nach dem Bundesversorgungsgesetz. Und bei den Leistungen aus einer freiwilligen privaten und betrieblichen Vorsorge werden Freibeträge gewährt, nach den Überschreiten die Anrechnung einsetzt. Das vor der Hilfeleistung zu verwertende Vermögen umfasst das Grundvermögen, Geldvermögen und Sachvermögen. Vom Verwertungszwang ausgenommen ist allerdings das geschützte Vermögen, so

Grundsicherung

• • • • •

255

ein „angemessener“ Hausrat, wozu Möbel, Geschirr, Küchengeräte und sonstige Wohnungseinrichtung, z. B. auch ein Fernsehgerät, zählen, ein „angemessenes“ Hausgrundstück, das von dem/den Hilfesuchenden bewohnt wird (in Abhängigkeit vom Wohnbedarf, der Hausgröße, vom Wert des Grundstücks usw.), eine öffentlich geförderte Altersvorsorge, kleinere Barbeträge („Schonvermögen“): Hier liegt im SGB XII der Betrag für jede leistungsberechtigte Person bei 5 000 Euro, hinzu kommen für jedes Kind 500 Euro, ein „angemessenes“ Auto, aber nur dann, wenn es zur Lebensführung oder zur Aufnahme einer Berufstätigkeit unentbehrlich ist.

Bei der Anrechnung sind Einkommen und verwertbares Vermögen der zusammenlebenden Ehegatten gleichermaßen zu berücksichtigen. Eingetragene gleichgeschlechtliche Paare sowie Paare, die in einer eheähnlichen Gemeinschaft leben, werden Ehepaaren gleichgestellt. Als anzurechnendes Einkommen gelten auch die gesetzlichen Unterhaltsansprüche des/der Hilfeempfängers/in. Leisten die Unterhaltsverpflichteten nicht, geht der Anspruch auf den Grundsicherungsträger über. Die Frage, inwieweit Kinder für ihre Eltern oder Eltern für ihre Kinder zahlen müssen, wird in den jeweiligen Grundsicherungssystemen abweichend geregelt. Nicht in Betracht kommt der Rückgriff auf Verwandte zweiten oder entfernteren Grades. 6.1.4 Bemessung und Anpassung der Regelbedarfe

Eine der strittigsten Fragen bei der Grundsicherung ist die nach der Bemessung der Regelbedarfe. Denn die Höhe der Regelbedarfe ist der ausschlaggebende Faktor für die Bestimmung des soziokulturellen Existenzminimums in Deutschland. Die Höhe dieses staatlich garantierten Existenzminimums wiederum hat Rückwirkungen vor allem auf • • • •

die Steuerpolitik (Grundfreibetrag und Kinderfreibeträge müssen sich am Grundsicherungsniveau orientieren; vgl. Pkt. 3.2 dieses Kapitels), die Lohn- und Tarifpolitik, denn die Gewerkschaften werden dafür eintreten, dass auch in den unteren Tarifgruppen das Existenzminimum überschritten wird, das erforderliche Niveau anderer für die Finanzierung des Lebensunterhalts bestimmter Sozialleistungen (z. B. Ausbildungsförderung), das Unterhalts- und Pfändungsrecht.

Nicht zuletzt hängen die Kosten der Grundsicherung vom Niveau des Existenzminimums ab: Je höher das Niveau, umso höhere Leistungen erhält jede/r Hilfeempfänger:in. Zugleich wächst aber auch die Zahl der Anspruchsberechtigten. Denn bei

256

Einkommen

einem hohen Niveau des Existenzminimums fallen mehr Personen bzw. Haushalte mit ihrem Einkommen unter den Schwellenwert und können ergänzende Leistungen beziehen. Ein objektives, wissenschaftlich ableitbares Maß für den „angemessenen“ Regelbedarf kann es nicht geben. Letztlich wird immer normativ und politisch darüber entschieden, was es in Geldbeträgen bedeutet, den „Leistungsberechtigten die Führung eines Lebens zu ermöglichen, das der Würde des Menschen entspricht“ (§ 1 SGB XII). Gleichwohl ist immer wieder nach Verfahren gesucht worden, um die Bemessung der Regelbedarfe und deren Anpassung an die Entwicklung des allgemeinen Lebensstandards zumindest ein Stück weit zu objektivieren und nachvollziehbar zu machen. Unterscheiden lassen sich das Warenkorb-Modell und das Statistik-Modell: Warenkorb-Modell Das Warenkorb-Modell bildete über lange Jahre hinweg die Grundlage der Bedarfsermittlung. Ausgangspunkt war ein Bedarfsmengenschema, das Verbrauchsarten und -mengen für verschiedene Teilbereiche des notwendigen Lebensbedarfs festsetzte. Die Zusammensetzung des Warenkorbes beruhte neben einzelnen verbrauchsstatistischen Daten hauptsächlich auf normativen Annahmen über den als notwendig erachteten Lebensbedarf. Die preisliche Bewertung des so zusammengestellten Warenkorbs ergab dann den jeweiligen Regelbedarf. Statistik-Modell Das Statistik-Modell, das das Warenkorb-Modell abgelöst hat, beruht auf der Überlegung, die Regelbedarfe an dem statistisch erfassten Ausgaben- und Verbrauchsverhalten von Personen mit niedrigem Einkommen zu orientieren. Während das Warenkorb-Modell danach fragt: „Was braucht der Mensch zum Leben ?“, orientiert sich das Statistik-Modell an der Frage: „Was geben vergleichbare Haushalte aus ?“ Hierbei ist normativ zu bestimmen, welche Einkommensgruppen als vergleichbar angesehen werden sollen und welche Ausgabenpositionen zu berücksichtigen sind. Maßgeblich für die Ermittlung der Regelbedarfe nach dem Statistik-Modell ist das „Gesetz zur Ermittlung der Regelbedarfe nach § 28 SGB XII“. Es regelt gleichermaßen die Leistungen nach dem SGB XII wie nach dem SGB II und (allerdings stark reduziert) nach dem Asylbewerberleistungsgesetz. Maßstab für die Bemessung ist das statistisch erfasste Ausgaben- und Verbrauchsverhalten von Personen mit niedrigem Einkommen. Als empirische Basis dient die in Abständen von fünf Jahren durchgeführte Einkommens- und Verbrauchsstichprobe des Statistischen Bundesamtes (EVS) (zuletzt für 2018). Berücksichtigt werden die Ausgaben der unteren 15 % der Einpersonenhaushalte und der unteren 20 % der Mehrpersonenhaushalte. Von den herangezogenen Haushalten werden die Daten derjenigen abgesetzt, in denen Personen leben, die ausschließlich von Leistungen nach dem SGB XII oder nach dem SGB II erhalten. Unberücksichtigt bleiben zudem einige Ausgabenpositionen, die nicht zu den zu deckenden Bedarfen gezählt werden.

Grundsicherung

257

Solange keine neuen Ergebnisse der EVS vorliegen, bemisst sich die zwischenzeitliche Anpassung der Regelbedarfe zu Anfang eines jeden Jahres an einem Mischindex, dem zu 70 % die Preisentwicklung und zu 30 % die Entwicklung der Nettolöhne und -gehälter zu Grunde liegen. Die letzte Neuberechnung des Regelbedarfs auf der Grundlage der ausgewerteten Einkommens- und Verbrauchsstichprobe 2013 wurde im Jahr 2016 mit Wirksamkeit zum 01. 01. 2017 vorgenommen. Die jeweils zum Jahresbeginn geltende Anpassung der Regelbedarfe erfolgt durch Rechtsverordnungen; der Gesetzgeber (Bundestag) ist damit nicht direkt befasst. Das Verfahren macht nur auf den ersten Blick den Eindruck einer Berechnung auf der Grundlage einer objektiven Datenbasis. Da entschieden werden muss, welche Einkommensgruppen als vergleichbar angesehen werden und welche Ausgabenpositionen als „regelbedarfsrelevant“ zu berücksichtigen sind, werden aber auch hier normative Entscheidungen erforderlich. Dieses Berechnungs- und Anpassungsverfahren der Regelbedarfe führt zu anhaltender Kritik. Der Vorwurf, dass in einigen Jahren noch nicht einmal die Kaufkraft des Regelbedarfs gesichert worden ist, lässt sich empirisch bestätigen (vgl. Tabelle III.5). Vergleicht man die Entwicklung der Regelbedarfe (Stufe 1/Eckregelsatz) zwischen 2005 und 2018 mit der Steigerungsrate der durchschnittlichen Nettolöhne, wird zudem sichtbar, dass sich ein Rückstand gegenüber der Lohnentwicklung eingestellt hat. Die Nettolöhne und -gehälter sind bis 2018 um 29,5 %, die Regelbedarfe nur um 20,6 % gestiegen. Die Höhe von Regelbedarf und Gesamtbedarf muss auch im Zusammenhang mit der Lohnhöhe gesehen werden. Immer wieder steht die Frage im Raum, ob die Grundsicherung den Anreiz zur Arbeit untergräbt. „Lohnt es sich noch zu arbeiten, wenn die Leistungen gleich hoch oder gar höher liegen als das verfügbare Einkommen bei einfacher Arbeit ? Ganz offensichtlich würde ein System der Grundsicherung seine Akzeptanz gerade bei den Arbeitnehmer:innen gefährden, die mit ihren Steuern für die Finanzierung der Leistungen aufkommen, wenn das Bedarfsniveau des letzten sozialen Netzes das Niveau der Arbeitseinkommen am unteren Ende der Erwerbshierarchie tatsächlich generell überschreiten würde. Empirische Überprüfungen dieses Zusammenhangs kommen indes zu dem Ergebnis, dass zwischen Löhnen und dem Gesamtbedarf der Grundsicherung eine erhebliche Spanne besteht. Bei einem solchen Vergleich müssen allerdings gleiche Haushaltstypen einander gegenübergestellt werden (z. B. Paare mit zwei Kindern). Und bei der Ermittlung des verfügbaren Einkommens von Erwerbstätigenhaushalten sind Sozialleistungen wie Kindergeld und Wohngeld zu berücksichtigen. Die Daten zeigen, dass ein verfügbares Einkommen aus Vollzeitbeschäftigung gegenwärtig auch in unteren Lohn- und Gehaltsgruppen im Durchschnitt der Fälle ausreicht, um das sozial-kulturelle Existenzminimum von Familien abzudecken. Allerdings gilt diese Feststellung nicht in jedem Einzelfall. Dass bei einem niedrigen Nettoeinkommen aus abhängiger Arbeit einschließlich Transfers das haushaltsspezifische Existenzminimum unterschritten wird, ist vor allem dann wahrscheinlich,

258

Einkommen

Tabelle III.5 Entwicklung der Regelbedarfe der Grundsicherung im Vergleich zur Lohn- und Preisentwicklung 2005 – 2018 Jahr

Regelbedarf/ Eckregelsatz in Euro/Monat

2005

345







2006

345

0

− 0,3

1,4

2007

347

0,6

1,0

2,2

2008

351

1,1

1,8

2,5

2009

359

2,4

0,1

0,3

2010

359

0

4,0

1,1

2011

364

1,4

2,6

2,1

2012

374

2,7

2,6

2,0

2013

382

2,1

1,9

1,6

2014

391

2,4

2,5

0,9

2015

399

2,0

2,6

0,3

2016

404

1,3

2,3

0,5

2017

409

1,3

2,4

1,9

2018

416

1,7

3,0

1,8



20,6

29,5

20,1

2005 – 2018

Regelbedarf gegenüber Vorjahr in %

Monatl. Nettolöhne und -gehälter je Arbeitnehmer gegenüber Vorjahr in %

Preisentwicklung gegenüber Vorjahr1) in %

1) Verbraucherpreisindex Quellen: Statistisches Bundesamt (zuletzt 2019), Volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen, Fachserie 18, Reihe 1.5 und Preise: Verbraucherpreisindizes für Deutschland, Lange Reihen ab 1948.

wenn mehrere (ältere) Kinder zu versorgen sind, die Mieten hoch liegen oder wenn nur Teilzeitarbeit möglich ist. Soweit also in der Realität Überschneidungen vorkommen, liegen die Ursachen nicht in einem überhöhten Grundsicherungsniveau. Neben unzureichenden Erwerbseinkommen und hohen Wohnkosten ist dafür in erster Linie der unzureichende Familienleistungsausgleich verantwortlich. Da das Kindergeld nicht den notwendigen Lebensbedarf eines Kindes abdeckt, das vorgelagerte Sozialsystem also nicht „armutsfest“ ist, muss bei unteren Einkommensgruppen die Grundsicherung ersatzweise die Funktion der Familienpolitik übernehmen. Hier soll der Kinderzuschlag zu einem Ausgleich führen (vgl. Kapitel „Familie und Kinder“, Pkt. 6.1.3). Auch kann das Wohngeld hohe Wohnkosten nur unzureichend ausgleichen.

Grundsicherung

259

Bei der Grundsicherung für Arbeitsuchende sorgt ein Erwerbstätigenfreibetrag dafür, dass Erwerbstätige sich immer besser stehen als nicht erwerbstätige Grundsicherungsempfänger:innen. Nehmen Grundsicherungsempfänger:innen eine Arbeit auf, dann sorgt der Freibetrag dafür, dass ein Teil des Erwerbseinkommens nicht auf den Grundsicherungsbetrag angerechnet wird, so dass das Gesamteinkommen höher ausfällt (vgl. Pkt. 6.1.3 dieses Kapitels). 6.1.5 Dunkelziffer der Nicht-Inanspruchnahme

Die Empfängerzahlen von Leistungen der Grundsicherung geben Auskunft über die Personen und Haushalte, die ihren Anspruch wahrnehmen. Keine Auskunft geben die Zahlen über den Kreis jener Menschen, die aufgrund ihres geringen Einkommens eigentlich leistungsberechtigt sind, von ihrem Anspruch aber keinen Gebrauch machen. Auf der Basis von Bevölkerungsbefragungen (SOEP oder EVS) ist in den letzten Jahren immer wieder geschätzt worden, welches Ausmaß die Dunkelziffer aufweist. Die Quoten schwanken zwischen 40 und 50 %. Besonders hoch liegt die Nichtinanspruchnahme bei der Grundsicherung im Alter: Die Ursachen für die Nicht-Inanspruchnahme sind vielfältig: • •



Es fehlen Kenntnisse über Höhe und Bedingungen der Leistungsansprüche oder es liegen Falschinformationen vor. Die Betroffenen haben Angst vor der sozialen Kontrolle und der Offenlegung persönlicher Verhältnisse bei der Bedürftigkeitsprüfung sowie vor einer Schädigung der Familienbeziehungen durch den möglichen Rückgriff auf unterhaltsverpflichtete Kinder bzw. Eltern. Anzunehmen ist, dass die weitgehende Befreiung vom Rückgriff auf die Kinder bzw. auf die Eltern den Betroffenen nicht immer bekannt ist. Die Inanspruchnahme unterbleibt aus Scham oder Bescheidenheit.

Untersuchungen zeigen, dass vor allem ältere Menschen ihre Leistungsansprüche nicht wahrnehmen („verschämte Altersarmut“). Aber auch Beschäftigte mit Niedrigeinkommen sind über die Möglichkeit, ergänzende Grundsicherung beanspruchen zu können, unzureichend informiert. Einkommenslücken werden eher durch Überstunden oder Nebenbeschäftigungen ausgeglichen, nicht aber durch den als diskriminierend empfundenen Gang zum Jobcenter. Die Nicht-Inanspruchnahme ist in jenen Fällen besonders verbreitet, in denen das anzurechnende Einkommen relativ hoch und der Zahlbetrag der aufstockenden Grundsicherung entsprechend niedrig liegt. Wer mit einem Aufstockungsbetrag von beispielsweise lediglich 20 Euro rechnet bzw. rechnen kann, für den mag sich der Aufwand der Antragstellung kaum „lohnen“.

260

6.2

Einkommen

Grundsicherung für Arbeitsuchende

6.2.1 Anspruchsberechtigter Personenkreis und Leistungen

Erwerbsfähige Personen und ihre Angehörigen haben – soweit sie bedürftig sind – Anspruch auf Leistungen der im SGB II kodifizierten Grundsicherung für Arbeitsuchende. Da dieses neue, seit 2005 geltende Grundsicherungssystem als 4. Gesetz im Rahmen der sog. Hartz-Gesetze eingeführt wurde, werden die Leistungen üblicherweise als „Hartz IV“ bezeichnet. Die Leistungssysteme Arbeitslosenhilfe (nach dem SGB III) und Sozialhilfe wurden damit zusammengeführt. Das heißt, dass die Leistung Arbeitslosenhilfe aufgegeben wurde und die bisherige Sozialhilfe (Hilfe zum Lebensunterhalt) seitdem nur noch für den kleinen Kreis von Kindern und Erwachsenen unter 65 Jahren gilt, die zeitweise voll erwerbsgemindert sind. Die vom Bund finanzierte und den Arbeitsämtern administrierte Arbeitslosenhilfe war eine speziell auf Langzeitarbeitslose zugeschnittene Leistung, die im Anschluss an den beitragsfinanzierten Versicherungsanspruch auf Arbeitslosengeld bezogen werden konnte. Sie nahm damit eine Zwischenstellung zwischen einer Versicherungs- und Fürsorgeleistung ein: Sie knüpfte an einen ausgelaufenen Anspruch auf Arbeitslosengeld an, war im Unterschied zur befristeten Versicherungsleistung Arbeitslosengeld zeitlich unbefristet, aber einkommensgeprüft. Und im Unterschied zur Sozialhilfe wurde die Leistungshöhe nicht auf den Bedarf des Haushalts bezogen, sondern als Individualleistung auf das zuletzt erzielte persönliche Nettoarbeitsentgelt. Anspruchsberechtigt nach dem SGB II sind erwerbsfähige Hilfebedürftige zwischen 15 Jahren und der Regelaltersgrenze sowie die Angehörigen, die mit ihnen in einem Haushalt (Bedarfsgemeinschaft) leben. Erwerbsfähig ist, „wer nicht wegen Krankheit oder Behinderung auf absehbare Zeit außerstande ist, unter den üblichen Bedingungen des Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein“. Bezug genommen wird hier auf den rentenrechtlichen Begriff der vollen Erwerbsminderung (§ 43 SGB VI). Es ist also jede Person erwerbsfähig, deren volle Erwerbsminderung nicht festgestellt ist. Daraus folgt, dass Erwerbsfähige dem Arbeitsmarkt nicht unmittelbar zur Verfügung stehen müssen. Es reicht aus, wenn sie nicht voll erwerbsgemindert sind. Es ist auch unerheblich, ob eine Erwerbstätigkeit vorübergehend unzumutbar ist, z. B. wegen der Erziehung eines Kindes oder einer Krankheit. Anspruchsberechtigt sind auch Erwerbstätige, soweit deren Einkommen (bzw. das Einkommen der Bedarfsgemeinschaft, in der sie leben) nicht zum Lebensunterhalt ausreicht. Die gesetzliche Bezeichnung „Grundsicherung für Arbeitsuchende“ ist also eher irreführend, da sich der berechtigte Personenkreis nicht nur auf Arbeitslose und Arbeitsuchende begrenzt, sondern weit darüber hinausreicht. Ansprüche auf Leistungen setzen zudem Hilfsbedürftigkeit voraus. Die Leistungen werden in Form von Dienstleistungen (Information und Beratung mit dem Ziel

Grundsicherung

261

der Eingliederung in Arbeit), Geldleistungen (zur Sicherung des Lebensunterhalts und zur Eingliederung in Arbeit) und Sachleistungen erbracht. Arbeitslosengeld II, Sozialgeld Zur Sicherung des Lebensunterhalts erhalten erwerbsfähige Hilfebedürftige die Leistung Arbeitslosengeld II. Nicht erwerbsfähige Hilfebedürftige, die als Partner und/ oder Kinder mit dem Erwerbsfähigen in einem Haushalt leben, erhalten Sozialgeld. Die Leistungshöhe von Arbeitslosengeld II und Sozialgeld entspricht den Regelbedarfen. Je nach Einzelfall besteht Anspruch auf Mehrbedarfe und auf Übernahme der Kosten der Unterkunft. Der Gesamtbedarf des Haushalts bzw. der Bedarfsgemeinschaft errechnet sich aus der Summe der Regelleistungen zuzüglich der Leistungen für Unterkunft und Heizung sowie möglicher Mehrbedarfe (vgl. dazu Abbildung III.15). Kinderzuschlag Durch Zahlung eines Kinderzuschlags, der als einkommensabhängige Leistung der Grundsicherung vorgelagert ist und das einkommensunabhängige Kindergeld aufstockt, soll vermieden werden, dass Bedarfsgemeinschaften allein wegen des Unter-

Abbildung III.15 Bedarfe der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach Bedarfsgemeinschaften 05/2019 3.000 2.669 2.500

Gesamtbedarf Kosten der Unterkunft

2.000

2.030

2.013

Regelbedarf2)

1.624

649

1.671

861

689

1.500 1.276 1.149 1.000 767

500

432

596

562

486 1.808 1.364

340

1.075

1.062 717

790

Single-BG

Paare ohne Kinder

Alleinerziehende 1 Kind

55,2%

8,7%

10,0%

1.341

427 0

Alleinerziehende 2 Alleinerziehende 3 und Kinder mehr Kinder 5,4%

2,6%

Paare, 1 Kind

Paare, 2 Kinder

5,3%

5,4%

Paare, 3 und mehr Kinder 5,5%

aller Bedarfsgemeinschaften

Anerkannte bundesdurchschnittliche Monatsbeträge einschließlich Kosten der Unterkunft und einschließlich Mehrbedarfe, aber ohne Einmalzahlungen und Sozialversicherungsbeiträge Quelle: Bundesagentur für Arbeit (2019), Analyse Arbeitsmarkt: Grundsicherung für Arbeitsuchende.

262

Einkommen

haltsbedarfes für ihre Kinder Anspruch auf Arbeitslosengeld II und Sozialgeld haben. Den Kinderzuschlag erhalten also Familien, in denen der Bedarf der Eltern aus eigenen Mitteln gedeckt werden kann. Der Kinderzuschlag kann monatlich bis zu 185 Euro je Kind betragen. Das Kind muss jünger als 25 Jahre und unverheiratet sein. Den Kinderzuschlag gibt es ab einem monatlichen Einkommen von 900 Euro, bei Alleinerziehenden ab 600 Euro. Als Sozialleistung wird der Zuschlag nur bis zu einem Höchsteinkommen gezahlt. Bedürftigkeitsprüfung und Gesamtbedarfe Alle Leistungen nach dem SGB II unterliegen einem strengen Nachranggrundsatz. In Anrechnung kommen Einkommen und Vermögen der Eltern bei Hilfebedürftigkeit von minderjährigen Kindern bzw. von Kindern unter 25 Jahren, die ihre Erstausbildung noch nicht abgeschlossen haben. Jugendliche unter 25 Jahren, die im Haushalt der Eltern leben, zählen zur Bedarfsgemeinschaft der Eltern. Bei der Gründung eines eigenen Haushaltes werden die Kosten von Unterkunft und Heizung ohne Zustimmung des Trägers nicht übernommen. Abbildung III.15 zeigt, wie hoch die anerkannten Gesamtbedarfe der Grundsicherung je nach Haushaushaltskonstellation bzw. dem Typ der Bedarfsgemeinschaft ausfallen. Je größer die Bedarfsgemeinschaft, umso höher auch der Gesamtbedarf. Die Beträge variieren (Mai 2019) zwischen 767 Euro im Monat für einen Single-Haushalt und 2 669 Euro für einen Haushalt mit drei und mehr Kindern. Diese Abweichungen beruhen sowohl auf den Unterschieden bei den Regelbedarfen, den Mehrbedarfen als auch bei den anerkannten Kosten der Unterkunft. Zu erkennen ist auch, dass die Single-Bedarfsgemeinschaften mehr als die Hälfte (55,6 %) aller Bedarfsgemeinschaften darstellen. Es gibt also nicht „das“ Einkommens- und Existenzminimum, sondern eine von der Haushaltskonstellation und Lebenssituation abhängige Bandbreite von Minima. Hinzu kommt, dass es sich bei den bundesdurchschnittlichen Kosten der Unterkunft um einen letztlich fiktiven Wert handelt. Da die Mieten einschließlich Nebenkosten regional und auch lokal erheblich voneinander abweichen, muss mit bundesweiten Durchschnittswerten gerechnet werden, um einen allgemeinen Eindruck über die Gesamtbedarfe zu erhalten. Aussagen über das konkrete Bedarfsniveau in Hochmietregionen lassen sich daraus nicht ableiten. Ob also eine Person bzw. ein Haushalt, die bzw. der über ein nur geringes Einkommen verfügt, Anspruch auf aufstockende Leistung der Grundsicherung hat, hängt im hohen Maße von den örtlichen Gegebenheiten ab und ist nicht unmittelbar einsichtig. Häufig fehlen den Betroffenen genaue Informationen über die Bedarfshöhe einschließlich Kosten der Unterkunft, über das eigene Einkommen, über das verwertbare und anrechenbare Vermögen sowie über mögliche Unterhaltsansprüche. Der konkrete Auszahlungsbetrag von Arbeitslosengeld II und Sozialgeld errechnet sich aus der Differenz zwischen Bedarf und dem anrechnungsfähigen Einkommen. Aufgestockt werden können auch die Versicherungsleistung Arbeitslosengeld,

Grundsicherung

263

wenn es gemessen am Haushaltsbedarf zu niedrig ausfällt, oder niedrige Einkommen aus abhängiger wie selbstständiger Tätigkeit. 6.2.2 Leistungsempfänger:innen und Bedarfsgemeinschaften

Empfängerzahlen und Empfängerquoten Ende 2018 gab es nahezu 6 Mio. Empfänger:innen von Arbeitslosengeld II (Erwerbsfähige) und Sozialgeld (nicht erwerbsfähige Angehörige). Seit 2006 entwickelt sich die Zahl der Leistungsempfänger:innen zwar rückläufig (vgl. Abbildung III.16). So wurden im Jahresdurchschnitt 2006 noch 7,3 Mio. Personen gezählt. Angesichts der Verbesserung der Arbeitsmarktlage und der sinkenden Arbeitslosigkeit fällt der Rückgang aber nur schwach aus. Wie begrenzt die Entlastung ist, kommt deutlich zum Ausdruck, wenn man den Trend der Empfängerquote betrachtet (vgl. Abbildung III.17). Der Anteil der Leistungsempfänger:innen an der Gesamtbevölkerung (bis zur Regelaltersgrenze) verringert sich lediglich von 11,0 % (2006) auf 9,0 % (2018). Immer noch ist damit deutschlandweit fast jede 10. Person im Alter unterhalb der Regelaltersgrenze auf Leistungen der Grundsicherung angewiesen. Da diese Quote den Bundesdurchschnitt wiedergibt, bleibt verdeckt, dass es massive regionale AbAbbildung III.16 Leistungsempfänger:innen der Grundsicherung für Arbeitsuchende 2005 – 2018, in Mio., im Jahresdurchschnitt 8 7,347 7

6,756

1,955

7,090 1,850

1,774

Empfänger insgesamt*) 6,755 1,782

6,538 1,672

6

5

6,415 1,577

6,080 1,515

5,392 4,982

5,240

4,973

4,866

5,917

5,939

5,935

5,930

5,925

1,514

1,549

1,580

1,603

1,614

6,062 1,700

5,795 1,654

nicht erwerbsfähige Leistungsempfänger* 4,838 4,565

4

4,403

4,390

4,354

4,327

4,312

4,362

4,141

3 erwerbsfähige Leistungsempfänger* 2

1

0

2005**

2006**

2007

2008

2009

2010

2011

2012

2013

2014

2015

2016

2017

2018

* Regelleistungsberechtigte ** Ab 2007 Revision der Statistik, Daten für 2005 und 2006 nur begrenzt vergleichbar. Quelle: Bundesagentur für Arbeit (2019), Zeitreihen der Strukturen der Grundsicherung für Arbeitsuchende.

264

Einkommen

Abbildung III.17 Empfängerquoten von Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende 2007 – 2018 (in % der jeweiligen Bevölkerung) 20

19,7

16,9 15,7 15

16,6

16,7

15,8

15,3

17,3

16,9

10,8

8,8

10,3

8,4

10,1

8,2

9,9 8,1

17,5 16,7

15,2 13,8

14,1

14,4

14,3

9,3

13,2

13,4

9,5

9,3

9,4

9,3

9,3

7,3

7,2

7

6,8

7,6

6,5

14,8

9,3

6,1

5

0

2007

2008

2009

2010

Ausländer

16

14,4

10

17,2

19,4

2011

2012

2013

2014

2015

2016

2017

14,3

Kinder unter 15 Jahren

8,9

Bevölkerung bis zur Regelaltersgrenze

5,6

Deutsche

2018

Quelle: Bundesagentur für Arbeit (2019), Analyse Arbeitsmarkt: Grundsicherung für Arbeitsuchende.

weichungen gibt: Während in einzelnen Landkreisen des prosperierenden Südens die Empfängerquote bei lediglich 2 % liegt, erreicht sie in Städten des Ruhrgebiets oder in ostdeutschen Landkreisen Werte von 20 % und mehr. Differenziert man die Empfängerquoten nach einzelnen Personengruppen, lassen sich erhebliche Abweichungen erkennen: •

Deutlich über dem Durchschnitt liegt die Empfängerquote von Kindern: 14,3 % der Kinder unter 15 Jahren erhalten Sozialgeld, d. h. sie leben in Familien bzw. Bedarfsgemeinschaften, deren Einkommen so gering ist, dass sie Leistungen des SGB II beziehen. Hier zeigt sich seit 2011 sogar ein Anstieg der Quote. • Unter dem Durchschnitt liegt die Betroffenheit von Personen mit deutscher Nationalität. Die Quote sinkt kontinuierlich und erreicht 2018 einen Wert von 5,6 % der entsprechenden Bevölkerung. • Besonders hoch liegt die Empfängerquote von Personen ohne deutschen Pass. Zwischen 2012 und 2018 erhöht sich die Quote von 15,2 % auf 19,4 %. Die Ursachen liegen auf der Hand: Asylbewerber und Schutzsuchende, die in diesen Jahren in einer großen Zahl zugewandert sind, haben nur geringe Chancen einen Arbeitsplatz zu finden und leben deshalb häufig von Leistungen der Grundsicherung (SGB II).

Grundsicherung

265

Die Persistenz der Abhängigkeit von Leistungen der Grundsicherung trotz der guten Lage auf dem Arbeitsmarkt erklärt sich auch durch die Heterogenität des Empfängerkreises. Zu den 4,1 Mio. erwerbsfähigen Leistungsempfänger:innen mit Anspruch auf Arbeitslosengeld II zählen nicht nur Arbeitslose, sondern auch Erwerbstätige, die aufgrund ihres nicht bedarfsdeckenden Lohnes aufstockende Leistungen erhalten („Aufstocker“), und Hilfebedürftige, die zwar erwerbsfähig aber nicht arbeitslos sind. Hinzu kommen 1,7 Mio. nicht erwerbsfähige Angehörigen der Hilfebedürftigen mit Anspruch auf Sozialgeld. Insgesamt machen die (registrierten) Arbeitslosen nur gut ein Drittel der erwerbsfähigen Leistungsempfänger aus. Analysiert man die Binnenstruktur der Gruppe der erwerbsfähigen, aber nicht arbeitslosen Leistungsempfänger:innen, so lässt sich eine breite Vielfalt erkennen (vgl. Abbildung III.18): Es handelt sich um Personen in arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen, in Ausbildung, in häuslicher Verpflichtung wegen Kindererziehung oder Pflege sowie um Arbeitsunfähige und um Erwerbstätige (Aufstocker). Erwerbstätige gibt es aber auch unter den Arbeitslosen, denn nach dem SGB II ist Arbeitslosen ein Hinzuverdienst von bis zu 450 Euro im Monat gestattet.

Abbildung III.18 Erwerbsfähige Leistungsempfänger:innen der Grundsicherung: Arbeitslose und Nichtarbeitslose, 2018

in arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen: 570.473 = 13,8% ungeförderte Erwerbstätigkeit : 618.397 =14,9% Arbeitslose: 1.523.3744 = 36,8%

Erwerbsfähige Leistungsberechtigte: 4.141.330

Nicht Arbeitslose: 2.617.956 = 63,2%

Ältere: 165.629 = 4,0% Ausbildung: 404.634 = 9,8% Erziehung, Pflege: 320.464 = 7,7% Arbeitsunfähigkeit: 306.972. = 7,4% Sonstiges/Unbekannt: 231.387 = 5,6%

Quelle: Bundesagentur für Arbeit (2019), Analyse Arbeitsmarkt: Grundsicherung für Arbeitsuchende.

266

Einkommen

Bedarfsgemeinschaften Die heterogene Binnenstruktur der Grundsicherung für Arbeitsuchende wird auch deutlich, wenn der Blick auf die Zusammensetzung der Bedarfsgemeinschaften gerichtet wird. So zeigt Abbildung III.15, dass mehr als die Hälfte (55,2 %) aller Bedarfsgemeinschaften aus Single-Haushalten besteht. Bedarfsgemeinschaften mit Kindern machen gut ein Drittel aller Bedarfsgemeinschaften aus, sie finden sich zu 15,2 % bei (Ehe)Paaren und zu 18,0 % bei Alleinerziehenden. Die Statistik der Bundesagentur für Arbeit weist bei den Bedarfsgemeinschaften auch Empfängerquoten aus – bezogen auf die Zahl der entsprechenden Bedarfsgemeinschaften bzw. Haushalte in der Gesamtbevölkerung (vgl. Abbildung III.19). Im besonderen Maße von der Grundsicherung abhängig sind Alleinerziehende und ihre Kinder: 36,0 % aller Alleinerziehenden beziehen Arbeitslosengeld II und Sozialgeld (für ihre Kinder). Müssen drei und mehr Kinder versorgt werden, steigt die Hilfequote gar auf 69,5 %. Bei (Ehe)Paaren mit Kindern hingegen liegt die Hilfequote erst dann über dem Durchschnittsniveau von 9,4 %, wenn mehr als drei Kinder zu unterhalten sind. Bei den Singles hingegen liegt die Hilfequote von 11,8 % leicht über dem Durchschnitt. Singles machen dabei zugleich die Mehrheit aller Bedarfsgemeinschaften aus.

Abbildung III.19 Empfängerquoten von Grundsicherung für Arbeitsuchende nach Typ der Bedarfsgemeinschaft, in % der jeweiligen Lebensformen der Gesamtbevölkerung 2018

Alle Bedarfsgemeinschaften

9,4

Paare ohne Kinder

2,8

Paare mit Kindern

7,4

Singles

11,8

Paare mit 1 Kind

5,3

Paare mit 2 Kindern

6,3

Paare mit 3 u. mehr Kindern

19,4

Alleinerziehende insgesamt

36,0

Alleinerziehende mit 1 Kind

30,5

Alleinerziehende mit 2 Kindern

41,1

Alleinerziehende mit 3 u. mehr Kindern

69,5 0

10

20

30

40

50

Quelle: Bundesagentur für Arbeit (2019), Analyse Arbeitsmarkt: Grundsicherung für Arbeitsuchende.

60

70

Grundsicherung

267

Erklären lässt sich diese unterschiedliche Betroffenheit durch das Zusammenwirken mehrerer Faktoren: •

In Paarhaushalten mit Kindern erhöhen die Unterhaltskosten den Bedarf, zugleich sinkt aber das Einkommen der Bedarfsgemeinschaft, wenn ein Elternteil – in der Regel die Mutter – die Erwerbstätigkeit reduziert oder unterbricht. Je größer die Zahl der Kinder umso eher ist dies der Fall. • Bei Alleinerziehenden steht überhaupt nur ein Erwerbseinkommen zur Verfügung steht (eventuell ergänzt um Unterhaltsleistungen). Wenn wegen der Kindererziehung die Erwerbstätigkeit eingeschränkt (Teilzeitarbeit) oder unterbrochen wird, ist der Bezug von Grundsicherung die einzige Möglichkeit zur Finanzierung des Lebensunterhalts. • In Single-Haushalten erfolgt kein Ausgleich durch ein Partner-Einkommen; bei Arbeitslosigkeit kommt es insofern schnell zur Hilfebedürftigkeit. Verweildauer Fragt man nach der bisherigen Verweildauer der Personen im SGB II, also danach wie lange ihre Angewiesenheit auf Arbeitslosengeld II oder Sozialgeld bereits andauert, wird sichtbar, dass sich (2018) nahezu die Hälfte der Empfänger (44,4 %) bereits 4 Jahre und länger im Leistungsbezug befindet. Kurz- und mittelfristige Leistungsbezüge sind demgegenüber eher selten. Diese Verhärtung weist darauf hin, dass es für einen großen Personenkreis äußerst schwierig ist, den Leistungsbezug durch Erzielung eines ausreichenden Einkommens zu beenden. So haben die Langzeitarbeitslosen, und hier insbesondere die Älteren und die Arbeitslosen mit mehrfachen Vermittlungshemmnissen, nur geringe Chancen auf eine Eingliederung in ein reguläres Beschäftigungsverhältnis. Alleinerziehende haben anhaltend große Probleme bei der Vereinbarkeit von Kindererziehung und Berufstätigkeit und – nach einer längeren Unterbrechung der Erwerbstätigkeit – bei der beruflichen Wiedereingliederung. In beiden Gruppen fällt der Anteil der Langzeitbezieher besonders groß aus. Bei den Langzeitbeziehern der Grundsicherung handelt es sich um Personen, die im besonderen Maße von Armut und sozialer Ausgrenzung betroffen sind. 6.2.3 Fordern und Fördern

Die Einführung der Grundsicherung für Arbeitsuchende steht in einem engen Zusammenhang mit der Neuausrichtung der Arbeitsmarktpolitik, die im Zuge der „Hartz-Reformen“ umgesetzt worden ist und sich am Konzept eines „aktivierenden“ Sozialstaates orientiert (vgl. ausführlich Kapitel „Arbeit und Arbeitsmarkt“, Pkt. 8.2). Das Begriffspaar „Fordern und Fördern“ bringt zum Ausdruck, dass Arbeitslose dazu angehalten, aber auch mit Hilfe von Eingliederungsleistungen unterstützt und befähigt werden sollen, möglichst umgehend eine Erwerbsarbeit aufzunehmen.

268

Einkommen

Sanktionen Im Mittelpunkt des „Forderns“ stehen einer verschärfter finanzieller Druck und die Verhängung von Sanktionen. So haben die Ausdünnung des Anspruchs auf die Versicherungsleistung „Arbeitslosengeld“ und der schnelle Verweis auf die Grundsicherung das Ziel, die Bereitschaft der Arbeitslosen zu erhöhen, Arbeit auch zu schlechten Bedingungen anzunehmen. Im Unterschied zum Arbeitslosengeld orientiert sich das Arbeitslosengeld II weder am vorherigen Erwerbseinkommen noch kennt es einen Einkommensschutz. Hilfeempfänger:innen müssen zur Überwindung ihrer Notlage auch eine Arbeit aufnehmen, mit der ein gravierender finanzieller und sozialer Abstieg verbunden ist. Zumutbar ist dabei jede Arbeit, soweit sie nicht gegen Gesetz oder die guten Sitten verstößt. Dies gilt auch für Arbeiten, • • •

deren Entlohnung unterhalb des Tariflohns oder des ortsüblichen Entgelts liegt, bei denen aufgrund niedriger Lohnsätze oder geringer Arbeitszeit das erzielte Einkommen das Grundsicherungsniveau unterschreitet, z. B. bei Minijobs, die im Rahmen von Eingliederungsleistungen als „Arbeitsgelegenheiten“ (vgl. dazu Kapitel „Arbeit und Arbeitsmarkt“, Pkt. 8.3.7) angeboten werden.

Ausnahmen werden nur gemacht bei einer Arbeit, • •

bei der der gesetzliche Mindestlohn nicht gezahlt wird, zu der der/die erwerbsfähige Hilfebedürftige von seinen/ihren Kräften her nicht in der Lage ist, • die dem/der Hilfesuchenden die künftige Ausübung seiner bisherigen Tätigkeit wesentlich erschweren würde, • deren Ausübung die Kindererziehung (bis in der Regel zum 3. Lebensjahr des Kindes) gefährden würde, • deren Ausübung mit der Pflege von Angehörigen nicht vereinbar ist. Bei Verstößen gegen die Verpflichtungen greifen Sanktionen, die deutliche Kürzungen der Leistungen zur Folge haben. Sie werden verhängt, wenn sich Erwerbsfähige weigern, eine angebotene Eingliederungsvereinbarung abzuschließen oder die dort festgelegten Pflichten zu erfüllen, oder wenn sie eine zumutbare Arbeit bzw. Ausbildung ablehnen. Konzeption und Praxis der Sanktionen sind hinsichtlich Art, Ausmaß und Folgewirkungen hochumstritten. Das Bundesverfassungsgericht hat Ende 2019 entschieden, dass rigide Sanktionen, die bis zum völligen Leistungsentzug geführt haben, nicht mehr zulässig sind (vgl. im Detail Kapitel „Arbeit und Arbeitsmarkt“, Pkt. 6.3). Eingliederungsleistungen Ziel der Grundsicherung für Arbeitsuchende war und ist es, die Bedingungen für eine Reintegration in den Arbeitsmarkt zu verbessern. Arbeitslose sollen aktiviert

Grundsicherung

269

und befähigt werden, eine Beschäftigung aufzunehmen. Vorrang vor der Zahlung von Geldleistung hat danach die Eingliederung in Arbeit. Mit jedem erwerbsfähigen Hilfebedürftigen soll eine Eingliederungsvereinbarung geschlossen werden, die die erforderlichen Leistungen benennt. Zu den Leistungen zählt das Spektrum der aktiven Arbeitsmarktpolitik einschließlich der Beratungs-, Vermittlungs- und Qualifizierungsleistungen sowie ggf. erforderliche ergänzende Hilfen wie Kinderbetreuung, Schuldnerberatung, Suchtberatung, psychologische Betreuung. Die Leistungen werden durch die Job-Center, die als einheitliche Anlaufstelle dienen, erbracht bzw. koordiniert (vgl. dazu ausführlich Kapitel „Arbeit und Arbeitsmarkt“, Pkt. 8.3.3). Diese Doppelausrichtung der Grundsicherung im Sinne eines aktivierenden Sozialstaates wird anhaltend kritisch diskutiert. Hinsichtlich der intendierten und nicht intendierten Auswirkungen stellen sich mehrere Fragen: •

• •

Ist die positive Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt (Schaffung von neuen Arbeitsplätzen und Abbau der Arbeitslosigkeit) eine Folge des „Forderns und Förderns“ im Rahmen der Hartz-Gesetze oder günstiger gesamtwirtschaftlicher Konstellationen (vgl. Kapitel „Arbeit und Arbeitsmarkt“, Pkt. 9.1) ? Bekämpft die Grundsicherung Armut oder hat sie im Gegenteil soziale Ausgrenzung und sozialen Abstieg zur Folge ? Befähigt die Aktivierungspolitik die Menschen, ihr Leben eigenverantwortlich zu gestalten, oder führt sie durch das Zusammenwirken von niedrigem Leistungsniveau, verschärften Bedürftigkeitsprüfungen und strengen Zumutbarkeitsanforderungen für große Gruppen der Bevölkerung zu Verlust- und Abstiegsängsten, die der Ausgangspunkt für gesellschaftliche und politischen Spaltungen sind ?

Aufstocker Der Bezug von Arbeitslosengeld II und eine gleichzeitige Erwerbstätigkeit schließen sich nicht aus. Durch die Gewährung von Anrechnungsfreibeträgen sehen die Regelungen im SGB II diese Kombination von Grundsicherung und Erwerbstätigkeit ausdrücklich vor. Da ein (kleiner) Teil des Erwerbseinkommens anrechnungsfrei bleibt (Erwerbstätigenfreibetrag), sollen Anreize zur Aufnahme von Erwerbsarbeit gesetzt und die Aufnahme einer Beschäftigung im Niedriglohnsektor bzw. eine Vermittlung dahin möglich werden. (vgl. dazu im Detail Kapitel „Arbeit und Arbeitsmarkt“, Pkt. 6.4) 6.2.4 Träger und Finanzierung

Die Grundsicherung für Arbeitsuchende wird in geteilter Trägerschaft erbracht. Zuständig sind die Bundesagentur für Arbeit mit ihren örtlichen Agenturen einerseits und die Landkreise und kreisfreien Städte als kommunale Träger andererseits. Zur einheitlichen Durchführung bilden die Träger im Gebiet jeder Kommune (Landkreise und kreisfreie Städte) als gemeinsame Einrichtung ein Jobcenter. In rund einem

270

Einkommen

Viertel der 408 Jobcenter nehmen die Kommunen die Aufgaben der Grundsicherung in alleiniger Verantwortung wahr (zugelassene kommunale Träger). Darunter befinden sich Großstädte wie auch Landkreise. Die Leistungen für Unterkunft und Heizung, die psychologische Betreuung, die Schuldner- und Suchtberatung, die Kinderbetreuungsleistungen müssen von den Kommunen finanziert werden. Für alle übrigen Leistungen der Grundsicherung, insbesondere für die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts (Arbeitslosengeld II, Sozialgeld, Mehrbedarfe, Beiträge zur Sozialversicherung) und die Leistungen zur Eingliederung in Arbeit liegt die finanzielle Zuständigkeit beim Bund. Der Bund beteiligt sich zugleich an den Kosten der Unterkunft. An den Verwaltungskosten sind auch die Kommunen beteiligt. Für die Grundsicherung für Arbeitsuchende ist die Sozialgerichtsbarkeit zuständig. Abbildung III.20 ist zu entnehmen, dass sich die Gesamtkosten im Jahr 2017 auf fast 45 Mrd. Euro beziffern. Zwischen 2010 und 2012 zeigt sich, vor allem in Folge der rückläufigen Zahl der Leistungsempfänger:innen, eine Ausgabenminderung um 13,3 %. Seit 2012 sind die Ausgaben jedoch wieder um 11,6 % angestiegen. Die Ausgabenarten nach dem SGB II setzen sich im Wesentlichen aus den sog. passiven und aktiven Leistungen zusammen. Zu den passiven Leistungen zählen die Finanzierung des Arbeitslosengeldes II und des Sozialgeldes, die Übernahmen der Kosten der Un-

Abbildung III.20 Ausgaben für Leistungen nach dem SGB II 2010 – 2018 und Ausgabenarten 2018 in Mrd. Euro Ausgaben in Mrd. Euro

46,89 45

44,99 41,39

40

40,05

41,29

40,66

43,6

42,89

42,06

35

30

2010

2011

2012

2013

2014

2015

2016

2017

2018

Ausgabenarten in Mrd. Euro und in % der Gesamtausgaben 2018 Verwaltungskosten

Arbeitslosengeld II/Sozialgeld: 14,8 Mrd. € = 33,8%

Sozialversicherung 3,1 Mrd. € 5,9 Mrd. € = 13,4% = 7,0%

Kosten der Unterkunft 14,2 Mrd. € = 32,6%

5,5 Mrd. € = 12,5%

Eingliederungsleistungen 0%

10%

20%

30%

40%

50%

60%

70%

80%

Quelle: Bundesagentur für Arbeit (zuletzt 2019), Arbeitsmarkt in Zahlen – Ausgaben im SGB II.

90%

100%

Grundsicherung

271

terkunft sowie die Beiträge an die Sozialversicherungsträger (gesetzliche Krankenversicherung, soziale Pflegeversicherung). Zu den aktiven, arbeitsmarktpolitischen Leistungen zählen die Maßnahmen, die im Rahmen der Eingliederungsleistungen erbracht werden (insbesondere Arbeitsgelegenheiten, Eingliederungszuschüsse, Qualifizierung). Die passiven Leistungen machen mit über 90 % (2018) den weit überwiegenden Teil der Ausgaben aus. Für die Eingliederungsleistungen werden dagegen nur 7,0 % ausgegeben. Die tatsächlichen Gesamtausgaben dürften noch höher liegen. Nicht erfasst sind die Kosten der Leistungen für Bildung und Teilhabe, spezielle Bundesprogramme bei den Eingliederungsleistungen und die kommunalen Finanzierungsanteile. 6.3

Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung

Die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung ist rechtlich im SGB XII geregelt. Ziel ist es, älteren Menschen sowie Erwerbsgeminderten, die nur noch geringe Chancen haben, ihre Hilfebedürftigkeit zu überwinden, einen Leistungsanspruch unter erleichterten Voraussetzungen zu ermöglichen und durch die Begrenzung des Nachrangprinzips „verschämte Altersarmut“ abzubauen. Anspruchsberechtigt sind bei Bedürftigkeit •

ältere Menschen ab Erreichen der Regelaltersgrenze – unabhängig davon, ob ein Anspruch auf eine Alters- oder Hinterbliebenenrente besteht, • dauerhaft voll Erwerbsgeminderte (Personen, die wegen Krankheit oder Behinderung dauerhaft außer Stande sind, unter den üblichen Bedingungen des Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein) mit dem vollendeten 18. Lebensjahr – unabhängig davon, ob die Voraussetzungen für eine Erwerbsminderungsrente erfüllt sind. Die Leistungen entsprechen dem Umfang und der Höhe nach den Leistungen der Hilfe zum Lebensunterhalt. Bei der Bedürftigkeitsprüfung werden jedoch Unterhaltsansprüche des Leistungsberechtigten gegen seine Eltern oder Kinder, sofern deren Jahresbruttoeinkommen 100 000 Euro unterschreitet, nicht berücksichtigt. Auch muss nicht die Arbeitskraft eingesetzt werden. Leistungen zur Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung erhielten am Jahresende 2018 rund 1,1 Mio. Personen. Seit dem ersten Erhebungsstichtag am Jahresende 2003, als rund 439 000 Grundsicherungsempfänger:innen gezählt wurden, hat sich die Zahl damit mehr als verdoppelt (vgl. dazu ausführlich Kapitel „Alter“, Pkt. 9.1). Die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung wird von den Gemeinden administriert, aber vom Bund finanziert.

272

6.4

Einkommen

Sozialhilfe

Sozialhilfe wird in unterschiedlichen Formen und Arten sowie in oder außerhalb von Einrichtungen geleistet. Zu unterscheiden sind die Geldleistungen (Hilfe zum Lebensunterhalt) und die Dienst- und Sachleistungen. Die Hilfe zum Lebensunterhalt hat mit etwa 120 000 Empfängern (außerhalb von Einrichtungen) nur noch eine nachrangige Bedeutung. Anders als die Hilfe zum Lebensunterhalt sind die nachfolgend genannten Hilfen nicht auf eine allgemeine wirtschaftliche Bedürftigkeit, sondern im Wesentlichen auf spezielle Notlagen und besondere Bedarfssituationen bezogen: • • • •

Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderung, Hilfe zur Pflege, Hilfen zur Gesundheit, Hilfe zur Überwindung besonderer sozialer Schwierigkeiten und Hilfe in anderen Lebenslagen.

Diese Hilfen werden als Dienst- und Sachleistungen und zu einem großen Teil in Einrichtungen erbracht (vgl. zur Organisation und Finanzierung Kapitel „Soziale Dienste“, Pkt. 5.3). Es gelten jeweils höhere Einkommens- und Vermögensfreigrenzen. Wird die Hilfe stationär oder teilstationär durchgeführt, so umfasst sie auch den in der Einrichtung geleisteten Lebensunterhalt. Eingliederungshilfe Die mit Abstand größte Bedeutung haben die Eingliederungshilfe für behinderte Menschen und die Hilfe zur Pflege. Die Eingliederungshilfe hat die Aufgabe, eine drohende Behinderung zu verhüten, eine vorhandene Behinderung oder deren Folgen zu beseitigen bzw. zu mildern und Menschen mit Behinderungen in die Gesellschaft einzugliedern. Sie soll behinderte Menschen zu einem weitgehend selbstständigen Leben befähigen, ihnen die Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft ermöglichen oder erleichtern, ihnen die Ausübung eines angemessenen Berufs oder einer sonstigen angemessenen Tätigkeit ermöglichen oder sie so weit wie möglich unabhängig von Pflege zu machen. Durch die Verabschiedung des Bundesteilhabegesetzes und dessen schrittweise Umsetzung ab 2018 wird die Eingliederungshilfe aus der Sozialhilfe herausgenommen und in ein eigenes entsprechendes Leistungsrecht SGB IX (Rehabilitation und Teilhabe von Menschen mit Behinderungen) eingegliedert. Die Empfängerzahlen der Eingliederungshilfe haben sich von 1996 bis 2017 mehr als verdoppelt: von 420 Tausend auf über 900 Tausend. Auffällig ist, dass sich das (relative) Gewicht des Orts der Hilfegewährung deutlich verschoben hat. Immer mehr Menschen erhalten Hilfen außerhalb von Einrichtungen. Dies ist eine Folge der ver-

Grundsicherung

273

änderten, auf ein selbstbestimmtes Leben orientierenden Behindertenpolitik, die die Unterbringung in stationären Einrichtungen als nachrangig ansieht. Hilfe zur Pflege Durch die Pflegeversicherung ist die Bedeutung der Hilfe zur Pflege nach 1994 zurückgegangen: von 674 Tausend Empfängern im Jahr 1992 bis auf 289 Tausend im Jahr 1998. Jedoch ist die Zahl nachfolgend wieder kontinuierlich angestiegen. Infolge der ab 2016 wirksam gewordenen Leistungsausweitung der Pflegeversicherung hat sich die Zahl der Empfänger wieder verringert und liegt bei 440 Tausend Empfänger:innen. Verantwortlich für den langfristig steigenden Trend ist zum einen die Zunahme der Zahl der Pflegebedürftigen, wie dies in den Empfängerzahlen von Leistungen der Pflegeversicherung (vgl. Kapitel „Pflegebedürftigkeit und Pflege“, Pkt. 1.3) zum Ausdruck kommt. Zum anderen hat sich ein Verschiebeeffekt eingestellt: Da die Pflegeversicherung nur eine Teilkaskoversicherung ist (also nur einen Teil der Pflegekosten übernimmt) und zudem nicht die sog. Hotelkosten abdeckt, müssen in der Folge mehr Pflegebedürftige ergänzend auf die Hilfe zur Pflege zurückgreifen. Der Großteil der Pflegebedürftigen erhält Leistungen in der stationären Pflege (in Einrichtungen), im Jahr 2017 waren dies 80 % der Empfänger von Hilfe zur Pflege. Bezieht man die Empfänger von Hilfe zur Pflege auf die Gesamtzahl von etwa 3,4 Millionen Personen, die 2017 Leistungen der sozialen Pflegeversicherung erhalten haben, dann liegt der Anteil derjenigen, die aufstockend Hilfe zur Pflege in Anspruch nehmen müssen, bei etwa 13 % (vgl. Kapitel „Pflegebedürftigkeit und Pflege“, Pkt. 6.3). Zuständig für die Leistungen der Hilfe zur Pflege ist der überörtliche Träger der Sozialhilfe. Die Sozialhilfeträger übernehmen die Kosten der stationären Pflege in Höhe der Pflegesätze. Diese bemessen sich nach dem Versorgungsaufwand, den die Pflegebedürftigen nach Art und Schwere ihrer Pflegebedürftigkeit benötigen, und die zwischen dem Träger der Einrichtung und den Pflegekassen sowie den Sozialhilfeträgern (Leistungsträgern) vereinbart werden. Organisation Die Finanzierung der Sozialhilfe ist Aufgabe der Städte und Gemeinden, bei kreisangehörigen Gemeinden erfolgt sie über Umlagen. Die Länder sind in sehr unterschiedlich an der Sozialhilfefinanzierung beteiligt, zumeist über den kommunalen Finanzausgleich. Die Sozialhilfe wird durch örtliche und überörtliche öffentlich-rechtliche Träger durchgeführt. Daneben sind die Verbände der freien Wohlfahrtspflege als freie Träger an der Durchführung der Sach- und Dienstleistungen beteiligt. Als öffentliche Träger mit örtlicher Zuständigkeit fungieren die kreisfreien Städte und (Land)Kreise mit ihren Sozialämtern; je nach Landesrecht auch einzelne Gemeinden und Gemeindeverbände mit allerdings begrenzter Aufgabenstellung. Öffentliche Träger mit

274

Einkommen

überörtlicher Zuständigkeit sind entweder die Länder selbst (wie z. B. in den Stadtstaaten) oder die Landeswohlfahrtsverbände (z. B. in Baden-Württemberg, Hessen), die Landschaftsverbände (in Nordrhein-Westfalen) oder die Bezirke (wie in Bayern). Überörtliche Träger sind zuständig für Hilfen, die eine über den örtlichen Bereich hinausgehende Bedeutung haben oder die von besonderem finanziellen Gewicht sind. Bei der Durchführung der Sach- und Dienstleistungen dominieren die privaten – oftmals überörtlich organisierten – Träger. Dazu zählen die Kirchen, die Wohlfahrtsverbände und gewerbliche Anbieter. Die Wohlfahrtsverbände sind insbesondere als Betreiber von sozialen Einrichtungen z. B. von Altenpflegeheimen, Altentagesstätten, Behindertenheimen und Beratungsstellen und als Leistungsträger von Dienstleistungen vertreten. Ausgaben und Finanzierung Niveau und Entwicklungstrend der Bruttoausgaben der Sozialhilfe lassen sich unterscheiden in die Jahre vor und nach 2005. Denn zum Jahresbeginn 2005 wurde durch die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe das System der sozialen Sicherung grundlegend verändert. Die große Gruppe der erwerbsfähigen Hilfebedürftigen wird seitdem nicht mehr auf die Sozialhilfe (Hilfe zum Lebensunterhalt), sondern auf die Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem SGB II verwiesen. Zugleich wurde die Sozialhilfe – bis dahin kodifiziert im Bundessozialhilfegesetz (BSHG) – im SGB XII neu geregelt, sie umfasst seitdem neben dem Restbereich der Hilfe zum Lebensunterhalt auch die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung sowie die weiteren Leistungen nach Kapitel 5 – 9 SGB XII. Bei den weiteren Leistungen handelt es sich im Wesentlichen um Sachleistungen, dominiert durch die Eingliederungshilfe und die Hilfe zur Pflege. Im Leistungssystem der Hilfe zum Lebensunterhalt verbleiben nur Kinder und Erwachsene unter 65 Jahren, die zeitweise voll erwerbsunfähig sind. Durch die Kostensteigerungen bei den weiteren Leistungen sowie durch den Ausgabenanstieg bei der Grundsicherung im Alter wachsen die Ausgaben seit 2005 wieder deutlich an. Im Jahr 2018 haben die Gesamtausgaben der Sozialhilfe mit 33,9 Mrd. Euro das Niveau von 2004 (26,3 Mrd. Euro) bereits deutlich überschritten (vgl. Abbildung III.21). Allerdings muss bei diesem zeitlichen Vergleich berücksichtigt werden, dass ein Großteil der Ausgabenzuwächse durch das steigende Preisniveau bedingt ist. Insgesamt machen die Leistungen der Sozialhilfe (SGB XII) mit etwa 4 % nur einen kleinen Teil des Sozialbudgets aus. Die Ausgaben der Sozialhilfe müssen von den Kommunen finanziert werden. Seit 2011 beteiligt sich der Bund mit steigenden Anteilen bei der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung. Seit 2014 trägt der Bund diese Kosten vollständig.

Grundsicherung

275

Abbildung III.21 Bruttoausgaben der Sozialhilfe in Mrd. Euro, 1995 – 2018 33,9 31,7 30,3 29,0 27,4

26,7 17,1

25,5 15,5

23,3 22,8 23,0 23,0 13,5 12,5 12,5 12,9

23,9 14,3

24,7 14,8

25,6 15,8

26,3

26,2 25,0

16,4 23,0

19,9

2,9

20,5

3,2

21,1

3,6

16,5 15,9 16,3

9,6

9,9

10,3 10,5 10,0

9,8

9,7

9,8

9,8

22,0

3,8

17,0

4,0

17,8

23,9

4,3

18,5

6,8 Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung

6,4

5,4

25,1

4,9

23,5 21,6

19,2

insgesamt

7,1

5,9

4,6

20,0

6,5

32,5

24,0

22,4

20,6

Hilfe zur Gesundheit, zur Pflege, Eingliederungshilfe und sonstige Hilfen (vor 2005: Hilfe in besonderen Lebenslagen :

10,0

1,2

1,1

1,1

1,1

1,2

1,2

1,2

1,3

1,4

1,5

1,6

1,6

1,7

1,7

Hilfe zum Lebensunterhalt

1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018

Quelle: Statistisches Bundesamt (zuletzt 2019), Ausgaben und Einnahmen der Sozialhilfe.

6.5

Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz

Im Grundsatz können auch Ausländer:innen bei Bedürftigkeit Leistungen der unterschiedlichen Grundsicherungssysteme erhalten. Wie bereits skizziert, liegt bei ihnen die Empfängerquote der Grundsicherung für Arbeitsuchende deutlich über der der Bevölkerung mit deutscher Staatsangehörigkeit: 8,7 % zu 3,0 % (2017). Ursächlich für diese stärkere Betroffenheit sind in erster Linie die schlechtere Stellung auf dem Arbeitsmarkt (niedrigere Entgeltposition, höheres Arbeitslosigkeitsrisiko) sowie die Lebensbedingungen und die Haushaltskonstellation (größere Haushalte, höhere Kinderzahl). Diese Gleichstellung von Deutschen und Ausländern wird allerdings durch viele Ausnahmen durchbrochen. So sehen das SGB II und SGB XII spezielle Regelungen zur Leistungsberechtigung und zum Leistungsausschluss von EU-Bürger:innen und Ausländer:innen vor, die sich zum Zweck der Arbeitsuche in Deutschland aufhalten. Gänzlich ausgeschlossen von den Leistungen der Grundsicherung nach SGB II und SGB XII sind Ausländer:innen, die eine der nachstehenden Voraussetzungen erfüllen: Aufenthaltsgestattung, Aufenthaltserlaubnis zum subsidiären Schutz, Duldung, Abschiebungsandrohung noch nicht oder nicht mehr vollziehbar, Ehegatten, Lebenspartner oder minderjährige Kinder, noch nicht gestattete Einreise über einen Flughafen sowie Folge- oder Zweitantrag. Dieser Personenkreis wird bei Hilfebedürf-

276

Einkommen

tigkeit seit 1993 auf ein besonderes fürsorgerechtliches Leistungsgesetz, das Asylbewerberleistungsgesetz, verwiesen. Die Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz weichen in mehrfacher Hinsicht von den Prinzipien und Ansprüchen ab, die die anderen Grundsicherungssysteme kennen: •



• •

Der Lebensunterhalt wird zu großen Teilen durch Sachleistungen, so durch Verpflegung in Erstaufnahmeeinrichtungen und Gemeinschaftsunterkünften sowie Bekleidungsausgabe, und/oder durch Wertgutscheine und Geldleistungen sichergestellt. Die Leistungen sind gegenüber den Regelbedarfen abgesenkt. So sind die Leistungssätze in den Jahren zwischen 1993 und 2013 unverändert geblieben. Erst seit 2014, nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2012, orientieren sich die Grundleistungen grundsätzlich an der Sozialhilfe bzw. am Arbeitslosengeld II. Die Leistungen bei Krankheit, Schwangerschaft und Geburt gelten nur eingeschränkt, da diese lediglich bei akuten Erkrankungen gewährt werden. Ein Großteil der Leistungsempfänger:innen lebt in Gemeinschaftsunterkünften.

Fragt man nach der Begründung für die mehrfache Schlechterstellung, so steht neben dem fiskalischen Motiv der direkten Ausgabenminderung zweifelsohne die Zielsetzung im Mittelpunkt, die Zuwanderungszahlen zu begrenzen und die niedrigen Leistungen als Abschreckungsfaktor einzusetzen. Hinzu kommt das Argument, dass den betroffenen Ausländer:innen wegen ihres begrenzten Aufenthaltes in Deutschland keine Integrationsleistungen zu gewähren seien. Diese Begründungen für ein abgesenktes Leistungsniveau sind vom Bundesverfassungsgericht im Jahr 2012 als verfassungswidrig erklärt worden. Leistungsberechtigte erhalten Grundleistungen, die einen Barbedarf (Taschengeld), Sachleistungen sowie die Kosten der Unterkunft (Gemeinschaftsunterkunft oder Mietwohnung), Hausrat und Heizkosten beinhalten. In Aufnahmeeinrichtungen erhalten Leistungsberechtigte Leistungen zur Deckung des Bedarfs an Ernährung, Unterkunft, Heizung, Kleidung, Gesundheitspflege und Gebrauchs- und Verbrauchsgütern des Haushalts sowie Leistungen zur Deckung persönlicher Bedürfnisse des täglichen Lebens (notwendiger persönlicher Bedarf) grundsätzlich als Sachleistungen oder durch Wertgutscheine. Bei einer Unterbringung außerhalb von Aufnahmeeinrichtungen werden vorrangig Geldleistungen zu gewährt. Nach einem Aufenthalt von 15 Monaten werden die Leistungen unter bestimmten Voraussetzungen auf das Niveau der Sozialhilfe angehoben. Im Jahr 2018 haben etwa 411 000 Personen Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz erhalten. Im zeitlichen Verlauf kommt es zu einer Wellenbewegung (Abbildung III.22): Die Zahl der Leistungsempfänger:innen ist seit der Einführung des Gesetzes im Jahr 1994 zunächst kontinuierlich gesunken ist – von nahezu 490 000

Grundsicherung

277

Abbildung III.22 Empfänger von Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz 1994 – 2018 974.551 728.239 411.211

468.608

362.850 224.993

165.244

130.297

143.687

127.865

121.235

153.300

193.562

211.122

230.148

264.240

278.592

314.116

351.642

435.930

438.873

486.643

489.742

438.618

488.974

0

1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018

Quelle: Statistisches Bundesamt (zuletzt 2019), Genesis-online.

auf 121 000 im Jahr 2009. Seitdem ist jedoch ein zuerst leichter Anstieg, ab 2014 jedoch steiler Anstieg zu verzeichnen, der sich im Jahr 2015 noch einmal mehr als verdoppelt hat. Die schwierigen politischen, ökonomischen und sozialen Verhältnisse in vielen Ländern der Welt und insbesondere die anhaltenden Bürgerkriege in Syrien, Libyen, Afghanistan und im Irak waren und sind die Ursache für den starken Zustrom von Asylbewerbern und Schutzsuchenden. Seit 2016 geht infolge der wieder sinkenden Zuwanderung auch die Zahl der Leistungsempfänger:innen deutlich zurück, sie liegt gleichwohl immer noch deutlich über den Zahlen aus den Jahren vor 2014. Die staatlichen Ausgaben für Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz betrugen im Jahr 2018 knapp 5,3 Mrd. Euro. Die Kosten wurden bis Ende 2015 von Ländern, Landkreisen und Kommunen übernommen. Seit 2016 beteiligt sich der Bund mit 670 Euro pro Asylbewerber pro Monat. Der Betrag entspricht den durchschnittlichen Kosten bzw. Nettoausgaben je Asylbewerber im Jahr 2014.

278

6.6

Einkommen

Familienleistungsausgleich, Wohngeld

Das System der sozialen Sicherung in Deutschland ist durch die beiden Pole „Sozialversicherung“ und „Grundsicherung“ charakterisiert, es beschränkt sich allerdings nicht auf diese Leistungstypen. Besondere Bedarfslagen, soweit sie aus den laufenden Arbeits- oder Sozialeinkommen nicht ausreichend abgedeckt werden können, werden unter jeweils besonderen Bedingungen durch direkte Transfers oder durch steuerliche Entlastungen ausgeglichen. Eine große Bedeutung hat hier zum einen der Familienleistungsausgleich. Er setzt sich zusammen aus steuerlichen Entlastungen (Kinderfreibeträge, Ausbildungsfreibeträge) und direkten Zahlungen (Kindergeld, Kinderzuschuss, Unterhaltsvorschuss) und soll die Eltern von den Aufwendungen entlasten, die durch die Betreuung, Erziehung und Ausbildung der Kinder entstehen und die weder bei den Arbeitsentgelten noch bei den sozialversicherungsrechtlichen Lohnersatzleistungen Berücksichtigung finden. Das Elterngeld leistet während der Elternzeit einen begrenzten Einkommensersatz. Die einkommens- und elternabhängige Ausbildungsförderung soll den Lebensunterhalt während einer Ausbildung (Schule, Hochschule, Meisterabschluss) absichern (vgl. dazu ausführlich Kapitel „Familie und Kinder“, Pkt. 6). Das Wohngeld ist ein Beispiel für eine Transferleistung, die auf eine spezifische Ausgabenbelastung abstellt. Wenn der Grundsatz gilt, dass die Versorgung mit ausreichendem, familiengerechtem Wohnraum zu den Grundvoraussetzungen eines menschenwürdigen Lebens zählt, dann muss es auch Geringverdienern möglich sein, eine bezahlbare und angemessene Wohnraumversorgung zu erhalten. Angesichts des hohen und steigenden Mietpreisniveaus in der Bundesrepublik, insbesondere in den Großstädten, ist diese Voraussetzung jedoch gefährdet. Bei Beziehern niedriger Arbeits- und Sozialeinkommen beanspruchen die Wohnungsausgaben einen sehr großen Teil des Haushaltseinkommens, so dass sie auf eine schlechte Wohnraumqualität verwiesen werden, wenn keine Ausgleichsleistungen erfolgen. Die Zahlung von Wohngeld soll deshalb dazu beitragen, dass die Wohnkosten einen bestimmten Anteil der Gesamtausgaben nicht überschreiten. Diese Förderung hängt von der Einkommenshöhe ab: Mit steigendem Haushaltseinkommen verringert sich die Zahlung oder entfällt völlig, weil ein (voller) Förderungsbedarf als nicht mehr erforderlich angesehen wird. Trotz ihrer Einkommensabhängigkeit lässt sich das Wohngeld aber nicht mit den Grundsicherungssystemen gleichsetzen, da weder das Bedarfs- noch das Nachrangprinzip greifen. Bedürftigkeit wirkt nicht anspruchsbegründend, sondern fehlende Bedürftigkeit wirkt anspruchsbegrenzend. Die Leistungen sind überdies weitgehend pauschaliert. Kinder in Wohngeldhaushalten haben Anspruch auf Leistungen für Bildung und Teilhabe. Die Leistungen nach dem Wohngeldgesetz (erstmalig 1965) richten sich vornehmlich an Mieter, aber auch an Eigentümer eines Eigenheimes oder einer Eigentumswohnung. Seit 2005 sind die Empfänger fürsorgerechtlicher Leistungen, deren Unterkunftskosten im Rahmen der jeweiligen Sozialleistung berücksichtigt werden

Grundsicherung

279

(ALG II, Sozialgeld, Sozialhilfe, Grundsicherung im Alter) vom Bezug des Wohngeldes ausgeschlossen. Die Höhe des Wohngeldes wird nach Tabellenwerten ermittelt, die • • •

die Größe des Haushaltes, die Höhe des Haushaltseinkommens und die Höhe der zuschussfähigen Miete berücksichtigen.

Aus dem Verhältnis von tragbaren Mieten bzw. Belastungen zum verfügbaren Haushaltseinkommen und zur Größe des Haushalts errechnet sich dann der Mietzuschuss bzw. Lastenzuschuss (an Eigentümer). Personen, deren Einkommen unterhalb des ihrer Familiengröße entsprechenden Höchstbetrages liegt, haben einen Rechtsanspruch auf Wohngeld. Als Einkommen anzurechnen ist das Familieneinkommen einschließlich etwaiger Sozialversicherungsleistungen. Eine Dynamisierung des Wohngelds (im zweijährigen Turnus) gibt es erst seit 2020. Dadurch soll vermieden werden, dass Haushalte, die durch nominal gestiegene Einkommen die vorgegebenen Einkommensgrenzen überschreiten, aus dem Wohngeldbezug heraus fallen. Anpassungen erfolgten zuvor in unregelmäßigen Abständen. Die letzte Anpassung der Einkommensgrenzen datiert aus dem Jahr 2020. Die Zahl der Empfängerhaushalte von Wohngeld unterliegt seit 2005 einem wechselvollen Verlauf (Abbildung III.23). Während 2004 noch gut 3,5 Mio. Haushalte gezählt wurden, schrumpfte die Zahl infolge der erwähnten Neuregelungen im SGB II und SGB XII im Jahr 2005 auf 0,81 Mio., da diese Systeme bereits die Übernahme der Wohnkosten (soweit angemessen) beinhalten. Zwischen 2005 und 2009 schrumpft die Empfängerzahl infolge der fehlenden Dynamisierung der Leistungen. Im Jahr 2009 zeigt sich als Folge der Wohngeldreform 2009 ein Wiederanstieg der Empfängerhaushalte auf gut 1 Mio. Haushalte. Danach kommt es zu einem erneuten Rückgang der Empfängerzahlen: Am Jahresende 2015 bezogen nur noch 460 Tausend Haushalte Wohngeld – dies entspricht einem Rückgang von 54,3 %. Ursächlich dafür ist zum einen der Wegfall des 2009 eingeführten Betrags für Heizkosten. Und zum anderen sind die Wohngeldtabellenwerte und die Miethöchstbeträge wiederum nicht angehoben worden, sie haben also unter Berücksichtigung der Preisentwicklung, und hier insbesondere der Mietpreise, deutlich an Wert verloren. Der deutliche Anstieg der Empfängerhaushalten im Jahr 2016 kann mit dem Inkrafttreten der Wohngeldreform aus dem Jahr 2015 erklärt werden. Erstmals seit 2009 wurden die Tabellenwerte an die Entwicklung der Wohnkosten und der Verbraucherpreise angepasst. Auch die Miethöchstbeträge wurden – nach Regionen und Mietstufen gestaffelt – angehoben. Seitdem setzt ein erneuter Rückgang ein. Analysiert man die Struktur der Wohngeldempfängerhaushalte nach der sozialen Stellung des Haupteinkommensbeziehers, so dominieren mit 48 % Rentner:innen und mit 37 % Arbeitnehmer:innen. Das durchschnittliche Wohngeld lag 2017 bei 157 Euro im Monat.

280

Einkommen

902.870

400.000

548.047

592.043

460.080

564.983

631.481

664.724

639.115

600.000

606.424

691.119

782.824

810.864

800.000

1.007.334

1.000.000

1.061.487

Abbildung III.23 Empfängerhaushalte von Wohngeld 2005 – 2018, absolut; jeweils am Jahresende

200.000

0

2005

2006

2007

2008

2009

2010

2011

2012

2013

2014

2015

2016

2017

2018

Quelle: Statistisches Bundesamt (2019), Genesis online.

Erfasst werden in der Wohngeldstatistik naturgemäß nur die beantragten und bewilligten Wohngeldzahlungen. Wie auch bei der Grundsicherung muss damit gerechnet werden, dass ein Teil der Wohngeldberechtigten trotz ihres niedrigen Einkommens keinen Antrag stellt – aufgrund von Unwissenheit oder anderen Gründen. Die Höhe dieser Dunkelziffer ist nicht bekannt. Die Wohngeldausgaben von Bund und Ländern beliefen sich 2018 auf ca. 1,0 Mrd. Euro. Die Finanzierung des Wohngeldes erfolgt durch den Bund und die Länder. Die Durchführung des Gesetzes ist den kreisfreien Städten und Landkreisen übertragen, bei denen besondere Amtsstellen für Wohngeld bestehen. Durch das Wohngeld werden die sozialen Verwerfungen des freien Wohnungsmarktes in einem gewissen Maße kompensiert. Das Wohngeld als Instrument der Subjektförderung ist jedoch allein überfordert, um eine angemessene und preisgünstige Wohnraumversorgung sicherzustellen. Wohnungspolitik zielt ergänzend darauf ab, Wohnraumangebot und Preisgestaltung durch den sozialen Wohnungsbau zu beeinflussen. Bei dieser Objektförderung erhalten Bauherren eine öffentliche Förderung. Voraussetzung dafür ist, dass sie den geförderten Wohnraum im Rahmen der Kostenmiete an Personen vermieten, die zum Bezug einer Sozialwohnung berechtigt sind. Der Wohneigentümer ist also bei der Vergabe der Wohnung und der Festsetzung des

Armut in der Wohlstandsgesellschaft

281

Mietpreises gebunden. Zu den Berechtigten einer Sozialwohnung zählen Haushalte mit niedrigem Einkommen und besondere Personengruppen, z. B. kinderreiche Familien und Alleinerziehende.

7

Armut in der Wohlstandsgesellschaft

7.1

Was ist Armut ?

Leben in Deutschland, einem der reichsten Länder der Welt, Menschen in Armut ? Dieser Frage nach der Existenz und Verbreitung von Armut kommt bei der Analyse des Sozialleistungssystems und der Einkommensverteilung eine herausragende Bedeutung zu. Armut inmitten einer Wohlstandsgesellschaft kann ein Wirtschaftssystem in Frage stellen, das sich als „soziale Marktwirtschaft“ versteht, und gefährdet die politische und soziale Legitimation eines Sozialstaats. Die Informationen über Armut im Wohlstand und mehr noch über den Gegenpol „Reichtum“ sind freilich begrenzt; erst seit Ende der 1980er Jahre hat sich auf kommunaler, regionaler und auch europäischer Ebene eine Armuts- und Sozialberichterstattung entwickelt. Einen ersten Armuts- und Reichtumsbericht hat die rot-grüne Bundesregierung im Jahr 2001 vorgelegt, der fünfte Bericht wurde 2017 veröffentlicht. Um die Frage nach Existenz und Ausmaß von Armut zu beantworten, muss definiert werden, was unter Armut verstanden wird. Erst wenn die Armutskriterien benannt sind, lässt sich empirisch-statistisch aufzeigen, ob und wann von Armut geredet werden muss, welche quantitativen Dimensionen Armut hat, welche Personen und Gruppen mit welchem Schweregrad und in welcher Dauer unter Armut zu leiden haben. Bei der Suche nach diesen Kriterien kann nicht auf „objektive“ Daten zurückgegriffen werden. Die Bestimmung dessen, was Armut ist, hängt von normativen Entscheidungen ab. Zunächst ist zwischen absoluter und relativer Armut zu unterscheiden: • Absolute Armut liegt vor, wenn Personen nicht über die zur Existenzsicherung notwendigen Güter wie Nahrung, Kleidung und Wohnung verfügen und ihr Überleben gefährdet ist. Diese am physischen Existenzminimum gemessene Form von Armut dominiert nach wie vor in vielen Staaten der „Dritten Welt“, ist aber in Deutschland wie auch in den anderen entwickelten Staaten weitestgehend überwunden. • Relative Armut wird auf Raum und Zeit bezogen, sie bemisst sich am konkreten, historisch erreichten Lebensstandard einer Gesellschaft. Armut liegt nach diesem Verständnis dann vor, wenn Menschen das sozialkulturelle Existenzminimum einer Gesellschaft unterschreiten. Es geht um die Lebenslage der Bevölkerung eines Landes am untersten Ende der Einkommens- und Wohlstandspyramide im Verhältnis zum allgemeinen Einkommens- und Wohlstandsniveau. Armut ist

282

Einkommen

der extreme Ausdruck sozialer Ungleichheit. In diesem Sinne definiert die Europäische Union Armut wie folgt: „Verarmte Personen sind Einzelpersonen, Familien und Personengruppen, die über so geringe (materielle, kulturelle und soziale) Mittel verfügen, dass sie von der Lebensweise ausgeschlossen sind, die in dem Mitgliedsstaat, in dem sie leben, als Minimum annehmbar sind.“ Es besteht weitgehender Konsens darüber, dass in Wohlstandsgesellschaften das Konzept der relativen Armut angemessen ist, obgleich auch hier – wie die Lebenssituation von Nichtsesshaften zeigt – einzelne Menschen durchaus in absoluter Armut leben. Unzureichende Verfügung über Ressourcen Gemeinhin wird Armut als eine Unterausstattung mit ökonomischen Mitteln verstanden. Abgestellt wird bei diesem Ressourcenansatz vor allem auf die Ausstattung mit Einkommen. Personen bzw. Haushalte befinden sich in Armut, wenn ihr Einkommen nicht ausreicht, um die Güter und Dienstleistungen zu kaufen, die zur Abdeckung des sozialkulturellen Existenzminimums erforderlich sind. Dieser Maßstab ist allerdings nicht unproblematisch, da der Handlungsspielraum eines Haushalts nicht nur durch die Ressource Einkommen, sondern auch durch weitere Ressourcen wie Vermögen (z. B. Wohneigentum), schulische und berufliche Qualifikation (Humankapital), soziale Einbindung (Sozialkapital) und Verfügung über Zeit bestimmt wird. Einen zentralen Stellenwert hat die Ressource Vermögen. Um die materielle Lage von Individuen, Haushalten und sozialen Gruppen in der Bevölkerung zu beschreiben und miteinander vergleichen zu können, müssen auch die Vermögensbestände, also der Bestand an Geld oder geldwertem Besitz (Geldvermögen, Immobilien, Betriebsvermögen) berücksichtigt werden. Zwar setzt in entwickelten Marktgesellschaften, in denen nahezu alle Güter und Dienstleistungen gegen Geld gekauft werden müssen, das Einkommen den Rahmen für den Lebensstandard, determiniert diesen aber nicht vollständig. Beim Blick allein auf den Einkommenszufluss bleibt ausgeblendet, wie die Ressourcen tatsächlich verwendet werden und wie sie sich in einem bestimmten Lebensstandard niederschlagen. So kann auf der einen Seite auch dann eine Notlage vorliegen, wenn das verfügbare Haushaltseinkommen die Armutsgrenze übersteigt, aber durch hohe Fixkosten (z. B. Zins- und Tilgungsbelastungen) vorab gemindert wird, oder wenn die Mittel unwirtschaftlich eingesetzt oder unausgewogen unter den Haushaltsmitgliedern verteilt werden. Auf der anderen Seite kann bei einem Geldmangel der Lebensstandard durch Rückgriff auf Reserven, Kreditaufnahme oder Unterstützung aus dem familiären und sozialen Umfeld gehalten werden. Gefährdete Lebenslagen und soziale Teilhabe Geringes Einkommen ist also eine zentrale, aber nicht die ausschließliche Bedingung für einen als „arm“ zu bezeichnenden Lebensstandard. Armut im umfassenden Sinn ergibt sich als Ergebnis des Ressourceneinsatzes und als Ausdruck einer vorfind-

Armut in der Wohlstandsgesellschaft

283

baren Lebenslage. Eine an der Lebenslage orientierte Definition von Armut fragt danach, ob bei der Versorgung der Menschen mit Nahrung, Bekleidung, Wohnraum, Wohnungseinrichtung, Leistungen des Gesundheits- und Sozialwesens Mindeststandards erreicht werden. Lebenslagen- und Teilhabeansätze, die Armut direkt und nicht indirekt über den Ressourcenzufluss messen, fragen danach, ob die Menschen ausreichend am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben teilhaben können. Dies betrifft so zentrale Bereiche wie • • • • • • • • • • •

Ernährung und Bekleidung (Qualität der Versorgung mit Lebensmitteln und Bekleidung), Wohnung (Größe, Ausstattung, Qualität), Wohnumfeld (Erreichbarkeit, Quartier), Mobilität (Fahrzeuge, Verkehrsmittel), Arbeitsmarkt (Erwerbsteilhabe, Qualität der Arbeit, Arbeitslosigkeit), Bildung (schulische und berufliche Ausbildung, Weiterbildung), Gesundheit (Erkrankungen, Behinderungen, Pflegebedürftigkeit), Freizeit (Urlaub, Naherholung), Umwelt (Umweltbelastungen wie Lärm, schlechte Luft usw.), Netzwerke (Familie, Nachbarschaft, soziale Kontakte), Engagement (kulturelle, soziale und politische Teilhabe).

Liegt Unterversorgung in gleich mehreren Lebensbereichen vor, besteht das Risiko, dass Armut zugleich mit sozialer Ausgrenzung verbunden ist. Der Grad von Versorgung und Teilhabe kann sich dabei in den genannten Dimensionen unterscheiden. Denn es hängt von den Entscheidungen der Personen ab, welche Schwerpunkte im Einsatz des Einkommens gesetzt werden: Die einen legen weniger Wert auf Bekleidung und Wohnung, aber mehr Wert auf einen Urlaub und den Besuch kultureller Veranstaltungen, für die anderen ist die Verfügung über einen PKW und eine hochwertige Wohnungsausstattung wichtig, nicht aber die Qualität der Ernährung. In aller Regel besteht jedoch zwischen den einzelnen Dimensionen eine enge Verbindung: Personen mit einer guten Bildung und einem stabilen Beschäftigungsverhältnis wohnen und ernähren sich besser und sind in der Gesellschaft stärker integriert als Personen, die keine qualifizierte Ausbildung aufweisen und deren Erwerbsteilhabe aufgrund von Arbeitslosigkeit nicht gesichert ist. Auch bei den Belastungen durch Umweltverschmutzungen zeigt sich dieser Zusammenhang: Derartige, die Lebensqualität mindernde Erscheinungen (ebenso wie z. B. belastende Arbeitsbedingungen) treffen nach aller Evidenz insbesondere jene Gruppen am stärksten, die auch schon mit Blick auf andere Lebenslagendimensionen und auf die materiellen Ressourcen Einkommen und Vermögen schlechter gestellt sind. Das ist nicht zuletzt Folge der sozialräumlichen Trennung (Segregation) in und zwischen den Wohnquartieren.

284

Einkommen

Aus dem Lebenslagen- und Teilhabeansatz folgt für die Sozialpolitik, dass es zur Armutsbekämpfung und -vermeidung nicht ausreicht, das Einkommen durch Transferzahlungen aufzustocken. Es bedarf ergänzender Maßnahmen zur Sicherstellung der sozialen, beruflichen und politischen Integration und Partizipation. Grenzwerte und Mindeststandards Ressourcenansatz wie Lebenslagen- und Teilhabeansatz stehen vor großen Problemen, wenn es darum geht, das Ausmaß der Armut quantitativ zu beziffern. Es muss definiert werden, ab welchen Grenzwerten der Zustand der Schlechterstellung und Benachteiligung in Armut umschlägt. Über diese Armutsgrenzen lässt sich nicht wissenschaftlich befinden, ihre Festlegung ist vielmehr von subjektiven/individuellen Überzeugungen und Wertentscheidungen abhängig. Dies bedeutet, dass die Diskussion über Existenz und Ausmaß von Armut in Wohlstandsgesellschaften immer kontrovers verlaufen wird. Je nach der Definition von Armut und der Bestimmung der Armutsgrenzen kann dabei der Kreis der Armutsbevölkerung enger oder weiter gesteckt werden. Eine bewusste Eingrenzung des Kreises relativiert die Armutsproblematik und kann dazu dienen, die tatsächlichen sozialen Verhältnisse zu verdecken, während eine bewusst weite Fassung des Kreises den Blick auf die eigentlichen Betroffenen verstellen kann. Besonders schwierig ist es, die Mindeststandards in einem mehrdimensionalen Lebenslagenansatz festzulegen. Sind für die Teilhabe am Leben heute ein Auto und ein Internet-Anschluss erforderlich ? Brauchen Kinder je ein eigenes Zimmer ? Welche Bekleidungsstandards müssen Kindern anerkannt werden, um ihre Ausgrenzung zu verhindern ? Ab welchem Grad der Unterversorgung in welchen und wie vielen Bereichen kann dann Armut oder Ausgrenzung indiziert werden ? Die Liste dieser beispielhaften Fragen ließe sich beliebig verlängern. Hinzu kommt, dass die empirischen Daten über die Versorgungsstruktur der Bevölkerung nur sehr lückenhaft sind. Für den Gesamtbereich der sozialen Teilhabe, der stark durch nicht-quantitative Elemente bestimmt ist, fehlt es nahezu völlig an repräsentativen Daten. Hier sind qualitative Untersuchungen erforderlich, die die Lebensbedingungen der jeweils von unterschiedlichen Problemen betroffenen Bevölkerungsgruppen gesondert darstellen. Zu denken ist nicht zuletzt an die Lebenslage von körperlich und geistig Behinderten, Wohnungslosen und Nichtsesshaften, Strafentlassenen, Drogen- und Alkoholabhängigen sowie psychisch Kranken. Beim Ressourcenansatz muss entschieden werden, bei welcher Einkommenshöhe das soziokulturelle Existenzminimum angelegt werden soll und wie sich der Grenzwert an die wirtschaftliche Entwicklung anzupassen hat. Auch hier gibt es keine allgemeinverbindlichen Antworten. Als ein quasioffizieller, politisch bestimmter Grenzwert für die Einkommensarmut kann das Bedarfsniveau der Grundsicherung dienen. Auf Konventionen beruht dagegen das international üblich gewordene Verfahren, jemanden als einkommensarm zu betrachten, dessen verfügbares Einkommen einen bestimmten Prozentwert des nationalen Durchschnittseinkommens unterschreitet.

Armut in der Wohlstandsgesellschaft

285

Durch das Verfahren, Einkommensarmut am Durchschnittseinkommen zu bemessen, wird die Ungleichheit der Einkommensverteilung abgebildet. Eine Verringerung von Einkommensarmut in diesem Sinne setzt voraus, dass niedrige Einkommen stärker als hohe Einkommen ansteigen. Bei einer gleichmäßigen prozentualen Erhöhung aller Einkommen hingegen bleibt der Anteil unter der Hälfte des Durchschnitts gleich. Eine Erhöhung des gesamtgesellschaftlichen Wohlstandes allein ist also, da Armut immer ein relativer Tatbestand ist, noch kein Beitrag zum Abbau von Einkommensarmut. 7.2

Relative Einkommensarmut

Die Ermittlung von Niveau und Struktur der relativen Einkommensarmut hängt entscheidend von den methodischen Annahmen ab. So ist festzulegen, bei welchem Abstand zum durchschnittlichen Einkommen von Armut gesprochen werden kann. In der nationalen wie in der europäischen Armutsforschung ist es seit vielen Jahren üblich, das mittlere Einkommen (Median) als Referenzgröße zu bestimmen und jene Personen als einkommensarm zu bezeichnen, deren Nettoäquivalenzeinkommen unterhalb von 60 % des mittleren Einkommens liegt. Der Durchschnitt kann auch als arithmetisches Mittel gerechnet werden. Da das arithmetische Mittel empfindlich auf extreme Ausschläge nach oben oder unten reagiert, wird aber in der Regel auf den Median als Mittelwert zurückgegriffen (mittlerer Wert einer nach der Größe geordneten Reihe). Als Kennziffern für die relative Armutsmessung kommen Armutsrisikoquoten (bzw. als synonymer Begriff: Armutsgefährdungsquoten) zur Anwendung. Dazu werden die Anteile der armen Haushalte bzw. Personen an der jeweiligen Gesamtzahl der Bevölkerung ermittelt. Von Armutsrisikoquoten ist deshalb die Rede, weil in die Bemessung nur laufende Einkommen einfließen, eventuell vorhandenes Vermögen finden dabei ebenso wenig Berücksichtigung wie bestehende Schulden oder Forderungen. Unterschiedliche Bedarfe, wie z. B. von Menschen mit Behinderungen, spielen ebenfalls keine Rolle. Angesichts der anhaltend großen Einkommensunterschiede zwischen Bundesländern und Regionen, insbesondere zwischen den alten und den neuen Bundesländern, muss auch darüber befunden werden, ob sich Armutsberechnungen auf den Mittelwert des gesamtdeutschen Einkommens beziehen oder auf das Durchschnittseinkommen in den jeweiligen Regionen. Das hat erhebliche Auswirkungen auf die Ergebnisse: In Bundesländern mit einem generell niedrigeren Einkommensniveau wie in Ostdeutschland (aber auch mit niedrigeren Wohn- und Lebenshaltungskosten) führt eine durchgängige Verwendung des Bundesmedians zu einer Überschätzung des Armutsrisikos. Umgekehrt wird in „reicheren“ Regionen damit das Armutsrisiko unterschätzt. Für eine einheitliche Verwendung des bundesdurchschnittlichen Medians spricht, dass bei einer kleinräumigen Betrachtungsweise regionale Wohlstandsunterschie-

286

Einkommen

de in Deutschland ausgeblendet werden. Dann lässt sich nicht mehr untersuchen, inwieweit das im Grundgesetz formulierte Postulat „gleichwertiger Lebensverhältnisse“ erfüllt wird. Schließlich sind auch die Sozialgesetze und Sozialleistungen in allen Raumeinheiten die gleichen. Bei europäischen Vergleichen ist hingegen eine Rechnung mit einem europäischen Medianwert unzulässig, da die Einkommensund Wohlstandsunterschiede in den Ländern der EU so erheblich sind, dass Durchschnittswerte keinen Sinn machen. Die Festlegung der Äquivalenzgewichte (Ermittlung bedarfsgewichteter Pro-KopfEinkommen, um die verfügbaren Einkommen von Haushalten unterschiedlicher Größenordnung und Alterszusammensetzung vergleichen zu können; vgl. Pkt. 2.5.2 dieses Kapitels) hat ebenfalls erheblichen Einfluss auf die Struktur der Armutsquoten und die Zusammensetzung der Armutsbevölkerung. Die früher angewendeten Skala (1,0 für die 1. Person im Haushalt; 0,7 für weitere Personen ab 15 Jahren Haushaltsmitglieder; 0,5 für Kinder) ist durch die sog. „neue OECD-Skala“ (1,0 : 0,5 : 0,3) abgelöst worden, die die Haushaltsersparnisse höher einschätzt und zugleich von niedrigeren Einkommensbedarfen von Kindern ausgeht. Aus der „neuen OECD-Skala“ ergeben sich höhere Armutsquoten für kleinere Haushalte, z. B. für Ein-Personen-Haushalte, aber geringere Armutsquoten für größere Haushalte, z. B. für Haushalte mit Kindern. Anzahl und Anteil der Personen, die mit ihrem (Nettoäquivalenz)Einkommen die Armutsrisikoschwelle unterschreiten, lassen noch nicht erkennen, ob das Einkommen nur knapp unter dem Grenzwert liegt oder erheblich darunter. Dies ist aber wichtig zu wissen, da die Folgen von Einkommensarmut umso gravierender sind, je weiter die Betroffenen mit ihrem Einkommen hinter der Armutsgrenze zurückbleiben. Mit dem Ausweis der sog. Armutslücke kann diese Intensität von Armut gemessen werden. Die Armutslücke ist definiert als die Differenz zwischen dem Median des Nettoäquivalenzeinkommens der armutsgefährdeten Bevölkerung und der Armutsrisikoschwelle. Setzt man diese Differenz ins Verhältnis zur Armutsrisikogrenze, erhält man die „relative Armutslücke. Sie liegt aktuell bei etwa 20 %. Das heißt, dass das mittlere Einkommen der Armutsgefährdeten bzw. -betroffenen um ca. ein Fünftel unterhalb der Armutsschwelle von 60 % des Medianeinkommens liegt. 7.3

Armutsrisikoquoten

7.3.1 Bundesdurchschnitt und regionale Abweichungen

Um das Ausmaß des Armutsrisikos zu beziffern, kann auf die Auswertungen des Statistischen Bundesamtes zurückgegriffen werden, Datengrundlage ist hier der Mikrozensus. Die große Stichprobe des Mikrozensus erlaubt differenziertere Untergliederungen als die anderen stichprobenbasierten Datenquellen (so z. B. das SOEP). Wenn die Armutsrisikogrenze bei 60 % des gesamtdeutschen Durchschnittseinkommens (Median) angesetzt wird, dann zeigt sich, dass im Zeitraum zwischen 2005

Armut in der Wohlstandsgesellschaft

287

und 2018 zwischen 14,7 % und 15,8 % der Bevölkerung in Deutschland als armutsgefährdet gelten können. Auffällig ist, dass trotz der guten wirtschaftlichen Entwicklung und des Rückgangs der Arbeitslosigkeit die Risikoquote leicht aber kontinuierlich ansteigt (vgl. Abbildung III.24). Unterscheidet man zwischen den alten und neuen Bundesländern zeigen sich abweichende Entwicklungsverläufe. Die Armutsbetroffenheit in den neuen Bundesländern fällt stärker aus, sinkt jedoch und nähert sich an die steigende Quote in den alten Bundesländern an; gleichwohl sind die Abstände immer noch ausgeprägt. Diese Abweichungen unterstreichen, dass ein Bezug allein auf den Bundesdurchschnitt nicht ausreicht, um die Problemlagen zu erkennen. So zeigen sich bei einer Differenzierung der Risikoquoten nach Bundesländern markante Unterschiede: Die Armutsrisikoquoten in den ökonomisch begünstigten süddeutschen Bundesländern (Bayern und Baden-Württemberg mit 11,7 % und 11,9 %) liegen deutlich unter dem Bundesdurchschnitt, in den ostdeutschen Bundesländern (an der Spitze Sachsen-Anhalt mit 19,5 %) sowie in den west- und norddeutschen Ländern (an der Spitze Nordrhein-Westfalen mit 18,1 %) hingegen deutlich darüber. Im besonderen Maße betroffen ist die Bevölkerung in den Stadtstaaten Bremen, Berlin und Hamburg. Der Befund ist eindeutig: Armutsprobleme konzentrieren sich

Abbildung III.24 Armutsgefährdungsquoten in % der Bevölkerung, Deutschland, alte und neue Bundesländer, 2005 – 2018

Neue Bundesländer

20,4 20

19,2

19,5

19,5

19,5

19,0

19,4

19,6

19,8

19,2

19,7 18,4

17,8

17,5

in % der Bevölkerung

Deutschland

15

14,7

13,2

14,0

14,3

14,4

14,6

14,5

13,3

12,7

12,9

13,1

13,3

2006

2007

2008

2009

15,0

13,8

15,0

13,9

15,5

14,4

15,4

15,7

14,5

14,7

2014

2015

15,7 15,0

15,8 15,3

15,5 15,0

Alte Bundesländer

10

5

0

2005

2010

2011

2012

2013

Quelle: Statistisches Bundesamt (2019), Sozialberichterstattung – Datenbasis: Mikrozensus.

2016

2017

2018

288

Einkommen

auf benachteiligte Regionen und auf den (groß)städtischen Raum. Berlin, Hamburg und Bremen stehen noch nicht einmal an der Spitze, wenn man sich die Verteilung der Armutsrisiken nach Großstädten (über 500 000 Einwohner) anschaut (Abbildung III.25). In Duisburg und Dortmund unterliegt rund ein Viertel aller Einwohner dem Armutsrisiko. Innerhalb der Großstädte verstärken sich seit einigen Jahren die Trends hin zu einer sozial-räumlichen Segregation, es kommt zu Prozessen der sozialen und ethnischen Desintegration und zur Ausgrenzung ganzer Bevölkerungsgruppen. In den benachteiligten, durch schlechte Wohnbedingungen und ein ungünstiges Wohnumfeld geprägten Stadtteilen und Quartieren fällt der Anteil von einkommensschwachen und häufig von Arbeitslosigkeit betroffenen Haushalten hoch aus. Es häufen sich Lebensformen, die ein großes Armutsrisiko (wie Alleinerziehende, alleinlebende Ältere) tragen. Zugleich leben hier überproportional häufig Migranten.

Abbildung III.25 Armutsgefährdungsquoten in Großstädten mit über 500 000 Einwohnern 2018, in % der jeweiligen Bevölkerung

Deutschland

15,5

Neue Bundesländer (inkl. Berlin)

17,5

Früheres Bundesgebiet (ohne Berlin)

15,0

Duisburg

27,4

Dortmund

23,9

Leipzig

22,0

Bremen

21,6

Essen

21,6

Nürnberg

20,6

Hannover

20,6

Köln

20,4

Düsseldorf

20,0

Berlin

18,2

Dresden

15,8

Frankfurt am Main

15,4

Hamburg

15,3

Stuttgart

15,2

München

10,0 0

3

6

9

12

15

18

Quelle: Statistisches Bundesamt (2019), Sozialberichterstattung – Datenbasis: Mikrozensus.

21

24

27

30

Armut in der Wohlstandsgesellschaft

289

7.3.2 Armutsrisiken einzelner Personengruppen

Vom Armutsrisiko sind einzelne Bevölkerungsgruppen, abgegrenzt nach sozio-demografischen und Haushaltsmerkmalen, unterschiedlich stark betroffen. In Abbildung III.26 werden jene Gruppen dargestellt, die besonders hohe, über dem Durchschnitt liegende Risikoquoten aufweisen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass es bei der Darstellung zu mehrfachen Überschneidungen kommen kann. Nur ein Beispiel: Eine alleinerziehende Mutter kann zugleich jung, arbeitslos und gering qualifiziert sein. Arbeitslose Weit oberhalb der Armutsbetroffenheit der Gesamtbevölkerung (15,5 %) liegen vor allem Erwerbslose mit einer Quote von immerhin 57,4 %. Von einem bereits hohen Niveau ausgehend hat das Armutsrisiko von Erwerbslosen seit 2005 nochmals um rund 8 Prozentpunkte zugenommen (vgl. Abbildung III.27). Diese Entwicklung ist nicht zufällig eingetreten, sondern eine Konsequenz der 2005 eingeschlagenen Sozialpolitik: Die Abschaffung der Arbeitslosenhilfe, die Begrenzung der Bezugsdauer der Versicherungsleistung Arbeitslosengeld und die mit verschärften Sanktionen ver-

Abbildung III.26 Armutsgefährdungsquoten von besonders betroffenen Bevölkerungsgruppen 2018, in % der jeweiligen Gruppe

Erwerbslose

57,4

Alleinerziehende

41,5

ohne deutsche Staatsangehörigkeit

34,8

niedrige Qualifikation

31,7

Eltern mit drei oder mehr Kindern

30,0

mit Migrationshintergrund

27,2

18 bis unter 25 Jahre

25,6

Einpersonenhaushalt

25,8

unter 18 Jahre

20,1

Rentner & Pensionäre

16,1

Frauen

16

Insgesamt

15,5 0

10

20

30

40

Quelle: Statistisches Bundesamt (2019), Sozialberichterstattung – Datenbasis: Mikrozensus.

50

60

290

Einkommen

Abbildung III.27 Armutsgefährdungsquoten nach ausgewählten Merkmalen 2005 – 2018 in % der jeweiligen Bevölkerung

60

59,1

57,6

56,0

56,9

57,2

Erwerbslose

42,8

Alleinerziehende

54,0 50

40

49,6

49,4

41,9 39,7

39,3

38,6

37,0 34,3

35,5

32,6

31,7

31,6

30

31,5

20

19,5

21,7

22,4 18,4

18,6

10

0

10,7

2005

14,0

2006

22,7

11,2

2007

12,1

2008

18,2

12,1

2009

12,6

2010

13,8

2011

24,1

24,6

18,7

19

14,2

2012

26,3

25,6

23,8

23,7

22,3

34,8

Ausländer

32,5

25,6 23,2

43,6

41,9

15,2

2013

15,6

2014

2015

Einpersonenhaushalte

26,0

18 bis 25

20,2

20,4

Unter 18

15,9

16,0

Rentner, Pensoionäre

25,5

15,9

26,5

2016

2017

Quelle: Statistisches Bundesamt (2019), Sozialberichterstattung – Datenbasis: Mikrozensus.

bundene Begrenzung der Regelbedarfe des SGB II sollten ja den Druck auf Arbeitslose erhöhen, jedwede Beschäftigung anzunehmen, und den Boden für die Ausweitung des Niedriglohnsektors bereiten. Alleinerziehende und ihre Kinder Auffällig ist zudem die äußerst hohe Armutsrisikoquote von Alleinerziehenden und ihren Kindern: 42,8 % dieser Personengruppe haben ein Nettoäquivalenzeinkommens von weniger als 60 % des Durchschnittseinkommens zur Verfügung. Mit 30,0 % tragen auch Paarhaushalte mit drei und mehr Kindern ein hohes Armutsrisiko. Paarhaushalte mit einem Kind oder zwei Kindern sind hingegen nur unterdurchschnittlich von Einkommensarmut betroffen (vgl. ausführlich zur Familien- und Kinderarmut Kapitel „Familie und Kinder“, Pkt. 5.4). Ausländer:innen Von besonderer Bedeutung ist in jüngster Zeit die Armutsbetroffenheit von Ausländer:innen, also von den Personen, die in Deutschland leben aber nicht die deutsche Staatsbürgerschaft (erworben) haben. Hier steigt die Quote seit 2013 an und erreicht 2018 einen Wert von 34,8 %. Zu erwarten ist, dass sich dieser Anstieg verstärkt fort-

Armut in der Wohlstandsgesellschaft

291

setzen wird, denn der weit überwiegende Teil der Flüchtlinge und Asylbewerber, die seit 2014/2015 nach Deutschland gekommen sind, verfügt nur über ein äußerst geringes Einkommen. Auch die Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz fallen niedrig aus (vgl. Pkt. 6.5 dieses Kapitels). Die Ursachen für die hohe Armutsbetroffenheit von Ausländer:innen wie auch von Personen mit Migrationshintergrund sind vielschichtig: •

• • • •

Soweit die Betroffenen erwerbstätig sind, weisen sie unterdurchschnittliche Verdienste auf. Das liegt an der im Schnitt geringeren schulischen und beruflichen Qualifikation, auch an der fehlenden Anerkennung der Abschlüsse aus anderen Ländern, an der Konzentration der Erwerbstätigkeit auf Niedriglohnbranchen und -berufe sowie auf prekäre Beschäftigungsverhältnisse, an dem späteren Einstiegsalter in die Berufstätigkeit, versperrten Aufstiegschancen und – last but not least – an Formen der offenen und versteckten Diskriminierung. Arbeitslosigkeit und Nichterwerbstätigkeit (insbesondere der Ehefrauen) fallen überdurchschnittlich hoch aus. Die im Schnitt höhere Kinderzahl in den Familienhaushalten führt zu zusätzlichen Einkommensbelastungen. Diese Faktoren sind im Wesentlichen dafür verantwortlich, dass Ausländer:innen überproportional häufig unter den Beziehern von Leistungen nach dem SGB II zu finden sind (vgl. Abbildung III. 15). Von besonderer Bedeutung ist der Tatbestand, dass Flüchtlinge bzw. Schutzsuchende und Asylbewerber – soweit sie Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz beziehen – im Grundsatz keine Erwerbstätigkeit aufnehmen dürfen.

Gering Qualifizierte Bildung ist keine garantierter Schutz vor Armut, aber dennoch ein sehr wichtiger Faktor, um nicht in Armut zu fallen. Differenziert nach der Qualifikation der Personen in den Haushalten ist die Armutsrisikoquote Geringqualifizierter 2018 mit 31,7 % weit höher als wenn die Personen hochqualifiziert sind (5,9 %). Ältere Menschen Das Ausmaß der Altersarmut, also die Armutsrisikoquoten von Rentner:innen und Pensionären (16,1 %) bzw. von Menschen, die ein Alter von 65 Jahren überschritten haben (14,7 %), entspricht in etwa dem Durchschnitt der Gesamtbevölkerung. Allerdings ist nicht zu übersehen, dass die Risikoquote bei den Rentner:innen und Pensionär:innen seit 2005 kontinuierlich steigt. Auch läge die Quote ohne die in aller Regel gut abgesicherten Beamten-Pensionäre, die hier mit den Sozialversicherungsrentner:innen zusammengefasst sind, sicherlich noch merklich höher. Wenn Altersarmut ein drängendes Thema ist, dann liegt dies an dem absehbaren Entwicklungstrend. Die Sorge wächst, dass es angesichts der Strukturbrüche auf dem Arbeitsmarkt einerseits und des sinkenden Rentenniveaus in mittlerer Frist zu einem

292

Einkommen

erheblichen Anstieg der Zahl und der Quote einkommensarmer älterer Menschen kommen wird (vgl. dazu ausführlich Kapitel „Alter“, Pkt. 10.3). Jugendliche und junge Erwachsene Unterscheidet man nach dem Alter, bilden Jugendliche und junge Erwachsene im Alter bis zu 25 Jahren die am stärksten vom Armutsrisiko betroffene Altersgruppe (vgl. Kapitel „Qualifikation“, Pkt. 8.5). Dafür gibt es mehrere Ursachen: •

Studierende, die einen eigenen Haushalt führen, müssen für einige Jahre mit einem geringen Einkommen zurechtkommen. • Der Berufseinstieg nach dem Studium gelingt zwar gut, ist aber mit einem zunächst geringen Verdienst (Praktika, befristete Beschäftigung) verbunden. • Dauerhaft von einer Armutslage sind hingegen jene jungen Menschen betroffen, die eine nur geringe schulische und berufliche Qualifikation aufweisen, keinen gesicherten Zugang zum Arbeitsmarkt finden und in prekären Beschäftigungsverhältnissen zu finden sind. Risikoquoten und Zahl der Betroffenen Aus Risikoquoten allein lassen sich keine Informationen über die absolute Zahl der Betroffenen erkennen. So zählen zur Bevölkerung im Alter von 65 Jahren und älter aktuell rund 17,7 Mio. Menschen. Eine Armutsrisikoquote von rund 15 % bedeutet, dass in absoluten Zahlen etwa 2,7 Mio. Ältere als von Armut bedroht angesehen werden können. Steigt aufgrund der demografischen Entwicklung die Zahl älterer Menschen, führt ein bereits geringer Quotenanstieg zu einer deutlichen Erhöhung der von Armut betroffenen Älteren. Auf der anderen Seite muss bei der sehr hohen und steigenden Armutsgefährdung von Arbeitslosen berücksichtigt werden, dass infolge der rückläufigen Zahl der Arbeitslosen die Zahl der armen Arbeitslosen trotz steigender Quote sinkt. Daraus folgt aber auch, dass die überwiegende Mehrzahl der armutsgefährdeten Personen im Erwachsenenalter nicht arbeitslos ist. 7.4

Grundsicherung und Einkommensarmut

Einen anderen Zugang zur Bestimmung von Niveau und Struktur von in Armut lebenden Personen gewinnt man, wenn als Armutsschwelle nicht ein statistisch ermittelter relativer Einkommensstandard (Abweichung vom Median), sondern mit dem Standard der Grundsicherung eine (sozial)politische Armutsgrenze gewählt wird. Allerdings markiert auch das Grundsicherungsniveau eine relative, am allgemeinen Lebensstandard orientierte Größe. Armut – bezogen auf die Grundsicherung – liegt danach dann vor, wenn Personen mit einem Einkommen unterhalb des Bedarfsniveaus auskommen müssen. Dies betrifft in erster Linie diejenigen, die die Unterstützung durch die Grundsicherung

Armut in der Wohlstandsgesellschaft

293

nicht in Anspruch nehmen, obwohl sie aufgrund ihres geringen Einkommens ein Recht auf aufstockende Hilfe zum Lebensunterhalt hätten (Dunkelziffer der Armut). Umstritten ist die Frage, ob auch jene Personen als einkommensarm einzustufen sind, die Leistungen erhalten und deren Einkommen dadurch das Bedarfsniveau erreicht. Wird also durch die Grundsicherung Armut erfolgreich bekämpft ? Eine pauschale Gleichsetzung des Bezugs von Grundsicherung auf der einen und Armut auf der anderen Seite ist sicherlich unangemessen, da jede Erhöhung des Leistungsniveaus zu einer Erhöhung der Armut und eine Absenkung des Niveaus zu einer Absenkung der Armut führen würde. Denn je höher das Niveau der Grundsicherung bei gegebener Einkommensverteilung liegt, umso mehr Menschen unterschreiten mit ihrem Einkommen die Leistungsschwelle und werden anspruchsberechtigt. Entscheidend kommt es deswegen darauf an, ob die Höhe der Grundsicherung als ausreichend zur Sicherung eines soziokulturellen Existenzminimums angesehen werden kann oder nicht. Wiederum sind Werturteile erforderlich. Bei dieser Einschätzung muss auch beurteilt werden, ob die Umstände des Leistungsbezugs, nämlich strenge Bedürftigkeitsprüfungen, Rückgriff auf unterhaltsverpflichtete Angehörige und Gefahr von Stigmatisierungen, geeignet sind, um die Betroffenen im Selbstbild wie im Fremdbild aus einer Armutslage zu befreien. Vergleicht man das Bedarfsniveau der Grundsicherung mit dem Schwellenwert der relativen Armutsberechnung (Nettoäquivalenzeinkommen von weniger als 60 % des Median-Einkommens), so gibt es – immer bezogen auf gleiche Haushaltstypen – kein eindeutiges Ergebnis. Denn es gibt nicht „das“ Grundsicherungsniveau, sondern in Abhängigkeit von den Kosten der Unterkunft und möglichen Mehrbedarfen unterschiedliche Niveaus. Differenzierte Berechnungen zeigen allerdings, dass das Bedarfsniveau der Grundsicherung für Arbeitsuchende in den meisten Fällen unterhalb der Armutsrisikoschwelle liegt. Deshalb spricht vieles dafür, die Angewiesenheit auf Grundsicherungsleistungen als einen Indikator für Armutsrisiken zu verwenden. Da die Grundsicherungsstatistik der Bundesagentur für Arbeit jeden Landkreis und jede kreisfreie Stadt erfasst, bietet sich hier auch die Möglichkeit, die Grundsicherungsbetroffenheit regional tief aufzuschlüsseln. Einen derartigen Einblick bietet Abbildung III.28, die am Beispiel einzelner Städte und Kreise die extreme Spannweite der Empfängerquoten von Leistungen des SGB II demonstriert. Offensichtlich sind die Städte Gelsenkirchen (24,9 %) und Ingolstadt (5,5 %) „durch Welten getrennt“. Das gleiche gilt beispielsweise für die Landkreise Uckermark (16,5 % und Eichstätt (1,5 %).

294

Einkommen

Abbildung III.28 Empfängerquoten von Leistungen des SGB II in ausgewählten Städten/Kreisen 2018, in % der Bevölkerung zwischen 0 Jahren und der Regelaltersgrenze Deutschland

8,9

Gelsenkirchen

24,9

Bremerhaven

22,9

Wilhelmshaven

20,0

Essen

20,0

Duisburg

18,7

Bremen

17,7

Berlin

17,5

Uckermark

16,5

Offenbach

16,2

Leipzig

13,6

Köln

13,0

Hamburg

12,3

Frankfurt a.M.

11,2

Nürnberg

10,3

Dresden

9,6

Wolfsburg

8,6

Jena

8,2

Münster

8,2

Stuttgart

8,0

München

6,0

Ingolstadt

5,3

Kreis Böblingen

4,3

Bodenseekreis

3,8

Kreis Bayreuth Kreis Freising Kreis Eichstätt

2,7 1,8 1,5

Quelle: Bundesagentur für Arbeit (2019), Statistik der Grundsicherung für Arbeitsuchende.

7.5

Armutslagen in zeitlicher Dimension

Von entscheidender Bedeutung ist die zeitliche Dimension der Armut. Die Messung des zeitlichen Verlaufs, also der Dynamik von Armut, gibt Auskunft über die Chancen und Risiken, in Einkommensarmut abzurutschen bzw. diese Situation zu überwinden und in eine höhere Einkommensposition aufzusteigen. Ein kurzzeitiges Unterschreiten der Armutsgrenze kann leichter ertragen werden als ein mehrjähriger Verbleib in der untersten Einkommensposition. Daher müssen die Querschnittanalysen durch Längsschnittanalysen ergänzt werden. Längsschnittbetrachtungen lassen die individuellen Armutsverläufe, also die Einmündung in die Armut, die Dauer der Armut und die Wege aus der Armut heraus erkennen. Dieser Untersuchung der zeitlichen Dimension von Armut widmet sich vor allem die „dynamische Armutsforschung“. Folgende Ergebnisse, basierend auf den Daten des SOEP, lassen sich festhalten: •

Das Risiko im untersten Einkommenssegment (Quintil) zu verbleiben, hat sich in den zurückliegenden Jahren erhöht. Im oberen Einkommensbereich verringerten sich hingegen die Abstiegsrisiken und der Verbleib in den oberen Einkommens-

Armut in der Wohlstandsgesellschaft





295

schichten nahm zu. Insgesamt sind die Einkommensschichten weniger durchlässig geworden. Im Jahr 2014 waren 48 % aller Personen im untersten Einkommensquintil permanent arm, 40 % erlebten in den zurückliegenden vier Jahren Ein- und Ausstiege in und aus Armut und weitere 12 % befanden sich zuvor nicht im prekären Einkommensbereich. Das Risiko arm zu werden, streut bis weit in mittlere Einkommensschichten hinein. Dies bedeutet, dass sehr viel mehr Menschen in einem Zeitraum von mehreren Jahren zeitweilig von Armut betroffen sind, als dies in den jährlichen Quoten zum Ausdruck kommt. Zwar verringert sich mit zunehmender Höhe des Einkommens der Personenkreis mit Armutserfahrungen. Aber kurzfristige Armutserfahrungen reichen bis in die mittleren Einkommenslagen hinein. Der Anteil an Personen, die im zurückliegenden Zeitraum von vier Jahren mindestens einmal unter der Armutsgrenze lag, hat vor allem in den letzten Jahren stark zugenommen.

So vielfältig die Gründe für einen Zugang in eine Armutslage sind, so unterschiedlich gestalten sich die Bedingungen, die eine – zumindest kurzfristige – Überwindung der Armutslage ermöglichen. Neben den Ereignissen „Tod“ und „Abwanderung“ sind dafür die Faktoren „Arbeitsmarktintegration“, „Erzielung eines ausreichenden Erwerbseinkommens“, „Bezug ausreichender Sozialtransfers“, und „Veränderung der Haushaltskonstellation“ von entscheidender Bedeutung. Im Einzelnen lassen sich folgende Bedingungen, die zugleich auch Ansatzpunkte für die Armutsbekämpfung markieren, benennen. Sie sind nicht als Alternativen zu verstehen, sondern greifen ineinander: • Arbeitsmarktintegration Die Einkommensposition verbessert sich, wenn es gelingt, aus der Situation der Arbeitslosigkeit oder Nicht-Erwerbstätigkeit heraus (wieder) eine Arbeitsstelle zu finden bzw. an einer Beschäftigungsmaßnahme teilzunehmen und ein Erwerbseinkommen zu erzielen. Entscheidend ist, ob die Tätigkeit eine berufliche Perspektive bietet, Aufstiegswege eröffnet und damit zur sozialen Integration beiträgt oder lediglich eine diskriminierende Rand- und Abstellposition darstellt. • Erhöhung des Erwerbseinkommens Durch einen beruflichen Aufstieg, durch Verlängerung der Arbeitszeit (etwa durch den Übergang von einer Teilzeit- zu einer Vollzeitstelle oder durch die Leistung von Überstunden) oder durch die Aufnahme einer Nebenerwerbstätigkeit kann das Erwerbseinkommen aufgestockt werden. • Veränderung der Haushaltskonstellation Durch eine Vergrößerung des Haushaltes und den Zufluss eines weiteren Einkommens, etwa in Folge einer (Wieder)Heirat, kann das verfügbare Pro-KopfHaushaltseinkommen ansteigen. Mit zunehmendem Alter der Kinder können

296

Einkommen

Frauen ihre Erwerbstätigkeit wieder aufnehmen. Erleichtert wird dies durch ein bedarfsgerechtes Angebot an Kinderbetreuungseinrichtungen. Die Erscheinungsformen von Armutslagen sowie deren individuelle und gesellschaftliche Auswirkungen hängen maßgeblich sowohl von der zeitlichen Verlaufsform dieser Lebenssituation als auch von den Bewältigungsstrategien ab. Idealtypisch kann unterschieden werden: •

Schnelle Überwindung der Situation (temporäre Armut) Beispielhaft dafür ist die Situation eines Teils der Arbeitslosen, die zwar ein geringes Einkommen haben und auf aufstockende Leistungen der Grundsicherung angewiesen sind, aber die diese Phase vergleichsweise schnell verlassen, da der berufliche Wiedereinstieg gelingt. Vergleichbar ist die Situation von Jugendlichen, die während ihrer Ausbildung bzw. während ihres Studiums mit einem geringen Einkommen leben müssen, dann aber in den Arbeitsmarkt einmünden. • Unzureichendes Einkommen – aber aktive Gestaltung des eigenen Lebens auch unter eingeschränkten Bedingungen Als typisches Beispiel dafür können Alleinerziehende gelten, die die Armutszone erst verlassen, wenn die Kinder älter geworden sind und sich das Einkommen durch den Wiedereinstieg in den Beruf erhöht. In der Zwischenzeit müssen die Betroffenen zwar mit einer spürbaren Einkommens- und Ressourceneinschränkung leben, und ein Ausweg aus der Einkommensarmut gelingt ihnen wegen der objektiv unüberwindlichen Rahmenbedingungen zunächst nicht. Aber die Lebenslage ist nicht per se mit sozialer Desintegration und individueller Resignation gleichzusetzen, sondern die Einbindung in Netzwerke und die Unterstützung durch Freunde und Familie kann stabilisierend wirken. • Verfestigung von Armut Als besonders problematisch kann der verfestigte Verbleib in der Armut genannt werden. Bei diesem Kreis von Personen, die über Jahre hinweg keinen dauerhaften Ausweg aus der Armutslage finden, handelt es sich um sog. Multiproblemgruppen, bei denen sich Benachteiligungen kumulieren. Beispielhaft dafür steht die Situation von gering qualifizierten, gesundheitlich beeinträchtigten Langzeitarbeitslosen, denen es nur schwer gelingt, einen Kontakt zur Arbeitswelt finden, die unter schlechten Wohn- und Wohnumfeldbedingungen zu leiden haben und die Gefahr laufen politisch, kulturell und sozial isoliert zu werden. Zur reden ist hier von einer sozialen Unterschicht („Prekariat“), die sozial-strukturell wie auch sozial-räumlich ausgegrenzt ist. Diese unterschiedlichen Ausprägungen von Armut beziehen sich auf die divergenten Entstehungsbedingungen, auf die unterschiedlichen Lebens- und Bewältigungsformen der Situation in der Armut und auf die verschiedenen Möglichkeiten, die Situation zu beenden. Hinsichtlich der Bewältigungsformen und -strategien bleibt als

Armut in der Wohlstandsgesellschaft

297

Erkenntnis aus der Armutsforschung festzuhalten, dass die Betroffenen nicht als ausschließlich passive Opfer der eingeschränkten sozialen Verhältnisse und Bedingungen gesehen werden können. Auch Personen bzw. Familien, die als arm bezeichnet werden, verfügen über individuelle Handlungsressourcen und Fähigkeiten, die eigene Lebenssituation zu gestalten und zu verbessern. Der individuelle Handlungs- und Bewältigungsspielraum hängt von vielen Faktoren ab, so u. a. von der Verfügbarkeit über informelle familiäre, nachbarschaftliche und soziale Stütz- und Hilfenetze, von der empfundenen Einschränkung der Unterversorgung, von den wahrgenommenen und selbst vorgenommenen Schuldzuweisungen und von der erwarteten Dauer der Armutslage. Interventionsmaßnahmen der sozialen Arbeit und der Rahmen setzenden allgemeinen Sozialpolitik müssen die Vielgestaltigkeit von Armutslagen berücksichtigen, wenn sie erfolgreich sein sollen. Soziale Arbeit und allgemeine Sozialpolitik haben je nach Situation verschiedene, sich ergänzende Aufgabenfelder. Die Betroffenen in ihren Handlungsressourcen zu unterstützen, ein Abgleiten in Resignation und Apathie zu vermeiden, ist Aufgabe der sozialen Arbeit mit ihren dienstleistenden und pädagogischen Handlungsstrategien. Aufgabe der Sozialpolitik ist es, durch Einkommens-, Infrastruktur-, Qualifizierungs- und arbeitsmarktpolitische Strategien bessere Rahmenbedingungen zu setzen. Diese Rahmenbedingungen sind nicht nur für den Austritt aus der Armut entscheidend, sie haben vor allem eine präventive Funktion, um das Abrutschen immer neuer Personengruppen in Armut und Ausgrenzung zu verhindern. Einige der Betroffenen benötigen „nur“ bessere Möglichkeiten zur Erwerbsintegration und ein gesichertes Einkommen, während für andere Gruppen diese Maßnahmen zwar wichtig, aber keinesfalls ausreichend sind. Diese Bewältigungsstrategien müssen vor Ort ansetzen, in den sozial benachteiligten Stadtteilen und Wohngebieten. Zivilgesellschaftliche Hilfen haben hier ihre Bedeutung, sie können und sollen (sozial)staatliche Leistung allerdings nicht ersetzen. Die Praxis der Tafeln ist dafür das prominenteste Beispiel: Durch die kostenlose Verteilung von Lebensmitteln (die ansonsten vernichtet würden) an „Bedürftige“ können Armutslagen gelindert werden. Gleichwohl müssen die Regelbedarfe der Grundsicherung so hoch angesetzt werden, dass eine ausreichende und gesunde Ernährung gewährleistet ist. 7.6

Armut in Europa

Die Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung zählt zu einem der zentralen sozialpolitischen Ziele, zu denen sich die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union verpflichtet haben. Im Rahmen der „Methode der offenen Koordinierung“ (vgl. Kapitel „Sozialpolitik und soziale Lage“, Pkt. 8) werden die jeweiligen nationalen Aktionspläne zur Armutsbekämpfung auf der Grundlage gemeinsamer Ziele und Indikatoren abgestimmt.

298

Einkommen

Die Indikatoren, an denen Zielerreichung bzw. -verfehlung gemessen werden können und die Anstöße für armutspolitische Strategien geben sollen, setzen sich aus einem breiten Spektrum von Verteilungsdaten zusammen. Diese werden für alle Länder von Eurostat auf der Datenbasis von EU-SILC (European Union Statistics on Income and Living Conditions) veröffentlicht und verglichen. Neben der Armutsgefährdungsquote als rein monetären Armutsindikator berücksichtigt der Indikator „Armut oder soziale Ausgrenzung“ zusätzlich zwei materielle Armutsgefährdungslagen: • Anteil der Personen, die in einem Haushalt mit sehr geringer Erwerbsbeteiligung leben. • Anteil der Bevölkerung mit erheblicher materieller Entbehrung und Deprivation. Zu den Kriterien zählen u. a. Mietrückstände, unzureichende Heizung, das Fehlen von PKW, TV, Telefon, Waschmaschine. Armut oder soziale Ausgrenzung sind bei EU-SILC dann gegeben, wenn eines oder mehrere der drei Kriterien „Armutsgefährdung“, „erhebliche materielle Entbehrung“ bzw, „sehr geringe Erwerbsbeteiligung“ vorliegen. Der Grenzwert, dessen Unterschreitung die monetäre Armutsgefährdung signalisiert, wird bei 60 % des Medians der nationalen Einkommen angesetzt. Die Bedarfsgewichte richten sich nach der Skala 1,0 : 0,5 : 0,3 (Ernährer : weitere Personen mit 14 Jahren und mehr : Kinder unter 14 Jahren). Wie aus Abbildung III.29 zu erkennen ist, waren 16,9 % der EU-Bevölkerung im Jahr 2018 durch Einkommensarmut gefährdet. Das Ausmaß der Armut unterscheidet sich zwischen den Ländern der Union allerdings sehr stark; das Risiko reicht von 9,6 % in Finnland bis 23,5 % in Rumänien. Ordnet man die länderspezifischen Armutsquoten nach Wohlfahrtsstaatstypen, fällt auf, dass sich besonders hohe Betroffenheiten in den osteuropäischen Staaten aber auch in Südeuropa finden Auf der anderen Seite liegen die Armutsquoten in den Ländern des skandinavischen-sozialdemokratischen und auch des konservativen „Bismarck-Typs“ unterhalb des EU-Durchschnitts. Deutschland befindet sich am unteren Ende dieser Staaten. Die Werte des Indikators „Armut oder soziale Ausgrenzung“ liegen in allen Ländern noch oberhalb des rein monetären Indikators „Armutsgefährdung“. Sie erreichen 23,5 % in der EU-28 insgesamt und in Rumänien gar 35,7 %.

Reichtum: Spitzeneinkommen und Vermögen

299

Abbildung III.29 Armutsrisikoquoten in ausgewählten Ländern der EU 28, 2018 Tschechien

9,6

Finnland

12,0

Dänemark

12,7

Frankreich*

13,3

Niederlande

13,3

Deutschland

16,0

Schweden

16,4

EU 28*

16,9

Griechenland

18,5

Kroatien

19,3

Italien

20,3

Spanien

21,5

Bulgarien

22,0

Lettland

23,3

Rumänien

23,5 0

5

10

15

20

25

* 2017 Quelle: Eurostat (2019), Datenbasis: EU-SILC.

8

Reichtum: Spitzeneinkommen und Vermögen

Wer über ein sehr hohes Einkommen verfügt, ist kaum auf die Leistungen des Sozialstaates angewiesen. Auch hohe Vermögensbestände lindern soziale Probleme, die bei den Wechselfällen des Lebens auftreten können. Vermögen dient als Quelle für ein arbeitsfreies Einkommen, wenn den Inhabern der Vermögenstitel Zinsen, Dividenden oder Mieten zufließen. Sachvermögen hat einen Nutzungswert, und Wohneigentum ersetzt Mietzahlungen. Vermögen kann schließlich durch Verkauf verwertet und dem laufenden Konsum zugefügt werden. Der weit überwiegende Teil der Bevölkerung verfügt aber weder über ein Spitzeneinkommen noch über ein so hohes Vermögen, dass ein sorgen- und arbeitsfreies Leben möglich ist. Und wenn die Schulden überwiegen, errechnet sich sogar ein „Negativ“-Vermögen. Reichtum durch hohes Einkommen und Vermögen konzentriert sich auf wenige Menschen und Haushalte und ist insofern auch kein Thema, das in der Sozialpolitik Handlungsbedarf auslösen müsste. Allerdings stellt sich angesichts einer ungleichen Verteilung von Einkommen und Vermögen immer die Frage nach der Verteilungsgerechtigkeit: Ist Armut Spiegelbild und Folge von Reichtum auf der anderen Seite ? Könnten oder sollten durch eine stär-

300

Einkommen

kere Besteuerung der reichen Personen und Haushalte Mittel für höhere öffentliche Einnahmen und für die Finanzierung von Sozialleistungen gewonnen werden ? Wie lässt sich die wirtschaftliche und politische Macht, die mit großen persönlichen Vermögen verbunden ist, begrenzen ? Einkommensreichtum Ab welchem Schwellenwert übersteigt ein hohes Einkommen die Grenze zum Reichtum ? Der Ansatz, Reichtumsquoten analog zu Armutsquoten zu berechnen und dafür das Überschreiten des Zweifachen des mittleren Einkommens (Median) anzusetzen, ist mittlerweile gängig, bleibt aber fragwürdig. Denn nach den Befunden des Mikrozensus würde hier das Nettoäquivalenzeinkommen für einen Einpersonenhaushalt nur bei etwa 3 200 Euro im Monat liegen, so dass wohl kaum von Reichtum gesprochen werden kann. Angemessen wäre eher der Begriff „gehobener Wohlstand“. Gleichwohl ist zu sehen, dass nur etwa 8 % der Bevölkerung in diese Gruppe fallen, darunter befinden sich überproportional häufig Menschen im mittleren Erwerbsalter und vor allem Selbstständige. Noch sehr viel kleiner ist dagegen der Kreis jener, deren jährliches verfügbares Einkommen im sechsstelligen Eurobereich liegt oder diesen Betrag noch übersteigt. Indes ist die Größenordnung der so definierten „Reichen“ aus den umfragebasierten Datenquellen nicht abbildbar, da die Betroffenen von der Stichprobe nur unzulänglich erfasst werden und weil darüber hinaus kaum korrekte Angaben erwartet werden können. Vermögensverteilung Die Kenntnis über Niveau und Verteilung der privaten Vermögensbestände ist äußerst unzureichend. Empirische Daten über die Vermögensverteilung sind noch lückenhafter, unzuverlässiger und in der Regel älter, als dies bei der Einkommensverteilung der Fall ist. Daten über die Verteilung des Produktiv- bzw. Betriebsvermögens auf Haushalte oder Personen liegen überhaupt nicht vor. Dies ist vor allem eine Folge des Umstands, dass es eine amtliche Vermögenserfassung nicht gibt und dass bei Haushaltsbefragungen die Frage nach den Vermögensbeständen eine äußerst sensible ist – auch hier sind Antwortverweigerungen oder Fehlangaben gängige Reaktionen. Vermögen ist dabei eine Art „geronnenes“ Einkommen, also eine Bestands- und keine Stromgröße. Zwischen beiden besteht ein wechselseitiger Zusammenhang: Wer viel verdient, ist einerseits in der Lage zu sparen und so Vermögen zu bilden. Andererseits führt Vermögen zu Erträgen. Zinsen, Mieten, Gewinne werden zu Einkommen. Das Vermögen der privaten Haushalte untergliedert sich nach folgenden Vermögensarten: • •

Gebrauchsvermögen, Geldvermögen,

Reichtum: Spitzeneinkommen und Vermögen

• •

301

Immobilienvermögen, Betriebsvermögen (Eigentum/Eigentumsanteile an Unternehmen, Aktien).

Auf der Grundlage der Daten aus dem Sozio-ökonomischen Panel ergibt sich für 2017, dass die Vermögensbestände in einem extremen Maße ungleich verteilt sind und sich auf wenige Personen konzentrieren (vgl. Abbildung III.30). Während die Personen in der unteren Hälfte der Verteilung nur über rund 1 % des gesamten Nettovermögens verfügen, finden sich in der Hand der vermögensstärksten 10 % der Personen mehr als die Hälfte des gesamten Nettovermögens (56,1 %). Auch bei einer Analyse der Vermögensverteilung auf der Ebene der Haushalte wiederholt sich das Bild (Abbildung III.30). Nach den Ergebnissen der Einkommenund Verbrauchsstichprobe (EVS) für das Jahr 2013 vereinigen die obersten 10 % der Haushalte 51,9 % % des gesamten Nettovermögens auf sich. Die unteren 50 % (Dezil 1 bis Dezil 5) aller Haushalte besaß demgegenüber nahezu kein Vermögen (Anteil von 0,9 %). Die unteren 10 % der Haushalte sind im Gegenteil durch Verschuldung belastet. Im Vergleich der zurückliegenden Jahre haben sich diese Disproportionen sogar noch verschärft.

Abbildung III.30 Verteilung der individuellen Nettovermögen 2017 und der Nettovermögen der Haushalte 2013, untergliedert nach Dezilen in % Nettovermögen der Personen 2017 (Datenbasis SOEP) 60 56,1

50 40 30 20 19,5

10 0

0 -10

0,2

0,7

1,7

3,8

7,2

12

-1,2

Nettovermögen der Haushalte 2013 (Datenbasis EVS)

60 50

51,9

40 30 20 10 0

-1,5

0

0,1

0,6

1,7

1

2

3

4

5

4,1 6

21,7 8,0 7

13,4 8

9

10

-10 Dezile

Quelle: Grabka, M., Halbmeier, Ch. (2019), Vermögensungleichheit in Deutschland, DIW-Wochenbericht 40/2019; Bundesministerium für Arbeit und Soziales (2016), Fünfter Armuts- und Reichtumsbericht, S. 507.

302

Einkommen

Wenig überraschend ist der Befund, dass die Höhe des Vermögens eng von der Höhe des laufenden Haushaltseinkommens und vom Lebensalter abhängt. Da Vermögensbildung ein langfristiger Prozess im Lebensverlauf ist, ergeben sich Unterschiede schon allein durch die verschiedenen Positionen der Haushalte im Lebens- und Familienzyklus. Darüber hinaus verfügen Paare auf Grund ihres höheren Einkommens im Vergleich zu allein lebenden Personen über durchschnittlich höhere Vermögen, während Alleinerziehende ein geringeres Vermögen haben. Durch Erbschaften wird diese Ungleichverteilung nicht eingeebnet, sondern fortgesetzt, da der Sozial- und Einkommensstatus der erbenden Kinder nicht wesentlich von dem ihrer Eltern abweicht. Nach sozialen Gruppen betrachtet sind es insbesondere die Selbstständigenhaushalte, die hohe Vermögensbestände aufweisen. Und regional betrachtet, fallen die Vermögensbestände in den neuen Bundesländern erheblich niedriger aus als die in den alten Bundesländern. Nur in Bezug auf das Vermögen an Immobilien zeigt sich eine etwas gleichmäßigere Struktur: 2016 verfügte immerhin knapp die Hälfte der Haushalte (48,8 %) über Wohneigentum (Datenbasis SOEP). Berücksichtigt man allerdings den Wert der Immobilien (Verkehrswert), dann zeigt sich auch hier eine weit größere Spannweite. Es liegt zudem auf der Hand, dass einkommensschwache Haushalte (60 % des Median) mit 11,8 % nur selten Wohneigentum aufweisen. Bei hohem Einkommen (200 % des Median) sind es demgegenüber 77 %

9

Reformoptionen

Das System der sozialen Sicherung in Deutschland steht seit Jahren in der kritischen wissenschaftlichen und politischen Diskussion. Die Auseinandersetzung greift weit über Detailprobleme hinaus und bezieht sich auch auf die Grundsatzfragen, ob das bestehende System mit seinen Leistungs- und Gestaltungsprinzipien so wie bisher weitergeführt werden kann und sollte oder ob angesichts der tiefgreifenden ökonomischen, demografischen und sozialen Umbrüche Strukturreformen bis hin zu einer grundsätzlichen Revision erforderlich sind. Thematisiert wird zum einen die Leistungsfähigkeit der Sozialpolitik: Werden mit der gegenwärtigen Ausgestaltung des Systems die sozialpolitischen Ziele erreicht oder verfehlt und welche Veränderungen sind erforderlich ? Zum anderen wird die Debatte aber auch durch Finanzierungsüberlegungen bestimmt: Ist die gegenwärtige Sozialpolitik in Zukunft noch finanzierbar, haben bestimmte Finanzierungsformen positive oder negative gesamtwirtschaftliche Rückwirkungen und welche Finanzierungsalternativen bieten sich an (vgl. Kapitel „Ökonomische Grundlagen und Finanzierung“, Pkt. 7.1) ? Diese beiden Diskussionsstränge, die in diesem Handbuch aus analytischen Gründen in den jeweiligen Kapiteln gesondert behandelt werden, lassen sich in der Realität aber nicht getrennt voneinander betrachten, denn eine bestimmte Sicherungsform verlangt auch nach einer bestimmten Finanzierungsform und umgekehrt. So

Reformoptionen

303

fundieren Sozialversicherungssysteme mit einkommensbezogenen Leistungs- bzw. Lohnersatzansprüchen zwingend auf einer ebenfalls einkommensbezogenen Beitragsfinanzierung. Ein ausschließlich steuerfinanzierter Sozialstaat wiederum führt auf der Leistungsseite zu Versorgungs- oder Fürsorgesystemen. Zugleich ist zu berücksichtigen, dass die Debatte über Alternativen nicht nur eine Frage der System- und Finanzierungsarchitektur ist, sondern ganz zentral auch von der Art und Gewichtung grundlegender sozialpolitischer Ziele bestimmt wird. So wird die Zielvorstellung „Bedarfsgerechtigkeit“ und „sozialer Ausgleich“ zu anderen Bewertungen des gegenwärtigen Systems und anderen Reformvorstellungen führen als die Zielvorstellung „Leistungsgerechtigkeit“ und „individuelle Freiheit“. Die Liste von Reformvorstellungen ist lang und beherrscht schon seit vielen Jahren die sozialpolitische Debatte. Am weitreichendsten ist sicherlich der Ansatz eines „bedingungslosen Grundeinkommens“ (BGE), der auf kurz oder lang zu einem Totalumbau des gegenwärtigen Systems der sozialen Sicherung führen würde. Wenn im Folgenden die Auseinandersetzung um ein solches Konzept aufgegriffen wird, so soll nicht nur dessen ökonomisch-finanzielle Machbarkeit hinterfragt werden. Aufgrund des umfassenden Ansatzes bündeln sich hier die unterschiedlichen Wertvorstellungen und Leitbilder über die zukünftige Gestaltung des Sozialstaates, die auch in anderen sozialpolitischen Reformvorschlägen vertreten werden. Immer geht es um folgende Fragen: • Zusammenspiel von Markt, Staat und Gesellschaft, • Stellenwert von Erwerbsarbeit, • Ausgestaltung des Arbeitsmarktes in Richtung Regulierung oder Deregulierung, • Verhältnis von individueller Vorsorge und solidarischer Absicherung, • Gewichtung von Privatversicherung und Sozialversicherung, • Bedeutung von Leistungs-und Bedarfsgerechtigkeit. 9.1

Bedingungsloses Grundeinkommen

Die wissenschaftlichen wie politischen Modelle eines BGE sind in ihrer Zahl kaum überschaubar und jeweils unterschiedlich detailliert formuliert. Auffällig ist, dass die Vorschläge sehr unterschiedlichen politischen/theoretischen Lagern zuzuordnen sind. Das Spektrum reicht von sozialutopischen, emanzipatorischen und sich „links“ verstehenden Konzepten bis hin zu rein neoliberalen, marktradikalen Ansätzen. Gleichwohl lassen sich hinsichtlich des Grundgedankens Gemeinsamkeiten feststellen: Das BGE • versteht sich als eine pauschale Geldleistung, die allen Bürger:innen zusteht, • ist nach dem Individualprinzip ausgestaltet, • setzt keinerlei Bedingungen oder Gegenleistungen,

304

Einkommen

• wird unabhängig sowohl von der Höhe des Einkommens der Bürger:innen als auch von der Bereitschaft zur Arbeitsaufnahme gezahlt, • führt damit zu einer grundsätzlichen Entkopplung von Erwerbsarbeit und Einkommen. Die Zielsetzungen eines solchen neuen Sozialstaatsmodells lassen sich zu folgenden vier Hauptpunkten zusammenfassen: •

Entschlackung des komplexen, hochgradig ausdifferenzierten und bürokratisierten Systems der sozialen Sicherung, insbesondere der fürsorgerechtlichen und einkommensgeprüften Systeme, durch eine einfache, repressionsfreie und administrativ unaufwändige Einkommensleistung, • Gewährleistung eines auskömmlich hohen, existenzsichernden Einkommens für alle, ohne die Verpflichtung zur Erwerbsarbeit, als ein allgemeines Bürgerrecht, das Freiheit und Individualität ermöglicht. Jeder soll und kann sein Leben selbst gestalten, ob mit oder ohne Erwerbsarbeit. • Vermeidung und Beseitigung von Armutslagen und von Problemen der Nicht-Inanspruchnahme (Dunkelziffer) bisheriger Sozialleistungen durch eine voraussetzungslose Zahlung des BGE an alle, • Befreiung von der Geißel ‚Arbeitslosigkeit‘ und dauerhafte Entlastung des Arbeitsmarktes durch die Funktion des Grundeinkommens als Alternative zur Erwerbsarbeit bzw. zur Vollzeitarbeit. Die Frage ist, ob diese Ziele mit dem BGE erreicht werden können. Entscheidend sind die Details. Denn erst die konkrete Ausgestaltung entscheidet darüber, wie ein BGE finanziert werden kann und wie es sich auf die Einkommens- und Lebenslage einzelner Bevölkerungsgruppen auswirkt. Diese Auswirkungen können sich – beabsichtigt oder unbeabsichtigt – auf das gesamte Sozialsystem und auf angrenzende Bereiche erstrecken, so auf den Arbeitsmarkt, die Arbeitsverhältnisse, die öffentlichen Haushalte, die Entwicklung von Produktivität und Wachstum, und Anstoß zu einem grundsätzlichen Wechsel des wohlfahrtsstaatlichen Arrangements geben. Bei Grundeinkommenskonzepten, die sich auf bestimmte Altersgruppen der Bevölkerung beschränken, handelt es sich im Wesentlichen um die Einführung einer Kindergrundsicherung (vgl. dazu Kapitel „Familie und Kinder“, Pkt. 11) und die Bürgerrente (vgl. Kapitel „Alter“, Pkt. 13). Im Folgenden geht es um zentrale Aspekte der umfassenden BGE-Modelle. Leistungshöhe Das Kriterium der Bedingungslosigkeit steht und fällt mit der Höhe des Leistungsanspruchs bei einem BGE. Es ist nämlich etwas grundsätzlich anderes, ob lediglich ein Minimalbetrag gezahlt wird, der das aktuelle Niveau der Grundsicherung noch deutlich unterschreitet oder ob die Leistung ausreichend hoch ist, um eine gleichbe-

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rechtigte Teilhabe an der Gesellschaft zu ermöglichen. Minimalbeträge sind typisch für Vorstellungen aus dem wirtschaftsliberalen Raum; sie führen im Ergebnis dazu, dass Erwerbstätigkeit unter allen Umständen notwendig wird. Die Menschen sind dadurch gehalten – nicht administrativ durch Zumutbarkeits- und Sanktionsregelungen, sondern durch den ökonomischen Zwang – hinzuzuverdienen, um das sozial-kulturelle Existenzminimum zu erreichen. Von diesen marktradikalen Vorstellungen eines residualen Sozialstaats unterscheiden sich die „emanzipatorischen“ Konzepte eines BGE grundlegend, wollen diese doch den Zwang zur Lohnarbeit abschaffen und selbstbestimmte Arbeits- und Lebensformen möglich machen. Das setzt einen hohen Leistungsbetrag voraus. Grundlegend ist, dass es sich hierbei um einen kopfbezogenen Pauschalbetrag (mit wenigen Ausnahmen) handeln soll, der dann die bisherigen einkommensabhängigen Transfers und das Kindergeld ablöst. Um Verschlechterungen gegenüber dem aktuellen Niveau der Grundsicherung zu vermeiden, müsste diese Pauschale, die ja nicht nach der Haushaltszusammensetzung und den tatsächlichen Wohnkosten unterscheidet, jeden Einzelfall abdecken. Es kommt hierbei vor allem auf die Kosten der Unterkunft an. In Gebieten mit einem sehr hohen Niveau der Unterkunftskosten kann deshalb der Gesamtbedarf für einen Ein-Personen-Haushalt – einschließlich möglicher Sonder- und Mehrbedarfe (für Allerziehende oder Menschen mit Behinderungen) durchaus den Betrag von 1 100 Euro im Monat erreichen. Kosten und Gegenfinanzierung Wie hoch im Einzelnen der Leistungsbetrag eines BGE auch immer festgesetzt wird – es geht kein Weg daran vorbei, dass ein solcher, der gesamten Bevölkerung zufließender Pauschalbetrag ungeheuer kostenintensiv ist. Bei einer Bevölkerungszahl von etwa 82,7 Millionen (2018) errechnet sich bei einer Leistung von 1 100 Euro ein Ausgabevolumen von rund 1 Billion Euro. Wenn man den reduzierten Betrag von 550 Euro von Kindern unterhalb des vollendeten Alters von 16 Jahren (rund 11,5 Mio. Personen) herausrechnet, sind es immer noch gut 850 Mrd. Euro. Um diese Dimensionen bewerten zu können: Das Volkseinkommen, das nach der Systematik der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung als Verteilungssumme zur Verfügung steht, erreicht einen Wert von etwa 2,5 Billionen Euro. Die Summe aller Sozialausgaben (Sozialbudget) beziffert sich auf 1 Billion Euro. In den Finanzierungsrechnungen eines BGE wird in der Regel davon ausgegangen, dass damit die Förder- und Fürsorgesysteme wie Arbeitslosengeld II, Sozialgeld, Kinderzuschlag, Sozialhilfe, Eingliederungshilfe, Teilhabeleistungen, Wohngeld, Kindergeld, Ausbildungsförderung, Elterngeld und Unterhaltsvorschuss zu einer einzelnen Leistung zusammengefasst werden können. Damit könnten rund 180 Mrd. Euro eingespart werden (vgl. Kapitel Ökonomische Grundlagen und Finanzierung“, Pkt. 2.1). Vernachlässigt wird bei dieser Berechnung, dass sich die Förder- und Fürsorgesysteme keineswegs auf die Zahlung von Geldleistungen beschränken. Denn so wichtig ein ausreichend hohes Einkommen auch ist, zur Vermeidung von Armut und sozia-

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ler Ausgrenzung sowie zur Sicherstellung von sozialer Teilhabe, gesellschaftlicher Integration und Inklusion bedarf es mehr als die Zahlung von Geldbeträgen. Deswegen spielen im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe, der Sozialhilfe, der Grundsicherung für Arbeitsuchende und der Rehabilitation und Teilhabe der Menschen mit Behinderung die Angebote an sozialen Dienstleistungen und Einrichtungen eine zentrale Rolle. Erforderlich ist ein breites, auf unterschiedliche Lebenslagen und -phasen abgestelltes Spektrum von Förderung, Beratung, Unterstützung, Vermittlung, Betreuung, Erziehung und Bildung. Kritik an der Ausrichtung des SGB II ist es ja gerade, dass die im Kontext des Ansatzes von Fördern und Fordern praktizierte Politik die Förderelemente vernachlässigt. Das betrifft nicht nur die arbeitsmarktpolitischen Leistungen (Vermittlung, Beratung, Qualifizierung), sondern gleichermaßen auch die kommunalen Eingliederungsleistungen wie Kinderbetreuung, Pflege von Angehörigen, Sucht- und Schuldnerberatung, psychosoziale Betreuung. Wenn das Gesamtangebot von sozialen Diensten und Einrichtungen aufrecht erhalten werden soll, dann stehen die Sach- und Dienstleistungen der Sozialhilfe, der Kinder- und Jugendhilfe und die Eingliederungsleistungen der Grundsicherung nicht zur Gegenfinanzierung zur Verfügung. Der Einsparbetrag durch ein BGE würde sich – grob gerechnet – auf rund 90 Mrd. Euro reduzieren. Abbau der Sozialversicherung ? Angesichts der finanziellen Dimensionen gehen die neoliberalen Modelle nicht nur von deutlich niedrigeren Leistungssätzen aus. Hinzu kommt die Vorstellung, dass mit der Zahlung eines pauschalen Geldbetrages auch das Sicherungsnetz der Sozialversicherung deutlich reduziert oder gänzlich ersetzt werden kann. Vorgeschlagen wird, die Leistungen auf ein Mindest- oder Basisniveau zu senken, um durch Ausgabensenkungen die Finanzierung zu erleichtern und gleichzeitig den Angeboten der Privatversicherungen einen größeren Raum zu geben. Die Betroffenen sollen sich privat absichern (in der Kranken- und Pflegeversicherung mit einer einkommensunabhängigen Kopfpauschale), was zu enormen Mehrbelastungen gerade im unteren Einkommensbereich führen und den Wert eines BGE deutlich mindern würde. Zugleich soll der Sektor der Erwerbsarbeit dereguliert werden, denn – so die Argumentation – Einkommensausfälle bei Krankheit, Niedriglöhne, ungünstige Arbeitsbedingungen und -verhältnisse und selbst Kündigungen und Arbeitsplatzverlust verlieren ihren Schrecken, da das Grundeinkommen immer für eine Absicherung sorgt. Einkommensanrechnung durch Besteuerung Das BGE soll unabhängig von einer Einkommensprüfung an alle Bürger:innen ausgezahlt werden. Auch jene erhalten damit eine staatliche Zuwendung, die aufgrund ihres Erwerbseinkommens (Einkommen aus abhängiger Tätigkeit, aus Gewinnen und Vermögen) diese Zahlung überhaupt nicht brauchen. Da sich das zur Verteilung stehende reale Volkseinkommen nicht plötzlich durch ein BGE um 850 Mrd.

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bis 1 Billion Euro erhöht (oder ein Inflationsschub ausgelöst wird), muss der Rest aus dem Steuersystem aufgebracht werden. Das gesamte Steueraufkommen liegt aber (2017) „nur“ bei 735 Mrd. Euro und muss für die Ausgaben des Staates (Bund, Länder und Gemeinden) insgesamt – also für Bildung, Wissenschaft, Forschung, innere und äußere Sicherheit, Verwaltung und Personal, Infrastruktur, Verkehr, Umwelt, Zuschüsse an die Sozialversicherungsträger usw. – eingesetzt werden und steht damit nicht zur Verfügung. Deshalb ist es zwingend erforderlich, noch zusätzlich ein weitaus höheres Steueraufkommen zu erzielen. Bezieht man sich nicht auf die Umsatzsteuer und spezielle Verbrauchsteuern, die ja auf die Preise abgewälzt werden und zu entsprechenden Kaufkraftverlusten führen, sondern auf die Steuern vom Einkommen (Aufkommen 2017: 330 Mrd. Euro), müssten die Steuersätze, die dann jenseits des BGE einsetzen, drastisch angehoben werden, um Zusatzeinnahmen in der erforderlichen Größenordnung zu erzielen. Hinzu kämen dann noch die Arbeitnehmerbeiträge zur Sozialversicherung (20 % des Bruttoeinkommens). Diejenigen, die über ein Erwerbseinkommen verfügen, würden zwar das BGE erhalten, müssten aber sofort sehr hohe Steuern abführen. Es kommt also zu einem enormen Umverteilungsvorgang in den oben skizzierten Größenordnungen. Vermeiden ließe sich dieser Effekt, wenn die Einkommensanrechnung im Sinne einer negativen Einkommensteuer bereits vor der Zahlung des BGE erfolgt. Das BGE fließt danach, in Form einer Negativsteuer vom Finanzamt ausgezahlt, nur jenen zu, deren Gesamteinkommen sich im unteren Bereich befindet, während mit steigendem Einkommen die Zuwendungen auslaufen und oberhalb eines Schwellenwerts dann Steuern an das Finanzamt gezahlt werden müssten. Die Größenordnung des Kreises der Nettoempfänger:innen einerseits und der Nettozahler andererseits hängt von der Höhe des Steuersatzes, der Höhe des BGE und dem Wegfall von anderen Sozialleistungen ab. Je niedriger der Steuersatz (einen Grundfreibetrag wird es logischerweise nicht mehr geben), umso mehr weitet sich der Kreis der Personen aus, die noch eine Aufstockung bzw. Erhöhung ihres Einkommens erhalten. Bei einem pauschalen Steuersatz von beispielsweise 50 % und einem BGE in Höhe von 1 000 Euro würde der Kreis der Nettoempfänger:innen bis zu einem Monatseinkommen von 2 000 Euro reichen. Das macht es im Unterschied zum gegenwärtigen Erwerbstätigenfreibetrag im SGB II zwar attraktiv, zum BGE noch hinzuzuverdienen, aber das Einnahmevolumen bleibt entsprechend niedrig und reicht keineswegs um die Kosten der BGE zu decken. Je stärker aber das zusätzliche Einkommen weggesteuert wird, d. h. je höher die sog. Entzugsrate ausfällt, desto weniger lohnt es sich hinzuzuverdienen. Es wäre dann attraktiver, nicht oder nur für eine begrenzte Stundenzahl zu arbeiten oder auf Schwarzarbeit auszuweichen. Solange es trotz des BGE noch die Sozialversicherung gibt, müssten neben den Steuern ja auch noch die Sozialversicherungsbeiträge gezahlt werden, mit der Folge einer weiteren Erhöhung der Entzugsrate. Offen bleibt dabei, ob die Beitragseinnahmen, die sich dann ja nur auf das Einkommen oberhalb

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des BGE beziehen, überhaupt ausreichen, um die laufenden Ausgaben der Sozialversicherung zu decken. Im Ergebnis zeigt sich, dass von „Bedingungslosigkeit“ im Sinne von Einkommensunabhängigkeit keine Rede sein kann. Es wird nicht jede und jeder begünstigt, sondern es kommt zu einer massiven Umverteilung des Volkseinkommens, bei der je nach steuerpolitischer Ausgestaltung im Einzelnen zu prüfen ist, wer zu den Nettoempfänger:innen und wer zu den Nettozahler:innen gehört. Angesichts der Dimensionen des Finanzierungsbedarfs ist es aber unvermeidbar, dass bereits ab der unteren Mitte der Erwerbseinkommenspyramide die Belastungen überwiegen. Befreiung von Erwerbsarbeit ? Das Prinzip der Bedingungslosigkeit eines hohen, emanzipatorischen BGE soll zu einer völligen Unabhängigkeit des Leistungsanspruchs und -bezugs von der Erwerbsbereitschaft führen. Das bisher für den Sozialstaat leitende Prinzip, dass vorausgesetzt bzw. finanziell honoriert wird, den Lebensunterhalt durch eine Erwerbstätigkeit erwirtschaften und dass erst dann, wenn dies nicht (mehr) möglich oder zumutbar ist, Anspruch auf Sozialleistungen besteht, wird gleichsam umgedreht. Arbeiten im niedrigen Stundenbereich und auch das „Nichtstun“ gelten vielmehr als wünschenswerte Norm, die dazu beitragen soll, das Arbeitsangebot auf dem Arbeitsmarkt zu begrenzen und Arbeitslosigkeit zu vermeiden oder zu bekämpfen. Wie groß der Personenkreis der Menschen sein wird, die nur vom BGE leben und sich vom Arbeitsmarkt (temporär oder dauerhaft, partiell oder vollständig) zurückziehen oder ihre Arbeitszeit stark einschränken, ist schwer einzuschätzen. Allerdings steht und fällt die Durchsetzbarkeit der Vorstellungen damit, dass die Alternative „Grundeinkommensbezug statt Erwerbstätigkeit“ in der Realität nicht oder nur sehr begrenzt greift. Denn der Ausstieg nicht nur einer Minderheit aus der Erwerbsarbeit stellt die Finanzierbarkeit des (Sozial)Staats vor unlösbare Probleme. Je höher das BGE ausfällt und je attraktiver es als Alternative zur Erwerbstätigkeit ist, desto stärker werden bei einer Gegenfinanzierung die Belastungen bei denjenigen ausfallen, die als Erwerbstätige und Bezieher von Erwerbseinkommen über Steuern zur Finanzierung des BGE herangezogen werden. Die Nettoeinkommen geraten unter einen zunehmenden Druck und die Aufnahme von Erwerbsarbeit wird sich für einen wachsenden Kreis von Beschäftigten kaum noch rechnen, was wiederum den Rückzug aus dem Arbeitsmarkt verstärken würde. Da aber – trotz aller Produktivitätsfortschritte – Erwerbsarbeit notwendig ist und bleibt, um eine hohe Wertschöpfung zu erreichen, das gesellschaftliche Wohlstandsniveau zu sichern sowie die Finanzierung des Sozialstaates (respektive des BGE) zu ermöglichen, begrenzt ein solcher Selbstverstärkungseffekt alle Ideen einer prinzipiellen Entkoppelung von Erwerbsarbeit und Einkommen. Aus ökonomischer Sicht gilt, dass sich Erwerbsarbeit und Einkommen gesamtwirtschaftlich nicht trennen lassen. Einkommen (Löhne wie Gewinn- und Vermögenseinkünfte) entstehen immer in der Phase der Erstellung und Verteilung des Sozialprodukts. Personen, die per

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Umverteilung staatliche Transfers erhalten und sich davon Güter und Dienstleistungen kaufen, leben von der Arbeit der anderen. Auf der individuellen Ebene ist dieser Abkopplungs- und Umverteilungsprozess möglich und notwendig; er ist die Voraussetzung eines jeden Sozialleistungssystems. Diese individuelle Entkopplung von Erwerbsarbeit und Einkommen wird dabei jedoch auf gesellschaftlich anerkannte, als schützenswert erachtete Risiken, Tatbestände und Bedarfslagen (Arbeitslosigkeit, fehlende Erwerbsfähigkeit, Krankheit, Alter, Erwerbsminderung, Elternzeit) beschränkt, wobei sich die sozialpolitischen Kontroversen auf die Frage nach dem sachlichen, personellen und zeitlichen Umfang dieser Lösung von Einkommen und Erwerbsarbeit und nach der Höhe der Leistungsansprüche konzentrieren. Ein umverteilender Sozialstaat wird nur solange akzeptiert und finanziert, wie auch Gegenleistungen eingefordert werden können und der Grundsatz der Solidarität in beide Richtungen weist. Die Solidarität der Zahlenden ist keineswegs selbstverständlich, sondern ein „knappes Gut“. Die Zahlungsbereitschaft hängt zentral von der Akzeptanz sozialpolitischer Regelungen ab. Der Grundsatz einer prinzipiellen Erwerbsarbeitsfreiheit, d. h. der finanziellen Unterstützung des „Nichtstun“ wird keine Zustimmung finden. Warum sollten jene, die (physisch wie psychisch) harte Arbeit leisten, die keineswegs nur als „Erfüllung“, sondern eben auch als Last erlebt wird, bereit sein, ein „Nichtstun“ durch ihre Abgaben zu finanzieren ? Überwindung von Arbeitslosigkeit ? Die Ausstattung der Bevölkerung mit einem BGE soll das Risiko von Massenarbeitslosigkeit vermeiden oder zumindest begrenzen, indem Phasen und Formen der Nicht-Erwerbstätigkeit gefördert und finanziell großzügig flankiert werden. Allerdings ändern die Rückzugsmöglichkeiten vom Arbeitsmarkt und die definitorische Aufwertung von Nicht-Erwerbsarbeit wenig daran, dass die Teilhabe am Erwerbsleben nach wie vor von zentraler Bedeutung für die persönliche Entwicklung jedes einzelnen Menschen, für seine soziale und gesellschaftliche Stellung und seine Lebenschancen im weitesten Sinne ist. Denn über die reine Sicherung der eigenen Existenz hinaus bietet Erwerbsarbeit Chancen zur Einbringung und Weiterentwicklung der Kenntnisse und schöpferischen Fähigkeiten der Menschen. Eine unfreiwillig niedrige oder gar fehlende Erwerbsteilhabe ist deshalb als ein zentrales Merkmal von sozialer Ausgrenzung zu verstehen. Letztlich basiert ein so begründetes BGE auf der Annahme, dass Arbeitslosigkeit ein unvermeidbarer Bestandteil der Entwicklung fortgeschrittener Ökonomien ist. Für diese resignative Vorstellung einer Gesellschaft, der infolge der Digitalisierung in Zukunft die Arbeit ausgehe, finden sich jedoch weder theoretisch noch empirisch haltbare Argumente. Ganz im Gegenteil gibt es allen Anlass, mit den Instrumenten der Beschäftigungs-, Arbeitsmarkt- und Arbeitszeitpolitik auf die Herausforderungen zu reagieren. Geschieht dies nicht und werden sogar die Leistungen der aktiven Arbeitsmarktpolitik zurückgefahren, ist BGE wenig mehr als eine „Stilllegungsprä-

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Einkommen

mie“. Gerade für junge Menschen, die Schwierigkeiten im Bildungs- und Ausbildungssystem haben, ergäbe sich ein starker Anreiz, auf Bildung, Ausbildung und Weiterbildung zu verzichten. 9.2

Bürgerversicherung

Die kritische Hinterfragung der „Bedingungslosigkeit“ als des Grundprinzips eines Grundeinkommens macht deutlich, dass dies beiden Eckpfeiler eines „emanzipatorischen“ BGE, nämlich „Einkommensunabhängigkeit“ und „Freiheit von Erwerbsarbeit“ ökonomisch, fiskalisch und sozialpolitisch nicht realisierbar sind. Realistischer ist hingegen das marktradikale BGE, das aber konträr steht zu den Grundlagen einer sozialen Marktwirtschaft und dem grundgesetzlichen Sozialstaatsgebot widerspricht. Aber auch ein solches Konzept eines radikalen Umbaus nicht nur des gesamten Systems der sozialen Sicherung, sondern auch des Steuerrechts, des Unterhaltsrechts, des föderalen Finanzausgleichs und der EU-Vorgaben zur Steuerharmonisierung hat in der politischen Praxis keine Chancen auf eine unmittelbare und umfassende Umsetzung. Hier ist eher damit zu rechnen, dass es zu kleineren, aber mehrfachen Leistungseinschnitten kommt, die vor allem auf den Abbau und die Privatisierung sowohl der Renten- als auch der Kranken- und Arbeitslosenversicherung zielen. Ein Gegenmodell wäre eine vorwärts gerichtete Reformpolitik, die an mehreren konkreten Punkten ansetzt und sich in ein Gesamtkonzept für einen modernen Sozialstaat einfügt. Zweifelsohne ist es nicht einfach, für solche „Mühen der Ebenen“ als bessere Alternative zum Grundeinkommen ausreichend Zustimmung zu finden oder gar Begeisterung zu entfachen. Denn unweigerlich sind solche Reformen kleinteilig und komplex zugleich. Sie müssten Verbesserungen bei der Grundsicherung vorsehen – vor allem hinsichtlich der Leistungshöhe und den Zumutbarkeits- und Sanktionsregelungen – wie auch eine Aufwertung der Sozialversicherung. Die Position, die Sozialversicherung zu stärken, zielt darauf das Leistungsniveau der Sozialversicherung zu sichern und zu verbessern und den Versicherungsschutz über den gegenwärtigen Kreis der Versicherungspflichtigen und Leistungsberechtigten hinaus auf die gesamte Bevölkerung auszudehnen. Im Sinne einer Erwerbstätigenversicherung würden neben Arbeitern und Angestellten auch Beamte und Selbstständige in das Leistungssystem und zugleich in die Beitragspflicht einbezogen. Bei einer Bürgerversicherung würde die gesamte Bevölkerung einschließlich der NichtErwerbstätigen erfasst. Für eine Erwerbstätigenversicherung spricht, dass die traditionelle Abgrenzung zwischen schutzwürdigen abhängig Beschäftigten und nicht-schutzwürdigen Selbstständigen schon längst nicht mehr im Einklang mit der Wirklichkeit steht. Wenn im Zuge der Digitalisierung der Wirtschaft, aber auch infolge neuer, auf Autonomie und Selbstverantwortung zielender Erwerbswünsche junger Menschen gerade jene Grup-

Literaturhinweise

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pen von Selbstständigen, und hier insbesondere der Solo-Selbstständigen im Dienstleistungssektor und in der Plattformökonomie, an Bedeutung gewinnen, dann muss für diesen Kreis in der Zukunft mit Sicherungslücken gerechnet werden. Hinzu kommt das Argument der Finanzierungsgerechtigkeit: Ein Sozialversicherungssystem, das (insbesondere in der Krankenversicherung) durch Solidarausgleich und interpersonelle Einkommensumverteilung geprägt ist, kann nicht nur von einem Teil der Bevölkerung finanziert werden, während sich gerade „gute Risiken“ und Personen mit höherem Einkommen dem Solidarausgleich entziehen können (vgl. zu diesen kontroversen Positionen Kapitel „Ökonomische Grundlagen und Finanzierung“, Pkt. 7.3). Diese Punkte weisen auf das Erfordernis sowohl einer Ausweitung der Sozialversicherung in Richtung einer Bürgerversicherung als auch einer Stärkung der Elemente des Solidarausgleichs hin. Denn durch eine private Risikovorsorge lassen sich die negativen Folgewirkungen von Niedrigeinkommen, Teilzeitarbeit oder kurzen Erwerbsbiographien gerade nicht ausgleichen. Einen sozialen Ausgleich, der die Belastungen für Zeiten der Nichterwerbstätigkeit oder niedriger Einkommen mindert, kennen die Systeme der privaten Vorsorge nicht. Im Solidarprinzip liegt die eigentliche Stärke der Sozialversicherung gegenüber der Privatversicherung. Das in der Sozialversicherung gleichermaßen zum Ausdruck kommende versicherungstechnische Äquivalenzprinzip ist auf der andren Seite ein grundlegender Faktor für die Bereitschaft der Menschen, für dieses System (hohe) Beiträge zu zahlen. Wird die Verbindung zwischen Leistung und Gegenleistung zu locker und die interpersonelle Umverteilung zu stark ausgedehnt, verliert ein beitragsfinanziertes System an Zustimmung. Beide Elemente der Sozialversicherung müssen also ausgewogen ausgestaltet und sachgerecht finanziert werden.

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Einkommen

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Zeitschriften DIW-Wochenbericht Journal of European Social Policy Ifo-Schnelldienst Nachrichtendienst des Deutschen Vereins für Öffentliche und Private Fürsorge Soziale Sicherheit Sozialer Fortschritt Vierteljahreshefte zur Wirtschaftsforschung Wirtschaft und Statistik Wirtschaftsdienst WSI-Mitteilungen Zeitschrift für Sozialreform

Aktuelle Gutachten, Berichte, Analysen zu den Themenfeldern Sozialversicherung, Grundsicherung, Einkommensverteilung und Armut finden sich auf www.sozialpolitikaktuell.de/einkommen-berichte.html

IV

Arbeitsbeziehungen

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Kapital, Arbeit und Staat

Das zum Lebensunterhalt notwendige Einkommen muss durch Erwerbsarbeit erzielt werden. Erwerbsarbeit ist seit Beginn der industriellen Revolution und der Ausbreitung kapitalistischer Produktionsverhältnisse durch den Typus der abhängigen Beschäftigung gekennzeichnet. Die weit überwiegende Zahl der Menschen arbeitet auf der Grundlage eines Arbeitsvertrags für einen Arbeitgeber, der über den Arbeitseinsatz, den Arbeitsinhalt und die Arbeitsbedingungen bestimmt. Für ihre Arbeitsleistung, d. h. für den Einsatz ihrer Arbeitskraft, erhalten sie einen Lohn. Angebot an Arbeitskraft und Nachfrage nach Arbeitskraft treffen sich am Markt, am Arbeitsmarkt. Charakteristisch ist das strukturelles Machtungleichgewicht zwischen Arbeitgebern und Beschäftigten, sowohl in Bezug auf die Situation des/der Einzelnen in einem Betrieb als auch in Bezug auf die Gesamtheit der Arbeitnehmer:innen auf dem Arbeitsmarkt. Denn die Unternehmen sind nicht existentiell darauf angewiesen, bestimmte Arbeitnehmer:innen zu beschäftigen. Sie haben im Grundsatz die Möglichkeit, ihre Produktionsfaktoren sowohl zeitlich flexibel und auch räumlich mobil, auch grenzüberschreitend, einzusetzen. Demgegenüber sind die Arbeitnehmer:innen zur Sicherstellung ihres Lebensunterhalts zwingend auf eine Beschäftigung angewiesen, weil es in der Regel kein anderweitiges Einkommen als das Arbeitseinkommen gibt. Das versetzt Arbeitgeber in eine prinzipiell andere Lage als die (von ihnen) abhängigen Beschäftigten. Der (Arbeits-)Vertrag zwischen Verkäufer und Käufer von Arbeitskraft ist deshalb kein frei ausgehandelter Vertrag unter Gleichen, wie es der Vergleich mit Gütermärkten suggerieren könnte. Die formale Vertragsfreiheit führt faktisch zur Unterlegenheit der Beschäftigten. Diese Machtasymmetrie wird noch verstärkt durch die Konkurrenz der Beschäftigten untereinander, die vor allem bei hoher und anhaltender Arbeitslosigkeit zu preisdrückenden (d. h. lohnsenkenden) Wirkungen führen kann. Die Beschäftigten und die Unternehmen haben höchst unterschiedliche Zielvorstellungen: Während die eine Seite im Wettbewerb steht, die Arbeitskosten senken, d. h. die Löhne begrenzen und den Arbeitseinsatz möglichst profitabel ausrichten will, sind auf der anderen Seite die Beschäftigten auf hohe Löhne und gute Arbeits© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 G. Bäcker et al., Sozialpolitik und soziale Lage in Deutschland, https://doi.org/10.1007/978-3-658-06249-1_4

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Arbeitsbeziehungen

bedingungen angewiesen. Dieser Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit prägt die Situation in der Arbeitswelt. Trotz mancher Interessensüberschneidungen haben die Beziehungen zwischen Kapital und Arbeit immer diesen Gegensatz und die Ausgestaltung dieses Macht- und Abhängigkeitsverhältnisses zum Gegenstand. Die Ausbreitung kapitalistischer Produktionsverhältnisse war und ist stets vom Auf flammen sozialer Konflikte auf der betrieblichen wie auch auf der gesamtgesellschaftlichen Ebene begleitet. Von Arbeitsbeziehungen oder auch industriellen Beziehungen kann geredet werden, seitdem diese Konflikte Regelungen unterworfen worden sind und es zu Verhandlungen zwischen den beiden Parteien gekommen ist. Voraussetzung für diese „Institutionalisierung des Klassenkonflikts“ war der Zusammenschluss der abhängig Arbeitenden in Gewerkschaften und die Anerkennung von Gewerkschaften von den Unternehmen als Verhandlungspartner. Die Gründung von Arbeitgeberverbänden bildet gewissermaßen die Antwort der Unternehmer auf die kollektive Organisierung der abhängig Beschäftigten. Der dritte Akteur im System der Arbeitsbeziehungen ist der Staat, der die Autonomie der beiden Parteien bei der Gestaltung der Arbeitsverhältnisse und vor allem bei der Lohnfindung garantiert, aber auf dem Arbeitsmarkt auch selbst regulativ aktiv wird. Die Setzung eines gesetzlichen Ordnungsrahmens auf dem Arbeitsmarkt dient in erster Linie der Reduzierung der arbeitnehmerbezogenen Risiken durch die Begrenzung des strukturellen Machtungleichgewichts zwischen den Arbeitsmarktparteien. Verbindliche staatliche Schutz- und Mindeststandards verhindern die völlige Verausgabung der Arbeitskraft der Beschäftigten. Sie entfalten eine generelle Schutzfunktion auf alle Wirtschaftsbereiche, auch solche, die nicht durch Vereinbarungen von Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden erfasst werden. Der Staat spielt in den Arbeitsbeziehungen darüber hinaus insofern eine wichtige Rolle, weil er die rechtlichen Rahmenbedingungen für den Handlungs- und Entfaltungsspielraum der kollektiven Akteure setzt. Dies gilt unmittelbar für das Betriebsverfassungs- und Mitbestimmungsrecht sowie für das Tarifvertrags- und Arbeitskampfrecht und mittelbar für die darauf aufbauende Rechtsprechung. In der sozialökonomischen Entwicklung seit Beginn der Industrialisierung ist nachfolgend – zumeist unter gewerkschaftlichem Druck und durch den Druck der politischen Interessenvertretung der Arbeiterbewegung – ein Netz arbeits- und sozialrechtlicher sowie tarifvertraglicher Regelungen entstanden. Die kollektive Interessenvertretung durch die Gewerkschaften und ihre Durchsetzung im politischen System hat – auch vor dem Hintergrund der enormen Weiterentwicklung der technologischen und wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit – die Arbeitsbedingungen und damit auch die Lebensverhältnisse insgesamt erheblich verbessert. Neben der Anhebung des materiellen Lebensstandards fällt vor allem der starke Rückgang der Arbeitszeit ins Auge. Diese Ausweitung der nicht durch Erwerbsarbeit gebundenen Zeit hat die gesellschaftlichen wie die privaten Lebensbedingungen tiefgreifend verändert und den Menschen vielfältige neue Spielräume in ihrer individuellen Lebensgestaltung geschaffen.

Das deutsche Modell der Arbeitsbeziehungen

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Das deutsche Modell der Arbeitsbeziehungen

Das System der Arbeitsbeziehungen ist ein Eckpfeiler des deutschen Sozialstaats. Tarifautonomie und Mitbestimmung einerseits, die Einkommens- und Sachleistungen der sozialen Sicherungssysteme, die arbeitsrechtlichen Schutzregelungen und die Einrichtungen und Dienste des Sozial- und Gesundheitswesens andererseits greifen ineinander und konstituieren das spezifisch deutsche Modell einer „sozialen Marktwirtschaft“. Das so eingebettete System der Arbeitsbeziehungen wird maßgeblich von dem Zusammenwirken von Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften bestimmt. Deren Organisationszuschnitt und konkrete Aufgaben weisen spezifische Strukturen auf, die sie von den entsprechenden Verbänden in den übrigen europäischen Ländern zum Teil deutlich unterscheiden. Charakteristisch für das deutsche System der Arbeitsbeziehungen ist seine spezifische duale Struktur: Während auf überbetrieblicher, branchenbezogener Ebene die Gewerkschaften als Interessenvertretungsorganisationen der Arbeitnehmer:innen fungieren, sind es auf betrieblicher Ebene die Betriebsräte. Bei ihnen handelt sich nicht um gewerkschaftliche Gremien, sondern um Vertreter:innen, deren Legitimation auf der Wahl durch die gesamte Belegschaft beruht. 2.1

Akteure und Verbände

2.1.1 Arbeitgeber- und Unternehmensverbände

Die privaten Unternehmen verfügen in Deutschland über drei unterschiedliche Systeme der Interessenorganisation, deren Organisations- und Aufgabenzuschnitt historisch gewachsen ist: Die Unternehmerverbände vertreten vorrangig die wirtschaftlichen und politischen Interessen gegenüber Regierung und Parlament sowie der Öffentlichkeit. Sie sind im Bundesverband der deutschen Industrie (BDI) zusammengeschlossen. • Die Arbeitgeberverbände nehmen im Wesentlichen die sozialpolitische Interessenvertretung der Unternehmen wahr und sind insofern auch für die Tarifpolitik zuständig. •

In der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) sind 54 Branchenverbände zusammengeschlossen, die ihrerseits bis zu 20 Mitgliedsverbände und mehr repräsentieren. Die politische Willensbildung bei der BDA erfolgt neben den Fachverbänden auch über die 14 Landesvereinigungen, die ihrerseits die regional bestehenden Fachverbände vertreten. Die BDA erfüllt auf tarifpolitischem Gebiet eine allgemeine Koordinierungsfunktion, schließt aber selber keine Tarifverträge ab, denn dies ist die Aufgabe der Fachverbände. Die wesentlichen Richtlinien sind in einem

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Arbeitsbeziehungen

„Katalog der zu koordinierenden lohn- und tarifpolitischen Fragen“ niedergelegt, der von Zeit zu Zeit aktualisiert wird. Von großer politischer Bedeutung innerhalb der BDA sind die Spitzenverbände der Industrie, darunter insbesondere Gesamtmetall als Zusammenschluss der 16 regionalen metallindustriellen Arbeitgeberverbände und der Bundesarbeitgeberverband Chemie mit 11 Mitgliedsverbänden. Die Mitgliedschaft in den Arbeitgeberverbänden ist freiwillig. Der Organisationsgrad ist relativ hoch. Nach Angaben der BDA werden in den alten Bundesländern 75 % der Unternehmen mit 80 % der Beschäftigten über Arbeitgeberverbände betreut, in den neuen Bundesländern ist der Anteil deutlich niedriger. Die öffentlichen Arbeitgeber verfügen mit der Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände (VKA) und der Tarifgemeinschaft deutscher Länder über eigenständige Organisationen. 2.1.2 Gewerkschaften

Die kollektive Organisierung der abhängig Beschäftigten in Form von Gewerkschaften entwickelte sich seit Mitte des 19. Jahrhunderts zunächst in Form von lokalen Berufsverbänden, die sich in der Folgezeit auf nationaler Ebene zusammenschlossen. Erst später bildeten sich industriegewerkschaftliche Massengewerkschaften. Die Gewerkschaften in Deutschland waren bis zu ihrer Auflösung unter dem Nationalsozialismus Richtungsgewerkschaften sozialdemokratischer, liberaler oder christlicher Prägung. Nach dem 2. Weltkrieg erfolgte ihre Neugründung in Form der Einheitsgewerkschaften. Der gewerkschaftliche Organisationsgrad lag über Jahrzehnte vergleichsweise stabil bei gut einem Drittel der Arbeitnehmer:innen, doch seit dem Ende der 1980er Jahre ist er kontinuierlich zurückgegangen. Der durch die deutsche Wiedervereinigung bewirkte Anstieg war nicht von langer Dauer (vgl. Abbildung IV.1). Aktuell beträgt der gewerkschaftliche Organisationsgrad knapp 17 %. Im europäischen Vergleich liegt Deutschland damit im unteren Mittelfeld. Einige osteuropäische Länder und Frankreich liegen unter 10 %, im Mittelfeld zwischen 20 und 35 % bewegen sich u. a. Großbritannien, Österreich und Italien, während Norwegen und Belgien etwa 50 % erreichen und Dänemark, Schweden und Finnland sogar einen gewerkschaftlichen Organisationsgrad von 60 % und mehr aufweisen. Die Ursachen für diesen Rückgang sind vielfältig: Der Anteil der organisationsstarken Großbetriebe der Industrie nimmt ab, der Dienstleistungssektor mit einer oft klein- und mittelbetrieblichen Struktur wächst. Auch die Beschäftigtenstruktur hat sich gewandelt: Die Zahl der (Industrie-)Arbeiter:innen ist rückläufig, demgegenüber weist die wachsende Zahl teils hochqualifizierter Angestellter eine nur gering ausgeprägte gewerkschaftliche Organisationsbereitschaft auf. Letzteres gilt auch für die stark wachsende Gruppe der Teilzeitbeschäftigten. Auch die jungen Beschäftigten sind schwerer zu erreichen. Zudem gibt es weniger Auszubildende im dualen System, wohingegen die Zahl der Studierenden wächst (vgl. Kapitel „Qualifikation“, Pkt. 5).

Das deutsche Modell der Arbeitsbeziehungen

319

Abbildung IV.1 Gewerkschaftlicher Organisationsgrad in Deutschland 1990 – 2018 in %

17,0

16,5 2018

2015

16,7

2014

2017

17,7

17,6

2013

15

2016

18,3

18,0

2012

18,9

18,4 2011

18,8

2010

2009

19,8

19,0 2008

21,5

20,6

23,0

2002

20

22,2

23,7

23,5

2001

25,3

24,6

27,0

25,9

29,2

25

27,8

31,8

31,2

30

30,4

33,9

36,0

35

10

2007

2006

2005

2004

2003

2000

1999

1998

1997

1996

1995

1994

1993

1992

1991

0

1990

5

Quelle: J. Visser (2019), ICTWSS Database, version 6.1, Amsterdam.

Auch sind durch die Auszehrung klassischer gewerkschaftlicher Milieus und die veränderten Wertemuster mit einer individualisierten Lebensorientierung die Grundlagen für eine gewerkschaftliche Organisierung schwächer geworden. Die bei weitem größte gewerkschaftliche Dachorganisation in Deutschland ist der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB), in dem sich acht Einzelgewerkschaften zusammengeschlossen haben. Die DGB-Gewerkschaften sind Einheitsgewerkschaften, die sich nach dem Industrieverbandsprinzip strukturieren. Dies bedeutet: • Einheitsgewerkschaften organisieren gleichermaßen Arbeiter:innen, Angestellte und Beamt:innen und vereinigen mehrere weltanschauliche bzw. politische Richtungen. • Die Strukturierung nach dem Industrieverbandsprinzip (im Gegensatz zum Berufsverbandsprinzip) bedeutet, dass in einem Betrieb und in einer Branche in der Regel nur eine Gewerkschaft für alle Beschäftigten zuständig ist. Die DGB-Gewerkschaften zählten Ende 2018 knapp sechs Mio. Mitglieder (Tabelle IV.1). Das entspricht einem Organisationsgrad von rund 15 % der abhängig Erwerbstätigen. Rechnet man allerdings aus dem Mitgliederbestand Arbeitslose, NichtErwerbstätige und Rentner:innen heraus, dürfte die Organisationsquote deutlich

320

Arbeitsbeziehungen

Tabelle IV.1 Die Gewerkschaften im DGB nach Mitgliederzahlen 2018 DGB-Gewerkschaften insgesamt

5,97 Mio.

• Industriegewerkschaft Metall (IGM)

2,27 Mio.

• Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di)

1,97 Mio.

• Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie (IG BCE)

0,63 Mio.

• Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW)

0,28 Mio.

• Industriegewerkschaft Bauen-Agrar-Umwelt (IG BAU)

0,24 Mio.

• Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG)

0,20 Mio.

• Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG)

0,19 Mio.

• Gewerkschaft der Polizei (GdP)

0,19 Mio.

Quelle: DGB, Mitgliederstatistik.

niedriger liegen. Je nach Branche, Region und Betriebsgröße ergeben sich große Abweichungen in der Organisationsquote; der Anteil der Mitglieder ist am höchsten in den traditionellen (Arbeiter)Industrien wie Metall, Chemie, Stahl, am geringsten in den (Angestellten)Dienstleistungsbranchen. Im Bereich des öffentlichen Dienstes stellt ferner der Deutsche Beamtenbund (DBB), dessen Mitgliedsverbände rund 1,3 Mio. Mitglieder zählen, einen nicht unbedeutenden Interessenverband dar. In einigen Bereichen bestehen Berufs- oder Spartengewerkschaften. Das sind der Marburger Bund, der rund 120 000 angestellte oder beamtete Ärzt:innen organisiert. Der Deutsche Journalisten-Verband (DJV) zählt rund 33 500 Mitglieder. Daneben besteht die Deutsche Journalistinnen und Journalisten Union (dju), die zu ver.di gehört. Die Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL) vertritt mit rund 34 000 Mitgliedern die Interessen von Lokführer:innen und Zugpersonal. Die Vereinigung Cockpit (VC) hat nach eigenen Angaben rund 9 600 Mitglieder und ist damit die bedeutendste Gewerkschaft für Pilot:innen. Die Unabhängige Flugbegleiter Organisation (UFO) vertritt mit 13 000 Mitgliedern die Interessen der Beschäftigten des Kabinenpersonals, und für die Beschäftigten bei der Flugsicherheit ist die Gewerkschaft der Flugsicherung (GdF) zuständig. In manchen Bereichen gibt es eine harte Konkurrenz zwischen DGB-Gewerkschaften und den hier vertretenen Spartengewerkschaften, so z. B. im Bereich der Bahn zwischen der Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) und der GDL. In anderen Bereichen kooperieren die Gewerkschaften zumindest in der Tarifpolitik, etwa im öffentlichen Dienst die Gewerkschaften Ver.di und der dbb Beamtenbund und Tarifunion. Die Zahl der Einzelgewerkschaften des DGB hat sich seit Beginn der 1990er Jahre durch Zusammenschlüsse deutlich verringert. So wurde die Vereinte Dienstleis-

Das deutsche Modell der Arbeitsbeziehungen

321

tungsgewerkschaft (ver.di) im Jahr 2001 als Zusammenschluss der Gewerkschaften Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr (ÖTV), Handel, Banken und Versicherungen (HBV), der Deutschen Postgewerkschaft (DPG), der Industriegewerkschaft Medien und der damals noch außerhalb des DGB stehenden Deutschen-Angestellten-Gewerkschaft (DAG) gegründet. Hinter dieser Entwicklung stand zum einen der rasche wirtschaftliche und technologische Strukturwandel, der zum Wegfall ganzer Branchen geführt und traditionelle Zuordnungen hat obsolet werden lassen. Zum anderen versuchen die Gewerkschaften, mit einer Neuorganisation dem Mitgliederschwund entgegenzutreten und im expandierenden Bereich der neuen Dienstleistungsberufe Fuß zu fassen. Die Tarifpolitik liegt in der Zuständigkeit der Einzelgewerkschaften, dem DGB kommt in diesem Bereich eine koordinierende Funktion zu. Lediglich in der Zeitarbeitsbranche ist der DGB in Kooperation mit den Einzelgewerkschaften selbst aktiv an den Verhandlungen beteiligt. Tarifpolitische Erfolge sind immer dann zu erwarten, wenn die Gewerkschaften in den Verhandlungen auf ihre organisationspolitische Macht verweisen können. Organisationsstärke, Mobilisierbarkeit der Mitglieder und Streikfähigkeit sind entscheidende Voraussetzungen für eine funktionsfähige Tarifautonomie, d. h. für gleichgewichtige Verhandlungs- und Durchsetzungsmöglichkeiten der Tarifkontrahenten. Dem Staat, sei es in Form der Regierung, einzelner Ministerien oder sonstiger Institutionen und Gremien, kommt in der Tarifpolitik keine offizielle Funktion zu. Gleichwohl übt jede Regierung, unabhängig von ihrer parteipolitischen Zusammensetzung, direkt oder indirekt Einfluss auf die Tarifvertragsparteien aus. Dies vollzieht sich insbesondere über Einschätzungen und Stellungnahmen der Regierung zur wirtschaftlichen Entwicklung, die sie häufig mit Empfehlungen an die Adresse der Tarifparteien verbindet. Als öffentlicher Arbeitgeber spielt der Staat in Gestalt der Gebietskörperschaften Bund, Länder und Gemeinden eine offiziell anerkannte und aktive Rolle in der Tarifpolitik. Sie ist schon deswegen nicht zu unterschätzen, weil allein im Bereich des öffentlichen Dienstes die Einkommen für rund 4,8 Mio. Beschäftigte (einschließlich der 1,7 Mio. Beamten, die eine gesetzlich fixierte Besoldung erhalten, die sich weitgehend an den Tarifeinkommen orientiert) festgelegt werden. 2.2

Betriebliche Mitbestimmung

Die Mitbestimmung der Arbeitnehmer:innen in betrieblichen Angelegenheiten, die sie unmittelbar am Arbeitsplatz betreffen, ist ein zentrales Element der Arbeitsbeziehungen. Form und Inhalt der betrieblichen Mitbestimmung sind im Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG) geregelt. Der Betriebsrat (BR) ist das Organ der Interessenvertretung, der von den Arbeitnehmer:innen in Betrieben ab 5 Beschäftigten alle vier Jahre gewählt wird (vgl. Punkt 6.1 dieses Kapitels).

322

Arbeitsbeziehungen

Im Betrieb regeln Management und Betriebsräte die Bedingungen des Einsatzes der Arbeitskraft. Dabei geht es im weitesten Sinne um personelle Angelegenheiten (Einstellungen und Kündigungen) und um die Arbeitsbedingungen, wie z. B. Beginn und Ende der täglichen Arbeitszeit, Pausenregelungen, Entlohnungsmethoden, Leistungskontrolle, Eingruppierung, Arbeitsplatzgestaltung, Personalplanung, Sozialplan und anderes mehr. Die Betriebsräte verfügen über unterschiedliche Beteiligungsrechte: • Informations- und Beratungsrechte, • Anhörungsrechte und • Mitbestimmungsrechte. Dadurch (vgl. Übersicht IV.1) soll vor allem sichergestellt werden, dass die Organisation des Betriebs und der Arbeitsabläufe, der Arbeitseinsatz und die Zusammensetzung der Belegschaft durch Einstellungen und Entlassungen nicht der alleinigen Bestimmung des Arbeitgebers unterliegen. Die Beteiligungsrechte der Betriebsräte sind mit abgestuften starken Einflussmöglichkeiten verbunden. Nur bei den Mitbestimmungsrechten ist eine Einigung zwischen Betriebsrat und Arbeitgeber zwingend, d. h. ohne Zustimmung des BR kann eine Maßnahme des Arbeitgebers nicht wirksam werden. Das Betriebsverfassungsgesetz sieht für den Fall, dass sich die Betriebsparteien nicht einigen, eine Verfahrensregelung vor. Es kann eine sog. Einigungsstelle angerufen werden (vgl. Pkt. 5.1). Es handelt sich dabei um eine innerbetriebliche Schlichtungsstelle mit Vertreter:innen des Arbeitgebers und des Betriebsrats und einem neutralen Vorsitzenden (häufig

Übersicht IV.1 Beteiligungsrechte des Betriebsrats Informations- und Beratungsrechte • Der Arbeitgeber muss den BR rechtzeitig und umfassend informieren. • Arbeitgeber und BR müssen betriebliche Angelegenheiten gemeinsam erörtern. Anhörungsrecht • Der Arbeitgeber muss den BR anhören und sich mit dessen Stellungnahme begründet auseinandersetzen. Mitbestimmungsrechte • Zustimmungserfordernis: Der Arbeitgeber benötigt die Zustimmung des BR, um personelle Einzelmaßnahmen durchführen zu können. • Erzwingbare Mitbestimmung: Bei allen Fragen u. a. der Arbeitszeitgestaltung, Urlaubsplanung, der Richtlinien der Personalpolitik, der Qualifizierung von Beschäftigten hat der BR gegen den Arbeitgeber grundsätzlich einen Unterlassungsanspruch, hat aber umgekehrt auch ein Initiativrecht, wenn er einen bisher noch nicht geregelten Sachverhalt künftig geregelt haben möchte. Die Mitbestimmungsrechte gelten auch für bestimmte wirtschaftliche Angelegenheiten (z. B. bei Betriebsänderungen und der Erstellung von Sozialplänen).

Das deutsche Modell der Arbeitsbeziehungen

323

ein Arbeitsrichter). Der Spruch einer Einigungsstelle kann die Einigung zwischen BR und Arbeitgeber ersetzen. Bei den Mitwirkungsrechten ist eine Einigung nicht erforderlich. Der Arbeitgeber kann bei Nichteinigung mit dem BR die alleinige Entscheidung treffen. Zentrales Regelungsinstrument der betrieblichen Mitbestimmung sind die Betriebsvereinbarungen, in denen Arbeitgeber und Betriebsrat schriftlich Details zu allen Aspekten des Betriebsalltags vereinbaren können. Vergleichbar zu den Betriebsräten in der privaten Wirtschaft gibt es im Bereich des öffentlichen Dienstes Personalräte als Interessenvertretungen der dort Beschäftigten. Die gesetzlichen Grundlagen sind die teils unterschiedlichen Personalvertretungsgesetze der Bundesländer und das Bundespersonalvertretungsgesetz. Die Grundprinzipien ähneln denen der Betriebsverfassung, aber in der konkreten Ausgestaltung der Personalratsstrukturen und ihrer Informations-, Beteiligungs- und Mitbestimmungsrechte gibt es deutliche Unterschiede. Im Unterschied zur privaten Wirtschaft sind die Interessenvertretungen im öffentlichen Dienst sehr weit verbreitet. Zwei Drittel aller Dienststellen verfügen über einen Personalrat, damit werden rund 90 % aller Beschäftigten im öffentlichen Dienst erfasst. Im kirchlichen Bereich und bei den kirchlichen Wohlfahrtsverbänden (Diakonie und Caritas) findet das Betriebsverfassungsgesetz keine Anwendung, da es sich um sog. Tendenzbetriebe handelt. Darunter fallen Betriebe, die u. a. politischen, konfessionellen, karitativen, erzieherischen, wissenschaftlichen oder künstlerischen Bestimmungen dienen. Dazu zählen auch Presseunternehmen. Für sie gelten eigene Regelungen, die eine Mitarbeitervertretung sicherstellen sollen. Die Mitwirkungsrechte sind deutlich schwächer ausgeprägt als bei Betriebs- und Personalräten. Dies betrifft z. B. die Rechte bei personellen Angelegenheiten und auch bei wirtschaftlichen Angelegenheiten. Betroffen davon sind rund als 1,3 Mio. Beschäftigte (vgl. Kap. „Soziale Dienste“, Pkt. 3.2). Neben den betrieblichen Interessenvertretungen nach dem Betriebsverfassungsgesetz gibt es auch Europäische Betriebsräte (EBR). Auf Basis des Europäischen Betriebsrätegesetzes (EBRG) kann in EU-weit tätigen Unternehmen und Unternehmensgruppen ab einer bestimmten Größe ein EBR errichtet werden. Voraussetzung ist, dass ein Unternehmen mit Sitz in Deutschland in den Mitgliedstaaten der EU mindestens 1 000 Arbeitnehmer:innen insgesamt und davon jeweils mindestens 150 Arbeitnehmer:innen in zwei verschiedenen Mitgliedstaaten beschäftigt. Der EBR ist ein Gremium zur grenzübergreifenden Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer:innen und ergänzt die nationalen Interessenvertretungen. Erzwingbare Mitbestimmungsrechte hat er nicht. Der EBR fungiert als Verbindungselement der Arbeitnehmervertretungen in den verschiedenen Ländern, in denen das jeweilige Unternehmen tätig ist. Nach Angaben des Europäischen Gewerkschaftsinstituts existierten 2017 insgesamt 1 114 Europäische Betriebsräte, die rund 18 Mio. Arbeitnehmer:innen vertreten. 234 der Unternehmen mit EBR hatten ihren Sitz in Deutschland.

324

2.3

Arbeitsbeziehungen

Unternehmensbezogene Mitbestimmung

Ergänzt wird die Interessenvertretung durch die Betriebsräte durch die Mitbestimmung auf Unternehmensebene. In Kapitalgesellschaften können die Vertreter der Arbeitnehmer:innen dadurch Einfluss auf die unternehmerischen Planungen und Entscheidungen nehmen. Dazu wählen die Belegschaften ihre Vertreter:innen in die Aufsichtsräte der Unternehmen. Die rechtlichen Grundlagen über die Unternehmensmitbestimmung finden sich in drei verschiedenen Gesetzen: •

Montanmitbestimmungsgesetz Es stammt aus dem Jahr 1951 und war das Ergebnis einer jahrelangen Auseinandersetzung zwischen den Gewerkschaften und den Wirtschafts- und Arbeitgeberverbänden nach dem 2. Weltkrieg um die Demokratisierung der Wirtschaft. Diese weitreichendste Form der Mitbestimmung im Aufsichtsrat gilt für Unternehmen mit mehr als 1 000 Beschäftigten der Eisen- und Stahlindustrie sowie im Bergbau. Der Aufsichtsrat ist paritätisch zusammengesetzt mit Vertretern der Anteilseigner und Beschäftigten, hinzu kommt ein „neutrales“ Mitglied. Die im Betrieb vertretenen Gewerkschaften haben ein Vorschlagsrecht für zwei bis vier Sitze auf der Arbeitnehmerbank. Als gleichberechtigtes Mitglied ist im Vorstand jeweils ein/e Arbeitsdirektor:in vertreten, der/die nicht gegen die Stimmen der Mehrheit der Arbeitnehmervertreter:innen bestellt oder abberufen werden kann. Bei Inkrafttreten des Montanmitbestimmungsgesetzes 1951 fielen 105 Unternehmen in den Geltungsbereich. Doch durch die starke Schrumpfung der Montanindustrie verlor es im Laufe der Jahre stark an Bedeutung. 2010 unterlagen noch 18 Unternehmen der Montanmitbestimmung. • Drittelbeteilung Eine Ausweitung der Montanmitbestimmung auf die übrige Wirtschaft gelang trotz einer intensiven politischen Kampagne der Gewerkschaften nicht. Das Betriebsverfassungsgesetz von 1952 räumte den Arbeitnehmervertretern lediglich ein Drittel der Aufsichtsratssitze ein. Diese Regelung wurde 2004 im sog. Drittelbeteiligungsgesetz neu gefasst. Es sieht vor, dass diese reduzierte Beteiligung in Unternehmen unter 2 000 Beschäftigten (bei GmbHs erst ab 500) zur Geltung kommt. Das Gesetz findet zur Zeit Anwendung in rund 1 500 Unternehmen. Untersuchungen belegen jedoch, dass es in etwa der Hälfte der vom Gesetz betroffenen Unternehmen keinen drittelparitätisch besetzten Aufsichtsrat gibt. Eine Ursache dürfte das Fehlen von Sanktionen sein. • Mitbestimmungsgesetz Ab den 1960er Jahren forderten die Gewerkschaften erneut eine Ausweitung der Mitbestimmung. Die sozialliberale Koalition aus SPD und FDP setzte 1976 ein Mitbestimmungsgesetz durch, das den Forderungen zumindest zum Teil entsprach. Danach sind die Arbeitnehmer:innen in den Aufsichtsräten der Großunternehmen (Kapitalgesellschaften ab 2 000 Beschäftigte) paritätisch vertreten.

Das deutsche Modell der Arbeitsbeziehungen

325

Anders als in den montanmitbestimmten Unternehmen hat der/die Aufsichtsratsvorsitzende, der/die in der Regel der Kapitalseite angehört, in Pattsituationen ein doppeltes Stimmrecht. Deshalb spricht man auch von quasi-paritätischer Mitbestimmung. 650 Unternehmen, überwiegend GmbHs und Aktiengesellschaften, fielen Ende 2017 unter dieses Gesetz. Die Tätigkeit als Aufsichtsratsmitglied wird vergütet. Die Höhe der Vergütung soll in einem angemessenen Verhältnis zu den Aufgaben der Aufsichtsratsmitglieder und zur Lage der Gesellschaft stehen. Sie fällt unterschiedlich aus und ist stark von der Betriebsgröße abhängig. Nach Zahlen aus dem Jahr 2016 schwankt sie zwischen knapp 14 000 € pro Aufsichtsratsmitglied/Jahr in nicht börsennotierten Unternehmen und gut 156 000 € in DAX-Unternehmen. Die Arbeitnehmervertreter:innen in Aufsichtsräten, die Mitglieder von DGB-Gewerkschaften sind, verpflichten sich, den größten Teil ihrer Vergütung an die gemeinnützige Hans-Böckler-Stiftung abzuführen. Diese ist als Mitbestimmungs-, Forschungs- und Studienförderungswerk des DGB dem Gedanken der Mitbestimmung als Gestaltungsprinzip einer demokratischen Gesellschaft verpflichtet. Die konkrete Ausgestaltung der Unternehmensmitbestimmung fällt also je nach gesetzlicher Grundlage unterschiedlich aus. Dementsprechend gestalten sich auch die jeweiligen Handlungs- und Durchsetzungsmöglichkeiten der Arbeitnehmerseite. Gemeinsam ist aber allen Arbeitnehmervertreter:innen die Orientierung an den Interessen der Beschäftigten. Der möglichst langfristige Erhalt und die Schaffung von Arbeitsplätzen stehen im Zentrum. Alle strategischen Unternehmensvorhaben werden daraufhin geprüft. Im Konfliktfall, insbesondere bei Standortentscheidungen, Stilllegungen und größerem Personalabbau, kommt den Entscheidungen des Aufsichtsrats zentrale Bedeutung zu. An ihnen sind über die externen Aufsichtsmitglieder auch die jeweils im Unternehmen vertretenen Gewerkschaften maßgeblich. Auf diese Weise kommen insbesondere in Umbruch- und Krisensituationen Lösungen zustande, die bei rein betrieblicher Mitbestimmung nicht möglich wären. Die Mitbestimmung auf Unternehmensebene war zu allen Zeiten umstritten. Wirtschafts- und Arbeitgeberverbände bemühten sich, den Einfluss der Arbeitnehmer- und Gewerkschaftsseite soweit wie möglich zu begrenzen. Zentrales Argument gegen die Unternehmensmitbestimmung war stets, dass sie ökonomisch schädlich sei. Unternehmensentscheidungen würden dadurch verzögert, nötige Umstrukturierungen erschwert oder verhindert und durch die Beteiligung (externer) Gewerkschaftsvertreter:innen unternehmensfremde Interessen ins Spiel gebracht. Befürworter:innen halten dagegen, dass die Mitbestimmungspraxis zu einem besseren Interessenausgleich und auch zu wirtschaftlich positiveren Ergebnissen geführt habe. Die Wirkungen der Unternehmensmitbestimmung lassen sich auf zwei Ebenen feststellen: bei den ökonomischen Kennziffern zum Unternehmenserfolg und bei konkreten Unternehmensentscheidungen. So kann gezeigt werden, dass vor dem Hintergrund der Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/2009 paritätisch mitbestimm-

326

Arbeitsbeziehungen

te Unternehmen bessere wirtschaftliche Ergebnisse erzielten als nicht-mitbestimmte Unternehmen. Auch bei konkreten Unternehmensentscheidungen ergeben sich deutliche Unterschiede: Die Beschäftigungsentwicklung der mitbestimmten Unternehmen verlief positiver, das Investitionsvolumen war höher und der Abbau langfristiger Schulden vollzog sich schneller. Die Unternehmensstrategien der mitbestimmten Unternehmen wiesen eine höhere Kontinuität auf. Dies liefert Anhaltspunkte dafür, dass die Mitbestimmung förderlich für die robustere Entwicklung der Unternehmen ist und dies insbesondere mit der von Arbeitnehmerseite im Aufsichtsrat eingeforderten längerfristigen Orientierung zusammenhängt. 2.4

Tarifautonomie und Tarifpolitik

Die Bildung von Gewerkschaften als kollektive Interessenvertretung zielt auf die Beschränkung des Machtgefälles auf dem Arbeitsmarkt. Denn der Zusammenschluss abhängig Beschäftigter ermöglicht es, als Gegenmacht ihre Interessen im Arbeitsmarktgeschehen einzubringen und durchzusetzen sowie eine existenzgefährdende Konkurrenz der Arbeitnehmer:innen untereinander zu verhindern. Die zwischen Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden im Rahmen von Koalitionsfreiheit und Tarifautonomie ausgehandelten Tarifverträge regeln Einsatz und Entlohnung von Arbeit. Tarifverträge schreiben Mindestnormen für die Entlohnung fest, begrenzen die maximale Tages-, Wochen- und Jahresarbeitszeit, regeln Arbeitsbedingungen, Weiterbildungsmöglichkeiten und vieles mehr. Der hohe Rang der Tarifautonomie im deutschen System der Arbeitsbeziehungen findet seinen Ausdruck im Artikel 9 Absatz 3 des Grundgesetzes und der dort verankerten Koalitionsfreiheit. Es heißt: „Das Recht, zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen zu bilden, ist für jedermann und für alle Berufe gewährleistet.“ Die Koalitionsfreiheit soll die abhängig Beschäftigten in die Lage versetzen, sich gleichberechtigt an der Gestaltung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen zu beteiligen. Das Grundrecht auf Koalitionsfreiheit gilt nicht nur für den Einzelnen, es schützt auch den Zusammenschluss selbst, d. h. die Koalition und deren Betätigung. Der autonomen Regelung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen durch die Tarifvertragsparteien wird damit absolute Priorität eingeräumt. Die Tarifautonomie ist Ausdruck der besonders hervorgehobenen Stellung der Tarifparteien im Grundgesetz. Die Rahmenbedingungen und Anforderungen an die Tarifparteien und die Tarifverträge werden im Tarifvertragsgesetz (TVG) formuliert. Gesetzliche Regelungen zu Streik und Aussperrung fehlen ganz. Die entscheidenden Beschränkungen und Begrenzungen ergeben sich aus der umfänglichen Rechtsprechung der vergangenen Jahrzehnte. Das Richterrecht ist die entscheidende Rechtsquelle im Bereich des kollektiven Arbeitsrechts (vgl. Pkt. 3.1.1 dieses Kapitels). Tarifverträge sind in der Regel Verträge, die sich auf eine ganze Branche beziehen und regional gegliedert sind. Das heißt, dass die Lohnfindung – und die damit

Das deutsche Modell der Arbeitsbeziehungen

327

zwangsläufig verbundenen Konflikte – nicht in jedem einzelnen Betrieb stattfindet, sondern überbetrieblich geregelt wird. Kollektivvertragliche Regelungen durch Tarifverträge fixieren Mindestbedingungen, die im Einzelarbeitsvertrag oder durch ergänzende betriebliche Regelungen (Betriebsvereinbarungen) zwar überschritten, aber nicht unterschritten werden dürfen (Günstigkeitsprinzip). Die Kirchen und auch die kirchlichen Wohlfahrtsverbände (Diakonie und Caritas mit ihren insgesamt rund 1,3 Mio. Beschäftigten) schließen mit den Gewerkschaften grundsätzlich keine Tarifverträge ab. Einzelne Ausnahmen (Diakonischer Dienstgeberverband und Verdi Niedersachsen) bestätigen diese Regel. Beschäftigte in kirchlichen Einrichtungen unterliegen einem kirchlichen Sonderarbeitsrecht, welches von der Rechtsprechung grundsätzlich bestätigt worden ist. Dies leitet sich aus dem verfassungsrechtlich garantierten Selbstbestimmungsrecht der Kirchen ab. Die Grundbedingungen des Arbeitsverhältnisses werden von arbeitsrechtlichen Kommissionen ausgehandelt, die paritätisch von Vertretern der Dienstgeber und der Mitarbeiter:innen besetzt sind. Dieses Verfahren wird als „Dritter Weg“ bezeichnet, neben der einseitigen Festlegung der Arbeitsbedingungen durch die Arbeitgeber (Erster Weg) und dem Modell des Tarifvertrags (Zweiter Weg) (vgl. Kap. „Soziale Dienste“, Pkt. 3.2.1). Tarifverträge regeln nicht nur Niveau und Struktur des Arbeitsentgelts. Verhandlungsgegenstand sind auch vielfältige Fragen des Arbeitsverhältnisses und der Arbeitsbedingungen; die Spannweite reicht von der Probezeit zu Beginn eines Arbeitsverhältnisses über die Urlaubsdauer, die Tages- und Wochenarbeitszeit bis hin zur Festlegung der Kündigungsfristen. Arbeitsverhältnis und Arbeitsbedingungen wirken auf Niveau und Struktur der Entlohnung zurück. Dies gilt insbesondere für die Festlegung der Arbeitszeiten, denn die Höhe des Arbeitsentgelts ergibt sich aus dem Produkt von (Stunden-)Lohnsatz und Arbeitszeit. Die tarifvertraglich vereinbarte Wochenarbeitszeit ist damit eine wichtige Bestimmungsgröße für das Einkommen. Tarifvertragliche Regelungen bestimmen gegenwärtig die Lohnfindung von rund der Hälfte der abhängig Beschäftigten. Tarifverträge werden in Deutschland als allgemeines Regelungsinstrument der Entlohnung auch von den Arbeitgebern anerkannt. Das war nicht immer so und musste von den Gewerkschaften erst erstritten werden: Vor dem Ersten Weltkrieg galten Tarifverträge für höchstens 10 % aller Beschäftigten. Nach dem 1. Weltkrieg war ein Ergebnis der Novemberrevolution das Abkommen von Arbeitgebern und Gewerkschaften über die Zentralarbeitsgemeinschaft (ZAG), das u. a. eine Anerkennung der Gewerkschaften als „berufene Vertreter“ der Arbeiterschaft, die Garantie der Koalitionsfreiheit und die Einrichtung von Arbeiterausschüssen in Betrieben mit mehr als 50 Beschäftigten brachte. Die Tarifverträge erreichten in der Weimarer Republik einen Deckungsgrad von bis zu 70 %. Tarifverträge stehen in einem bestimmten Wechselverhältnis zu Gesetzen. Für einige zentrale Arbeitsbedingungen gibt es gesetzliche Mindeststandards, etwa zur Arbeitszeit, zum Urlaub, zum Kündigungsschutz (vgl. Kapitel „Arbeit und Arbeitsmarkt“, Pkt. 1.3). Nur bei der Entlohnung war es über viele Jahrzehnte allein den Ta-

328

Arbeitsbeziehungen

rifvertragsparteien überlassen, diese kollektiv zu vereinbaren. Gesetzliche Regelungen zur Bestimmung von Höhe und Verteilung der Arbeitseinkommen spielten kaum eine Rolle. Zwar gab es ein Gesetz über die Festsetzung von Mindestarbeitsbedingungen aus dem Jahre 1952, es wurde allerdings praktisch nicht angewendet. Erst seit 2015 besteht ein Mindestlohngesetz, auf dessen Grundlage ein allgemeiner Mindestlohn festgesetzt wird (vgl. Punkt 4.2 in diesem Kapitel). 2.5

Sozialversicherung, Berufsbildung und Kammern

Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden kommt nicht nur bei der Aushandlung der Arbeits- und Einkommensbedingungen im engeren Sinne, sondern auch bei der Ausgestaltung und Weiterentwicklung des Sozialstaats insgesamt eine wichtige Funktion zu. Beide Sozialparteien bringen ihre Interessen und Auffassungen vielfältig in den Politikprozess auf den unterschiedlichen Handlungs- und Entscheidungsebenen ein. •

Eine wichtige Funktion kommt in diesem Zusammenhang der Selbstverwaltung bei den Sozialversicherungsträgern zu. In der Kranken-, Pflege-, Renten- und Unfallversicherung werden über Sozialwahlen die Vertreter:innen der Versicherten und Arbeitgeber für die Selbstverwaltungsorgane bestimmt. Sie treffen alle Entscheidungen von grundsätzlicher Bedeutung und bestimmen darüber, wie die Versicherung die gesetzlichen Regelungen umsetzt (vgl. Kapitel „Einkommen“, Pkt. 5.4). • Felder der Mitbestimmung auf sozialpolitischer Ebene sind die Arbeitslosenversicherung und die Arbeitsmarktpolitik. Die Selbstverwaltung vollzieht sich hier über die Gremien der Bundesagentur für Arbeit (vgl. Kapitel V „Arbeit und Arbeitsmarkt“, Pkt. 6.2.4). Arbeitgeberverbände, Gewerkschaften und Vertreter:innen der öffentlichen Körperschaften sind im Verwaltungsrat und in den Verwaltungsausschüssen der Bundesagentur mit je einem Drittel vertreten und bestimmen so über die Festlegung der strategischen Ausrichtung und der geschäftspolitischen Ziele und ihrer Umsetzung mit. • Auch im Bereich der beruflichen (Aus-)Bildung haben Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände fest definierte Funktionen und Rechte. Sie wirken maßgeblich bei der Erstellung und Weiterentwicklung von beruflichen Ausbildungsordnungen mit. In den Berufsbildungsausschüssen der Kammern sind sie paritätisch vertreten (vgl. Kapitel „Qualifikation“, Pkt. 5.1). In den Handwerkskammern sind die Arbeitnehmer:innen im Übrigen in der Vollversammlung mit einem Drittel beteiligt und können so auch auf die allgemeine Arbeit der Kammern Einfluss nehmen. • Schließlich bestehen Mitwirkungsmöglichkeiten auch in der Arbeits- und Sozialgerichtsbarkeit. Die dort tätigen ehrenamtlichen Richter:innen werden aus Vorschlagslisten ausgewählt, die von Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften

Das deutsche Modell der Arbeitsbeziehungen

329

aufgestellt werden. Sie sind auf allen Ebenen der Arbeits- und Sozialgerichtsbarkeit vertreten. Aber auch jenseits dieser gesetzlich fixierten und institutionalisierten Mitbestimmungs- und Mitwirkungsmöglichkeiten spielen Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften in der politischen Willensbildung eine große Rolle. Die Politik war in der Vergangenheit immer wieder bemüht, zum Teil im Rahmen sog. „Bündnisse für Arbeit“, zwischen Wirtschaft, Gewerkschaften und Politik („Tripartismus“) zu einer gemeinsamen Bestimmung von Zielen und Maßnahmen in zentralen Feldern der Wirtschafts-, Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik einschließlich der Einkommenspolitik zu kommen (vgl. Kapitel „Arbeit und Arbeitsmarkt“, Pkt. 8.1), Als eine besondere, institutionalisierte Form der Interessenvertretung erweisen sich die Kammern. Es handelt sich (mit einigen Ausnahmen) um Körperschaften des öffentlichen Rechts, die sich auf einzelne Berufsgruppen beziehen, deren Mitgliedschaft verpflichtend ist und die Aufgaben der berufsständischen Selbstverwaltung (Berufszulassung, Ausbildung, Qualitätssicherung, Aufsicht) wahrnehmen. Weit überwiegend sind die sog. freien Berufe wie u. a. Rechtsanwält:innen, Apotheker:innen, Notar:innen oder Ärzt:innen in Kammern organisiert. Die Handwerkskammern sowie die Industrie- und Handelskammern zählen zu den gewerblichen Kammern. Sie nehmen die wirtschaftspolitischen Belange auf lokal-regionaler Ebene wahr und erfüllen z. T. auch staatlich zugewiesene Aufgaben. In allen Kammern besteht Beitragspflicht. Während Kammern für abhängig Beschäftigte beispielsweise in Österreich als flächendeckende Einrichtungen existieren, gibt es sie in Deutschland lediglich in Bremen (Arbeitnehmerkammer) und im Saarland (Arbeitskammer). Sie erbringen vor allem Service- und Beratungsleistungen für ihre Mitglieder. Z. B. informieren sie zumeist in jährlichen Berichten über die Lage der Beschäftigten und wirken mit Stellungnahmen und Gutachten an der politischen Willensbildung mit. Neu sind die in einigen Bundesländern (Rheinland-Pfalz, Niedersachsen, Schleswig-Holstein) eingerichteten Pflegekammern, in denen die Angehörigen der Pflegeberufe Pflichtmitglieder sind. Ziele sind die Sicherstellung einer professionellen pflegerischen Versorgung und die Selbstverwaltung der Pflegeberufe.

330

Arbeitsbeziehungen

3

Tarifvertragssystem

3.1

Grundlagen

3.1.1 Rechtliche Bestimmungen, Struktur und Geltungsbereich

Ein Tarifvertrag gilt zunächst nur für die Mitglieder der beiden vertragsschließenden Parteien, d. h. für die dem Arbeitgeberverband angeschlossenen Mitgliedsfirmen (bzw. beim Firmentarifvertrag für das einzelne Unternehmen) und für die Mitglieder der jeweiligen Gewerkschaft. Von der Möglichkeit, Nichtgewerkschaftsmitglieder von den tarifvertraglichen Mindestbedingungen auszuschließen, machen die Arbeitgeber allerdings nur sehr selten Gebrauch. Sie zahlen auch den Nichtorganisierten, von vielen deshalb auch als „Trittbrettfahrer“ bezeichnet, in der Regel den tarifvertraglich vereinbarten Lohn, um ihnen keinen Anreiz zum Gewerkschaftsbeitritt zu geben und um innerbetriebliche Konflikte zu vermeiden. Tarifgebunden sind die Mitglieder der Tarifvertragsparteien solange, bis der Tarifvertrag endet. Das heißt auch, dass sich ein Unternehmen durch Verbandsaustritt nicht zugleich der Tarifbindung entledigen kann. Die Rechtsnormen des Tarifvertrags, die sich auf Inhalt, Abschluss und Beendigung des Arbeitsverhältnisses beziehen, gelten unmittelbar und zwingend für die Tarifvertragsparteien, d. h. für die Arbeitgeber, die Mitglied im Arbeitgeberverband sind, und für die Arbeitnehmer:innen, die Mitglied der vertragsschließenden Gewerkschaft sind. Der Tarifvertrag hat auch Vorrang vor betrieblichen oder individuellen Regelungen. In § 77 (3) Betriebsverfassungsgesetz wird ausdrücklich bestimmt: „Arbeitsentgelte und sonstige Arbeitsbedingungen, die durch Tarifvertrag geregelt sind oder üblicherweise geregelt werden, können nicht Gegenstand einer Betriebsvereinbarung sein.“ Dies wird als Tarifvorrang bezeichnet. Von den Tarifnormen kann nicht nach unten hin abgewichen werden. Vom Tarifvertrag abweichende Vereinbarungen sind nur dann zulässig, wenn sie für die Arbeitnehmer:innen günstiger sind (Günstigkeitsprinzip). Die Tarifparteien können allerdings den Tarifvorrang für bestimmte Regelungsbereiche begrenzen, indem sie Öffnungsklauseln vereinbaren (siehe Punkt 6.1). Nach Ablauf eines Tarifvertrags gelten seine Rechtsnormen weiter, bis sie durch eine andere Abmachung ersetzt werden (Nachwirkung). Beim Bundesarbeitsministerium wird ein Tarifregister geführt, das Abschluss, Änderung und Aufhebung von Tarifverträgen verzeichnet. Die Gültigkeit eines Tarifvertrags ist jedoch nicht vom Eintrag in das Tarifregister abhängig. In der Regel gelten in einem Betrieb die Tarifverträge einer Gewerkschaft. In einigen Sektoren und Tarifbereichen wie im Luftverkehr, bei der Bahn und im Gesundheitswesen gelten teilweise Tarifverträge konkurrierender Gewerkschaften nebeneinander (Tarifpluralität) (vgl. Pkt. 2.1.2). So gelten bei der Deutschen Bahn parallel die Tarifverträge mit der Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) und der Gewerk-

Tarifvertragssystem

331

schaft Deutscher Lokomotivführer (GDL) oder bei Luftverkehrsgesellschaften Tarifverträge mit der Vereinigung Cockpit, der Unabhängige Flugbegleiter Organisation (UFO) und der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di). Das Tarifeinheitsgesetz von 2014 regelt den Vorrang im Fall von kollidierenden Tarifverträgen. In einigen gesetzlichen Arbeitnehmerschutzbestimmungen gibt es Öffnungsklauseln für abweichende tarifvertragliche Regelungen (tarifdispositives Recht). Dadurch soll die Möglichkeit für einen vom Gesetz abweichenden sachgemäßen Interessenausgleich in einzelnen Wirtschaftszweigen geschaffen werden. Dies gilt u. a. für die Kündigungsfristen, das Arbeitszeitrecht, die Arbeitnehmerüberlassung und die betriebliche Altersversorgung. Tarifverträge weisen einen im Grundsatz einheitlichen Aufbau auf: Am Beginn stehen die vertragsschließenden Parteien, also bei Flächentarifverträgen der zuständige Arbeitgeberverband sowie die jeweils zuständige Gewerkschaft. In manchen Fällen sind es auch mehrere Verbände bzw. Gewerkschaften, die einen gemeinsamen Tarifvertrag abschließen. Der Geltungsbereich eines Tarifvertrags ist durch drei Bestandteile definiert: •

Fachlicher Geltungsbereich Der fachliche Geltungsbereich beinhaltet den Wirtschaftszweig bzw. die (Teil-) Branchen, für die das Tarifabkommen Gültigkeit hat. Häufig gibt es auch eine indirekte fachliche Beschreibung, in der Bezug genommen wird auf die Mitgliedsbetriebe des vertragsschließenden Arbeitgeberverbands. • Räumlicher Geltungsbereich Ein Tarifvertrag kann sich räumlich auf das ganze Bundesgebiet, auf ein Bundesland oder einen regionalen Bezirk einer Branche beziehen. Bei Firmentarifverträgen bezieht sich der Geltungsbereich lediglich auf das Unternehmen (z. B. Volkswagen, Lufthansa, Deutsche Bahn u. a.). • Persönlicher Geltungsbereich Tarifverträge werden immer für einen bestimmten Beschäftigtenkreis abgeschlossen, zum Beispiel Lohntarifverträge für Arbeiter:innen, Gehaltstarifverträge für Angestellte oder spezielle Tarifverträge für Auszubildende. Häufig gelten Tarifverträge aber auch einheitlich für alle Arbeitnehmer:innen einer bestimmten Branche. In manchen Tarifverträgen ist den eigentlichen Bestimmungen eine Präambel vorangestellt, die in allgemeiner Form Ziele und Absichten des Vertrags erläutert. Es folgen dann die inhaltlichen Tarifbestimmungen im Einzelnen. Gegebenenfalls schließen sich Bestimmungen darüber an, welche anderen Tarifverträge bzw. Tarifbestimmungen durch den neuen Vertrag ersetzt werden bzw. außer Kraft treten. Am Schluss des Tarifvertrags folgen in der Regel das Datum des Inkrafttretens, der frühestmögliche Kündigungstermin und die Kündigungsfrist. In Rahmen- oder Manteltarifverträgen werden die Tarifbestimmungen gelegentlich durch Anhänge oder Anlagen ergänzt,

332

Arbeitsbeziehungen

in denen weitere Details z. B. zu Verfahren der Arbeitsbewertung, zu tariflichen Eingruppierungsbeispielen u. ä. geregelt sind. Diese Anlagen sind Bestandteile des Tarifvertrags. 3.1.2 Arten von Tarifverträgen

Je nach den typischerweise vereinbarten Inhalten lassen sich unterschiedliche Arten von Tarifverträgen unterscheiden: •

Lohn-, Gehalts- und Entgelttarifverträge In diesen Verträgen wird die Höhe von Lohn, Gehalt bzw. Entgelt für die Dauer der Laufzeit des Tarifvertrages, in der Regel für ein bis zwei Jahre, festgelegt. Die Erhöhung kann unterschiedliche Formen annehmen. Häufig werden die Vergütungen um einen einheitlichen Prozentsatz angehoben. In länger laufenden Abschlüssen sind meist mehrere (Stufen-)Anhebungen vorgesehen. • Lohn-/Gehalts- und Entgeltrahmentarifverträge In diesen Tarifverträgen werden die verschiedenen Lohn-, Gehalts- und Entgeltgruppen festgelegt und die Gruppenmerkmale definiert. Dabei werden die erforderlichen Qualifikations- und Anforderungsmerkmale mithilfe unterschiedlicher Methoden der Arbeitsbewertung beschrieben. Die Zahl der tariflichen Vergütungsgruppen fällt je nach Wirtschaftszweig und Tarifbereich unterschiedlich aus. Vielfach existieren für Arbeiter:innen 5 bis 7 und noch mehr Lohngruppen, für die kaufmännischen und technischen Angestellten meist 5 oder 6. Bei einheitlichen Entgelttarifverträgen gibt es häufig zwischen 10 und 15 Entgeltgruppen. • Manteltarifverträge Diese Verträge enthalten die Bestimmungen über die Arbeitsbedingungen unterschiedlichen Inhalts; z. B. die Dauer und Verteilung der Wochenarbeitszeit, Regelungen über Nacht- und Schichtarbeit, Kündigungsfristen, Urlaub, Probezeit, Kurzarbeit und anderes mehr. Die Laufzeit von Rahmen und Manteltarifverträgen beträgt in der Regel mehrere Jahre. • Spezialtarifverträge Zusätzlich zu diesen Tarifvertragsarten gibt es zahlreiche weitere spezielle Tarifverträge, z. B. zu den Themen Beschäftigungssicherung, Weiterbildung, Digitalisierung und Arbeitsgestaltung, Demografie und Lebensarbeitszeit, vermögenswirksame Leistungen, Altersvorsorge u. a. m. 3.2

Ökonomische und soziale Funktionen von Tarifverträgen

Tarifverträge erfüllen im Rahmen des Systems der Arbeitsbeziehungen eine Fülle unterschiedlicher Aufgaben. Dabei sind für die beteiligten Akteure jeweils bestimmte Wirkungen von besonderer Bedeutung.

Tarifvertragssystem

333

Arbeitnehmer:innen Für die Beschäftigten sind folgende Funktionen von großem Gewicht: Die Schutzfunktion: Tarifverträge dienen der Eindämmung struktureller Machtungleichgewichte am Arbeitsmarkt. Nicht der/die Einzelne, sondern die Gewerkschaft als kollektiver Zusammenschluss der Arbeitnehmer:innen handelt die Arbeitsbedingungen aus. • Die Schutzfunktion wird ergänzt durch die Verteilungsfunktion. Tarifverträge sorgen für die Teilhabe an der wirtschaftlichen Entwicklung und am sozialen Wohlstand etwa durch regelmäßige Lohnsteigerungen oder durch kürzere Arbeitszeiten oder mehr Urlaub. • Hinzu tritt die Partizipationsfunktion. Arbeits- und Einkommensbedingungen werden nicht einfach extern oder von oben festgesetzt. Der Prozess der Tarifverhandlungen gewährleistet eine umfassende Teilhabe der Beschäftigten an einer autonomen Regelung der Arbeitsbedingungen. • Schließlich ist die Solidaritätsfunktion zu nennen. Tarifverträge bewirken einheitliche Arbeitsbedingungen und zwar relativ unabhängig von der jeweiligen ökonomischen Leistungsfähigkeit des einzelnen Unternehmens und der jeweiligen betrieblichen Stärke gewerkschaftlicher Interessenvertretung bzw. dem Stand betrieblicher Machtbeziehungen. •

Arbeitgeber Für die Arbeitgeber haben andere Funktionen einen hohen Stellenwert: Durch die Kartellfunktion des Tarifvertrages wird den Preis für den Faktor Arbeit zumindest teilweise dem Wettbewerbsmechanismus entzogen, so dass relativ einheitliche Ausgangsbedingungen geschaffen werden. • Die Koordinierungsfunktion kommt darin zum Ausdruck, dass Tarifverhandlungen als „kollektive Güter“ fungieren. Der Aufwand, der durch eine Regelung der Arbeitsbedingungen in jedem einzelnen Betrieb entstünde, wird insbesondere durch die Vereinbarung branchenbezogener Verbandstarifverträge deutlich reduziert. Die sog. Transaktionskosten gehen zurück. • Des Weiteren profitieren die Arbeitgeber von der Ordnungs- und Befriedungsfunktion: Tarifverträge befördern stabile Arbeitsbeziehungen und einen relativ störungsfreien Arbeitsablauf zumindest während der Laufzeit. Auch wird die Gewerkschaftspräsenz im Betrieb „neutralisiert“. Indem die Tarifpolitik an die Verbände delegiert wird, wird die betriebliche Ebene entlastet (siehe jedoch Pkt. 5). • Schließlich haben die Tarifverträge eine Produktivitätsfunktion: Dadurch, dass sie Niedriglohnstrategien begrenzen, lenken sie den Fokus auf Qualitäts- und Innovationswettbewerb anstelle von Lohnkostenkonkurrenz. In diese Richtung wirkt auch die tarifvertraglich gestützte Sicherung eines kooperativen Arbeitsklimas. Allerdings zeigt die reale Entwicklung der Tarifbindung, dass die Vorteile der •

334

Arbeitsbeziehungen

Tarifbindung keineswegs auf alle Arbeitgeber überzeugend wirken. Im Gegenteil, die Tarifbindung geht seit Mitte der 1990er Jahre zurück. Staat Aus Sicht des Staates ist die Entlastungs- und Legitimationsfunktion von Tarifverträgen bedeutsam. Die unmittelbare Verantwortung für die Festlegung von Löhnen und Arbeitsbedingungen wird den Tarifvertragsparteien übertragen. Der Staat kann sich aus den Tarifauseinandersetzungen weitgehend heraushalten und fungiert gegebenenfalls auf freiwilliger Basis als „neutraler“ Schlichter. Der Staat wäre auch überfordert, für diverse Branchen und für eine Fülle von Tätigkeiten eine Lohnfindung durchzuführen. Zudem fehlt ihm die detaillierte Kenntnis der Branchenbesonderheiten, die in den jeweiligen Tarifverträgen zu berücksichtigen sind. Eine Entlastungsfunktion wird auch in dem Maße wirksam, wie die Tarifparteien Vereinbarungen zu sozial- und arbeitsmarktpolitischen Themen treffen (vgl. Pkt. 4.4) 3.3

Tarifvertragslandschaft und Tarifbindung

Die Tarifvertragslandschaft in Deutschland wird geprägt von Flächen- bzw. Verbandstarifverträgen, die für eine bestimmte Branche bzw. Wirtschaftszweig abgeschlossen werden. Häufig gelten die Branchentarifverträge für einzelne Bundesländer bzw. Regionen, wobei die Unterschiede in den Tarifbestimmungen in der Regel nicht besonders groß ausfallen. Eine Ausnahme stellen immer noch die Differenzen zwischen manchen ost- und westdeutschen Tarifbereichen dar. Daneben gibt es zahlreiche Firmen- bzw. Haustarifverträge. Sie werden insbesondere dort abgeschlossen, wo es keine Verbandstarifverträge gibt oder wo die Unternehmen dem Arbeitgeberverband nicht angehören. Auch Unternehmen mit einer Verbandsmitgliedschaft ohne Tarifbindung schließen im Einzelfall Firmentarifverträge ab. Das Interesse an Firmentarifverträgen richtet sich häufig auf tarifliche Regelungen, die spezifischer auf die Situation des Unternehmens zugeschnitten sind. Die Gewerkschaften sind bestrebt, die inhaltlichen Standards solche Haustarifverträge mindestens auf dem Niveau des entsprechenden Branchentarifvertrags zu halten. Häufigkeit und Verteilung Die große Differenziertheit des Tarifvertragswesens in Deutschland wird bereits beim Blick auf einige Zahlen deutlich: Das Tarifregister beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales registrierte Ende 2018 insgesamt rund 77 300 gültige Tarifverträge in ganz Deutschland. Von den rund 53 900 Ursprungs-Tarifverträgen entfielen rund 32 % auf Verbands- und rund 68 % auf Firmentarifverträge. Der Rest sind Änderungstarifverträge bzw. Paralleltarifverträge, also Tarifverträge gleichen Inhalts, die von verschiedenen Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden abgeschlossen werden.

Tarifvertragssystem

Tabelle IV.2

335

Tarifbindung der west- und ostdeutschen Beschäftigten und Betriebe 2018 Branchentarif

Haustarif

kein Tarifvertrag

davon: orientiert am TV

alte Bundesländer in % Beschäftigte

49

7

44

49

Betriebe

27

2

71

42

neue Bundesländer in % Beschäftigte

35

11

55

44

Betriebe

17

3

80

36

Quelle: IAB-Betriebspanel 2018.

Auch wenn die Zahl der gültigen Firmentarifverträge relativ hoch ist, muss ihre Bedeutung gesamtwirtschaftlich gesehen relativ gering eingeschätzt werden. Dies variiert jedoch je nach Branche ganz erheblich. Ausschließlich Firmentarifverträge gibt es im Luftverkehr, eine dominierende Rolle spielen sie im privaten Gesundheitswesen und auch im Energiebereich. Prominente Beispiele sind auch die privatisierten ehemaligen Staatsunternehmen Deutsche Bahn, Deutsche Post und Deutsche Telekom. Letztere haben inzwischen eine sehr ausdifferenzierte Unternehmensstruktur mit einer Vielzahl von ausgegliederten Bereichen und Tochterfirmen, die eine tarifvertragliche Abdeckung sehr erschweren. Viele Firmentarifverträge sind als Anerkennungstarifverträge ausgestaltet, d. h. sie übernehmen die Regelungen des entsprechenden Flächentarifvertrags. Firmentarifverträge werden oft auch abgeschlossen, wenn bis dahin nicht tarifgebundene Firmen schrittweise an den Flächen- bzw. Branchentarifvertrag herangeführt werden sollen. In den einzelnen Wirtschaftszweigen ist die Zahl der gültigen Tarifverträge (Tarifvertragsdichte) ganz unterschiedlich. So bestehen z. B. in der Metallindustrie mehr als 340 verschiedene regionale Tarifabkommen, hingegen ist etwa im privaten Bankgewerbe die Fülle tariflicher Regelungen und Leistungen in acht bundesweit gültigen Tarifverträgen geregelt. Die Reichweite und damit die Prägekraft eines Tarifvertragssystems hängen wesentlich davon ab, wie groß der Anteil der Betriebe und der Beschäftigten ist, der von den Tarifverträgen erfasst wird. Diese Tarifbindung ist regional und branchenspezifisch sehr unterschiedlich. In Westdeutschland fällt sie im Schnitt deutlich höher aus als in Ostdeutschland. Die Tarifbindung unterscheidet sich erheblich in Abhängigkeit vom Wirtschaftszweig: Im öffentlichen Dienst und bei den Sozialversicherungen liegt sie fast 100 Prozent der Beschäftigten. Die klassischen Industriebranchen rangieren deutlich darunter, weisen aber immer noch höhere Werte auf als der private Dienstleistungssektor

336

Arbeitsbeziehungen

Abbildung IV.2 länder

Tarifbindung der Beschäftigten nach Branchen 2018, alte und neue Bundes-

Gesamt

56

45

97 99

Öffentliche Verwaltung/Sozialversicherung Energie/Wasser/Abfall & Bergbau

85

70

Finanz- und Versicherungsdienstleistungen

71

Baugewerbe

56

Gesundheit & Erziehung/Unterricht

62

48

Organisationen ohne Erwerbscharakter

64

38

Verarbeitendes Gewerbe

59

33

Verkehr & Lagerei

35 46

Einzelhandel

38

25

38

24

Information & Kommunikation

18

0 0

52

41

25

Großhandel, Kfz-Handel

Neue Bundesländer

41

33

Landwirtschaft u.a.

Alte Bundesländer

54

Wirtschaftl., wissenschaftl. & freiberufl. Dienstleistungen Gastgewerbe & sonstige Dienstleistungen

82

64

10

20

30

40

50

60

70

80

90

100

Quelle: IAB-Betriebspanel 2018.

(Abbildung IV.2). Auch die Betriebsgröße ist von großer Bedeutung. Bei Kleinbetrieben mit bis zu neun Beschäftigten liegt die Tarifbindung selbst im Westen unter einem Viertel, bei Betrieben ab 500 Beschäftigten und mehr erreicht sie dort immerhin 80 % der Betriebe. Im Osten sind die Differenzen auf niedrigerem Niveau ebenso groß. Charakteristisch für einige Sektoren ist eine Fragmentierung der Tariflandschaft. In Unternehmen der Automobilindustrie beispielsweise finden sich in der Regel Bereiche mit unterschiedlicher Tarifbindung: Für die Stammbelegschaft gilt der Flächentarifvertrag der Metallindustrie. Des Weiteren sind in den Unternehmen Fremdfirmen tätig, die im günstigen Fall anderen Tarifverträgen (z. B. bei der Kontraktlogistik) unterliegen. Hinzu kommen Leiharbeitsbeschäftigte mit wiederum eigenen Tarifbestimmungen. Vergleichbar ausdifferenziert ist die Situation in anderen netzwerkartigen Produktions- und Dienstleistungsstrukturen (z. B. Chemieparks, Flughäfen). Das Tarifgefälle und die Konkurrenz mit nicht tarifgebunden Unternehmen erhöhen den Druck auf die Flächentarifverträge.

Tarifvertragssystem

337

Rückläufige Tarifbindung Das Tarifsystem ist seit vielen Jahren durch eine kontinuierlich fortschreitende Erosion gekennzeichnet. Der Erfassungsgrad der Arbeitnehmer:innen durch Tarifverträge ist im Laufe der vergangenen 20 Jahre stark zurückgegangen. Er betrug im Jahr 1998 in den alten Bundesländern 76 % und in den neuen Ländern 63 %. Im Jahr 2018 betrugen die Werte im Westen nur noch 56 %, im Osten 45 %. Bezogen auf die Betriebe liegt die Quote deutlich niedriger, weil große Betriebe zu einem größeren Anteil tarifgebunden sind als kleinere. Im Westen ging der Anteil der tarifgebundenen Betriebe in diesem Zeitraum von 53 % auf 29 % zurück, im Osten von 30 % auf 20 % (vgl. Abbildung IV.3). Die Ursachen für die rückläufige Tarifbindung sind vielfältig: Von großer Bedeutung ist zweifellos der wirtschaftliche Strukturwandel. Die Industrie mit ihren starken Großbetrieben verliert an Gewicht, der Dienstleistungsbereich mit einer stärker kleinbetrieblichen Struktur weitet sich aus. Viele neugegründete Unternehmen (Startups) treten keinem Arbeitgeberverband bei. Die Organisationskraft und damit auch das Durchsetzungsvermögen der Gewerkschaften sind rückläufig. Auch die Bindekraft der Arbeitgeberverbände hat stark nachgelassen. Das Konzept der Mitgliedschaft ohne Tarifbindung (OT-Mitgliedschaft), das viele Arbeitgeberverbände verfolgen, kann dies nicht ausgleichen, geht aber eindeutig zulasten der Tarifbindung.

Abbildung IV.3 Tarifbindung der Beschäftigten und Betriebe 1998 – 2018, alte und neue Bundesländer

76 73

71

70

70

70

68

67

65

63

53

57

47

55 48

56 48

55 46

54

53

53

63

54

65

63

54

63

41

39

39

60

60

52

51

38

50

49

48

27

27

27 24

26 23

23

24

24

59

59

57

24

47

47

49

39 36

34

34

23 20

21

21

32

20

33

20

31

21

44

31

1999

2000

2001

2002

2003

2004

2005

2006

2007

2008

2009

2010

2011

2012

Quelle: Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (2019), IAB-Betriebspanel 2018.

2013

2014

29

22 18

in % der Betriebe Ost

1998

56

47

in % der Beschäftigten Ost

in % der Betriebe West

30

60

in % der Beschäftigten West

46 43

61

2015

2016

2017

45

29

20

2018

338

Arbeitsbeziehungen

Orientierung an Tarifverträgen Von den Betrieben, die keiner Tarifbindung unterliegen, geben viele an, dass sie sich am jeweiligen Branchentarifvertrag „orientieren“. Davon wird rund die Hälfte der Beschäftigten in westdeutschen Betrieben und etwa 44 % in ostdeutschen Betrieben erfasst. Offen bleibt, was diese „Orientierung“ genau meint. Wenig wahrscheinlich ist, dass die einschlägigen Branchentarifverträge 1 : 1 angewendet werden. In den meisten Fällen dürfte es zu einer Unterschreitung der Tarifstandards kommen. Untersuchungen zeigen, dass auch bei Betrieben mit Tariforientierung die Einkommen deutlich niedriger und die Arbeitszeiten erkennbar länger ausfallen. So wurde für die Jahre 2015 – 2017 errechnet, dass das mittlere Bruttomonatsentgelt eines Vollzeitbeschäftigten in tariflosen Betrieben um 22 % unter dem in tarifgebundenen Betrieben liegt. Bereinigt um Struktureffekte (Betriebsgröße, Branchenzusammensetzung u. a.) bleibt immer noch ein Rückstand von 10 %. Die betriebliche Wochenarbeitszeit liegt in tariflosen Betrieben strukturbereinigt etwa eine Stunde über der in tarifgebundenen Betrieben. Für die Festsetzung der Löhne und Gehälter und der sonstigen Arbeitsbedingungen gelten für Unternehmen ohne Tarifbindung keine festen Regeln. Sie sind daher bei Beachtung der gesetzlichen Rahmenbedingungen (Mindestlohngesetz, Arbeitszeitgesetz, Bundesurlaubsgesetz u. a.) frei in der Gestaltung. Sie können sich an den Tarifverträgen orientieren, gegebenenfalls müssen sie sich mit dem Betriebsrat verständigen. Tarifvertrag und Betriebsrat Das typische deutsche Modell der kollektiven Arbeitsbeziehungen ist durch die Kombination von Tarifvertrag und betrieblicher Interessenvertretung geprägt. In der Realität zeigt sich, dass dies nur noch für die Minderheit der Beschäftigten gilt. Betrachtet man die Betriebe der Privatwirtschaft ab fünf Beschäftigten, dann arbeiten in Westdeutschland 33 % der Beschäftigten in einem Betrieb mit Tarifvertrag und einem Betriebsrat, in Ostdeutschland beträgt der Anteil nur 22 % (Tabelle IV.3). Für 20 % (West) und 17 % (Ost) der Beschäftigten besteht zwar ein Tarifvertrag, aber im Betrieb gibt es keine betriebliche Interessenvertretung. Und mehr als ein Drittel der westdeutschen und fast die Hälfte der ostdeutschen Beschäftigten haben im Betrieb weder einen Tarifvertrag noch einen Betriebsrat.

Tarifvertragssystem

Tabelle IV.3

339

Tarifbindung und Betriebsrat, Anteil der Beschäftigten in %

Tarifbindung und Betriebsrat

West

Betriebsrat und Branchentarif

26

14

Betriebsrat und Haustarif

7

8

Betriebsrat und kein Tarif

10

13

Branchentarif und kein Betriebsrat

19

15

Haustarif und kein Betriebsrat

1

2

kein Tarif und kein Betriebsrat

37

48

100

100

Beschäftigte in Betrieben mit Branchentarifvertrag

45

29

Beschäftigte in Betrieben mit Betriebsrat

42

35

Gesamt

Ost

Basis: privatwirtschaftliche Betriebe ab fünf Beschäftigte ohne Landwirtschaft und Organisationen ohne Erwerbszweck. Quelle: IAB-Betriebspanel 2018.

3.4

Allgemeinverbindlicherklärung und Arbeitnehmerentsendegesetz

Tarifverträge gelten unmittelbar nur für die Mitglieder der Tarifparteien. Die bindende Wirkung von Tarifverträgen kann aber auch auf die nicht tarifgebundenen Arbeitgeber ausgedehnt werden. Das entsprechende Instrument, das nach § 5 Tarifvertragsgesetz angewandt werden kann, ist die sog. Allgemeinverbindlicherklärung (AVE). Der/die Bundesarbeitsminister/in kann im Einvernehmen mit dem Tarifausschuss, dem je drei Vertreter:innen der Spitzenverbände der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer:innen angehören, einen Tarifvertrag für allgemeinverbindlich erklären, wenn die Allgemeinverbindlicherklärung im öffentlichen Interesse geboten erscheint. Dasselbe ist auch auf Landesebene möglich. Das ist nach den Bestimmungen des Tarifvertragsgesetzes dann der Fall, wenn der Tarifvertrag in seinem Geltungsbereich für die Gestaltung der Arbeitsbedingungen überwiegende Bedeutung erlangt hat oder die Absicherung der Wirksamkeit der tarifvertraglichen Normsetzung gegen die Folgen wirtschaftlicher Fehlentwicklung eine Allgemeinverbindlicherklärung verlangt. Die früher verlangte Tarifbindung von mindestens 50 % der unter den Geltungsbereich fallenden Arbeitnehmer:innen wird seit 2014 nicht mehr vorausgesetzt. Damit können über einen mittelbaren Staatseingriff Tariflöhne für alle Unternehmen der Branche zum verbindlichen Lohnstandard erklärt werden. Die klassische Funktion der AVE besteht in der Verhinderung von „Schmutzkonkurrenz“ und „Lohndrückerei“ durch Außenseiter, die nicht Mitglieder der Tarifparteien sind, sowie in der Schaffung sozial angemessener Arbeitsbedingungen für Außenseiter. Hinzu kommen die Sicherung der Funktionsfähigkeit gemeinsamer

340

Arbeitsbeziehungen

Einrichtungen (wie z. B. die Urlaubkasse im Baugewerbe) sowie die Umsetzung gesetzgeberischer Vorgaben (z. B. zur Altersvorsorge). Die Bedeutung von Allgemeinverbindlicherklärungen ist – insgesamt betrachtet – relativ gering (vgl. Abbildung IV.4), für einzelne Branchen bzw. Regelungsbereiche sind sie jedoch sehr wohl wichtig: Anfang 2016 waren 444 Tarifverträge für allgemeinverbindlich erklärt. Dies entspricht etwa 1,5 % aller Branchentarifverträge. Diese Tarifverträge bezogen sich nur in geringer Zahl (46) auf Lohn und Gehalt, überwiegend dagegen auf Felder der tariflichen Sozialpolitik wie betriebliche Altersversorgung, überbetriebliche Urlaubsregelungen und Regelungen zur Berufsausbildung. Ein herausragendes Beispiel für die Funktion der Allgemeinverbindlicherklärung ist das Baugewerbe. Dort bestehen tarifvertragliche Regelungen zum Urlaubsverfahren, zur Finanzierung der Berufsausbildung und zur zusätzlichen Altersversorgung, die über die sog. SOKA-Bau, eine gemeinsame Einrichtung der Tarifvertragsparteien, abgewickelt werden. Finanziert werden diese Leistungen durch Arbeitgeberbeiträge an die Sozialkasse, die jeweils an der jeweiligen Bruttolohnsumme des Betriebes bemessen werden. Durch die Allgemeinverbindlicherklärung der Tarifverträge ist gewährleistet, dass sich alle Betriebe der Branche (und nicht nur die tarifgebundenen Mitglieder der Arbeitgeberverbände) an der Finanzierung beteiligen. Ohne AVE würde das gesamte sehr erfolgreiche Sozialkassenmodell der Branche nicht funktionieren.

Abbildung IV.4

630

622

600

Allgemeinverbindliche Tarifverträge 1991 – 2016

627 588

571

551

Anzahl der allgemeinverbindlichen Tarifverträge am 1. Januar

542

500

480

502

490

475

496

463

446

444

400

300

200

200 168

199

Im Laufe des Jahres außer Kraft getretene für allgemeinverbindlich erklärte Tarifverträge

158

163

145

118

99

96

100

99

54

82

56 Im Laufe des Jahres für allgemeinverbindlich erklärte Tarifverträge

50

20

31

38

30

66

27

2016

2015

2014

2013

2012

2011

2010

2009

15

45

31

27

15

2008

16

2007

2006

19

2005

2004

2003

2002

2001

2000

1999

1998

1997

1996

Quelle: BMA-Tarifregister.

1995

1994

1993

1992

1991

0

30

Tarifvertragssystem

341

Die wenigen allgemeinverbindlich erklärten Lohn- und Gehaltstarifverträge entfallen im Wesentlichen auf Teile von Niedriglohnbranchen wie Bewachungsgewerbe, Friseurgewerbe oder Gebäudereinigung. Welche Bedeutung die AVE bei der Lohn- und Gehaltsfestsetzung haben kann, zeigt sich exemplarisch im Einzelhandel. Bis zum Ende der 1990er-Jahre waren die Lohn- und Gehaltstarifverträge in nahezu allen Tarifbereichen der Branche allgemeinverbindlich, eine fast vollständige Tarifbindung war also gegeben. Danach lehnten die Handelsverbände die Allgemeinverbindlicherklärung ab und führten die Verbandsmitgliedschaft ohne Tarifbindung ein. Die Tarifbindung umfasst 2018 nur noch 22 % der Betriebe und 36 % der Beschäftigten der Branche. Große Bedeutung hat die AVE im Zusammenhang mit dem Arbeitnehmerentsendegesetz (AentG). Das Gesetz verpflichtete ursprünglich ausländische Unternehmer der Baubranche, für ihre in Deutschland beschäftigten Arbeitnehmer:innen die tariflichen Mindestarbeitsbedingungen (Entgelt, Urlaub, Urlaubsgeld) einzuhalten, sofern sie für allgemeinverbindlich erklärt wurden. Der Geltungsbereich des Gesetzes, das 1996 in Kraft trat, wurde im Laufe der Jahre schrittweise erweitert. Inzwischen erlaubt das Gesetz auch, für alle im Inland tätigen Arbeitnehmer:innen einer Branche Mindestarbeitsbedingungen, insbesondere einen Mindestlohn, verbindlich vorzuschreiben. Auch hier ist ein entsprechender Tarifvertrag Voraussetzung. Entsprechende Tarifverträge mit Mindeststandards, die nach dem Entsendegesetz für allgemeinverbindlich erklärt wurden, gibt es für das Bauhauptgewerbe, das Dachdeckerhandwerk, das Maler- und Lackiererhandwerk und das Abbruch- und Abwrackgewerbe. Branchenmindestlöhne auf Grundlage des AentG bestehen u. a. in den Branchen und Bereichen Abfallwirtschaft, berufliche Aus- und Weiterbildung, Elektrohandwerk, Gebäudereinigerhandwerk, Leiharbeit, Pflegebranche sowie Geldund Wertdienste (siehe Pkt. 4.2 dieses Kapitels). 3.5

Ablauf einer Tarifrunde

Jährlich werden Lohn- und Gehaltstarifverträge für bis zu 20 Mio. Beschäftigte abgeschlossen. Die Kündigungstermine der Tarifabkommen verteilen sich über das ganze Jahr. In einem hoch entwickelten Industrieland wie Deutschland, dessen Wirtschaft eine sehr starke Exportorientierung aufweist, kommt den Tarifverhandlungen und -abschlüssen im produzierenden Gewerbe, insbesondere in der Metallindustrie, eine hohe, oft richtungweisende Bedeutung zu. Die (informelle) Tarifführerschaft liegt daher oft bei der IG Metall; allerdings weisen die jährlichen Tarifabschlüsse in der Regel eine erhebliche Streubreite auf, die letztlich Ausdruck der unterschiedlichen wirtschaftlichen Lage der einzelnen Branchen und des jeweiligen gewerkschaftlichen Durchsetzungsvermögens ist. Am Anfang einer Tarifrunde steht die fristgerechte Kündigung des laufenden Tarifvertrages durch die Gewerkschaft. Sie übermittelt dem Arbeitgeberverband ihre

342

Arbeitsbeziehungen

Abbildung IV.5

Typisierter Ablauf einer Tarifrunde

Kündigung des alten Vertrags

Urabstimmung

Aufstellen der Tarifforderungen

Streik

Verhandlungen

Erneute Verhandlungen Evtl. Schlichtung

Evtl. Warnstreiks

Verhandlungsergebnis

Scheitern der Verhandlungen

Evtl. Schlichtung

Üblicher Ablauf

2. Urabstimmung/ Ergebnisannahme Ende der Tarifrunde

Tarifbewegung mit Arbeitskampf

Tarifforderungen, die sie nach einer Diskussion der Gewerkschaftsmitglieder in den Betrieben beschlossen hat. Die Verhandlungen werden von Tarifkommissionen geführt, in denen auf gewerkschaftlicher Seite neben hauptamtlichen Gewerkschaftsfunktionär:innen auch Mitglieder aus verschiedenen Betrieben teilnehmen; dazu zählen auch Betriebsräte. Tarifverhandlungen für neue Lohn- und Gehaltstarifverträge können bereits nach wenigen Verhandlungen zum Ergebnis führen, manchmal ziehen sie sich aber auch über Monate hin. Auch wenn es nach ergebnislosen Verhandlungen zu einem „tariflosen“ Zustand kommt, gelten die alten Tarifverträge zunächst weiter. Tarifabschlüsse in großen Branchen, wie z. B. der Metall- und Elektroindustrie, haben oft eine Orientierungs- und Pilotfunktion für die nachfolgenden Verhandlungen in anderen Wirtschaftszweigen. Gelingt es den Tarifparteien allein nicht, durch Verhandlungen zu einem Ergebnis zu kommen, können sie unabhängige Schlichter hinzuziehen. Eine staatliche Zwangsschlichtung gibt es in Deutschland nicht, auch nicht im Bereich von „Versorgungdienstleistungen“ (Verkehr, Gesundheitswesen, Energieversorgung, Nachrichtenübermittlung usw.). An die Vorschläge der Schlichter sind die Tarifparteien nicht gebunden, oft bilden sie aber die Grundlage für eine Tarifeinigung. Die Gewerkschaften können während der Verhandlungen nach Ablauf der Friedenspflicht zu kurzen, befristeten Arbeitsniederlegungen (Warnstreiks) aufrufen. Nach dem Scheitern der

Tarifvertragssystem

343

Verhandlungen sind auch reguläre (unbefristete) Streiks möglich. Voraussetzung dafür ist zumeist eine Zustimmung von mindestens 75 % der betroffenen Gewerkschaftsmitglieder in einer Urabstimmung. Nach einem Streik stimmen sie auch über das erzielte Ergebnis ab. 3.6

Streiks und Arbeitskämpfe

Auch wenn die übergroße Mehrheit der Tarifverhandlungen ohne Arbeitskampfmaßnahmen abgeschlossen wird, ist der Streik eine zentrale Voraussetzung für die praktische Wahrnehmung der Tarifautonomie. Denn der Streik ist die einzige Möglichkeit der Beschäftigten, Druck auf die Arbeitgeber auszuüben. Das Bundesarbeitsgericht hat einmal formuliert: „Tarifverhandlungen ohne das Recht zum Streik ist wie ‚kollektives Betteln‘“. Der Streik ist gewissermaßen das „Schwert an der Wand“, das zwar gezeigt werden kann, aber nur im Notfall genutzt wird. In Deutschland wird vergleichsweise wenig gestreikt, oft bleibt es bei kurzfristigen Warnstreiks. Aber es zeigt sich, dass im Laufe der Geschichte der Tarifpolitik immer wieder auch große Streiks stattfanden, um wichtige Ziele der Gewerkschaften durchzusetzen (vgl. Übersicht IV.2). In den großen Flächenstreiks in der Industrie griffen die Arbeitgeberverbände immer wieder zum Mittel der Aussperrung der Beschäftigten, um sie und die Gewerkschaften unter Druck zu setzen. Hauptgegenstand von Arbeitskämpfen sind in der Regel Lohn- und Gehaltsforderungen und Arbeitszeitfragen. Aber auch andere Themen spielen eine Rolle: die Aufwertung einzelner Tätigkeitsgruppen insbesondere von Frauen z. B. im Gesundheitswesen und im Sozial- und Erziehungsdienst, Mindeststandards für Personalbesetzung, Gesundheitsförderung, Qualifizierung oder überhaupt die Durchsetzung von Tarifverträgen. Ein prominentes Beispiel dafür ist der seit 2013 von ver.di geführte Konflikt mit Amazon. Das Unternehmen weigert sich seit vielen Jahren, überhaupt einen Tarifvertrag mit der Gewerkschaft abzuschließen. Die Gewerkschaften leisten bei der Durchführung von Streiks Unterstützungszahlungen an ihre am Arbeitskampf beteiligten Mitglieder (Streikgeld). Dies soll zumindest teilweise das wegfallende Entgelt ausgleichen. Die Höhe fällt je nach Gewerkschaft unterschiedlich aus. Bei der IG Metall ist das Streikgeld nach der Dauer der Mitgliedschaft gestaffelt. Für eine Streikwoche gibt es das 12 – 14fache eines Monatsbeitrages. Das bedeutet z. B. bei einer mehr als fünfjährigen Mitgliedschaft bei einem Bruttomonatsverdienst von 2500 € (= 25 € Beitrag) ein Streikgeld von 350 € pro Woche. Streikunterstützung ist steuerfrei und es müssen dafür auch keine Sozialversicherungsbeiträge abgeführt werden. Streikgeld wird in der Regel nicht bei kürzeren Warnstreiks gezahlt. Um in Tarifauseinandersetzungen konfliktfähig zu sein, bilden Gewerkschaften regelmäßig Rückstellungen, damit die Streikkasse im Ernstfall hinreichend gefüllt ist.

344

Arbeitsbeziehungen

Übersicht IV.2 Ausgewählte Arbeitskämpfe Jahr

Gewerkschaft

Streikende

Branche

Forderung

1956/1957 16 Wochen

IG Metall

34 000

Metallindustrie Schleswig-Holstein

Lohnfortzahlung im Krankheitsfall

1974 3 Tage

ÖTV, GdED, DPG

193 000

Öffentlicher Dienst, Bahn, Post

Lohnerhöhung von 15 %

58 000 (155 000 Ausgesperrte)

Metallindustrie

35-Stunden-Woche

1984 7 Wochen

12 Wochen

IG Druck und Papier

46 000

Druckindustrie

35-Stunden-Woche

1993 2 Wochen

IG Metall

27 000

Metallindustrie Ost

Lohnangleichung Ost/West

1996

Gewerkschaft HBV

100 000

Einzelhandel

Verlängerte Ladenöffnungszeiten

2006 8/13 Wochen

Marburger Bund

32 000

Ärzt:innen an Landes-/Kommunalkrankenhäusern

Durchsetzung eigener Tarifverträge

2013 ff.

Ver.di

mehrere 1000

Amazon

Durchsetzung Tarifvertrag für Einzelund Versandhandel

2015 1. Monat

Ver.di

50 000

Öffentlicher Dienst

Aufwertung des Sozial- und Erziehungsdienstes

2015/16

Ver.di

mehrere hundert

Universitätsklinik Charité

Personalmindeststandards, Gesundheitsförderung

2018 2 Wochen

IG Metall

1 Mio.

Metallindustrie

Wahlarbeitszeit, zusätzliche freie Tage

Tarifvertragssystem

345

Abbildung IV.6 Streikende und Streiktage 2004 – 2018

2000

2.002

Streikende 1.607

Streiktage

1.550

1500

1.200 1.030

1000

1.152

1.133 1.055

1.003

1.032

725 630 500

550

515

551

542 398 320

175 0

16 2004

173 120

67 2005

2006

2007

2008

2009

2010

462

392 345

304

238

182

2011

131 2012

2013

2014

2015

2016

2017

2018

Quelle: WSI, Streikstatistik.

Streiks sind für Gewerkschaften auch ein wichtiges Organisationsmittel. Bei konfliktreichen Tarifrunden mit Arbeitskampfmaßnahmen steigt bei den Beschäftigten die Bereitschaft, der Gewerkschaft beizutreten. Insgesamt ist ein Strukturwandel der Arbeitskämpfe festzustellen: Die unbefristeten Flächenstreiks haben stark an Bedeutung verloren, kurzfristige (Warn-)Streiks dominieren das Arbeitskampfgeschehen (vgl. Abbildung IV.6). Der Anteil der Streiks im privaten wie öffentlichen Dienstleistungsbereich hat langfristig zugenommen, die Beteiligung von Frauen an den Streikauseinandersetzungen ist gestiegen. 3.7

Europäische Tarifpolitik

Tarifpolitik ist im Kern auf Unternehmen bzw. Branchen im nationalen Handlungsraum angelegt. Die Tarifvertragsparteien agieren auf örtlicher, regionaler oder auch bundesweiter Ebene. Ihre Regulierungskraft endet an den Grenzen Deutschlands. Und dennoch hat die deutsche Tarifpolitik auch eine europäische Dimension: Die in bundesdeutschen Tarifverträgen insbesondere in den exportorientierten Industriebranchen gesetzten Standards für Einkommens- und Arbeitsbedingungen sind Orientierungsmarken für die europäischen Nachbarländer, die in wirtschaftlichen Beziehungen zu Deutschland stehen. Lohnkosten sind in Zeiten globalisierter Pro-

346

Arbeitsbeziehungen

duktion und internationaler Wertschöpfungsketten wichtige Wettbewerbsparameter in doppelter Hinsicht: Tarifvertragliche Lohnfortschritte in Deutschland schaffen indirekt Spielräume für die tarifliche Einkommensgestaltung in anderen Ländern. Moderate Lohnerhöhungen erhöhen den Druck auf die Löhne auch andernorts. Die Einführung des Euro 1999 (bzw. 2002 als Bargeld) setzte diesen Zusammenhang auf die Tagesordnung der Tarifvertragsparteien, insbesondere der Gewerkschaften, in der Eurozone. Denn die einheitliche Währung versperrte die früher von den Staaten bzw. Zentralbanken oft genutzte Möglichkeit der Abwertung der eigenen Währung bei verstärktem Wettbewerbsdruck. Die europäischen Gewerkschaften bemühten sich um eine verbesserte Koordinierung der nationalen Tarifpolitiken, um diese unerwünschten Folgewirkungen der Euroeinführung zu unterbinden. Zwar kam es zu einem deutlich verbesserten Informationsaustausch, der durch die europäischen Gewerkschaftsbünde organisiert wurde, eine wirkliche grenzüberschreitende Koordinierung der Tarifpolitik fand und findet jedoch nicht statt. Auch tatsächlich grenzüberschreitend gültige Tarifverträge hat es bis heute nicht gegeben. Sie dürften angesichts der sehr unterschiedlichen Interessen und Tarifvertragsstrukturen in den Ländern kaum realistisch sein, denn weder sind die Arbeitgeber auf europäischer Ebene dazu bereit, noch sind die Gewerkschaften zu ihrer Durchsetzung in der Lage. Die Tarifpolitik in den Ländern der Europäischen Union ist Gegenstand intensiver Beobachtung durch die Europäische Kommission. Mit der Herausbildung des Systems der europäischen „Economic Governance“ nach der Finanzkrise ab 2010 begann die regelmäßige Veröffentlichung von verbindlichen lohnpolitischen Vorgaben, die auf eine moderate Lohnentwicklung und eine Dezentralisierung der Tarifvertragssysteme gerichtet waren. Nach der Finanzkrise 2008/2009 setzten auch die Europäische Zentralbank, der Internationale Währungsfonds und die Europäische Kommission („Troika“) insbesondere in den südeuropäischen Krisenländern tiefgreifende Veränderungen durch: In Griechenland wurden nationale Tarifverträge abgeschafft und der Mindestlohn stark gekürzt. In Spanien kam es zu einer radikalen Dezentralisierung mit einem faktisch uneingeschränkten Vorrang betrieblicher Vereinbarungen. In Portugal wurden durch verschärfte Anforderungen an die Allgemeinverbindlichkeit der Geltungsbereich vieler Branchentarifverträge drastisch eingeschränkt. Nur schrittweise gelang es, diese Entwicklung abzubremsen und umzukehren. Der Europäische Gewerkschaftsbund entwickelte einen neuen Koordinierungsansatz, der als Richtgröße für die Lohnpolitik mindestens die Preissteigerung und die Produktivitätssteigerung formuliert und eine stärkere Beteiligung der Gewerkschaften am Prozess der Entwicklung länderspezifischer Empfehlungen anstrebt. Dazu zählen auch europaweite öffentliche Kampagnen zur Stärkung und Verteidigung der Rechte aller Beschäftigten durch Tarifverhandlungen, wie sie z. B. der Dachverband der Industriegewerkschaften industriAll Europe 2019 unter dem Motto „Together at Work“ durchgeführt hat.

Regelungsbereiche und -inhalte von Tarifverträgen

4

347

Regelungsbereiche und -inhalte von Tarifverträgen

Das breite Regelungsspektrum der Tarifpolitik stellt die Tarifvertragsparteien, insbesondere die Gewerkschaften, vor die Notwendigkeit, Prioritäten zu setzen. Nicht alles, was ihnen wünschenswert erscheint, kann auch mit gleichem Nachdruck verfolgt und kurzfristig durchgesetzt werden. Denn in der Regel reicht das materielle Verteilungsvolumen, das in einer Tarifrunde zur Verfügung steht bzw. erreicht werden kann, nicht aus, um alle Forderungen zu realisieren. Und längst nicht alle (Teil-)Forderungen stoßen bei allen Mitgliedern gleichermaßen auf Zustimmung. Die unterschiedlichen Interessen müssen abgeglichen und in mobilisierungsfähiger Form gebündelt und in die Tarifverhandlungen eingebracht werden. Dabei kann es durchaus auch zu kontroversen Diskussionen bei der innergewerkschaftlichen Willensbildung kommen. Das beginnt beispielsweise bei Art und Umfang der tariflichen Lohnforderung (gleicher Prozentsatz für alle, stärkere Anhebung der unteren Lohngruppen oder einzelner Beschäftigtengruppen). Auch qualitative Forderungen wie etwa kürzere Arbeitszeiten, Weiterbildungsansprüche, zusätzliche Altersvorsorge, Schutz besonderer Personengruppen u. a. m. werden unterschiedlich beurteilt. Tarifpolitik ist also auf Gewerkschaftsseite immer auch ein innerverbandlicher Prozess der demokratischen Willensbildung. Auf der Arbeitgeberseite gibt es bei Branchentarifverträgen vergleichsweise ähnliche Effekte, denn je nach Betriebsgröße, Markstellung und Belegschaftsstruktur wirken tarifvertragliche Regelungen sehr unterschiedlich. Die vorfindlichen Tarifverträge spiegeln in ihrer thematischen Breite und Differenziertheit die in einem langen Prozess immer wieder neu gefundenen Ergebnisse dieses Interessenausgleichs zwischen und innerhalb der Tarifparteien wider. 4.1

Lohnniveau und -struktur

Tarifverträge wirken gleichermaßen auf Niveau und Struktur der Löhne und Gehälter. Das (nominale) Niveau wird durch die durchschnittliche Erhöhungsrate der Löhne und Gehälter, die in den jährlichen „Tarifrunden“ ausgehandelt wird, bestimmt. Der Steigerungssatz hängt neben der Verhandlungs- und Durchsetzungsmacht der Gewerkschaft zentral von den ökonomischen Rahmendaten ab. Folgende ökonomische Faktoren spielen für die Formulierung der gewerkschaftlichen Forderungen eine Rolle: Preissteigerung, gesamtwirtschaftlicher und branchentypischer Produktivitätszuwachs, Gewinnentwicklung, Verteilungssituation, Arbeitsmarktlage. Abbildung IV.7 zeigt, wie sich die tariflichen Grundvergütungen in ausgewählten Branchen seit dem Jahr 2000 entwickelt haben. Zum Vergleich ist auch der neutrale Verteilungsspielraum, der sich aus der Preis- und Produktivitätsentwicklung ergibt, abgebildet. Welche Faktoren mit welchem Gewicht wirksam werden, lässt sich nur schwer ermitteln. Ein Blick auf die vergangenen zwei Jahrzehnte zeigt, dass die tarifliche Ver-

348

Arbeitsbeziehungen

Abbildung IV.7

Entwicklung der Tarifvergütungen in ausgewählten Branchen 2000 – 2018

160

168,5

Metall

163,2

Chemie

157,3 Preise+Produkt 157,2

Gesamt

153,7

Ö. Dienst

145,8

Einzelhandel

150

143,5

Banken

140

133,4 130

131,6

Druckindustrie Preise

120

2019

2018

2017

2016

2015

2014

2013

2012

2011

2010

2009

2008

2007

2006

2005

2004

2003

2002

2001

100

2000

110

Quelle: WSI-Tarifarchiv.

dienstentwicklung im gesamtwirtschaftlichen Durchschnitt lange Zeit deutlich unter dem neutralen Verteilungsspielraum blieb, der durch die Summe von Preis- und Produktivitätsentwicklung gebildet wird. Erst nach der Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/2009 verbesserte sich die Lohnentwicklung deutlich. Diese Durchschnittsbetrachtung verdeckt allerdings sehr unterschiedliche Branchenentwicklungen: Die ökonomisch starke, exportorientierte Metall- und Elektroindustrie wie auch die chemische Industrie verzeichneten eine weit überdurchschnittliche Tarifentwicklung. Der Dienstleistungsbereich (hier: Banken, Einzelhandel) blieb deutlich unter dem Durchschnitt, die krisengeschüttelte Druckindustrie erreichte knapp einen Ausgleich der Preisentwicklung. Jede Tariflohnerhöhung berührt automatisch auch die Lohnstruktur: Bei einer linearen Erhöhung werden alle Lohn- und Gehaltsgruppen um einen einheitlichen Prozentsatz erhöht. Zwar bleiben die Relationen der Lohn- und Gehaltsgruppen gleich, aber die absoluten Abstände nehmen zu. Bei Festbeträgen erhält jeder Beschäftigte einen einheitlichen Erhöhungsbetrag. Die Unterschiede zwischen den Lohn- und Gehaltsgruppen werden verringert, die umgerechnete prozentuale Einkommenssteigerung ist umso höher, je niedriger die Lohn- und Gehaltsgruppe liegt. Bei Mindestbeträgen und Sockelbeträgen handelt

Regelungsbereiche und -inhalte von Tarifverträgen

349

Übersicht IV.3 Definition von Entgeltgruppen am Beispiel: Entgeltrahmentarifvertrag Metallindustrie Niedersachsen (2019) Es bestehen 13 Entgeltgruppen einheitlich für alle Arbeiter:innen und Angestellten. Die erste Gruppe ist für die Auszubildenden vorgesehen. unterste Entgeltgruppe (2): „Tätigkeiten, für die Kenntnisse und/oder Fertigkeiten erforderlich sind, die durch kurzzeitige Unterweisung erworben werden.“ mittlere Entgeltgruppe (5): „Tätigkeiten, für die Kenntnisse und/oder Fertigkeiten erforderlich sind, die durch eine abgeschlossene, mindestens 3-jährige fachbezogene Berufsausbildung … erworben werden.“ höchste Entgeltgruppe (13): „Tätigkeiten, für die Kenntnisse und/oder Fertigkeiten erforderlich sind, die durch eine abgeschlossene mindestens vierjährige Regelausbildung an einer Universität (z. B. Master; Magister; Universitätsdiplom) und mehrjährige Berufserfahrung erworben werden.“ Die niedrigste Entgeltgruppe beträgt 78 % der mittleren Gruppe (100 %). Die höchste Entgeltgruppe liegt bei 187 % der mittleren.

es sich um eine gemischte Form der Erhöhung: Die Lohn- und Gehaltsgruppen werden zwar linear angehoben, aber für die unteren Gruppen muss ein Mindestbetrag erreicht werden. Lineare Lohnerhöhungen sind die Regel, zu Zeiten starker Inflation wurden von den Gewerkschaften aber häufig Tarifforderungen mit einer Begünstigung der unteren Gruppen gestellt, um ihre überdurchschnittliche Betroffenheit durch die Geldentwertung abzumildern. Unmittelbar auf die Lohnstruktur beziehen sich die Lohn- bzw. Gehaltsrahmentarifverträge. Sie beinhalten die Einteilung, Merkmalsdefinition und Staffelung der Lohn- und Gehaltsgruppen. Die Staffelung, in der die einzelnen Lohn- und Gehaltsgruppen zueinanderstehen, wird durch den Lohngruppenschlüssel festgelegt: Eine mittlere Lohngruppe wird gleich 100 % gesetzt, und die übrigen Gruppen stehen in einem festen, meist prozentualen Verhältnis zu dieser Ecklohngruppe. Mit Hilfe verschiedener Arbeitsbewertungsverfahren werden die einzelnen Tätigkeiten differenziert und in eine Rangfolge gebracht. Dies kann durch eine relativ grobe Bewertung geschehen, die sich im Wesentlichen an der im Arbeitsprozess geforderten Qualifikation orientiert (summarische Arbeitsbewertung), oder durch ein differenzierteres Verfahren, das darüber hinaus weitere Faktoren, wie z. B. Belastungsvariablen, Umgebungseinflüsse, Grad der Verantwortung, mit einbezieht und im Einzelnen gewichtet (analytische Arbeitsbewertung). Die zur Lohngruppenbestimmung herangezogenen Kriterien, ihre Gewichtung und die Spannbreite zwischen den einzelnen Lohngruppen beeinflussen in erheblichem Maße die innere Verteilung der Arbeitseinkommen auf die Gesamtgruppe der

350

Arbeitsbeziehungen

Beschäftigten. Darüber hinaus spielt die Frage eine Rolle, nach welchen Entlohnungsverfahren (zeit- bzw. leistungsbezogen) das Arbeitsentgelt ermittelt wird. Überwiegend kommen gemischte Systeme zum Einsatz, wenngleich in Abhängigkeit von der Branche, dem Produktionsverfahren und der Tätigkeit auch reine Typen (z. B. Zeitlohn) angewendet werden. Sowohl für die Lohndifferenzierung wie auch für die Entlohnungsmethoden gilt gleichermaßen, dass sie in ihrer Ausgestaltung Ausdruck von im Zweifel widersprüchlichen Interessen sind. Sie sind (tarif-)politisch beeinflussbar und können nicht nach wissenschaftlich abgesicherten, vermeintlich objektiven Kriterien auf ihre „Richtigkeit“ hin beurteilt werden. Löhne und Gehälter sind auch Ergebnis bzw. Ausdruck der Mitgliederinteressen in einer Gewerkschaft. Stark repräsentierte Mitgliedergruppen werden sich eher durchsetzen als schwach organisierte Gruppen wie beispielsweise geringfügig oder teilzeitbeschäftigte Frauen. Seit den 1980er Jahren bemühen sich die Gewerkschaften, die Trennung in Lohn- und Gehaltstarifverträge durch die Vereinbarung von Entgelttarifverträgen zu überwinden, die einheitlich für die Beschäftigten gelten. Auf diese Weise soll dem Tatbestand Rechnung getragen werden, dass sich die Unterschiede zwischen Arbeiterund Angestelltentätigkeiten immer stärker verwischen. Im Jahr 2003 ist es den Tarifparteien in der Metall- und Elektroindustrie nach jahrelangen komplizierten Verhandlungen gelungen, neue Entgeltrahmenabkommen (ERA) zu vereinbaren, die die Entgeltfindung auf eine einheitliche und modernisierte Basis stellen. Die Abkommen wurden in einem mehrjährigen Prozess in den Betrieben eingeführt. In den Jahren 2005 und 2006 wurde auch im öffentlichen Dienst u. a. durch den neuen Tarifvertrag öffentlicher Dienst (TVöD) die Trennung zwischen Arbeiter:innen und Angestellten zugunsten einheitlicher Entgeltstrukturen aufgehoben. Für etwas mehr als die Hälfte der tarifvertraglich erfassten Beschäftigten gelten inzwischen einheitliche Entgelttarifverträge. Für manche Beschäftigte wird die individuelle Lohn- bzw. Gehaltshöhe nicht nur durch die Eingruppierung, sondern auch maßgeblich durch die tariflich fixierten Zuschläge bestimmt. So gibt es in allen Branchen Zuschläge für Überstundenarbeit, für Schicht-, Nacht- und Sonntagsarbeit. In einigen Tarifbereichen werden auch Zuschläge für besondere Arbeitserschwernisse (Hitze, Lärm, schwere Arbeit usw.) gezahlt, so z. B. im Baugewerbe, in der Stahlindustrie, der chemischen Industrie und der Metall- und Elektroindustrie. Diese Zuschläge gelten als Ausgleich für Belastungen, stellen aber gerade für Geringverdienende auch einen nennenswerten Einkommensbestandteil dar. Für den Arbeitgeber ist es oftmals kostengünstiger, Zuschläge für besondere Arbeitserschwernisse zu zahlen, als die gesundheitsgefährdenden Arbeitsumgebungseinflüsse zu beseitigen (vgl. Kapitel „Arbeit und Gesundheit“, Pkt. 1.1). Waren in der Vergangenheit vor allem individuelle oder gruppenbezogene leistungsabhängige Vergütungsbestandteile ein wichtiges personalwirtschaftliches Anreizinstrument, so gewinnen seit einigen Jahren zusätzlich ergebnisabhängige Entgeltelemente an Bedeutung. Vor allem jahresbezogene Vergütungsbestandteile (Jahressonderzahlung, Bonus, Erfolgsprämie usw.) werden ganz oder teilweise von

Regelungsbereiche und -inhalte von Tarifverträgen

Tabelle IV.4

351

Übertarifliche Entlohnung 2013, Anteile in %

Übertariflich entlohnende Betriebe

Begünstigte Beschäftigte

Übertarifliche Entlohnung

West

39

64

10

Ost

24

59

11

Quelle: IAB-Betriebspanel 2013 (Basis: privatwirtschaftliche Betriebe ohne Landwirtschaft und Organisationen ohne Erwerbszweck).

ertrags- bzw. gewinnbezogenen oder sonstigen betriebswirtschaftlichen Ergebniskriterien abhängig gemacht. Häufig werden sie – z. B. in Form von sog. Zielvereinbarungen – mit leistungsbezogenen Anforderungen kombiniert. Die bislang noch wenigen tariflichen Regelungen schreiben die Rahmenbedingungen (Kriterien, Verfahrensvorschriften) und teilweise auch die quantitativen Vorgaben fest. Die tariflich festgelegten Löhne, Gehälter und Entgelte sind unabdingbare Mindestgrößen. Den Betrieben steht es frei, ihren Beschäftigten mehr zu zahlen. Tatsächlich sprechen eine Reihe von personalwirtschaftlichen Gründen für eine übertarifliche Bezahlung; sie hilft beispielsweise beim Anwerben und Halten von Personal in Zeiten geringer Arbeitslosigkeit und Fachkräftemangel. Die vorliegenden Daten zeigen, dass ein beträchtlicher Anteil der Betriebe von diesem Instrument Gebrauch macht (Tabelle IV.4). Im Jahr 2013 (neuere Daten liegen nicht vor) waren es im Westen 39 %, im Osten 24 % der tarifgebundenen Betriebe der Privatwirtschaft. Begünstigt wurden davon immerhin 64 bzw. 59 % der Beschäftigten in diesen Betrieben. Das Ausmaß der übertariflichen Vergütung (relative Lohnspanne) betrug in West und Ost 10 bzw. 11 %. Besonders schwierig bis unmöglich ist es, durch Tarifpolitik die großen Unterschiede im Entgeltniveau zwischen Branchen (vgl. Kapitel „Einkommen“, Pkt. 2.3.1) zu verringern. In der Vergangenheit ist es nicht gelungen, die Tariflohnerhöhungen in den traditionellen Niedriglohn- und Frauenbranchen etwa im Einzelhandel, im Hotel und Gaststättengewerbe und in vielen anderen privaten Dienstleistungsbereichen oberhalb des gesamtwirtschaftlichen Durchschnitts abzuschließen. Das müsste aber über viele Jahre hinweg geschehen, damit diese Wirtschaftszweige nicht mehr als Niedriglohnbranche gelten. Tabelle IV.5 zeigt beispielhaft die großen Differenzen zwischen den tariflichen Vergütungstabellen. Z. B. lag im Hotel- und Gaststättengewerbe Nordrhein-Westfalen Ende 2018 das unterste Monatsentgelt bei 1 639 €, das oberste bei 3 364 €. In der Metallindustrie Nordwürttemberg-Nordbaden begann die Vergütungstabelle bei 2 398 € und reichte bis 6 044 €. Auch bei anderen Vergütungskomponenten wie dem (zusätzlichen) Urlaubsgeld und der Jahressonderzahlung („Weihnachtsgeld“) bestehen beträchtliche Unterschiede.

352

Arbeitsbeziehungen

Tabelle IV.5 Tarifliche Einkommensbedingungen in ausgewählten Wirtschaftszweigen 2018 Tarifbereich

Lohn

Gehalt bzw. Entgelt

Urlaubsgeld

Sonderzahlung





in %1) bzw. €

in %1)

Banken



2 208 – 4 876



100

Bauhauptgewerbe

2 865 – 4 105

2 298 – 6 484

30 %

55

Chemie2)



2 659 – 6 231

1 200

95

Einzelhandel3)

2 058 – 3 566

1 622 – 4 916

1 290

62,5

Hotel u. Gaststätten4)



1 639 – 3 364

200 – 240

50

Metall5)

2 398 – 6 044

50 %

25 – 55

Öffentlicher Dienst6)

1 827 – 6 668



39 – 80

1 688 – 3 870

378 – 420

30 – 40

Privater Transport und Verkehr7)

1 959 – 2 253

1) In % einer Monatsvergütung 2) Nordrhein 3) NRW 4) Bayern 5) Nordwürttemberg/Nordbaden 6) Gemeinden 7) NRW Quelle: WSI-Tarifhandbuch 2019, Stand: 31. 12. 2018.

Die Anpassung der tariflichen Vergütungen in Ostdeutschland an das westdeutsche Niveau ist weitgehende abgeschlossen. Das durchschnittliche Tarifniveau Ost/West liegt bei 97 %. In einigen Branchen bestehen gleichwohl noch deutliche Unterschiede, so etwa in Bereichen der Landwirtschaft, des Transportgewerbes und des Hotel- und Gaststättengewerbes. 4.2

Tarifliche Niedriglöhne und Mindestlöhne

In einer Reihe von Branchen weisen die Tarifverträge zum Teil seit Jahrzehnten ein niedriges Vergütungsniveau auf. Betroffen sind davon vor allem Dienstleistungsbranchen und -berufe wie Friseurhandwerk, Bewachungsgewerbe, Gebäudereinigung, Hotel- und Gaststättengewerbe, Einzelhandel u. a. m. Angesichts der rückläufigen Tarifbindung und des schwachen gewerkschaftlichen Durchsetzungsvermögens gerade in diesen Bereichen entwickelte sich in Deutschland seit Ende der 1990er Jahre eine Diskussion um die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns. Dazu kam es aber erst 2015. In der Praxis zeigte sich, dass die Einführung und Anhebung des gesetzlichen Mindestlohns 2015 Auswirkungen auf die Tarifpolitik in den Niedriglohnbranchen hatte. Die untersten Vergütungsgruppen mussten zum Teil kräftig angehoben werden, was zu einer Stauchung der Tarifvergütungen führte; das heißt die Abstände zwischen den Vergütungsgruppen wurden deutlich geringer. In einigen Fällen wurden in der Folge auch die mittleren und oberen Gruppen angehoben, um diesen Effekt zu kom-

Regelungsbereiche und -inhalte von Tarifverträgen

353

Abbildung IV.8 Tarifvertragliche Entgeltgruppen und gesetzlicher Mindestlohn 2010 – 2019 in Prozent aller Entgeltgruppen unterhalb des Mindestlohnwertes 18

15,4

16

14

unter 8,50 €

11,2

unter 9,19 €

unter 9,35 €

9,1

10

unter 8,84 €

10,9

13,0

12

6,1

5,5

6,2

6

6,3

7,4

8,3

8

Sept. 2011

Dez. 2012

Dez. 2013

Jan. 2015

Jan. 2016

Jan. 2017

Jan. 2018

1,0

1,0 März 2010

1,0

2,7

2

0

3,0

3,8

4,4

4

Jan. 2019

Quelle: WSI-Tarifarchiv (2019).

pensieren. Die absehbaren Steigerungen des Mindestlohns wurden von den Tarifvertragsparteien in ihren Verhandlungen berücksichtigt. In einigen Branchen legten auch die Arbeitgeber Wert darauf, einen gewissen Abstand zum Mindestlohnniveau zu halten, um ihre Attraktivität auf dem Arbeitsmarkt zu erhöhen. Die Wechselbeziehungen zwischen (niedrigen) Tariflöhnen und gesetzlichem Mindestlohn werden bei jeder Anpassung des Mindestlohns erneut zum Gegenstand der tarifpolitischen Diskussionen und Verhandlungen. Abbildung IV.8 zeigt, dass im Vorfeld der Einführung des gesetzlichen Mindestlohnes der Anteil der tariflichen Vergütungsgruppen unterhalb des Mindestlohnes von zunächst 8,50 € schrittweise zurückging. Bei jeder weiteren Anhebung des Mindestlohnes fiel ein kleiner Anteil der Tarifgruppen unter die neue Mindestlohngrenze und machte so neue Tarifanpassungen erforderlich. Bereits lange vor der Einführung des allgemeinen gesetzlichen Mindestlohns gab es branchenbezogene Mindestlöhne. Seit Mitte der 1990er Jahre wurden zunächst in Branchen des Baugewerbes tarifvertraglich geregelte Branchenmindestlöhnen vereinbart und auf Basis des Arbeitnehmerentsendegesetzes (AEntG) für alle Unternehmen verbindlich gemacht, auch für solche Betriebe, die ihre Beschäftigten aus dem Ausland nach Deutschland zum Arbeitseinsatz entsandten. Damit sollten ein Lohndumping und ein Aushöhlen der deutschen Lohnstandards verhindert werden.

354

Arbeitsbeziehungen

Abbildung IV.9

Branchenmindestlöhne in Euro/Stunde 2020

Allgemeiner gesetzlicher Mindestlohn

9,35

Leiharbeit/Zeitarbeit

9,66 9,96

Abfallwirtschaft

10,00

Gebäudereinigerhandwerk, Innenund Unterhaltsreinigung

10,55 10,80

Maler- und Lackiererhandwerk (ungelernte Beschäftigte)

10,85

Pflegebranche (ungelernt)

10,85 11,35

Steinmetz- und Steinbildhauerhandwerk

11,85

Gerüstbauerhandwerk

11,88

Deutschland Ost West

Elektrohandwerk

11,90

Dachdeckerhandwerk (Helfer)

12,40

Bauhauptgewerbe, Werker

12,55

Geld- und Wertdienste (Geldbearbeitung)* Schornsteinfegerhandwerk

12,16 12,69 13,20

Maler- und Lackiererhandwerk (Geselle)

12,95 13,30

Dachdeckerhandwerk (Facharbeiter)

13,60

Gebäudereinigerhandwerk, Glas- und Fassadenreinigung Geld- und Wertdienste (Geld- und Werttransport)* Bauhauptgewerbe, Fachwerker Berufliche Aus- und Weiterbildung

Quelle: WSI-Tarifarchiv (2020), Mindestlöhne in Deutschland.

13,50 14,10 14,42 14,68 15,40 16,19

Regelungsbereiche und -inhalte von Tarifverträgen

355

Nach und nach wurden auch in weiteren Branchen tarifliche Mindestlöhne auf Basis des AentG und des Tarifvertragsgesetzes allgemeinverbindlich erklärt (vgl. Abbildung IV.9). Sie beziehen sich nicht ausschließlich auf Niedriglohnbranchen und liegen zwischen 10 und 16 Euro je Stunde. Die Branchenmindestlöhne gelten für folgende Bereiche: Abfallwirtschaft, Bauhauptgewerbe, berufliche Aus- und Weiterbildung, Dachdeckerhandwerk, Elektrohandwerk, Gebäudereinigerhandwerk, Geld- und Wertdienste, Gerüstbauerhandwerk, Leih-/Zeitarbeit, Maler- und Lackiererhandwerk, Pflegebranche, Schornsteinfegerhandwerk, Steinmetz- und Steinbildhauerhandwerk. 4.3

Arbeitszeit und Arbeitszeitgestaltung

Die Dauer der tariflichen Regelarbeitszeit ist in den meisten Branchen und Tarifbereichen seit Langem unverändert (Abbildung IV.10). Die letzte große Welle der Verkürzung der Wochenarbeitszeit vollzog sich seit Mitte der 1980er Jahre, in einzelnen Branchen (Metall, Druck, Holz und Kunststoff) konnte schrittweise sogar die 35-Stunden-Woche erreicht werden. Seit Mitte der 1990er Jahre beträgt die tarifliche Wochenarbeitszeit in Westdeutschland im Schnitt rund 37,6 Stunden. In Ostdeutsch-

Abbildung IV.10 Tarifliche Wochenarbeitszeit 1984 – 2018 in West-, Ost- und Gesamtdeutschland in Std. 40,5 40,2 40 39,6 39,5

Ost

39

38,7

38,6 38,5 38,1 38

Deutschland 37,7

37,5

37,5 West

37

1984

1986

1988

Quelle: WSI-Tarifarchiv.

1990

1992

1994

1996

1998

2000

2002

2004

2006

2008

2010

2012

2014

2016

2018

356

Arbeitsbeziehungen

land beläuft sie sich seit rund 10 Jahren auf rund 38,7 Stunden. In einzelnen Bereichen wurde gelegentlich eine Verlängerung der Arbeitszeit vereinbart. Der tarifliche Jahresurlaub ist seit vielen Jahren ebenfalls stabil und beträgt in der Endstufe in nahezu allen Branchen zwischen 29 und 30 Arbeitstage. Das liegt deutlich über dem gesetzlichen Mindesturlaub von 24 Werktagen (= 20 Arbeitstagen) auf Basis des Bundesurlaubsgesetzes. Hauptgegenstand der tariflichen Arbeitszeitpolitik war in der jüngeren Vergangenheit nicht die Dauer der regelmäßigen Arbeitszeit, sondern vielmehr ihre Verteilung und Organisation nach betrieblichen Erfordernissen bzw. Interessen der Beschäftigten. Die Regelungsdichte und -intensität ist mit Blick auf die Tarifvertragslandschaft insgesamt sehr unterschiedlich. Das Flexibilitätspotenzial der tariflichen Arbeitszeitbestimmungen aus Sicht betrieblicher Steuerungsinteressen ist seit langem sehr hoch. Dies gilt für verschiedene Dimensionen: Sehr große betriebliche Gestaltungsmöglichkeiten gibt es bereits bei Lage und Verteilung der regelmäßigen Arbeitszeit. So bestehen mittlerweile in einer Reihe von Branchen tarifliche Arbeitszeitkorridore, innerhalb derer die Arbeitszeit dauerhaft verlängert oder verkürzt werden kann. In den meisten Tarifbereichen kann die regelmäßige Arbeitszeit ungleichmäßig verteilt werden. Die dafür vorgesehenen Ausgleichszeiträume und zulässigen Bandbreiten betragen in vielen Wirtschaftszweigen ein Jahr und länger. Dabei ergeben sich im Regelfall für die Betriebe auch kostengünstigere Regelungen, weil die auf diese Weise gesteigerte Grundflexibilität die zuschlagspflichtige Mehrarbeit reduziert bzw. eine generelle Verringerung der Belegschaftsstärke erlaubt. Nach wie vor gibt es Tarifbereiche, in denen die Mehrarbeit keinen tariflichen Begrenzungen unterliegt. Überwiegend sind mehr oder minder weit gefasste Grenzen über die Festlegung von maximal zulässigen Mehrarbeitsstunden oder von Höchstarbeitszeiten insgesamt gezogen. Der Freizeitausgleich für Mehrarbeit ist ein tarifpolitisches Stiefkind. Wenn überhaupt, ist er meist als unverbindliche Kann-Regelung verankert. Zwingende Freizeitabgeltung ist nach wie vor die seltene Ausnahme. Die Wochenendarbeit ist in den meisten Tarifbereichen grundsätzlich möglich. Nur in einigen wenigen Bereichen ist sie tariflich wirksam eingegrenzt. Die tariflich fixierten Mitbestimmungsmöglichkeiten der betrieblichen Interessenvertretungen reichen in der Regel nicht aus, um sie im Konfliktfall zu verhindern. Einen tariflichen Anspruch der Arbeitnehmer:innen auf Teilzeitarbeit haben die Gewerkschaften nur in Einzelfällen und auch dort nicht zwingend vereinbart. Möglich ist dies in der Regel nur, wenn dies betrieblich möglich ist. Die wenigen Tarifverträge, die bislang einen solchen Wechsel von Teilzeit in Vollzeit und zurück regeln, stehen ebenfalls zumeist unter dem Vorbehalt, dass die betrieblichen Verhältnisse dies zulassen. Eine der wenigen Ausnahmen ist die Metallindustrie: Im Tarifabschluss 2018 wurde ein Recht der Beschäftigten auf eine Verkürzung der Arbeitszeit auf bis zu 28 Stunden/Woche für einen Zeitraum von 6 – 24 Monaten mit Rückkehrrecht vereinbart.

Regelungsbereiche und -inhalte von Tarifverträgen

357

Unmittelbar an den (Arbeits-)Zeitinteressen der Beschäftigten orientiert sind tarifliche Freistellungsregelungen. Neben den traditionellen Freistellungen für in der Regel 1 bis 2 Tage bei besonderen familiären Anlässen (z. B. Eheschließung, Geburt, Umzug, Todesfall) gibt es auch Regelungen, die darüber hinausgehen. Sie betreffen beispielsweise Bildungsmaßnahmen, Pflege (vgl. Kapitel „Pflegebedürftigkeit und Pflege“, Pkt. 3.2), Kinderbetreuung, Elternzeit und sind bislang keineswegs flächendeckend verbreitet. In den vergangenen Jahren haben tarifliche Regelungen mit Wahlmöglichkeiten zwischen Entgelterhöhung und kürzerer Arbeitszeit stark an Bedeutung gewonnen, wie die folgenden Beispiele zeigen: •

Deutsche Bahn AG In den Tarifabschlüssen 2016 und 2018 wurden u. a. jeweils 2,6 % Entgelterhöhung vereinbart, die wahlweise auch als sechs Tage zusätzlicher Urlaub oder eine Stunde kürzere Wochenarbeitszeit umgesetzt werden können. Die Erhöhung von zusammen 5,2 % kann ersetzt werden durch 12 Tage zusätzlichen Urlaub oder zwei Stunden kürze Arbeitszeit. • Metallindustrie Ein 2018 vereinbartes tarifliches Zusatzgeld von zunächst 450 € kann wahlweise in 8 zusätzliche freie Tage umgewandelt werden. Berechtigt sind dazu Beschäftigte mit Kindern bis zu 8 Jahren oder mit pflegebedürftigen Angehörigen und Schichtbeschäftigte. • Eisen- und Stahlindustrie Eine im Tarifabschluss 2019 vereinbarte tarifdynamische Zulage von 1 000 €/Jahr zahlbar ab 2020 kann wahlweise ausgezahlt oder in bis zu 5 freie Tage umgewandelt werden. Die Zahl der Freistellungstage hängt von Gesamtzahl der Anträge ab und ist gestaffelt nach Lohn- und Gehaltsgruppen • Deutsche Post AG Die beiden Entgelterhöhungen des Tarifabschlusses von 2018 in Höhe von 3,0 % und 2,1 % können jeweils einzeln oder kombiniert als Entlastungszeit in 5,5 oder 7,8 oder 13,3 freie Tage umgewandelt werden. 4.4

Sozial- und arbeitsmarktpolitische Regulierung durch Tarifvertrag

Die verfassungsrechtlich garantierte Tarifautonomie gibt den Tarifparteien die Möglichkeit, Tarifvereinbarungen zu den unterschiedlichsten Themen und Regelungsbereichen abzuschließen. Dazu zählen auch die Tarifverträge zu sozialpolitischen Themen. Der tariflichen (und betrieblichen) Sozialpolitik kommt im deutschen Sozialstaatsmodell eine wichtige Bedeutung zu.

358

Arbeitsbeziehungen

4.4.1 Verhältnis von Sozial- und Tarifpolitik

Tarifpolitik greift damit auch in Bereiche hinein, die klassischerweise der staatlichen Sozial- und Arbeitsmarktpolitik zugeschrieben werden. Dies reicht – um nur einige Bereiche zu nennen – von der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall, der Beschäftigungssicherung und sozialen Absicherung bei Unterbeschäftigung über die berufliche Aus- und Weiterbildung und die Vereinbarkeit von Beruf und Familie bis hin zu Altersübergang und Altersversorgung. Die beiden zentralen sozial- und arbeitsmarktpolitischen Regulierungsformen bzw. -instrumente – Gesetz und Tarifvertrag – sind in ihrem Anwendungs- bzw. Zuständigkeitsbereich nicht scharf voneinander getrennt. In vielen Fällen sind tarifliche Regelungen die historischen Vorreiter für verallgemeinernde gesetzliche Regelungen gewesen. Umgekehrt wurden zahlreiche gesetzliche Regelungen tarifpolitisch aufgestockt. Im Großen und Ganzen ist folgende Dreiteilung zu beobachten: Die unmittelbaren Einkommensbedingungen werden überwiegend tarifvertraglich festgelegt. Allerdings bestehen auch hier ergänzend staatliche Vorschriften bzw. Eingriffsmöglichkeiten z. B. bei der Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen, durch den gesetzlichen Mindestlohn oder bei der Festlegung von branchenspezifischen Mindestlöhnen nach dem Entsendegesetz. • Im Bereich des Arbeitsverhältnisses und der Arbeitsbedingungen werden durch Gesetz zahlreiche Mindeststandards festgelegt (z. B. für Kündigungsfristen, Arbeitszeiten, Urlaub sowie den Arbeits- und Gesundheitsschutz). In nahezu allen Bereichen dieser Vorschriften bestehen jedoch tarifliche Regelungen, die die gesetzlichen Mindestregelungen z. T. erheblich verbessern. • Die Bereiche der sozialen Sicherung (Absicherung bei Arbeitslosigkeit, Krankheit, Pflege, Invalidität und im Alter) sind überwiegend gesetzlich geregelt. Allerdings gibt es in einigen Fällen tarifliche Regelungen zur konkreten Umsetzung wie auch Verbesserung der gesetzlichen Leistungen, z. B. bei der Kurzarbeit, der Altersteilzeit und der Altersversorgung. •

Die Zuordnung der sozialen Sicherung zum Bereich der staatlichen Sozialpolitik macht es möglich, bei der unmittelbaren Lohnfestsetzung besondere soziale und familiäre Bedarfslagen (z. B. Kinderzahl) weitgehend außen vor zu lassen. Maßstab für die Höhe des Arbeitseinkommens sowohl im Einzelarbeitsvertrag als auch im Tarifvertrag ist die (wie auch immer definierte) Leistung. So gibt es beim direkten Lohn die früher verbreiteten Familien- oder Kinderzuschläge nur noch in wenigen Ausnahmefällen. Beschäftigte, die eine Familie zu ernähren haben, erhalten bei gleicher Einstufung grundsätzlich den gleichen Lohn wie ihre kinderlosen Kolleg:innen. Bedarfsorientierte Leistungen der Unternehmen finden sich – mit mittlerweile geringer Bedeutung – lediglich im Bereich der betrieblichen Sozialpolitik, z. B. hin-

Regelungsbereiche und -inhalte von Tarifverträgen

359

sichtlich der Bereitstellung von preisgünstigen Werkswohnungen, von Plätzen in betrieblichen Kindertagesstätten oder besonderer Beihilfen im Krankheitsfall. Wenn die Entlohnung nach dem Leistungsprinzip erfolgt, so heißt das auch, dass nur dann bezahlt wird, wenn die Arbeitsleistung tatsächlich angefallen ist. Dieses enge Entsprechungsverhältnis von Leistung (Arbeit) und Gegenleistung (Lohn) wird allerdings in bestimmten Fällen durch tarifvertragliche Regelungen eingeschränkt: • •

Die Weiterzahlung des Entgelts im Urlaub ist durchgängig tariflich vereinbart. In nahezu allen Tarifbereichen finden sich Vereinbarungen über die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall. Grundsätzlich ist dieser Bereich aber gesetzlich geregelt (vgl. Kapitel „Arbeit und Gesundheit“, Pkt. 3.1). • Üblich sind tarifliche Ansprüche auf kurzfristige bezahlte Freistellung bei besonderen Gründen, so bei besonderen Lebensereignissen (Heirat, Tod von Angehörigen) oder bei der Erkrankung und/oder Pflege naher Angehöriger. Im Zuge des technologischen Wandels stellen Einkommensminderungen infolge von Rationalisierung, Abgruppierung und Umsetzungen ein wachsendes Risiko dar. Die Gewerkschaften haben in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder Tarifverträge abgeschlossen, die einen (meist zeitlich begrenzten) Ausgleich solcher Einkommensminderungen beinhalten. Dazu zählen Rationalisierungsschutzabkommen, Absicherungstarifverträge, Tarifverträge mit Einkommensbestandsschutz für ältere Arbeitnehmer:innen usw. 4.4.2 Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall

Die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall ist der klassische Fall einer engen Verflechtung von gesetzlicher und tarifvertraglich geregelter Sozialpolitik, deren Ursprünge weit zurückreichen. Die Angestellten hatten bereits in der Weimarer Republik einen Anspruch auf Gehaltsfortzahlung für die Dauer von sechs Wochen. Demgegenüber erhielten die Arbeiter:innen lange Zeit zumeist nur 50 Prozent des Grundlohns als Krankengeld. Eine Angleichung der entsprechenden Regelungen für die Arbeiter:innen erfolgte erst schrittweise seit den 1950er Jahren. Eine wichtige Rolle spielten dabei tarifvertragliche Regelungen, die teilweise erst durch Streiks durchgesetzt werden konnten. 1969 brachte das Lohnfortzahlungsgesetz für Arbeiter die endgültige Gleichstellung. Versuche der konservativ-liberalen Bundesregierung in den 1990er Jahren, die gesetzliche Lohnfortzahlung einzuschränken, stießen auf Widerstand der Gewerkschaften. Die tarifvertraglichen Bestimmungen wurden zum Teil nachverhandelt, so dass eigenständige Leistungsansprüche entstanden, die künftig gesetzlichen Leistungseinschränkungen entgegenstehen. In vielen Tarifverträgen wurden die Leistungen im Krankheitsfall dadurch verbessert, dass das im Anschluss an die Lohnfortzahlung gezahlte Krankengeld aufgestockt wurde.

360

Arbeitsbeziehungen

4.4.3 Beschäftigungssicherung und soziale Absicherung bei Unterbeschäftigung

Im Hinblick auf den Arbeitsmarkt im Allgemeinen und das Arbeitslosigkeitsrisiko im Besonderen ist die Tarifpolitik von hoher Bedeutung, denn sie regelt mit der Höhe der Lohnsätze und der Dauer der Arbeitszeit zwei für die Arbeitsmarktentwicklung zentrale Größen. Durch die Festlegung der Löhne und der Lohnstruktur beeinflusst sie gleichermaßen die Arbeitskosten wie die private Nachfrage, durch die Definition von Wochenarbeitszeit, Urlaub und anderer Arbeitszeitfaktoren begrenzt sie das zur Verfügung stehende Arbeitsvolumen je Beschäftigten und setzt so die Rahmenbedingungen für die Verteilung des gesamtwirtschaftlichen Arbeitsvolumens auf die Erwerbspersonen. Darüber hinaus begrenzt sie auch das Arbeitslosigkeitsrisiko etwa durch gezielte Regelungen von Verfahren und Fristen (Kündigungsfristen), die Linderung materieller Folgen (Rationalisierungsschutz, tarifliche Aufstockung des Kurzarbeitergelds) und durch die befristete Arbeitszeitverkürzung bis hin zu beschäftigungs- und qualifizierungspolitischen Präventionsmaßnahmen. Kündigungsschutz und Kündigungsfristen Ein Arbeitsverhältnis kann durch ordentliche Kündigung nur unter Einhaltung bestimmter Fristen gekündigt werden. In vielen Tarifverträgen sind längere Kündigungsfristen festgelegt, als das Gesetz sie vorschreibt. Sie sind in der Regel gestaffelt und richten sich nach der Dauer der anzurechnenden Betriebszugehörigkeit und/ oder dem Lebensalter. In vielen Tarifbereichen ist nach einer sehr langen Betriebszugehörigkeit die ordentliche Kündigung entweder ausgeschlossen oder nur mit wesentlich längeren Fristen möglich. Diese Schutzfunktion für ältere Beschäftigte ist ein gutes Beispiel für die Funktion der Verbesserung und Aufstockung gesetzlicher Mindeststandards durch Tarifverträge. Rationalisierungsschutz In Rationalisierungsschutzabkommen, die ebenfalls für zahlreiche Wirtschaftszweige abgeschlossen wurden, finden sich darüber hinaus Regelungen, die die Beschäftigten vor den negativen Auswirkungen von Betriebsänderungen, wie z. B. neuen Produktionstechniken, Änderungen von Produktions- und Arbeitsabläufen, Ausgliederung von Betriebsteilen usw., schützen sollen. Neben verbesserten Kündigungsschutzbestimmungen ist in diesen Vereinbarungen meist eine begrenzte finanzielle Absicherung bei Verlust des Arbeitsplatzes in Form von Abfindungszahlungen vorgesehen, gestaffelt nach Alter und Betriebszugehörigkeit. Darüber hinaus sind Qualifizierungsmaßnahmen vorgesehen, die vom Betrieb finanziert werden. Während dieser Maßnahmen wird häufig der bisherige Verdienst weitergezahlt. Zieht eine Umsetzung innerhalb des Betriebs Einkommenseinbußen nach sich, gibt es für einen bestimmten Zeitraum Ausgleichszahlungen.

Regelungsbereiche und -inhalte von Tarifverträgen

361

Befristete Arbeitszeitverkürzung Das Instrument befristeter Arbeitszeitverkürzung zur Beschäftigungssicherung gewann in der Tarifpolitik nach der tiefgreifenden wirtschaftlichen Rezession infolge der Finanzkrise von 2008/2009 erneut an Bedeutung. In zahlreichen Branchentarifverträgen besteht die Option auf vorübergehende Verkürzung der regelmäßigen Wochenarbeitszeit zur Sicherung der Beschäftigung (vgl. Tabelle IV.6). Sie geben den Betrieben die Möglichkeit, etwa im Fall eines Auftragsrückgangs oder Produktionseinbruchs, die Arbeitszeit für einzelne Beschäftigtengruppen, Teile des Betriebs oder den ganzen Betrieb vorübergehend abzusenken und zugleich auch das Einkommen entsprechend zu reduzieren. Als Gegenleistung müssen die Betriebe in der Regel auf betriebsbedingte Kündigungen verzichten. Kurzarbeit In zahlreichen Wirtschaftszweigen sehen die Tarifverträge Regelungen zur Einführung und Ausgestaltung von Kurzarbeit vor. Sie betreffen die Mitbestimmungsrechte des Betriebsrats, die Ankündigungsfristen, die Beschränkung zulässiger Gehaltskürzungen, das Verbot von Kündigungen bei Kurzarbeit sowie die Aufstockung des gesetzlichen Kurzarbeitergeldes. Branchenspezifische gesetzliche und tarifliche Regelungen zur Verhinderung von Arbeitslosigkeit und zur Milderung von Einkommensverlusten gibt es seit langer Zeit speziell in der Bauwirtschaft. Das gesetzliche Saisonkurzarbeitergeld kombiniert mit tariflichen Leistungen sichert den typischen Arbeits- und Einkommensausfall ab.

Tabelle IV.6

Befristete Verkürzung der tariflichen Wochenarbeitszeit

Branche/Tarifbereich

Tarifliche Wochenarbeitszeit (in Std.) Regulär

Verkürzung auf bis zu …

Banken

39

31

Chemische Industrie

37,5

35 – 40 (AZ-Korridor)

Druckindustrie West/Ost

35/38

30/33

Metallindustrie West Ost

35 38

regional unterschiedlich 28 – 30 32/33

Papierverarbeitung West/Ost

35/37

30/32

Versicherungen

38

20

Quelle: WSI-Tarifarchiv, Stand 2019.

362

Arbeitsbeziehungen

4.4.4 Berufliche Aus- und Weiterbildung

Seit Mitte der 1990er Jahre setzen die Gewerkschaften in zahlreichen Wirtschaftszweigen und Tarifbereichen tarifliche Regelungen zur Förderung der Ausbildung durch. Die tarifvertraglichen Vereinbarungen konzentrierten sich im Wesentlichen auf zwei Regelungsfelder: die Sicherung bzw. den Ausbau der betrieblichen Ausbildungskapazitäten sowie die Gewährleistung der Übernahme der Auszubildenden nach Abschluss ihrer Ausbildung. Die tariflichen Regelungen zur Qualifizierung und Weiterbildung bilden einen bunten Flickenteppich. Oftmals sind sie Bestandteil von tarifvertraglichen Freistellungen für weit definierte Bildungszwecke. Sie werden durch Tarifvereinbarungen ergänzt, die sich vor allem auf die spezielle berufliche Fort- und Weiterbildung in einzelnen Berufsgruppen konzentrieren. Tarifverträge zur allgemeinen beruflichen Qualifizierung, die über Freistellungsregelungen für Bildungsurlaub hinausgehen, bestehen nur für einen kleinen Teil der Beschäftigten. Es geht um Verfahrensregeln (z. B. Ermittlung des Bedarfs, Teilnehmerauswahl) und die Kostenübernahme. Einige Tarifverträge entwickeln auch besondere institutionelle Lösungen. So werden überbetriebliche Einrichtungen (Vereine, Fonds) geschaffen, um auf diese Weise brancheneinheitliche Strukturen zu entwickeln. Insbesondere in Firmentarifverträgen werden neuerdings auch Fragen der Qualifizierung im Zusammenhang mit der Digitalisierung von Arbeits- und Produktionsprozessen geregelt. 4.4.5 Altersteilzeit, Lebensarbeitszeit

Eine enge Verknüpfung von gesetzlichen und tariflichen Regelungen besteht beim Übergang von der Erwerbsarbeit in den Ruhestand. Zwar sind die Bedingungen des Renteneintritts und der Rentenzahlung bis ins Detail gesetzlich geregelt, aber die Gewerkschaften haben immer wieder versucht, mit tariflichen Mitteln ein früheres Ausscheiden aus dem Erwerbsleben zu ermöglichen bzw. die materiellen Konditionen dafür zu verbessern. Dies geschah vor allem auf Basis des Altersteilzeitgesetzes von 1996. Die Altersteilzeit-Tarifverträge definierten die Anspruchsvoraussetzungen und regelten die Aufstockung des Entgelts und der Rentenversicherungsbeiträge und sahen zum Teil auch einen Ausgleich des Rentenabschlags vor. Nach dem Auslaufen der staatlichen Förderung 2009 mussten die Tarifverträge angepasst werden. Auch heute noch bestehen in einer Reihe von Branchen Tarifverträge zur Altersteilzeit bzw. zum flexiblen Übergang in die Rente (vgl. Kapitel „Alter“, Pkt. 13.5). Neue Wege gingen die Tarifvertragsparteien seit Mitte der 2000er Jahre durch den Abschluss von sogenannten Demografie-Tarifverträgen wie z. B. in der Eisen- und Stahlindustrie, der chemischen Industrie, im Nahverkehr und einigen anderen Branchen. Beispielhaft ist hier der Tarifvertrag „Lebensarbeitszeit und Demografie“ für die chemische Industrie von 2008, der inzwischen mehrfach fortgeschrieben wurde und mehrere sozialpolitisch relevante Instrumente miteinander kombiniert: er ver-

Regelungsbereiche und -inhalte von Tarifverträgen

363

pflichtet die Unternehmen zu einer regelmäßigen Bestandsaufnahme und Altersstrukturanalyse ihrer Belegschaften. Er ermöglicht des Weiteren den Aufbau von Langzeitkonten, die unter anderem für einen vorzeitigen Ausstieg aus dem Erwerbsleben genutzt werden können; er schreibt die Bildung eines arbeitgeberfinanzierten sogenannten Demografie-Fonds vor, mit dem beispielsweise eine zusätzliche Altersvorsorge aufgebaut werden kann. 4.4.6 Altersvorsorge

Im Bereich der Altersvorsorge gibt es seit Jahrzehnten ein Nebeneinander von gesetzlichen und tariflichen Regelungen. Neben der gesetzlichen Rentenversicherung bestehen seit langen Jahrzehnten verschiedene Formen der betrieblichen Altersvorsorge aber auch verschiedene Tarifverträge für eine tarifvertragliche Zusatzversorgung. Sie beruhen auf freiwilligen Vereinbarungen und erfassen nur einen (kleinen) Teil der Beschäftigten. Bei den tariflich geregelten Zusatzversorgungssystemen handelte es sich in der Vergangenheit überwiegend um arbeitgeberfinanzierte überbetriebliche Einrichtungen, die eine Aufstockung der gesetzlichen Rente zum Ziel haben. Zu den Branchen und Beschäftigtengruppen mit einer solchen zusätzlichen Altersversorgung gehören u. a. das Baugewerbe, die Land- und Forstwirtschaft, die Brotund Backwarenindustrie, das Bäckerhandwerk und die Redakteur:innen an Zeitungen und Zeitschriften. Die Tarifverträge sind allgemeinverbindlich erklärt, gelten also für alle Arbeitgeber und Arbeitnehmer:innen unabhängig von ihrer Tarifbindung. Im Bereich des öffentlichen Dienstes regelt ein Tarifvertrag die betriebliche Altersvorsorge. Einbezogen in die Zusatzversorgung sind alle Arbeiter:innen und Angestellte des öffentlichen Dienstes als Pflichtmitglieder. Hinzu kommen die Beschäftigten im mittelbaren öffentlichen Dienst und bei solchen Arbeitgebern, die das Tarifrecht des öffentlichen Dienstes anwenden (vgl. Kapitel „Alter“, Pkt. 8.1.6). Einige Zusatzversorgungssysteme sind in den vergangenen Jahren in Finanzierungsprobleme geraten. Im Baugewerbe und auch im öffentlichen Dienst mussten deswegen auch Leistungsverschlechterungen bzw. Finanzierungsbeteiligungen der Arbeitnehmer:innen vereinbart werden. Mit der Rentenreform 2001 wurde eine Welle neuer tariflicher Altersvorsorgevereinbarungen ausgelöst. Kern der Rentenreform war eine langfristige Absenkung des Leistungsniveaus der gesetzlichen Rentenversicherung und die Förderung einer privaten kapitalgedeckten Altersvorsorge, um über diesen Weg die Absenkung des Rentenniveaus zu kompensieren. Angeboten werden zwei Fördermöglichkeiten: Die Förderung der privaten Altersvorsorge durch Zulagen oder steuerlichen Sonderausgabenabzug (sog. Riester-Förderung) und die Förderung der Entgeltumwandlung im Rahmen der betrieblichen Altersvorsorge durch Steuer- und Sozialabgabenfreiheit (vgl. dazu ausführlich Kapitel „Alter“, Pkt. 8). Die Entgeltumwandlung von tariflich geregelten Vergütungen kann nur auf der Basis tariflicher Regelungen erfolgen (Tarifvorbehalt). Gewerkschaften und Ar-

364

Arbeitsbeziehungen

beitgeberverbände schlossen in zahlreichen Branchen und Tarifbereichen Tarifverträge zur Altersversorgung ab. Rund 20 Millionen Arbeitnehmer:innen sind in diesen Branchen beschäftigt. In einigen Tarifbereichen haben die Tarifvertragsparteien eigene Versorgungswerke gegründet, die spezielle Angebote zum Aufbau von Rentenansprüchen machen und dabei verschiedene gesetzlich zugelassene Durchführungswege anbieten. 2018 wurde mit dem Betriebsrentenstärkungsgesetz das „Sozialpartnermodell“ als ein weiterer Durchführungsweg eingeführt, der ebenfalls durch Tarifverträge bzw. Betriebsvereinbarungen umgesetzt werden kann. Ziel ist es, die Betriebsrenten durch erleichterte Leistungsanforderungen (Beitragszusagen statt Leistungszusagen, Entfall der Arbeitgeberhaftung) so zu stärken, dass sie in der Lage sind, die Lücken bei der gesetzlichen Rente zu stärken. Ob überhaupt und inwieweit dieser Weg genutzt wird, ist offen. Generell ändert sich die bisherige zusätzliche Alterssicherung – ob privat oder betrieblich – in ihrem Charakter grundsätzlich: Hatte sie früher eine Ergänzungsfunktion, bekommt sie jetzt vor allem eine Ersatzfunktion für die Kürzungen bei der gesetzlichen Rente. Die Tarifpolitik fungiert gewissermaßen als sozialpolitischer Lückenbüßer, die staatliche Verantwortung für die Alterssicherung wird zum Teil auf die Tarifvertragsparteien verlagert. Ihre Bedeutung wird umso größer, je mehr die Unternehmen ihre freiwillige betriebliche Altersversorgung einschränken oder einstellen (vgl. Kapitel „Alter“, Pkt. 8.1.4.). Die sozialpolitischen Folgewirkungen liegen auf der Hand: Eine flächendeckende Absicherung aller Beschäftigten ist ohne eine gesetzliche Verpflichtung aller Betriebe (Obligatorium) nicht möglich. So belegen die Erfahrungen mit der freiwilligen betrieblichen Altersversorgung, dass es große Sicherungslücken in Klein- und Mittelbetrieben, in den privaten Dienstleistungsbranchen und bei den atypischen Beschäftigten gibt. Vor allem verengen sich Handlungsspielraum und -breite der Tarifpolitik durch die kontinuierlich sinkende Tarifbindung der Betriebe und der Beschäftigten (vgl. Pkt. 3.3). Zwar ist es in Großbetrieben und im öffentlichen Dienst durchaus möglich, gute sozialpolitische Regelungen mittels Tarifverträgen durchzusetzen, aber die wachsende Zahl von Klein- und Kleinstbetrieben im Dienstleistungssektor und die wachsende Zahl der dort Beschäftigten werden nicht erfasst.

5

Verbetrieblichung der Tarifpolitik

Die Flexibilisierung und Differenzierung der Tarifverträge über die Tariflandschaft hat nach und nach zu einer substanziellen Verlagerung der Gestaltungskompetenz auf die betriebliche Ebene geführt. Diese Verbetrieblichung der Tarifpolitik hat verschiedene Wurzeln und Ausprägungen. Ein wichtiger Faktor für die Aufwertung des Betriebs als Gestaltungsebene ist die inhaltliche Ausweitung der tariflichen Regelungsgegenstände. Je mehr qualitative Themen zum Gegenstand von Tarifverträgen wurden, umso schwieriger wurde de-

Verbetrieblichung der Tarifpolitik

365

ren abschließende tarifliche Regulierung in einem Branchentarifvertrag. Da nicht alle betrieblichen Gegebenheiten und Variationen im Detail berücksichtig werden können, ist die konkretisierende Umsetzung der tariflichen Rahmenregelungen durch die Betriebsparteien auf betrieblicher Ebene in solchen Fällen sachlich geboten und führt zu einer durchaus gewollten Differenzierung. Beispiele dafür sind etwa Regelungen zum Lohn-Leistungsverhältnis, zur flexiblen Arbeitszeitgestaltung, zur Qualifizierung, zur Altersvorsorge. Anders verhält es sich mit den tariflichen Bestimmungen, die nicht lediglich eine regelkonforme Differenzierung, sondern eine betriebliche Unterschreitung der tariflichen Standards erlauben. Solche tariflichen Öffnungsklauseln stellen eine zentrale Funktion von Tarifverträgen infrage. Deswegen hat sich der darauf bezogene Prozess der Dezentralisierung keineswegs im Konsens der Tarifvertragsparteien vollzogen, sondern war das Ergebnis einer teils sehr konfliktorischen tarifpolitischen Entwicklung mit markanten branchenspezifischen Unterschieden. Allerdings hatte er auch die positive Nebenwirkung, dass die „wilde“ Dezentralisierung, die sich in manchen Branchen und Betrieben ausgebreitet hatte, durch die Tarifparteien kontrolliert und besser gesteuert werden konnte. Alle Regelungen weisen ein gemeinsames Charakteristikum auf: Sie schaffen die Möglichkeit, auf betrieblicher Ebene von den einheitlichen und verbindlichen Standards des (Flächen)Tarifvertrags abzuweichen. Dies kann durch differenzierte Tarifstandards für bestimmte Beschäftigtengruppen, Betriebe oder Teilbranchen geschehen oder auch durch Absenkung von Leistungen für alle Beschäftigten und Betriebe. Abweichungen vom Tarifvertrag nach unten müssen entweder zwischen den Tarifparteien vereinbart werden (z. B. durch sog. Ergänzungstarifverträge) oder sie bedürfen ihrer Genehmigung. In bestimmten Fällen reicht eine Einigung auf betrieblicher Ebene. Die realen Erscheinungsformen dieser Art von Tarifbestimmungen sind vielfältig. Inhaltliche Ansatzpunkte von Tarifdifferenzierung und -dezentralisierung sind u. a.: • Allgemeine Öffnungsklauseln: Möglichkeit zeitlich befristeter Sonderregelungen zur Abwendung einer Insolvenzgefahr für einzelne Unternehmen; • Arbeitszeit: Möglichkeit zur Verlängerung der tariflichen Arbeitszeit für einen Teil der Beschäftigten (Metallindustrie), Einrichtung eines Arbeitszeitkorridors zum Ausgleich schwankender Auftragslage, befristete Verkürzung der Arbeitszeit ohne Lohnausgleich zur Beschäftigungssicherung; • Lohn und Gehalt: Möglichkeit zur Aussetzung oder Verschiebung von Tariferhöhungen, Absenkung von Tarifentgelten im Rahmen eines Einkommenskorridors, Einführung neuer niedriger Lohngruppen, Einstiegstarife für Arbeitslose;

366

Arbeitsbeziehungen

• Weitere Vergütungskomponenten: Verschiebung der Auszahlung bzw. Verringerung von Jahressonderzahlung, Urlaubsgeld. Empirische Daten für 2015 zeigen, dass rund ein Fünftel der tarifgebundenen Betriebe tarifvertraglich vereinbarte Öffnungs- und Differenzierungsklauseln nutzt (vgl. Abbildung IV.11). Größere Betriebe tun dies deutlich häufiger als kleine. Ein wichtiger Einflussfaktor für die Nutzung der Öffnungsklauseln sind Maßnahmen zur Beschäftigungssicherung. Oftmals ist der Verzicht der Betriebe auf betriebsbedingte Kündigungen die Gegenleistung der Unternehmen für die Unterschreitung oder Kürzung von Tarifstandards. Untersuchungen zufolge praktiziert nahezu jeder achte tarifgebundene Betrieb auch Tarifabweichungen, die nicht durch tarifliche Öffnungs- und Differenzierungsklauseln gedeckt sind. Diese sog. „wilde Dezentralisierung“ war früher noch stärker ausgeprägt und einer der Gründe, warum die Tarifvertragsparteien dazu übergegangen, dies tarifvertraglich zu regeln (vgl. Punkt 7.1 dieses Kapitels). Von den Betrieben, die Gebrauch von den Öffnungsklauseln machten, nutzten zwei Drittel den Spielraum bei der Arbeitszeit, knapp die Hälfte jeweils bei Lohn und

Abbildung IV.11 Nutzung tariflicher Öffnungs- und Differenzierungsklauseln, Anteile der tarifgebundenen Betriebe in Prozent Gesamt

21

Aktuelle wirtschaftliche Situation Eher schlecht oder sehr schlecht

24

Sehr gut oder eher gut

20

Finanz- und Versicherungsdienstl.

10

Verkehr und Lagerei / Gastgewerbe

23

Handel

17

Investitionsgüter

22

Betriebsgröße 500 und mehr

29

250 bis 499

28

100 bis 249

19

50 bis 99

16

5 bis 49

13

West

21

Ost

19

Nicht gedeckte Tarifabweichung

13 0

Quelle: WSI-Beriebsrätebefragung (2015).

5

10

15

20

25

30

Verbetrieblichung der Tarifpolitik

367

Gehalt, Zulagen und Zuschlägen sowie Jahressonderzahlungen. Eine geringe Rolle spielten die Ausbildungsvergütungen. Bei den nicht tarifvertraglich gedeckten Abweichungen spielen lohn- und gehaltsbezogene Änderungen eine deutlich größere Rolle. Die betrieblichen Interessenvertretungen erleben diese Form der Verbetrieblichung der Tarifpolitik nicht so sehr als Gestaltungschance, sondern mehrheitlich als zwiespältige und problematische Entwicklung, die den Flächentarifverträgen einen Teil der gewünschten Unterstützungs- und Entlastungswirkung bei betrieblichen Konflikten und Aushandlungsprozessen nimmt. Jeweils drei Viertel der Betriebsräte sind der Meinung, dass die Dezentralisierung dem Arbeitgeber eher die Möglichkeit gibt, seine betrieblichen Interessen durchzusetzen und dass dies zu unterschiedlichen Arbeits-/Einkommensbedingungen innerhalb des Tarifbereichs führt. Die Hälfte sieht keine Möglichkeit einer wirkungsvollen Einflussnahme des Betriebsrats. Allerdings gibt es offensichtlich unterschiedliche Erfahrungen: Immerhin gut ein Drittel der Betriebsräte ist der Auffassung, dass sie dadurch größere Einfluss- und Gestaltungsmöglichkeiten erhalten (vgl. Abbildung IV.12). Zu berücksichtigen ist allerdings, dass die hier dargestellte Verbetrieblichung der Tarifpolitik nur noch für einen relativ kleinen Ausschnitt der Wirtschaft reale Bedeu-

Abbildung IV.12 Dezentralisierung der Tarifpolitik (Angaben der Betriebsräte in %)

… gibt Arbeitgeber die Möglichkeit, seine betriebl. Interessen durchzusetzen

75

… führt zu unterschiedl. Arbeits-/Einkommensbeding. innerh. Tarifbereichs

72

...lässt eine wirkungsvolle Einflussnahme des Betriebsrats kaum zu

50

… überfordert den Betriebsrat

44

...gibt dem Betriebsrat größere Einfluss- und Gestaltungsmöglichkeiten

38

0

10

20

30

40

50

60

70

80

Quelle: Amlinger, M., Bispinck, R., Dezentralisierung der Tarifpolitik – Ergebnisse der WSI-Betriebsrätebefragung 2015, in: WSI-Mitteilungen 3/2016, S. 220.

368

Arbeitsbeziehungen

tung hat. In der privaten Wirtschaft arbeiten nur noch knapp 30 % der Beschäftigten in einem tarifgebundenen Betrieb mit Betriebsrat. In besonderen Fällen werden auch sogenannte Sanierungstarifverträge zwischen den Tarifparteien vereinbart. Sie dienen dazu, in Unternehmen in existenzbedrohenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten Kostenentlastung durch teils massive Kürzungen von Tarifleistungen zu erreichen. Dazu sind die Gewerkschaften in der Regel nur dann bereit, wenn die Abweichungen befristet und das Unternehmen sich zu klar definierten Gegenleistungen verpflichtet (vgl. Übersicht IV.4). Übersicht IV.4 Sanierungstarifvertrag bei Galeria Kaufhof Karstadt Die Warenhauskonzerne Karstadt und Galeria Kaufhof haben eine lange Krisengeschichte hinter sich, in deren Verlauf die zuständige Gewerkschaft Ver.di in beiden Warenhäusern mehrfach Kürzungen tariflicher Leistungen vereinbarte. Nach dem Zusammenschluss der beiden Unternehmen zu Galeria Karstadt Kaufhof Ende 2018 kündigte der Eigentümer den Ausstieg aus dem Flächentarifvertrag des Einzelhandels an und forderte einen Firmentarifvertrag. Damit wäre die ohnehin sehr niedrige Flächentarifbindung der Branche noch weiter abgesunken. Nach langwierigen Verhandlungen schloss Ver.di Ende 2019 erneut einen Sanierungstarifvertrag ab, der die Flächentarifbindung erhielt, aber zugleich den Verzicht auf bestimmte Tarifleistungen enthielt: Standortsicherung für alle Filialen und Ausschluss betriebsbedingter Kündigungen bis Ende 2024 Für die Jahre 2020 bis 2024 verzichten die Beschäftigten auf Urlaubs- und Weihnachtsgeld. Leitende Angestellte leisten einen Beitrag zur Sanierung in Höhe von durchschnittlich rund 11 Prozent des Einkommens. Ab 1. Januar 2020 werden die Entgelte der Beschäftigten von Kaufhof und Karstadt Warenhaus auf 97 Prozent des Flächentarifniveaus angehoben. Das bedeutet: Für Kaufhofbeschäftigte, die drei Prozent unter dem Flächentarifniveau bezahlt werden, gibt es keine monatlichen Entgeltkürzungen. Beschäftigte von Karstadt Warenhaus erhalten im neuen Jahr eine Entgeltsteigerung von rund 12,65 Prozent. In den Jahren 2021 bis 2024 erhalten die Beschäftigten jeweils die im Branchentarifvertrag ausgehandelten Entgeltsteigerungen. Verbindliche und vollständige Rückkehr in die Flächentarifverträge des Einzelhandels ab dem 1. Januar 2025. Verpflichtung zu einer Mindestbesetzung in den Filialen, Details dazu werden mit dem Gesamtbetriebsrat geregelt. Verbindliche Verpflichtung zum Abschluss eines Tarifvertrags „Gute und gesunde Arbeit“.

Betriebsräte und betriebliche Interessenvertretung

6

369

Betriebsräte und betriebliche Interessenvertretung

Betriebsräte haben im System der deutschen Arbeitsbeziehungen eine zentrale Funktion. Sie sind für die unmittelbare Vertretung der Interessen der Beschäftigten im Betrieb zuständig. Dabei spielt die Kontrolle von Anwendung und Umsetzung gesetzlicher und tarifvertraglicher Vorschriften eine wichtige Rolle. Betriebsräte sind durch das BetrVG zur „vertrauensvollen Zusammenarbeit“ mit dem Arbeitgeber verpflichtet, Arbeitskampfmaßnahmen zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat sind unzulässig. Gleichwohl verfügen sie über wirkungsvolle Instrumente der Interessendurchsetzung. Etwa zwei Drittel der Betriebsratsmitglieder sind Mitglieder von DGB-Gewerkschaften. Dieser hohe gewerkschaftliche Organisationsgrad lässt bereits deutlich werden, dass die große Mehrheit der Betriebsräte ihre Tätigkeit vor dem Hintergrund gewerkschaftlicher Zielvorstellungen ausübt. Andererseits gibt ihnen die breitere Legitimation durch die Belegschaftswahl nicht nur formal ein erhebliches Maß an Unabhängigkeit. In einigen Branchen (u. a. Metall- und Elektroindustrie, chemische Industrie) und vorwiegend in größeren Betrieben gibt es auch sog. gewerkschaftliche Vertrauensleute, die von den Gewerkschaftsmitgliedern im Betrieb gewählt werden. Die gewerkschaftlichen Vertrauensleutekörper organisieren die gewerkschaftliche Willensbildung im Betrieb und stellen die Verbindung zur Gewerkschaft her. Viele Vertrauensleute sind auch Mitglieder des Betriebsrats. 6.1

Häufigkeit und Verteilung von Betriebsräten

Betriebsräte können alle vier Jahre in allen Betrieben ab 5 Beschäftigten gewählt werden. Als Betrieb wird eine organisatorische Einheit bezeichnet, innerhalb derer der Arbeitgeber zusammen mit den von ihm beschäftigten Arbeitnehmer:innen bestimmte arbeitstechnische Zwecke fortgesetzt verfolgt. Eine rechtliche Verpflichtung zur Wahl besteht nicht. Letztlich kommt es auf die Aktivität der Belegschaft an, oft unterstützt durch die zuständige Gewerkschaft, ob es zur Einrichtung eines Betriebsrats kommt. Nicht immer vollziehen sich die Betriebsratswahlen ohne Probleme. So versuchen Arbeitgeber, sie zu boykottieren. Untersuchungen ergaben, dass es bei Betriebsratsneugründungen in 16 % der Fälle zu Behinderungen kommt. Dies geschieht in der Praxis vor allem in kleinen und mittleren Unternehmen. Die Gründe dafür sind vielfältig: Oft ist es der klassische „Herr-im-Hause-Standpunkt“, der Betriebseigentümer will sich seine Entscheidungsautonomie nicht durch einen Betriebsrat einschränken lassen. Gefürchtet werden vermeintlich komplizierte Abläufe und langsamere Entscheidungen. Auch die Vermeidung der anfallenden Kosten spielt eine Rolle, insbesondere wenn es um die Freistellung von Betriebsräten von der Arbeit geht. Nicht zuletzt geht es manchen Unternehmen auch darum, die Gewerkschaften aus dem Betrieb fernzuhalten. Diese sind es in vielen Fällen,

370

Arbeitsbeziehungen

die eine Betriebsratswahl anstoßen und den Betriebsrat später bei seiner Arbeit beraten. Betriebsräte sind nicht in allen Betrieben gleichermaßen vertreten. In Kleinbetrieben bis 50 Beschäftigten gibt es Betriebsräte lediglich in 5 % der Fälle, in kleineren Mittelbetrieben bis 100 Beschäftigten erhöht sich der Anteil auf 33 %, ab 200 Beschäftigten sind es bereits 72 % und über 500 Beschäftigten 87 % der Betriebe, in denen ein Betriebsrat existiert. Insgesamt arbeiten 41 % der Beschäftigten in Betrieben mit Betriebsrat. Auch hier steigt der Anteil mit der Betriebsgröße: In Betrieben ab 51 Beschäftigten arbeiten 34 %, in Betrieben ab 500 Beschäftigten immerhin 90 % der Beschäftigten in Betrieben mit einem Betriebsrat (vgl. Tabelle IV.7:). Im Laufe der vergangenen Jahre ist der Anteil der Betriebe und Beschäftigten mit Betriebsrat zurückgegangen. Zwischen den Branchen bestehen erhebliche Unterschiede (vgl. Abbildung IV.13). Während in den Bereichen Energie/Wasser/Abfall, bei den Finanz- und Versicherungsdienstleistungen und im verarbeitenden Gewerbe zwei Drittel der Beschäftigten und mehr einen Betriebsrat haben, sind dies im Handel, im Bau und im Gastgewerbe nur weniger als ein Drittel. Die Größe der Betriebsratsgremien ist nach Betriebsgröße gestaffelt. In Kleinbetrieben mit 5 bis 20 Beschäftigten besteht der Betriebsrat aus einer Person, bei 101 – 200 Beschäftigten sind es sieben Personen, bei 1 001 – 1 500 Beschäftigten sind es 15 Mitglieder. Ab 200 Beschäftigten ist mindestens ein Mitglied des Betriebsrats von der Arbeit freizustellen. Betriebsräte sind in den Belegschaften gut verankert. Eine Analyse der Betriebsratswahlen 2018 zeigt, dass die durchschnittliche betriebliche Wahlbeteiligung bei gut 75 % lag und damit im Trend früherer Betriebsratswahlen. Die Wahlbeteiligung sinkt mit steigender Betriebsgröße. In Betrieben mit bis zu 50 Beschäftigten lag sie bei 87 %, in Betrieben mit mehr als 1 000 Beschäftigten dagegen bei 59 %. In den Betriebsratsgremien sind ältere Beschäftigte stärker vertreten. Lediglich 9 % der Betriebsratsmitglieder sind zwischen 18 und 30 Jahren, rund 62 % sind älter als 46 Jahre. Betriebsräte bleiben häufig länger im Amt. Rund ein Drittel befindet sich bereits in der dritten Amtszeit. Der Anteil der Frauen an den Mandatsträgern liegt bei 31 %. In den Führungsgremien der Betriebsräte sind sie unterdurchschnittlich vertreten. In einigen Betrieben existieren neben den Betriebsräten auch andere Vertretungsorgane unterschiedlicher Formen (Runde Tische, Belegschaftssprecher:innen, Mitarbeiterausschüsse u. ä.). Neben dem Betriebsrat kann in den Betrieben auch eine betriebliche Jugend- und Ausbildungsvertretung (JAV) gewählt werden. Voraussetzung ist, dass im Betrieb mindestens fünf Auszubildende bzw. Jugendliche unter 25 Jahren beschäftigt sind. Die Größe der JAV-Vertretung ist gestaffelt in Abhängigkeit von der Zahl der Auszubildenden. Zentrale Aufgabe ist es, sich um die Belange der Auszubildenden, insbesondere ihrer Ausbildung und der späteren Übernahme, zu kümmern. Ansprechpartner ist in erster Linie der Betriebsrat.

Betriebsräte und betriebliche Interessenvertretung

Tabelle IV.7

371

Verbreitung von Betriebsräten nach Betriebsgröße 2018, Anteile in % Betriebsgrößenklassen nach Beschäftigten 5 – 50

51 – 100

101 – 199

200 – 500

501 u. mehr

Insg. (ab 5 Besch.)

Betriebe mit BR

5

33

52

72

87

9

Beschäftigte mit BR

8

34

52

73

90

41

Basis: privatwirtschaftliche Betriebe ab 5 Beschäftigte, ohne Landwirtschaft und Organisationen ohne Erwerbszweck Quelle: IAB-Betriebspanel.

Abbildung IV.13 Betriebe und Beschäftigte mit Betriebsrat nach Branchen 2018 41

Gesamt

9 79

Energie/Wasser/Abfall & Bergbau

40 66

Finanz- und Versicherungsdienstleistungen

21 50

Gesundheit & Erziehung/Unterricht

14 65

Verarbeitendes Gewerbe

16 41

Verkehr & Lagerei

10 34

Information & Kommunikation

Betriebe mit Betriebsrat

28

Wirtschaftl., wissenschaftl. & freiberufl. Dienstleistungen

7 29

Handel

9 25

Landwirtschaft u.a.

41 25

Einzelhandel Baugewerbe

Beschäftigte in Betrieben mit Betriebsrat

9

38 16 2 11

Gastgewerbe & sonstige Dienstleistungen

3 0

10

20

30

40

50

60

70

80

90

100

Quelle: IAB-Betriebspanel.

6.2

Inhalte der Betriebsratsarbeit

Das Betriebsverfassungsgesetz weist den betrieblichen Interessenvertretungen ein breites Aufgabenspektrum zu. Empirische Erhebungen zeigen, dass sich die Betriebsräte in ihrer alltäglichen Arbeit mit einer Vielzahl von Themen und Problemen beschäftigen. Die WSI-Betriebsrätebefragung 2018 ermittelte, dass vier von fünf Be-

372

Arbeitsbeziehungen

Abbildung IV.14 Womit hat sich der Betriebsrat besonders beschäftigt ? Anteile in % zu geringe Personalstärke

82

Arbeitsschutz, Gesundheitsförderung

82

Überstunden

78

Mitarbeitergespräche

71

Leistungsdruck

69

Arbeitszeitkonten

65

Arbeitsverdichtung

65

Fort- und Weiterbildung

64

Verschlechterung des Betriebsklimas

62

Eingruppierung

62

befristete Beschäftigung

61

Änderung der Arbeitsorganisation

59

Einführung neuer Techniken

56

Immer flexiblere Arbeitszeiten

52

Wünsche der Beschäftigten nach flexiblen Arbeitszeiten

50 0

10

20

30

40

50

60

70

80

90

Quelle: WSI-Betriebsrätebefragung 2018.

triebsräten mit Fragen des Arbeits- und Gesundheitsschutzes und der zu geringen Personalausstattung befasst waren (Abbildung IV.14). Zwei Drittel waren mit Problemen der Arbeits- und Leistungsverdichtung konfrontiert. Gut jeder zweite Betriebsrat hatte mit der Einführung neuer Technologien und Organisationsformen zu tun. Auch die flexible Arbeitszeitgestaltung bildete einen Schwerpunkt der Betriebsratsarbeit. Es kann als Zeichen der guten konjunkturellen Situation und der positiven Lage am Arbeitsmarkt gelten, dass Fragen von Betriebszusammenlegungen und -schließungen, von Personalabbau und der Beschäftigungssicherung zum damaligen Zeitpunkt von geringerer Bedeutung waren. Die Betriebsräte vertreten die gesamte Belegschaft, gleichwohl spiegeln sich erfahrungsgemäß Größe und Artikulationsfähigkeit der verschiedenen Beschäftigtengruppen auch in der Arbeit der Betriebsräte wider. Die Interessen der Stammbelegschaft finden im Zweifel größere Beachtung als etwa befristet beschäftigte oder Leiharbeitskräfte. Vollzeitbeschäftigte rangieren oftmals vor Teilzeitkräften und geringfügig Beschäftigten (Minijobber:innen). Die konkreten Aktivitäten der Betriebsräte variieren naturgemäß in Abhängigkeit von den Sachthemen und der Art ihrer Regulierung. Geht es um die Kontrolle der Einhaltung von gesetzlichen oder unabdingbaren tarifvertraglichen Standards, haben

Betriebsräte und betriebliche Interessenvertretung

373

Betriebsräte bessere Durchsetzungsmöglichkeiten. Bei „weicheren“ Themen sind die formalen Einflussmöglichkeiten geringer. Ein wichtiges Instrument zur Beilegung von gravierenden Meinungsverschiedenheiten zwischen Betriebsrat und Geschäftsleitung ist die im Betriebsverfassungsgesetz vorgesehene Einigungsstelle. Sie hat eine/n unparteiischen Vorsitzende/n (häufig ein/e Arbeitsrichter:in) und ist paritätisch mit Beisitzer:innen besetzt, die vom Arbeitgeber und Betriebsrat bestellt werden. In der Praxis wird das Instrument nicht allzu oft eingesetzt. Die WSI-Betriebsrätebefragung 2018 ergab, dass im Laufe eines Jahres nur in 7 % der Betriebe ein Einigungsstellenverfahren stattgefunden hat. In Großbetrieben ab 500 Beschäftigten war der Anteil demgegenüber doppelt so hoch. 6.3

Betriebsvereinbarungen

Zentrales Instrument zur Regelung von Sachverhalten, Prozeduren und inhaltlichen Standards und Leistungen auf betrieblicher Ebene sind Betriebsvereinbarungen. Sie werden in schriftlicher Form zwischen Betriebsrat und Arbeitgeber abgeschlossen und sind gewissermaßen „Tarifverträge im Kleinformat“. Eine Betriebsvereinbarung gilt für die Beschäftigten normativ und zwingend. Es gilt aber ein klarer Vorrang des Tarifvertrages. Löhne und Gehälter und sonstige Arbeitsbedingungen, die durch Tarifvertrag geregelt sind oder üblicherweise geregelt werden, können nicht Gegenstand einer Betriebsvereinbarung sein. Es sind aber, wenn ein Tarifvertrag Öffnungsklauseln vorsieht, ergänzende Betriebsvereinbarungen zur Ausfüllung und Umsetzung möglich. Davon wird in großem Umfang Gebrauch gemacht (vgl. Pkt. 6.1 dieses Kapitels). Zahl und Themenbreite der Betriebsvereinbarungen schwanken sehr stark. Die WSI-Betriebsrätebefragung 2017 ergab, dass in den Betrieben im Durchschnitt rund 25 Betriebsvereinbarungen bestehen. Die Zahl nimmt mit der Betriebsgröße deutlich zu. Abbildung IV.15 zeigt die Häufigkeit, mit der bestimmte Themen in Betriebsvereinbarungen geregelt werden. Arbeitszeitfragen (Arbeitszeitkonten, Mehrarbeit, Urlaub), Datenschutz sowie Arbeitsschutz und Gesundheitsförderung stehen dabei an der Spitze.

374

Arbeitsbeziehungen

Abbildung IV.15 Betriebsvereinbarungen nach ausgewählten Regelungsbereichen 2017, Anteile in % Arbeitszeitkonten

71

Datenschutz

70

Urlaubsregelungen

62

Mehrarbeit

58

Arbeitsschutz/Gesundheitsförderung

55

betriebliche Sozialleistungen

45

betriebliches Vorschlagswesen

44

Weiterbildung und Qualifizierung

38

Leistungsbezogenes Entgelt

36

Zielvereinbarungen

34

Eingruppierung

34

Arbeitsorganisation

32

Arbeitszeitverlängerungen

31

psychische Gefährdungsbeurteilung

30

Teilzeit

28

Vorruhestand und Altersteilzeit

25 0

10

20

30

40

50

60

70

80

Quelle: WSI-Betriebsrätebefragung 2017.

7

Arbeitsbeziehungen im Umbruch

7.1

Globalisierung, deutsche Einigung, Erosion

Das deutsche Tarifvertragssystem befindet sich seit Mitte der 1980er Jahre in einem anhaltenden Wandlungsprozess, der den inhaltlichen Regelungsbestand ebenso erfasst hat wie die institutionellen Strukturen. Der jahrzehntelang stabile gesellschaftliche Grundkonsens über Sinn und Nutzen des bestehenden Tarifvertragssystems hat sich teilweise aufgelöst. Die Kritik an der (vermeintlichen) Überregulierung, mangelnden Flexibilität und unzureichenden Differenziertheit der Tarifverträge hat sich verschärft. Die Ursachen dafür waren vielfältig: Von grundlegender Bedeutung war das Ende der Nachkriegsprosperität, gekennzeichnet durch abnehmende Wachstumsraten und überzyklisch ansteigende Arbeitslosigkeit, sowie – damit verbunden – der tiefgreifende Strukturwandel von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft. Dies ging einher mit einem Umbruch der Arbeits-, Produktions- und Organisationssysteme auf betrieblicher Ebene, der zu einer Intensivierung des Rationalisierungsprozesses mit widersprüchlichen Folgen für die Arbeitsbedingungen der Beschäftig-

Arbeitsbeziehungen im Umbruch

375

ten und die Handlungsbedingungen der betrieblichen Interessenvertretungen führte. Überlagert wurde dies von einer zunehmenden Internationalisierung der Produktund Kapitalmärkte (Globalisierung), die ihrerseits einen wachsenden Druck auf die bestehenden Arbeits-, Einkommens und Sozialstandards und die Regelungssysteme ausüben (vgl. auch Kapitel „Ökonomische Grundlagen und Finanzierung“, Pkt. 6.5). Eine zusätzliche Herausforderung und auch Belastung insbesondere für das Tarifsystem stellten die deutsch-deutsche Vereinigung und der anschließende sozialökonomische Transformationsprozess dar. Die 1990 von allen Seiten geforderte und betriebene Übertragung der westdeutschen Tarifstrukturen und -inhalte auf die neuen Bundesländer wurde von Arbeitgeberseite schon bald als übereilt und problematisch angesehen. Die Konflikte um das Tempo der Tarifangleichung an das westdeutsche Niveau führten zur Aufnahme von zahlreichen Härtefall- und Öffnungsklauseln in Tarifverträgen. Die in den neuen Ländern zu beobachtender Tendenz zu Tarifbruch und Tarif flucht wirkte mit zeitlicher Verzögerung auf die alten Länder zurück und beschleunigte dort die beginnende Erosion des Flächentarifvertrags. Je stärker der ökonomische Druck auf Tarifstandards und Tarifsystem wurde, umso mehr geriet in den 2000er Jahren auch der über Jahrzehnte bestehende gesellschaftliche Grundkonsens über das System des Flächentarifvertrags selbst in die Kritik. Die Wirtschafts- und Arbeitgeberverbände und auch die konservativen und liberalen politischen Kräfte forderten eine nachhaltige Lockerung der Branchentarifverträge zugunsten betrieblicher und individueller Regelungen und Absprachen. Der Vorrang von Tarifverträgen sollte aufgehoben, die Unterschreitung von tariflichen Mindestbedingungen zugelassen und die Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen eingeschränkt werden. Im Zusammenhang mit den Reformen der sozialen Sicherungssysteme („Agenda 2010“) (vgl. Kapitel V „Arbeit und Arbeitsmarkt“, Pkt. 8.2) wurden (auch seitens der rot-grünen Bundesregierung) Eingriffe in die Tarifautonomie durch Änderungen des Tarifvertragsgesetzes und des Betriebsverfassungsgesetzes diskutiert, aber nicht zuletzt aufgrund des massiven Protestes der Gewerkschaften nicht umgesetzt. Allerdings setzten die Arbeitgeber in den folgenden Jahren in vielen Branchen zum Teil weitreichende tarifliche Öffnungsklauseln durch. Ein Markstein dieser Entwicklung war das „Pforzheimer Abkommen“ der Tarifparteien in der Metallindustrie aus dem Jahr 2004, das unter bestimmten Voraussetzungen ein betriebliches Abweichen von den tarifvertraglichen Standards erlaubt. In der Folge setzte sich der bereits in den 1990er Jahren begonnene Prozess der Verbetrieblichung der Tarifpolitik verstärkt fort. Betriebliche Standort- und Beschäftigungssicherungsvereinbarungen und tarifliche Ergänzungsregelungen entwickelten sich zu einem viel genutzten Instrument, das die Prägekraft und innere Verbindlichkeit der Branchentarifverträge abschwächte.

376

7.2

Arbeitsbeziehungen

Restabilisierung des Tarifsystems als Herausforderung

Die Finanzkrise 2008/2009 und die damit einhergehende weltweite tiefe Rezession stellte einen Einschnitt auch für die Entwicklung der Arbeitsbeziehungen dar. Angesichts der enormen Risiken für Betriebe wie Beschäftigte wie auch für Wirtschaft und Politik insgesamt suchten die Beteiligten nach kooperativen Lösungen. Die Betriebsund Tarifparteien vereinbarten Abkommen, die auf die weitest mögliche Beschäftigungssicherung zielten. Durch den flexiblen Einsatz von Kurzarbeit und die umfassende Nutzung von Arbeitszeitkonten gelang es, den Beschäftigungsabbau in der Industrie zumindest für die Stammbelegschaften stark zu begrenzen. Dabei half die durch den Gesetzgeber vorgenommene Ausweitung der verfügbaren arbeitsmarktpolitischen Instrumentarien. Die rasche Stabilisierung der wirtschaftlichen Entwicklung und der nachfolgende anhaltende konjunkturelle Aufschwung stabilisierte auch das Verhältnis der Tarifvertragsparteien. Die relativ erfolgreiche Bewältigung des Wirtschaftseinbruchs durch das tripartistische Zusammenwirken von Gewerkschaften, Arbeitgeberverbänden und Staat hat den Blick für das Regulierungspotenzial kooperativer Arbeitsbeziehungen geschärft. Die Voraussetzungen dafür sind jedoch keineswegs eindeutig. Die Veränderungsprozesse verlaufen in den einzelnen Wirtschaftsbereichen nicht einheitlich. Es lassen sich unterschiedliche Muster („Drei Welten“) der Arbeitsbeziehungen unterscheiden: •

In der „ersten Welt“ existieren nach wie vor starke Tarifparteien und das Tarifvertragssystem funktioniert. Die sind zwar stark flexibilisiert und für betriebliche Nachregulierung offen, dies wird allerdings von Betriebsräten begleitet und aktiv kontrolliert. Beispiele sind die Metall- und Elektroindustrie und die chemische Industrie. • In der „zweiten Welt“ sind die Verhältnisse zwiespältiger, die Gewerkschaften sind nicht überall präsent, Tarifbindung fällt hier deutlich schwächer aus und die Konflikte sind härter. Dies gilt vor allem für mittelgroße Betriebe und Teile des öffentlichen Dienstes. • In der „dritten Welt“ sind tarifvertragliche Beziehungen mit verankerten Tarifparteien die Ausnahme. Betriebliche Interessenvertretungen gibt es zumeist nicht, ihre Gründung wird oftmals systematisch behindert. Zu diesem Bereich gehören vor allem Klein- und Mittelbetriebe im Handwerk und Dienstleistungsbranchen vor allem in Ostdeutschland. Dementsprechend stehen die Tarifvertragsparteien vor ganz unterschiedlichen Herausforderungen. In den weitgehenden tarif- und betriebsratsfreien Bereichen mit häufig niedrigen Einkommen kommt einer staatlichen Stützung bei der Festsetzung der Arbeits- und Einkommensbedingungen eine besondere Bedeutung zu. Die Gewerkschaften, insbesondere die vom Niedriglohn betroffenen, setzten angesichts ih-

Arbeitsbeziehungen im Umbruch

377

rer organisationspolitischen Schwäche bereits seit Beginn der 2000er Jahre auf einen gesetzlichen Mindestlohn. Fragen der sozialen Polarisierung und wachsender Einkommensungleichheiten gewannen in der öffentlichen Diskussion wieder an Bedeutung. Die nach jahrelangen politischen Auseinandersetzungen 2015 erfolgte Einführung des gesetzlichen Mindestlohns hat zu einer gewissen Stabilisierung des unteren Einkommensrandes geführt. Das Verhältnis von gesetzlichem Mindestlohn zu den Tariflöhnen wird auch in den kommenden Jahren auf der Tagesordnung bleiben. Die geforderte Anhebung des Mindestlohns auf 12 Euro je Stunde wird einige Tarifverträge in den Niedriglohnbranchen tangieren, offenbleibt, wie das Tarifvertragssystem darauf reagiert. Auch die übergreifende Forderung nach einer Stärkung des Tarifvertragssystems fand Widerhall in der Politik. Das Tarifautonomiestärkungsgesetz von 2014 erweiterte den Geltungsbereich des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes auf alle Branchen, sodass die Einführung branchenbezogener tarifliche Mindestlöhne leichter zu bewerkstelligen war. Außerdem erleichterte das Gesetz die Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen, indem im Tarifvertragsgesetz das bislang erforderliche Quorum einer Tarifbindung von mindestens 50 % der Beschäftigten gestrichen wurde. Positive Auswirkungen blieben allerdings bislang aus. In der Diskussion ist, die Tarifbindung durch weitere politische Maßnahmen zu stützen. Vorgeschlagen werden u. a. eine weitere Erleichterung der Allgemeinverbindlicherklärung, eine Ausweitung der Tariftreuegesetze bei der Vergabe öffentlicher Aufträge und Zuwendungen und eine Fortgeltung von Tarifverträgen bei Unternehmensaufspaltungen und Betriebsübergängen. Diese Maßnahmen staatlicher Stützung des Tarifsystems stoßen bei den Arbeitgeberverbänden auf große Skepsis, sie beurteilen sie als problematische Eingriffe in die Tarifautonomie. Die Erhöhung der Tarifbindung ist nicht zuletzt eine Sache der Tarifvertragsparteien selbst. Dabei schlagen sie unterschiedliche Wege ein: Die Gewerkschaften versuchen mit eigenen Anstrengungen die Tarifbindung zu erhöhen und damit das Tarifsystem insgesamt zu stabilisieren. Sie stellen seit Jahren die Mitgliedergewinnung ins Zentrum ihrer Organisationspolitik. Systematische Erschließungsprojekte, die auch auf den Erfahrungen US-amerikanischer Gewerkschaften mit Konzepten des „Organizing“ basieren, sollen den Zugang zu bislang wenig oder gar nicht organisierten Branchen und Tätigkeitsbereichen ermöglichen. Tarifrunden werden mit konkreten Aktionen zur Verteidigung und Erhöhung der Tarifbindung verknüpft. Dies gelingt in vielen Einzelfällen, konnte aber in der gesamtwirtschaftlichen Tarifbindung bislang keine Trendwende einleiten. Das hängt auch mit der abnehmenden Bindungskraft der Arbeitgeberverbände zusammen. Die über viele Jahre verfolgte Strategie der Verbandsstabilisierung durch Mitgliedschaften ohne Tarifbindung (OT-Mitgliedschaft) erwies sich als Hemmschuh für eine offensive Propagierung einer Tarifbindung. Stattdessen wird von Arbeitgeberseite das seit den 1990er Jahren verfolgte Konzept einer Flexibilisierung der Tarifverträge weiter vorangetrieben. So schlägt der Arbeitgeberverband Gesamt-

378

Arbeitsbeziehungen

metall eine Modularisierung der Tarifverträge in Form eines Baukastensystems vor, um auf diese Weise eine an den betrieblichen Interessen ausgerichtete flexible und selektive Tarifbindung zu ermöglichen. Eine Bewährungsprobe für das System der Arbeitsbeziehungen insgesamt wird die Bewältigung des tiefgreifenden Transformationsprozesses durch die Digitalisierung der Wirtschaft und die Herausforderungen durch den Klimawandel darstellen. Sie ist mit der Umstrukturierung ganzer Branchen, Unternehmen, Arbeits- und Produktionsabläufe verbunden. Die weitreichenden Folgen für die Arbeitsplätze, Qualifikationsanforderungen und Belastungsprofile erfordern neue Antworten aller Akteure im Feld der Arbeitsbeziehungen. Und auch das Arbeitsbeziehungssystem selbst ist betroffen: In manchen Bereichen, wie etwa der Plattformökonomie mit verschiedenen Formen von Crowdworking (z. B. Uber, Clickworker, Amazon Mechanical Turk u. a.), funktionieren die tradierten Formen der Interessenvertretung nicht oder nur unzulänglich. Ansätze für die Weiterentwicklung bestehender und Erarbeitung neuer Regelungs- und Gestaltungskonzepte sind auf verschiedenen Ebenen zu beobachten. Auf betrieblicher und Unternehmensebene sehen die betrieblichen Interessenvertretungen zunehmend ihre Aufgabe in der aktiven Mitgestaltung der Veränderungsprozesse. Das gilt für Sachthemen wie Beschäftigungssicherung, Qualifizierung, Datenschutz, Belastungsbegrenzung u. a. m. aber auch für die Regelung der Beteiligung und Mitbestimmung der Beschäftigten und ihrer Interessenvertretung. Es wächst auch die Zahl der Tarifverträge, die explizit die digitalisierungsgetriebene Transformation zum Gegenstand machen, so Firmentarifverträge (z. B. der Tarifvertrag „Arbeit 4.0“ bei der Deutschen Bahn) aber auch Branchentarifverträge (z. B. Tarifvertrag „Moderne Arbeitswelt“ in der chemischen Industrie oder der angestrebte Digitalisierungstarifvertrag für den öffentlichen Dienst). Ein weiterer Ansatz besteht in der systematischen Erfassung der Veränderungsprozesse auf Betriebs- und Branchenebene, wie sie die IG Metall in Form eines Transformationsatlas für die Metall- und Elektroindustrie vorgenommen hat. Er bildet die Grundlage für Gestaltungsforderungen auf verschiedenen Ebenen vom Unternehmen über die Tarifpolitik bis hin zur Arbeitsmarkt-, Sozial- und Strukturpolitik. Und schließlich gibt es auf der branchenübergreifenden politischen Ebene ebenfalls verschiedene Initiativen, Foren und Diskussionsplattformen, die dem Austausch, der Meinungsbildung und Entscheidungsvorbereitung zu Fragen der Digitalisierung und der sozial-ökologischen Transformation im weitesten Sinne dienen. Neben Vertreter:innen aus Wirtschaft, Politik, Forschung und Wissenschaft sind auch die Tarifvertragsparteien daran beteiligt. Nach mehr als zwei Jahrzehnten im Krisenmodus haben das Tarifvertragssystem und die Mitbestimmung als zentrale Säulen der Konfliktpartnerschaft in den Zehnerjahren wieder deutlich an gesellschaftlichem Ansehen gewonnen. Die 2020er Jahre werden zeigen, ob dies zu einer anhaltenden Renaissance des deutschen Modells sozialpartnerschaftlicher Arbeitsbeziehungen führen wird.

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8

379

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Arbeitsbeziehungen

Aktuelle Gutachten, Berichte, Analysen zu dem Themenfeld Tarifverträge finden sich auf http://www.sozialpolitik-aktuell.de/einkommen-berichte.html#tarifvertraege_tarifpolitik

V

Arbeit und Arbeitsmarkt

1

Arbeit, Arbeitsmarkt, Arbeitsmarktpolitik

1.1

Erwerbsarbeit und Lebenslagen

Im Jahresdurchschnitt 2019 waren rund 45 Millionen Menschen in Deutschland erwerbstätig. Bezogen auf die Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter, d. h. im Alter zwischen 15 und 65 Jahren, entspricht dies einem Anteil von über 70 %. Damit ist ein historischer Höchststand der Erwerbsbeteiligung erreicht, und dies, obgleich junge Menschen aufgrund der längeren Ausbildungszeiten immer später ins Berufsleben einsteigen. Mehr denn je gilt also, dass Deutschland eine Erwerbsarbeitsgesellschaft ist. In dieser Gesellschaft entscheidet die Teilhabe am Erwerbsleben, vor allem bedingt durch die Höhe des Erwerbseinkommens und die Art des Berufes, über die Verteilung von Lebenschancen und -bedingungen. Eine unfreiwillig niedrige oder gar eine fehlende Erwerbsteilhabe in Form von Arbeitslosigkeit lässt sich deshalb als ein Merkmal von sozialer Ausgrenzung begreifen und ist ein zentrales soziales Risiko. Die Chance, einen sicheren und gutbezahlten Arbeitsplatz zu erhalten, hängt entscheidend von den individuellen Voraussetzungen ab – wie hohe berufliche Qualifikation, Mobilität und Leistungsfähigkeit. Aber es kommt auch auf die ökonomische Entwicklung an. In Abhängigkeit vom Wirtschaftsprozess steigt bzw. schrumpft die Nachfrage nach Arbeitskräften, verbessern bzw. verschlechtern sich die Möglichkeiten für eine erfolgreiche Erwerbsbeteiligung. Tritt Arbeitslosigkeit ein und dauert diese an, entfällt das Arbeitseinkommens und damit die oftmals einzige finanzielle Existenzgrundlage. Für die Menschen kommt es aber nicht nur darauf an, ob sie Zugang zur Erwerbsarbeit haben. Die Devise, ‚jede Arbeit ist besser als keine‘, ist oberflächlich und irreführend. Entscheidend für die konkrete Lebenslage wie auch für den gesamten Lebensverlauf ist, welche Qualität die jeweilige Erwerbsarbeit hat. Sie eröffnet Chancen für ein Leben und einen Lebensverlauf in materieller und sozialer Sicherheit, kann aber auch die Entfaltung der Menschen behindern und zu sozialen Problemlagen führen – mit dem Risiko einer insgesamt prekären Lebenssituation. Die Qualität der © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 G. Bäcker et al., Sozialpolitik und soziale Lage in Deutschland, https://doi.org/10.1007/978-3-658-06249-1_5

383

384

Arbeit und Arbeitsmarkt

Erwerbsarbeit ist deshalb ein zentrales Merkmal für die Stellung der Menschen in der Gesellschaft, für ihren sozialen Status bis ins späte Alter hinein. Erwerbsarbeit entfaltet ihre Wirkung aber nicht nur im Arbeitsleben, sondern weit darüber hinaus. Auch die Lebenssituation der Nichterwerbstätigen wird mittelbar davon berührt: So hängen die Entwicklungsmöglichkeiten und Entfaltungschancen von Kindern und Jugendlichen nicht zuletzt von den durch die Erwerbsarbeit ihrer Eltern gegebenen Handlungsspielräumen ab, und der Lebensstandard der alten Menschen spiegelt den eigenen, in ihrem früheren Erwerbsleben erworbenen oder den ihrer Ehepartner:innen wider. Erwerbsarbeit ist ohne ihr Gegenstück, die privat verrichtete, unbezahlte Arbeit, vorwiegend in Form der Haus- und Familienarbeit, nicht zu denken. Über einen langen historischen Zeitraum hat sich eine geschlechtsspezifische Arbeitsteilung entwickelt und zum gesellschaftlich vorherrschenden Handlungsmuster verfestigt, nach dem Frauen für die Reproduktionsarbeit und Männer für den Erwerb des Lebensunterhalts zuständig sind. Das immer noch dominierende Muster männlicher Erwerbsarbeit als Vollzeitarbeitsverhältnis über ein ganzes Arbeitsleben hinweg war und ist nur auf dieser Grundlage möglich. Auch heute noch prägt diese Arbeitsteilung die Erwerbsbeteiligung und Erwerbsformen von vielen Frauen. Denn auch wenn Frauen erwerbstätig sind, bleiben sie zumeist für die Erziehung der Kinder, die Erledigung der Hausarbeit und ggf. die Pflege von Angehörigen verantwortlich. Diese Arbeitsteilung begründet eine ökonomisch fundierte Abhängigkeit vieler Frauen von ihren Männern. Zwar haben sich in den vergangenen Jahrzehnten Position und Situation von Frauen im Erwerbsleben spürbar verbessert. Aber von einer Aufhebung der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung kann bei weitem noch nicht gesprochen werden. 1.2

Der Arbeitsmarkt – ein besonderer Markt

Erwerbsarbeit bedeutet, dass der Arbeitsleistung ein Gegenwert in Form von Geld gegenübersteht. Selbstständige verkaufen ihre Produkte und Dienstleistungen am Markt. Die Mehrzahl der Menschen aber arbeitet für einen Arbeitgeber und erhält für ihre Arbeitsleistung einen Lohn. Rund 90 % aller Erwerbstätigen sind in diesem Sinne abhängig beschäftigt. Abhängig Beschäftigte verkaufen ihre Arbeitskraft bzw. ihre Arbeitsleistung für eine vertraglich bestimmte Zeit an einen Arbeitgeber. Der Arbeitgeber als Nachfrager der Arbeitskraft ist zur Zahlung eines Lohns verpflichtet. Allerdings handelt es sich nicht um ein normales Tauschverhältnis, wie es auf anderen Märkten üblich ist. Denn dieser Markt, der Arbeitsmarkt, ist ein besonderer Markt, er unterscheidet sich in vielerlei Hinsicht von den anderen Märkten, auf denen Käufer und Verkäufer von Waren, beispielsweise von Automobilen, aufeinandertreffen. Die Besonderheiten des Arbeitsmarktes zeigen sich in mehrfacher Hinsicht.

Arbeit, Arbeitsmarkt, Arbeitsmarktpolitik



385

Die weit überwiegende Zahl der Menschen ist zur Sicherung ihres eigenen Lebensunterhalts und dem ihrer Angehörigen (Kinder) zwingend auf den erfolgreichen Verkauf ihrer Arbeitskraft angewiesen. Nur einige Wenige verfügen über so große Vermögen und Vermögenserträge, dass sie ein Leben ohne Erwerbsarbeit führen können. Das Arbeits(kraft)angebot kann weder dauerhaft zurückgehalten noch kurzfristig räumlich verlagert werden. Es besteht ein unbedingter Angebotszwang, den es auf den anderen Märkten so nicht gibt. Insofern ist die marktwirtschaftliche Modellvorstellung, nach der mit sinkendem Preis das Angebot zurückgeht, für den Arbeitsmarkt unzutreffend. Die Existenznotwendigkeit von Arbeit erzwingt bei sinkendem Lohn u. U. steigende Arbeitsangebote (durch Überstunden, Nebenerwerbstätigkeiten), um den Lebensunterhalt bestreiten zu können. In ihrer extremen Form hat dieses nach den klassischen Modellannahmen nicht zu erwartende („inverse“) Angebotsverhalten dazu geführt, dass zu Beginn der Industrialisierung 12 bis 16 Stunden gearbeitet werden musste und selbst Kinder und Jugendliche zu Schwerarbeiten herangezogen wurden, um den Lebensunterhalt der Familien zu sichern. • Die Menschen verkaufen sich nicht selbst, sondern sie sind Verkäufer ihrer Arbeitskraft. Da sich aber die „Ware“ Arbeitskraft nicht von ihrem Träger, dem Menschen und dessen Bedürfnissen und Interessen trennen lässt, hat sie einen sehr spezifischen Charakter. Es kommt zu einem strukturellen Konflikt zwischen der marktförmigen Erwerbsarbeit einerseits und den lebensweltlichen Anforderungen der Menschen andererseits. Denn ohne Zeit für Erholung, Freizeit, soziale Kontakte und Kultur ist ein Leben nicht möglich. Vor allem gilt es, die Anforderungen der Haushaltsführung, der Kinderbetreuung und -erziehung sowie der Pflege von kranken und älteren Angehörigen zu erfüllen. Die Verlagerung dieser Tätigkeiten auf die nichterwerbstätigen (Ehe)Frauen ist heute keine durchgreifende Problemlösung mehr. Denn nahezu alle Frauen sind – mit kürzeren Unterbrechungen – erwerbstätig, nie zuvor war ein so großer Teil der Frauen gut ausgebildet und in qualifizierten Berufen tätig. Sie sehen sich vor das Problem gestellt, Erwerbsarbeit und Sorgearbeit miteinander zu vereinbaren. Das Spannungsverhältnis zwischen Arbeits- und Lebenswelt, wird virulent, zunehmend auch für Männer. • Die Arbeitgeber erwerben durch den Kauf ein Nutzungsrecht an der Arbeitskraft. In Folge der unauflösbaren Gebundenheit des Arbeitsvermögens und der Arbeitsleistung an die Person ihres Trägers berührt und umfasst die Verfügungs- und Direktionsgewalt immer auch den ganzen Menschen. Einfluss auf die Nutzung ihrer Arbeitskraft, die Arbeitsbedingungen und -belastungen, auf die Lage und Verteilung der Arbeitszeit, auf die Art und Weise der Tätigkeit besteht nicht. Die Beschäftigten sind während ihrer Arbeit im Unternehmen fremdbestimmt und abhängig von den Entscheidungen der Arbeitgeber. Die Interessen zwischen Käufer und Verkäufer, zwischen Arbeitgebern und Beschäftigen können sich in einzelnen Bereichen zwar überschneiden, sie sind je-

386

Arbeit und Arbeitsmarkt

doch nicht identisch, sondern unterschiedlich. Das betrifft etwa die Arbeitszeiten und die Arbeitsbelastungen, Dauer und Sicherheit der Beschäftigung, die Situation bei Erkrankungen, die persönlichen Entfaltungs- und Entwicklungschancen und nicht zuletzt die Lohnhöhe. 1.3

Regulierung des Arbeitsmarktes und Arbeitsmarktpolitik

Da diese Besonderheiten und Probleme der abhängigen Erwerbsarbeit nicht nur den einzelnen Menschen, sondern zugleich die gesamte Gesellschaft berühren, ist es nicht zufällig, dass es historisch gesehen schon sehr früh zu ersten politischen Eingriffen in den Arbeitsmarkt gekommen ist. Staatliche Sozialpolitik in Preußen setzt 1839 mit dem Verbot der Kinderarbeit ein; der Nutzung der Arbeitskraft werden erste rechtliche Schranken gesetzt. Die heutigen ökonomischen, sozialen und politischen Verhältnisse sind mit der damaligen Situation eines sich dynamisch entfaltenden Kapitalismus keineswegs zu vergleichen. Aber der Ansatzpunkt arbeitsrechtlicher Regelungen damals wie heute ist vergleichbar: Hinsichtlich Vertragsabschluss, -inhalt und -beendigung von Arbeitsverhältnissen werden Mindeststandards vorgegeben sowie Gebote und Verbote ausgesprochen, um zu verhindern, dass sich die Vertragsbedingungen beliebig zu Lasten des/der einzelnen Beschäftigten verschieben. Auch müssen die Beschäftigten bis zu einem gewissen Grad vor sich selbst geschützt werden, indem verbindliche Schutz- und Mindeststandards eine selbstausbeutende Verausgabung ihrer Arbeitskraft verhindern. Der Arbeitsmarkt ist damit zu einem regulierten Markt geworden, Vertragsfreiheit und Warencharakter der Arbeitskraft werden zwar nicht aufgehoben, aber doch eingeschränkt. Zwar werden auch andere Märkte reguliert, z. B. der Wohnungsmarkt, der Markt für Post und Telekommunikation und mittlerweile auch der Finanzmarkt; aber Regelungsvielfalt und -dichte fallen beim Arbeitsmarkt ungleich stärker aus. Bei der Regulierung des Arbeitsmarktes in Deutschland sind zwei Ebenen zu unterscheiden: •

Individuelle Arbeitsverhältnisse Gesetze und Verordnungen beziehen sich auf zahlreiche Aspekte des Arbeitsverhältnisses, u. a. auf den Eintritt in das Arbeitsverhältnis, die Entgeltbedingungen, Arbeitszeitvorschriften, Arbeitsschutzregelungen für bestimmte Personengruppen und die Beendigung des Arbeitsverhältnisses (vgl. Übersicht V.1). • System der kollektiven Arbeitsbeziehungen Hier kommt es sowohl durch tarifvertragliche Vereinbarungen zwischen Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden als auch durch Regelungen auf der Ebene des Betriebes und des Unternehmens zu einer Gestaltung von Arbeits- und Entlohnungsbedingungen (vgl. Kapitel „Arbeitsbeziehungen“).

Arbeit, Arbeitsmarkt, Arbeitsmarktpolitik

387

Gesetzliche Vorschriften und tarifvertragliche Vereinbarungen beziehen sich vielfach auf die gleichen Regelungsinhalte, z. B. die Arbeitszeit, die Urlaubsdauer, den Kündigungsschutz. Tarifverträge sehen jedoch in aller Regel weitergehende Ansprüche vor. Insofern gilt das Günstigkeitsprinzip. Gesetzliche Vorschriften geben unterste Normen vor, die keinesfalls unterschritten werden können. Historisch gesehen wurden gesetzliche Vorschriften häufig erst in Tarifverträgen erkämpft, um dann später per Gesetz auf alle Arbeitnehmer:innen ausgedehnt zu werden. Die Eingriffe in Arbeitsverhältnisse und Arbeitsmarkt zielen allerdings nicht allein auf eine Stärkung der Position der Beschäftigten. Zum einen begrenzen Gesetzgebung und Rechtsprechung auch den Entfaltungsspielraum von Beschäftigten und Übersicht V.1 Gesetzliche Regelungen des Arbeitsverhältnisses: Überblick über ausgewählte Bereiche Eintritt in das Arbeitsverhältnis Berufsausbildungssystem und -recht (BerufsbildungsG) Beschäftigungspflicht von Schwerbehinderten (SGB IX) Beschäftigung ausländischer Arbeitnehmer:innen (ZuwanderungsG, SGB III) Verbot der Diskriminierung (Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz) Entgeltbedingungen Mindestlohn (Mindestlohngesetz) Entgeltformen, Zuschläge, Feiertagsbezahlung (EntgeltfortzahlungsG, ArbeitszeitG, GewerbeO) Lohnsicherung bei Konkurs, Pfändungsschutz (InsolvenzO, SGB III) Lohnfortzahlung im Krankheitsfall (EntgeltfortzahlungsG) Arbeitnehmerüberlassung (ArbeitnehmerüberlassungsG) Transparenz von Entgeltstrukturen (Gesetz zur Förderung der Transparenz von Entgeltstrukturen) Arbeitsbedingungen bei grenzüberschreitenden Dienstleistungen (Arbeitnehmer-EntsendeG) Arbeitszeitregelungen Dauer und Lage der Arbeitszeit (ArbeitszeitG) Arbeitsverbot an Sonn- und Feiertagen (GewerbeO) Erholungsurlaub (BundesurlaubsG) Teilzeitarbeit (AltersteilzeitG, Teilzeit- und BefristungsG) Regelungen für besondere Personengruppen und Lebenslagen Arbeitsplatzschutz bei Wehrdienst (ArbeitsplatzschutzG) Berufsausbildungsverhältnis (BerufsbildungsG) Schwerbehindertenschutz: Beschäftigungspflicht, besonderer Kündigungsschutz (SGB IX) Sonderschutz der Heimarbeiter:innen (HeimarbeitsG) Frauenarbeitsschutz: Beschäftigungsverbote, Mutterschutz (MutterschutzG, ArbeitszeitG) Elternzeit (Bundeselterngeld- und ElternzeitG) Pflegezeit, Familienpflegezeit (Pflegezeitgesetz; Gesetz zur Vereinbarkeit von Pflege und Beruf ) Jugendarbeitsschutz: Verbot der Kinderarbeit, Beschäftigungsbedingungen Jugendlicher (JugendarbeitsschutzG) Beendigung des Arbeitsvertrages Kündigungen und Kündigungsschutz (KündigungsschutzG) Massenentlassungsschutz (SGB III) Betriebliche Altersversorgung (BetriebsrentenG)

388

Arbeit und Arbeitsmarkt

Gewerkschaften, so vor allem durch das Arbeitskampfrecht (z. B. Verbot von „wilden“ Streiks). Zum anderen entspricht eine Ordnung des Arbeitsmarkts auch den Interessen der Wirtschaft an klaren Wettbewerbsverhältnissen. Der Ansatz, das strukturelle Machtungleichgewicht zwischen den Arbeitsmarktparteien auszugleichen, wird durch zwei weitere Interventionsformen des Sozialstaats verfolgt. •

Durch Sozialleistungen erhalten Personen unter bestimmten Bedingungen und Voraussetzungen auch dann ein Einkommen, wenn Erwerbsarbeit nicht bzw. nicht mehr möglich ist. Durch diese alternative Form der Sicherung des Lebensunterhalts wird der wirtschaftliche Zwang, unter allen Umständen und zu jedem Preis die eigene Arbeitskraft anbieten zu müssen, gelockert. Dies geschieht durch die finanzielle Absicherung bei Arbeitslosigkeit, durch die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall und auch durch die Zahlung von Renten, um nur einige Beispiele zu benennen. Geschützt werden nicht nur die Betroffenen selbst, sondern es mindert sich auch der Druck für die Beschäftigten insgesamt. • Arbeitsmarktpolitik als ein Teilsystem der Sozialpolitik zielt darauf ab, Arbeitslosigkeit möglichst zu vermeiden bzw. ihre Dauer zu verkürzen, die Beschäftigungsfähigkeit der Menschen zu fördern und die Funktionsweise von Arbeitsmärkten zugunsten von besseren Beschäftigungsbedingungen zu beeinflussen. Dazu werden in erster Linie Dienstleistungen eingesetzt. Zu nennen sind Information, Beratung, Vermittlung, Qualifizierung. Geldzahlungen können diese Dienstleistungsstrategie flankieren, so durch Lohnkostenzuschüsse, Zahlung von Beihilfen, Übernahme von Kosten usw. (vgl. dazu ausführlich Pkt. 8.3 dieses Kapitels).

2

Strukturen und Entwicklungstrends der Erwerbsarbeit

2.1

Erwerbsbeteiligung, sozialversicherungspflichtige Beschäftigung und Arbeitsvolumen

Von den knapp 83 Mio. Menschen, die (2018) in Deutschland lebten, gingen etwa 45 Mio. einer Erwerbstätigkeit nach. Rund 2,3 Mio. Menschen waren erwerbslos. Erwerbstätige und Erwerbslose zusammen bilden – nach der Terminologie der amtlichen Statistik – die Gesamtheit der Erwerbspersonen (vgl. Abbildung V.1). Bei rund 47 Mio. Erwerbspersonen ergibt sich eine Erwerbsbeteiligung bzw. Erwerbsquote von 49,9 %, d. h. knapp die Hälfte der gesamten Wohnbevölkerung ist erwerbstätig oder sucht eine Erwerbsarbeit. Die andere Hälfte der Bevölkerung zählt zu den Nichterwerbspersonen. Dies sind Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene, die noch vor der Erwerbsphase stehen, sowie ältere Menschen, die ihre Erwerbstätigkeit beendet haben.

Strukturen und Entwicklungstrends der Erwerbsarbeit

Abbildung V.1

389

Struktur des Arbeitsmarktes im Überblick (Anhaltsgrößen 2018) Erwerbspersonenpotenzial 47,3 Mio. Erwerbstätige (realisiertes Potenzial) 45,0 Mio.

Arbeitsangebot

Erwerbspersonenangebot 47,2 Mio. Beschäftigte Arbeitnehmer 40,3 Mio., darunter Sozialversicherungspflichtig Beschäftigte 33,1 Mio.

Offene Stellen (nicht realisierte Nachfrage)

Beschäftigungslose 2,4 Mio.

Ausschließ- Beamte lich gering- 2,1 Mio. fügig Beschäftigte 5,1 Mio.

Besetzte Stellen (realisierte Arbeitsnachfrage)

SelbstRegisständige trierte u. ArbeitsMithellose fende 2,3 4,3 Mio. Mio.

Stille Reserve im engeren Sinne 0,08 Mio.

Arbeitsnachfrage

Quelle: Bundesagentur für Arbeit (2019), Arbeitsmarktbericht 2018. Die Größenordnung der Felder entspricht nicht ihrer quantitativen Bedeutung.

Bezieht man sich auf die Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter, d. h. im Alter zwischen 15 und 65 Jahren, erreicht die Erwerbsquote einen Wert von über 70 %. Dieser Wert würde noch höher ausfallen, wenn berücksichtigt würde, dass auf der einen Seite die jüngeren Menschen aufgrund der längeren Ausbildungszeiten im Durchschnitt erst nach dem 20. Lebensjahr in den Beruf einsteigen. Auf der anderen Seite ist zu erkennen, dass immer mehr ältere Menschen auch jenseits der Regelaltersgrenze noch erwerbstätig sind. Die in der amtlichen Statistik ausgewiesenene Gruppe der „Erwerbslosen“ wird anders definiert und erhoben als die Gruppe der „Arbeitslosen“, wie sie den Statistiken der Bundesagentur für Arbeit (BA) zu entnehmen ist. Die quantitativen Abweichungen sind erheblich. In den folgenden Ausführungen zur Arbeitslosigkeit wird auf die Daten der BA Bezug genommen. Als erwerbstätig gelten entsprechend der internationalen Konventionen alle Personen, die in einem Arbeitsverhältnis stehen (abhängig beschäftigte Arbeitnehmer:innen) oder selbstständig ein Gewerbe oder eine Landwirtschaft betreiben (Selbständige, Unternehmer) oder als mithelfende Familienangehörige im Betrieb eines Verwandten mitarbeiten. Die Dauer der Arbeitszeit (mindestens eine Stunde) ist dabei unerheblich. Auch Personen, die zwar aktuell nicht arbeiten, bei denen aber vertragliche Bindungen zu einem Arbeitgeber bestehen (z. B. erkrankte Personen oder Personen in Mutterschutz, Elternzeit, Pflegezeit), gelten als erwerbstätig.

390

Arbeit und Arbeitsmarkt

Etwa 10 % aller Erwerbstätigen üben eine selbstständige Tätigkeit aus, seit 2010 hat sich dieser Anteil kaum verändert. Der im Zuge der Digitalisierung und Dienstleistungsorientierung erwartete rapide Anstieg neuer Formen von Selbstständigkeit lässt sich noch nicht feststellen. Allerdings haben sich innerhalb der Selbstständigen die Gewichte verschoben. Stark rückläufig ist seit Jahren die Gruppe der Landwirte und auch der Handwerker und Kleinunternehmer, während es auf der anderen Seite immer mehr Solo-Selbstständige gibt. Diese machen (2018) einen Anteil von über 50 % an allen Selbstständigen aus. Der Großteil der Erwerbstätigen ist damit abhängig beschäftigt (als Beamt:innen, Angestellte oder Arbeiter:innen). Unter diesen Personengruppen wiederum ist der Großteil sozialversicherungspflichtig beschäftigt, ausgenommen sind die Beamt:innen und die geringfügig Beschäftigten. Insgesamt stellen die sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten knapp 75 % (2018) aller Erwerbstätigen. Die Zahlen beziehen sich dabei auf Personen, nicht aber auf Beschäftigungsverhältnisse. Diese Unterscheidung ist von erheblicher Bedeutung, da es immer häufiger vorkommt, dass eine Person mehrere Beschäftigungsverhältnisse gleichzeitig ausübt. Dies trifft 2018 auf rund 3,3 Millionen abhängig Beschäftigte zu. Besonders häufig kommt es zu einer Kombination einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung mit einer geringfügigen Nebenbeschäftigung. Nicht selten werden aber auch zwei sozialver-

Abbildung V.2

Erwerbstätige und sozialversicherungspflichtig Beschäftigte 1992 – 2018 in Mio. 80

Erwerbstätige in Mio.

40 38,2

37,7

37,6

39,3

38,1

39,1

39,1

38,9

43,6

42,7

41,6

40,6

40,3

44,8 70

in Mio.

60 Sozialversicherungspflichtig Beschäftigte in Mio.

45,00

44,29

43,64

43,07

42,67

42,32

42,06

41,58

41,02

40,89

40,86

40,33

39,64

39,34

50

27,7

27,5

26,4

39,33

39,63

26,5

39,20

39,92

39,81

39,03

27,6

32,9

31,4

30,2

29,3

27,8

27,2

38,41

37,97

27,7

37,96

37,80

28,2

37,79

20

38,28

29,3

37,95

30

40

30 Jahresarbeitsvolumen in Mrd. Stunden rechte Achse

20

10

2018

2017

2016

2015

2014

2013

2012

2011

2010

2009

2008

2007

2006

2005

2004

2003

2002

2001

2000

1999

1998

1997

1996

1995

1994

1993

0

1992

10

0

Quelle: Bundesagentur für Arbeit (zuletzt 2019), Beschäftigungsstatistik; Statistisches Bundesamt (zuletzt 2019), Erwerbstätigenrechnung und Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung.

Strukturen und Entwicklungstrends der Erwerbsarbeit

391

sicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse, insbesondere Teilzeitbeschäftigungen, miteinander verbunden. Verfolgt man die Entwicklung seit 1992, zeigt sich sowohl bei den Erwerbstätigen insgesamt als auch bei den sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten ein wechselvoller Verlauf. Während die Zahl der Erwerbstätigen zwischen 1992 und 2006 vergleichsweise stabil geblieben ist, weist der Trend der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in diesem Zeitraum eindeutig nach unten. Die Zahl sinkt von 29,3 Mio. auf 26,4 Mio. Beginnend jedoch ab 2007 lässt sich eine grundlegende Umkehr bei beiden Größen erkennen: Bis 2018 haben die sozialversicherungspflichtig Beschäftigten um 6,5 Mio. Personen zugelegt, die Erwerbstätigen um 5,7 Mio. Der Anteil der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten an allen Erwerbstätigen ist von 67,5 % (2006) auf 74,4 % gestiegen. Da es bei der Berechnung der Erwerbstätigenzahlen nicht auf die individuellen Arbeitszeiten ankommt, bleibt bei den Erwerbstätigen- und Beschäftigtenzahlen unberücksichtigt, dass sich in den zurückliegenden Jahren vor allem in Folge der Ausweitung von Teilzeitarbeit die durchschnittlichen Arbeitszeiten je Person erheblich verringert haben. Multipliziert man die in einem Jahr geleisteten Arbeitsstunden mit der Zahl der Erwerbstätigen, errechnet sich das Jahresarbeitsvolumen. So wurden im Jahr 2018 rund 60 Mrd. Stunden ermittelt (Abbildung V.2). Bei näherer Betrachtung zeigt sich auch hier eine zweigeteilte Entwicklung: • Zwischen 1992 und 2005 sank das Jahresarbeitsvolumen schrittweise von über 60 Mrd. Stunden auf 55,5 Mrd. Stunden. • Seitdem hat ein Aufschwung eingesetzt, der durch die Auswirkungen der Finanzkrise 2008 und 2009 lediglich unterbrochen wurde, sich aber in den Jahren danach fortgesetzt und im Jahr 2018 mit 61,1 Mrd. Stunden das Ausgangsvolumen von 1992 überschritten hat. • Da sich trotz dieser langjährig rückläufigen Entwicklung des Arbeitsvolumens das Bruttoinlandsprodukt Jahr für Jahr erhöht hat, heißt das, dass für die Erstellung eines wachsenden gesamtwirtschaftlichen Wohlstands immer weniger Arbeitsstunden erforderlich sind. Möglich wird dies durch die Erhöhung der Arbeitsproduktivität, d. h. dass in einer Arbeitsstunde mehr an Gütern hergestellt oder an Dienstleistungen erbracht wird.

392

2.2

Arbeit und Arbeitsmarkt

Strukturen der Erwerbstätigkeit

2.2.1 Wirtschaftsbereiche

Der Einsatz der Erwerbstätigen in den einzelnen Wirtschaftsbereichen der Volkswirtschaft ist einem ständigen Strukturwandel unterworfen. In Deutschland vollzog sich in der Mitte des 19. Jahrhunderts der Übergangsprozess von der Agrar- zur Industriegesellschaft. Die Industrialisierung legte zugleich die materielle Grundlage für die Ausweitung des Dienstleistungssektors, des sogenannten tertiären Sektors, der seit Ende des Zweiten Weltkriegs stetig an Bedeutung gewonnen hat. Er hat seinen Anteil zu Lasten der Beschäftigten in der Land- und Forstwirtschaft (primärer Sektor) und der Beschäftigten im warenproduzierenden Gewerbe (sekundärer Sektor) ständig vergrößert. Wie umfassend die Verschiebungen zwischen den Sektoren sind, zeigt sich auch dann, wenn man auf die Entwicklung bis 2018 schaut (vgl. Abbildung V.3): 1991 hatten der sekundäre Sektor (einschließlich Bau) einen Anteil von 35,7 % der Erwerbstätigen, der primäre Sektor von 3 % und der tertiäre Sektor von 61,3 %. 2018 vereinen der primäre und und sekundäre Sektor gerade noch ein Viertel der Erwerbstätigen auf sich. Im Vergleich zu anderen Staaten in der EU und auch zu den USA hat der sekundäre Sektor in Deutschland aber immer noch eine hohe Bedeutung, was auch in dessen Anteil an der gesamtwirtschaftlichen Wertschöpfung (rund 37 %) zum Ausdruck kommt. Auch innerhalb der Sektoren vollziehen sich Strukturveränderungen. So kommt es im verarbeitenden Gewerbe zu einer Ausdehnung der dienstleistungsförmigen Tätigkeiten. Da die wirtschaftsfachliche Zuordnung der Erwerbstätigen nach dem wirtschaftlichen Schwerpunkt des Betriebes erfolgt, kommt dies in der Statistik erst dann zum Ausdruck, wenn solche Dienstleistungen in einen eigenständigen Betrieb ausgelagert werden (so z. B. im Fall des „Outsourcings“ der Logistik in eine Tochtergesellschaft oder der Vergabe an eine Fremdfirma). Der Dienstleistungssektor umfasst ein breites Spektrum unterschiedlicher Berufe und Tätigkeitsfelder, wie u. a. Handel, Verkehr, Nachrichtenübermittlung, Produktions- und Unternehmensdienstleistungen, sachbezogene Dienstleistungen und Handwerk und Gaststättenwesen. Kontinuierlich an Bedeutung gewonnen hat der Bereich „Öffentliche Dienstleister, Erziehung, Gesundheit und sonstige Dienstleistungen“. Fast jede/r dritte Arbeitnehmer:in arbeitet hier (vgl. Abbildung IV.3). Nicht zuletzt die Ausweitung sozialpolitischer Aktivitäten im Bereich sozialer Dienste schlägt sich hier nieder (vgl. Kapitel „Soziale Dienste“, Pkt. 2.3). Im öffentlichen Dienst insgesamt (Bund, Länder, Gemeinden, Sozialversicherungsträger) ist es in den zurückliegenden Jahren unter dem Vorzeichen der Politik eines „schlanken Staates“ und der Privatisierungswellen (so Bahn, Post, Telekommunikation, Wohnungswesen, Krankenhäuser, Energieversorgung) zu einem drastischen Abbau der Beschäftigung gekommen, von 1991 (6,7 Mio. Beschäftigte) auf 2008

Strukturen und Entwicklungstrends der Erwerbsarbeit

Abbildung V.3

393

Erwerbstätige nach Wirtschaftsbereichen 1991 – 2018

100%

90%

26,3

27,3

12,2

12,6

28,4

29,4

29,6

29,6

30,3

30,7

30,9

30,6

31,3

30,8

30,9

31,4

31,5

80%

70%

öffentliche und sonstige Dienstleistungen 13,5

60%

50%

22,7

23,1

14,2

30%

20%

28,3

7,8

26,5

23,3

8,6

23,8

10%

0%

16,6

17,2

17,9

18,9

19,3

19,5

19,8

20,0

20,2

20,2 Information/Finanzierung, Unternehmensdienstleister

23,2

40% 7,4

15,2

8,5

23,3

7,9

23,5

7,3

23,4

6,4

23,5

23,4

23,2

23,1

23,1

23,0

6,0

5,7

5,6

5,7

5,7

5,7

5,6

5,6

22,8

22,7 Handel, Gastgewerbe, Verkehr

22,6

22,0

21,2

20,9

20,2

19,5

19,6

18,8

19,0

18,9

18,6

18,6

3,0

2,7

2,4

2,1

2,0

1,9

1,8

1,8

1,6

1,6

1,6

1,6

1,5

1,4

1,4

1991

1992

1994

1996

1998

2000

2002

2004

2006

2008

2010

2012

2014

2016

2018

Baugewerbe

Produzierendes Gewerbe ohne Bau Land-/Forstwirtschaft

Ab 2008 Gesamtdeutschland und Anpassungen der VGR Quelle: Statistisches Bundesamt (zuletzt 2019), Volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen.

(4,5 Mio. Beschäftigte). Ab 2008 ist ein leichter Umschwung zu erkennen, die Beschäftigung steigt auf 4,8 Mio. Beschäftigte (2018) an. Angesichts von großen Versorgungslücken finden sich Personalzuwächse vor allem in den Bereichen Schule, Pflege, Kindertagesstätten, Sozialarbeit und Polizei. 2.2.2 Frauenerwerbstätigkeit

Der Anstieg der Erwerbstätigenzahlen ist in erster Linie auf die gestiegene Erwerbsbeteiligung von Frauen zurückzuführen (vgl. Abbildung V.4). Zwar liegt in den alten Bundesländern die Erwerbsbeteiligung der Männer immer noch merklich über der der Frauen, während sich in den neuen Ländern die fast gleiche Erwerbsbeteiligung beider Geschlechter behauptet hat. Auffällig ist jedoch, dass die Erwerbsquoten der Männer in den alten Ländern von 80,0 % in 2000 und 83,0 % in 2018 in den vergangenen 18 Jahren relativ konstant geblieben sind. Hingegen hat die Erwerbsquote der Frauen im gleichen Zeitraum – insbesondere seit Ende der 1990er Jahre – deutlich zugenommen und lag im Jahr 2018 bei 73,6 % (alte Bundesländer). Zu erinnern ist bei der Bewertung dieser Verläufe daran, dass die Erwerbsquote neben den Erwerbstätigen auch die Erwerbslosen umfasst. Das Ausmaß der Erwerbslosigkeit/Arbeitslosigkeit wird deshalb in den Erwerbsquoten nicht sichtbar.

394

Arbeit und Arbeitsmarkt

Abbildung V.4 Erwerbsquoten nach Geschlecht, alte und neue Länder 1991 – 2018, in % der Bevölkerung im Alter von 15 bis unter 65 Jahren 90

86,0 85

83,0

82,2

82,4 80

77,2

Erwerbsquoten Männer, alte Länder Erwerbsquoten Männer, neue Länder

77,3

Erwerbsquote Frauen, neue Länder

73,6

Erwerbsquote Frauen, alteLänder

75

70

65

60 58,4

2018

2017

2016

2015

2014

2013

2012

2011

2010

2009

2008

2007

2006

2005

2004

2003

2002

2001

2000

1999

1998

1997

1996

1995

1994

1993

1992

50

1991

55

Quelle: Statistisches Bundesamt (zuletzt 2019), Mikrozensus.

Die zunehmende Erwerbsbeteiligung von Frauen ist durch eine Reihe von sozioökonomischen Faktoren bedingt. Die Zahl der Kinder ist gesunken, und die schulische und berufliche Ausbildung von Frauen hat sich verbessert. Zugleich verliert die Ehe den Charakter einer lebenslangen Versorgungsinstitution. Gerade bei verheirateten Frauen wächst der Wunsch nach mehr Eigenständigkeit und finanzieller Unabhängigkeit; eine befriedigende berufliche Tätigkeit ist Grundlage und Mittel nicht nur zur gesellschaftlichen Wertschätzung und Selbstverwirklichung, sondern auch notwendig, um den Lebensunterhalt eigenständig sichern zu können. Die Unterbrechung der Erwerbstätigkeit nach der Geburt von Kindern erfolgt seltener und fällt kürzer aus; der Anteil der Berufsrückkehrer:innen hat sich erhöht. Auch haben sich durch den Ausbau der Tagesbetreuung von Kindern die Möglichkeiten zur parallelen Vereinbarkeit von Beruf und Kindererziehung verbessert. Gleichwohl begrenzen die immer noch unzureichenden Betreuungsmöglichkeiten insbesondere für Kleinkinder eine durchgängige Erwerbsbeteiligung bzw. den raschen beruflichen Wiedereinstieg nach der Geburt der Kinder. Die Erwerbsbeteiligung von Frauen hängt deshalb im hohen Maße von ihrem Familienstand und vor allem von der Zahl und dem Alter der Kinder ab (vgl. dazu ausführlich Kapitel „Familie und Kinder“, Pkt. 7.2). Diese Rahmenbedingungen, aber auch die Verhaltensweisen der Männer, die sich immer noch stark am Muster der traditionellen Arbeitsteilung orientieren, haben

Strukturen und Entwicklungstrends der Erwerbsarbeit

395

zur Konsequenz, dass der Anstieg der Frauenerwerbsbeteiligung nicht auf Vollzeitsondern auf Teilzeitarbeit beruht. Frauenerwerbstätigkeit in Deutschland ist weit überwiegend Teilzeittätigkeit (vgl. Abbildung V.5). Diese wiederum bewegt sich zu einem erheblichen Teil auf der Ebene von Halbtagstätigkeiten oder von Minijobs (vgl. Pkt. 3.3 dieses Kapitels). Individuelle verkürzte Arbeitszeiten sind der Weg bzw. der Ausweg, um die beruflichen und lebensweltlichen Anforderungen miteinander vereinbaren zu können. Für Männer gilt dies weniger, ihr Anteil der Teilzeitbeschäftigten liegt (2018) bei rund 11 % und konzentriert sich auf die Berufseinstiegs- und Berufsausstiegsphase. Rechnet man die Teilzeittätigkeit von Frauen auf Vollzeitstellen um, auf sog. Vollzeitäquivalente, dann ist das gesamte Arbeits(zeit)volumen von Frauen in den zurückliegenden Jahren nur schwach gestiegen, die steigende Zahl der weiblichen Erwerbstätigen verdeckt diesen Zusammenhang. Obwohl mit Teilzeitarbeit erhebliche Benachteiligungen verbunden sind, werden diese in Kauf genommen. Denn nach wie vor weist Teilzeitarbeit einen höheren Anteil an gering qualifizierten, belastenden, schlecht bezahlten Tätigkeiten auf als Voll-

38,3

47,9

47,9

47,8

48,0

47,7

47,9

46,1

46,3

45,9

45,8

46,0

46,0

44,3

42,1

41,4

39,6

40,2

40

46,2

Abbildung V.5 Teilzeitbeschäftigung nach Geschlecht 2000 – 2018, in % aller abhängig Beschäftigten

Frauen

in %

30

0

2000

2001

2002

2003

2004

11,2

11,1

10,8

10,6

10,4

9,8

9,6

9,3

9,2

9,0

8,9

8,8

7,4

6,2

6

5,5

5,2

4,8

10

10,3

20

Männer

2005

2006

2007

2008

2009

2010

2011

2012

2013*

2014

2015

2016

2017

2018

ohne volle Erfassung der Minijobs Quelle: Statistisches Bundesamt (zuletzt 2019), Fachserie 1, Reihe 4.1.1, Stand und Entwicklung der Erwerbstätigkeit in Deutschland.

396

Arbeit und Arbeitsmarkt

zeitarbeit. Auch fallen die Rentenanwartschaften geringer aus. Und nach wie vor legitimiert Teilzeitarbeit die Zuweisung der Haus- und Familienarbeit an Frauen. Frauenerwerbstätigkeit ist nicht nur durch Teilzeitbeschäftigung charakterisiert, sie konzentriert sich zugleich auf sog. frauentypische Branchen und Berufe. Diese Verteilung trägt mit dazu bei, dass Frauen deutlich weniger als Männer verdienen (vgl. Kapitel „Einkommen“, Pkt. 2.3.2). 2.2.3 Erwerbstätigkeit und Lebensalter

Jugendliche und junge Erwachsene Die Erwerbsbeteiligung junger Menschen hat in den vergangenen Jahrzehnten deutlich abgenommen. Im Jahr 1991 betrugen die Erwerbsquoten der 20- bis unter 25jährigen noch im Schnitt 73 %; sie sind bis 2018 auf rund 66 % zurückgegangen. Gingen vor mehr als einem Jahrzehnt noch fast vier Fünftel der jungen Erwachsenen einer Erwerbstätigkeit nach, waren es im Jahr 2018 lediglich noch bis zu zwei Drittel der 20- bis unter 25jährigen. Die Ursachen liegen in einer verlängerten Ausbildungsdauer und in einer zunehmenden Bildungsbeteiligung. Immer mehr Jugendliche und junge Erwachsene absolvieren eine weiterführende Schul- und Hochschulausbildung (vgl. Kapitel „Qualifikation“, Pkt. 3.1). Gleichwohl bleibt zu berücksichtigen, dass ein zunehmender Anteil von Studierenden während des Studiums erwerbstätig ist, um den Lebensunterhalt zu ergänzen oder gänzlich zu sichern. Studierende stellen einen großen Anteil an den hauptberuflichen Minijobbern. Ältere Beschäftigte Schaut man auf das andere Ende der beruflichen Alterspyramide, dann wird eine genau gegenläufige Entwicklung sichtbar. Seit etwa 2012 lässt sich eine kontinuierliche Erhöhung der Erwerbsbeteiligung Älterer feststellen (vgl. Abbildung V.6). Damit hat sich der in den Jahren vor der Jahrtausendwende dominierende Trend einer beruflichen Frühausgliederung und Frühverrentung grundlegend umgekehrt. Allerdings fällt die Erwerbstätigenquote bei den 63 bis 64jährigen und bei 64 bis 65jährigen mit durchschnittlich 50,8 % bzw. 36,2 % im Jahr 2018 immer noch deutlich niedriger aus als bei den unter 60jährigen mit rund 80 %. Der Zuwachs der Erwerbsbeteiligung Älterer hat mehrere Gründe. Hervorzuheben sind die günstige Lage auf dem Arbeitsmarkt, der große Fachkräftebedarf in den Betrieben sowie die verbesserte gesundheitliche und qualifikatorische Lage der nachrückenden Jahrgänge. Vor allem aber wirken sich die Veränderungen im Rentenrecht aus. Die Möglichkeiten eines vorgezogenen Rentenbeginns sind teilweise ganz abgeschafft oder eingeschränkt und durch die Einführung von Rentenabschlägen erschwert worden. Zudem hat seit dem Jahr 2012 die schrittweise Anhebung der Regelaltersgrenze von 65 auf 67 Jahre eingesetzt (vgl. Kapitel „Alter“, Pkt. 6.4.1). Allerdings ist es kaum möglich, die jeweiligen Einflussfaktoren quantitativ abzugrenzen.

Strukturen und Entwicklungstrends der Erwerbsarbeit

Abbildung V.6

397

Erwerbstätigenquoten Älterer nach Altersjahren 2012 – 2018

100

90 2012

2014

2018

66,2 61,4

30

36,2 33,7 32,7 29,1

42,5 39,5 35,8

46,8

40

50,8

55,9

55,2

50

2016

70,6 68,0 63,7

62,5

60

75,1 70,8 68,9

76,7 74,6 73,0 69,5

56-57

78,6 77,8 74,0 73,0

82,7 80,6 79,3 76,9

55-56

70

81,4 79,3 77,1 75,1

83,8 82,3 80,4 78,9

80

20

10

0

57-58

58-59

59-60

60-61

61-62

62-63

63-64

64-65

Alter von .. bis unter.. Jahren

Quelle: Statistisches Bundesamt (2019), Mikrozensus.

Auch unter den Rentner:innen finden sich viele Minijobber, darunter hauptsächlich jene, die ihre Regelaltersrente durch einen Zusatzverdienst aufstocken. 2.2.4 Erwerbstätigkeit von Ausländer:innen

Von den rund 10,1 Mio. ausländischen Einwohner:innen in Deutschland 2018 zählen knapp 5,1 Mio. als Erwerbspersonen, darunter sind 3,9 Mio. sozialversicherungspflichtig beschäftigt. Personen und Erwerbstätige, die nach der Zuwanderung die deutsche Staatsangehörigkeit erworben haben, sind dabei nicht mitgerechnet. Sie zählen zu den gut 20 Mio. Personen mit Migrationshintergrund. Ausländer:innen machen 12,2 % der Gesamtbevölkerung aus, Personen mit Migrationshintergrund (im engeren Sinne) rund 25 %. Hinter den bis etwa 2011 relativ konstant erscheinenden, nur wenig schwankenden Bestandszahlen der ausländischen Bevölkerung verbergen sich erhebliche Zuund Abwanderungsbewegungen. In den Jahren der weltweiten Finanzkrise 2008 und 2009 haben infolge der verstärkten Rückwanderung in die Heimatländer die Fortzüge die Zuzüge sogar überstiegen. Der Rückgang der ausländischen Wohnbevölkerung ist allerdings niedriger ausgefallen als es dem jeweiligen Wanderungssaldo ent-

398

Arbeit und Arbeitsmarkt

spricht, denn durch den Geburtenüberschuss in der zweiten Generation wächst die Zahl der in Deutschland lebenden Ausländer:innen. Der starke Zuwachs der ausländischen Wohnbevölkerung ab 2012 beruht auf mehreren Ursachen: Durch die schrittweise Verbesserung der Beschäftigungslage wird der deutsche Arbeitsmarkt aufnahmebereiter, die Erweiterung der EU ermöglicht es Menschen aus den mittel- und südosteuropäischen Mitgliedsländern, nach Deutschland einzuwandern und eine Arbeit aufzunehmen. Schließlich verstärkt sich infolge der anhaltenden Finanz- und Arbeitsmarktkrise in den südeuropäischen Staaten der Druck insbesondere auf jüngere (und zu einem Teil gut ausgebildete) Menschen aus ihren Ländern abzuwandern und in Deutschland einen Arbeitsplatz zu suchen. Vor allem aber kommt es ab 2015 zu einem enorm hohen Zuzug von Asylbewerber:innen und Schutzsuchenden. Wie auch bei der deutschen Bevölkerung ist nur ein Teil der Bevölkerung ohne deutsche Staatsangehörigkeit erwerbstätig oder wird in der Statistik als erwerbslos erfasst. Gleichwohl ist auch die Zahl der ausländischen Erwerbspersonen auf 5,1 Mio. angestiegen, ihr Anteil an den Erwerbspersonen insgesamt hat sich auf 12,1 % erhöht (vgl. Abbildung V.7).

Abbildung V.7 Ausländische Bevölkerung und ausländische Erwerbspersonen 2000 – 2018, in Mio. und in % der Bevölkerung insgesamt und in % aller Erwerbspersonen 12 10

8,8

8,8

8,9

8,8

8,8

9,3

8,8

8,2 8,7

8 6

7,3

7,3

7,4

7,3

7,3

7,3

12,2

11,2

in % der Gesamtbevölkerung

7,3

7,3

7,2

7,1

7,2

7,4

7,0

6,6

9,7

9,2

10,1

7,5

4 2

Ausländische Bevölkerung in Mio.

0 12

in % der aller Erwerbspersonen

8

12,1

11,2

10 8,8

9,6

9,2

9,1

8,8

9,8

9,3

9,8

6 4 2 0

3,5

3,6

3,5

3,6

3,7

2000

2001

2002

2003

2004

3,6

3,7

2005

2006

3,8

3,9

4,0

3,9

4,0

4,2

3,9

4,1

4,4

4,8

5,1

5,1

Ausländische Erwerbspersonen in Mio.

2007

2008

2009

2010

2011

2012*

2013

2014

2015

2016

2017

2018

Ab 2011 Hochrechnung anhand der Bevölkerungsfortschreibung auf Basis des Zensus 2011; die Ergebnisse sind nur eingeschränkt mit den Vorjahren vergleichbar. Quelle: Statistisches Bundesamt (zuletzt 2018), Bevölkerung und Erwerbstätigkeit, Fachserie 1, Reihe 4.1.

Strukturen und Entwicklungstrends der Erwerbsarbeit

399

Ausländer:innen haben einen Beschäftigungsschwerpunkt im Handel und Gastgewerbe sowie vor allem bei den privaten Dienstleistungen. Von abnehmender Bedeutung sind das verarbeitende Gewerbe und das Baugewerbe. In den vergangenen Jahren hat auch die Zahl der Selbstständigen unter den Ausländer:innen stark zugenommen. Aufenthaltsrecht und Aufenthaltstitel Die Erwerbsbeteiligung von Ausländer:innen ist stark von administrativen Regelungen bzw. Beschränkungen abhängig. Eine Beschäftigung ohne entsprechenden Aufenthaltstitel ist nur EU-Bürger:innen, ihren Angehörigen sowie Staatsangehörigen aus Island, Liechtenstein, Norwegen und der Schweiz und ihren Angehörigen gestattet. Diese Personen genießen die volle Arbeitnehmerfreizügigkeit und haben einen unbeschränkten Zugang zu Beschäftigung und selbstständiger Erwerbsarbeit. Das Aufenthaltsrecht unterscheidet sechs Aufenthaltszwecke, an die jeweils besondere Berechtigungen zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit geknüpft sind. Im Falle der Aufenthaltserlaubnis entscheidet prinzipiell die Ausländerbehörde im Verfahren des sog. „one-stop-government“ im Einzelfall. Ein uneingeschränkter Arbeitsmarktzugang kann mit einer Aufenthaltserlaubnis bestimmten Personengruppen gewährt werden (u. a. anerkannte Asylberechtigte und Konventionsflüchtlinge, nachgezogene Familienmitglieder von arbeitsberechtigten Ausländer:innen in Deutschland). Auch ist mit einer Niederlassungserlaubnis die Ausübung einer Erwerbstätigkeit uneingeschränkt möglich. Ein Aufenthaltstitel zum Zwecke des Studiums berechtigt zur befristeten Ausübung einer Beschäftigung sowie zur Ausübung studentischer Nebentätigkeiten. Erfolgreichen Absolvent:innen eines Studiums kann die Aufenthaltserlaubnis zur Suche eines angemessenen Arbeitsplatzes bis zu einem Jahr verlängert werden. Ausländer:innen, die nach Deutschland einreisen wollen, um einer Erwerbstätigkeit nachzugehen, müssen dies bei einer deutschen Auslandsvertretung gemeinsam mit dem Visum beantragen. Eine Ausländerbehörde in Deutschland prüft dann den Antrag gemeinsam mit der Bundesagentur für Arbeit insbesondere in der Hinsicht, ob eine freie Arbeitsstelle nicht mit einer/m Deutschen oder einer/m ansässigen Ausländer/in vorrangig besetzt werden kann. Dieses Vorrangprinzip gilt jedoch nur eingeschränkt, d. h. nicht für Bewerber mit einem Hochschul- oder qualifizierten Berufsabschluss und wird durch die Regelungen im Fachkräfteeinwanderungsgesetz ausgeweitet (vgl. Kapitel „Qualifikation“, Pkt. 9.2). Diesen Personen kann auch sofort eine unbefristete Niederlassungserlaubnis erteilt werden. Wird der Antrag genehmigt und ein Visum ausgestellt, enthält die anschließende Aufenthaltserlaubnis nähere Bestimmungen zur Ausübung der Erwerbstätigkeit. Ferner können Ausländer:innen, die in Deutschland eine selbstständige Tätigkeit ausüben wollen, eine Aufenthaltserlaubnis erhalten. Auch hier gilt jedoch, dass sie ihre finanzielle und soziale Absicherung weitgehend eigenständig leisten und vorweisen können.

400

Arbeit und Arbeitsmarkt

Anerkannte Asylbewerber:innen können grundsätzlich uneingeschränkt als Beschäftigte arbeiten und auch einer selbstständigen Tätigkeit nachgehen. Bei Personen, bei denen ein Abschiebungsverbot festgestellt worden ist, entscheidet die Ausländerbehörde im Einzelfall, ob eine Beschäftigungsgenehmigung erteilt wird. Ein Aufenthaltstitel zum Zwecke des Familiennachzugs zu einem/r Deutschen berechtigt ebenfalls zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit. Dagegen können Familienangehörige nur eine Beschäftigung aufnehmen, wenn der/die Ausländer:in, zu dem der Nachzug erfolgt, erwerbstätig sein darf. Keinen Arbeitsmarktzugang haben dagegen grundsätzlich zunächst Asylbewerber:innen und Ausländer:innen, die sich lediglich geduldet in Deutschland aufhalten. Nach drei Monaten der Aufenthaltsgestattung kann allerdings bis zur Entscheidung über den Asylantrag die Aufnahme einer Beschäftigung erlaubt werden, wenn kein/e bevorrechtigte/r Arbeitnehmer:in für die beabsichtigte Beschäftigung zur Verfügung steht. Es bestehen weiterhin zahlreiche Sonderregelungen für den Arbeitsmarktzugang bestimmter Gruppen, wie z. B. für Saisonarbeitnehmer:innen, Werkvertragsbeschäftigte, Ferienbeschäftigungen, Künstler:innen oder Berufssportler:innen. In dem Maße, in dem ausländische Arbeitnehmer:innen und ihre Familien auf Dauer in der Bundesrepublik verbleiben und wie die dritte und mittlerweile vierte Ausländergeneration heranwachsen, verändern sich auch ihre Problemlagen. Eine Politik der umfassenden gesellschaftlichen Integration der Ausländer:innen, das heißt ihrer vollen sozialen, ökonomischen, rechtlichen und politischen Gleichstellung mit den Deutschen, steht allerdings nach wie vor aus. Auch nach rund 60 Jahren der Ausländerbeschäftigung widerspricht die Realität noch immer in vielen Punkten den Zielen der Gleichstellung und Integration: • Ausländische Arbeitnehmer:innen sind im Berufsleben vielfach schlechter gestellt als ihre deutschen Kolleg:innen (so u. a. in Bezug auf Qualifikation und Entlohnung, Arbeitsbedingungen, Arbeitsplatzsicherheit und Wiedereingliederungschancen). • Ausländische Schul-, Hochschul- und Berufsabschlüsse werden zum Teil nicht oder nur nach langwierigen Verfahren anerkannt, so dass es häufig zu unterwertiger, qualifikationsinadäquater Beschäftigung kommt (vgl. Kapitel „Qualifikation“, Pkt. 9.2). • Ausländer:innen sind überproportional häufig von Arbeitslosigkeit betroffen. Dies gilt im besonderen Maße für anerkannte Asylbewerber:innen, die nur mit Schwierigkeiten auf dem Arbeitsmarkt Fuß fassen (vgl. Pkt. 5.4.2 dieses Kapitels). • Die Einkommenslage ausländischer Haushalte ist im Schnitt deutlich schlechter als die der deutschen Haushalte. Die Armutsrisikoquoten wie auch die Empfängerquoten von Leistungen nach dem SGBII liegen deutlich über dem Niveau der Gesamtbevölkerung (vgl. Kapitel „Einkommen“, Pkt. 7.3.2).

Arbeitsverhältnisse

3

Arbeitsverhältnisse

3.1

Normalarbeitsverhältnis

401

In einer hocharbeitsteiligen Wirtschaft zeigt die Erwerbstätigkeit ein äußerst vielfältiges Bild. Zu unterscheiden ist nicht nur nach Branchen, Regionen, einzelnen Personengruppen, Qualifikation, sondern auch nach Arbeitgebern, Betriebsgrößen, Berufen, Tätigkeitsfeldern, Arbeitszeiten sowie abhängiger und selbstständiger Beschäftigung. Die Unterschiede in den Beschäftigungsformen und deren arbeits- und sozialrechtliche Ausgestaltung haben sich in den letzten Jahrzehnten deutlich ausgeweitet. Das Spektrum reicht vom gut bezahlten und sozial gesicherten Vollzeitarbeitsverhältnis über die oft schlechter abgesicherte und bezahlte Teilzeitarbeit bis hin zur Leiharbeit oder zur nicht sozialversicherungspflichtigen (sogenannten geringfügigen) Beschäftigung. Das sog. „Normalarbeitsverhältnis“ hat über lange Zeit als spezifische Gestaltung und Organisation von Erwerbsarbeit das Spektrum der Beschäftigungsformen dominiert. Es fasst aber zugleich auch die lange Zeit geltende normative Vorstellung über die wünschenswerte Ausgestaltung eines regulären Arbeitsverhältnisses zusammen. Das „Normalarbeitsverhältnis“ gilt daher als „typisch“, während alle anderen Arbeitsverhältnisse oft als „atypisch“ bezeichnet werden, weil sie in einzelnen oder mehreren Merkmalen von diesem Grundtypus abweichen. Die wesentlichen Merkmale des „Normalarbeitsverhältnisses“ sind: • ein abhängiges Beschäftigungsverhältnis, • Vollzeittätigkeit, • ohne Befristung, • existenzsicherndes, regelmäßiges Einkommen, • Schutz durch die Systeme der Sozialversicherung, • direkte Tätigkeit in dem Unternehmen, mit dem das Arbeitsverhältnis besteht. Das so abgegrenzte Normalarbeitsverhältnis hat an Bedeutung verloren. Dabei ist zu berücksichtigen, dass es faktisch überwiegend nur für Männer Gültigkeit besessen hat und besitzt. Solange die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung (fort)besteht, konnte und kann die Mehrzahl der Frauen, insbesondere der Mütter, die Anforderungen einer dauerhaften, lebenslangen Berufstätigkeit auf Vollzeitbasis nicht erfüllen. Zurückzuführen ist der Bedeutungsrückgang auf Veränderungen sowohl der normativen Leitvorstellungen als auch der realen Ausprägung der Arbeitsverhältnisse: •

Die Zielvorstellung einer lebenslangen vollzeitigen Beschäftigung wird von einer wachsenden Zahl von Menschen nicht (mehr) geteilt. Die zeitweise Unterbrechung der Erwerbstätigkeit, die vorübergehende oder dauerhafte Verkürzung der

402

Arbeit und Arbeitsmarkt

Arbeitszeit oder auch die Ausübung einer befristeten Tätigkeit sind für viele keine prinzipiell problematische Abweichung von einer vorgeblichen Normalität mehr, sondern eine Beschäftigungsform, die sie für unterschiedliche Zeiträume und aus den verschiedensten persönlichen, familiären, sozialen oder wirtschaftlichen Gründen teils akzeptieren, teils sogar aktiv anstreben. • Zugleich wirken die Umbrüche in der Ökonomie auf die Arbeitsverhältnisse ein: Dazu zählen, um nur die wichtigsten Faktoren zu benennen, der Wandel hin zur Dienstleistungsgesellschaft, die Flexibilisierung der Erstellung von Produkten und Dienstleistungen und die Entwicklung entsprechender personalpolitischer Strategien der Betriebe, die Privatisierung weiter Bereiche des öffentlichen Dienstes und der steigende Kostendruck im internationalen Wettbewerb. Die Politik – insbesondere durch die Deregulierungsmaßnahmen im Rahmen der sog. Hartz-Gesetze und der Agenda 2010 – hat die Ausbreitung atypischer Beschäftigung noch zusätzlich befeuert (vgl. Pkt. 8.2 in diesem Kapitel). Denn arbeitsmarktrelevante Regulierungen haben einen erheblichen Einfluss auf die Verbreitung und Entwicklung verschiedener Beschäftigungsformen. Rechtliche Regelungen definieren Handlungsspielräume und setzen Anreize für Arbeitnehmer:innen und Arbeitgeber. So macht es z. B. einen großen Unterschied für die Angebots- und die Nachfrageseite, ob geringfügige Beschäftigungsverhältnisse im Haupt- oder Nebenerwerb grundsätzlich sozialversicherungsfrei sind oder nicht. • Strittig ist bei der Abgrenzung der atypischen von den „normalen“ Arbeitsverhältnissen insbesondere, wie die Teilzeitarbeit eingeordnet werden soll. Denn eine vollzeitnahe Teilzeitarbeit (beispielsweise von 32 Wochenstunden) ist sicherlich anders zu bewerten als eine Beschäftigung im unteren Stundensegment. Auf der anderen Seite garantiert auch eine Vollzeitarbeit noch keineswegs ein existenzsicherndes Einkommen, wie die Befunde zur Niedriglohnbeschäftigung zeigen (vgl. Kapitel „Einkommen“, Pkt. 2.3.3). Auch kann die selbstständige Beschäftigung nicht außer Betracht bleiben, denn die wachsende Gruppe der selbstständig Beschäftigten ohne weitere Mitarbeiter:innen, die sog. Solo-Selbstständigen, bewegt sich im Grenzbereich zwischen abhängiger und selbstständiger Beschäftigung und weist zu großen Teilen problematische Arbeits- und Einkommensbedingungen sowie eine fehlende soziale Absicherung auf. • Das Statistische Bundesamt zählt zu den Normalarbeitnehmer:innen abhängig Beschäftigte mit einer unbefristeten und voll sozialversicherungspflichtigen Tätigkeit, die eine wöchentliche Arbeitszeit von über 20 Stunden umfasst und direkt für den Arbeitgeber ausgeführt wird. Nur die „kurze“ Teilzeitarbeit von unter 20 Stunden gilt also hier als atypisch. Für das Jahr 2018, also in einer Zeitpunktanalyse, wird ohne die Arbeitnehmer:innen in langer Teilzeit ein Anteil von 20,1 % atypisch Beschäftigten an allen Arbeitnehmer:innen ausgewiesen. Als atypisch einzuordnen sind danach kurze Teilzeitarbeit, geringfügige Beschäftigung, befristete Beschäftigung und Leiharbeit.

Arbeitsverhältnisse

403

In der Abbildung V.8 wird die Entwicklung der atypischen Beschäftigung seit 2000 in absoluten Zahlen dargestellt und mit der Vollzeitbeschäftigung verglichen, wobei hier die Teilzeit insgesamt einbezogen wird. Die Befunde über den Wandel der Erwerbsformen dürfen allerdings nicht fehlinterpretiert werden. So gewinnt die Vollzeitarbeit an (relativer) Bedeutung gegenüber der Teilzeitarbeit, wenn man die Arbeitsvolumina in Stunden berücksichtigt. Zudem hat sich die Verschiebung der Anteile der Erwerbsformen vor dem Hintergrund einer insgesamt steigenden Beschäftigung vollzogen; die Teilzeitarbeit hat die Vollzeitarbeit nicht einfach verdrängt, sondern ist – im Gefolge der steigenden Frauenerwerbstätigkeit – zu großen Teilen zusätzlich entstanden. Ob und unter welchen Bedingungen eine atypische Beschäftigung zu einer prekären Beschäftigung wird, ist im hohen Maße abhängig von der Höhe des individuellen Arbeitsentgelts, den Einkommensverhältnissen des Haushaltes, den Auswirkungen auf die Absicherung sozialer Risiken und vor allem von der Dauer des Zustandes.

Abbildung V.8 Abhängig Beschäftigte in Vollzeitarbeit und in atypischen Erwerbsformen 2000 – 2018, in Mio. 24 23

23,2

22

23,6

22,9

22,7 21,6

21

22,0

21,3

22,1

21,6

21,8

Vollzeit SV-pflichtig

20 19 18 17 16 15 14 13 12 11 10 9 8 7

6,1

6 5 4 3

4,4

4,6

4,7

4,3

4,1

4,1

0,3

0,3

0,4

0

2000

2001

2002

5,3

5,0

2003

2004

2006

5,8

7,3*

5,1 0,8

0,8

0,6 2005

7,4

5,1

4,8

2 1

7,2

7,0

6,7

7,6

2007

2008

2009

2010

2011

4,6

0,9

0,9

2012

2013

2014

7,8

7,8

7,7

4,7

9,3

8,6

7,7

4,9

2015

2016

1,0

2017

Geringfügig Beschäftigte1) Befristet Beschäftigte3)

4,8

1,0

Teilzeit SV-pflichtig2)

Leiharbeit

2018

Ab 2012 neues Erhebungsverfahren der BA, Zahlen mit den Vorjahren nur bedingt vergleichbar. 1) geringfügig Haupt- u. Nebenbeschäftigte, 2) mit weniger als 40 Stunden pro Woche; 3) inkl. Beschäftigte in Ausbildungsverhältnissen Quelle: Bundesagentur für Arbeit (zuletzt 2019), Beschäftigtenstatistik; Statistisches Bundesamt (zuletzt 2019), Mikrozensus.

404

Arbeit und Arbeitsmarkt

Ein besonders hohes Prekaritätsrisiko weist der gesamte Bereich der irregulären, illegalen Erwerbsarbeit auf, über den naturgemäß keine amtlichen Daten vorliegen. Hier handelt es sich aber nicht etwa um einen kleinen Randbereich, denn allein im Bereich der pflegerischen und hauswirtschaftlichen Versorgung kann von 0,8 Mio. inländischen und ausländischen Beschäftigten ausgegangen werden, die „schwarz“ arbeiten und zum Teil unter erbärmlichen Einkommens- und Arbeitsbedingungen zu leiden haben. 3.2

Teilzeitarbeit

Die Teilzeitbeschäftigung in Deutschland – gemeint sind hier alle abhängig Beschäftigten mit einer Arbeitszeit unterhalb der regulären Wochenarbeitszeit – hat in den vergangenen Jahren deutlich zugenommen. Im Jahr 2018 waren nach der IAB-Arbeitszeitrechnung mit gut 15 Mio. Teilzeitbeschäftigten so viele abhängig Erwerbstätige (einschließlich Beamt:innen und geringfügig Beschäftigte) wie noch nie in einem solchen Beschäftigungsverhältnis. Teilzeitarbeit ist und bleibt eine Domäne von Frauen und lässt sich kaum als „atypisch“ interpretieren. Für die Frauen ist Teilzeitarbeit das Normalarbeitsverhältnis. Untergliedert man die Teilzeitbeschäftigung nach dem Lebensalter, kann nicht verwundern, dass bei Frauen der Anteil der Teilzeitbeschäftigten in den mittleren Lebensjahren, in denen die Berufstätigkeit mit der Kindererziehung wie auch mit der Pflege von älteren Angehörigen vereinbart werden muss, besonders hoch liegt. Bei den Männern konzentriert sich Teilzeitbeschäftigung – allerdings auf einem insgesamt deutlich niedrigeren Niveau – auf die Zeiten der Ausbildung und des Berufsbeginns und auf die Zeit nach dem Rentenbezug (vgl. Abbildung V.9). Wenn über die Regelaltersgrenze hinaus gearbeitet wird, dann ganz überwiegend auf Teilzeitbasis (vgl. Kapitel „Alter“, Pkt. 4.4). Zwar ist Teilzeitarbeit allein durch die Dauer der Arbeitszeit von Vollzeitarbeit abgegrenzt, aber Teilzeitarbeit ist im besonderen Maße durch Arbeitszeiten geprägt, die in ihrer Lage und Verteilung flexibel sind. Zu finden sind nicht nur die klassischen Halbtagsarbeiten (vor- oder nachmittags), sondern auch Variationen der Lage der Arbeitszeit (Schichtarbeit, Nacht-, Wochenend- oder Feiertagsarbeit) sowie der Verteilung der Arbeitszeit (während des Tages, der Woche, des Monats bis hin zu Arbeitszeiten „auf Abruf “). Hinsichtlich der Stundendauer der Frauenerwerbstätigkeit zeigen die Befunde des Mikrozensus für das Jahr 2018, dass 27 % der Frauen Arbeitszeiten von bis zu 20 Wochenstunden leisten und damit im Bereich einer geringfügigen Beschäftigung und einer „kurzen“ Teilzeit liegen. Teilzeitarbeit wird zwischen Arbeitgebern und Beschäftigten einzelvertraglich vereinbart. Grundsätzlich gelten für Teilzeitbeschäftigte dieselben arbeitsrechtlichen Gesetzesvorschriften wie für Vollzeitbeschäftigte. Darüber hinaus ist im Teilzeit- und

Arbeitsverhältnisse

405

Abbildung V.9 Teilzeitquoten nach Lebensalter, Männer und Frauen 2018, in % aller abhängig Beschäftigten

90

88,0 80

Männer

Frauen

77,1 70

60

56,4

53,0

50

53,7

55,2

52,7

51,9

40

38,5 30

20

32,1

30,9 20,9

27,9 19,2 14,5

14,0

10

7,9 0

15-20

20-25

25-30

30-35

7,0 35-40

6,2 40-45

6,4 45-50

6,4 50-55

8,1 55-60

60-65

65 und älter

Quelle: Statistisches Bundesamt (zuletzt 2019), Fachserie 1, Reihe 4.1.1.

Befristungsgesetz ausdrücklich geregelt, dass Arbeitgeber teilzeitbeschäftigte Arbeitnehmer:innen nicht wegen der Teilzeitarbeit anders behandeln dürfen, es sei denn, dass sachliche Gründe eine solche Ungleichbehandlung rechtfertigen (Diskriminierungsverbot). Einen Anspruch auf eine Reduzierung der individuellen Arbeitszeit haben nach dem Teilzeit- und Befristungsgesetz Beschäftigte, deren Arbeitsverhältnis bei einer Arbeitgeberin oder einem Arbeitgeber länger als sechs Monate besteht und die in einem Betrieb arbeiten, in dem in der Regel mehr als 15 Arbeitnehmer:innen beschäftigt sind. Abgelehnt werden kann ein Antrag auf Verringerung der Arbeitszeit vom Unternehmen nur, wenn betriebliche Gründe dem entgegenstehen. Solche Gründe sind z. B. eine wesentliche Beeinträchtigung der Organisation, des Arbeitsablaufs oder der Sicherheit im Betrieb. Einen Anspruch auf Rückkehr auf einen Vollzeitarbeitsplatz gab es bis 2019 nicht. Seit 2019 verbessert die Brückenteilzeit die Zeitoptionen der Beschäftigten: Beschäftigt ein Arbeitgeber in der Regel insgesamt mehr als 45 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, können diese verlangen, dass ihre Arbeitszeit verringert wird und sie nach Ablauf einer Frist zur ursprünglichen Arbeitszeit zurückkehren können (vgl. im Detail Kapitel „Familie und Kinder“, Pkt. 9.3). Für die Expansion der Teilzeitarbeit sind nachfrage- und angebotsseitige Einflussfaktoren verantwortlich. Vor allem in den Dienstleistungssektoren nutzen Betriebe

406

Arbeit und Arbeitsmarkt

Teilzeitarbeit, um ihre Flexibilität zu erhöhen. Auf Seiten der Beschäftigten gibt es viele Anlässe und Gründe für reduzierte Arbeitszeiten; dominant für die Erwerbsund Arbeitszeitorientierung von Frauen ist und bleibt die Sichtweise, dass es durch Teilzeitarbeit möglich ist, nach der Geburt von Kindern die Erwerbstätigkeit fortsetzen und gleichzeitig die Anforderungen von Kindererziehung und Haushaltsführung bewältigen zu können. In nicht seltenen Fällen folgt der Phase der Betreuung und Erziehung von Kindern die Aufgabe, pflegebedürftige Angehörige zu versorgen und zu betreuen. In deutlich selteneren Fällen erfolgt dies sogar parallel („SandwichGeneration“). Diese Orientierung auf Teilzeitarbeit ist jedoch nicht allein Ausdruck einer freien Entscheidung, denn restriktive Rahmenbedingungen (vor allem hinsichtlich des Angebots an ganztägigen Kinderbetreuungseinrichtungen wie auch an ambulanten und teilstationären Pflegediensten) engen den Entscheidungsspielraum ein. Befragungen nach den Arbeitszeitwünschen von Frauen kommen immer wieder zu dem Ergebnis, dass viele teilzeitbeschäftigte Frauen ihre Arbeitszeiten in Richtung einer vollzeitnahen Teilzeitarbeit verlängern möchten. Auch geben viele Frauen in Befragungen an, dass eine Teilzeittätigkeit nur deshalb ausgeübt werde, weil eine Vollzeitstelle nicht zu finden war. Teilzeitbeschäftigte konzentrieren sich auf bestimmte (frauentypische) Berufe und Wirtschaftszweige, erhalten Stundenlöhne im unteren Bereich, nehmen seltener an Weiterbildungsmaßnahmen teil und sind von betrieblichen Aufstiegswegen häufig ausgeschlossen. Teilzeitarbeit in Führungspositionen hingegen ist unverändert selten anzutreffen. Ein Einkommen aus einer Teilzeitbeschäftigung im unteren Stundenbereich reicht in der Regel zur eigenständigen Existenzsicherung nicht aus. Erforderlich sind weitere Einkommen im Haushaltskontext. Teilzeitbeschäftigte Frauen sind deshalb zu großen Teilen verheiratet oder leben im Paarkontext und sind damit in erheblichem Maß vom Einkommen der Partnerin oder des Partners abhängig. Im Falle einer Trennung bzw. Scheidung von Partner oder Partnerin oder deren langandauernden Arbeitslosigkeit entfällt das Einkommen aus zwei Quellen. Das Einkommen aus Teilzeitarbeit kann den Lebensunterhalt nicht sichern. Dieses Problempotenzial von Teilzeitarbeit (insbesondere im unteren Stundenspektrum) setzt sich fort bei der sozialen Absicherung. Erwerbsverläufe, die nur durch eine geringe bzw. durchbrochene Beschäftigungs- und Versicherungsdauer geprägt sind oder in denen nur eine niedrige individuelle Einkommensposition erreicht werden konnte, führen zu niedrigen Renten. Da eine – aufgrund von Niedrigentgelten und/oder einer geringen individuellen Arbeitszeit (Teilzeit) – schlechte Einkommensposition und kurze Versicherungsdauer sehr häufig miteinander verknüpft sind, konzentrieren sich niedrige Renten auf Frauen. Wenn der Teilzeitlohn kaum das individuelle Existenzminimum sichert und der Lebensunterhalt nur im Partnerkontext gewährleistet werden kann, lässt sich keine Rente über der Grundsicherung erwarten.

Arbeitsverhältnisse

3.3

407

Minijobs

Ein erheblicher Anteil der Teilzeitbeschäftigten übt lediglich eine geringfügige Tätigkeit aus. Betrug die Zahl der so genannten Minijobs im März 2003 noch etwa 5,6 Mio., so hat sie sich seitdem auf rund 7,9 Mio. (Juni 2018) erhöht. Etwa 5,1 Mio. gehen ausschließlich einer geringfügigen Beschäftigung nach. Im Nebenjob sind etwa 2,9 Mio. geringfügig beschäftigt (siehe Abbildung V.10). Vor allem die Zahl der im Nebenjob geringfügig Beschäftigten hat sich kontinuierlich erhöht, während die Zahl der ausschließlich geringfügig Beschäftigten seit etwa 2007 nahezu konstant geblieben ist bzw. seit 2014 sogar ein wenig sinkt. Insgesamt nimmt die geringfügige Beschäftigung auf dem deutschen Arbeitsmarkt eine gewichtige Rolle ein; sie ist bedeutender als die sozialversicherungspflichtige Teilzeitarbeit. Zwei Drittel der geringfügig Beschäftigten sind Frauen, die in der Regel verheiratet und damit sozialversicherungsrechtlich über ihren (Ehe-)Mann abgesichert sind. Männer üben dagegen eine geringfügige Beschäftigung vorrangig im Nebenjob aus.

Abbildung V.10 Beschäftigte in Minijobs 2003 – 2018, Nebenbeschäftigte und Hauptbeschäftigte in Mio. insgesamt in Mio

7,9

7,7

7,8

7,6

7,8

2,88

2,80

2,74

2,68

2,61

2,57

2,52

7,6

7,7

2,50

2,46

2,43

7,7

7,8

7,7

2,36

2,37

7,6

2,27

7,7

7,6

2,24

2,12

7,5

7,4

2,06

2,17

7,5

2,05

7,5

7,4

1,98

1,98

7,2

1,92

1,87

7,3

7,1

1,74

1,78

7,0

1,66

7,1

6,9

1,52

1,62

6,7

1,52

6,8

6,7

im Nebenjob geringfügig Beschäftigte

5,01

4,86

5,07

4,95

5,14

5,01

5,18

5,17

5,35

5,22

5,35

5,21

5,32

5,23

5,37

5,27

5,39

5,31

5,38

5,23

5,33

5,26

5,32

5,24

5,28

5,19

5,15

5,16

4,66

4,84

5,22

0,98

1,22

4

5,6

5

1,43

6,1

6

6,7

7

7,4

8

ausschließlich geringfügig Beschäftigte 3

2

1

06/2018

12/2017

06/2017

12/2016

06/2016

12/2015

06/2015

12/2014

06/2014

12/2013

06/2013

12/2012

06/2012

Quelle: Bundesagentur für Arbeit (2019), Beschäftigungsstatistik.

12/2011

06/2011

12/2010

06/2010

12/2009

06/2009

12/2008

06/2008

12/2007

06/2007

12/2006

06/2006

12/2005

06/2005

12/2004

06/2004

12/2003

06/2003

0

408

Arbeit und Arbeitsmarkt

Die Zahl geringfügiger Beschäftigungsverhältnisse in Privathaushalten lag 2017 – trotz der steuerlichen Absetzbarkeit und der geringeren Abgabenquote von 12 % – mit gut 300 000 erheblich unter der Zahl von Haushalten, die in Umfragen angeben, Putz- oder andere Haushaltshilfen zu beschäftigen. Bei den Beschäftigten, die in einem Minijob arbeiten, handelt es sich keineswegs um eine homogene Gruppe. Identisch ist die Funktion der Minijobs als Quelle eines Hinzuverdiensts, aber Interessen und Lebensbedingungen der Personen differieren erheblich. Die Gruppen unterscheiden sich nach ihrem Krankenversicherungsschutz, den sie jenseits ihres versicherungsfreien Minijobs haben. Grob gefasst lassen sich die ausschließlich geringfügig Beschäftigten wie folgt aufteilen: • Hausfrauen und Hausmänner: • Schüler/Studierende: • Rentner: • Arbeitslose: • Sonstige:

35,2 %, 20,1 %, 22,4 %, 11,1 %, 11,2 %.

Hinsichtlich der Verteilung der Minijobber auf Wirtschaftsbereiche kommen die vorliegenden empirischen Analysen zu folgenden Ergebnissen. Mehr als die Hälfte aller Minijobber konzentriert sich auf die Wirtschaftsbereiche mit einem hohen Anteil an beschäftigten Frauen, nämlich „Handel“, „Gastgewerbe“, „sonstige Dienstleistungen“ und „Gesundheits- und Sozialwesen“. In Teilbereichen des Einzelhandels und der Gastronomie sowie bei der Gebäudereinigung stellen Minijobber die Mehrheit der Beschäftigten. Wie diese Wirtschaftsstruktur erwarten lässt, sind Minijobber zugleich in Klein- und Mittelbetrieben stark vertreten. Minijobs sind als kleine und flexible Beschäftigungsverhältnisse angelegt, die für Personen in bestimmten Alters- und Lebensphasen eine einfache Möglichkeit des Hinzuverdienstes eröffnen. Wegen des Prinzips brutto = netto sind sie finanziell sehr attraktiv. Für die Unternehmen bieten Minijobs Vorteile bei den effektiven Personalkosten und beim Personaleinsatz. Gerade in Branchen mit variablen Kunden- und Dienstleistungsfrequenzen erweisen sich Arbeitszeiten, die hinsichtlich Dauer, Lage und Verteilung variabel sind, als vorteilhaft. Allerdings handelt es sich keinesfalls um eine Win-Win Konstellation. Denn die Minijob-Regelungen wirken wie eine „gläserne Decke“ hinsichtlich des Umfangs und auch der Qualität der Erwerbsbeteiligung. Dies gilt in erster Linie für die große Gruppe der ausschließlich geringfügig beschäftigten Ehefrauen, deren Arbeitseinkommen nach dem Modell der sog. modifizierten Versorgerehe eher einen Zuverdienst darstellt und deren soziale Sicherung im Wesentlichen abgeleitet über den Ehemann erfolgt – im Alter über die Rente des Ehemannes bzw. die Hinterbliebenenversorgung und im Krankheitsfall über die Familienversicherung der GKV. Das Minijob-System trägt entscheidend dazu bei, dass dieses geschlechtshierarchische Erwerbsmodell gefördert und festgeschrieben wird. Als Normgröße für Frauenbeschäftigung kulturell

Arbeitsverhältnisse

409

verfestigt, wird verhindert, dass das Arbeitsangebot ausgeweitet und der eigenständige Alterssicherungsanspruch über ein höheres Stundenvolumen und ein höheres Einkommen verbessert wird. Prekär ist dieses Beschäftigungssegment vor allem deswegen, weil es sich bei den Minijobs überwiegend um eine Niedriglohnbeschäftigung handelt. Denn nicht nur die auf 450 Euro begrenzten Monatseinkünfte sind gering. Auch die realisierten Stundenentgelte liegen weit überwiegend unterhalb der Niedriglohnschwelle. Wie empirische Befunde zeigen, stellen Minijobs knapp die Hälfte aller Niedriglohnbeschäftigten in Deutschland (vgl. Kapitel „Einkommen“, Pkt. 2.3.3). Bei einer geringfügigen Nebenbeschäftigung ist zu bedenken, dass sie je nach der Gesamtlage auf dem Arbeitsmarkt negative Folgewirkungen haben kann. Da der Nebenjob im Unterschied zu einem steuer- und beitragspflichtigen Mehrverdienst beim Hauptarbeitgeber keinerlei Abzüge aufweist, lohnt es sich, solch eine Beschäftigung aufzunehmen. Der Anreiz, die Arbeitszeit über eine zusätzliche Tätigkeit zu verlängern, kann bei einem Fachkräftebedarf den Arbeitsmarkt entspannen, bei Arbeitslosigkeit aber auch dazu führen, dass Neueinstellungen verhindert werden. Minijobs sind für die Arbeitgeber vor allem kostengünstige Beschäftigungsverhältnisse. Zwar liegen die Arbeitgeberbeiträge höher als bei versicherungspflichtigen Beschäftigten, aber die Stundenlöhne sind zum einen niedrig und zum anderen werden kostenträchtige Arbeitnehmerrechte im großen Maße umgangen. In der Praxis gehen nicht nur viele Arbeitgeber, sondern auch die betroffenen Beschäftigten selber von der Annahme aus, dass der besondere sozialversicherungsrechtliche Status der geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse gleichbedeutend ist mit fehlenden arbeits- und tarifrechtlichen Ansprüchen. Empirische Befunde belegen, dass vielfach der Bruttostundenlohn abgesenkt wird, um gegenüber steuer- und beitragspflichtigen Beschäftigten den gleichen Nettostundenlohn zu erreichen und dass tarifliche Ansprüche (Grundlohn, Zuschläge, Weihnachtsgeld usw.) – soweit überhaupt vorhanden – unterlaufen werden. Hinzu kommt, dass geringfügig Beschäftigten sehr häufig zentrale Arbeitnehmerrechte von den Betrieben vorenthalten werden (wie Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall, die Feiertagsvergütung, bezahlter Erholungsurlaub, Kündigungsschutz in Eltern- und Pflegezeit), entweder weil Unkenntnis über die tatsächlichen Ansprüche besteht oder weil die prekäre Lage der Beschäftigten ausgenutzt wird. 3.4

Befristete Beschäftigung

Über 3 Mio. Menschen hatten im Jahresdurchschnitt 2018 einen befristeten Arbeitsvertrag. Der Anteil der befristeten Beschäftigungsverhältnisse an allen Beschäftigungsverhältnissen erreicht rund 13 %. Ein Massenphänomen ist die Befristung in Deutschland damit insgesamt nicht. Ein anderes Bild ergibt sich jedoch, wenn die Befristungsanteile von neu geschlossenen Arbeitsverhältnissen betrachtet werden. Denn

410

Arbeit und Arbeitsmarkt

etwa die Hälfte aller Neueinstellungen wird nur auf Zeit geschlossen. Besonders weit verbreitet sind befristete Neueinstellungen im öffentlichen Dienst und hier insbesondere in der Wissenschaft, wo sie quasi die Regel darstellen. Dabei kann es auch zu aufeinander folgenden Befristungen kommen (Kettenbefristungen). Auch wenn viele der Berufseinsteiger im Anschluss einen unbefristeten Vertrag erhalten, so kommt es doch durch die Befristung am Arbeitsbeginn faktisch zu einer (womöglich mehrfachen) Verlängerung der Probezeit. Eine Differenzierung nach Altersgruppen zeigt, dass traditionell der Anteil der befristeten Arbeitsverhältnisse bei jüngeren Altersgruppen am höchsten und bei älteren Altersgruppen wesentlich niedriger ist. Arbeitsverträge werden normalerweise auf unbestimmte Zeit abgeschlossen. In bestimmten Fällen werden jedoch auch Verträge befristet, wenn von vornherein feststeht, dass das Arbeitsverhältnis wegen eines Sachgrundes von begrenzter Dauer ist, wie bei Semesterjobs von Studierenden, bei Saisonarbeitsverhältnissen oder bei Schwangerschafts- bzw. Elternzeitvertretungen. Es gibt aber auch die Möglichkeit zu sachgrundloser Befristung eines Arbeitsverhältnisses. Bei einem befristeten Arbeitsvertrag endet das Arbeitsverhältnis durch Ablauf, ohne dass es gekündigt zu werden braucht. Demgegenüber ist ein unbefristetes Arbeitsverhältnis auf unbestimmte Zeit abgeschlossen und mit einem gewissen Bestandsschutz versehen, der insbesondere durch Kündigungsfristen, durch den Nachweis sozial gerechtfertigter Kündigungsgründe und durch Abfindungen bei Massenentlassungen (Sozialplan) geprägt ist. Ungleich wirksamer als die Beschränkung der Kündigungsgründe durch das Kündigungsschutzgesetz ist der besondere Kündigungsschutz für Schwerbehinderte, für Frauen im Mutterschutz, für Eltern in der Elternzeit, für pflegende Angehörige in der Pflegezeit sowie für Betriebsräte. Das gilt für befristet Beschäftigte nicht. Durch die Befristung von Arbeitsverträgen entfällt die bei einer Kündigung erforderliche Anhörung bzw. Zustimmung des Betriebsrats, auch haben die tariflichen Schutzbestimmungen keine Wirkung. Endet das Arbeitsverhältnis, so kommt es zudem zu einem Ausschluss von allen Sozialleistungen, die auf die Dauer der Betriebszugehörigkeit abstellen (wie z. B. Betriebsrenten, Prämien, Weihnachtsgeld). Um die mit der Befristung verbundenen sozialen Risiken für die Arbeitnehmer:innen zu begrenzen und möglichen Missbrauch einzudämmen, war nach dem Teilzeit- und Befristungsgesetz von 2001 die Befristung eines Arbeitsvertrags grundsätzlich nur dann zulässig, wenn für die Befristung ein sachlicher Grund vorliegt. Seit der Durchsetzung der Hartz-Gesetze ist aber auch eine Befristung ohne Sachgrund bis zu einer Dauer von zwei Jahren möglich. Erleichterte Bedingungen gelten für Existenzgründer, die befristete Arbeitsverträge mit einer Dauer und mehrfacher Verlängerung bis zu vier Jahren abschließen können. Besondere Regelungen gelten für wissenschaftliches und künstlerisches Personal. Die Zielvorstellungen von befristeten Arbeitsverhältnissen weichen je nach Perspektive zwischen Arbeitnehmer:innen sowie Arbeitgebern stark voneinander ab. Aus der Sicht der Beschäftigten stellen Ausbildung oder Alternativlosigkeit die haupt-

Arbeitsverhältnisse

411

sächlichen Befristungsgründe dar. Auch die Hoffnung auf eine Festanstellung ist unter befristet Beschäftigten weit verbreitet. Für Arbeitgeber hingegen erweisen sich die Anpassungsfähigkeit des Arbeitsvolumens (Flexibilität) und die Erprobung neuer Mitarbeiter:innen als vorteilhaft. Das Vorhalten von internen Personalreserven lässt sich reduzieren, die Stammbelegschaft kann schrumpfen. Bei Absatz- und Produktionsrückgängen wie bei entsprechenden Steigerungen lässt sich eine problemlose, kostengünstige und vor allem lautlose Personalanpassung praktizieren. Der Kündigungsschutz wird umgangen, Entlassungskosten werden vermieden. Die Atypik von befristeten Arbeitsverträgen besteht hauptsächlich darin, dass der Bestandsschutz aufgehoben wird und für die Betroffenen eine unsichere Beschäftigungs- und Planungsperspektive entsteht. Diese Unsicherheit gerade beim Berufseinstieg hat Folgen für die Lebensplanung von Menschen im jüngeren Alter. Untersuchungen zeigen, dass unsichere und befristete Beschäftigungsverhältnisse die Entscheidung für ein Leben mit Kindern negativ beeinflussen können: Familiengründung und Geburten werden aufgeschoben oder ganz aufgegeben. Durch den Kontakt zu Arbeitgebern sowie durch die Möglichkeit, Berufserfahrung zu sammeln, können sich die Arbeitsmarktchancen andererseits aber auch verbessern. Für die Bewertung von befristeter Beschäftigung kommt es deshalb darauf an, in welchem Ausmaß es zu lückenlosen Übernahmen in weitere (ggf. auch befristete) Beschäftigungsverhältnisse kommt, Arbeitslosigkeit oder unterbrochene Erwerbsbiografien entstehen oder im gesamten Erwerbsverlauf Rückwirkungen vorangegangener Befristungen zu konstatieren sind. Statistische Angaben über die Übernahmen, Verlängerungen oder Abgänge aus befristeter Beschäftigung liegen nur in sehr begrenztem Umfang vor. Weil das Arbeitsverhältnis automatisch endet und kein Kündigungsschutz besteht, ist das Arbeitslosigkeitsrisiko von befristet Beschäftigten zunächst höher als das der unbefristet eingestellten Arbeitnehmer:innen. Dabei sind kurzfristige Unterbrechungen sowohl für die aktuelle Lebenslage als auch die perspektivische (Alters-) Versorgung einfacher zu überbrücken, als längere oder sich wiederholende Phasen der Arbeitslosigkeit. Analysen von Übergangsprozessen der sowohl unbefristet als auch befristet angestellten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zeigen, dass die Befristung von Berufsanfänger:innen in vielen Fällen eine Zwischenstation darstellt. Die Sprungbretteffekte variieren je nach Personengruppen: Akademiker:innen und Berufsanfänger:innen mit abgeschlossener Berufsausbildung haben bessere Chancen auf eine Festanstellung als Beschäftigte ohne eine berufliche Qualifikation. 3.5

Leiharbeit

Im Jahresdurchschnitt 2018 waren bundesweit gut eine Millionen Personen als Leiharbeitnehmer:innen beschäftigt. Damit hat sich die Zahl der in der Leiharbeit Beschäftigten seit Mitte der 1990er Jahre mehr als verfünffacht (vgl. Abbildung V.11).

412

Arbeit und Arbeitsmarkt

Abbildung V.11 Überlassene Leiharbeitnehmer:innen 1994 – 2018, absolut und in % der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten

2,9

3,0

3,0

3,0

3,0

2,9

3,0

1.023.290

3,1 2,9

2,9

2,5

399.789

327.331

357.264

326.295

286.394

252.895

177.935

176.185

212.664

0,6

0,6

138.451

0,8

0,8

200.000

0

0,9

0,9 0,8

339.022

400.000

1,2 1,2

961.162

912.519

806.123

453.389

1,3

598.284

1,5

600.000

794.363

1,7

609.720

731.152

800.000

867.535

2,2

909.545

2,3

908.113

in % der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten (rechte Achse)

1.043.405

1.000.000

1.006.404

2,7

2,0

1,5

1,0

0,5

Überlassene Leiharbeitnehmer (linke Achse)

1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018

0,0

Quelle: Bundesagentur für Arbeit (2018), Arbeitsmarkt in Zahlen, Arbeitnehmerüberlassung, Zeitreihe und eigene Berechnungen

Auffällig sind der steile Anstieg in den Jahren seit 2003 sowie der Einbruch im Jahr 2009 im Zuge der Finanz- und Wirtschaftskrise. Danach hat ein erneuter Anstieg eingesetzt. Trotz der deutlichen Zunahme in den letzten Jahren ist der Beschäftigungsanteil der Leiharbeiter:innen an allen sozialversicherungspflichtig Beschäftigten aber noch relativ gering: Er liegt im Jahr 2018 bei 2,8 %. Dieser Durchschnittswert verdeckt allerdings die großen Unterschiede zwischen den Branchen. Vor allem im Bereich des verarbeitenden Gewerbes (z. B. Automobilindustrie) ist die Leiharbeit ausgeprägt. Zugleich ist zu berücksichtigen, dass die Dynamik und Fluktuation in der Leiharbeit größer ist als in der Gesamtwirtschaft. Sehr viel mehr Leiharbeitnehmer:innen stehen im Verlauf eines Jahres bei einem oder mehreren Verleiher/n unter Vertrag als dies die Stichtagszahlen der Statistik vermuten lassen. Beschäftigungsverhältnisse in der Leiharbeit sind dadurch gekennzeichnet, dass ein Arbeitgeber (Verleiher) eine/n Beschäftigte/n (Leiharbeitnehmer:in) einem Dritten (Entleiher) zur Arbeitsleistung überlässt. In dieser Dreieckskonstellation ist die Leiharbeitsfirma als Verleiher de jure Arbeitgeber, während die Arbeitsleistung de facto jedoch beim Kundenunternehmen, also der entleihenden Firma, erbracht wird. Leiharbeit unterliegt spezifischen Regulierungen im Arbeitnehmerüberlassungsgesetz, die im Zuge der sog. Hartz-Gesetze wesentlich aufgeweicht worden sind. Seit-

Arbeitsverhältnisse

413

dem gibt es das Befristungs-, Wiedereinstellungs- und Synchronisationsverbot und das Verbot der Arbeitnehmerüberlassung in der Baubranche nicht mehr. Ab 2017 gilt jedoch eine Höchstüberlassungsdauer von 18 Monaten, die per tariflicher Öffnungsklausel auf 24 Monate ausgeweitet werden kann. Die Überlassungshöchstdauer ist arbeitnehmerbezogen und nicht arbeitsplatzbezogen. Einzelne Überlassungszeiten sind zu addieren, wenn zwischen den Zeiten weniger als drei Monate liegen. Die Überlassung von Arbeitnehmer:innen muss im Vertrag ausdrücklich als solche bezeichnet werden. Verleiher und Entleiher begehen eine Ordnungswidrigkeit, wenn sie eine Arbeitnehmerüberlassung nicht offenlegen. Scheinwerkverträge und verdeckte Arbeitnehmerüberlassung sollen so verhindert werden Zwar sollen die Arbeitsbedingungen und das Arbeitsentgelt der Leiharbeitnehmer:innen denen der Stammbelegschaft des Entleihbetriebes entsprechen. Von diesen Grundsätzen des ‚equal pay‘ und ‚equal treatment‘ kann jedoch in den ersten neun Monaten der Überlassung abgewichen werden. Tarifverträge, die eine stufenweise Angleichung der Vergütung regeln, können bis zu 15 Monate vom ‚equal pay‘ befreien. Dies ist durchaus üblich. Die Tarifverträge insbesondere in den Einstiegsleistungsgruppen sehen nach wie vor Stundenlöhne vor, die unterhalb der Niedriglohnschwelle liegen und von den Tariflöhnen der übrigen Beschäftigten abweichen. Dieses Lohngefälle trägt dazu bei, dass die Niedriglohnbetroffenheit von Leiharbeitnehmer:innen besonders hoch ausfällt, der Mindestlohn stellt hier aber eine untere Grenze dar (vgl. Kapitel „Einkommen“, Pkt. 2.3.3). Aus Arbeitgebersicht kann Leiharbeit aus verschiedenen Gründen von Interesse sein: Leiharbeit ermöglicht oftmals die schnelle Überbrückung von kurzfristigen Personalengpässen, z. B. bei unvorhergesehenen Auftragseingängen, krankheits- und urlaubsbedingten Ausfällen oder im Falle saisonaler Spitzen. Sie erlaubt dabei die Verlagerung des Rekrutierungs- und Verwaltungsaufwands auf die Verleihbetriebe. Die eigene Personaldecke kann reduziert werden, ohne dass die betriebliche Reaktionsfähigkeit auf marktbedingte Schwankungen eingeschränkt wird. Leiharbeit vermeidet zudem die aus Arbeitgebersicht nachteiligen Aspekte von dauerhaften regulären Beschäftigungsverhältnissen, denn die Leiharbeitnehmer:innen scheiden nach Ablauf des Vertrages automatisch aus dem Betrieb aus und haben keinerlei Weiterbeschäftigungsansprüche. Leiharbeit macht es schließlich möglich, gezielt bestimmte Aufgaben auszugliedern und nicht von der Stammbelegschaft erledigen zu lassen. Im Schnitt kann es dadurch zu einer finanziellen Entlastung kommen. Zwar können die tatsächlichen Arbeitskosten für die Entleihbetriebe durch die Entleihgebühr über den Lohnkosten des Stammpersonals liegen. Aber gleichzeitig entfällt eine Reihe indirekter Kosten hinsichtlich Verwaltungsaufwand, Einstellungskosten, Kündigungsfristen, Entgeltfortzahlung und Abfindungen. Leiharbeit schafft leichtere Möglichkeiten des (Wieder)Einstiegs in das Erwerbsleben, denn die Zutrittsbarrieren sind bei Leiharbeitsfirmen nicht so hoch wie in anderen Betrieben. Es besteht insofern die Möglichkeit, von der Leiharbeit in ein dauerhaftes Beschäftigungsverhältnis bei einem Entleihbetrieb zu wechseln. Man spricht

414

Arbeit und Arbeitsmarkt

hierbei vom sog. „Klebeeffekt“. Auch wenn es theoretisch überzeugend ist, dass sich die Beschäftigungschancen durch die Berufserfahrung und den Kontakt zu Arbeitgebern steigern lassen, zeigen die vorliegenden empirischen Befunde, dass die Übergangseffekte in reguläre Beschäftigung recht gering sind. Im Ergebnis ist Leiharbeit für die Beschäftigten mit mehrfachen sozialen Problemen und Risiken verbunden: Sie sind jeweils kurzfristig in Betrieben tätig, zu denen sie nicht „gehören“. Sie werden nach anderen und niedrigeren Tarifen bezahlt, und die Betriebsräte sind nicht oder nur sehr begrenzt für sie zuständig. Der Einsatz von Leiharbeitnehmer:innen wirkt zugleich negativ zurück auf die Stammbeschäftigten des Betriebes: Da der Personalumschlag in den Entleiherbetrieben selbst sehr hoch ist, kommt zu den Risiken, denen die Verleihkräfte in den Einsatzbetrieben ausgesetzt sind, noch die erhebliche Instabilität des Leiharbeitsverhältnisses selbst hinzu. Durch die geringere Entlohnung, hohe Fluktuation und häufige Befristung besteht für viele Leiharbeitnehmer:innen schließlich die Gefahr einer prekären sozialen Absicherung, da beim Bezug von Leistungen der Sozialversicherung die Höhe und die Bezugsdauer des Erwerbseinkommens zentral sind. 3.6

Werkvertragsbeschäftigung

Die empirischen Informationen über Ausmaß, Verbreitung sowie Art und Weise von Beschäftigung im Rahmen von Werkverträgen sind äußerst begrenzt: Werkvertragsbeschäftigung ist weder meldepflichtig noch weichen die Arbeitsverhältnisse der Betroffenen von den sozial- und arbeitsrechtlichen Regelungen ab. Insofern gibt es – etwa im Unterschied zur geringfügigen Beschäftigung oder zur Leiharbeit – keine Prozessstatistik bzw. amtliche Statistik. Insbesondere kann nicht zwischen „normalen“ Werkverträgen, wie sie in einer arbeitsteiligen Wirtschaft schon immer üblich waren (Renovierung von Büroräumen durch einen Malerbetrieb; Errichtung einer neuen Produktionshalle durch eine Bauunternehmung; Beauftragung einer Agentur zur Erstellung eines Werbekonzeptes usw.), oder neueren Trends, wie dauerhaften onsite-Werkverträgen im Kern der Leistungserstellung, Bauprojekten mit einer Kette von Subunternehmen, dem Einsatz von selbstständigen Fleischzerlegern in Schlachtbetrieben oder der Übertragung der Aufgabe der Regalauffüllung in Lebensmittelsupermärkten auf Logistik-Betriebe mit ihren Beschäftigten, unterschieden werden. Bei Werkverträgen handelt es sich um einen Vertrag zwischen Auftraggeber (Werkbesteller) und Auftragnehmer (Werkunternehmer), der die Werkunternehmer verpflichtet, ein bestimmtes Arbeitsergebnis, d. h. ein Produkt oder eine Dienstleistung, in einer bestimmten Zeit zu einem vereinbarten Preis zu erstellen. Der Werkunternehmer setzt dafür eigenes Personal ein und entscheidet selbst, auf welche Weise und mit welchen Mitteln die Erstellung erfolgt. Der Personaleinsatz begrenzt sich also nicht auf die Zurverfügungstellung von Arbeitskräften bzw. Arbeitsstunden, sondern muss eigenverantwortlich gesteuert werden. Weisungsrecht hat allein der

Arbeitsverhältnisse

415

bzw. die Werkunternehmer. Insofern unterscheiden sich Beschäftige über Werkverträge grundlegend von Leiharbeitnehmer:innen. Werkunternehmer tragen das Unternehmerrisiko, d. h. sie haften, wenn das vertraglich vereinbarte Ergebnis – aus welchen Gründen auch immer – nicht erreicht wird. Die Ansprüche der Beschäftigten hinsichtlich Entlohnung, Arbeitszeit, Urlaub, Mitbestimmung usw. richten sich nach den Bedingungen des Werkunternehmens. Es gilt – soweit vorhanden – der Tarifvertrag, der das Werkunternehmen erfasst. Der Betriebsrat der Werkbesteller ist nicht für die Beschäftigten des Werkunternehmens zuständig. Werkverträge können nicht nur zwischen Firmen geschlossen werden, sondern auch zwischen Unternehmen und Solo-Selbstständigen, also solchen Selbstständigen, die kein weiteres Personal beschäftigen. Auch hier ist die Ergebnisorientierung entscheidend. Die Solo-Selbstständigen verfügen über Dispositionsfreiheit hinsichtlich der Erstellung des Werkes. Wenn hingegen Werkbesteller den Prozess der Leistungserstellung im Einzelnen steuern und auf die Arbeitsleistung der Selbstständigen unmittelbar Einfluss nehmen, handelt es sich nicht mehr um einen Werkvertrag, sondern um ein scheinselbstständiges Arbeitsverhältnis. Die große Variationsbreite von Werkverträgen lässt es nicht zu, pauschale Aussagen über die Beschäftigungsbedingungen von Werkvertragsbeschäftigten zu treffen. Arbeitnehmer:innen, die für eine Fremdfirma arbeiten, sind nicht per se schlechter gestellt als die Arbeitnehmer:innen des Werkbestellers. Auch gibt es bei den über Werkvertrag tätigen Solo-Selbstständigen durchaus gut bis hoch bezahlte Expert:innen. Gleichwohl zeigt sich anhand der vorliegenden empirischen Befunde und Fallstudien, dass gerade die neuen Formen des Einsatzes von Werkverträgen und von Werkvertragsbeschäftigung von Kostenkalkülen bestimmt werden: Die Werkvertragsbeschäftigten weisen schlechtere Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen auf; sie erhalten im Vergleich zur Stammbelegschaft einen in der Regel geringeren Stundenlohn und müssen länger arbeiten. Dahinter steht, dass es für die meisten Werkvertragsbeschäftigten bzw. für deren Firmen keinen Tarifvertrag gibt oder dass der Tarifvertrag ungünstiger ausfällt (z. B. Verdi Tarifvertrag Logistik statt IG-Metall-Tarifvertrag Stahl). Ebenfalls zur Kostensenkung trägt bei, dass die Aufwendungen für betriebliche Sozialleistungen (z. B. Alterssicherung, Weiterbildungskosten) und auch für die Personalverwaltung entfallen. Und nicht zu übersehen sind die Rückwirkungen auf die Stammbeschäftigten: Sie können mit dem Hinweis auf den drohenden Arbeitsplatzabbau unter Druck gesetzt werden, ohne dass den Betriebsräten Mitbestimmungsrechte zustehen. Zu beobachten ist, dass wegen der zunehmenden Regulierungsdichte der Leiharbeit Betriebe dazu übergehen, die Werkvertragsbeschäftigung als Alternative einzusetzen.

416

3.7

Arbeit und Arbeitsmarkt

Selbstständigkeit

In einer Analyse von atypischen Beschäftigungsverhältnissen hat selbstständige Arbeit streng genommen keinen Platz. Denn selbstständige Arbeit beruht nicht auf einem Beschäftigungsverhältnis, also auf einem Vertrag zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer:in, und unterliegt dementsprechend auch nicht den Regelungen des Arbeits- und Tarifrechts. Selbstständig ist, wer auf seinen eigenen Namen und auf eigene Rechnung erwerbswirtschaftlich tätig ist, seine Tätigkeit im Wesentlichen frei gestalten sowie seine Arbeitszeit und seinen Arbeitsort frei bestimmen kann. Arten und Formen der Selbstständigkeit weisen eine außerordentlich breite Spannweite auf. Zu unterscheiden ist zwischen • • • • •

Inhabern von Einzelunternehmen, Gewerbetreibenden, (Mit)Inhabern von Personenunternehmen (OHG, KG usw.), Landwirten, Handwerkern (geregelt in der Handwerksordnung), kammerfähigen freien Berufe wie Ärzt:innen, Rechtsanwält:innen, Notar:innen, Architekt:innen, • anderen Freiberuflern wie Künstler:innen, Schriftsteller:innen, Erzieher:innen, Physiotherapeut:innen, Hebammen. Selbstständige können als Solo-Selbstständige arbeiten, also kein weiteres Personal beschäftigten, oder aber als Arbeitgeber mit Personal zusammenarbeiten. In Deutschland wurden (2017) rund 4,4 Mio. selbstständige Erwerbstätige gezählt, dies entspricht einem Anteil von 10,5 % an allen Erwerbstätigen. Zu mehr als die Hälfte (53 %) handelte es sich dabei um Solo-Selbstständige. Seit 2012 geht indes die Zahl der Solo-Selbstständigen und auch der Selbstständigen insgesamt leicht zurück. Es lässt sich nicht absehen, ob es sich dabei um eine Trendumkehr handelt oder lediglich um eine Zwischen- bzw. Stabilisierungsphase. Augenfällig ist jedoch, dass gegenläufig die Zahl der Arbeitslosen deutlich abgenommen und die Zahl der versicherungspflichtig Beschäftigten zugenommen hat. Daraus lässt sich schließen, dass unter den Bedingungen einer besseren Arbeitsmarktlage die Bereitschaft, eine Existenzgründung zu wagen, nachgelassen hat und die Attraktivität einer Selbstständigkeit gesunken ist. Auch ist die Förderung der Selbstständigkeit durch Maßnahmen der Arbeitsmarktpolitik drastisch zurückgefahren worden (vgl. Pkt. 8.3.5 dieses Kapitels). Abzuwarten ist, in welcher Form und in welchem Maße es im Zuge der Digitalisierung der Ökonomie zu neuen Formen von Solo-Selbstständigkeit kommt, die mit den Stichworten „crowd-sourcing“, „click-working“ und „Plattform-Ökonomie“ umschrieben werden können. Stark vertreten sind Solo-Selbstständige aktuell im Bausektor, im Grundstückswesen, im Handel und Gastgewerbe und bei den privaten Dienstleistungen. Im Sek-

Arbeitsverhältnisse

417

tor der privaten Dienstleistungen finden sich insbesondere die sog. Kultur- und Kreativberufe sowie Lehrer/Dozierende und Berufe im Bereich von Gesundheit, Pflege und Wellness. Das Qualifikationsniveau der Solo-Selbstständigen ist hoch. Über die Bedingungen, unter denen Solo-Selbstständige arbeiten, liegen indes nur wenig empirisch abgesicherte Informationen vor. Ganz allgemein zeigen die Befunde eine große Heterogenität. Verallgemeinerungen in Bezug auf „die“ neuen Selbstständigen verbieten sich. Von der Selbstständigkeit ist die Scheinselbstständigkeit zu unterscheiden. Scheinselbstständige haben zwar formalrechtlich keinen Arbeitnehmerstatus, sind aber faktisch von einem Arbeitgeber bzw. Unternehmen abhängig. Scheinselbstständige sind im juristischen Sinne abhängig Beschäftigte, die ihre selbstständige Tätigkeit nur zum Schein ausüben, um sozial und arbeitsrechtliche Schutzregelungen und die entsprechenden Beitragsbelastungen zu umgehen. Sie gelten arbeitsrechtlich als Arbeitnehmer:in der Auftraggeber, unterliegen den Schutzvorschriften des Arbeitsrechts und sind grundsätzlich in allen Zweigen der Sozialversicherung versicherungs- und beitragspflichtig. (vgl. Kapitel „Einkommen“, Pkt. 5.1). Die besondere Betonung der Risiken von Scheinselbstständigkeit darf jedoch nicht verdecken, dass es auch im Bereich der echten Selbstständigen Probleme im Hinblick auf die Arbeits- und Einkommensbedingungen sowie die soziale Absicherung gibt. Dies gilt insbesondere für viele kleine und Kleinstselbstständige im Dienstleistungsbereich. Zu denken ist beispielsweise an Kioske oder Imbissstände, Änderungsschneidereien, Boutiquen oder Reparaturwerkstätten. Überlange Arbeitszeiten, relativ geringe Einkommen und eine mangelhafte soziale Absicherung sind für viele Betroffenen in diesem Bereich die Regel. Anders als bei den abhängig Beschäftigten bestehen für Selbstständige keine Mindest- oder Schutzstandards, die sie vor übermäßigen Arbeitsanforderungen und (Selbst)Ausbeutung schützen oder sie zu angemessener sozialer Sicherung verpflichten. Die Ausklammerung der Solo-Selbstständigen aus dem Arbeitsrecht und Gesundheitsschutz entfacht Anreize, aus Kostengründen selbstständige Beschäftigungsformen zu kreieren, bei denen es keine Ansprüche auf Entgeltfortzahlung, Urlaub, Mindestlohn, Kündigungsschutz, Arbeitszeitregelungen usw. gibt. Ob es sich hierbei um eine tatsächliche Selbstständigkeit handelt, um eine arbeitnehmerähnliche Selbstständigkeit oder um eine Scheinselbstständigkeit, muss dabei im Einzelfall und mit rechtlichen Mühen festgestellt werden.

418

Arbeit und Arbeitsmarkt

4

Arbeitsmärkte: Dynamik, Segmentierung und Trends

4.1

Arbeitsmärkte in Bewegung

Bei der vorstehenden Darstellung von Niveau, Struktur und Entwicklung von Erwerbstätigkeit und atypischen Arbeitsvertragsformen ist auf Bestandsgrößen Bezug genommen worden. Beziffert werden die jahresdurchschnittlichen Zahlen der Beschäftigten insgesamt oder von bestimmten Beschäftigungsgruppen und -formen. Diese statische Betrachtung darf jedoch nicht den Blick davor verstellen, dass Bestandgrößen immer das Ergebnis von Bewegungen auf dem Arbeitsmarkt sind. Typisch sind Zu- und Abgänge auf dem Arbeitsmarkt generell und in den Betrieben speziell. Selbst eine Konstanz der Bestandszahlen heißt nicht, dass immer dieselben Personen erfasst sind. Der Arbeitsmarkt ist vielmehr ein dynamischer Umschlagplatz, auf dem fortwährend quantitative und qualitative Anpassungsprozesse zwischen Angebot und Nachfrage stattfinden. So ist im Jahr 2018 rund ein Drittel der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisse wegen Berufs-, Betriebs- oder Arbeitgeberwechsel abgeschlossen bzw. beendet worden: Rund 11 Mio. begonnenen Beschäftigungsverhältnissen stehen gut 10,3 beendete Beschäftigungsverhältnisse gegenüber. Große Veränderungen im Zeitverlauf lassen sich nicht feststellen. Die Fluktuationsrate bewegt sich seit Jahren in der Spanne zwischen 30 und 32 %. Wie zu erwarten, zeigen sich aber zwischen den Wirtschaftszweigen und Beschäftigtengruppen erhebliche Unterschiede. Die Extreme werden einerseits durch die Arbeitnehmerüberlassung markiert, die durch einen sehr starken Personalaustausch charakterisiert ist, und durch den öffentlichen Dienst andererseits mit recht geringen Ein-und Ausstiegen in und aus Beschäftigung. Die Kenntnis über die Dynamik von Beschäftigung ist gerade aus sozial- und arbeitsmarktpolitischer Sicht wichtig, um Probleme und Risiken einordnen und bewerten zu können. So stellt sich beispielsweise die Frage, ob es sich bei der Leiharbeit, bei der Befristung, bei der Teilzeitarbeit und bei der geringfügigen Beschäftigung um dauerhafte Arbeitsverhältnisse handelt, die den gesamten Erwerbs- und Lebensverlauf prägen, oder um eher kurzfristige Übergangs- bzw. Zwischenphasen in Richtung Einstieg in oder Ausstieg aus regulärer Beschäftigung. 4.1.1 Auf- und Abbau von Arbeitsstellen und Beschäftigungsverhältnissen

Die Dynamik auf dem Arbeitsmarkt ist eine unmittelbare Folge der Dynamik des Wirtschaftssystems. Ständig entstehen neue Arbeitsplätze und entfallen alte Arbeitsplätze. Das Ausmaß dieses Umschlags hängt maßgeblich ab von den Rahmenbedingungen der Gesamtwirtschaft (Rezession oder Konjunktur), von der Situation der jeweiligen Branchen (so schrumpfende oder wachsende, saisonabhängige oder saisonunabhängige Branchen) sowie von den Spezifika einzelner Regionen. Entscheidend sind aber auch betriebliche Faktoren. Hier ist die Liste lang. Zu nennen sind u. a.

Arbeitsmärkte: Dynamik, Segmentierung und Trends

419

Auftragseingänge, Kundenfrequenz, Absatzschwankungen, Betriebsverlagerungen oder -schließungen, Insolvenzen, Aufgabe oder Aufbau von Produktionslinien und Dienstleistungsangeboten. Und nicht zuletzt hängt der Stellenumschlag in Quantität und Qualität ab von der technologischen Entwicklung, von neuen Produkten und Produktionsverfahren und den damit verbundenen qualifikatorischen Anforderungen. Die Betriebe entscheiden frei, nach ihren Anforderungen und Kriterien, über die Personenauswahl bei Stellenbesetzungen. Je langfristiger die Personalpolitik orientiert ist, je anspruchsvoller die Tätigkeit und das Anforderungsprofil sind, umso aufwendiger ist das Auswahlverfahren. Allerdings müssen die Betriebe gesetzliche Vorschriften beachten. Nach dem allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) sind Diskriminierungen, so Stellenausschreibung nach Geschlecht, Alter oder ethnischer Herkunft unzulässig. Und das Sozialgesetzbuch IX verpflichtet Unternehmen mit mehr als 20 Arbeitsplätzen, einen vorgeschriebenen Anteil schwerbehinderter Arbeitnehmer:innen zu beschäftigen. Erfolgt dies nicht, muss eine Ausgleichsabgabe gezahlt werden (vgl. Kapitel „Arbeit und Gesundheit“, Pkt. 2.2.3). Beim Aufbau neuer Arbeitsstellen erfolgt die Stellenbesetzung zum einen durch den Rückgriff auf den Arbeitsmarkt, so durch Einstellung von • jungen Menschen nach dem Abschluss ihrer Ausbildung, • Personen, die ihren bisherigen Arbeitgeber wechseln, • Wiedereinsteiger:innen nach Beendigung der Familienphase, • Migranten:innen oder • Arbeitslosen. Gerade für Großunternehmen ist es typisch, dass es auch innerbetrieblich zu personalpolitischen Anpassungen und Umsetzungen in Richtung beruflicher Aufstiege kommt. Auch hat hier die Übernahme der eigenen Auszubildenden eine große Bedeutung. Insgesamt ist es schwierig zu beurteilen, ob es sich bei der Stellenbesetzung jeweils um „neue“ oder „veränderte“ oder um nicht besetzte Arbeitsstellen handelt. Wie ist es einzuordnen, wenn ein Konzern hundert Stellen in einem Produktionsbereich und -standort streicht und gleichzeitig neue Stellen in einem anderen Bereich und Standort schafft ? Personalpolitischer Handlungsbedarf besteht für die Betriebe darüber hinaus auch dann, wenn bestehende Stellen infolge arbeitnehmerseitiger Kündigungen oder von Übergängen in den Ruhestand Vakanzen aufweisen. Steht wegen der o. g. genannten gesamtwirtschaftlichen und/oder betrieblichen Gründe ein Stellenabbau an, können arbeitgeberseitige Kündigungen bis hin zu Massenentlassungen ausgesprochen werden. Dabei sind allerdings die Regelungen des Kündigungsschutzes einschließlich der erforderlichen Auswahlverfahren zu berücksichtigen, die in der Regel mit nicht unerheblichen Kosten (z. B. Abfindungen) verbunden sind. Bei befristetet Beschäftigten greift der Kündigungsschutz nicht, die

420

Arbeit und Arbeitsmarkt

Arbeitsverträge laufen auch ohne Kündigung aus. Und auch der Einsatz von Leiharbeitnehmer:innen erlaubt flexible Reaktionen, da diese bei der Verleihfirma beschäftigt sind. Allerdings sind auch andere, interne Wege der Anpassung möglich und üblich. Vakante Stellen werden nicht wiederbesetzt oder über Frühausgliederungen und Altersteilzeitprogramme werden Stellen „frei“ gemacht. Oder aber es wird über die Einführung von Kurzarbeit und temporären Arbeitszeitverkürzungen im Rahmen von Arbeitszeitkonten (vgl. Pkt. 8.3.6 dieses Kapitels) dafür gesorgt, dass wirtschaftlich schwierige Phasen überbrückt werden. Trotz rückläufiger Kapazitätsauslastung kann die Zahl der Beschäftigten unverändert bleiben. Denn auch die Betriebe, allerdings abhängig von Branche und Größenordnung, haben ein Interesse daran, Beschäftigungskontinuität zu sichern und Fachkräfte zu halten. Dies betrifft vor allem jene Beschäftigte, die nicht leicht ersetzbar sind, deren Wiedergewinnung schwierig und kostenträchtig ist und für die der Betrieb (Humankapital)Investitionen getätigt hat. Über diesen Weg konnte in Deutschland die weltweite Finanzkrise in den Jahren 2008 und 2009 auch ohne tiefe Beschäftigungseinbrüche bewältigt werden. Betriebliche Bündnisse zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften und Betriebsräten, unterstützt durch die staatliche Sozial- und Arbeitsmarktpolitik, haben dafür den Weg geebnet. 4.1.2 Beschäftigungskontinuität und Erwerbsverläufe

Wechselt man den Blickwinkel und betrachtet die Bewegungen auf dem Arbeitsmarkt aus der Sicht der Beschäftigten, stellt sich die Frage, welchen Grad an Kontinuität die Erwerbsverläufe haben. Unstrittig ist, dass die Muster von Normalarbeitsverhältnis und Normalbiografie, wonach im Anschluss an eine betriebliche Berufsausbildung eine kontinuierliche Vollzeittätigkeit bei ein und demselben Arbeitgeber bis hin zum Rentenbeginn ausgeübt wird, keinesfalls allgemeingültig sind und es in der Vergangenheit auch nicht waren. Auf der anderen Seite hat sich in Deutschland auch kein sog. „Turbo-Arbeitsmarkt“ entwickelt, der durch das Prinzip von „hire and fire“ geprägt ist. Vielmehr gestalten sich die Erwerbsverläufe unterschiedlich; die Abfolgen von Einstiegen in Beschäftigung, Ausstiegen aus Beschäftigung und Wiedereinstiegen in Beschäftigung, von Kontinuitäten und Unterbrechungen also, sind im hohen Maße abhängig vom Lebensalter, von der schulischen und beruflichen Qualifikation, von der Branche, der Arbeitsvertragsform und vor allem vom Geschlecht. Die sog. Normalbiografie war und ist die Biografie – eines kleiner werdenden Teils – der Männer. Zu unterscheiden ist bei der Mobilität im Erwerbsverlauf zwischen • •

einer freiwilligen und unfreiwilligen Mobilität, einem Wechsel zu einem anderen Arbeitgeber und einem Wechsel innerhalb des Betriebes bzw. Unternehmens,

Arbeitsmärkte: Dynamik, Segmentierung und Trends

421



einer Beibehaltung der bisherigen und der Vereinbarung einer neuen Arbeitsvertragsform • einer Weiterführung des bisherigen Berufes und einem Wechsel von Beruf und Tätigkeit.

Eine unfreiwillige Beschäftigungsaufgabe kann die Folge einer arbeitgeberseitigen Kündigung sein, eines ausgelaufenen befristeten Arbeitsvertrages oder der Nichtübernahme nach einer betrieblichen Ausbildung. Wird kein neuer Arbeitgeber gefunden, droht Arbeitslosigkeit. Wenn ein Wiedereinstieg erfolgt, bleibt offen zu welchen Konditionen dies gelingt – hinsichtlich der Entlohnung, des Tätigkeits- und Qualifikationsprofils, der Arbeitsbedingungen, der Arbeitsvertragsform, der räumlichen Erreichbarkeit, der Arbeitszeiten und der Stabilität der neuen Beschäftigung. Vergleichbare Fragen beim Berufseinstieg stellen sich für jene Beschäftigten, die nach Deutschland einwandern oder die nach einer Phase einer längeren familienbedingten Erwerbsunterbrechung wieder erwerbstätig sein möchten. Die empirischen Befunde über die Betroffenheit von Arbeitslosigkeit zeigen, dass vor allem gering Qualifizierte, jüngere Menschen in der ersten Phase des Erwerbslebens, Arbeitnehmer:innen im höheren Lebensalter und gesundheitlich beeinträchtigte Menschen die höchsten Risiken tragen (vgl. Pkt. 5.4.2 dieses Kapitels). Eine Kündigung seitens des Beschäftigten kann viele Motive haben: Die Suche nach einem neuen beruflichen Umfeld und Arbeitgeber, nach einer attraktiveren und qualifikationsadäquaten Tätigkeit und nach einem höheren Einkommen steht dabei wohl im Mittelpunkt. Zugleich spielt gerade bei Frauen der Wunsch eine große Rolle, während der Kindererziehungsphase nur noch eine Teilzeittätigkeit am Vormittag auszuüben, die der bisherige Arbeitgeber aber nicht anbietet. Auch können gesundheitliche Beeinträchtigungen und Überbelastungen den Ausschlag geben. Indiz dafür sind die Berufe mit nur begrenzten Tätigkeitsdauern, die Pflegeberufe sind dafür ein prägnantes Beispiel (vgl. Kapitel „Pflegebedürftigkeit und Pflege“, Pkt. 7.2). Inwieweit hier bei der Kündigung immer von Freiwilligkeit gesprochen werden kann, müsste ebenso thematisiert werden wie die Frage, ob in all diesen Fällen ohne große Unterbrechung eine neue Arbeitsstelle mit den gewünschten Bedingungen gefunden wird. Das Ausmaß der arbeitnehmerseitigen Mobilität hängt stark von der wirtschaftlichen Gesamtlage und den Verhältnissen auf dem Arbeitsmarkt ab. Unter günstigen ökonomischen Bedingungen wächst die Bereitschaft, aktiv nach einer anderen Stelle und einem anderen Arbeitgeber zu suchen, während in der Rezession die freiwilligen Stellenwechsel und die berufliche Mobilität insgesamt zurückgehen. Dazu trägt auch bei, dass arbeitnehmerseitige Kündigungen, die zur Arbeitslosigkeit führen, in der Regel mit Sperrzeiten beim Arbeitslosengeld sanktioniert werden (vgl. Pkt. 6.2.3 dieses Kapitels). Auch lässt sich feststellen, dass ein Stellenwechsel bei den hochqualifizierten, akademisch ausgebildeten Beschäftigten weitaus stärker zu einem positiven Ergebnis führt als bei den Personen, die ein atypisches Beschäftigungsverhältnis ausüben. Die

422

Arbeit und Arbeitsmarkt

Rede ist von einer „Pfadabhängigkeit“ von Erwerbsbiografien. Ein mit einer atypischen Beschäftigung eingeschlagener und über längere Dauer betretender Weg prägt den gesamten individuellen Erwerbsverlauf. Die Übergänge in eine reguläre Beschäftigung fallen gering aus, der sog. „Einsperreffekt“ ist entsprechend stark. Dies trifft dies vor allem auf die in einem Minijob tätigen Frauen (Ehefrauen, alleinerziehende Mütter) zu. Ein über längere Zeit ausgeübter Minijob erweist sich eindeutig als eine berufsbiografische Sackgasse – verbunden mit den skizzierten Folgen für den Erwerb von Rentenanwartschaften bzw. für die spätere Höhe einer Versichertenrente. Hinzu kommt, dass auch die Beschäftigungssicherheit im Vergleich zu den regulär Beschäftigten gering ist. Überproportional häufig kommt es zu einem Wechsel der Arbeitgeber der Branche, der Tätigkeit und des Arbeitsortes. Naturgemäß fällt die Instabilität vor allem bei den befristet Beschäftigten hoch aus. Aber auch bei der Leiharbeit (die wiederum in der Regel mit einem befristeten Arbeitsvertrag verbunden ist) und bei den Minijobs zeigt sich dieser Befund. Bei diesen beiden Gruppen lässt sich zudem ein hohes Risiko feststellen, nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses arbeitslos zu werden oder in die Nicht-Erwerbstätigkeit einzumünden. 4.2

Teilarbeitsmärkte

Der Arbeitsmarkt ist in sich differenziert und strukturiert. Es ist deshalb zu unterscheiden zwischen einer Betrachtung auf der hochaggregierten, gesamtwirtschaftlichen Ebene und einer tiefergehenden Analyse von einzelnen Teilarbeitsmärkten, dazu zählen: • • • •

regionale Arbeitsmärkte, berufsfachliche Arbeitsmärkte, geschlechtsspezifische Arbeitsmärkte und innerbetriebliche Arbeitsmärkte.

Es gibt einerseits Überschneidungen zwischen diesen Teilarbeitsmärkten, andererseits sind sie häufig stark voneinander abgeschottet („segmentiert“). Gesamtwirtschaftliche Probleme, wie vor allem Arbeitslosigkeit, betreffen die Teilarbeitsmärkte in unterschiedlicher Stärke. Regionale Arbeitsmärkte Der Gesamtarbeitsmarkt Deutschland besteht aus einzelnen regionalen Arbeitsmärkten. Zwischen den einzelnen Regionen ergeben sich – vor allem in Abhängigkeit von der jeweiligen sektoralen Wirtschaftsstruktur – deutliche Unterschiede hinsichtlich des Niveaus und der Struktur von Beschäftigung. Dies gilt in Deutschland z. B. nicht nur für das Verhältnis zwischen Ost und West, sondern auch innerhalb der einzelnen Bundesländer.

Arbeitsmärkte: Dynamik, Segmentierung und Trends

423

Es finden sich zur gleichen Zeit Regionen, deren Arbeitsmarkt von einer anhaltenden Krise betroffen ist und in denen die Arbeitslosigkeit besonders hoch ausfällt, und Regionen, deren Arbeitsmarkt sich günstig entwickelt und in denen ein Zustand der Vollbeschäftigung herrscht. Die regionale Segmentierung ist deshalb relativ stabil, weil die Arbeitsplätze nicht ohne weiteres umgesiedelt werden können und weil die räumliche Mobilität der Arbeitnehmer:innen und ihrer Angehörigen eingeschränkt ist. Berufsspezifische Arbeitsmärkte Berufsspezifische Arbeitsmärkte umfassen typische Qualifikationen bestimmter Branchen und Berufe, die in anderen Branchen oder Berufen nicht nachgefragt werden. Stahlfacharbeiter sind in der Regel nicht mit Laborant:innen, Versicherungskaufleuten oder Arzthelfer:innen austauschbar. Angesichts der teilweise hohen qualifikatorischen Voraussetzungen für die Ausübung eines Berufes ist die Mobilität zwischen den berufsfachlichen Arbeitsmarktsegmenten gering. Allerdings kann eine derart begrenzte Flexibilität aufgrund der großen Berufserfahrung mit hoher Produktivität und Innovationsfähigkeit verbunden sein. Auch berufsspezifische Arbeitsmärkte können in einem hoch unterschiedlichen Maße ausgeglichen bzw. unausgeglichen sein. Anhaltend hohe Arbeitslosigkeitsprobleme von Menschen mit „alten“ Berufen und niedrigen Qualifikationen kontrastiert mit einem ungedeckten Bedarf an bestimmten Fachkräften und einer entsprechend hohen Zahl an offenen Stellen. Beispielhaft für diese Fachkräftelücke stehen Pflegekräfte (Kranken- und Altenpflege), Erzieher:innen, IT-Entwickler:innen und einzelne Berufe des Handwerks. Geschlechtsspezifische Arbeitsmärkte Geschlechtsspezifische Arbeitsmärkte beziehen sich auf Tätigkeiten, die zumindest phasenweise ausschließlich oder weit überwiegend von Männern oder von Frauen ausgeübt werden. Frauentypische Branchen und Arbeitsplätze sind in der Regel hinsichtlich des Einkommens, den Arbeitsbedingungen, den Aufstiegschancen und der Arbeitsplatzsicherheit schlechter ausgestattet als männertypische Branchen und Arbeitsplätze. Innerbetriebliche Arbeitsmärkte Ein Teil des Arbeitsmarktgeschehens findet auf innerbetrieblichen Arbeitsmärkten statt. Dazu gehören nicht nur der innerbetriebliche Aufstieg und die Höhergruppierungen, sondern auch betriebliche Aus- und Weiterbildungen, die einen flexiblen und qualifizierten Einsatz der Arbeitnehmer:innen in den Unternehmen ermöglichen. Ferner zählen Stellenwechsel innerhalb von Unternehmen zum innerbetrieblichen Arbeitsmarktgeschehen. Innerbetriebliche Arbeitsmärkte finden sich zumeist in größeren Unternehmen, deren typische Merkmale sich wie folgt benennen lassen:

424

Arbeit und Arbeitsmarkt



Sie sind gegenüber außerbetrieblichen Arbeitsmärkten vergleichsweise stark abgeschottet. Die Arbeitskräfte werden vorrangig innerbetrieblich rekrutiert. • Die eingeschränkte Mobilität nach außen können Unternehmen durch eine größere Mobilität nach innen kompensieren. Über einen „Bewährungsaufstieg“ wird z. B. häufig die für ein Unternehmen passende Nachwuchsplanung betrieblicher Arbeitskräfte organisiert. Innerbetriebliche Arbeitsmärkte werden durch eine Reihe von Normen und Vertragsvereinbarungen zwischen Arbeitgeber und der betrieblichen Interessenvertretung der Beschäftigten gesteuert. Diese Vereinbarungen sichern in der Regel den Beschäftigten nach einer längeren Betriebszugehörigkeit Anrechte auf Beförderungen, Kündigungsschutz, betriebliche Sozialleistungen oder sonstige Gratifikationen (Senioritätsprinzip). Diese Übereinkünfte können ferner besondere Vereinbarungen zur Übernahme von Auszubildenden nach Beendigung ihrer Ausbildung enthalten. Das Interesse der Unternehmen an eingeschränkter zwischenbetrieblicher Mobilität ist in der Regel mit der Bindung der Arbeitnehmer:innen an die Betriebe begründet. Diese ermöglicht es Unternehmen, nicht nur die Mitarbeiter:innen auf ihre Unternehmensphilosophie festzulegen (wie z. B. die große „Bayer-Familie“), sondern verhindert auch den Transfer betriebsspezifischer Kenntnisse und Fähigkeiten. Betriebsspezifische Qualifikationen sind auf externen Arbeitsmärkten schwerer zu bekommen, und der Wechsel qualifizierter Mitarbeiter:innen zu konkurrierenden Unternehmen kann diesen erhebliche Marktvorteile verschaffen. Die Nachteile innerbetrieblicher Arbeitsmärkte liegen in der eingeschränkten Mobilität des Gesamtarbeitsmarktes und in erschwerten Zugängen von Beschäftigten zu abgegrenzten Arbeitsmärkten. Die Spaltung („Segmentierung“) des Arbeitsmarktes verstärkt Eintrittsbarrieren von Arbeitssuchenden, behindert die räumliche und berufliche Mobilität von Arbeitnehmer:innen und benachteiligt bestimmte Beschäftigtengruppen. 4.3

Entwicklung von Angebot und Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt

Um Hinweise über die zurückliegenden und die absehbaren Entwicklungslinien auf dem Arbeitsmarkt zu erhalten, ist es sinnvoll, das Angebot und die Nachfrage nach Arbeitskräften im Einzelnen zu untersuchen und in einer Arbeitsmarktbilanz einander gegenüberzustellen. Vor allem interessiert die Frage, wie sich die Arbeitslosigkeit entwickelt. Bezeichnet man Menschen als arbeitslos, wenn sie zwar prinzipiell bereit und in der Lage sind, eine Erwerbsarbeit aufzunehmen, aber – aus den unterschiedlichsten Gründen – keine geeignete Arbeitsstelle finden, dann signalisiert dies, dass zwischen Arbeitskräfteangebot und Arbeitskräftenachfrage eine Lücke klafft. Ausgehend vom theoretischen Zustands eines Gleichgewichts kann diese Lücke zum einen dadurch entstehen, dass der Personalbedarf der privaten Unternehmen wie des öffentlichen Sektors aus konjunkturellen oder strukturellen Gründen zurückgeht

Arbeitsmärkte: Dynamik, Segmentierung und Trends

425

und nicht ausreicht, um alle erwerbsfähigen und erwerbswilligen Menschen zu beschäftigen. Es kann aber genauso gut auch sein, dass das Arbeitsangebot aufgrund demografischer Prozesse und Veränderungen im Erwerbsverhalten ansteigt und die Arbeitskräftenachfrage übertrifft. In der Realität können sich natürlich beide Entwicklungen überlagern und verschränken. 4.3.1 Arbeitskräfteangebot

Das Gesamtangebot an Arbeit setzt sich zusammen aus den Erwerbspersonen (Erwerbstätige und Erwerbslose) und zusätzlich aus Personen in der stillen Reserve (vgl. Pkt. 5.2 dieses Kapitels). Der statistische Ausdruck dieser Gesamtgröße ist das Erwerbspersonenpotenzial. Die Höhe des Erwerbspersonenpotenzials wird beeinflusst von demografischen, rechtlichen und verhaltensbedingten Faktoren. Hierzu gehören insbesondere • •

die natürliche Bevölkerungsentwicklung (Saldo von Geburten- und Sterbefällen), die Wanderungsbewegung, hierbei vor allem die Bilanz von Zu- und Abwanderung von Ausländer:innen, • die Erwerbsbeteiligung von Frauen (geschlechtsspezifische Erwerbsquote), • die Erwerbsbeteiligung der unterschiedlichen Altersgruppen, in erster Linie der jüngeren und älteren Menschen (altersspezifische Erwerbsquoten), • die Altersgrenzen (Regelaltergrenzen und vorgezogene Altersgrenzen) für den Übergang in die Rente. Für die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt ist vor allem die Entwicklung der Jahrgänge im erwerbsfähigen Alter (15 bis 65 Jahre) von großer Bedeutung. Die Größenordnung der in den Arbeitsmarkt neu eintretenden Jahrgänge hängt damit von der Geburtenentwicklung und der Zuwanderung ab. Langfristig wird das Reservoir der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter aufgrund der demografischen Entwicklung deutlich sinken. Die Erwerbsbevölkerung wird spürbar altern und den Betrieben werden in der langen Frist weniger Arbeitskräfte zur Verfügung stehen. Allerdings wird der Rückgang der Erwerbspersonen weniger stark ausfallen, wenn man annimmt, dass die Erwerbsquote weiter steigt und die hohe Zuwanderung anhält. Dies lässt sich politisch gestalten, denn der Sozialstaat setzt durch das Arbeits-, Sozial- und Steuerrecht wie durch die Regelung der Zuwanderung institutionelle Anreize und Beschränkungen. Unabhängig davon, in welchem genauen Umfang und mit welcher Dynamik sich dieser Prozess letztlich vollzieht: Der Rückgang des Erwerbspersonenpotenzials ist ein unumkehrbarer Megatrend. Zu berücksichtigen ist jedoch, dass nicht allein die Abnahme des Arbeitskräfteangebots die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt sowie die Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme bestimmt. Von Bedeutung sind zugleich die Nachfrage nach Arbeit und damit die ökonomischen Rahmenbedingungen,

426

Arbeit und Arbeitsmarkt

hier insbesondere die Entwicklung von Produktivität, Sozialprodukt und Einkommen (vgl. Kapitel „Ökonomische Grundlagen und Finanzierung“, Pkt. 5.3). 4.3.2 Arbeitskräftenachfrage

Der Bedarf an Arbeitskräften ergibt sich aus der Arbeitskräftenachfrage der privaten Unternehmen und des öffentlichen Sektors. Auf den Entwicklungsverlauf der Arbeitskräftenachfrage in der Gesamtwirtschaft wirken im Wesentlichen drei Faktoren ein: • •

das Wirtschaftswachstum (Zuwachs des realen Bruttoinlandsprodukts), die Veränderungen der Arbeitsproduktivität (reales Bruttoinlandsprodukt je Erwerbstätigenstunde) und • die Arbeitszeit (wöchentlich bzw. jährlich). Weist die Wirtschaft ein reales Wachstum auf, werden also mehr Güter und Dienstleistungen produziert als in der Vorperiode, so steigt auch die Nachfrage an Arbeitskräften. Dies gilt jedoch nur, wenn die anderen Einflussfaktoren, also Produktivität und Arbeitszeit, unverändert bleiben und die zusätzliche Nachfrage nicht durch einen höheren Ertrag der einzelnen Arbeitsstunde oder durch Mehrarbeit der Beschäftigten ausgeglichen wird. Für die tatsächliche Nachfrage nach Arbeit spielt daher die gesamtwirtschaftliche Arbeitsproduktivität eine entscheidende Rolle. Sie bestimmt, mit welchem Arbeitskräfteeinsatz ein bestimmtes Produkt hergestellt werden kann. Zu einer steigenden Arbeitsproduktivität führt beispielsweise der Einsatz neuer Technologien, der es ermöglicht, für die Herstellung eines Produktes die erforderliche Arbeitszeit zu senken. Beträgt etwa das Wachstum 3 % und die Steigerung der Arbeitsproduktivität ebenfalls 3 %, so gleichen sich die durch Wachstum induzierte steigende Arbeitskräftenachfrage und der produktivitätsbedingte Rückgang der Arbeitskräftenachfrage aus. Eine steigende Produktion kann mit dem gleichen Arbeitskräfteeinsatz hergestellt werden. Erst wenn das Wachstum der Produktion über dem Produktivitätsanstieg liegt, vergrößert sich das Arbeitsvolumen, so dass zusätzliche Arbeitsplätze entstehen können („Beschäftigungsschwelle“). Bei einem Wachstum, das unterhalb dieser Beschäftigungsschwelle bleibt, muss mit einem Abbau von Arbeitsplätzen gerechnet werden. Die Dauer der Arbeitszeit entscheidet letztlich darüber, wie viele Arbeitskräfte für die Erstellung eines gegebenen Produktvolumens erforderlich sind. Bei langen Arbeitszeiten werden weniger Arbeitskräfte benötigt als bei kürzeren Arbeitszeiten. Arbeitszeitverkürzungen verteilen das vorhandene Arbeitsvolumen auf mehr Beschäftigte: Je kürzer die tatsächliche Arbeitszeit je Beschäftigten, desto mehr Personen finden bei gegebenem Arbeitsvolumen einen Arbeitsplatz. Umgekehrt reduziert eine Verlängerung der tatsächlich geleisteten (z. B. reguläre Arbeitszeit plus Überstunden) oder der tariflich vereinbarten Arbeitszeit den Personalbedarf.

Arbeitsmärkte: Dynamik, Segmentierung und Trends

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Wenn man das Jahr 1991 als Ausgangspunkt nimmt und die Komponenten mit 100 indexiert, stellt sich die langfristige Entwicklung von Wirtschaftswachstum und Produktivität folgendermaßen dar (vgl. Abbildung V.12): Das Bruttoinlandsprodukt wuchs von 1991 bis 2018 um rund 46 %, die Produktivität je Erwerbstätigenstunde um 44 %. Allerdings zeigen sich im Verlauf der Jahre folgenreiche Verschiebungen: Die zunächst große Spanne zwischen Produktivität und Wirtschaftswachstum wird ab etwa 2012 zunehmend geringer und geht gegen Null. Die gängige Annahme, dass es in den zurückliegenden Jahren zu einer besonders starken Produktivitätszunahme gekommen sei, lässt sich gesamtwirtschaftlich nicht bestätigen. Durch die verlangsamte Produktivitätsentwicklung, die sich zu einem großen Teil auf die Bedeutungszunahme des eher produktivitätsschwächeren Dienstleistungssektors zurückführen lässt, ist die Beschäftigungsschwelle in den letzten Jahren gesunken. In der Folge steigt ebenfalls ab etwa 2012 das gesamtwirtschaftliche Arbeitsvolumen kontinuierlich an, während in den Jahren zuvor ein ausgeprägter Rückgang zu verzeichnen war. Begleitet werden diese Trends durch einen nahezu ununterbrochenen Rückgang der Arbeitszeit je Erwerbstätigen. Im Unterschied zum Arbeitskräfteangebot lässt sich die zukünftige Entwicklung der Arbeitsnachfrage nur schwer abschätzen. Setzt sich der Wirtschaftsaufschwung weiter fort und in welchem Tempo oder kommt es erneut zu Rezessionen und welt-

Abbildung V.12 Bruttoinlandsprodukt, Arbeitsproduktivität, Erwerbstätige, Arbeitsvolumen und Arbeitszeit, 1991 – 2018, Index (1991 = 100) 150 145,7 144,1

140

Bruttoinlandsprodukt real Produktivität je Erwerbstätigenstunde

130

120 115,6

Erwerbstätige

101,3

Arbeitsvolumen

87,7

Arbeitszeit je Erwerbstätigen

110

100

90

2018

2017

2016

2015

2014

2013

2012

2011

2010

2009

2008

2007

2006

2005

2004

2003

2002

2001

2000

1999

1998

1997

1996

1995

1994

1993

1992

1991

80

BIP real, in Preisen von 1995. Quelle: Statistisches Bundesamt (zuletzt 2018), Volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen, Fachserie 18, Reihe 1.4.

428

Arbeit und Arbeitsmarkt

wirtschaftlichen Verwerfungen ? Wie ist der Trend der Produktivität einzuschätzen, sind – wie vielfach befürchtet – im Zuge der Digitalisierung der Wirtschaft massive Rationalisierungen und entsprechende Arbeitsplatzverluste zu erwarten, oder führt der Aufbau neuer Arbeitsstellen zu einem Ausgleich ? Wie wirken sich die Veränderungen in Produktion und Verbrauch infolge der Klimawende aus ? Belastbare Prognosen liegen nicht vor. Aber selbst dann, wenn sich die Beschäftigungseffekte im Saldo ausgleichen, stehen die Arbeitsmarktpolitik und hier insbesondere die Politikfelder Ausbildung, Weiterbildung, Umschulung vor großen Herausforderungen, um jene Beschäftigten zu fördern und zu unterstützen, die ihren Arbeitsplatz verlieren werden. 4.3.3 Wirtschaftswachstum, Arbeitskräftenachfrage und Wirtschaftspolitik

Für die zu erwartende Entwicklung der Nachfrageseite des Arbeitsmarktes ist entscheidend, welches durchschnittliche Wirtschaftswachstum angenommen werden kann und in welchem Verhältnis das Wachstum zur Veränderung der Arbeitsproduktivität steht. Allerdings sind Wechselwirkungen zu beachten. Eine Zunahme der Wachstumsrate kann eine Steigerung der Arbeitsproduktivität nach sich ziehen. Die Arbeitszeit wiederum wirkt auf Wachstum und Produktivität ein. So kann eine Arbeitszeitverkürzung (ohne Lohnausgleich) einen Nachfrageausfall und damit Wachstumseinbußen bewirken. Arbeitszeitverkürzung induziert zumeist eine Produktivitätssteigerung, die einen Teil des Beschäftigungseffektes „versickern“ lässt. Und schließlich hängen auch Wachstum und Größe des Erwerbspersonenpotenzials zusammen. So kann eine spürbare Zuwanderung die gesamtwirtschaftliche Nachfrage, aber zugleich auch das Arbeitskräfteangebot erhöhen. Wie aber kann Politik dazu beitragen, dass das Wirtschaftswachstum gesteigert wird ? In der Wirtschaftswissenschaft wie auch in der Politik wird um die angemessenen Strategien seit Jahren erbittert gestritten. Grundsätzlich geht es um den Streit zwischen einer angebotsorientierten oder einer nachfrageorientierten Wirtschaftspolitik. Ziel einer angebotsorientierten Wirtschaftspolitik ist – allgemein gesprochen – die Verbesserung der ökonomischen Rahmenbedingungen für die privaten Unternehmen. Sie sollen angeregt werden, mehr zu produzieren und zu investieren, Produktund Verfahrensinnovationen zu entwickeln und/oder neue Absatzkapazitäten auf den in- und ausländischen Märkten zu erschließen. Entscheidende Bedingung ist es aus dieser Sicht, die Rentabilität für das private Kapital zu erhöhen und die Renditeerwartungen an das internationale Niveau anzupassen. Erst günstige wirtschaftliche Rahmenbedingungen fördern die Bereitschaft der Unternehmen, mehr zu investieren und neue Beschäftigte einzustellen. Zu den dazu wichtigen Stellgrößen auf der Angebotsseite gehören neben dem Faktor Arbeit und seiner quantitativen und qualitativen Ausgestaltung (Löhne, Lohnnebenkosten, Arbeitszeit, Arbeitsrecht und Arbeitsschutz, generell die Arbeitsmarktregulierung) die sonstigen Produktionsbedingungen (wie z. B. Kosten für Vorleis-

Arbeitsmärkte: Dynamik, Segmentierung und Trends

429

tungen und Energie, Zinsen, Währungsverhältnisse), die Vielfalt staatlich regulierter Rahmenbedingungen vom System der sozialen Sicherung bis hin zu den Umweltschutzauflagen sowie den Unternehmenssteuern. Lohnbezogene Gestaltungsmöglichkeiten bestehen aus der Perspektive der Angebotstheorie vor allem in der Senkung bzw. Begrenzung der Arbeitskosten, d. h. in einer zurückhaltenden Lohnpolitik, einer stärkeren Spreizung der Lohnstruktur und einer Senkung der Lohnnebenkosten, insbesondere der Arbeitgeberbeiträge zur Sozialversicherung. Dem gegenüber lässt sich darauf verweisen, dass ein hoher Beschäftigungsgrad durchaus mit einem hohen Lohnniveau und einer relativ gleichmäßigen Lohnstruktur vereinbar ist. Umstritten ist gleichfalls, ob und in welchem Ausmaß die Lohnentwicklung den Verteilungsspielraum ausschöpfen soll, wie er durch die Produktivitätsund Preisentwicklung gegeben ist. Eine anhaltend positive Lohnentwicklung – so die entgegengesetzte Argumentation – schaffe erst über die dadurch induzierte Steigerung der privaten Nachfrage die Voraussetzungen für notwendige Ertragssteigerungen und nachfolgend beschäftigungswirksame Investitionen. Auch würden, wie die Erfahrung zeigt, höhere Gewinne keinesfalls automatisch höhere Investitionen nach sich ziehen. Zudem vernachlässige eine rein kostenorientierte Betrachtung der Lohnentwicklung die Nachfragefunktion der Arbeitseinkommen und damit zentrale makroökonomische Kreislaufzusammenhänge. Insgesamt mache eine Politik der Deregulierung und des Sozialabbaus ökonomisch keinen Sinn, weil auf diese Weise lediglich einem internationalen Sozialdumping Vorschub geleistet werde und eine (vorübergehende) Verbesserung der Beschäftigungslage allenfalls auf Kosten anderer Volkswirtschaften zu erreichen sei (vgl. Kapitel „Ökonomische Grundlagen und Finanzierung“, Pkt. 6.5). Aus Sicht einer nachfrageorientierten Wirtschaftspolitik sind insofern in erster Linie die unzureichenden Bedingungen auf der Nachfrageseite der Volkswirtschaft ausschlaggebend für eine beschäftigungssichernde Steigerung des Wachstums. Im Zentrum dieses Ansatzes steht daher die Stimulierung der privaten und öffentlichen Nachfrage. Die Entwicklung der Massenkaufkraft, die Investitionsgüternachfrage, aber auch der Staatsverbrauch und die Exportentwicklung gelten somit als die zentralen Ansatzpunkte wirtschaftspolitischer Maßnahmen. Eine besondere Rolle wird in diesem Zusammenhang der staatlichen Ausgabenpolitik zugemessen, weil sie unmittelbar positive Nachfrageeffekte erzeugen kann, etwa über forcierte öffentliche Investitionsprogramme. Allerdings kann eine rein national ausgerichtete Politik der Nachfragesteigerung „verpuffen“, wenn sie nur teilweise im Inland zu steigender Produktion und Beschäftigung führt und sich im Übrigen ins Ausland verlagert. Um dem zu begegnen, wird eine (bessere) europäische Abstimmung der Finanz- und Fiskalpolitik gefordert. Kritiker weisen auch darauf hin, dass kreditfinanzierte staatliche Ausgabenprogramme die Defizite in den öffentlichen Haushalten stetig erhöhen, infolgedessen die staatliche Handlungsfähigkeit beschränken und die nachfolgenden Generationen belasten. Dem steht wiederum entgegen, dass eine überzogene Haushaltskonsolidierungs-

430

Arbeit und Arbeitsmarkt

politik selbst die konjunkturelle Entwicklung beeinträchtigen und damit indirekt die Lage der Staatsfinanzen verschlechtern kann. Als ein weiterer Ansatzpunkt nachfrageorientierter Maßnahmen gilt das erhebliche Ausmaß an gesellschaftlich notwendiger Arbeit, die aber nicht geleistet wird, weil sie (noch) nicht marktfähig ist. Wenn die sich aus dem Marktprozess ergebende Arbeitsnachfrage nicht ausreicht und zugleich gesellschaftliche Bedarfe nicht befriedigt werden, dann bietet eine gezielte öffentlich geförderte Beschäftigung in diesem Bereich einen weiteren Ansatzpunkt zur Verbesserung der Arbeitsmarkt- und Beschäftigungssituation. 4.3.4 Arbeitszeit

Obgleich sich das Arbeitsvolumen über lange Jahre rückläufig entwickelt und erst 2017 wieder das Ausgangsniveau von 1991 erreicht hat, ist die Zahl der Erwerbstätigen in diesem Zeitraum überwiegend gestiegen (vgl. Abbildung V.12). Dies konnte nur durch eine Verkürzung der Arbeitszeit je Erwerbstätigen erreicht werden. Eine entscheidende Bedeutung für das in der Vergangenheit erreichte Beschäftigungsniveau und für dessen zukünftige Entwicklung kommt also der Frage zu, wie stark auch in den nächsten Jahren die Arbeitszeit verringert werden kann. Allerdings ist das Arbeitsvolumen keine fixe Größe, sondern selbst wiederum von den ökonomischen Bedingungen abhängig, also auch von Arbeitsangebot und Arbeitsnachfrage. So kann unter bestimmten Konstellationen eine Vergrößerung des Arbeitsangebotes auch zu einem stärkeren Wirtschaftswachstum und damit zu einer Erhöhung des Arbeitskräftebedarfs führen. Zurückblickend lässt sich feststellen, dass ohne die Arbeitszeitverkürzungen in den letzten Jahrzehnten die Arbeitslosigkeit deutlich höher ausgefallen wäre. Die seit Mitte der 1980er Jahre erreichte Verkürzung der Wochenarbeitszeit für vollzeitbeschäftigte Arbeitnehmer:innen von 40 auf 37,8 Stunden im Durchschnitt der deutschen Wirtschaft sowie die übrigen Formen der Arbeitszeitverkürzung (z. B. Verlängerung des Urlaubs) haben einen beträchtlichen Umfang an Arbeitsplätzen gesichert bzw. neu geschaffen. Jedoch ist das Tempo der Arbeitszeitverkürzung seit Mitte 90er Jahren fast zum Stillstand gekommen (vgl. Kapitel „Arbeitsbeziehungen“, Pkt. 4.3). Eine besondere Bedeutung für die Reduzierung der durchschnittlichen Wochenund Jahresarbeitszeiten je Beschäftigten kommt der Entwicklung der Teilzeitarbeit zu, wobei in den letzten Jahren die durchschnittliche Arbeitszeit je Teilzeitbeschäftigten sogar einen Anstieg aufweist. In der Summe von Voll- und Teilzeitbeschäftigung hat sich die tarifliche Wochenarbeitszeit aller Arbeitnehmer:innen seit 2000 nur noch um knapp eine Stunde verringert (vgl. Tabelle V.1). Die Zahl der Überstunden je Beschäftigten (soweit in der Statistik überhaupt erfasst) weist ebenfalls eine rückläufige Tendenz auf. Neben konjunkturell bedingten Ausschlägen sind dafür auch strukturelle Entwicklungen verantwortlich. Zum einen hat der Anteil von Beschäftigungsverhältnissen zugenommen, die traditionell we-

Arbeitsmärkte: Dynamik, Segmentierung und Trends

431

Tabelle V.1 Durchschnittliche jährliche Arbeitszeit und ihre Komponenten 2000– 2018 2000

2005

2010

2015

2018

Tarifliche/betriebsübliche Arbeitszeit: Wochenarbeitszeit in Stunden • Vollzeit

38,20

38,05

37,93

38,04

38,01

• Teilzeit

13,46

14,29

15,31

16,24

16,69

• alle Beschäftigte

31,47

30,31

29,44

29,59

29,67

Urlaubstage/Jahr

32,2

30,8

30,7

31,40

31,40

1 571,5

1 525,8

1 490,0

1 489,1

1 476,6

57,6

51,9

55,2

59,2

62,8

9,1

8,6

9,4

10,0

10,6

47,9

52,8

51,9

47,3

53,0

• Vollzeit

1 664,3

1 662,3

1 663,5

1 652,4

1 647,3

• Teilzeit

579,9

614,8

673,8

708,1

727,7

1 369,5

1 340,5

1 309,7

1 303,3

1 305,2

Jahresarbeitszeit je Beschäftigten in Stunden Tatsächliche Arbeitszeit Krankenstand • in Arbeitsstunden/Jahr • in Arbeitstagen/Jahr Überstunden/Jahr1) Jahresarbeitszeit/Stunden

• alle Beschäftigten2)

1) Arbeitnehmer:innen ohne geringfügig Beschäftigte, Auszubildende, Elternzeit und Altersteilzeit (Freistellungsphase) 2) inklusive Nebenjobs Quelle: IAB Kurzbericht 7/2019.

niger bezahlte Überstunden leisten (geringfügige und Teilzeitbeschäftigung). Zum anderen hat die zunehmende Arbeitszeitflexibilisierung dazu geführt, dass bezahlte Überstunden durch sog. transitorische Überstunden (durch Auf- und Abbau von Arbeitszeitkonten) ersetzt werden. Dennoch ist das Ausmaß der bezahlten Mehrarbeit arbeitsmarktpolitisch nicht unproblematisch, da stattdessen auch die Einrichtung neuer Arbeitsstellen möglich wäre. Zu berücksichtigen ist allerdings, dass sich lediglich strukturelle, d. h. regelmäßig anfallende und nicht flexibilitätsbedingte Überstunden für Umverteilungen von Arbeit mit faktischen Beschäftigungseffekten eignen. Hinzu kommt, dass Überstunden vorrangig im Bereich höher qualifizierter Beschäftigung entstehen und auch ein Ausdruck von Engpässen sind.

432

Arbeit und Arbeitsmarkt

5

Arbeitslosigkeit

5.1

Definition und Entwicklung der Arbeitslosigkeit

Die sozialökonomische Entwicklung in der Bundesrepublik Deutschland ist seit mehr als vier Jahrzehnten durch anhaltende Arbeitslosigkeit gekennzeichnet. Zeiten der Vollbeschäftigung sind kein Normalzustand, sondern die Ausnahme. Ab Mitte der 1970er Jahre, nach dem Ende der sog. Wirtschaftswunderzeit mit ihren hohen Wachstumsraten, kam es in den alten Ländern zu einem steigenden Maß an Unterbeschäftigung. Mit dem Wirtschaftseinbruch in Folge der ersten Ölpreiskrise 1974/75 wurde erstmals die Grenze von 1 Mio. Arbeitslosen überschritten. Die Arbeitslosigkeit konnte seit dieser Zeit zwar in konjunkturellen Aufschwungphasen abgebaut werden, doch der verbleibende Sockel stieg von Krise zur Krise an. Der mit der Wiedervereinigung verbundene fundamentale Umbruch der Wirtschaft in den neuen Bundesländern hat dann seit den 1990er Jahren auf dem Arbeitsmarkt tiefe Spuren hinterlassen. Der Höchststand von 4,9 Mio. als arbeitslos registrierten Personen wurde im Jahresdurchschnitt 2005 erreicht, davon allein über 1,6 Mio. in den neuen Ländern (vgl. Abbildung V.13). Einen entsprechenden Verlauf hat die Arbeitslosenquote genommen. Sie erreicht ihren Höhepunkt mit 13 % ebenfalls gegen 2005/2006.

Abbildung V.13 Arbeitslose und Arbeitslosenquoten1) 1975 – 2018 14 13,0

12,7

12

5

4,9

10

7,6

3,0

2,8

2,9

3,2

2,7

2,5

2,3

2,2

2,0

0,9

0,9

1,0

1,0

6

4

1,9

2,2

2,3

2,3

2,2

2,3

5,8

1,3

1,8

6,3

2

Arbeitslose in Mio. (linke Achse)

2018

2017

2016

2015

2014

2013

2012

2011

2010

2009

2008

2007

2006

2005

2004

2003

2002

2001

2000

1999

1998

1997

1996

1995

1994

1993

1992

1991

1990

1989

1988

1987

1986

1985

1984

1983

1982

1981

1980

1979

1978

1977

1976

1975

0

3,8

1,1

1

4,7

1,1

2

8

2,6

3,0

3,0

3,3

3,4

3,8

9,1

2,9

4,4

4,4 4,1

4,1

3,9

3,7 3,4

7,2 3

8,7

3,6

4,0

8,7

3,9

4,4

10,3

4,3

9,1

4

Arbeitslosenquote in % (rechte Achse)

4,5

10,6

0

1) Arbeitslosenquote bezogen auf abhängige zivile Erwerbspersonen bis 1990: alte Bundesländer, ab 1991: Deutschland Quelle: Statistik der Bundesagentur für Arbeit (2019), Arbeitslosigkeit im Zeitverlauf.

Arbeitslosigkeit

433

Ein grundlegender Umbruch des Trends kontinuierlich steigender Arbeitslosigkeit setzt ab etwa 2007 ein. Die Zahlen der Betroffenen gehen ebenso deutlich wie kontinuierlich zurück: 2018 wurde ein Stand von 2,3 Mio. erreicht. Die Quote fiel auf 5,8 %. Zahlen und Quote haben sich gegenüber 2005 mehr als halbiert. Deutschland hat sich in nur wenigen Jahren vom „kranken Mann Europas“, der mit den größten Arbeitsmarktproblemen zu kämpfen hatte, zum „Musterschüler“ entwickelt, denn nahezu alle EU-Mitgliedsstaaten haben schlechtere, z. T. dramatisch schlechtere Werte aufzuweisen. Offen ist, welche Ursachen hinter dieser positiven Entwicklung stehen (vgl. Pkt. 9.1 dieses Kapitels). Doch was ist Arbeitslosigkeit ? Welche Personen sind gemeint, über die zu Beginn eines jeden Monats die Bundesagentur für Arbeit medienwirksam berichtet ? Es handelt sich bei der Arbeitslosigkeit nicht um ein Merkmal, das mit einer Person sichtbar verbunden ist oder sich am Lebensalter messen lässt. Deshalb ist es unabdingbar den Zustand von Arbeitslosigkeit zu definieren. Die Legaldefinition findet sich im SGB III, sie ist der Maßstab in der Statistik der Bundesagentur für Arbeit. Offiziel als Arbeitslose gelten diejenigen Personen, die • • • • • • •

sich bei einer Agentur für Arbeit oder einem Träger der Grundsicherung für Arbeitsuchende als arbeitsuchend gemeldet haben, eine versicherungspflichtige Beschäftigung suchen, den Vermittlungsbemühungen zur Verfügung stehen und bereit sind, jede „zumutbare“ Beschäftigung anzunehmen, nicht oder nur geringfügig (weniger als 15 Wochenstunden) beschäftigt sind, deren Alter zwischen 15 Jahren und der Regelaltersgrenze der gesetzlichen Rentenversicherung liegt, nicht Teilnehmer:innen an arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen oder Schüler:innen und Studierende sind, nicht Empfänger:innen von Altersrente und nicht arbeitsunfähig krank sind.

Nicht in die amtliche Statistik gehen generell diejenigen ein, die • • • • •

sich nicht arbeitslos melden und ohne Hilfe der Agentur für Arbeit einen Arbeitsplatz suchen (wie z. B. viele Schulabgänger:innen, Berufsanfänger:innen, Frauen im Anschluss an die Familienphase), eine Ausbildungsstelle suchen, nur eine kurzfristige oder geringfügige Beschäftigung suchen, als ältere Arbeitnehmer:innen zwar Arbeitslosengeld empfangen, aber dem Arbeitsmarkt nicht (mehr) zur Verfügung stehen müssen, an arbeitsmarktpolitischen (Bildungs)Maßnahmen teilnehmen.

Zur Quantifizierung der Risikobetroffenheit werden von der Bundesagentur für Arbeit drei verschiedene Quoten ausgewiesen:

434

Arbeit und Arbeitsmarkt

1) registrierte Arbeitslose in % der abhängigen zivilen Erwerbspersonen (sozialversicherungspflichtig und geringfügig Beschäftigte, Beamt:innen, Arbeitslose), 2) registrierte Arbeitslose in % aller zivilen Erwerbspersonen einschließlich der Selbstständigen und der mithelfenden Familienangehörigen, 3) Erwerbslose nach dem ILO-Erwerbskonzept in % der Erwerbspersonen. Insgesamt fällt die Quote, bei der lediglich die abhängig Beschäftigten im Nenner stehen, größer aus als die Quote, die zu allen Erwerbspersonen ins Verhältnis gesetzt wird. Zu größeren Abweichungen kommt es jedoch, wenn das international übliche ILO-Erwerbslosenkonzept Anwendung findet. Für das Jahr 2018 betrugen die Arbeitslosenquoten 5,8 % (1. Fall) bzw. 5,2 % (2. Fall), die Erwerbslosenquote (3. Fall) aber nur 3,4 %. Diese nicht unerheblichen Unterschiede beruhen auf verschiedenen Berechnungsund Erhebungsmethoden (vgl. Übersicht V.2). Die Erwerbslosenquote wird anhand eines Konzeptes erhoben und berechnet, das von der International Labour Organisation (ILO) entwickelt wurde, um die zwischen einzelnen Ländern verschiedenen Statistiken zur Arbeitslosigkeit zu vereinheitlichen und international vergleichbar zu machen.

Übersicht V.2 Unterschiede der ILO-Erwerbsstatistik und SGB-Arbeitsmarktstatistik im Überblick ILO-Erwerbslose

SGBIII/Registrierte Arbeitslose

Erhebung

Telefonische Bevölkerungserhebung als repräsentative Stichprobe

Meldung bei den Agenturen für Arbeit oder Jobcentern als Totalerhebung

Altersgrenze

15 – 74 Jahre

15 Jahre bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze

Arbeitslosmeldung

unerheblich

ja

Aktive Suche nach Beschäftigung

Suche nach einer Beschäftigung von mindestens einer Wochenstunde und in den letzten vier Wochen

Wahrnehmung von Vermittlungsangeboten, Abschluss einer Eingliederungsvereinbarung und Einhaltung der darin vereinbarten Suchverpflichtungen

Verfügbarkeit für den Arbeitsmarkt

Aufnahme einer neuen Tätigkeit in den nächsten zwei Wochen

Zeit- und ortsnahe Verfügbarkeit für die Arbeitsvermittlung, Bereitschaft jede zumutbare Beschäftigung anzunehmen

Beschäftigungslosigkeit

Ausübung keiner Beschäftigung (nicht mehr als eine Wochenstunde)

Ausübung einer Beschäftigung von weniger als 15 Wochenstunden

Arbeitslosigkeit

5.2

435

Kurzarbeit und stille Reserve

Die registrierte Arbeitslosigkeit kennzeichnet das offenkundige Beschäftigungsrisiko und beziffert damit den Großteil des Beschäftigungsproblems in Deutschland. Wenn jedoch ein Bild über das gesamte Ausmaß an Unterbeschäftigung und das gesamtwirtschaftliche Arbeitsplatzdefizit gewonnen werden soll, müssen die latenten Risiken und die stille Reserve mit in den Blick genommen werden. Latente Risiken im Vorfeld von Arbeitslosigkeit werden durch die Kurzarbeit signalisiert. Kurzarbeit trägt dazu bei, dass vorübergehende bzw. saisonbedingte Einschränkungen von Produktion und Beschäftigung überbrückt werden können, ohne dass die Unternehmen Beschäftigte entlassen. Länger andauernde oder häufigere Kurzarbeit lässt jedoch Personalabbau und Entlassungen in den betroffenen Betrieben und Branchen befürchten, hier verzögert Kurzarbeit lediglich den Eintritt von Arbeitslosigkeit. In konjunkturellen Abschwungphasen liegen die Unterauslastung eines Teils der Beschäftigten und das Niveau der Kurzarbeit besonders hoch. So wurden 1991 (Beschäftigungseinbruch in den neuen Bundesländern) und 2009 (Finanzkrise) rund 1,8 Mio. bzw. 1,1 Mio. Kurzarbeiter:innen gezählt, bis 2018 sank demgegenüber ihre Zahl auf rund 118 000. Ferner werden all diejenigen nicht registriert, die grundsätzlich eine Erwerbsarbeit suchen, aber nicht den o. g. Kriterien entsprechen. Zu dieser unsichtbaren, verdeckten Arbeitslosigkeit, die auch als „stille Reserve“ bezeichnet wird, werden verschiedene Gruppen von Personen gezählt. Im engeren Sinne gehören dazu Personen, die ohne Einschaltung der Agentur für Arbeit eine Beschäftigung suchen oder sich wegen der schlechten Beschäftigungslage entmutigt vom Arbeitsmarkt zurückgezogen haben, aber bei besserer Arbeitsmarktsituation erwerbstätig sein und sich der Arbeitsvermittlung zur Verfügung stellen würden. Es kann sich aber auch um Rentner:innen handeln, die vorzeitig aus Arbeitsmarktgründen aus dem Erwerbsleben ausgeschieden sind, oder um Schüler:innen und Studierende, die ihre Abschlüsse aufgrund der schlechten Beschäftigungschancen hinauszögern. Zur stillen Reserve gehören überdies Teilnehmende an bestimmten arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen, wie an Maßnahmen zur beruflichen Weiterbildung, zur Rehabilitation oder an Trainingsmaßnahmen („Stille Reserve in Maßnahmen“). Nicht registriert werden auch ältere Arbeitslose, die zwar arbeitslos gemeldet sind, dem Arbeitsmarkt jedoch nicht zur Verfügung stehen (müssen). Die Zahl der Arbeitslosen und damit die Arbeitslosenquote würden höher liegen, wenn nicht ein Teil der potenziell Arbeitslosen an arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen teilnehmen. Umso stärker also Maßnahmen der Arbeitsmarktpolitik angeboten werden, desto kleiner wird die Anzahl der als arbeitslos Registrierten. Fasst man die „Stille Reserve im engeren Sinne“ mit der „Stillen Reserve in Maßnahmen“ zusammen, so errechnet sich die Gesamtentlastung der registrierten Arbeitslosigkeit (vgl. Abbildung V.14). Im Jahr 2005, zum Höhepunkt der Arbeitsmarkt-

436

Arbeit und Arbeitsmarkt

Abbildung V.14 Registrierte Arbeitslose und stille Reserve 1998 – 2016

6,3

6,2

6,0 0,7

5,7 0,7

1,3

5,4 0,7

5,4 0,7

0,8

6,4 0,6

0,8

0,8

6,0 0,7

0,9

0,8

1,2 0,8

6,2

1,0

0,9

0,9

5,2 0,7

4,5

4,6

0,9

0,9

0,8 0,8

0,4

0,3

4,4

0,9 0,2

4,3 0,8 0,5

3,7 0,7 0,1

4,3

4,1

3,9

3,9

4,1

4,4

4,4

4,9

3,8

3,9

0,7

0,7

0,2

0,3

3,7

3,7

0,7

0,8

0,2

0,3

3,6

3,5

Arbeitsplatzlücke insgesamt

0,9

0,8

Stille Reserve in Maßnahmen

0,2

0,3

4,5 3,8 3,3

3,4

3,2

3,0

2,9

3,0

2,9

2,8

2,7

2,5

Stille Reserve im engeren Sinne

2,3

Registrierte Arbeitslose 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018

Quelle: Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), Kurzberichte (zuletzt) 07/2019.

krise, lag sie bei 1,54 Mio. Personen, und die Arbeitsplatzlücke insgesamt summierte sich damit auf 6,4 Mio. Personen. Die Entwicklung der stillen Reserve ist konjunkturabhängig und vom Entzugseffekt des Einsatzes arbeitsmarktpolitischer Instrumente geprägt. So konnte in den Jahren nach der Wiedervereinigung durch ein umfassendes Angebot von arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen der steile Anstieg der offenen Arbeitslosigkeit in den neuen Ländern begrenzt werden. Die nachfolgende Rückführung der arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen und die Einführung des Arbeitslosengeldes II, mit der gleichzeitig ein großer Teil der vormals nicht als arbeitslos erfassten Sozialhilfebeziehenden in die offizielle Statistik überführt wurde, führte dann aber zu einem Rückgang der stillen Reserve. Aus der Existenz der stillen Reserve ergibt sich, dass ein Anstieg der Erwerbstätigenzahlen in aller Regel nicht im selben Ausmaß mit einem Rückgang der registrierten Arbeitslosenzahlen verbunden ist. Dies ist selbst dann nicht der Fall, wenn der Umfang der arbeitssuchenden Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter (Erwerbspersonenpotenzial) gleich bliebe. Denn nur ein Teil derjenigen, die die zusätzlichen Arbeitsplätze besetzen, kommen aus der registrierten Arbeitslosigkeit, die anderen kommen aus der stillen Reserve.

Arbeitslosigkeit

5.3

437

Dynamik der Arbeitslosigkeit

Der Bestand an Arbeitslosigkeit darf nicht den Eindruck vermitteln, dass es sich um einen starren Block von Erwerbslosen handelt, dem ein ebenso starrer Block der Erwerbstätigen gegenübersteht. Im Gegenteil: Auch innerhalb der Gruppe der Arbeitslosen finden ständig Bewegungen statt. Die für ein Jahr ermittelten Arbeitslosenzahlen setzen sich nämlich nicht nur aus jenen Personen zusammen, die das gesamte Jahr über keine Beschäftigung gefunden haben. Quantitativ viel gewichtiger sind die Neuzugänge in Arbeitslosigkeit auf der einen Seite und die Abgänge aus Arbeitslosigkeit auf der anderen Seite. Diese Dynamik auf dem Arbeitsmarkt führt dazu, dass nur ein kleiner Teil derjenigen, die am Jahresanfang arbeitslos waren, auch noch am Jahresende arbeitslos sind. Eine hohe Zahl von Zugängen an Arbeitslosen führt also nicht zwangsläufig zu einem steigenden Bestand von Arbeitslosen im Jahresdurchschnitt. Denn den Zugängen müssen die Abgänge gegenübergestellt werden. So gab es im Jahresverlauf 2018 rund 7,2 Mio. Arbeitslosmeldungen (Zugänge) sowie rund 7,4 Mio. Abmeldungen der Arbeitslosigkeit (Abgänge). Die Gesamtzahlen der Arbeitsmarktstatistiken sind daher immer nur als Durchschnittswerte zu verstehen, die erhebliche Dynamiken und Unterschiede in der Arbeitslosenpopulation verdecken: Die einen sind nur kurze Zeit ohne Arbeit und finden nach einer kurzen Suchphase schnell wieder eine anderweitige Beschäftigung. Hier ist von friktioneller oder Sucharbeitslosigkeit zu reden. Andere wiederum suchen über einen längeren Zeitraum einen Arbeitsplatz und gehen womöglich überhaupt kein Beschäftigungsverhältnis mehr ein. Die unterschiedliche Dauer der Arbeitslosigkeit geht einher mit einer sozialen Ungleichverteilung des Beschäftigungsrisikos. Von zumeist hoher und gleichzeitig dauerhafter Arbeitslosigkeit sind vor allem ältere Arbeitnehmer:innen, Menschen mit Behinderungen, gesundheitlich Beeinträchtigte sowie gering Qualifizierte betroffen (vgl. Pkt. 5.4.2 dieses Kapitels). Diese Konzentration der Arbeitslosigkeit auf einzelne Personengruppen ist Ergebnis von sozialen Filterprozessen beim Weg in die Arbeitslosigkeit und beim Weg aus der Arbeitslosigkeit. Um diese Prozesse zu verdeutlichen, kann unterschieden werden zwischen • • •

dem Risiko, arbeitslos zu werden, d. h. keinen Arbeitsplatz (mehr) zu haben (Zugangsrisiko), dem Risiko, arbeitslos zu bleiben, d. h. keinen neuen Arbeitsplatz zu finden (Verbleibsrisiko), und den Chancen, die Arbeitslosigkeit zu beenden, d. h. vor allem ein neues Beschäftigungsverhältnis aufzunehmen (Abgangschancen).

438

Arbeit und Arbeitsmarkt

5.3.1 Wege in die Arbeitslosigkeit: Zugangsrisiko

All diejenigen, deren Arbeitsverhältnis gekündigt bzw. abgelaufen ist, geraten in Gefahr, arbeitslos zu werden, wenn es ihnen nicht gelingt, ohne Zeitverzögerung eine Anschlussbeschäftigung zu finden. Nur einem Teil der Betroffenen ist es möglich, innerhalb der tariflichen oder gesetzlichen Kündigungsfristen ein neues Arbeitsverhältnis zu vereinbaren. Bleibt die Suche danach ohne Erfolg, dann tritt – zumindest vorübergehend – Arbeitslosigkeit ein. Die Betroffenen werden allerdings erst dann als Arbeitslose registriert, wenn sie sich bei den Agenturen für Arbeit melden und die Voraussetzungen einer amtlichen Anerkennung erfüllen. Es besteht dabei die Verpflichtung, die Meldung drei Monate vor dem Auslaufen des Arbeitsvertrages bzw. vor dem Kündigungsdatum vorzunehmen; wird dies versäumt, kann dies den Anspruch auf Arbeitslosengeld verzögern. Wie Abbildung V.15 für das Jahr 2018 zeigt, meldeten sich 7,2 Mio. Personen arbeitslos. Von diesen Personen • war gut ein Drittel (36,2 %) bislang erwerbstätig, darunter weit überwiegend in einer abhängigen Beschäftigung, • waren 23,0 % zuvor als arbeitsunfähig gemeldet, • haben 22,0 % an einer Förder- bzw. Ausbildungsmaßnahme teilgenommen, • waren 8,9 % nicht verfügbar, • haben 5,2 % ihre betriebliche Ausbildung absolviert und sind nicht übernommen worden oder haben ihre Schule bzw. ihr Studium beendet. Daraus folgt, dass es unter den Bedingungen einer insgesamt guten Lage auf dem Arbeitsmarkt, die durch einen Beschäftigungsaufbau und nicht durch einen massiven Stellenabbau gekennzeichnet ist, vergleichsweise selten vorkommt, eine Arbeitsstelle zu verlieren und in der Arbeitslosigkeit zu landen. Das sieht in Zeiten von Wirtschafts- und Branchenkrisen grundsätzlich anders aus. Nahezu zwei Drittel der Betroffenen waren danach vor der Arbeitslosmeldung nicht erwerbstätig. Das betrifft insbesondere gesundheitlich Beeinträchtige nach einer längeren Phase der Arbeitsunfähigkeit sowie Teilnehmer:innen an einer Maßnahme der Arbeitsförderung, deren Beendigung also keineswegs immer zur Aufnahme einer Beschäftigung führt. Hohe Zugangsrisiken sind indes nicht gleichbedeutend mit einem hohen Arbeitslosigkeitsrisiko insgesamt. So haben gerade die Jüngeren, die nach dem Abschluss ihrer Ausbildung arbeitslos werden, gute Chancen, schnell eine Stelle zu finden. Hingegen sind die Zugangsrisiken der Älteren relativ gering, aber die Abgangschancen schlecht. Ältere, die arbeitslos werden, bleiben für längere Zeit arbeitslos und fallen mit hoher Wahrscheinlich in den Kreis der Langzeitarbeitslosen. Ein hohes Zugangsrisiko tragen Ausländer:innen, die nach Deutschland zuwandern. Dies gilt im besonderen Maße für jene anerkannten Asylbewerber:innen, deren schulisches und

Arbeitslosigkeit

439

Abbildung V.15 Zugang in Arbeitslosigkeit nach Herkunftsstruktur 2018 Sonstiges/keine Angabe: 3,8% mangelde Verfügbarkeit: 8,9%

Selbstständigkeit: 1,3%

Arbeitsunfähigkeit: 23,0% Zugang insgesamt 7.212.513

Erwerbstätigkeit: 36,2%

Beschäftigung am 1. Arbeitsmarkt: 33,3%

sonstige NichtErwerbstätigkeit: 1,2% Fördermaßnahme/sonstige Ausbildung: 22,0%

2. Arbeitsmarkt: 1,6% betriebliche und außerbetriebliche Ausbildung: 2,5%

Schule/Studium, schulische Berufsausbildung, Wehr- u. Zivildienst: 2,7%

Quelle: Bundesagentur für Arbeit (2019), Arbeitslose nach Rechtskreisen.

berufliches Ausbildungsniveau gering ist und die lange brauchen, bis sie einen Arbeitsplatz finden. Der Zugang in die Arbeitslosigkeit aus einer abhängigen Beschäftigung heraus kann auf verschiedenen Wegen erfolgen: Zu unterscheiden ist im Wesentlichen zwischen • • •

einer Kündigung durch den Arbeitgeber, einem Auslaufen von befristeten Arbeitsverhältnissen und einer Kündigung des Arbeitsverhältnisses durch die Beschäftigten selbst.

Kündigung durch den Arbeitgeber Bei arbeitgeberseitigen Kündigungen können betriebsbedingte Gründe (wie Auftragsrückgang, Arbeitsmangel), persönliche (wie mangelnde Qualifikation) oder verhaltensbedingte Gründe (wie Arbeitsverweigerung, Minderleistung oder gestörtes Vertrauensverhältnis) geltend gemacht werden. In gesamtwirtschaftlichen Rezessionsphasen und/oder bei Branchenkrisen spielen betriebsbedingte Kündigungen eine große Rolle. Stilllegungen von Abteilungen oder ganzen Betrieben können zu Massenentlassungen führen. Es entspricht der Logik innerbetrieblicher Beschäftigungsstrategien, dass bei einer Personalanpassung leistungsfähige, qualifizierte Kernbelegschaften länger gehalten werden als die nur kurzfristig beschäftigten, eher gering qualifizierten Randbelegschaften.

440

Arbeit und Arbeitsmarkt

Bei der Entscheidung, welche Beschäftigten zu welchem Zeitpunkt gekündigt werden, müssen die Betriebe aber auch gesetzliche und tarifvertragliche Kündigungsschutzregelungen beachten, wobei hier der Dauer der Betriebszugehörigkeit (Senioritätsschutz) ein großer Stellenwert zukommt. In aller Regel ist das Kündigungsrisiko in Großbetrieben geringer als in Klein- und Mittelbetrieben. Großbetriebe verwenden zum Personalabbau eher Maßnahmen wie Einstellungsstopps, Nutzung der natürlichen (z. B. altersbedingten) Fluktuation, Aufhebungsverträge, Frühausgliederungen und Abfindungsaktionen. Eine hohe Arbeitsplatzsicherheit haben die 4,8 Mio. Beschäftigten im öffentlichen Dienst: Arbeiter:innen und Angestellte im öffentlichen Dienst genießen einen weitgehenden tarifvertraglichen Kündigungsschutz, Beamt:innen sind überhaupt nicht kündbar. Befristete Arbeitsverhältnisse Läuft ein zeitlich befristetes Arbeitsverhältnis aus, verlieren die Beschäftigten automatisch den Arbeitsplatz. Es bedarf dazu keiner Kündigung durch den Arbeitgeber. Der Zugang in die Arbeitslosigkeit erfolgt „lautlos“. Bestandsschutzregelungen greifen nicht, weshalb das Beschäftigungsrisiko besonders hoch liegt (vgl. Pkt. 3.4 dieses Kapitels). Eigenkündigung Kündigungen von Arbeitsverhältnissen durch die Arbeitnehmer:innen sind in einer angespannten Arbeitssituation erschwert und daher eher selten. Sie erfolgen in der Regel nur dann, wenn bereits ein neuer Arbeitsplatz zur Verfügung steht. Eine arbeitnehmerseitige Kündigung ohne eine konkrete Beschäftigungsalternative und ohne einen anerkannten Grund bedeutet nicht nur, dass Arbeitslosigkeit droht, sondern führt auch zu einer dreimonatigen Sperrzeit beim Bezug von Arbeitslosengeld (vgl. Pkt. 6.2.3 dieses Kapitels). 5.3.2 Dauer der Arbeitslosigkeit: Verbleibsrisiko und Langzeitarbeitslosigkeit

Je schlechter die Chancen sind, einen neuen Arbeitsplatz zu finden und die Arbeitslosigkeit zu beenden, desto länger dauert die Arbeitslosigkeit. Die Dauer einer einmal eingetretenen Arbeitslosigkeit ist deshalb ein entscheidender Indikator für die Wiedereingliederungschancen und bestimmt das Verbleibsrisiko. Mit der Dauer der Arbeitslosigkeit verändert sich auch das Ausmaß der materiellen Sicherung, weil die Bezugsdauer der Versicherungsleistung Arbeitslosengeld zeitlich begrenzt ist und die Arbeitslosen (bei Bedürftigkeit !) auf die Grundsicherung verwiesen werden. Damit steigt der Druck, mit zunehmender Dauer der Arbeitslosigkeit eine schlechter bezahlte oder eine nicht der Qualifikation entsprechende Tätigkeit anzunehmen. Dem überwiegenden Teil der Arbeitslosen gelingt es, die Phase der Arbeitslosigkeit durch Aufnahme einer neuen Arbeit zu beenden. Insofern kann nicht davon ge-

Arbeitslosigkeit

441

sprochen werden, dass Arbeitslosigkeit automatisch zu sozialer Ausgrenzung führt. Aber es gibt auch jene, die nur geringe Chancen haben, wieder in das Berufsleben zurückzukehren und ihren Lebensunterhalt eigenständig zu sichern. Die Chance, nach einer Phase der Arbeitslosigkeit wieder eingestellt zu werden, ist zunächst einmal durch die gesamtwirtschaftliche Entwicklung und durch die Lage auf den regionalen und berufsfachlichen Arbeitsmärkten bestimmt. Die Schließung bzw. Verengung eines Teilarbeitsmarktes durch Einstellungsstopps oder schmale „Einstellungskorridore“ bedeuten zwangsläufig, dass die Arbeitslosigkeit länger andauert. Wenn Betriebe Arbeitslose einstellen, so richtet sie ihre Auswahlentscheidung nach den Rentabilitätskalkülen der Personalpolitik: Schlechte Chancen haben ältere, gesundheitlich beeinträchtigte und/oder weniger qualifizierte Arbeitslose. Der soziale Selektionsprozess durch diese Personaleinsatz- und Einstellungspraxis der Betriebe wirkt stärker als beim Kündigungsverfahren. Denn bei der Einstellung haben Betriebe freie Hand. Gesetzliche oder tarifvertragliche Regelungen, die das Verhalten der Betriebe nach sozialen Kriterien steuern könnten, gibt es hier nicht – bis auf wenige Ausnahmen, z. B. die Beschäftigungspflicht von Schwerbehinderten und die Diskriminierungsverbote nach dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG). Solange auf dem Arbeitsmarkt ein Reservoir jüngerer leistungsfähiger, gut qualifizierter Arbeitsloser vorhanden ist, können die Betriebe in ihrer Einstellungspolitik die Anforderungen höher ansetzen. Wird z. B. für eine einfache Bürotätigkeit eine höherwertige kaufmännische Qualifikation verlangt, haben diejenigen Arbeitslosen mit ihren Bewerbungsbemühungen keinen Erfolg (mehr), die zwar einfache Bürotätigkeiten ausüben können, aber die gefragte Qualifikation nicht nachweisen können. Dieser Verdrängungsprozess von oben nach unten wird durch die Sanktionsmechanismen des SGB II verschärft (Auslaufen des Anspruchs auf Leistungen, strenge Zumutbarkeitskriterien): Die Betroffenen werden bei entsprechender Arbeitsmarktlage gezwungen, berufliche Verschlechterungen (Dequalifikation, Einkommenseinbußen) hinzunehmen, um überhaupt einen Arbeitsplatz zu erhalten. Die ohnehin benachteiligten Gruppen auf dem Arbeitsmarkt sind hiervon besonders betroffen. Im Jahr 2018 waren durchschnittlich rund 0,8 Mio. Menschen länger als ein Jahr arbeitslos. Dies entspricht 34,8 % aller Arbeitslosen. Damit gelten diese Personen nach der offiziellen Definition als Langzeitarbeitslose. Zahl und Anteil der Langzeitarbeitslosen an allen Arbeitslosen haben sich vor allem in den Jahren zwischen 2001 und 2006 stark erhöht. 2006 wurden knapp 1,9 Mio. Langzeitarbeitslose registriert, was einem Anteil von rund 42 % an allen Arbeitslosen entsprach. Seit 2007 ist – im Rahmen des allgemeinen Abbaus der Arbeitslosigkeit – ein Rückgang der Langzeitarbeitslosigkeit zu verzeichnen. Die Zahl der Arbeitslosen insgesamt ist aber stärker gesunken als die Zahl der Langzeitarbeitslosen. Die Anteilswerte haben immer noch ein hohes Niveau, sie schwanken seit 2010 zwischen 33 % und 37 % (vgl. Abbildung V.16).

442

Arbeit und Arbeitsmarkt

Abbildung V.16 Langzeitarbeitslose 1993 – 2018 46,0

34,8

900.745

813.409

35,6

993.073

1.076.752

1.069.721

1.046.635

1.140.368

Langzeitarbeitslose (linke Achse)

36,9 37,2

36,3

35,9

1.068.130

1.326.540

1.138.132

1.864.491

33,3

37,2

36,1

35,2

1.733.026

1.758.920

1.521.410

1.369.388

1.354.166

1.530.453

36,2

34,8 33,7

1.454.189

1.195.933

1.158.358

1.124.872

950.308

30,2

1.599.270

31,1

27,8

1.466.983

31,3

35,1

37,3

33,5

38,4

37,4

1.680.945

37,4

Anteil der Langzeitarbeitslosen an allen Arbeitslosen in %

40,7

1.039.281

41,6

1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018

1) Langzeitarbeitslosigkeit: bisherige Dauer der Arbeitslosigkeit länger als 12 Monate Quelle: Bundesagentur für Arbeit (zuletzt 2019), Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung.

Diese Werte dürften die Situation noch unterzeichnen, denn Unterbrechungen der Arbeitslosigkeit, etwa durch längere Krankheitsperioden und Zeiten der Kinder- und Angehörigenpflege, durch Weiterbildungsmaßnahmen und Kurzfristjobs zählen in der statistischen Erfassung als eine „neu beginnende“ Arbeitslosigkeit, obgleich diese Phasen keineswegs mit einer Erwerbsintegration gleichzusetzen sind. Die Chancen auf eine Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt verschlechtern sich mit zunehmender Dauer der Arbeitslosigkeit. Langzeitarbeitslosigkeit wird selbst zu einem Ausgrenzungsmerkmal in der betrieblichen Einstellungspraxis. Qualifikationen können sich über die Zeit entwerten oder veralten. Leistungsfähigkeit, Lern- und Mobilitätsbereitschaft und Stabilität des Arbeitsverhaltens werden umso mehr angezweifelt, je länger der Kontakt zur Arbeitswelt zurückliegt. Allerdings wird oft übersehen, dass es nicht „die“ Langzeitarbeitslosen gibt. Schaut man sich die Gruppe der Langzeitarbeitslosen differenzierter an, so ist zu unterscheiden zwischen denen, die zwar eine hohe Beschäftigungsfähigkeit und -bereitschaft aufweisen, aber aufgrund einer schlechten regionalen Arbeitsmarktlage schlicht keinen Einstellungserfolg haben. Auf der anderen Seite stehen Menschen mit ungünstigen persönlichen Voraussetzungen, die bereits zwei oder mehr Jahre arbeitslos sind, mit gesundheitlichen, psychischen, sozialen wie familiären Problemen zu kämpfen haben und keinen Kontakt mehr zum regulären Arbeitsmarkt finden. Sie können als „arbeitsmarktfern“ eingestuft werden. Ansätze zur Schaffung eines zweiten Arbeits-

Arbeitslosigkeit

443

marktes zielen auf genau diese Gruppe (vgl. Pkt. 8.3.7 dieses Kapitels). Schließlich sind auch jene Älteren zu nennen, die nach einer längeren Arbeitslosigkeit nur noch auf den Rentenbeginn warten. 5.3.3 Wege aus der Arbeitslosigkeit: Abgangschancen

Die Beendigung von Arbeitslosigkeit verläuft ebenso wie die Entstehung von Arbeitslosigkeit sozial selektiv. Nicht alle Arbeitslosen haben die gleichen Chancen, wieder eine Erwerbstätigkeit aufzunehmen. Vielmehr unterscheiden sich die Chancen nach sozialen, personenbezogenen Merkmalen von Arbeitslosen wie Alter, Geschlecht, Wohnort, Dauer der Arbeitslosigkeit und Qualifikation. Welche Merkmale und Merkmalskombinationen Arbeitslose vorweisen, hat für die betriebliche Einstellungspraxis eine Signalfunktion. Junge, ledige, gut qualifizierte und kurzfristig Arbeitslose haben in der Regel günstigere Chancen. Diesem betrieblichen Selektionsprozess kann auch die öffentliche Arbeitsvermittlung nur begrenzt entgegenwirken, da sie sich letztlich immer an den betrieblichen Interessen ausrichten muss. Zum anderen unterscheiden sich Arbeitslose je nach sozialen Benachteiligungskriterien auch darin, welche individuellen Bewältigungsressourcen ihnen zur Verfügung stehen, um Hilfsangebote zu suchen, in Anspruch zu nehmen und durch Eigenbemühungen die Arbeitslosigkeit zu beenden. So nimmt z. B. mit der Dauer der Arbeitslosigkeit und der erfolglosen Bewerbung die Zuversicht ab, irgendwann wieder erwerbstätig sein zu können. Im Jahr 2018 wurden 7,4 Mio. Abgänge von Arbeitslosen registriert. Aber nur rund einem Drittel der Betroffenen (33,7 %) gelang die Wiedereinmündung in eine Beschäftigung, davon zu knapp 31 % in den ersten Arbeitsmarkt (vgl. Abbildung V.17). Der Beschäftigungsaufbau ist also nur zu einem kleineren Teil durch die Einstellung von Arbeitslosen erfolgt, wichtiger sind Einstellungen von Personen aus der stillen Reserve, von jungen Menschen nach Beendigung ihrer Ausbildung und von Migrant:innen. Hinzu kommt, dass die Älteren später aus dem Berufsleben ausscheiden. Nur ein Teil der neuen Stellen wird durch die Arbeitsagenturen und Jobcenter vermittelt. Ohnehin werden längst nicht alle offenen und zu besetzenden Stellen der öffentlichen Arbeitsvermittlung gemeldet. Die Agenturen für Arbeit und die Jobcenter stehen in Konkurrenz zu anderen Rekrutierungsmöglichkeiten wie Jobbörsen im Internet, persönlichen Kontakten über Beschäftigte und Kunden, Stellenanzeigen in der Presse usw. Von größerer Bedeutung als die Übergänge in Beschäftigung sind mit etwa 40 % die Abgänge in die Nicht-Erwerbstätigkeit. Dazu zählen Arbeitsunfähigkeit, Rentenbeginn oder auch die Entfernung aus der Statistik wegen fehlender Verfügbarkeit und Mitwirkung. Mit 25,9 % schlagen die Abgänge in unterschiedliche bildungs- und arbeitsmarktpolitische Fördermaßnahmen zu Buche. Besonders schlechte Wiedereingliederungschancen in ein Beschäftigungsverhältnis auf dem ersten Arbeitsmarkt ha-

444

Arbeit und Arbeitsmarkt

Abbildung V.17 Abgang aus Arbeitslosigkeit nach Abgangsgründen 2018

betriebliche/außerbetriebliche Ausbildung: 1,3%

Schule/Studium/schulische Berufsausbildung: 1,3%

Ausbildung/Fördermaßnahme: 23,3%

Sonstiges / keine Angabe: 6,4% sonstige Nichterwerbstätigkeit: 1,8%

Abgang insgesamt: 7.387.897

Beschäftigung: 33,7%

Beschäftigung am 1. Arbeitsmarkt: 30,6%

fehlende Verfügbarkeit bzw. Mitwirkung: 10,5% Arbeitsunfähigkeit: 24,3% 2. Arbeitsmarkt: 1,5% Selbstständigkeit: 1,6% Wehr- bzw. Zivildienst: 0,2%

Quelle: Bundesagentur für Arbeit (2018), Arbeitslose nach Rechtskreisen.

ben Arbeitslose, die sich im Rechtskreis des SGB II befinden (vgl. Pkt. 5.3.3 dieses Kapitels). Aber auch dann, wenn die Arbeitslosigkeit durch eine Wiedereingliederung in das Erwerbsleben beendet wird, ist dies nicht gleichzusetzen mit einer dauerhaften Reintegration. Phasen der Arbeitslosigkeit, und hier insbesondere von Langzeitarbeitslosigkeit, führen zu einem tiefen Einschnitt in die Erwerbsbiografie, der bei erfolgter Beschäftigungsaufnahme nachwirken und Anlass für erneute Arbeitslosigkeit sein kann. Geraten Unternehmen in eine Krise, sind es häufig die zuletzt Eingestellten, die nach dem Prinzip „Last in – First out“ als erste wieder entlassen werden. 5.4

Strukturierung der Arbeitslosigkeit

Arbeitslosigkeit ist keine Randerscheinung. Ein Großteil der Bevölkerung hat die Situation der Arbeitslosigkeit irgendwann im Lebenslauf persönlich als unmittelbar Betroffene oder im näheren Verwandten- oder Bekanntenkreis erfahren. Allerdings sind nicht alle Arbeitnehmer:innen gleichermaßen von dem Risiko betroffen, arbeitslos zu werden und zu bleiben. Die Binnenstruktur der Arbeitslosen weicht von der Binnenstruktur der Erwerbstätigen deutlich ab. Die Beschäftigungschancen und -risiken sind ungleich verteilt. Diese Strukturierung der Arbeitslosigkeit äußert sich in

Arbeitslosigkeit

• • • •

445

den großen regionalen Ungleichgewichten, der Ungleichverteilung des Beschäftigungsrisikos nach demografischen Merkmalen (Alter, Geschlecht, Nationalität), Qualifikationunterschieden sowie in den Unterschieden zwischen den Rechtskreisen des SGB II und SGB III.

5.4.1 Regionen

Von jeher sind die verschiedenen Regionen Deutschlands in Abhängigkeit von der Wirtschaftsstruktur unterschiedlich von Arbeitslosigkeit betroffen. Überlagert werden diese regionalen Unterschiede von solchen zwischen den alten und neuen Bundesländern. Gut 30 Jahre nach der Wiedervereinigung haben sich diese Unterschiede jedoch stark eingeebnet. Noch 2005 lag die Arbeitslosenquote in den neuen Ländern mit 20,6 % fast doppelt so hoch wie die in den alten Ländern mit 11 %. Ende 2018 beziffern sich die Quoten auf 7,6 % und 5,3 %. Markanter sind hingegen die Abweichungen zwischen den prosperierenden Regionen und Städten im Süden und Südwesten Deutschlands einerseits und jenen Regionen und Städten im Osten und Nordwesten andererseits, die in einer langandauernden Strukturkrise stecken. So weist im April 2019 die Stadt Gelsenkirchen

Abbildung V.18 Ausgewählte Städte und Landkreise mit niedriger und hoher Arbeitslosigkeit, Arbeitslosenquoten und Zahl der Arbeitslosen, April 2019 Gelsenkirchen

13,8

Bremerhaven

13,5

Pirmasens

12,1

Duisburg

12,0

Wilhelmshaven

11,3

Uckermark

10,9

Bremen-Stadt

10,1

Berlin

9,0

Frankfurt/Oder

8,5

Leipzig-Stadt

7,0

Hamburg

6,8

Erfurt

6,4

Dresden

6,3

Frankfurt/Main

5,5

Stuttgart

4,4

Sonneberg/Thürg.

4,0

München-Stadt

2,4

Donau-Ries

1,6

Eichstädt

1,4

Deutschland

5,5 0

2

4

6

Quelle: Bundesagentur für Arbeit (2019), Arbeitsmarkt in Zahlen.

8

10

12

14

446

Arbeit und Arbeitsmarkt

eine Arbeitslosenquote von 13,8 % aus, der Kreis Eichstätt (Bayern) dagegen nur von 1,4 %. Es gibt also Massenarbeitslosigkeit auf der einen Seite und Vollbeschäftigung auf der anderen Seite. Zwischen diesen Extremen öffnet sich ein breites Band regional/lokal unterschiedlicher Arbeitslosenquoten. Auffällig ist dabei, dass es nicht nur in den neuen Bundesländern (so 10,9 % im Landkreis Uckermark), sondern auch in den alten Bundesländern Regionen mit einer sehr hohen Arbeitslosigkeit bzw. Arbeitslosenquoten gibt – so neben Gelsenkirchen auch Bremerhaven (13,5 %) oder Duisburg (12,0 %). Bei den in der Abbildung V.18 ausgewiesenen Regionen mit sehr niedrigen Arbeitslosenquoten ist zu berücksichtigen, dass es sich hier um Landkreise mit einer geringen Bevölkerungs- und Erwerbstätigenzahl handelt. Insofern liegt auch die absolute Zahl der Arbeitslosen hier sehr niedrig Die regional unterschiedlichen Arbeitsmarktrisiken sind in erster Linie strukturbedingt. Sie hängen stark ab von den jeweiligen ökonomischen Verhältnissen, die insbesondere durch den Branchenmix, die Firmengrößen und die Qualifikationsstruktur des Arbeitsangebotes bestimmt werden. Zudem lassen sich Prozesse „kumulativer Verursachung“ feststellen, d. h. sich selbst verstärkende Prozesse: Regionen mit guter Arbeitsmarktlage tendieren zu einer positiven Beschäftigungsentwicklung und umgekehrt. 5.4.2 Demografische Merkmale: Personengruppen

Das unterschiedliche Risiko einzelner Gruppen von Beschäftigten, arbeitslos zu werden und zu bleiben, drückt sich in den verschieden hohen gruppenspezifischen Arbeitslosenquoten aus. So weisen Frauen, im Unterschied zu der Situation vor der Jahrtausendwende, niedrigere Arbeitslosenquoten als Männer auf. Die Unterschiede zwischen den Geschlechtern sind aber gering. Zurückzuführen ist dies vor allem auf die Beschäftigungsgewinne von Frauen im expandierenden Dienstleistungssektor und den Bedeutungsverlust des produzierenden Gewerbes als traditionelle Domäne der Erwerbstätigkeit von Männern. Jugendliche Vergleicht man die Arbeitslosenquoten der Jüngeren mit denen der Gesamtbevölkerung, dann zeigt sich, dass die unter 25jährigen nur unterproportional von Arbeitslosigkeit betroffen sind. Selbst der steile Anstieg der Quoten im Jahr 2005 (in Verbindung mit der Einführung des SGB II) auf 12,5 % (unter 25jährige) weicht nicht von diesem Muster ab. Seitdem hat sich die Jugendarbeitslosigkeit bei den unter 25jährigen beständig verringert. In den wirtschaftlichen Krisenjahren ist die (offene) Arbeits- und Ausbildungslosigkeit von Jugendlichen und jungen Erwachsenen durch arbeitsmarkt- und bildungspolitische Maßnahmen sowohl der Bundesagentur für Arbeit als auch des Bundes und der Länder bekämpft worden. Dies hat dazu beigetragen, dass Jugendliche qualifiziert wurden oder zumindest zeitweise Beschäftigung fanden – aber auch, dass

Arbeitslosigkeit

447

Abbildung V.19 Arbeitslosenquoten ausgewählter Personengruppen 2018 6,0 15 - 25 Jahre

4,2 8,4 4,7

Deutsche

4,2

Deutschland 6,8

West Ost

5,3 Frauen

5,0 7,0 7,0

Männer

5,7 8,4 5,7

55 - 65 Jahre

7,0 8,3 14,3

Ausländer

13,5 20,9 0

5

10

15

20

Quelle: Bundesagentur für Arbeit (2019), Arbeitsmarkt in Zahlen – Arbeitsmarktstatistik.

sie in der Arbeitslosenstatistik nicht erfasst wurden. Zudem machen sich demografische Effekte entlastend bemerkbar. Die Besetzungsstärke der nachrückenden Alterskohorten geht zurück, die Zahl der Jugendlichen, die einen Arbeits- oder Ausbildungsplatz suchen, sinkt entsprechend. Dennoch darf nicht übersehen werden, dass manchen Jugendlichen der Einstieg ins Beschäftigungssystem nur in prekärer Form – über Aushilfsjobs, befristete Tätigkeiten oder (unbezahlte) Praktika – gelingt. Ältere Überproportional stark von Arbeitslosigkeit betroffen sind ältere Erwerbspersonen, fast 22 % aller Arbeitslosen sind 2018 älter als 55 Jahre (vgl. Abbildung V.20). Die Zahlen unterschätzen noch das Problem, da in der Statistik jene älteren Arbeitslosen nicht ausgewiesen werden, die in den sog. Leistungsbezug unter besonderen Voraussetzungen fallen. Diese Personen zählen nicht als arbeitslos, wenn sie nach Vollendung des 58. Lebensjahres mindestens für die Dauer von zwölf Monaten Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende bezogen haben, ohne dass ihnen eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung angeboten worden ist. Sie beziehen Arbeitslosengeld, ohne dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen zu müssen. Arbeitslosigkeit ist für Ältere in aller Regel ein langandauernder Zustand. Immer noch dient das höhere Lebensalter ganz pauschal, unabhängig von der (ungeprüften)

448

Arbeit und Arbeitsmarkt

beruflichen Leistungsfähigkeit, als negatives Selektionsmerkmal. Einstellungsbarrieren entstehen aber auch dadurch, dass die potenzielle Beschäftigungs- und Betriebszugehörigkeitsdauer Jüngerer allein auf Grund ihres Lebensalters höher ist als die der Älteren. Aus betrieblicher Sicht „rechnen“ sich sowohl eine (kostenaufwendige) Neueinstellung als auch betriebliche Einarbeitungs- und Qualifizierungsmaßnahmen für Ältere oftmals nicht, da die Nutzungsdauer solcher „Humankapitalinvestitionen“ vielfach nur auf wenige Jahre beschränkt ist, und zwar insbesondere für Arbeitslose im rentennahen Alter. Hinzu kommt, dass ein Großteil der Älteren, die sich arbeitslos melden, weitere Risikofaktoren aufweisen, nämlich gesundheitliche Beeinträchtigungen bis hin zu Behinderungen und eine fehlende Berufsausbildung. Die Arbeitslosigkeit Älterer wird dadurch gemindert, dass Altersrenten vor Erreichen der Regelaltersgrenze in Anspruch genommen werden können. Diese Möglichkeit ist in den letzten Jahren durch die weitgehende Abschaffung bzw. Einschränkung von vorgezogenen Altersgrenzen, flankiert durch Rentenabschläge, allerdings deutlich begrenzt worden. Ausländer:innen Die ausländische Bevölkerung hat seit jeher mit größeren Problemen am Arbeitsmarkt zu kämpfen als die deutsche Bevölkerung. Das gilt für die „eingesessenen“ Aus-

Abbildung V.20 Ältere Arbeitslose (55 bis unter 65 Jahre) 2001 – 2018, absolut und in % aller Arbeitslosen 21,6

18,5

18,2

20,0

20

16

14,9

300.000

14

506.267

529.002

12

549.032

568.491

580.314

570.736

544.491

542.577

13,1

495.805

12,6

473.913

400.000

12,7

427.134

11,0

581.702

12,0

568.264

12,2

483.274

500.000

14,5

531.889

604.279

600.000

19,4

20,6

ältere Arbeitslose in % aller Arbeitslosen (rechte Achse)

16,4

714.109

700.000

18,8

20,4

18

800.000

532.004

900.000

20,3

8 6

ältere Arbeitslose absolut (linke Achse)

200.000

4

100.000 0

10

2

2001

2002

2003

2004

2005

2006

2007

2008

2009

2010

2011

2012

Quelle: Bundesagentur für Arbeit (zuletzt 2019), Arbeitslosigkeit im Zeitverlauf.

2013

2014

2015

2016

2017

2018

0

Arbeitslosigkeit

449

länder:innen, die ja zum Teil schon in der dritten Generation in Deutschland leben, und erst recht für neu Zugewanderte. In den Jahren seit 2014 ist die Zahl der Beschäftigten ohne deutsche Nationalität aufgrund der hohen Zuwanderung aus den nichteuropäischen Asylherkunftsländern sowie aus vielen EU-Staaten kräftig angestiegen. Angestiegen ist aber auch die Zahl der Arbeitslosen. Im Jahr 2018 waren rund 626 000 Ausländer:innen arbeitslos gemeldet und stellten 26,7 % % aller Arbeitslosen. Die Arbeitslosenquote unter der ausländischen Bevölkerung betrug 14,3 % und war damit mehr als dreimal so hoch wie die der deutschen Erwerbspersonen (4,7 %). Die hohe Arbeitslosigkeit von Ausländer:innen beruht zum einen auf ihrer im Schnitt geringeren schulischen, beruflichen und sprachlichen Qualifikation. Sie partizipieren weniger an Fort- und Weiterbildungsmaßnahmen und stehen vor dem Problem der mangelnden Anerkennung ausländischer Abschlüsse durch die deutschen Behörden. Des Weiteren ist zu beachten, dass ausländische Beschäftigte stark in Wirtschaftszweigen tätig sind, die vom Strukturwandel und Beschäftigungsabbau besonders betroffen sind (so verarbeitendes Gewerbe und Baugewerbe) oder die eine geringe Beschäftigungsstabilität aufweisen (so Gastgewerbe, Logistik, Handel, private Haushalte, Arbeitnehmerüberlassung). Nicht zuletzt erschweren Vorurteile und offene wie versteckte Diskriminierungen den Zugang zu einer Beschäftigung. EU-Migranten und vor allem die schon lange hier lebenden Ausländer:innen haben es deutlich leichter, eine Beschäftigung zu finden, als Fluchtmigranten. Deren Kontakt zum Arbeitsmarkt beginnt mit der Arbeitslosmeldung und ihre Erwerbsintegration wird aufgrund der oftmals fehlenden Sprachkenntnisse und formalen Qualifikationen längere Zeit in Anspruch nehmen. Gering Qualifizierte Ein außerordentlich hohes Risiko, arbeitslos zu werden und zu bleiben, haben Personen, die keinen beruflichen Abschluss vorweisen können. Für diese Gruppe erreicht die Arbeitslosenquote einen Wert von 19,1 %. Den Gegenpol stellen Akademiker:innen dar, deren Arbeitsmarktposition soweit gesichert ist, dass für diese Gruppe mit einer Arbeitslosenquote von lediglich 2,3 % fast von Vollbeschäftigung gesprochen werden kann. Auch bei einer sich verschlechternden Lage auf dem Arbeitsmarkt sind (Fach-)Hochschulabsolventen nur in geringem Ausmaß vom Beschäftigungsrückgang betroffen (vgl. dazu im Einzelnen Kapitel „Qualifikation“, Pkt. 9.3). Im langfristigen Trend haben sich die Arbeitsmarktchancen bei den oberen und unteren Qualifikationsebenen deutlich auseinanderentwickelt (vgl. Abbildung V.21). Der Wegfall von Einfacharbeitsplätzen im produzierenden Gewerbe und der Beschäftigungsrückgang von An- und Ungelernten im Zuge des wirtschaftlichen Strukturwandels haben wesentlich dazu beigetragen, dass sich die Beschäftigung auf Arbeitnehmer:innen mit mittleren und höheren Qualifikationen und die Arbeitslosigkeit auf Arbeitnehmer:innen ohne Qualifikationen konzentriert.

450

Arbeit und Arbeitsmarkt

Abbildung V.21 Qualifikationsspezifische Arbeitslosenquoten 1991 – 2018, in % aller Erwerbspersonen gleicher Qualifikation 26,9

26

25 22,2

21,9

20,3

20,1

19,7

20

17,4 14,5 11,8

11,3

6,0

5,6

5,3 5,0

3,4 2,0

2017

2016

2015

2014

2013

2,5

2011

2007

2006

2005

2004

2003

2002

2,5 2,5

2001

2000

1998

1999

1997

1996

1995

1994

1993

1992

1991

6,6

4,1

4,0 2,9

0

6,9

2010

4,1

4,0

8,4

8,1

7,3 5

7,7

Arbeitslose insgesamt Lehr-, Fachschulabschluss Hoch-, Fachhochschulabschluss

2018

9,7

9,3

6,9

2012

9,1

2009

10

9,6

2008

15

ohne Berufsabschluss

Quelle: Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit: Aktuelle Daten und Indikatoren (11/2019).

5.5

Fachkräftemangel trotz Arbeitslosigkeit ?

Da sich die zukünftige Entwicklung der konjunkturellen Lage in Deutschland, in Europa und in der Welt nicht verlässlich abschätzen lässt, ist es nur schwer möglich, mittel- und längerfristige Prognosen über die Entwicklung der Arbeitsnachfrage und damit über Höhe und Struktur der Arbeitslosigkeit zu treffen. Auch besteht Unsicherheit über die Arbeitsmarkteffekte neuer Technologien, insbesondere hinsichtlich der Folgewirkungen der Digitalisierung. Gleichwohl ist vielfach von einem Fachkräftemangel die Rede, der sich angesichts des demografisch bedingten Rückgangs des Arbeitsangebots in den nächsten Jahren noch verstärken werde. Wenn man auf die Zahlen schaut, kann von einem allgemeinen Arbeitskräftemangel (noch) keine Rede sein. Im Bundesdurchschnitt bewegt sich 2018 die Zahl der registrierten Arbeitslosen auf dem Niveau von 1991. Von einer Situation der Vollbeschäftigung, wie sie in den Jahren des „Wirtschaftswunders“ der Nachkriegsjahre herrschte, ist Deutschland weit entfernt. Die Zahl der Arbeitslosen übersteigt die Zahl der offenen Stellen nach wie vor. Zwar hat sich das Verhältnis zwischen den beiden Größen seit 2004/2005 grundlegend verbessert, aber immer noch stehen im

Arbeitslosigkeit

451

Jahr 2018 für eine offene Arbeitsstelle rein rechnerisch 3,0 Arbeitslose zur Verfügung (vgl. Abbildung V.22). Die Relationen zwischen Arbeitslosen und gemeldeten Stellen sind allerdings nur beschränkt aussagekräftig, da es keine Meldepflicht für offene Stellen gibt und Stellenbesetzungen nur zu einem Teil über die Arbeitsagenturen vorgenommen werden. Durch die jährliche repräsentative Betriebsbefragung des IAB kann das tatsächliche Ausmaß des Arbeitskräftebedarfs genauer abgeschätzt werden. Danach gab es Ende 2017 etwa 1,2 Mio. offene Stellen, so dass sich aufgrund einer Meldequote von nur gut 50 % die Relation auf 2,1 erhöht. Aber ein Gleichgewicht zwischen Arbeitsnachfrage und Arbeitsangebot ist nicht in Sicht. Dies gilt erst recht, wenn man die anhaltend schwierige Lage in vielen Regionen und Städten berücksichtigt. Die gesamtwirtschaftlichen Daten schließen jedoch nicht aus, dass es auf berufsfachlichen Teilarbeitsmärkten anders aussieht und die Spanne zwischen unbesetzten Stellen und Arbeitsuchenden geringer ausfällt. Kommt es doch hier darauf an, dass die qualifikatorischen Anforderungen der offenen Stellen mit dem Qualifikationsprofil der Arbeitslosen übereinstimmen. Den Analysen der Bundesagentur für Arbeit ist zu entnehmen, dass es – vor allem auf den regionalen Arbeitsmärkten im Süden und Südwesten Deutschlands – bei

Abbildung V.22 Arbeitslose und gemeldete offene Arbeitsstellen 2000 – 2018 25

Verhältnis Arbeitslose : offene Stellen (rechte Achse) 20

2.340.082

2.532.837

2.690.975

2.794.664

3,5

796.427

730.551

4,9

655.490

568.743

490.310

456.975

477.528

466.288

10

6,5

6,4

359.349

300.641

389.048

423.440

354.287

255.758

206.850

269.836

374.963

434.037

2.898.388

8,4

Arbeitslose 450.063

2.950.338

2.975.821

11,4

2.896.985

8,9

8,6

3.238.421

10,8

3.414.545

15

3.258.451

12,7

3.760.072

4.487.233

4.860.880

4.381.281

4.376.795

4.061.345

3.852.564

3.889.695

21,2

5 3

offene Stellen 2000

2001

2002

2003

2004

2005

2006

2007

2008

2009

2010

2011

2012

2013

2014

2015

2016

2017

2018

0

Angebot an gemeldeten, ungeförderten Stellen am ersten Arbeitsmarkt (inklusive geringfügige Beschäftigungsverhältnissse, Praktikanten) Quelle: Statistik der Bundesagentur für Arbeit (2019), Arbeitsmarkt in Zahlen, Gemeldete Arbeitsstellen.

452

Arbeit und Arbeitsmarkt

bestimmten Berufen und Qualifikationsebenen erhebliche Probleme bei der Stellenbesetzung gibt und es aufwendig ist, geeignete Bewerber:innen zu finden. Engpässe finden sich vor allem in • • • •

einzelnen Bau- und Handwerksberufen,

MINT Berufen (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik),

der Kranken- und Altenpflege sowie der Kinderbetreuung (Erzieherinnen und Erzieher).

Gleichwohl besteht kein allgemeines Problem langandauernder Vakanzen, die zu Entwicklungshemmnissen sowie zu Produktionsausfällen und Wachstumseinbußen führen würden. Wäre dies der Fall, müsste es angesichts des Nachfrageüberhangs starke Lohnerhöhungen geben, was sich aber nicht abzeichnet. Der Rückgang von (qualifizierten) Bewerber:innen lässt sich zum Teil auf Versäumnisse in der Vergangenheit und auf die schlechten Arbeitsbedingungen in diesen Berufen zurückführen, wie am Beispiel der Altenpflege zu erkennen ist: Es wurde nur völlig unzureichend ausgebildet, und durch die Erhebung von Schulgeld kam es zu hohen Abschreckungseffekten. Zugleich ist die Tätigkeit mit mehrfachen physischen und psychischen Belastungen, ungünstigen Arbeitszeiten und einer Entlohnung verbunden, die den hohen Anforderungen nicht entspricht. Je größer nun der Pflegekräftemangel ausfällt und je mehr Stellen unbesetzt bleiben, umso höher werden die Arbeitsbelastungen des vorhandenen Personals und umso weniger attraktiv wird der Beruf (vgl. Kapitel „Pflegebedürftigkeit und Pflege“, Pkt. 11.2). Als eine Antwort auf den Fachkräftemangel stellt sich die Aufgabe, die Anstrengungen in der beruflichen Ausbildung zu verstärken Der sinkende Anteil der Unternehmen, die sich an der betrieblichen Berufsausbildung beteiligen, weist aber in die gegenteilige Richtung. Und vor allem im Hinblick auf den Rückgang des Erwerbspersonenpotenzials und der zu erwartenden Veränderungen in den beruflichen Anforderungen kommt dem Bereich der Weiterbildung eine wachsende Bedeutung zu (vgl. Kapitel „Qualifikation“, Pkt. 10). Auch die gesteuerte Zuwanderung von Fachkräften aus dem Ausland kann ein Weg sein, aktuelle und zukünftige Engpässe zu beheben. Die strengen Anforderungen an eine Zuwanderung aus Nicht-EU Ländern (inbesondere Hochschulabschluss, Begrenzung auf Engpassberufe und Vorrangprüfung) haben allerdings eher bremsend gewirkt. Die neuen, mit dem Fachkräfteeinwanderungsgesetz von 2019 verabschiedeten Regelungen, sollen hier Abhilfe schaffen. So sind Fachkräfte nicht nur Personen mit Hochschulabschluss, sondern auch solche mit einer qualifizierten Berufsausbildung. Und bei Fachkräften mit Arbeitsvertrag und in Deutschland anerkannter Qualifikation entfällt die Vorrangprüfung. Wenn man indes Fachkräfte nach Deutschland holt, ist davon auszugehen, dass viele von ihnen dauerhaft hierbleiben. Deshalb geht es auch immer um die Frage der Integration. Zugleich ist zu verhindern, dass durch die Zuwanderung gerade qualifi-

Arbeitslosigkeit

453

zierter Kräfte in den Herkunftsländern Lücken gerissen werden, die deren wirtschaftliche und soziale Entwicklung beeinträchtigen. 5.6

Arbeitslosigkeit im europäischen Vergleich

Arbeitslosigkeit ist in Europa das soziale Problem. Der Anspruch der Europäischen Union, eine Union für die Bürgerinnen und Bürger zu sein und deren Lebensbedingungen zu verbessern, bricht sich mit der Realität einer seit Jahren anhaltend hoher Unterbeschäftigung. In der EU 28 insgesamt schwankt die Arbeitslosenquote (gemessen an dem ILO-Konzept) seit fast zwei Jahrzehnten zwischen 7 und 10 % (vgl. Abbildung V.23). Verschärft hat sich das Problem der Arbeitslosigkeit seit der Banken- und Finanzkrise, die insbesondere die EU-Staaten im Süden Europas betroffen hat. Im Gefolge einer rigiden Austeritätspolitik, gemeinsam verantwortet von der EU, der Europäischen Zentralbank und dem Internationalen Währungsfonds, haben sich in diesen Ländern die Arbeitslosenzahlen und die Arbeitslosenquoten auf bislang nicht gekannte Werte erhöht. In Griechenland und Spanien wurden im Jahr 2014 Quoten von 27,5 % und 26,2 % erreicht. Seitdem hat sich die Lage nur langsam verbessert. Be-

Abbildung V.23 Arbeitslosenquoten in ausgewählten EU-Ländern 2000 – 2018 15

10

5

9,1

Frankreich

6,5

Schweden

5,1

Dänemark

4,1 3,5

Ver.Königreich Deutschland

0 30

25

20

19,5

Griechenland

15

15,4

Spanien

10

5

0

2001

2002

2003

2004

2005

2006

2007

2008

2009

2010

2011

2012

2013

2014

2015

Quelle: Eurostat (2018), Arbeitskräfteerhebung der Europäischen Union (EU-AKE/LFS).

2016

2017

10,8

Italien

7,6

Lettland

7,0

EU 28

3,9

Polen

2018

454

Arbeit und Arbeitsmarkt

sonders betroffen waren und sind Jugendliche, viele auch gut ausgebildete, die keinen Zugang zu einer Beschäftigung finden und teilweise nach Deutschland und andere europäische Länder migriert sind und. Deutschland kommt in der EU, was die Wachstumsziffern und die Arbeitsmarktperformance betrifft, eine Sonderrolle zu. Noch 2005 lag die deutsche Arbeitslosenquote über dem EU-Durchschnitt und erheblich über dem Niveau der in der Wirtschaftskraft vergleichbaren west- und nordeuropäischen Länder. 2018 hingegen, nach einem kontinuierlichen Absinken der Quote, nimmt Deutschland die niedrigste Position ein. Für diese, in der öffentlichen Debatte gern als „Beschäftigungswunder“ bezeichnete Entwicklung sind viele Faktoren verantwortlich, die an dieser Stelle nicht aufgefächert werden können. Nicht übersehen werden sollte allerdings dabei, dass die positiven Wachstums- und Beschäftigungsimpulse in Deutschland auch durch die Schwächung der anderen Staaten bewirkt wurden. Zu erwähnen sind hier in erster Linie die hohen Exporterfolge und die entsprechenden Überschüsse in der Leistungsbilanz.

6

Soziale Sicherung bei Arbeitslosigkeit: Arbeitslosenversicherung und Grundsicherung

6.1

Grundlagen

Die soziale Sicherung bei Arbeitslosigkeit ist eine zentrale Aufgabe der Sozialpolitik und durch einen Doppelcharakter gekennzeichnet: Sie garantiert nicht nur die materielle Existenzsicherung beim Ausfall des Arbeitseinkommens, sondern berührt und verändert auch die Vorgänge auf den Arbeitsmärkten. Wie kaum eine andere sozialpolitische Regelung greifen damit Art und Weise der sozialen Absicherung bei Arbeitslosigkeit in die Interessenkonflikte zwischen den Akteuren auf dem Arbeitsmarkt ein. Zugleich entstehen große finanzielle Belastungen für die öffentlichen Haushalte, wenn die Zahl der Arbeitslosen aus konjunkturellen Gründen stark ansteigt und entsprechende Mehrausgaben zu finanzieren sind. Dies erklärt auch, warum in Deutschland die gesetzliche Grundlage für die Arbeitslosenversicherung erst im Jahr 1927, also fast fünfzig Jahre nach der Bismarck’schen Sozialgesetzgebung zur Kranken-, Unfall- und Invaliditätsversicherung, eingeführt wurde. Zuvor war die Unterstützung von bedürftigen Arbeitslosen und ihren Familien Aufgabe der kommunalen (Erwerbslosen)Fürsorge. Die Schwerpunkte des in der Weimarer Republik verabschiedeten Gesetzes über die Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung (AVAVG) lagen darin, Angebot und Nachfrage nach Arbeit durch eine staatliche, unabhängige Arbeitsvermittlung auszugleichen sowie Lohnersatzleistungen bei eingetretener Arbeitslosigkeit zu gewähren. Danach hatten Arbeitslose unter bestimmten Voraussetzungen bis zu 26 Wochen Anspruch auf eine Arbeitslosenunterstützung als Versicherungsleistung. In Zeiten andauernd

Soziale Sicherung bei Arbeitslosigkeit

455

ungünstiger Arbeitsmarktlage konnte der Reichsarbeitsminister zusätzlich eine Krisenunterstützung für bedürftige Arbeitslose gewähren, deren Anspruch auf Arbeitslosenunterstützung erschöpft war, oder die sonst die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für die Arbeitslosenunterstützung nicht erfüllten. Diese Zweigleisigkeit von Versicherung und Krisenunterstützung wurde nach der Gründung der Bundesrepublik fortgesetzt. Die Arbeitslosenversicherung wurde wieder auf- und ausgebaut und an die Stelle der Krisenunterstützung trat die steuerfinanzierte, unbefristete Arbeitslosenhilfe. Die traditionelle Fürsorge, später dann als Sozialhilfe bezeichnet, hatte damit nur noch eine nachgeordnete Funktion. Die vom Bund finanzierte Arbeitslosenhilfe nahm eine Zwischenstellung zwischen einer Versicherungs- und Fürsorgeleistung ein: Sie knüpfte einerseits an einen ausgelaufenen Anspruch auf Arbeitslosengeld an und war durch Bezugnahme auf das vorhergehende Erwerbseinkommen mit einem gewissen Einkommens- und Statusschutz versehen. Andererseits waren die Leistungen unbefristet, aber in ihrer Höhe abgesenkt und einkommensgeprüft. Im Unterschied zur Sozialhilfe wurde die Leistungshöhe nicht auf den Bedarf des Haushalts bezogen, sondern als Individualleistung auf das zuletzt erzielte Nettoarbeitsentgelt (mit Ersatzraten von 53 % ohne Kinder bzw. 57 % mit Kindern). Diese Zwischenstellung kam auch darin zum Ausdruck, dass die Bedürftigkeitsprüfung (Anrechnung von Einkommen und Vermögen) und die Zumutbarkeitsanforderungen weniger streng waren als bei der Sozialhilfe. Im Jahresdurchschnitt 2004 wurden rund 2,2 Mio. Arbeitslosenhilfebezieher und 1,8 Mio. Arbeitslosengeldbezieher gezählt. Mit der Einführung des SGB II (Grundsicherung für Arbeitsuchende) im Jahr 2005 wurde die Arbeitslosenhilfe ersatzlos abgeschafft. Seitdem sind in Deutschland wieder zwei Systeme für die soziale Absicherung bei Arbeitslosigkeit zuständig: zum einen die Arbeitslosenversicherung, getragen durch Arbeitsagenturen, deren Aufgaben im SGB III (Arbeitsförderung) festgelegt sind, und zum anderen die Grundsicherung für Arbeitsuchende, getragen durch Jobcenter, die die Aufgaben nach dem SGB II wahrnehmen. Wie im Folgenden zu zeigen ist, handelt sich um zwei sehr unterschiedliche Regime, in der amtlichen Terminologie als Rechtskreise bezeichnet, die zugleich auch Maßnahmen der Beratung, Vermittlung und Arbeitsförderung durchführen. 6.2

Arbeitslosenversicherung

6.2.1 Besonderheiten und Funktionen einer Arbeitslosenversicherung

Die Arbeitslosenversicherung ist in Deutschland eine umfassende Pflichtversicherung für alle abhängig Beschäftigten, nicht einbezogen sind Beamt:innen und geringfügig Beschäftigte sowie alle Selbstständigen. Finanziert wird die Arbeitslosenversicherung (wie auch die Leistungen der aktiven Arbeitsmarktpolitik) durch Beiträge,

456

Arbeit und Arbeitsmarkt

die sich an einem Prozentsatz des Bruttoarbeitsentgelts bemessen und je zur Hälfte von den versicherten Beschäftigten und ihren Arbeitgebern gezahlt werden. Zum Ausgleich von Defiziten oder zur Finanzierung von Sonderprogrammen können steuerfinanzierte Bundeszuschüsse hinzutreten. Die Arbeitslosenversicherung weist gegenüber den anderen Sozialversicherungszweigen mehrere Besonderheiten auf: Als erstes fällt auf, dass das Verfahrens- und Leistungsrecht äußerst kompliziert ist. Das liegt daran, dass jede Arbeitslosenversicherung vor dem Problem steht, dass der Versicherungsfall „Arbeitslosigkeit“ nicht einfach objektivierbar ist. Risikoeintritt und Risikodauer sind individuell beeinflussbar – viel stärker als dies bei den Risiken Krankheit, Alter, Invalidität und Unfall der Fall ist. Daher lässt sich der Kreis der Anspruchsberechtigten nur schwer bestimmen. Denn auf der Angebotsseite des Arbeitsmarktes einerseits und der Nachfrageseite andererseits liegen nur unsichere und asymmetrisch verteilte Informationen vor. Es ist für die Arbeitsverwaltung nicht ohne weiteres ersichtlich, ob der Eintritt oder die anhaltende Dauer von Arbeitslosigkeit in einem Mangel an individueller Bereitschaft zur Arbeitsaufnahme („moral hazard“) oder in den üblichen Bedingungen des jeweiligen Arbeitsmarktes begründet sind. Dazu muss ein Verfahren der unmittelbaren bürokratischen Verhaltenskontrolle mit Kontaktzwang eingesetzt werden, in dem Leistungsmotivation und Arbeitsbereitschaft vor dem Hintergrund der stets unsicheren Einschätzung über die Entwicklung, den Umfang und die Qualitäten der Arbeitsnachfrage geprüft werden. Entsprechende Regelungen im Verfahrens- und Leistungsrecht müssen diese Schwierigkeiten berücksichtigen, um die Versichertengemeinschaft vor unwirtschaftlicher und auch missbräuchlicher Verwendung ihrer Mittel zu schützen. Gleichzeitig ist aber auch den Ansprüchen, Rechten und vor allem der Würde der von Arbeitslosigkeit Betroffenen im weitest möglichen Sinne Rechnung zu tragen. Das Risiko, arbeitslos zu werden und kein Erwerbseinkommen mehr zu beziehen, wird, noch stärker als die Lebensrisiken wie Invalidität, Alter, Unfall, systematisch unterschätzt. Gäbe es keine Pflicht zur Vorsorge, würden Erwerbstätige in weiten Teilen zugunsten ihres aktuellen Konsums auf die Zahlung von Versicherungsbeiträgen verzichten. Diese Unterschätzung des Risikos liegt auch daran, dass die Risikobetroffenheit hoch segmentiert ausfällt. Erfahrungen mit Krankheiten hat jeder Mensch, Erfahrungen mit Arbeitslosigkeit aber nicht. Viele Versicherte müssen nie oder nie länger Unterstützung der Arbeitslosenversicherung beziehen, um die zeitweisen Einkommensausfälle zu überbrücken. Dies trägt dazu bei, dass die Akzeptanz der Arbeitslosenversicherung vergleichsweise gering ausfällt, so dass die Kürzungsbereitschaft auf Seiten der politischen Entscheidungsträger als auch die entsprechende Zustimmung auf Seiten der Bevölkerung recht groß ist. An einer Versicherungspflicht führt jedoch kein Weg vorbei, wenn nicht massive Sicherungslücken und/oder ein direkter Verweis der Betroffenen auf fürsorgerechtliche Leistungen mit Bedürftigkeitsprüfung in Kauf genommen werden sollen.

Soziale Sicherung bei Arbeitslosigkeit

457

Die Absicherung bei Arbeitslosigkeit lässt sich nicht privatwirtschaftlich gestalten, etwa durch individuelle Vorsorge oder durch private Versicherungen wie zur Absicherung bei Alter, Invalidität oder Krankheit. Denn das Risiko „Arbeitslosigkeit“ ist kein einzelwirtschaftlich versicherbares Risiko im engeren Sinne. Unterbeschäftigung ist von konjunkturellen und strukturellen Faktoren bestimmt. Daher lassen sich Eintrittswahrscheinlichkeit und Schadenshöhe nicht versicherungstechnisch kalkulieren. Das wahrscheinlichkeitsstatistisch fundamentale Gesetz der großen Zahl gilt nur bei voneinander unabhängigen Einzelrisiken. Ferner würden private Versicherer entsprechend der Versicherungsmathematik risikobezogene Beiträge fordern. Erwerbstätige mit größeren Arbeitsmarktrisiken (wie z. B. in besonderen Branchen oder Ältere) hätten erhebliche Schwierigkeiten, sich gegen Arbeitslosigkeit abzusichern. Die Versicherungsprämien wären aufgrund ihrer größeren Beschäftigungsrisiken immens hoch und würden ein Großteil des verfügbaren Haushaltseinkommens binden, das in Haushalten mit „schlechten Risiken“ ohnehin gering ist. Es bestünde die Gefahr, dass insbesondere diejenigen sich nicht oder nur unzureichend absichern, die der sozialen Sicherung am meisten bedürfen. Begrenzt sind nicht zuletzt auch die Möglichkeiten einer betrieblichen Absicherung gegen den Einkommensverlust, da sich mit Abfindungen oder Sozialplanleistungen die Einkommenslücken nur kurzfristig überbrücken lassen. Für die Konstruktion der Arbeitslosenversicherung als Pflichtversicherung sprechen somit ihre: •

Sozialpolitische Funktion Durch entgeltbezogene Versicherungsleistungen werden abrupte und tiefe, bis hin zur Armut führende Einbrüche im Lebensstandard vermieden und die Stetigkeit des Einkommensflusses im Sinne einer intertemporalen Einkommensumverteilung sichergestellt. • Arbeitsmarktpolitische Funktion Statt aus einer Notlage heraus den erstbesten Arbeitsplatz, d. h. damit womöglich auch jedes qualifikationsinadäquate Arbeitsangebot, annehmen zu müssen, soll Zeit für die Arbeitsplatzsuche gewährleistet werden. Durch die materielle Absicherung der Suchphase lässt sich die Qualität der beruflichen Wiedereingliederung im Sinne einer höheren Passgenauigkeit zwischen Angebot und Nachfrage verbessern und unterwertige Beschäftigung verhindern, was zu individuellen und gesamtwirtschaftlichen Wohlfahrtsgewinnen führt. • Konjunkturpolitische Funktion Durch die Zahlung von Unterstützungsleistungen übernimmt die Arbeitslosenversicherung die Rolle eines antizyklischen, automatischen Stabilisators in einer Phase des ökonomischen Rückgangs. Indem die Leistungen zunächst an dem vorherigen Nettoeinkommen orientiert sind, bleibt die Kaufkraft der betroffenen Haushalte, wenn auch abgesenkt, erhalten. Mittelbar tragen auf diesem Wege die Lohnersatzleistungen dazu bei, die gesamtwirtschaftliche Nachfrage zu stabilisieren.

458

Arbeit und Arbeitsmarkt

• Wachstums- und strukturpolitische Funktion Das Wagnis, einen Berufsweg zu wählen, der derzeit noch nicht oder künftig voraussichtlich nicht mehr nachgefragt wird, wird durch die Aussicht gemildert, im Falle einer Fehleinschätzung nicht unmittelbar von Armut bedroht zu sein. Die Bereitschaft wächst, sich positiv auf unsichere wirtschaftliche Entwicklungen und die Erfordernisse eines schnellen Strukturwandels einzustellen, statt aus Angst und Unsicherheit heraus diesen Prozess zu blockieren. • Regionalpolitische Ausgleichsfunktion Durch die bundeseinheitliche Arbeitslosenversicherung werden angesichts der regional hoch ungleichen Verteilung von Arbeitslosigkeit jene Kommunen und Regionen entlastet, die von Strukturkrisen im besonderen Maße betroffen sind. • Verteilungspolitische Funktion Ein einheitlicher, entgelt- und nicht risikobezogener Beitrag sorgt dafür, dass Beschäftigte mit günstigen Risiken (geringere Betroffenheit von Arbeitslosigkeit) im Solidarverbund für Beschäftigte mit schlechten Risiken aufkommen. Insgesamt erzeugt die Absicherung bei Arbeitslosigkeit damit positive externe Effekte, d. h. gesellschaftlich erwünschte Wirkungen, von denen auch jene profitieren, die nicht versichert bzw. unmittelbar betroffen sind. Die Versicherungsleistung kann daher auch als ein quasi-öffentliches Gut bezeichnet werden. Auch wenn es nicht beabsichtigt wäre, könnte niemand vom Nutzen der Arbeitslosenversicherung ausgeschlossen werden. 6.2.2 Arbeitslosengeld

Auf die Versicherungsleistung Arbeitslosengeld besteht Anspruch, wenn Beschäftigungslose nach den sozialrechtlichen Kriterien „arbeitslos“ sind und die Voraussetzungen für die Anwartschaft erfüllt haben. In einer Rahmenfrist von 30 Monaten müssen mindestens zwölf Monate versicherungspflichtige Beschäftigung nachgewiesen werden. Als Beitragszeiten gewertet werden auch Zeiten der Erziehung eines Kindes bis zum dritten Lebensjahr, wenn mit der Kinderziehung eine versicherungspflichtige Beschäftigung oder der Bezug von Arbeitslosengeld unterbrochen wurde. Werden die 12 Monate der Anwartschaftszeit in der Rahmenfrist nicht erfüllt, besteht trotz der Beitragszahlung kein Anspruch auf das Arbeitslosengeld. Diskontinuierlich und/oder nur kurzfristig Beschäftigte sind danach nicht abgesichert. Höhe und Dauer des Leistungsbezugs sind entsprechend des versicherungstypischen Äquivalenzprinzips abhängig von der Dauer der Beitragszahlung und der Höhe des letzten Einkommens. Die Leistungsdauer des Arbeitslosengeldes steht zu der Anwartschaft in einem Verhältnis von 1 : 2, d. h. für einen Leistungsmonat sind zwei Beitragsmonate erforderlich. Nach einer Beschäftigungsdauer von 24 Monaten besteht also Anspruch darauf, 12 Monate lang Arbeitslosengeld zu beziehen. Die Bezugsdauer ist limitiert, die Lohnersatzleistung kann im Regelfall auch nur maximal zwölf Mo-

Soziale Sicherung bei Arbeitslosigkeit

459

nate lang bezogen werden. Für ältere Arbeitnehmer:innen gelten jedoch verlängerte Fristen. Ab einem Lebensalter von 50 Jahren können – je nach vorhandenen Anwartschaftszeiten – entweder 15 oder 24 Monate Arbeitslosengeld gewährt werden. Das Arbeitslosengeld ist eine individuelle Lohnersatzleistung. Dessen Höhe richtet sich allein nach dem vorherigen Nettoeinkommen, weder gibt es eine Einkommensprüfung und -anrechnung, noch werden die Bedarfe des Haushaltes bzw. der Familie berücksichtigt. Für die Berechnung des Anspruchs sind das versicherungspflichtige Entgelt (Bemessungsentgelt), die in Frage kommende Lohnsteuerklasse und evtl. vorhandene unterhaltspflichtige Kinder von Bedeutung. Das Bemessungsentgelt ermittelt sich aus dem durchschnittlichen Verdienst der letzten 12 Monate. Nicht berücksichtigt werden die gleichwohl beitragspflichten Mehrarbeitszuschläge und Sonderzahlungen (wie Weihnachts- und Urlaubsgeld). Die jährliche Anpassung des Bemessungsentgelts an die allgemeine Entwicklung der Bruttoarbeitsentgelte („Dynamisierung“) gibt es seit dem Jahr 2003 nicht mehr. Das Bemessungsentgelt wird um die gesetzlichen Abzüge vermindert, die bei den Arbeitnehmer:innen gewöhnlich anfallen. Abgezogen werden die Lohnsteuer, der Solidaritätszuschlag und ein Pauschalbeitrag zu den Sozialversicherungen von 21 %. Mit der Pauschalierung der Sozialversicherungsbeiträge haben Änderungen bei den Beitragssätzen zu den Sozialversicherungen keine Auswirkungen mehr auf das Arbeitslosengeld. Bezieher:innen von Arbeitslosengeld sind jedoch weiter kranken-, pflege- und rentenversichert. Nach diesem pauschalierten Nettoeinkommen (Leistungsentgelt) wird schließlich die Leistungshöhe von der Agentur für Arbeit berechnet und in Leistungstabellen ausgewiesen. Der definitive Zahlbetrag ergibt sich dann als Anteil am Leistungsentgelt. Der allgemeine Leistungssatz beträgt 60 % des pauschalierten Nettoeinkommens, Arbeitslose mit unterhaltspflichtigen Kindern erhalten einen erhöhten Leistungssatz von 67 %. Arbeitslosengeld wird auch bei Teilnahme an einer Maßnahme der beruflichen Weiterbildung und als Teilarbeitslosengeld gezahlt. Das Teilarbeitslosengeld soll den Einkommensausfall ausgleichen, der eintritt, wenn Arbeitnehmer:innen eines von mehreren versicherungspflichtigen Teilzeitbeschäftigungsverhältnissen verlieren. Ein Bestandsschutz verhindert, dass Arbeitslose, die eine schlechter bezahlte oder eine Teilzeittätigkeit aufnehmen, bei Verlust dieser neuen Beschäftigung ein niedrigeres Arbeitslosengeld erhalten. Der Bestandsschutz gilt für zwei Jahre und garantiert, dass bei der Berechnung des neuen Arbeitslosengeldes das vorherige Bemessungsentgelt zu Grunde gelegt wird. Die Leistungsbeträge, die tatsächlich ausgezahlt werden, sind eher bescheiden (vgl. Abbildung V.24). Männer erhalten im Durchschnitt (2018) 1 076 Euro/Monat, Frauen 813 Euro/Monat. Dies liegt nicht nur daran, dass die Leistungssätze (60 % bzw. 67 % des monatlichen Nettoentgelts) niedrig ausfallen, sondern vor allem daran, sich das Arbeitslosigkeitsrisiko auf Beschäftigte im unteren und mittleren Einkommenssegment konzentriert. Die erheblichen Unterschiede beim durchschnittlichen Ar-

460

Arbeit und Arbeitsmarkt

2005

2007

2016

2017

813

788

1.023

2015

769

994

2014

749

968

2013

728

938

2012

710

924

2011

697

920

2010

682

892

2009

658

845 628

618 2008

1.049

Frauen

856

891

2006

621

624

624

882

898

Männer

1.076

Abbildung V.24 Durchschnittliche Zahlbeträge von Arbeitslosengeld, Männer und Frauen, 2005 – 2018

2018

Quelle: Bundesagentur für Arbeit (zuletzt 2019), Arbeitsmarktberichte.

beitslosengeld zwischen Männern und Frauen widerspiegeln die Lohnunterschiede zwischen den Geschlechtern und die hohe Teilzeitquote von Frauen. Auch die Wahl der Steuerklasse V (mit hohen steuerlichen Belastungen und einem entsprechend geringen Nettoentgelt), die bei verheirateten Frauen häufig vorkommt (vgl. Kapitel „Einkommen“, Pkt. 3.1), führt zu niedrigen Arbeitslosengeldbeträgen. Sehr niedrige Zahlbeträge fallen bei jenen Arbeitslosen an, deren vorheriges Arbeitseinkommen nur niedrig war. Wenn schon ein Teilzeiteinkommen häufig nicht für die individuelle Existenzsicherung ausreicht, dann gilt dies erst recht für ein daraus abgeleitetes Arbeitslosengeld. Für Beschäftigte im Niedriglohnsektor allgemein und für Teilzeitbeschäftigte im Besonderen kann dies bedeuten, dass die Leistungshöhe nicht ausreicht, um den Einkommensbedarf der Familien zu decken. Dann muss – bei der Bedürftigkeit des Haushaltes – die Versicherungsleistung Arbeitslosengeld durch die Grundsicherungsleistung Arbeitslosengeld II aufgestockt werden. Im zeitlichen Verlauf seit 2005 haben sich die durchschnittlichen Zahlbeträge des Arbeitslosengelds nur schwach erhöht, bei den Frauen etwas mehr als bei den Männern. Da in diesem Zeitraum die durchschnittlichen Nettolöhne stärker angestiegen sind, deutet dies darauf hin, dass vermehrt Personen mit einem nur niedrigen Arbeitseinkommen arbeitslos geworden sind.

Soziale Sicherung bei Arbeitslosigkeit

461

6.2.3 Zumutbarkeit und Sperrzeiten

Zumutbarkeit von vermittelten Beschäftigungen Das Interesse von Arbeitslosen, ihren Vorstellungen entsprechend vermittelt zu werden und einen möglichst umfassenden Einkommens- und Statusschutz zu erhalten, muss abgewogen werden mit dem Interesse der Gesamtheit der Beitragszahlenden. Aus Sicht der Beschäftigten, die über ihre Beiträge Lohnersatzleistungen für prinzipiell Arbeitsfähige finanzieren, müssen Arbeitslose Maßstäbe zumutbarer beruflicher Belastungen akzeptieren, die allgemeinen Gerechtigkeitsvorstellungen entsprechen. So wäre es nicht verständlich, wenn Arbeitslose eine freie Stelle nur deswegen ablehnen könnten, weil die Lage der Arbeitszeit oder die Dauer der Wegezeit nicht ihren Vorstellungen entspricht. Dieser Interessenausgleich erfolgt durch die Bestimmung von Zumutbarkeitskriterien. Für die Empfänger:innen von Arbeitslosengeld regelt das SGB III, welche Beschäftigung zumutbar ist. Danach sind alle Beschäftigungen zumutbar, die Arbeitnehmer:innen ausüben können und dürfen. Einen Berufsschutz gibt es nicht (mehr). Lediglich bei der Höhe des Arbeitsentgeltes und den zumutbaren Fahrtzeiten gelten abgestufte Schutzregelungen: • • • • •

In den ersten drei Monaten der Arbeitslosigkeit ist ein um 20 % vermindertes Bruttogehalt zumutbar. In den folgenden drei Monaten muss eine Kürzung um 30 % hingenommen werden. Ab dem siebten Monat sind alle Beschäftigungen zumutbar, wenn das daraus erzielte Nettoeinkommen abzüglich von notwendigen Aufwendungen (wie Fahrtkosten) die Höhe des Arbeitslosengeldes nicht unterschreitet. Fahrtzeiten sind zumutbar, wenn diese bei einer Arbeitszeit von mehr als sechs Stunden insgesamt zweieinhalb Stunden betragen. Eine Beschäftigung darf nicht deshalb abgelehnt werden, weil sie befristet ist oder eine doppelte Haushaltsführung erforderlich macht.

Sperrzeiten bei versicherungswidrigem Verhalten Wird von der Agentur für Arbeit eine Sperrzeit verhängt, dann ruht der Anspruch auf Arbeitslosengeld. Für die Dauer der Sperrzeit werden dann keine Lohnersatzleistungen gezahlt. Folgende Tatbestände lösen eine Sperrzeit aus: • Arbeitsaufgabe: eigene Auflösung des Beschäftigungsverhältnisses (z. B. durch Eigenkündigung oder Aufhebungs- oder Abwicklungsvertrag zwischen Arbeitgeber und Beschäftigten) oder arbeitgeberseitige Kündigung nach arbeitsvertragswidrigem Verhalten; • Arbeitsablehnung: Ablehnung einer von der Agentur für Arbeit angebotenen zumutbaren Beschäftigung oder Verhinderung der Anbahnung oder des Zustandekommens eines neuen Beschäftigungsverhältnisses;

462

Arbeit und Arbeitsmarkt

• unzureichende Eigenbemühungen vor allem bei der Arbeitssuche; • Ablehnung oder Abbruch einer beruflichen Eingliederungsmaßnahme oder eines Integrations- oder Deutschsprachkurses; • Meldeversäumnis oder verspätete Arbeitssuchendmeldung: Personen, deren Arbeits- oder Ausbildungsverhältnis endet, sind verpflichtet, sich spätestens drei Monate vor dessen Beendigung persönlich arbeitsuchend zu melden. Eine Sperrzeit tritt nicht ein, wenn Arbeitslose für ihr Verhalten einen wichtigen Grund belegen können. Die Regelsperrzeit umfasst je nach „versicherungswidrigem Verhalten“ bis zu 12 Wochen. Bei unzureichenden Eigenbemühungen wird das Arbeitslosengeld zwei Wochen und bei Meldeversäumnissen eine Woche lang nicht gezahlt. Sperrzeiten haben Auswirkungen auf die gesamte Anspruchsdauer, denn sie werden auf die Zeiten des Anspruchs auf Arbeitslosengeld angerechnet. Erreichen mehrere Sperrzeiten die Summe von mindestens 21 Wochen, erlischt der Anspruch auf Arbeitslosengeld. Während der Sperrzeit zahlt die Agentur für Arbeit keine Beiträge zur Sozialversicherung. Arbeitslose müssen sich deshalb zumindest in ihrer Krankenkasse freiwillig weiterversichern, wollen sie nicht ohne Krankenversicherungsschutz bleiben. In jedem Fall haben Arbeitnehmer:innen das Recht, Widerspruch gegen eine verhängte Sperrzeit bei der Agentur für Arbeit einzureichen und die Aufhebung oder Reduzierung der Sperrzeit zu verlangen. Arbeitslose mit Sperrzeiten oder nach Verlust des Anspruchs auf Arbeitslosengeld können Arbeitslosengeld II beantragen, um zumindest das sozioökonomische Existenzminimum zu gewährleisten. Allerdings reduziert sich die Hilfe je nach Anlass für das Versagen der Leistung entsprechend den Regelungen für Bezieher:innen der Grundsicherung für Arbeitssuchende. Auf diese Weise erfahren Beziehende von Arbeitslosengeld eine doppelte Einkommensminderung: Nicht nur verlieren sie (befristet) die lohnbezogene Unterstützung, sondern die alternativen Leistungen werden zudem noch nicht einmal auf der Regelhöhe des sozioökonomischen Existenzminimums gewährt. Im Jahr 2018 entfielen auf gut 2,1 Mio. neue Leistungsempfänger von Arbeitslosengeld rund 800 000 Sperrzeiten. Aus dieser Relation errechnet sich eine Sperrzeitenquote von 37,1 %. Demgegenüber lag die Sperrzeitenquote 2004 noch bei 9,1 %. Wie aus der Abbildung V.25 ersichtlich, hat sich seitdem – bei einem Rückgang der Leistungsempfänger – die Quote laufend erhöht. Die Zunahme der Sperrzeitenquote ist in erster Linie auf die gesetzlichen Neuregelungen des Sperrzeitenrechts zurückzuführen. So wurden im Jahr 2005 „Meldeversäumnisse“ sowie „unzureichende Eigenbemühungen“ und im Jahr 2006 „verspätete Arbeitsuchendmeldungen“ als zusätzliche Tatbestände in das SGB III aufgenommen.

Soziale Sicherung bei Arbeitslosigkeit

463

Abbildung V.25 Sperrzeitenquoten 2004 – 2018, Anteil der Sperrzeiten an den Arbeitslosengeld-Zugängen in % 37,1%

4.053.386

Sperrzeitenquote rechte Achse (in %)

35

33,5%

3.208.674

3.485.970

28,5%

27,6%

28,8%

29,8% 28,1%

27,8%

30,4%

30

20

2.143.622

2.203.190

2.299.770

2.361.824

2.447.703

2.493.194

2.467.489

2.526.593

2.598.148

2.557.580

18,0%

25

2.778.434

2.928.004

26,3%

25,0%

ALGI-Zugänge

15

10

9,1%

797.066

810.429

769.480

718.813

718.298

701.063

734.600

728.223

765.497

843.071

2007

741.115

2006

639.222

2005*

526.911

261.134*

367.578 2004

5

Sperrzeiten 2008

2009

2010

2011

2012

2013

2014

2015

2016

2017

2018

0

Quelle: Bundesagentur für Arbeit (zuletzt 2019), Arbeitsmarktbericht und eigene Berechnungen.

6.2.4 Organisation und Finanzierung der Arbeitslosenversicherung und der Leistungen nach dem SGB III

Mit der praktischen Durchführung der Arbeitslosenversicherung und der Leistungen nach dem SGB III ist die Bundesagentur für Arbeit beauftragt. Die Aufsicht über die BA führt das Bundesarbeitsministerium. Sie gliedert sich in • • •

die Zentrale auf der oberen Verwaltungsebene mit Sitz in Nürnberg, die zehn Regionaldirektionen auf der mittleren Verwaltungsebene und die 178 Agenturen für Arbeit mit ihren rund 660 Geschäftsstellen auf der örtlichen Verwaltungsebene.

Der Bundesagentur für Arbeit ist als eine Abteilung das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) angegliedert, das vielfältige empirisch-statistische Analysen und theoretische Untersuchungen durchführt und dadurch Grundlagen für die arbeitsmarktpolitische Beratung und Entscheidungsfindung schafft. Die Bundesagentur ist nicht Bestandteil der allgemeinen Staatsverwaltung, sondern gehört als bundesunmittelbare Körperschaft des öffentlichen Rechts zum Be-

464

Arbeit und Arbeitsmarkt

reich der mittelbaren Staatsverwaltung. Sie zählt zu den überregionalen Versicherungsträgern und ist mit der Kompetenz zur Selbstverwaltung ausgestattet. Außer dem Vorstand sind alle Organe paritätisch zu je einem Drittel aus Vertretern der Arbeitnehmer:innen, der Arbeitgeber und der öffentlichen Körperschaften besetzt. An der Spitze der BA steht der hauptamtliche Vorstand, der die BA leitet, deren Geschäfte führt, sie nach außen sowie (außer-)gerichtlich vertritt und nicht zuletzt die Richtlinien für die Führung der Verwaltungsgeschäfte erlässt. Der Vorstand besteht aus drei Mitgliedern, einem/r Vorsitzenden, der/die vom Bundesarbeitsministerium benannt wird, und zwei weiteren Mitgliedern. Der Verwaltungsrat ist das Selbstverwaltungsorgan auf Bundesebene. Er überwacht den Vorstand und die Verwaltung, beschließt die Satzung und erlässt die Anordnungen nach dem SGB III. Ferner ist er zuständig für die Abgrenzung der Bezirke der Regionaldirektionen und die Einrichtung von besonderen Dienststellen. Der Verwaltungsrat besteht aus 21 Mitgliedern. Auch die Regionaldirektionen und Agenturen für Arbeit sind mit eigenen Selbstverwaltungsorganen ausgestattet, den Verwaltungsausschüssen. Sie wirken bei der Erfüllung der Aufgaben mit. Die Verwaltungsausschüsse bei den Regionaldirektionen (höchstens 27 Mitglieder) sind u. a. zuständig für die Abgrenzung der Agenturen für Arbeit. Bei den örtlichen Agenturen sind die Verwaltungsausschüsse (höchstens 21 Mitglieder) insbesondere zuständig für die Aufteilung der Mittel, die für die Ermessensleistungen der aktiven Arbeitsförderung veranschlagt sind. Die Mitglieder der Selbstverwaltung werden nicht wie in den anderen Sozialversicherungsträgern gewählt, sondern auf Vorschlag der an der Selbstverwaltung beteiligten Gruppen (Gewerkschaften, Arbeitgeber und öffentliche Körperschaften) berufen. Die Autonomie der Selbstverwaltung ist begrenzt. Zwar nimmt die Bundesagentur hoheitliche Aufgaben unter staatlicher Aufsicht wahr. Haushalt, Satzung und Anordnungen bedürfen jedoch der Genehmigung durch die Bundesregierung. In der Praxis heißt dies, dass die Bundesregierung – auch gegen den Willen der Selbstverwaltung – Leistungskürzungen durchsetzen kann und somit entscheidenden Einfluss auf die arbeitsmarktpolitische Aufgabenerfüllung nimmt. So initiiert sie z. B. Gesetzesänderungen oder beschließt Anordnungen, die die Inanspruchnahme arbeitsmarktpolitischer Maßnahmen festlegen. Die Bundesagentur für Arbeit ist mit etwa 96 000 Mitarbeiter:innen (2018) eine der größten Behörden in Deutschland und der größte Arbeitgeber des Bundes. Die Mehrzahl der Beschäftigten konzentriert sich auf die örtlichen Agenturen. Finanzierung Die Finanzierung der Aufgaben der BA erfolgt im Wesentlichen durch Beiträge. Hinzu kommen Umlagen (Winterbeschäftigung, Insolvenzgeld) und fallweise Zuschüsse des Bundes. Den größten Finanzierungsanteil stellten im Jahr 2017 mit rund 86 % die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung, gefolgt von Verwaltungskostenerstattungen des Bundes für die Durchführung der Grundsicherung für Arbeitssuchende mit

Soziale Sicherung bei Arbeitslosigkeit

465

knapp 9 % und den Umlagen mit knapp 4 %. Nicht enthalten in den Einnahmen der

BA sind die Mittel für die Leistungen nach SGB II, die unmittelbar vom Bund getra-

gen werden. Die Beiträge beziehen sich auf die Bruttoeinkommen der versicherungspflichtigen Beschäftigten und sind je zur Hälfte von den Arbeitgebern und den Beschäftigten zu zahlen. Beitragspflichtig sind grundsätzlich alle Arbeiter:innen und Angestellten, jedoch wird das Einkommen nur bis zur jeweiligen Beitragsbemessungsgrenze in der Rentenversicherung (2020: alte Bundesländer 6 900 Euro, neue Bundesländer 6 450 Euro) (vgl. Kapitel „Ökonomische Grundlagen und Finanzierung“, Tabelle 2.4) berücksichtigt. Nicht versicherungspflichtig sind Personen in einer geringfügigen Beschäftigung. Auch eine geringfügige Nebenerwerbstätigkeit ist in der Arbeitslosenversicherung versicherungsfrei. Nicht versicherungspflichtig sind überdies Beamt:innen und Selbstständige. Das SGB III sieht zwei Umlagen vor, mit denen eine (Re)Finanzierung bestimmter Leistungen sichergestellt werden soll: Die Winterbeschäftigungsumlage, mit deren Mitteln verschiedene Leistungen in der Bauwirtschaft wie z. B. das Wintergeld, das Winterausfallgeld und Teile der Arbeitgeberbeiträge zur Sozialversicherung finanziert werden. Die Umlage wird von den Arbeitgebern des Baugewerbes erbracht, in deren Betrieben die ganzjährige Beschäftigung zu fördern ist. Die Umlage für das Insolvenzgeld (bis Ende 1998: Konkursausfallgeld) wird von den Unfallversicherungs-

Abbildung V.26 Beitragseinnahmen der Bundesagentur für Arbeit und Beitragssätze 2004 – 2018 in Mrd. Euro und in % 10 50

51,2 47,2

9

47,0

8

40

7 6,5%

6,5%

6,5% 32,3

30

26,5 4,2%

20

25,4 22,0

22,6

2,8%

2,8%

26,6

27,6

28,7

29,9

31,2

32,5

34,2

5

4 Beitragssatz zur BA (Arbeitslosenversicherung) rechte Achse 3

3,3%

3,0%

3,0%

3,0%

3,0%

3,0%

3,0%

3,0%

3,0% 2

10 Beitragseinnahmen in Mrd. €

0

6

2004

2005

2006

2007

1

2008

2009

2010

2011

2012

Quelle: Bundesagentur für Arbeit (zuletzt 2019), Geschäftsberichte.

2013

2014

2015

2016

2017

2018

0

466

Arbeit und Arbeitsmarkt

trägern aufgebracht. Es dient der Abgeltung von Arbeitsentgeltansprüchen der Beschäftigten im Insolvenzfall von Betrieben. Können die Ausgaben der Bundesagentur nicht durch Beiträge aufgebracht werden, ist der Bund zusätzlich verpflichtet, die fehlenden Mittel bereitzustellen (Zuschusspflicht und Defizithaftung des Bundes). Der Ausgleich wird zunächst in Form eines zinslosen Darlehens als Liquiditätshilfe bereitgestellt, die zu einem Zuschuss umgewandelt wird, wenn am Ende des Haushaltsjahres das Darlehen aus den Einnahmen und Rücklagen nicht zurückgezahlt werden kann. Der Bund trägt direkt die Kosten der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach SGB II sowie sonstige Maßnahmen, mit denen er u. a. die Bundesagentur für Arbeit beauftragt (insbesondere Sonderprogramme für besondere Zielgruppen). Tritt Massenarbeitslosigkeit ein, so gerät die Arbeitslosenversicherung sofort ins Defizit. Je mehr sich die Relation von Beitragszahlenden zu Leistungsempfänger:innen zu Lasten der Beitragszahlenden verschiebt, umso größer wird die Finanzlücke. Dieser Widerspruch zwischen prozyklischer Einnahmenentwicklung bei antizyklischem Ausgabenbedarf ist eines der Grundprobleme der umlagefinanzierten Arbeitslosenversicherung ebenso wie der aktiven Arbeitsmarktpolitik. In der Vergangenheit ist der Beitragssatz mit dem Anstieg der Arbeitslosigkeit beträchtlich angehoben worden. Während er zu Beginn der 1970er Jahre noch deutlich unter 2 % gelegen hat und in den 1980er Jahren bereits 4,6 % betrug, stieg er Anfang der 1990er Jahre, u. a. bedingt durch die hohe Arbeitslosigkeit in den neuen Ländern, vorübergehend auf 6,8 % und betrug bis zum Jahr 2006 6,5 % (vgl. Abbildung V.26). Anschließend setzt in Folge der Vebesserung der Arbeitsmarktlage ein deutlicher Rückgang des Beitragssatzes ein. Ab 2019 gilt ein Satz von 2,5 %. 6.3

Grundsicherung für Arbeitsuchende

Die Grundsicherung für Arbeitsuchende hat zwei Aufgabenbereiche. Sie sichert zum einen die Lebensführung all jener Personen (und ihrer Familienangehörigen) im Alter zwischen 16 Jahren und dem Erreichen der Regelaltersgrenze, die als erwerbsfähig gelten, aber deren Einkommen unter dem sozial-kulturellen Existenzminimum liegt. Darunter fallen Arbeitslose, aber nicht nur diese. Zu den Leistungsberechtigten zählen auch Personen, denen eine Erwerbstätigkeit zwischenzeitlich nicht möglich und zumutbar ist oder deren Erwerbseinkommen so gering ist, dass es durch Leistungen der Grundsicherung ergänzt werden muss. Im Kapitel „Einkommen“ (Pkt. 6) werden diese Einkommensleistungen der Grundsicherung sowie deren Organisation und Finanzierung im Detail dargestellt. Daneben haben die Träger der Grundsicherung die Aufgabe, die arbeitsmarktpolitischen Leistungen nach dem SGB II und ausgewählte Förderungen nach dem SGB III durchzuführen.

Soziale Sicherung bei Arbeitslosigkeit

6.4

467

Erwerbstätigkeit und Leistungsbezug: Aufstocker

Angesichts der Legaldefinition von Arbeitslosigkeit ist es nicht ausgeschlossen, dass Bezieher von Arbeitslosengeld und Arbeitslosengeld II zugleich erwerbstätig sind. So ist es den Empfänger:innen der Versicherungsleistung Arbeitslosengeld möglich, eine Nebenbeschäftigung von bis zu 15 Stunden in der Woche aufzunehmen, ohne den Status der Arbeitslosigkeit zu verlieren, wobei das erzielte Einkommen teilweise angerechnet wird. Dies gilt gleichermaßen für die Empfänger:innen von Arbeitslosengeld II. Da das SGB II nicht nur Leistungen für Arbeitslose vorsieht, sondern für erwerbsfähige Hilfebedürftige insgesamt, begrenzt sich in diesem Rechtskreis die Gruppe der erwerbstätigen Leistungsempfänger:innen, die ihre Grundsicherungsleistungen „aufstocken“ (bzw. in der amtlichen Terminologie „ergänzen“), auch nicht auf Arbeitslose. Unter den Empfänger:innen von Arbeitslosengeld II befinden sich etwa 1 Mio. Personen, das entspricht einem Viertel (25,1 %) aller erwerbsfähigen Leistungsberechtigten, die zugleich erwerbstätig sind (vgl. Abbildung V.27). Zwischen 2007 und 2014 ist der Anteil dieser Aufstocker/Ergänzer angestiegen, seitdem setzt ein verhaltener Rückgang ein. Die Regelungen im SGB II sehen diese Kombination von Grundsicherungsbezug und Erwerbstätigkeit ausdrücklich vor. Das für die frühere Sozialhilfe („Hilfe zum

Abbildung V.27 Erwerbstätige ALG II-Empfänger 2007 – 2018 in Mio. und in % aller erwerbsfähigen Leistungsberechtigten 8 29,8

29,6

29,7

7

28,6

26,4

27

30 27,5

in %

29,4 28,2

26,5 25,1

6

23,1

25

erwerbstätige ALG II-Bezieher in % aller erwerbsfähigen Leistungsberechtigten rechte Achse

5,28

20

5,01

in Mio.

5

4,91

4,89 4,62

4,44

4

4,42

4,35

4,33

4,36

4,31

3,98

15

erwerbsfähige Leistungsberechtigte, ALG II-Bezug

3

10 2

1

1,22

1,32

1,33

1,38

1,35

1,32

1,31

1,29

1,24

erwerbstätige ALG II-Empfänger 0

2007

2008

2009

2010

2011

2012

2013

2014

2015

5 1,19

2016

1,15

2017

1,07

2018

Quelle: Statistik der Bundesagentur für Arbeit (zuletzt 2019), Analyse der Grundsicherung für Arbeitsuchende.

0

468

Arbeit und Arbeitsmarkt

Lebensunterhalt“) typische „Lohnabstandsgebot“ gibt es nicht mehr. Danach sollten die Regelsätze die durchschnittlichen Nettoarbeitsentgelte unterer Lohn- und Gehaltsgruppen nicht überschreiten. Jetzt aber gilt ein umgekehrter Begründungszusammenhang. Es ist nicht länger problematisch, wenn Löhne noch unter dem Grundsicherungsniveau liegen bzw. wenn das Existenzminimum das Niveau von Niedriglöhnen überschreitet. Beschäftigungen im Niedriglohnsektor sollen vielmehr ausgeweitet werden, indem die Grundsicherung die Aufgabe übernimmt, niedrige, nicht existenzsichernde Löhne aufzustocken. Das Arbeitslosengeld II wirkt hier wie eine Lohnsubvention im Sinne von Kombilohn-Modellen – dies allerdings nur dann, wenn der Status der Bedürftigkeit erfüllt ist. In diesem Fall werden niedrige, nicht existenzsichernde Löhne aus Steuermitteln subventioniert. Das gilt gleichermaßen für die Gruppe der Selbstständigen, deren Geschäftsmodell nicht ausreicht, um ein Einkommen oberhalb der Grundsicherungsschwelle zu generieren. Das Verfahren der Aufstockung ist kompliziert und seit Verabschiedung des SGB II mehrfach geändert worden. Ein System eines absoluten Freibetrages und oberhalb dessen relativer Freibeträge soll Anreize zur Aufnahme von Erwerbsarbeit setzen. Erwerbstätige Hilfeempfänger:innen stehen sich dadurch in ihrem Gesamteinkommen immer etwas besser als nicht erwerbstätige Hilfeempfänger:innen. Leistungsberechtigt sind auch Personen bzw. Bedarfsgemeinschaften, die bereits erwerbstätig sind, aber über ein zu geringes Erwerbseinkommen verfügen. Anrechnungsfrei bleiben • die ersten 100 Euro des Erwerbseinkommens (Grundfreibetrag), • weitere 20 % des über 100 Euro aber unter 1 000 Euro liegenden Teils des Bruttoeinkommens, • weitere 10 % des über 1 000 Euro und 1 200 Euro (bei Leistungsberechtigten mit unterhaltsberechtigten Kindern: 1 500 Euro) liegenden Teils des Bruttoeinkommens. Bei den „Aufstockern“ handelt es sich um eine heterogene Gruppe: 1) Leistungsempfänger:innen, die arbeitslos gemeldet sind und ihr Arbeitslosengeld II durch die Aufnahme eines Minijobs aufstocken; 2) Nicht arbeitslose Leistungsempfänger:innen (z. B. Alleinerziehende mit kleinen Kindern, denen eine Erwerbstätigkeit nicht zugemutet wird), die ebenfalls ihre ALG II-Leistungen durch das Einkommen aus einem Minijob aufstocken; 3) Sozialversicherungspflichtig Beschäftigte, bei denen das Einkommen der Bedarfsgemeinschaft, in der sie leben, noch unter dem Grundsicherungsniveau liegt und die ihr niedriges Einkommen (aus Vollzeit- oder Teilzeitbeschäftigung) durch das Arbeitslosengeld II aufstocken; 4) Selbstständige, bei denen das Einkommen der Bedarfsgemeinschaft, in der sie leben, unter dem Grundsicherungsniveau liegt und die ebenfalls ihr Einkommen aufstocken.

Soziale Sicherung bei Arbeitslosigkeit

469

Während bei den Personen der Fälle (1) und (2) das Erwerbseinkommen das Zusatzeinkommen darstellt, das die höheren Beträge des SGB II ergänzt, ist dies in den Fällen (3) und (4) genau umgekehrt: Hier dient das Arbeitslosengeld II als Zusatzeinkommen zum höheren (aber nicht ausreichenden) Erwerbseinkommen. Mehr als die Hälfte der sozialversicherungspflichtig beschäftigten Aufstocker arbeitet vollzeitig. Die Ausbreitung von Niedriglöhnen ist ein zentraler Grund für die Hilfebedürftigkeit dieser Personengruppe. Denn das Einkommen selbst bei Vollzeitarbeit deckt in diesen Fällen das Existenzminimum der Bedarfsgemeinschaft nicht ab. Grundsicherungsempfänger:innen, die einen Minijob ausüben, können von dem 450 Euro Zuverdienst 170 Euro anrechnungsfrei behalten. Auch den Personen, die wegen ihrer besonderen Lebenslage, insbesondere wegen der Pflege und Betreuung von Kleinkindern, dem Arbeitsmarkt zwischenzeitlich nicht zur Verfügung stehen, ist es möglich, das Arbeitslosengeld II durch das anrechnungsfreie Einkommen aus einem Minijob zu ergänzen. Bei der Bemessung der Erwerbstätigenfreibeträge liegt es nahe, für höhere Beträge zu plädieren, um den Anreiz zu erhöhen, aus der Grundsicherungsbedürftigkeit heraus eine Vollzeittätigkeit oder vollzeitnahe Tätigkeit anzunehmen. Da aber Freibeträge in Folge des Gleichbehandlungsgebots auch für bereits Erwerbstätige gelten, hieße dies, dass Niedriglohnbezieher, die bisher nicht leistungsberechtigt sind, nun Ansprüche erwerben würden. Die Folge wäre ein erheblich größerer Kreis von Aufstockern. 6.5

Bedeutungsverlust der Arbeitslosenversicherung, Dominanz der Grundsicherung

Die Zweigleisigkeit der sozialen Sicherung bei Arbeitslosigkeit durch die Arbeitslosenversicherung und die Grundsicherung und die damit verbundene administrative Zuordnung der Arbeitslosen zu den Arbeitsagenturen (Rechtskreis SGB III) und Jobcentern (Rechtskreis SGB II) hat im Ergebnis dazu geführt, dass der weitüberwiegende Teil der Arbeitslosen, und insbesondere der Langzeitarbeitslosen, in den Rechtskreis des SGB II fällt. So zählen im Jahr 2018 knapp zwei Drittel (65,7 %) aller Arbeitslosen zum Bereich des SGB II (vgl. Abbildung V.28). Seit 2005 hat die Arbeitslosenversicherung (SGB III) massiv an Bedeutung verloren. Die Absicherung durch die Versicherungsleistung Arbeitslosengeld und die Zuständigkeit der Arbeitsagenturen sind damit de facto zur Ausnahme, der Verweis auf das fürsorgeförmige Arbeitslosengeld II und die Betreuung durch die Jobcenter zum Regelfall geworden. Die Verschiebung vom Versicherungs- hin zu einem Fürsorgesystem mit einem Leistungsniveau in Höhe des Existenzminimums und verschärften Bezugsbedingungen ist unübersehbar (vgl. Abbildung V.29). Dies ist in erster Linie eine Folge der Leistungsverschlechterungen, die im Zuge der sogenannten

470

Arbeit und Arbeitsmarkt

Abbildung V.28 Arbeitslose im SGB III und SGBII 2018 SGB II

SGB III

Erwerbsfähige: 4,1 Mio. Arbeitslose SGB III: 0,8 Mio.

Arbeitslose SGB II: 1,5 Mio.

Arbeitslose insgesamt: 2,340 Mio. Darunter Langzeitarbeitslose: 0,7 Mio. Erwerbsfähige

Darunter Langzeitarbeitslose: 0,08 Mio.

Nicht Erwerbsfähige: 1,7 Mio.

Quelle: Bundesagentur für Arbeit (2019), Strukturen der Grundsicherung SGB II.

Hartz-Reformen durchgesetzt worden sind. Besonders nachteilig wirken sich die Begrenzung der maximalen Bezugsdauer auf 12 Monate (für ältere Arbeitslose ab 58 Jahren verlängert sich die Bezugsdauer auf bis zu 24 Monate) und die Verkürzung der Rahmenfrist von drei auf zwei Jahre aus (ab 2020 Ausdehnung auf 2,5 Jahre). Die geringe Bedeutung der Arbeitslosenversicherung und des SGB III-Systems relativiert sich etwas, wenn man von der Querschnitt- zu einer Längsschnittbetrachtung wechselt, da ein Teil der Leistungsbeziehenden im SGB II nach dem Eintritt der Arbeitslosigkeit zunächst das System des SGB III passiert hat. Aber immerhin ein Viertel der aus einer Erwerbstätigkeit kommenden Neuzugänge in Arbeitslosigkeit landet direkt in der Grundsicherung, da entweder die Erwerbstätigkeit nicht der Versicherungspflicht unterlag oder weil, trotz der Beitragszahlung, die Rahmenfrist und die Anwartschaftszeit nicht erfüllt worden sind. Dies betrifft Schul- und Hochschulabsolvent:innen, Zugewanderte, Wiedereinsteiger in den Arbeitsmarkt oder Kurzzeitbeschäftigte. Die soziale Hierarchisierung zwischen den besser gestellten Arbeitslosen in der Arbeitslosenversicherung des SGB III und den schlechter gestellten Arbeitslosen im

Soziale Sicherung bei Arbeitslosigkeit

471

Abbildung V.29 Arbeitslose in den Rechtskreisen SGB II und SGB III, 2005 – 2018

66,8% 6

70,0%

69,1% 65,1%

66,8%

70 68,9%

67,0%

67,8%

66,2

65,7

4,861 2,770

50

4,487 2,823

4

3,760 2,515

3,258 2,252

3

2

69,5

60 Arbeitslose Rechtskreis SGB II, Anteil in % rechte Achse

62,9% 57,0%

5

69,3

3,414 2,224

40

Arbeitslose insgesamt 3,238 2,162

2,976

2,897

2,949

2,898

2,084

1,994

1,981

1,965

2,794 1,936

2,691 1,869

2,533 1,677

30 2,340 1,538

2,091 1,664 1,246

1

20

Arbeitslose Rechtskreis SGB II 1,005

1,189

1,075

0,892

0,902

0,969

10

0,933

0,859

0,822

0,855

0,802

2014

2015

2016

2017

2018

Arbeitslose Rechtskreis SGB III 0

2005

2006

2007

2008

2009

2010

2011

2012

2013

0

Quelle: Bundesagentur für Arbeit (zuletzt 2019), Arbeitslosigkeit im Zeitverlauf.

Fürsorgesystem SGB II bezieht sich nicht nur auf die soziale Absicherung, sondern auch auf den Zugang in arbeitsmarktpolitische Maßnahmen und auf die Chancen auf eine nachhaltige Wiedereingliederung in den ersten Arbeitsmarkt). Arbeitslose, die Arbeitslosengeld II beziehen, stehen zudem unter verstärktem Druck, ihre Arbeitskraft anzubieten. Im Unterschied zum SGB III gilt jede Arbeit als zumutbar, die nicht gegen Gesetze oder gute Sitten verstößt, ungeachtet des vorherigen Einkommens oder der Qualifikation. Eine tarif- oder ortsübliche Entlohnung ist ebenfalls kein Maßstab für die Zumutbarkeit. Wer also aus der Arbeitslosenversicherung bzw. aus dem Rechtskreis des SGB III herausfällt, verliert neben dem Anspruch auf die am vormaligen Einkommen bemessene Lohnersatzleistung Arbeitslosengeld auch jeglichen Statusschutz und muss sich den strengen Sanktionsregelungen der Grundsicherung unterwerfen. Durch die erzwungene Aufnahme einer unterwertigen, nicht qualifikationsgerechten Beschäftigung droht die Gefahr eines beruflichen und sozialen Abstiegs. Das Arbeitslosengeld II erweist sich weder als „Abfederung“ noch als „Sprungbrett“ nach oben. Die Verhaltensanforderungen beim Arbeitslosengeld II kennen keine Sperrzeiten. Abweichend vom Leistungsrecht des SGB III wird das Arbeitslosengeld II – eben aufgrund seiner Bedeutung als Existenzsicherung – zunächst nicht gänzlich versagt, sondern zunächst je nach Anlass und stufenweise für eine Dauer von drei Monaten gemindert. Eine Ausnahme wird jedoch bei Jugendlichen gemacht, denen die Zahlungen bereits bei einer ersten Pflichtverletzung gestrichen werden. Die Anlässe

472

Arbeit und Arbeitsmarkt

unterscheiden sich für Bezieher:innen von Arbeitslosengeld II kaum von denen für Bezieher:innen von Arbeitslosengeld. Gekürzt werden die Regelleistungen, wenn Erwerbsfähige sich weigern, eine Eingliederungsvereinbarung abzuschließen oder ihr nachzukommen, eine zumutbare Arbeit oder Maßnahmenteilnahme ablehnen oder eine solche Maßnahme abbrechen. Die Kürzungen belaufen sich in einer ersten Stufe auf 30 % der Regelleistung und auf weitere 30 % bei jeder folgenden Pflichtverletzung, wobei dann auch die Leistungen für Unterkunft, Heizung und Mehrbedarfe betroffen sein können. Ausgeschlossen von den Kürzungen sind aber die Leistungen, die Kindern zustehen. Bei mehreren Regelverstößen können die Leistungen für erwerbsfähigen Hilfebedürftigen sogar völlig gestrichen werden. Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom November 2019 sind diese rigiden Regelungen nicht mehr zulässig, da sie gegen grundgesetzliche Normen verstoßen. Sanktionen, die den Regelbedarf um mehr 30 % überschreiten, darf es ab sofort nicht mehr geben. Der Bedeutungsverlust der Arbeitslosenversicherung ist Ausdruck dafür, dass die oben genannten positiven Funktionen eines Versicherungssystems nur noch eine untergeordnete Rolle spielen. Für einen immer größer werdenden Teil der Arbeitslosen wird lediglich noch das sozialpolitische Minimalziel verfolgt, unmittelbare Armutslagen zu vermeiden. Auch kommt es zu einer stärkeren Steuerfinanzierung der Leistungen. Zwar werden auf diesem Wege die Lasten der Arbeitslosigkeit auf die gesamte Bevölkerung verteilt und nicht nur auf die Beitragszahlenden. Dem stehen allerdings andere Schwierigkeiten gegenüber: Steuerfinanzierte Leistungen sind prinzipiell erhöhten Eingriffsmöglichkeiten der Politik ausgesetzt. Höhe und Bezugsbedingungen beitragsfinanzierter Sozialversicherungsleistungen genießen dagegen einen höheren politischen und sozialen Schutz, weil mit ihnen ein individueller Anspruch auf äquivalente Leistungen verbunden wird. Gerade die materielle Unterstützung von Arbeitslosen wird auch in der Bevölkerung umso eher akzeptiert, wenn diese für ihre Absicherung eine eigene und zurechenbare Vorleistung erbracht haben.

7

Folgen von Arbeitslosigkeit

7.1

Einkommenslage der Arbeitslosen und fiskalische Kosten

Arbeitslosigkeit führt zu einem abrupten Ausfall des Arbeitseinkommens. Zwar hat der Ausbau sozialstaatlicher Regelungen dazu geführt, dass der Automatismus, mit dem Arbeitslosigkeit zu Armut führt, heute unterbrochen ist. Gleichwohl müssen die Betroffenen mit weitreichenden finanziellen Einbußen rechnen. Zu unterscheiden ist hierbei zwischen den unmittelbaren und mittelbaren Folgen. Offensichtlich ist der unmittelbare Einkommensverlust, der nur begrenzt durch den Bezug von Sozialleistungen ausgeglichen wird. Es kommt darauf an, ob Ansprüche auf Arbeitslosengeld

Folgen von Arbeitslosigkeit

473

oder Grundsicherung bestehen und wie lange die Phase der Arbeitslosigkeit andauert. Es macht einen entscheidenden Unterschied, ob sich die Leistungen am vorherigen Nettoeinkommen bemessen oder an den Regelbedarfen und ob die finanziellen Einbußen lediglich für einen begrenzten oder einen längeren Zeitraum hingenommen werden müssen. Bei einer länger andauernden Arbeitslosigkeit sind finanzielle Rücklagen, die eigentlich für andere Zwecke eingesetzt werden sollten, schnell verbraucht. Für die Einkommenslage des Haushalts spielt es auch eine Rolle, ob der Partner/die Partnerin erwerbstätig ist und ein Einkommen bezieht, ob Kinder zu unterhalten sind, oder ob Schulden (z. B. Hypothekenkredite) abbezahlt werden müssen. Liegen weitere Einkommen im Haushalt vor, werden sie allerdings voll auf das Arbeitslosengeld II angerechnet, so dass in diesen Fällen wegen fehlender Bedürftigkeit überhaupt kein Anspruch auf Leistungen der Grundsicherung besteht. Dies betrifft vor allem arbeitslose Frauen, deren (Ehe)Partner über ein ausreichend hohes, über dem Bedarfssatz der Grundsicherung liegendes Arbeitseinkommen bezieht. Nach dem Auslaufen des Anspruchs auf Arbeitslosengeld oder infolge einer fehlenden Anspruchsberechtigung (Nichterfüllung der Anwartschaftszeiten) verfügen dann diese arbeitslosen Frauen über kein individuelles Einkommen mehr und sind finanziell vom (Ehe)Partner abhängig. Das extrem hohe Armutsrisiko von Arbeitslosen spiegelt deren prekäre Einkommenslage. Eine Armutsrisikoquote von rund 60 % aller Arbeitslosen signalisiert, dass die sozialpolitische Absicherung unzureichend ist (vgl. Kapitel „Einkommen“, Pkt. 7.3.2). Die Folgen der Arbeitslosigkeit sind mit der Wiedereingliederung in das Arbeitsleben nicht zwangsläufig beseitigt. Zu den mittelbaren Einkommenseffekten zählen die Einbußen, die Folgen von entwerteten Qualifikationen oder von Stigmatisierungsprozessen sind. Sie werden nicht nur kurzfristig wirksam und enden mit der Aufnahme eines neuen Beschäftigungsverhältnisses, sondern können sich auch langfristig fortsetzen. Dies trifft insbesondere auf jene zu, die nach der Arbeitslosigkeit ein Arbeitsverhältnis eingehen müssen, das sie – oft einhergehend mit schlechteren Arbeitsbedingungen – finanziell deutlich schlechter stellt. Aber auch der umgekehrte Fall ist denkbar. Eine finanziell zumindest einigermaßen abgesicherte Sucharbeitslosigkeit eröffnet Chancen, einen neuen Arbeitsplatz zu finden, der nicht nur ein höheres Einkommen bietet, sondern auch bessere berufliche Entfaltungs- und Entwicklungsmöglichkeiten. Fiskalische Kosten Arbeitslosigkeit verursacht auch in der Gesamtgesellschaft Kosten. In einer fiskalischen Betrachtung bestehen die Kosten der Arbeitslosigkeit zum einen in den Ausgaben der Sozialversicherungsträger und der öffentlichen Haushalte, zum anderen kommt es infolge der Unterbeschäftigung zu Mindereinnahmen. Dem steigenden Finanzbedarf auf der einen Seite steht also eine durch dieselben Ursachen verschlechterte Einnahmesituation auf der anderen Seite gegenüber.

474

Arbeit und Arbeitsmarkt

Ausgaben entstehen bei der Bundesagentur für Arbeit durch die Zahlung von Arbeitslosengeld, den ersatzweise geleisteten Sozialversicherungsbeiträgen sowie durch den notwendig vermehrten Einsatz von Maßnahmen der Arbeitsmarktpolitik. In der Summe zu noch höheren Belastungen führen die Ausgaben der Grundsicherung für Arbeitsuchende, die gemeinsam vom Bund und den Gemeinden finanziert werden müssen. Mindereinnahmen treten sowohl bei den Steuern wie bei den Beiträgen auf. Im Steuersystem ergeben sich Verluste vor allem bei der Lohn- und Einkommensteuer. Bei den Beitragseinnahmen der Sozialversicherungsträger muss in erster Linie die Bundesagentur für Arbeit Einbußen hinnehmen, da Arbeitslose – seien sie registriert oder nicht – keine Beiträge zur Arbeitslosenversicherung zahlen. Bei der Kranken-, Pflege- und Rentenversicherung fallen die Beitragsverluste geringer aus, da die Bundesagentur für ihre Leistungsempfänger:innen die Beitragszahlungen an die anderen Sozialversicherungsträger – allerdings nur teilweise – übernimmt (vgl. Kapitel „Einkommen“, Pkt. 5.5). Hinzukommen ferner die vollen Beitragsausfälle der wachsenden Zahl der nicht (mehr) leistungsberechtigten Arbeitslosen sowie der nicht registrierten Arbeitslosen. 7.2

Soziale und gesundheitliche Folgen

Arbeitslosigkeit scheint auf den ersten Blick auf materielle Existenzunsicherheit begrenzt zu sein. Darüber hinaus sind jedoch gleichermaßen psychische und soziale Gefährdungen zu berücksichtigen. Der hohe Stellenwert der Berufstätigkeit spielt für die Bedeutung des Verlustes von Arbeit eine erhebliche Rolle. Der Beruf ist ein wichtiges Bindeglied zwischen Individuum und Gesellschaft, das individuelle Wertschätzung und soziale Anerkennung bestimmt. Der Verlust der Erwerbsarbeit stellt Anerkennung und Selbstwertgefühl in Frage und kann Arbeitslose aus der Gesellschaft ausgrenzen. Der Verlust des Arbeitsplatzes wirkt sich je nach den persönlichen und sozialen Lebensbedingungen unterschiedlich aus. Alter, Geschlecht, soziale Schicht, beruflicher Status, finanzielle Lage und soziale Unterstützung sind wichtige Einflussgrößen. Eine entscheidende Rolle kommt wiederum der Dauer der Arbeitslosigkeit zu. Sie stellt einen eigenständigen Belastungsfaktor dar. Über den Beruf und die Arbeit werden Lebenszyklen normiert. Die Jugendphase bereitet auf die spätere Erwerbstätigkeit vor. Schulische und berufliche Ausbildung sollen die notwendigen Kenntnisse und Fähigkeiten für die zukünftige Erwerbsarbeit bereitstellen. Die Erwerbsphase führt zur ökonomischen Unabhängigkeit von der Elternfamilie und ermöglicht Partnerschaft sowie die Gründung einer Familie. Arbeitslosigkeit während der Erwerbsphase kann demgegenüber zu Veränderungen in traditionellen Vorstellungen und Rollenerwartungen führen, die – wie empirische Studien zeigen – häufig zu erheblicher persönlicher Verunsicherung führen. Dies

Folgen von Arbeitslosigkeit

475

hängt insbesondere zusammen mit der erlebten Diskrepanz zwischen sozial vermittelten Lebensmustern, die sich an dauerhafter Erwerbstätigkeit orientieren und die Erwerbslosigkeit als häufig selbstverschuldete Krise betrachten. Auf männliche Langzeitarbeitslose trifft dies in besonderer Weise zu. Beeinträchtigungen des Selbstwertgefühls sowie Erschütterungen der Identität sind nicht selten. Arbeit und Beruf strukturieren darüber hinaus den kurzfristigen Zeitrhythmus. Der durch Arbeit vorgegebene Tages- bzw. Wochenverlauf verliert bei langandauernder Arbeitslosigkeit leicht an Bedeutung. Der Verlust der Zeitperspektive führt häufig zu dem paradoxen Ergebnis, dass die gewonnene „Freizeit“ als Belastung empfunden wird. Empirische Untersuchungen haben wiederholt bestätigt, dass von Arbeitslosen die nicht-finanziellen Belastungen häufig noch deutlicher erlebt werden als die finanziellen. Allerdings gibt es einen engen Zusammenhang, denn je größer die materielle Not ist und je länger sie andauert, desto belastender wird die Arbeitslosigkeit erlebt, umso stärker sind Sozialkontakte gefährdet und verringern sich soziale Netzwerke mit ihren stützenden und helfenden Funktionen. Es wächst die Tendenz zur Isolation und zu sozialem Rückzug. Arbeitslose, die über mehrere Jahre hinweg auf die existenzminimalen Leistungen des SGB II (Hartz IV) angewiesen sind und keine Beschäftigung finden, geraten in Gefahr, zu einer sozial ausgegrenzten Bevölkerungsgruppe zu werden (vgl. ausführlich Kapitel „Einkommen“, Pkt. 7.5). Die Belastungen können mit psychischen und somatischen Erkrankungen verbunden sein. Im Vergleich zwischen Erwerbstätigen und Arbeitslosen muss allerdings zwischen Selektionseffekten und Kausaleffekten unterschieden werden. Das vermehrte Auftreten bestimmter Krankheiten bei Arbeitslosen kann also dadurch verursacht werden, dass Menschen mit einem schlechteren Gesundheitszustand eher arbeitslos werden oder länger arbeitslos bleiben. Umgekehrt können Erkrankungen aber auch Ergebnis von pathogenen („krankmachenden“) Wirkung der Arbeitslosigkeit sein. In den Fällen, in denen vor Eintritt der Arbeitslosigkeit eine gesundheitliche Beeinträchtigung bestand, die aber auch durch soziale Mechanismen, wie Stützung durch den Kollegenkreis, kompensiert worden ist, verschärft Arbeitslosigkeit diese Krankheiten oder bringt latente Prozesse erst zum Ausbruch. Studien aus dem Bereich der Armutsforschung haben allerdings auch zeigen können, dass es von Armut und Arbeitslosigkeit Betroffenen durchaus in bemerkenswertem Umfang gelingt, Strategien zur Bewältigung dieser persönlichen Krisen zu entwickeln und auch umzusetzen. Folgen hat eine hohe und andauernde Arbeitslosigkeit darüber hinaus in machtund verteilungspolitischer Hinsicht. Massenarbeitslosigkeit schwächt in ihrer Funktion als „industrielle Reservearmee“ die Möglichkeiten und Bereitschaft von Beschäftigten, ihre Rechte und Interessen zur Geltung zu bringen und damit die tarifpolitische Durchsetzungskraft der Gewerkschaften. Wenn Arbeitskräfte in großer Zahl zur Verfügung stehen, können Unternehmen eher Druck auf Löhne und Gehälter ausüben als in Zeiten hoher Beschäftigung. Für Beschäftigte steht das Interesse am Erhalt des Arbeitsplatzes im Vordergrund, so dass Einkommenseinbußen eher hingenommen

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Arbeit und Arbeitsmarkt

und Arbeitnehmerrechte aus Angst um den Arbeitsplatz weniger häufig wahrgenommen werden (z. B. zurückgehende Inanspruchnahme von Bildungsurlaub, sinkender Krankenstand). Dieser Druckmechanismus der Arbeitslosigkeit wird durch das System der sozialen Sicherung eingeschränkt. Die Unterstützungsleistungen bei Arbeitslosigkeit markieren eine untere Barriere gegen Lohnsenkung und schützen das gesamte Lohn- und Sozialgefüge. Höhe und personelle Reichweite der sozialen Sicherung bei Arbeitslosigkeit wirken somit auf die formellen und informellen Regulierungen des Arbeitsmarktes im Allgemeinen und auf die Arbeitsentgelte und Arbeitsbedingungen im Besonderen zurück. Vor diesem Hintergrund wird plausibel, warum gerade die sozialpolitischen Leistungen bei Arbeitslosigkeit immer wieder kontrovers diskutiert werden. Über die Fragen, ob, in welcher Höhe, unter welchen Voraussetzungen und wie lange Arbeitsfähige, aber Arbeitslose Sozialleistungen erhalten können, wird ungleich mehr gestritten als über die Zahlung von Leistungen an Arbeitsunfähige (wegen Krankheit, Invalidität, Unfall) oder an ältere Menschen.

8

Arbeitsmarktpolitik

8.1

Zielsetzungen und Politikfeld

Die Arbeitsmarktpolitik greift mit ihren Instrumenten und Maßnahmen in den Arbeitsmarkt ein. Gesetzliche Grundlagen sind das SGB III (Arbeitsförderung) und das SGB II (Grundsicherung für Arbeitsuchende). Die Interventionen zielen auf die quantitative und qualitative Beeinflussung des Angebots wie der Nachfrage nach Arbeitskräften, um auf diese Weise die Ausgleichsprozesse auf dem Arbeitsmarkt zu fördern, der Entstehung von Arbeitslosigkeit entgegenzuwirken, die Dauer von Arbeitslosigkeit zu verkürzen und insbesondere Langzeitarbeitslosigkeit zu vermeiden. Nach § 1 SGB III ist es auch Aufgabe der Arbeitsförderung, die Transparenz auf dem Arbeitsmarkt zu erhöhen, die berufliche und regionale Mobilität zu unterstützen, die individuelle Beschäftigungsfähigkeit zu fördern und unterwertiger Beschäftigung entgegenzuwirken. Als durchgängiges Prinzip der Arbeitsförderung gilt die Gleichstellung von Frauen und Männern auf dem Arbeitsmarkt und bei den Maßnahmen der Arbeitsförderung. Die im Gesetz formulierten Ziele des SGB II unterscheiden sich erheblich von den Zielen des SGB III. Zwar wird auf denselben Arbeitsmarkt orientiert, aber die Grundsicherung für Arbeitsuchende soll lediglich die Erwerbsfähigkeit der Leistungsberechtigten (und eben nicht die Beschäftigungsfähigkeit) erhalten, verbessern oder wiederherstellen und die Leistungsberechtigten bei der Aufnahme oder Beibehaltung einer Erwerbstätigkeit unterstützen. Abgestellt wird darauf, dass die Hilfebedürftigkeit möglichst schnell vermieden oder beseitigt, die Dauer der Hilfebedürftigkeit verkürzt oder der Umfang der Hilfebedürftigkeit verringert wird. Im Kern stehen

Arbeitsmarktpolitik

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damit kurzzeitige Aktivierungs- und Eingliederungsmaßnahmen, die schnelle Überwindung des Leistungsbezugs und damit die Einsparung von Haushaltsmitteln im Vordergrund. Von Anforderungen an die Art und Qualität der Beschäftigung (z. B. Vermeidung von unterwertiger Beschäftigung) ist hier nicht die Rede. Die Arbeitsmarktpolitik versteht sich als „aktive“ Arbeitsmarktpolitik. Im Gegensatz dazu werden die monetären Unterstützungsleistungen bei Arbeitslosigkeit, so das Arbeitslosengeld, häufig als passive Leistungen bezeichnet. Passive Leistungen sind aber nicht gleichbedeutend mit einer Passivität der Empfänger. Der Bezug von Arbeitslosengeld verleitet nicht zum „Ausruhen“ und „Abwarten“, sondern macht es erst möglich, eine passgenaue neue Arbeitsstelle zu suchen und führt damit zu einer Steigerung der Sucheffizienz. Die Arbeitsmarktpolitik hat sich im Verlauf der vergangenen Jahre und Jahrzehnte hinsichtlich ihrer konkreten Zielsetzung, ihrer instrumentellen und finanziellen Ausgestaltung sowie ihrer Verknüpfung mit angrenzenden Politikfeldern fortwährend verändert. In einem nahezu jährlichen Turnus sind sowohl das SGB III wie auch das SGB II novelliert worden. Hinzu kommen mehrere befristete Sonderprogramme. Dies liegt zum einen an den veränderten politischen wie ökonomischen Rahmenbedingungen und den sich wandelnden Zielsetzungen und Problemdeutungen. Zum anderen gerät die Arbeitsmarktpolitik infolge der hohen Ausschläge bei den Ausgaben schnell ins Visier bei allen Maßnahmen einer Haushaltskonsolidierung. Arbeitsmarktpolitik ist in erster Linie eine staatliche Aufgabe, die in der Verantwortung des Bundes liegt. Dieser hat die gesetzgeberische Zuständigkeit und setzt die rechtlichen und finanziellen Rahmenbedingungen. Für die praktische Umsetzung der Arbeitsmarktpolitik nach dem SGB III ist die Bundesagentur für Arbeit mit ihren örtlichen Arbeitsagenturen zuständig. Die Durchführung der Leistungen des SGB II obliegt der BA und den Kommunen (Landkreise und kreisfreien Städte – entweder in Form einer gemeinsamen Einrichtung oder die Kommunen nehmen die Aufgaben der Grundsicherung in alleiniger Verantwortung wahr) (vgl. Kapitel „Einkommen“, Pkt. 6.2.4). Auch die Bundesländer ergreifen arbeitsmarktpolitische Aktivitäten. So zielen zeitlich befristete Sonderprogramme darauf ab, die Situation für bestimmte Zielgruppen am Ausbildungs- und Arbeitsmarkt zu verbessern. Von wachsender Bedeutung ist die europäische Ebene: Die Europäische Union hat durch die Bereitstellung von finanziellen Mitteln vor allem im Rahmen ihrer Strukturfonds den Handlungsspielraum für die Arbeitsmarktprogramme des Bundes wie der Länder erweitert. Allerdings müssen die europäischen Mittel immer durch nationale Mittel aufgestockt werden (Prinzip der Kofinanzierung). Spezielle Förderprogramme der EU zielen auf jene Mitgliedsländer, in denen die Jugendarbeitslosigkeit besonders hoch liegt (wie Griechenland und Spanien). Von der Arbeitsmarktpolitik zu unterscheiden ist die staatliche Beschäftigungspolitik. Sie zielt generell auf Niveau und Entwicklung der Gesamtwirtschaft und davon abgeleitet auf Niveau und Entwicklung von Angebot und Nachfrage auf dem

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Arbeit und Arbeitsmarkt

Arbeitsmarkt. Dies geschieht primär durch die Beeinflussung der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage, aber auch durch die Beeinflussung der Angebotsbedingungen für die Betriebe (z. B. Förderung der Investitionstätigkeit), durch die die Zahl der Arbeitsplätze dem Bedarf an Arbeit angepasst werden kann. Als Instrumente stehen Maßnahmen im Rahmen der Konjunktur- und Wachstumspolitik, der Regional- und Strukturpolitik, der Geld- und Fiskalpolitik sowie der Außenhandelspolitik zur Verfügung. Über die Staatsausgaben kann der Staat auch unmittelbaren Einfluss auf das Beschäftigungsniveau ausüben, denn die Zahl der im öffentlichen Dienst beschäftigten Personen macht einen erheblichen Anteil der Arbeitsnachfrage insgesamt aus. Indirekt haben auch andere Politikfelder Auswirkungen auf die Angebotsseite des Arbeitsmarktes, so insbesondere die (Aus-)Bildungs-, Familien- und Ausländerpolitik. Schließlich sind auch die Aktivitäten der Tarifvertragsparteien zu berücksichtigen, indem sie durch Vereinbarungen u. a. zur Arbeitszeit, zum Kündigungsschutz, zu Freistellungen, zur Kurzarbeit und zur Altersteilzeit auf zentrale Parameter von Arbeitsangebot und -nachfrage einwirken (Vgl. Kapitel „Arbeitsbeziehungen“, Pkt. 4.4.3). 8.2

Entwicklung der Arbeitsförderung und Wandel ihrer Grundannahmen

Verfolgt man die Entwicklung der Arbeitsmarktpolitik in der Bundesrepublik im Zeitraffer, so folgt der in den Jahren des Wiederaufbau- und „Wirtschaftswunders“ zunächst wiederaufgenommenen kompensatorischen – vielfach als passiv bezeichnete – Arbeitsmarktpolitik mit der Verabschiedung des Arbeitsförderungsgesetz (AFG) von 1969 ein bemerkenswerter Umbruch, der Instrumente einer aktiven Arbeitsmarktpolitik in den Vordergrund stellt und von daher als ein erster Paradigmenwechsel bezeichnet werden kann. Nach den Vorstellungen des Gesetzgebers sollte die neue Qualität vor allem darin bestehen, die Entwicklung des Arbeitsmarktes durch vorausschauende und präventive Interventionen so zu gestalten, dass Arbeitslosigkeit möglichst vermieden wird. Kernstück dieser aktiven, vorausschauenden Arbeitsmarktpolitik war die Förderung der beruflichen Mobilität durch Ausbildung, Umschulung und berufliche Fortbildung. Der Qualifikationsschutz in den Zumutbarkeitsbedingungen sollte Qualifikationen erhalten und eine qualifikationsgerechte Vermittlung in den Vordergrund rücken. In diesem Sinne verfolgte das AFG – zusammen mit dem Stabilitäts- und Wachstumsgesetz von 1967 – das Ziel, einen hohen Beschäftigungsstand zu sichern, die Beschäftigungsstruktur ständig zu verbessern und das Wachstum der Wirtschaft zu fördern. Die Arbeitsnachfrage wurde in keynesianischer Denktradition als aus der Güternachfrage abgeleitete Größe gesehen. Die Arbeitslosenunterstützung (die Versicherungsleistungen ebenso wie die Arbeitslosenhilfe) folgte dem auch in anderen Sozialversicherungszweigen dominanten Prinzip der Lebensstandardsicherung und war einkommensabhängig gestaltet.

Arbeitsmarktpolitik

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Mit der stufenweisen Zunahme der Arbeitslosigkeit nach der ersten Ölkrise 1973 verschoben sich die Schwerpunkte der Arbeitsmarktpolitik jedoch zunehmend auf arbeitsplatzerhaltende und -schaffende Maßnahmen wie Kurzarbeit, Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen (ABM) und Strukturanpassungsmaßnahmen (SAM) und auf eine Politik der Verminderung des Arbeitsangebots durch Vorruhestandsregelungen. Vor allem ab 1990, nach der Wiedervereinigung wurden arbeitsmarktpolitische Maßnahmen – darunter selbst Weiterbildung – in großem Maßstab als Ersatzbeschäftigung, oft ohne große Perspektive, angeboten. Der mit einem massiven Arbeitsplatzabbau verbundene radikale wirtschaftliche Umbruch in den neuen Ländern sollte dadurch abgefedert, die Zahl der registrierten Arbeitslosen verringert werden. In Spitzenzeiten wurden während dieser Periode bis zu 400 Tsd. Personen allein durch Arbeitsbeschaffungs- und Strukturanpassungsmaßnahmen dem Arbeitsmarkt entzogen. Ein zweiter Paradigmenwechsel wurde 1997/98 vollzogen, indem das AFG als Drittes Buch in das Sozialgesetzbuch (SGB III) überführt wurde. Die Zielsetzungen des SGB III wurden gegenüber dem AFG erheblich verändert. Erstens wurde der beschäftigungspolitische Anspruch der Arbeitsmarktpolitik aufgegeben. Die Herstellung und Aufrechterhaltung eines hohen Beschäftigungsstandes war nicht mehr Ziel der Arbeitsförderung. Zweitens wurde die präventive Komponente nur noch in abgeschwächter Form fortgeschrieben. Vorgegeben wurde lediglich die Förderung des Ausgleichs am Arbeitsmarkt durch Beratung, Vermittlung und Verbesserung der Chancen von Benachteiligten. Drittens wurde das Primat der Nachrangigkeit der Arbeitsförderung eingeführt, indem nunmehr auf die besondere Verantwortung der Arbeitsmarktbeteiligten verwiesen wurde. Neu war viertens der Verweis darauf, dass wettbewerbsfähige Arbeitsplätze nicht gefährdet werden dürften. Diese neue Zielvorgabe konnte als eine Absage an den weit ausgebauten „Zweiten Arbeitsmarkt“ verstanden werden. So wurden ab Ende der 1990er Jahre die beschäftigungsschaffenden Maßnahmen wie ABM und SAM zurückgefahren und 2012 ganz gestrichen. Durch einen Ausbau marktnäherer Instrumente wie etwa Eingliederungszuschüsse wurde versucht, die Orientierung auf den ersten Arbeitsmarkt wieder zu stärken. Ferner bestand mit dem Übergang zum SGB III eine wesentliche Neuerung der Arbeitsmarktpolitik in ihrer Dezentralisierung. Erstmals wurden alle Ermessensleistungen der aktiven Arbeitsförderung, z. B. für die berufliche Weiterbildung und die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, in einem gemeinsamen Haushaltstitel („Eingliederungstitel“) zusammengefasst und die lokalen Arbeitsagenturen mit einer begrenzten Budgetkompetenz ausgestattet. Gleichwohl gelang es nicht, den hohen Sockel an Arbeitslosigkeit, in den neuen wie in den alten Ländern, abzubauen. Zwischen 1996 und 2004 lag die Zahl der registrierten Arbeitslosen bei über 4 Millionen Personen. In dieser Zeit gewinnen in der Wirtschaftswissenschaft, in der Politik und auch in den Medien Sichtweisen und Deutungsmuster Oberhand, die die Arbeitslosigkeit nicht mehr auf gesamtwirtschaftliche Verwerfungen, auf Ungleichgewichte zwischen Angebot und Nachfrage auf der Makro-Ebene des Arbeitsmarktes zurückführen, sondern vielmehr auf die Eigen-

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Arbeit und Arbeitsmarkt

schaften, Fähigkeiten und Verhaltensweisen der Beschäftigten allgemein und der Arbeitslosen im Besonderen. Statt der ökonomischen Verhältnisse wird das individuelle Verhalten zum Problem. Arbeitslosigkeit und vor allem Langzeitarbeitslosigkeit erscheinen in diesem Licht als Folge unzureichender Arbeitsfähigkeit und Arbeitsbereitschaft. Großzügig ausgestaltete und dauerhafte Sozialleistungen, deren Höhe wie das Arbeitslosengeld und auch die Arbeitslosenhilfe am vormaligen Einkommen bemessen wird, verstärken danach diesen Verhärtungsprozess, da die Arbeitslosen sich in der Arbeitslosigkeit „einrichten“ und nicht bereit sind, offene Arbeitsstellen anzunehmen – dies insbesondere dann nicht, wenn die Arbeit gering entlohnt wird. Diesen Grundannahmen über die Funktionsweise von Arbeitsmärkten folgend wird eine Umorientierung der Arbeitsmarktpolitik gefordert. Beschäftigung schaffende Maßnahmen sollen gestrichen und die Instrumente der Arbeitsförderung konsequent auf die Aktivierung der Arbeitslosen ausgerichtet werden, so dass sie am ersten, regulären Arbeitsmarkt wieder Fuß fassen können. Deren Defizite und Schwächen müssen ausgeglichen, Beschäftigungsfähigkeit, Arbeits- und Konzessionsbereitschaft gestärkt, die Sicherung bei Arbeitslosigkeit ausgedünnt und der Niedriglohnsektor ausgeweitet werden. Die individuelle, durch Eigeninitiative bekundete Bereitschaft, eine Arbeit im ersten Arbeitsmarkt aufzunehmen, gilt dann gleichsam als „Pflicht“; die Nicht-Erfüllung dieser Pflichten wird durch Sperrzeiten und Sanktionen bestraft. Mit den vier Gesetzen für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt („HartzGesetze“) (2002 – 2003) wurden diese Positionen zu großen Teilen umgesetzt und damit ein dritter Paradigmenwechsel in der Arbeitsmarktpolitik eingeleitet. Von besonderer Bedeutung für die Neuausrichtung der Arbeitsmarktpolitik ist das sogenannte Hartz-IV-Gesetz, das die Grundsicherung für Arbeitssuchende als Buch II des SGB einführte. Arbeitsförderung wird vorwiegend als Abbau des Arbeitslosenbestandes durch eine Verkürzung der individuellen Dauer von Arbeitslosigkeitsphasen verstanden. Erreicht werden soll dies durch einen schnelleren Ausgleich von Angebot und Nachfrage sowie einer erhöhten Konzessionsbereitschaft der Arbeitslosen, die jeweils als individuelle Eigenschaften durch die Anpassung an die Bedingungen des Arbeitsmarktes zu erhalten oder wiederherzustellen sind. Der Unterschied zwischen Beschäftigungs- und Erwerbsfähigkeit besteht darin, dass nach SGB III noch vorrangig die Aufnahme einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung gefördert und nach SGB II lediglich noch die Aufnahme jedweder entlohnten Tätigkeit gefordert wird. Gesamtwirtschaftliche Arbeitslosigkeit wird jeweils als die Summe der Beschäftigungs- oder Erwerbslosigkeit Einzelner definiert, die in dieser Logik lediglich auf der Ebene individuellen Verhaltens der Arbeitnehmer:innen überwunden werden kann. Das Leitbild ist nicht mehr die aktive, sondern die „aktivierende“ Arbeitsmarktpolitik. Aktiviert werden sollen vorrangig die Eigenverantwortung und die Eigenbemühungen von Arbeitslosen. Als Methode der Aktivierung gilt nun die Formel des „Förderns und Forderns“, die explizit im SGB II normiert ist. Ausdruck des Forderns sind eine Reihe von Verschärfungen im Leistungsrecht. Ausdruck des För-

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derns sind vor allem die Öffnung des Zugangs für die Beziehenden von Leistungen nach SGB II zu den Maßnahmen aktiver Arbeitsmarktpolitik nach SGB III sowie der organisatorische Umbau der Bundesagentur für Arbeit (zu einem „modernen und kundenorientierten Dienstleister“). Über die Erfolgswirksamkeit dieser Ausrichtung von Arbeitsmarktpolitik und Arbeitsförderung wird seit Jahren sowohl in der Wissenschaft wie auch in der Politik kontrovers diskutiert. Die Frage ist, ob sich der bemerkenswerte Rückgang der Arbeitslosigkeit darauf zurückführen lässt oder nicht (vgl. Pkt. 9.1 dieses Kapitels). Weitgehend unstrittig ist hingegen, dass es trotz der steigenden Beschäftigung und der sinkenden Arbeitslosigkeit nur sehr begrenzt gelungen ist, die anhaltend hohe Zahl von langjährigen Hartz IV-Empfänger:innen und den hohen Sockel an Langzeitarbeitslosigkeit abzubauen. Um dieser Verhärtung von Arbeitslosigkeit entgegenzuwirken, setzt ab etwa 2016 eine partielle Umkehr von der restriktiven Orientierung des SGB II ein. Durch Sonderprogramme der Bundesregierung und insbesondere durch neue Förderregelungen im SGB II (Teilhabechancengesetz von 2018) wird darauf abgestellt, Langzeitarbeitslosen und Langzeitleistungsbeziehern Beschäftigungsund Teilhabechancen zu bieten und dafür auch erhebliche Fördermittel bereit zu stellen (vgl. Pkt. 8.3.7 dieses Kapitels). 8.3

Instrumente der aktiven Arbeitsmarktpolitik

8.3.1 Grundlagen

Die Arbeitsmarktpolitik hat im Laufe der zurückliegenden Jahrzehnte nicht nur einen Wandel ihrer Ziele, Adressaten und Grundannahmen zu verzeichnen. Zugleich findet sich eine schier unüberschaubare Fülle von Instrumenten und Maßnahmen, die teils noch existieren, aber in den Förderkonditionen mehrfach verändert worden sind, und teils wieder abgeschafft worden sind. Instrumente mit klangvollen Namen, die zu ihrer Zeit öffentlich breit und kontrovers diskutiert worden sind, gibt es längst nicht mehr. Dazu zählen u. a. Personal-Service-Agenturen, die Ich-AG, Job-Rotation, Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, Strukturanpassungsmaßnahmen, Entgeltsicherung, Beitragsbonus für Ältere, Überbrückungsgeld. Seit der 2012 in Kraft getretenen Instrumentenreform (Gesetz zur Verbesserung der Eingliederungschancen am Arbeitsmarkt) lässt sich aber eine gewisse Konstanz erkennen. Seitdem gliedern sich die Leistungen der aktiven Arbeitsförderung im SGB III wie folgt: • Beratung und Vermittlung, • Aktivierung und berufliche Eingliederung, • Berufsauswahl und Berufsausbildung, • Berufliche Weiterbildung,

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• Aufnahme einer Erwerbstätigkeit, • Teilhabe behinderter Menschen am Arbeitsleben, • Verbleib in Beschäftigung, • Befristete Leistungen und innovative Ansätze. Im SGB II setzen sich die Leistungen zur Eingliederung in Arbeit größtenteils aus dem Leistungsspektrum der aktiven Arbeitsförderung nach dem SGB III zusammen. Hinzu kommen die Arbeitsgelegenheiten, das Einstiegsgeld, die kommunalen Eingliederungsleistungen, die Teilhabe am Arbeitsmarkt und die Eingliederung von Langzeitarbeitslosen, die seit 2019 die Förderung von Arbeitsverhältnissen ersetzen. Im Folgenden können nicht alle Instrumente, Maßnahmen und Leistungen im Detail beschrieben werden. Eine Auswahl ist unerlässlich. Die Felder Berufswahl und Berufsausbildung sowie berufliche Weiterbildung werden im Kapitel „Qualifikation“ behandelt. Zum besseren Verständnis der Wirkungen der Instrumente lassen sich gemeinsame Strukturmerkmale der Arbeitsförderung benennen: • Vorrang vor den Einkommensleistungen wie auch vor den Leistungen der Arbeitsförderung hat die Vermittlung in Arbeit. • Längerfristig orientierte Fördermaßnahmen haben eine nachrangige Bedeutung gegenüber Kurzfristmaßnahmen, dies gilt insbesondere für das SGB II. • Adressat:innen und Empfänger:innen der Leistungen können sowohl (noch) Beschäftigte und Arbeitslose als auch Arbeitgeber sein. • Beim weit überwiegenden Teil der Leistungen handelt es sich um Ermessensleistungen; Pflichtleistungen mit Rechtsansprüchen begrenzen sich im Wesentlichen auf das Arbeitslosengeld, das Kurzarbeitergeld, das Wintergeld, die Arbeitsvermittlung und Berufsberatung und den Aktivierungs- und Vermittlungsgutschein. • Bei den Leistungsarten ist zwischen Geldleistungen, Dienstleistungen und Sachleistungen zu unterscheiden. All diese Leistungen sind im Grundsatz befristet. • Geldleistungen können an Arbeitgeber (z. B. Lohnkostenzuschüsse) oder an Arbeitslose (z. B. Beteiligung an Bewerbungskosten) fließen. • Geldleistungen spielen eine eher nachgelagerte Rolle, es dominieren die Dienstleistungen. Wirksamkeit und Erfolg personenbezogener Dienstleistungen hängen entscheidend davon ab, dass der/die Arbeitslose sich an der Leistungserstellung beteiligt, er/sie ist Koproduzent (vgl. im Einzelnen Kapitel „Soziale Dienste“, Pkt. 2.1). Spezifisch für die Arbeitsförderung ist aber, dass die Mitwirkung teilweise verpflichtend ist und im Weigerungsfall durch Sperrzeiten oder Sanktion bestraft wird. Insoweit treffen Erbringer und Empfänger nicht gleichberechtigt aufeinander. • Die Dienstleistungen können von den Agenturen und Jobcentern selbst erbracht werden (z. B. Arbeitsvermittlung); in der Mehrzahl sind aber private Träger (Bildungseinrichtungen, Arbeitgeber, Wohlfahrtsverbände usw.) mit der Erbringung der Dienstleistungen beauftragt. Insgesamt hat auch bei der Arbeitsförderung ein

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Abbildung V.30 Bewegungen auf dem Arbeitsmarkt und Maßnahmen der Arbeitsförderung Stellenwechsel ohne Arbeitslosigkeit

Arbeitslosigkeit

schulische/berufliche Aus-/Weiterbildung Familienphase / Kindererziehung Krankheit / Erwerbsminderung „Stille Reserve“ Zuwanderung/ Abwanderung (Früh-)Verrentung

Zufluss aus und in Arbeitslosigkeit

Zufluss aus und in Beschäftigung

Beschäftigung

Beschäftigung

Maßnahmen der Arbeitsförderung nach SGB III/SGB II • • • • • • •

Beratung und Vermittlung Aktivierung und berufliche Eingliederung Berufliche Weiterbildung Eingliederungszuschuss Einstiegsgeld Gründungszuschuss Teilhabeförderung

Privatisierungstrend stattgefunden, was z. B. die Erlaubnis einer gewerblichen Arbeitsvermittlung betrifft. Das Dienstleistungsverhältnis entwickelt sich zu einem Dreiecksverhältnis zwischen der zahlenden Arbeitsagentur/Jobcenter, dem beauftragtem Träger und dem/r Dienstleistungsempfänger/in (vgl. Kapitel „Soziale Dienstle“, Pkt. 5.3). • Die Beauftragung privater Träger kann direkt erfolgen oder aber die Arbeitslosen werden durch die Vergabe von Gutscheinen berechtigt, sich nach eigener Auswahl an (zugelassene) Träger zu wenden. Die Träger lösen dann die Gutscheine bei den Arbeitsagenturen oder den Jobcentern ein. 8.3.2 Beratung und Vermittlung

Die Vermittlung von Arbeitslosen, Arbeits- oder Ausbildungssuchenden in Arbeitsund Ausbildungsstellen ist eine der wichtigsten Aufgaben der Arbeitsagenturen und Jobcenter. Sie erfolgt unentgeltlich und nach festen Regeln, die bundesweit gelten. Die Vermittlungsdienste sind nicht auf die Beitragszahlenden begrenzt, jede/r kann sie in Anspruch nehmen. Sie sind jedoch in ihrer Wirksamkeit dadurch begrenzt, dass Un-

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ternehmen nicht zur Meldung aller offenen Stellen verpflichtet sind. Nur ein Teil des tatsächlichen Arbeitskräftebedarfs wird der Arbeitsverwaltung gemeldet. Neben den Agenturen für Arbeit dürfen auch private Vermittler ihre Dienste anbieten. Ziel ist es, die fehlende Transparenz auf dem Arbeitsmarkt auszugleichen, Arbeitgeber und Arbeitnehmer:innen zusammenzuführen und Friktionen auf dem Arbeitsmarkt, d. h. auch friktionelle Arbeitslosigkeit, möglichst zu vermeiden oder zu verkürzen. Zu den Grundsätzen der Arbeitsvermittlung gehören die Unparteilichkeit z. B. bezüglich der Religions-, Partei- oder Verbandszugehörigkeit, die lohnpolitische Neutralität und die Neutralität bei Arbeitskämpfen. Vermittlungen in Ausbildungs- oder Arbeitsverhältnisse, die gegen ein Gesetz oder die guten Sitten verstoßen, dürfen nicht durchgeführt werden. Ferner sind Diskriminierungen jeglicher Art nicht zulässig. Einschränkungen, die der Arbeitgeber z. B. hinsichtlich Geschlecht, Alter, Gesundheitszustand oder Staatsangehörigkeit macht, sind nur erlaubt, wenn dies aufgrund der Tätigkeit unerlässlich ist. Arbeitnehmer:innen und Arbeitgeber sind zur Mitwirkung bei der Vermittlung verpflichtet. Arbeitgebern soll die Agentur für Arbeit eine Arbeitsmarktberatung anbieten, wenn eine Stelle nicht in angemessener Zeit besetzt werden kann. Nicht nur die Mitwirkungspflichten der Arbeitslosen, sondern auch die Möglichkeiten und Rechte zur Mitwirkung bei der Vermittlung durch die Betroffenen wurden in den letzten Jahren gestärkt. Zum einen müssen sich Beschäftigte bei drohender Arbeitslosigkeit unverzüglich bei der Agentur für Arbeit als arbeitssuchend melden (z. B. sofort nach Kenntnis über die Kündigung oder drei Monate vor dem Auslaufen einer befristeten Beschäftigung). Um möglichst bereits den Eintritt in Arbeitslosigkeit zu vermeiden, sind die Agenturen für Arbeit verpflichtet, sofort nach dieser Meldung eine individuelle Vermittlungsstrategie zu erarbeiten. An einer solchen Vermittlungsstrategie soll der/die Arbeitssuchende wie jede/r arbeitslos Gemeldete aktiv mitarbeiten. Im Rahmen des Erstgesprächs findet ein sog. Profiling statt, bei dem eine Potenzialanalyse erstellt wird (Analyse der Stärken, aber auch der Schwächen) und eine Ausdifferenzierung der Arbeitslosen in „Profillagen“ erfolgt. Maßstab dafür ist, wie die Chancen auf eine möglichst schnelle und passgenaue Vermittlung eingeschätzt werden. Für „integrations- bzw. arbeitsmarktferne“ Personen bedarf es dann anderer Maßnahmen als für gesuchte Fachkräfte, die ohne großen Aufwand eine neue Stelle finden. In einer Eingliederungsvereinbarung werden das Eingliederungziel, die vorgesehenen Aktivitäten der Agenturen und Jobcenter sowie die erwarteten Eigenbemühungen festgehalten. Anders als für Bezieher:innen von Arbeitslosengeld II sind jedoch nach SGB III keine Sanktionen vorgesehen, die sowohl den Abschluss einer Eingliederungsvereinbarung oder die Einhaltung der Vereinbarungen erzwingen sollen. Der Vermittlungserfolg hängt maßgeblich davon ab, wie der Betreuungsschlüssel bei den Agenturen und Jobcentern ausfällt. Immer wieder wird kritisiert, dass einer Vermittlungsfachkraft zu viele Arbeitsuchende gegenüberstehen, so dass gerade schwierige Fälle nicht optimal betreut werden können.

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Private, gewerbsmäßige Arbeitsvermittlung ist flächendeckend für alle Berufe und Personengruppen zulässig und benötigt auch nicht mehr eine Erlaubnis der BA. Jede/r Arbeitssuchende kann eine/n private/n Arbeitsvermittlung aufsuchen. Alternative Wege des Stellenangebotes und der Stellensuche haben in den letzten Jahren erheblich an Bedeutung gewonnen – insbesondere die Suche über die Stellenbörsen im Internet. Dagegen haben gewerbliche Anbieter ihren Marktanteil in den letzten Jahren nicht ausbauen können. Eng verbunden mit der Arbeitsvermittlung ist die Berufs- und Arbeitsmarktberatung. Ihr Ziel ist es, Informationen über Lage und Entwicklung des Arbeitsmarktes und der Berufe, die Möglichkeiten zur beruflichen Bildung sowie den Leistungen der Arbeitsförderung bereitzustellen. Unterstützt werden sollen damit die Ausbildungsund Arbeitsplatzsuche, individuelle berufliche Entwicklung und der Berufs- und Arbeitsplatzwechsel. Die Agenturen für Arbeit bieten dabei zunehmend schon vor dem Ende der schulischen Ausbildung Orientierungs- und Beratungsveranstaltungen für jugendliche Ausbildungssuchende in Schulen an. 8.3.3 Aktivierung und berufliche Eingliederung

Die Maßnahmen zur Aktivierung und beruflichen Eingliederung setzen sich aus einer Fülle von Einzelleistungen zusammen, die nicht gesetzlich vorgegeben sind, sondern im Rahmen eines Vermittlungsbudgets offen und flexibel von den Arbeitsvermittlern angeboten und eingesetzt werden können. Arbeitslose und von Arbeitslosigkeit bedrohte Arbeitsuchende sollen insbesondere bei der Erreichung der in der Eingliederungsvereinbarung festgelegten Eingliederungsziele unterstützt werden. Vermittlungshemmnisse sollen verringert oder beseitigt werden: Umfang und Art der Leistungen hängen von dem Einzelfall ab. Es handelt sich u. a. um Bewerbungskosten und Mobilitätshilfen sowie um die Übernahme der Kosten für die Teilnahme an einer Maßnahme (Eingliederungs- und Trainingsmaßnahmen, Maßnahmen der Eignungsfeststellung, Aktivierungshilfen, Bewerbungscoaching). Trainingsmaßnahmen können aber auch dazu benutzt werden, zu prüfen, ob tatsächlich die Bereitschaft zu einer Arbeitsaufnahme besteht oder eine Arbeitsunfähigkeit vorliegt. Die Träger der Maßnahmen können direkt mit der Durchführung beauftragt werden. Es besteht aber auch ein Anspruch auf Aushändigung eines Aktivierungs- und Vermittlungsgutscheins, so dass die Betroffenen selbst einen zertifizierten Träger aussuchen können. 8.3.4 Förderung der beruflichen Aus- und Weiterbildung

Die Förderung der beruflichen Aus- und Weiterbildung stellt den Kernbereich vorbeugender und aktiver Arbeitsmarktpolitik dar. Junge Menschen sollen bei der Berufsausbildung unterstützt und Beschäftigten eine Anpassung an den wirtschaftlichen und technologischen Strukturwandel und die daraus resultierenden veränderten qua-

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lifikatorischen Anforderungen ermöglicht werden. Die Förderung beruflicher Ausund Weiterbildung zielt damit nicht auf das Beschäftigungsniveau, sondern auf die Beschäftigungsstruktur. Durch die Verringerung von Profildiskrepanzen zwischen Arbeitskräfteangebot und Arbeitskräftenachfrage („mismatches“) sollen gesamtwirtschaftlich die Ausgleichsprozesse auf dem Arbeitsmarkt und individuell die relativen Chancen auf dem Arbeitsmarkt verbessert werden. Mittelbar trägt die Unterstützung von Qualifizierungsprozessen dazu bei, Arbeitslosigkeit vorzubeugen und zu verringern sowie Arbeitskräfteknappheit in spezifischen Qualifikationsbereichen (wie besonderen Branchen oder Berufen) zu vermeiden (vgl. dazu ausführlich Kapitel „Qualifikation“, Pkt. 10.2). 8.3.5 Aufnahme einer Erwerbstätigkeit

Das Ziel des Abbaus von Arbeitslosigkeit durch Aufnahme einer Erwerbstätigkeit wird mit zwei grundsätzlich verschiedenen Strategien verfolgt. Abgestellt wird darauf, Arbeitslose direkt in sozialversicherungspflichtige Beschäftigung zu vermitteln und das Arbeitsverhältnis zu festigen. Damit steht die Überwindung von Einstellungsbarrieren der Betriebe bzw. von Vermittlungshemmnissen der Arbeitslosen im Vordergrund. Dagegen fördert der zweite Ansatz den eigenständigen Weg aus der Arbeitslosigkeit, indem zuvor Arbeitslose bei der Entwicklung und Etablierung einer selbstständigen Beschäftigung unterstützt werden. Gemeinsam ist jedoch die Idee, sowohl auf Arbeitgeber- als auch auf Arbeitnehmerseite den selektiven Anreiz zu setzen, dass die Leistungen während der Beschäftigung fortgesetzt und somit betriebliche wie individuelle Risiken der Beschäftigungsaufnahme gemindert werden. Eingliederungszuschuss Um solche Arbeitslose, deren Vermittlung wegen in ihrer Person liegenden Gründen erschwert ist, in eine versicherungspflichte Beschäftigung zu bringen, können Arbeitgeber einen Eingliederungszuschuss erhalten. Er stellt einen Ausgleich für eine tatsächliche oder vermutete Minderleistung dar und kann für maximal 12 Monate bis zu 50 % des Arbeitsentgelts betragen. Für ältere Arbeitslose sind längere Bezugszeiten und für Menschen mit Behinderungen höhere Sätze vorgesehen. Dadurch sollen Arbeitgeber bewegt werden, auch solche Personen einzustellen, von denen sie eine geringere Leistungsfähigkeit erwarten und die sie ohne Förderung nicht eingestellt hätten. Einstiegsgeld Das Einstiegsgeld nach SGB II richtet sich an hilfebedürftige Empfänger:innen von Arbeitslosengeld II. Ziel ist, die Aufnahme einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung oder selbstständigen Erwerbsarbeit attraktiv zu machen. Es wird zusätzlich zum Arbeitslosengeld II gezahlt. Der selektive Anreiz besteht in der zeit-

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lich befristeten Aufstockung des Arbeitsentgelts. Bei der Bemessung der Höhe des Einstiegsgeldes wird die vorherige Dauer der Arbeitslosigkeit sowie die Größe der Bedarfsgemeinschaft berücksichtigt, in der der erwerbsfähige Hilfebedürftige lebt. Außerdem ist ein Bezug zu den für die erwerbsfähigen Hilfebedürftigen jeweils maßgebenden Regelleistungen herzustellen. Das Einstiegsgeld kann zu Zeiten der Erwerbstätigkeit längstens für 24 Monate erbracht werden. Ob durch die Aufnahme einer Beschäftigung bzw. Selbstständigkeit später die Hilfebedürftigkeit entfällt, ist sowohl für die Dauer als auch für die Höhe ohne Belang. Eingliederungszuschuss und Einstiegsgeld dürfen nicht mit den allgemeinen und unbefristeten Lohnsubventionierungen verwechselt werden. Derartige „KombiLohnmodelle“ werden im Zusammenhang mit der Beschäftigungsförderung im Bereich gering qualifizierter und niedrig entlohnter Tätigkeiten seit Jahren äußerst kontrovers diskutiert. Im Unterschied dazu sind Eingliederungszuschüsse und auch das Einstiegsgeld zeitlich und auf besondere Zielgruppen beschränkt. Damit flankieren sie den Arbeitsmarkt nicht dauerhaft und systematisch, sondern sollen nur eine Brücke in reguläre Beschäftigung bieten. Zudem muss der Eingliederungszuschuss zurückgezahlt werden, wenn die Beschäftigung nach Ende des Förderzeitraums nicht mindestens 12 Monate andauert. Gründungszuschuss Empfänger von Arbeitslosengeld (nicht aber Arbeitslosengeld II) können für die Startund Etablierungsphase ihrer Existenzgründung mit einem Gründungszuschuss unterstützt werden. Für sechs Monate erhalten Gründer:innen einen monatlichen Zuschuss in Höhe des zuletzt bezogenen Arbeitslosengeldes zur Sicherung des Lebensunterhaltes zuzüglich 300 Euro für die soziale Absicherung. Für weitere neun Monate können 300 Euro pro Monat zur sozialen Absicherung geleistet werden, wenn eine intensive Geschäftstätigkeit und hauptberufliche unternehmerische Aktivität belegt wird. Eine fachkundige Stelle muss die Tragfähigkeit der Existenzgründung bescheinigen, i. d. R. sind dies die Kammern, Fachverbände oder Kreditinstitute. 8.3.6 Verbleib in Beschäftigung

Das Arbeitsförderungsrecht sieht zudem Leistungen und Maßnahmen vor, die bei unmittelbarer Bedrohung der Arbeitsplätze Entlassungen verhindern sollen. Dazu zählen das Kurzarbeitergeld, das Transfer-Kurzarbeitergeld und das Saison-Kurzarbeitergeld. Kurzarbeitergeld Das Kurzarbeitergeld ist eine Einkommensersatzleistung, die den bei einer Kurzarbeit entstehenden Einkommensverlust der Beschäftigten teilweise abdecken soll. Kurzarbeit liegt bei einer vorübergehenden Verringerung der regelmäßigen Arbeits-

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Arbeit und Arbeitsmarkt

zeit in einem Betrieb vor. Der Arbeitsausfall muss erheblich sein, d. h. er muss bei mindestens einem Drittel der beschäftigten Arbeitnehmer:innen zu mindestens 10 % Entgeltausfall führen. Ursächlich müssen wirtschaftliche Gründe sein, insbesondere wegen einer schlechten Konjunkturlage oder wegen eines unabwendbaren Ereignisses. Von der Kurzarbeit können alle oder nur ein Teil der Beschäftigten des Betriebes betroffen sein. Ob ein Arbeitgeber Kurzarbeit einführen darf und ob sich bei Kurzarbeit der Anspruch auf Arbeitsentgelt entsprechend verringert, richtet sich nach arbeitsrechtlichen Bestimmungen. Kurzarbeitergeld wird vor allem gewährt, um bei vorübergehendem Arbeitsmangel Arbeitsplätze zu sichern, Entlassungen zu vermeiden, dem Betrieb die eingearbeiteten, betriebsspezifisch qualifizierten Arbeitskräfte zu erhalten und kostenintensive Neueinstellungen zu vermeiden. Das Kurzarbeitergeld wird für längstens zwölf Monate gezahlt, bei außergewöhnlichen, den gesamten Arbeitsmarkt betreffenden Problemen kann die Bezugsdauer durch Rechtsverordnung auf bis zu 24 Monate verlängert werden. Das Kurzarbeitergeld wird für die Ausfallstunden geleistet. Es ist wie das Arbeitslosengeld eine Lohnersatzleistung und wird in ähnlicher Weise wie das Arbeitslosengeld berechnet. Kurzarbeiter mit mindestens einem Kind erhalten 67 % des (pauschaliert ermittelten) ausgefallenen Nettoeinkommens, für die übrigen Arbeitnehmer:innen gilt ein Satz von 60 %. Bei der „Kurzarbeit Null“ beträgt der Arbeitsausfall 100 %. Hier wird die Arbeit also vollständig eingestellt, das Kurzarbeitergeld ersetzt das gesamte Arbeitseinkommen. Transferkurzarbeitergeld Um Arbeitslosigkeit zu vermeiden, können nach dem SGB III auch Transferleistungen erbracht werden. Es handelt sich hierbei um ein betriebsnahes und mobilitätsorientiertes Förderinstrumentarium, das aus dem Transferkurzarbeitergeld und den Transfermaßnahmen besteht. Transferkurzarbeitergeld kann gezahlt werden, wenn Strukturveränderungen für einen Betrieb mit einer Einschränkung und Stilllegung des ganzen Betriebes oder wesentlicher Betriebsteile verbunden sind. Ferner müssen Beschäftigte von einem dauerhaften und unvermeidbaren Arbeits- und Entgeltausfall betroffen sein und zur Vermeidung von Entlassungen in einer eigenständigen betrieblichen Einheit (Transfergesellschaft) zusammengefasst werden. Die Höhe und die Bemessung entsprechenden Regelungen für das originäre Kurzarbeitergeld, und es wird längstens für zwölf Monate gezahlt. Die Lohnersatzleistung ist zusätzlich an die Bemühungen von Arbeitnehmer:innen und Arbeitgebern gebunden, Arbeitslosigkeit aktiv zu vermeiden. So müssen Arbeitnehmer:innen vor der Überleitung in eine betriebsorganisatorisch eigenständige Einheit an einer Maßnahme zur Feststellung der Eingliederungsaussichten teilgenommen haben. Die Arbeitgeber werden im Gegenzug verpflichtet, den betroffenen Beschäftigten während der Zahlung von Transferkurzarbeitergeld Vermittlungsvorschläge zu unterbreiten und erforderliche Qualifizierungsmaßnahmen anzubieten.

Arbeitsmarktpolitik

489

Solche Transfermaßnahmen können durch einen Zuschuss durch die Bundesagentur für Arbeit gefördert werden. Anders als beim herkömmlichen Kurzarbeitergeld muss ein/e Arbeitnehmer:in „von einem dauerhaften unvermeidbaren Arbeitsausfall mit Entgeltausfall“ betroffen sein – beispielsweise bei der Insolvenz des Arbeitgebers. Erforderlich ist zudem, dass sich der Arbeitgeber und der Betriebsrat von der Bundesagentur für Arbeit vor der Vereinbarung von Transfermaßnahmen beraten lassen. Die vorherige Beratung ist eine zwingende Leistungsvoraussetzung. Saisonkurzarbeitergeld Witterungsbedingungen im Winter können die Arbeit vor allem am Bau erheblich beeinträchtigen und zur Einstellung der Bautätigkeit mit Entlassung von Beschäftigten führen. Tritt in der Schlechtwetterzeit aus witterungsbedingten oder wirtschaftlichen Gründen oder infolge eines unabwendbaren Ereignisses in einem Betrieb des Baugewerbes oder eines anderen von saisonbedingtem Arbeitsausfall betroffenen Wirtschaftszweigs ein erheblicher Arbeitsausfall auf, so erhalten die von Entgeltausfall betroffenen Arbeitnehmer:innen Saisonkurzarbeitergeld. Vorgängerleistungen waren das Schlechtwettergeld und das Winterausfallgeld. Das Saisonkurzarbeitergeld wird in gleicher Höhe wie das konjunkturelle Kurzarbeitergeld gezahlt. Insolvenzgeld Im Insolvenzfall haben betroffene Arbeitnehmer:innen Anspruch auf Insolvenzgeld (vormals: Konkursausfallgeld), wenn sie für die letzten drei Monate des Arbeitsverhältnisses noch Ansprüche auf Arbeitsentgelt haben. Das Insolvenzgeld dient somit der Sicherung arbeitsvertraglicher Ansprüche. Es wird in Höhe des noch ausstehenden Nettoarbeitsentgelts bis zur Beitragsmessungsgrenze der Arbeitslosenversicherung (inklusive z. B. Urlaubsgeld, Zulagen, Jahressonderzahlungen, Lohnfortzahlung bei Krankheit) und an alle Beschäftigten gezahlt, also auch Auszubildenden, Heimarbeitenden und geringfügig Beschäftigten. Die Mittel für das Insolvenzgeld werden aus Umlagen der Arbeitgeber aufgebracht. 8.3.7 Arbeitsgelegenheiten und Förderung der Teilhabe am Arbeitsmarkt

Die vormaligen Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, die in einer Art Brückenfunktion auf den Übergang von einer öffentlich geförderten Beschäftigung im sog. zweiten Arbeitsmarkt in ein reguläres Beschäftigungsverhältnis zielten, sind seit 2012 abgeschafft worden. Nicht zuletzt war mit ihnen eine strukturpolitische Funktion verbunden, weil bestimmte Regionen und Tätigkeitsfelder im Zentrum der Förderung standen. Die im SGB II geregelten Arbeitsgelegenheiten unterscheiden sich grundsätzlich von den Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen. Arbeitsgelegenheiten sollen die Erwerbsfähigkeit erhalten und zugleich die soziale Integration der Hilfeempfänger fördern. Da die geleistete Arbeit im Sinne des Grundsatzes von „Fördern und Fordern“ als zu-

490

Arbeit und Arbeitsmarkt

mutbarer Beitrag zur Reduzierung der Hilfebedürftigkeit verstanden wird, müssen Arbeitsgelegenheiten, die im Rahmen von Eingliederungsleistungen angeboten werden, angenommen werden. Wer erwerbsfähig im Sinne des SGB II sowie verfügbar arbeitslos gemeldet ist, kann einer Arbeitsgelegenheit zugewiesen und dort befristet tätig werden. Insofern lassen sie sich auch als Test zur Überprüfung von Arbeitsbereitschaft und Vermittlungsfähigkeit einsetzen. Die Teilnehmenden erhalten eine Mehraufwandsentschädigung, die zuzüglich zum Arbeitslosengeld II gezahlt wird. Üblich ist es, dass der Stundensatz zwischen 1 Euro und 2 Euro liegt; der Begriff „Ein-Euro-Jobs“ leitet sich daraus ab. Erwerbsfähige Leistungsberechtigte dürfen innerhalb eines Zeitraums von fünf Jahren nicht länger als insgesamt 24 Monate in Arbeitsgelegenheiten zugewiesen werden. Die wöchentliche Beschäftigungszeit soll 30 Stunden nicht überschreiten, um Eigenbemühungen bei der Arbeitssuche noch zu ermöglichen. Mit den Hilfebedürftigen wird kein Arbeitsvertrag abgeschlossen, sondern die Beschäftigung erfolgt auf Basis eines sogenannten Sozialrechtsverhältnisses ohne Sozialversicherungspflicht. Zwar gelten alle Arbeitsschutzbestimmungen, aber die Teilnehmenden sind keine Arbeitnehmer:innen im rechtlichen Sinne, sie können daher weder die vertraglichen Bedingungen mitgestalten noch einfach kündigen. Die Arbeiten müssen zusätzlich und wettbewerbsneutral sein und im öffentlichen Interesse liegen. Besonders berücksichtigt werden sollen gemeinnützige Arbeiten. Maßnahmenträger sind in der Regel Kommunen, Einrichtungen der freien Wohlfahrtspflege und Beschäftigungsgesellschaften. Die in den vorangegangenen Jahren noch mögliche Ausgestaltung der Arbeitsgelegenheiten in einer sog. Entgeltvariante sieht das SGB II nicht mehr vor. In der Entgeltvariante wurden mit dem Hilfebedürftigen ein regulärer Arbeitsvertrag und damit ein sozialversicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis abgeschlossen. Die 2019 in den Leistungkatalog des SGB II aufgenommen Maßnahmen zur Teilhabe am Arbeitsmarkt sowie zur Eingliederung von Langzeitarbeitslosen beschreiten einen anderen Weg. Es geht bei den Teilhabechancen um die Förderung regulärer sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung sehr arbeitsmarktferner Personen, die über 25 Jahre alt sind, für mindestens sechs Jahre in den letzten sieben Jahren ALG II bezogen haben und in dieser Zeit nicht oder kurzzeitig beschäftigt waren. Unternehmen, die diese zugewiesenen Leistungsberechtigten einstellen, werden – bis zu einer maximalen Dauer von fünf Jahren – durch Lohnkostenzuschüsse gefördert: • • •

Der Zuschuss beträgt für die ersten beiden Jahre 100 Prozent des Mindestlohns. In jedem weiteren Jahr verringert sich der Zuschuss um 10 Prozent. Ist der Arbeitgeber tarifgebunden oder tariforientiert, wird das tatsächlich gezahlte Arbeitsentgelt berücksichtigt. Den Zuschuss erhalten alle Arbeitgeber, unabhängig von Branche, Rechtsform (nicht nur gemeinnützige oder öffentlich-rechtliche Arbeitgeber, sondern auch erwerbswirtschaftliche Arbeitgeber).

Arbeitsmarktpolitik

491



Die Kritierien „Zusätzlichkeit der Arbeit“, „Wettbewerbsneutralität“ und „öffentliche Interesse“ sind bei der Förderung nicht erheblich. • Die Arbeitsverhältnisse sind sozialversicherungspflichtig (aber keine Beiträge zur Arbeitslosenversicherung). • In den ersten sechs Monaten der Beschäftigung hat der Arbeitgeber den Beschäftigten für eine beschäftigungsbegleitende Betreuung durch das Jobcenter freizustellen (unter Fortführung der Bezahlung). Die davon zu unterscheidenden Maßnahmen zur Eingliederung von Langzeitarbeitslosen sehen vor, dass Unternehmen Lohkostenzuschüsse erhalten, wenn sie die Personen einstellen, die mehr als zwei Jahre arbeitslos waren, und wenn sie mit diesen ein Arbeitsverhältnis für die Dauer von mindestens zwei Jahren begründen. Der Zuschuss beträgt im ersten Jahr 75 Prozent und im zweiten 50 Prozent des zu berücksichtigen Arbeitsentgelts einschließlich der Arbeitgeberbeiträge zur Sozialversicherung (aber keine Beiträge zur Arbeitslosenversicherung). Den Zuschuss erhalten alle Arbeitgeber, unabhängig von Branche und Rechtsform (nicht nur gemeinnützige oder öffentlich-rechtliche Arbeitgeber, sondern auch erwerbswirtschaftliche Arbeitgeber). Für die Gewährung des Lohnkostenzuschusses sind besondere Merkmale der Langzeitarbeitslosen nicht maßgebend. 8.4

Wirkungen der arbeitsmarktpolitischen Instrumente

Die aktive Arbeitsmarktpolitik ist aufgrund ihrer Kostenintensität und der Konkurrenz zu den passiven Leistungen seit jeher großer öffentlicher und politischer Aufmerksamkeit ausgesetzt. Von daher liegt es nahe, dass die einzelnen Instrumente auf ihre Wirkung hin überprüft werden müssen. Die Arbeitsagenturen wie auch die Jobcenter sind gesetzlich verpflichtet, in regelmäßigen Abständen differenzierte Eingliederungsbilanzen (Kennzahlen wie Vermittlungsquoten, Eingliederungsquoten, Aktivierungsquoten, Mindestbeteiligung usw.) vorzulegen, die Vergleiche zwischen den Trägern ermöglichen und im Internet öffentlich sichtbar sind. Um die Wirksamkeit aktiver Arbeitsmarktpolitik angemessen beurteilen zu können, gilt es zunächst die verschiedenen Maßstäbe der Bewertung zu unterscheiden und die Ziele der Förderung zu benennen, aus denen sie abgeleitet werden. So kann vermieden werden, dass isolierte Erfolgskriterien angelegt werden, die auch nicht immer aus den Programmzielen abgeleitet sind. Ein Grund dafür liegt sicherlich in der Komplexität des Zielspektrums. Aktive Arbeitsmarktpolitik insgesamt wie auch einzelne Instrumente verfolgen stets ein ganzes Bündel von Zielen, die auch in Widerspruch zueinanderstehen können. Dieser Zielvielfalt und diesen Zielkonflikten muss jedoch in der Beurteilung und Diskussion Rechnung getragen werden. Die Wirkungen können z. B. unterschieden werden zwischen Fördereffekten, die

492

• • • • •

Arbeit und Arbeitsmarkt

sich auf der Makroebene (wie die des Arbeitsmarktes oder der Gesamtwirtschaft) oder Mikroebene (der individuell Geförderten) niederschlagen, sich als direkte oder indirekte Folgen der Förderung ergeben, bereits kurzfristig wirksam sind oder sich erst in mittel- und längerfristiger Sicht als erfolgreich erweisen, eine Nachhaltigkeit aufweisen oder schon nach kurzer Frist „verpuffen“, gewollt oder nicht gewollt sind.

Zu allererst steht die aktive Arbeitsmarktpolitik unter der Maßgabe der Effizienz und der Effektivität des Fördereinsatzes. Die Mittel sollen so eingesetzt werden, dass mit möglichst geringem Aufwand ein größtmöglicher Erfolg erreicht und größtmögliche positive Wirkungen erzielt werden. Primäres Ziel ist dabei die (Wieder-)Eingliederung von Arbeitslosen in den ersten Arbeitsmarkt. Gleichzeitig werden aber auch eine Reihe anderer Ziele – Nebenziele – benannt, wie die Verbesserung regionaler Wirtschaftsstrukturen oder die Gleichstellung von Frauen und Männern. Zwar nicht explizit im Gesetz benannt, können gleichwohl weitere Ziele an die Wirksamkeit aktiver Arbeitsmarktpolitik herangetragen und diskutiert werden. So werden der aktiven Arbeitsmarktpolitik z. B. auch „lohnpolitische Effekte“ zugeschrieben, die auf den Umstand hinweisen, dass der Einsatz von aktiver Arbeitsmarktpolitik je nach rechtlicher Ausgestaltung auch dazu dienen kann, unterwertige Beschäftigung zu verhindern. Diskutiert wird in diesem Fall nicht nur, ob der Fördereinsatz einem solchen Ziel nachkommt, sondern ob dieses Ziel überhaupt verfolgt werden soll. Auf der befürwortenden Seite wird damit die Schutzfunktion für Arbeitslose und Beschäftigte vor einem Lohnwettbewerb nach unten betont. Auf der widersprechenden Seite wird in dieser Debatte kritisiert, dass aktive Arbeitsmarktpolitik indirekt dazu beiträgt, das Lohnniveau zu stabilisieren und Kostensenkungen des Faktors Arbeit zu vermeiden. Evaluationsforschung Die wissenschaftliche Evaluation einzelner Instrumente greift über den Ansatz von Eingliederungsbilanzen hinaus. Es geht hier nicht um den regionalen Vergleich, sondern um die differenzierte Bewertung der Wirkungen der einzelnen Instrumente. Dies ist ein mitunter schwieriges Unterfangen – bezogen auf die Evaluationsforschung selbst und auf die Rezeption entsprechender Forschungsergebnisse. Die Probleme der Forschung sind insbesondere der Zugang und die Erschließung geeigneter Datengrundlagen sowie die methodischen Restriktionen verfügbarer Untersuchungsinstrumente (vgl. Übersicht V.3). Überwiegend werden von der Forschung Effekte auf der Mikroebene mit entsprechenden (mikroökonometrischen) Methoden in den Blick genommen. Eine ausgeglichene und umfassende Betrachtung der Wirkungen oder zumindest eine über die empirischen Befunde hinausgehende Würdigung einzelner Instrumente findet sich nur in seltenen Fällen.

Arbeitsmarktpolitik

493

Übersicht V.3 Ausgewählte Wirkungen aktiver Arbeitsmarktpolitik Art des Effekts

Beschreibung

Arbeitsmarktpolitsche Effekte Arbeitsmarktentlastungseffekte

Entzug von Arbeitsangebot auf dem Arbeitsmarkt durch Maßnahmenteilnahme von Arbeitslosen

Eingliederungseffekt

Aufnahme einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung im ersten Arbeitsmarkt

Klebeeffekt

Übergang von einer betrieblichen Fördermaßnahme in ein Beschäftigungsverhältnis im gleichen Betrieb

Lock-in-Effekt

Mögliche Abnahme der Suchintensität der Teilnehmer während der Laufzeit einer Maßnahme

Mitnahmeeffekt

Mögliche Inanspruchnahme von Fördermitteln, obwohl Förderziel auch ohne Förderung erreicht hätte werden können

Maßnahmeketteneffekt

Wiederholte Maßnahmenteilnahme durch Förderberechtigte (Effekt der Programmumsetzung)

Creaming-Effekt

Förderung leicht vermittelbarer Arbeitsloser bei geringer Zielgruppenspezifizierung des Instrumentes

Sozialpolitische Effekte Psych. Stabilisierungseffekt

Psycho-soziale Stabilisierung von Maßnahmeteilnehmer:innen (Effekt der Programmumsetzung)

Stigmatisierungseffekt

Negative Zuschreibung abwertender Merkmale aufgrund einer Maßnahmeteilnahme

Inklusions- und Kohäsionseffekt

Soziale Integration Einzelner wie sozialer Zusammenhalt in der Gesellschaft

(Para-)Fiskalische Effekte Kostensenkungseffekt

Reduzierung von Ausgaben für aktive oder passive Leistungen unabhängig von den Teilnahmezahlen

Kostenverlagerungseffekt

Verschiebung der Kosten für Arbeitslosigkeit zu anderen Budgets öffentlicher Haushalte

Gesamtgesellschaftliche und gesamtwirtschaftliche Effekte Beschäftigungseffekt

Schaffung zusätzlicher Arbeitsplätze

Qualifizierungseffekt

Erhalt und Verbesserung von Humankapital von Arbeitslosen oder in Erwerbsbevölkerung

Strukturpolitischer Effekt

Erhalt und Verbesserung regionaler Infrastruktur, Ausgleich oder Beförderung des wirtschaftlichen Strukturwandels

Substitutionseffekt

Ersatz ungeförderter Beschäftigung durch geförderte Beschäftigung in Betrieben, Branchen oder auf regionalen Arbeitsmärkten

Verdrängungseffekt

Verdrängung von Beschäftigung in ungeförderten Betrieben durch Wettbewerbsvorteile anderer Betriebe mit Förderung

494

Arbeit und Arbeitsmarkt

Die Fülle der vorliegenden Evaluationsstudien, die zum Teil zu abweichenden Ergebnissen kommen, lässt es nicht zu, die Befunde an dieser Stelle aufzulisten. Zu berücksichtigen ist dabei immer, dass die Wirksamkeit aktiver Arbeitsmarktpolitik strukturell eingeschränkt ist. Denn der Erfolg arbeitsmarktpolitischer Instrumente kann prinzipiell nicht isoliert von der jeweiligen Wirtschafts- und Finanzpolitik gesehen werden. Eine am Vollbeschäftigungsziel orientierte staatliche Wirtschaftspolitik erhöht den Spielraum für die Arbeitsmarktpolitik im engeren Sinne, eine beschäftigungsunwirksame Wirtschaftspolitik schränkt die Wirkungsmöglichkeiten aktiver Arbeitsmarktpolitik weitgehend ein. Würden beispielsweise im Rahmen öffentlich finanzierter Beschäftigungsprogramme zusätzliche Dauerarbeitsplätze geschaffen, so könnten die bislang nur befristet in Maßnahmen untergebrachten Arbeitnehmer:innen in stabile Dauerarbeitsplätze übernommen werden. Staatliches Nichthandeln bzw. der Abbau von Beschäftigungsmöglichkeiten auch im öffentlichen Sektor kann demgegenüber die Beschäftigungslücke vergrößern. Fehlen entsprechende Arbeitsplätze führen Qualifizierungsmaßnahmen dann zwar zu besseren individuellen Vermittlungschancen, aber aufgrund des Defizits an Arbeitsplätzen wird das Niveau der Arbeitslosigkeit dadurch nicht gesenkt. Daher kommt es auf einen guten Politikmix von gesamtwirtschaftlicher Beschäftigungspolitik und aktiver Arbeitsmarktpolitik an, um die verschiedenen Effekte der Politikfelder, die aufeinander verweisen und die ineinandergreifen müssen, für das Gesamtziel des Abbaus von Arbeitslosigkeit zur Wirkung zu bringen. 8.5

Teilnehmerzahlen der Arbeitsförderung

Die Zahl der Teilnehmer:innen an arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen in den Rechtskreisen SGB III und SGB II ist seit 2006 insgesamt gesunken. Wurde im Jahr 2006 noch ein jahresdurchschnittlicher Bestand von knapp 1,6 Mio. Personen registriert, ging die Zahl bis 2018 auf rund 840 000 Personen zurück, hat sich also nahezu halbiert (vgl. Abbildung V.31). Allerdings zeigt sich zwischen 2015 und 2017 erstmals seit 2009 ein leichter Anstieg. Vergleicht man die Zahl der Teilnehmer:innen mit der Zahl der (registrierten) Arbeitslosen, zeigt sich, dass keine Parallelentwicklung vorliegt. Die Abnahme bei den Teilnehmern fällt stärker aus als der Abbau der Arbeitslosigkeit. Der Rückgang der Maßnahmeteilnehmer:innen insgesamt betrifft – bis auf eine Ausnahme – alle hier berücksichtigten Instrumente. In etwa konstant bleiben lediglich die Maßnahmen zur Teilhabe behinderter Menschen. Besonders scharf, nämlich um mehr als zwei Drittel, sind die Beschäftigung schaffenden Maßnahmen reduziert worden. Dies bezieht sich im Wesentlichen auf die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, die 2012 gänzlich ausgelaufen sind, aber auch die Arbeitsgelegenheiten weisen eine stark rückläufige Tendenz auf. Der Rückgang bei den Maßnahmen zur Aufnahme einer Erwerbstätigkeit lässt sich auf die Kürzungen bei den Eingliederungszuschüssen

Arbeitsmarktpolitik

495

Abbildung V.31 Teilnehmende an Maßnahmen der Arbeitsförderung 2006 – 2018 1,63 Mio.

1,56 Mio. freie Förderung

85.959 1,19 Mio.

93.476

338.600

365.945 0,86 Mio.

198.007

358.980

0,84 Mio. 0,89 Mio.

72.689 293.937

389.912

69.248

146.423

95.529

264.215

117.045

111.960

256.581

195.817

232.495 255.012

161.988

86.592 2006

2007

2008

2009

2010

2011

161.555 2012

2013

2014

94.164

Beschäftigung schaffende Maßnahmen Aufnahme einer Erwerbstätigkeit

166.236

berufliche Weiterbildung

166.429

155.481

260.496

Maßnahmen zur Teilhabe Behinderter

116.869

178.367 211.735

67.095

180.750

191.271

167.649

192.420

2015

2016

2017

Berufswahl und Berufsausbildung Aktivierung und berufliche Eingliederung

2018

Quelle: Bundesagentur für Arbeit (zuletzt 2019), Arbeitsmarkt in Zahlen, Förderstatistik.

und bei der Förderung der Selbstständigkeit zurückführen. Allerdings zeigt sich hier seit 2014 wieder ein leichter Anstieg der geförderten Personen. Die Teilnehmerzahlen an Maßnahmen der beruflichen Weiterbildung sind seit 1996, bedingt durch eine drastische Kürzung der eingesetzten Mittel, in zwei Schüben (1996 – 1998 und 2001 – 2005) stark zurückgefahren worden. Zwischen 2006 (204 Tausend Geförderte) und 2009 (264 Tausend Geförderte) erfolgte ein leichter Wiederanstieg, der aber bis 2012 um über 100 Tausend gesunken ist. Erst seitdem weist die Entwicklung wieder leicht nach oben (vgl. dazu Kapitel „Qualifikation“, Pkt. 10.2). Auffällig ist, dass in den Rechtskreisen des SGB II und SGB III unterschiedliche Schwerpunkte bei den arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen gesetzt werden. Während Teilnehmer:innen aus dem Bereich des SGB III überwiegend bei der Findung einer Berufsausbildung und der beruflichen Weiterbildung unterstützt werden, finden sich Teilnehmer:innen aus dem SGB II überwiegend in kurzfristigen Maßnahmen zur Aktivierung und beruflichen Eingliederung sowie in Arbeitsgelegenheiten wieder. Aber gerade im Hartz IV System konzentrieren sich die gering qualifizierten Arbeitslosen. Dennoch fördern die Jobcenter diese Zielgruppe mit Qualifizierungsmaßnahmen deutlich seltener als die Arbeitsagenturen. Auch an diesem Beispiel zeigt sich, dass es eine Arbeitsmarktpolitik erster und zweiter Klasse gibt.

496

Arbeit und Arbeitsmarkt

Abbildung V.32 Eingliederungszuschuss, SGB II, SGB III und insgesamt, 2006 – 2018

134,9 127,2

72

62,2

121,9 55,1,0

112,1 50,5

94,8 38,5

82,2 39,5

70,8

61,6

65,0

62,9

29,4

66,8 56,3

42,7

58,3

58,1

26,0

27,3

32,3

30,8

60,4

60,3

62

28,5

29,2

28

54,9,0

Insgesamt

25,0

41,4

SGB II 31,9

31,1

34

30,0

SGB III 2006

2007

2008

2009

2010

2011

2012

2013

2014

2015

2016

2017

2018

Quelle: Bundesagentur für Arbeit (zuletzt 2019), Arbeitsmarkt in Zahlen, Förderstatistik.

Eingliederungszuschüsse Der Einsatz von Eingliederungszuschüssen unterlag in den zurückliegenden Jahren starken Schwankungen. Während vor allem in den Jahren nach 2005 stark steigende Zahlen zu verzeichnen waren (mit einem Höchststand von rund 154 Tsd. im Jahr 2009), ist danach ein abrupter Rückgang zu verzeichnen, auf bis zu 58 Tsd. Bestandsfälle im Jahresdurchschnitt 2013. Seitdem zeigt sich eine weitgehende Konstanz (vgl. Abbildung V.32). Bei den Eingliederungszuschüssen handelt es sich um Ermessensleistungen („Kann-Leistung“), auf die kein Rechtsanspruch besteht und durch die keine zusätzliche Beschäftigung generiert wird. Die starken Schwankungen bei den Förderzahlen sind insofern auch ein Ergebnis der Bewilligungspraxis. Zu unterscheiden ist seit 2005 zwischen den Rechtsgebieten SGB III und SGB II. Obgleich der weitaus größte Teil der Arbeitslosen sich im Bereich des SGB II befindet, liegen die Anteile der dem SGB II zugeordneten Arbeitslosen bei den Eingliederungszuschüssen bei nur 45 %. Förderung der Selbstständigkeit Im Gegensatz zu den Eingliederungszuschüssen spielt die Förderung der Aufnahme einer selbstständigen Tätigkeit durch Leistungen der Bundesagentur für Arbeit erst seit den Hartz-Reformen eine (quantitativ) größere Rolle. Ältestes und aktuell wichtigstes Instrument ist dabei der Gründungszuschuss, der geleistet wird, wenn

Arbeitsmarktpolitik

497

Abbildung V.33 Förderung der Selbstständigkeit 2006 – 2018

300.000

299.544

250.000

237.178 Existenzgründungszuschuss ("Ich AG") bis 2007

200.000

Einstiegsgeld für selbstständige Tätigkeit (SGB II) seit 2005

180.002 145.003

150.000

291.927

56.520

Überbrückungsgeld bis 2007

Leistungen zur Eingliederung (SGB II) (seit 2012)

145.054

154.171 10.640

18.815

136.020 8.019

100.000 76.549 123.482 50.000

126.239

143.531

128.001

Insgesamt

7.524

92.175 69.025

32.836

31.713

6.599

5.630

19.079

26.237

2013

2014

26.982 7.903

0

Gründungszuschuss seit 2006

7.617 2006

2007

2008

2009

2010

2011

2012

29.021

27.073

26.083

24.469

23.208

2015

2016

2017

Quelle: Bundesagentur für Arbeit (2018), Arbeitsmarkt in Zahlen, Förderstatistik.

Arbeitslose bis zur Aufnahme der selbstständigen Tätigkeit Anspruch auf Entgeltersatzleistungen nach dem SGB III haben (Restanspruch auf Arbeitslosengeld von mindestens 90 Tagen). Die Höchstzahl der Förderfälle wurde in den Jahren 2004 und 2005 mit rund 300 000 Personen erreicht. Dafür verantwortlich waren die Ausweitung des Überbrückungsgeldes sowie insbesondere die Einführung des Existenzgründungszuschusses, der unter dem Namen „Ich-AG“ bekannt wurde. Beide Leistungen sind 2007 ausgelaufen. Vergleichsweise unbedeutend sind die Förderleistungen im SGB II, nämlich „Leistungen zur Eingliederung“ und „Einstiegsgeld“. Insgesamt ist seit 2005 ein kontinuierlicher Rückgang der Förderfälle zu beobachten. Die Zahl der Förderfälle im Jahr 2018 (rund 24 000) liegt um etwa 92 % niedriger als im Jahr 2006 (vgl. Abbildung V.33). Arbeitsgelegenheiten Die Arbeitsgelegenheiten nach dem SGB II sind das einzige Instrument, das noch als „Beschäftigung schaffend“ eingestuft werden kann. Allerdings überwiegen die sozialintegrativen Wirkungen. Die Zahl der geförderten Personen in Arbeitsgelegenheiten ist in den vergangenen Jahren stark zurückgegangen. Waren es in den Jahren von 2006 bis 2010 immer zwischen 320 000 und 300 000, so hat sich die Zahl seitdem auf 87 000 (2018) reduziert (vgl. Abbildung V.34).

498

Arbeit und Arbeitsmarkt

Abbildung V.34 Geförderte Personen in Arbeitsgelegenheiten 2006 – 2018

327.628 287.270

322.732 281.679

314.998 255.892

10,2 10,0

10,4

322.386 229.244

12

306.162 225.733

10,7

10,7

10

Insgesamt

8

188.173 7,2 149.125

in % der Arbeitslosen** im Bereich SGB II (rechts Achse) 6 136.935 Mehraufwandsvariante ("1-Euro-Jobs")

129.230

111.428 4,6 110.741

96.731 96.634

3,7

3,1

4,7

4,6

87.120

86.802

87.073

80.125

4,7 92.560 79.738

4,8

87.137

4

71.931

2 Entgeltvariante

40.358

2006

41.053

59.106

93.142

80.429

39.048

2007

2008

2009

2010

2011

2012

2013

2014

2015

2016

12.822*

15.206*

2017

2018

0

* Bundesprogramm Soziale Teilhabe am Arbeitsmarkt *Quelle: Bundesagentur für Arbeit (zuletzt 2019), Förderstatistik.

8.6

Arbeitsmarktprogramme von EU, Bundesregierung und Bundesländern, Aktivitäten der Kommunen

Europäischer Sozialfonds Seit Mitte der 80er Jahre stellt die Europäische Union Mittel aus den vier Europäischen Strukturfonds zur Verfügung. Sie dienen im weitesten Sinne dem Ausgleich der unterschiedlichen Lebensverhältnisse zwischen den EU-Mitgliedsstaaten. Dabei handelt es sich um Zuschüsse zu je nationalen bzw. regionalen Entwicklungsprojekten der Wirtschafts-, Regional- und Arbeitsmarktpolitik. Der Europäische Sozialfonds (ESF) verfolgt im Rahmen der sechs grundlegenden Zielsetzungen der EU-Strukturfonds die Förderung und Umsetzung verschiedener Ziele, insbesondere die arbeitsmarktpolitischen Ziele 3 und 4. Dazu gehören vor allem: • • • •

Bekämpfung der Langzeitarbeitslosigkeit und des Ausschlusses vom Arbeitsmarkt, Erleichterung des Zugangs zum Arbeitsmarkt für junge Menschen, Förderung der Chancengleichheit auf dem Arbeitsmarkt, Erleichterung der Anpassung von Arbeitskräften an den industriellen Wandel und die Veränderungen der Produktionssysteme,

Arbeitsmarktpolitik

499

• Förderung des Wachstums und der Stabilität von Beschäftigung, • Ausbau und Verbesserung der Bildungs- und Ausbildungssyteme. In der Förderperiode 2014 – 2020 erhält Deutschland Strukturfondsmittel in Höhe von ca. 19,3 Mrd. Euro. Hiervon entfallen auf den Europäischen Sozialfonds ca. 7,5 Mrd. Euro. Angesichts der günstigen Beschäftigungslage in Deutschland fällt dieser Betrag gering aus. Begünstigte der Strukturfondsmittel sind vor allem jene Länder, die unter einer massiven, anhaltend hohen Arbeitslosigkeit leiden. Die Mittel für Deutschland verteilen sich wie folgt auf die Regionen: •

stärker entwickelte Regionen (westdeutsche Bundesländer inkl. Region Leipzig und Berlin: 4,23 Mrd. Euro (56,4 %), • Übergangsregionen (ostdeutsche Bundesländer): 3,26 Mrd. Euro (43,6 %) Die ESF-Mittel werden von Bund und Ländern separat verwaltet und grundsätzlich als ergänzende Mittel zur Kofinanzierung eingesetzt, um zu verhindern, dass sie an die Stelle nationaler Mittel treten. Konkret ist vorgesehen, dass die Mitgliedsstaaten in allen betroffenen Gebieten ihre öffentlichen Strukturausgaben bzw. Ausgaben gleicher Art mindestens in gleicher Höhe wie bisher aufrechterhalten. Die Maßnahmen werden zum ganz überwiegenden Teil auf Grundlage der national bzw. regional erarbeiteten Entwicklungspläne ausgearbeitet, ein kleinerer Teil basiert auf spezifischen Initiativen der EU selbst. Die Mittel dienen zur Kofinanzierung von (zusätzlichen) Maßnahmen der aktiven Arbeitsmarktpolitik nach dem SGB III und SGB II sowie von Sonderprogrammen des Bundes und der Länder. Damit werden Maßnahmen ermöglicht, die zwar arbeitsmarktpolitisch sinnvoll sind, für die aber gesetzlich keine Förderleistungen vorgesehen sind. Bund und Länder Die im SGB II und SGB III kodifizierte Regelförderung in der Arbeitsmarktpolitik wird ergänzt durch zeitlich befristete Sonderförderprogramme des Bundes und der Länder. Hierzu werden zusätzliche Mittel bereitgestellt, die Durchführung erfolgt durch die BA und die Jobcenter bzw. durch beauftragte Träger. Die Liste der Programme ist lang, die Förderkonditionen sind kaum überschaubar. Die Programme zielen auf besondere Problembereiche und Problemgruppen des Arbeitsmarktes, orientieren sich an regionalen Schwerpunkten und sind häufig durch EU-Mittel kofinanziert. Nachstehend werden beispielhaft einige Bundesprogramme benannt, die teilweise bereits ausgelaufen sind, teilweise aber auch noch andauern: • •

Perspektive 50+, Einstieg arbeitsloser Jugendlicher in Beschäftigung und Qualifizierung („Jump Plus“),

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• • • •

Arbeit und Arbeitsmarkt

(Wieder-)Einstieg von Langzeitarbeitslosen ab 25 Jahren in Beschäftigung („Arbeit für Langzeitarbeitslose“), Förderung der beruflichen Mobilität von ausbildungsinteressierten Jugendlichen aus Europa („MobiPro-EU“), Programm zum Abbau von Langzeitarbeitslosigkeit, Soziale Teilhabe am Arbeitsmarkt.

Auch die Bundesländer haben eine Vielzahl von speziellen arbeitsmarktpolitischen Programmen aufgelegt, die ebenfalls auf besondere Problembereiche des Arbeitsmarktes abzielen. Dabei gibt es sowohl eigenständige Programmansätze als auch Aufstockungen der Arbeitsförderung durch die Bundesagentur für Arbeit sowie kofinanzierte Programme im Zusammenhang mit den EU-Strukturfonds. Vielfach greifen regional- und strukturpolitische Fördermaßnahmen und arbeitsmarktpolitische Programme ineinander. Die inhaltlichen Schwerpunkte, die je nach Land unterschiedlich gestaltet werden, lassen sich folgendermaßen zusammenfassen: • Flankierung des regionalen und sektoralen Strukturwandels, • Qualifizierung von Zielgruppen (z. B. Jugendliche), • Wiedereingliederungsprogramme (z. B. für Berufsrückkehrer:innen), • spezielle Beschäftigungsprogramme (z. B. für ältere Arbeitslose), • Ausbau der arbeitsmarktpolitischen Beratungs- und Informationsstruktur. Einzelne Studien haben zeigen können, dass es den Ländern durchaus gelingt, neue Förderkonzepte und Förderstrukturen zu entwickeln, die innovative Impulse für die Politik anderer Länder und der Bundesebene setzen können. Die Ausgaben der Bundesländer für die aktive Arbeitsmarktpolitik sind im Vergleich zum Bund und zur Bundesagentur für Arbeit deutlich niedriger. Kommunen Absicherung bei Arbeitslosigkeit und Arbeitsförderung sind seit der Einführung des SGB II auch Aufgaben der Kommunen, die sie gemeinsam mit den Arbeitsagenturen oder auch in alleiniger Trägerschaft durchführen. Aber schon weit früher haben sich die Städte, Gemeinden und Kreise dieser Aufgabenstellung zugewandt und eine eigene Arbeitsmarktpolitik entwickelt („Kommunalisierung der Arbeitsmarktpolitik“). Anlass war die Zuständigkeit für die kommunal finanzierte Sozialhilfe und für die soziale Absicherung eines steigenden Anteils von Arbeitslosen. Kern der Arbeitsmarktpolitik war die Schaffung von Arbeitsgelegenheiten („Hilfe zur Arbeit“), zu denen die Kommunen auf Grundlage des damaligen Bundessozialhilfegesetzes ermächtigt waren. Die zugelassenen kommunalen Träger (zkT) sind für die gesamte Umsetzung des SGB II alleinverantwortlich, neben der Leistungsgewährung u. a. auch für die Beratung, Arbeitsvermittlung und Arbeitsförderung. Die Ausgaben für Arbeitslosen-

Arbeitsmarktpolitik

501

geld II sowie die Verwaltungskosten werden den Optionskommunen vom Bund erstattet. Die zwei Modelle der Trägerschaft sind Ergebnis eines politischen Kompromisses im Gesetzgebungsprozess. Gegenüber der zentralen Lösung (Trägerschaft der Bundesagentur für Arbeit) wurde der dezentralen Lösung (Trägerschaft der Kommunen) neben der größeren örtlichen Problemnähe vor allem zugutegehalten, dass ein Wettbewerb zwischen den Kommunen um die besten Modelle und größeren Erfolge bei der Eingliederung von Langzeitarbeitslosen in den Arbeitsmarkt initiiert wird. Von der Konkurrenz um die beste Praxis wird erwartet, dass sie die Effizienz und Effektivität des Mitteleinsatzes erhöht. Bei den auf Kennzahlen basierenden Vergleichen zwischen den einzelnen Trägern der Grundsicherung lässt sich allerdings weder eine höhere Erfolgsquote der zugelassenen kommunalen Träger noch der gemeinsamen Einrichtungen feststellen. Vielmehr erweist es sich als Problem, dass die alten Doppelstrukturen von Sozialhilfe und Arbeitslosenversicherung durch die neuen Doppelstrukturen von Grundsicherung (Jobcenter) und Arbeitslosenversicherung (Arbeitsagenturen) abgelöst worden sind und dass diese Spaltung durch die Zweiteilung der organisatorischen Struktur der Aufgabenwahrnehmung nach dem SGB II noch verstärkt wird. 8.7

Beschäftigungsinitiativen

Um der Verfestigung von Beschäftigungsproblemen bis hin zur Langzeitarbeitslosigkeit und einem langfristigen Bezug von Leistungen der Grundsicherung entgegenzuwirken, haben sich in der Vergangenheit auf kommunaler Ebene Beschäftigungsinitiativen entwickelt, die insbesondere schwer vermittelbaren Arbeitslosen Beschäftigungsmöglichkeiten, Qualifizierung und soziale Betreuung bieten. Sie führen u. a. die Maßnahmen der Arbeitsförderung nach dem SGB III und nach dem SGB II sowie die Förderprogramme der Bundesländer und der EU durch. So haben etwa die Wohlfahrtsverbände und die Kirchen eigene, gemeinnützige Beschäftigungsinitiativen gegründet, und auch viele Kommunen haben die Durchführung ihrer Maßnahmen zu einem großen Teil an neu gegründete kommunale Beschäftigungsinitiativen übertragen. Vorteil dieser eigenständigen, spezialisierten Trägerstruktur ist vor allem, dass die unterschiedlichen Fördermittel (Arbeitsverwaltung, Grundsicherung, Sonderprogramme des Bundes, Sonderprogramme der Länder, Leistungen der Kommunen, Ko-Finanzierung durch die EU) und Spendung, Zuwendungen der Kirchen und Einnahmen aus einem Sponsoring besser miteinander kombiniert werden können. Zudem sind die Träger aufgrund ihrer Personalbesetzung und Professionalität auch in der Lage, die Beschäftigungsmaßnahmen mit Qualifizierungsmodulen und sozialer Betreuung zu verbinden. Auch projektförmige, zeitlich befristete Förderungen lassen sich leichter durchführen. Außerdem lässt sich die Zusätzlichkeit der Arbeit leichter

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Arbeit und Arbeitsmarkt

belegen, wenn Beschäftigungsmaßnahmen nicht in die regulären Arbeitsabläufe z. B. von Kommunen oder Wohlfahrtsverbänden einbezogen sind. Die Landschaft der Beschäftigungsinitiativen in Deutschland ist äußerst vielfältig. Hervorzuheben sind insbesondere soziale Initiativen. Sie konzentrieren sich auf besondere Zielgruppen der Arbeitsmarktpolitik. Sie dienen damit als Träger für die unterschiedlichen Beschäftigungs- und Qualifizierungsprogramme von Arbeitsverwaltung, Grundsicherung, Bund und Länder und bieten den zugewiesenen Beschäftigten befristete Arbeitsverhältnisse oder Arbeitsgelegenheiten an. Beschäftigungsinitiativen, häufig auch als Beschäftigungsgesellschaften bezeichnet, sind nicht zu verwechseln mit den Beschäftigungs- und Qualifizierungsgesellschaften, die im Rahmen der Tranferleistungen und des Transfer-Kurzarbeitergelds einen möglichst nahtlosen Übergang von einem z. B. stillgelegten oder insolventen Betrieb in eine neue Beschäftigung sicherstellen sollen. Deren Ziel ist es, den Arbeitnehmer:innen zu ermöglichen, durch Qualifizierungsmaßnahmen und Unterstützung in der Bewerbungsphase ein neues Arbeitsverhältnis finden zu lassen, ohne zwischenzeitlich in Arbeitslosigkeit zu geraten. Ein zusammenfassender Überblick über die unterschiedlichen Träger und Maßnahmen der Beschäftigungsinitiativen ist kaum möglich. Unterscheiden lässt sich nach folgenden Kriterien: • Zielgruppen: Jugendliche, Langzeitarbeitslose, Schwervermittelbare, Frauen nach der Familienphase, Migranten, • Zielsetzung: Beschäftigung und Qualifizierung und/oder soziale Teilhabe, • Dauer. kurzfristige Projekte oder längerfristig orientierte Betriebe, kurzfristige oder längerfristige Förderung der Teilnehmer, • Marktnähe: völlige Abkoppelung von Marktanforderungen oder Orientierung auf Marktfähigkeit und längerfristige Unabhängigkeit von öffentlicher Förderung durch kostendeckende Erlöse. Die Wirkungen der Beschäftigungsinitiativen auf dem Arbeitsmarkt lassen sich nur schwer abschätzen. Entlastungswirkungen entstehen zunächst dadurch, wenn die Initiativen Personen beschäftigten, die ansonsten arbeitslos wären oder blieben. Bei einer Gesamtsicht des Arbeitsmarktes muss allerdings jeweils auch beobachtet werden, ob durch die Maßnahmen wirklich zusätzliche Beschäftigung entsteht, oder ob es in Konkurrenz zu nicht geförderten Betrieben und Arbeitsplätzen lediglich zu einer Verdrängung vorhandener Arbeitsplätze kommt. Diese Verdrängungskonkurrenz befürchten vor allem die regulären Handwerks- und Kleinbetriebe vor Ort. Allerdings muss gefragt werden, ob das primäre Ziel der Beschäftigungsinitiativen wirklich darin besteht, die Betroffenen wieder für den ersten Arbeitsmarkt „fit“ zu machen. Je mehr sich die Maßnahmen auf Personen beziehen, die schon lange keinen Kontakt zur Arbeitswelt mehr haben und als „arbeitsmarktfern“ zu bezeichnen

Herausforderungen und Reformbedarfe

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sind, umso mehr überwiegt der sozial-integrative Charakter der Maßnahmen (vgl. Pkt. 8.3.7 dieses Kapitels).

9

Herausforderungen und Reformbedarfe

9.1

Gesamtwirtschaftliche Rahmenbedingungen und der Erfolg der „Hartz-Gesetze“

Betrachtet man die Lage auf dem Arbeitsmarkt in Deutschland aus mittel- und langfristiger Perspektive, so überwiegen eindeutig die Phasen mit hoher Arbeitslosigkeit. Ist also die Entwicklung seit etwa 2006, die – kurz unterbrochen durch die Finanzkrise 2008/2009 – durch einen dauerhaften konjunkturellen Aufschwung, eine anhaltende Zunahme der Zahl der Erwerbstätigen und einen deutlichen Rückgang der Arbeitslosigkeit gekennzeichnet ist, Ausdruck eines grundsätzlichen Umbruchs ? Welche Faktoren sind für den positiven Trend verantwortlich, waren es, wie von der Politik gerne behauptet, die Hartz-Reformen von 2005 und damit einhergehend der Ausbau des Niedriglohnsektors und der atypischen Beschäftigungsverhältnisse, die Einschränkung der sozialen Absicherung bei Arbeitslosigkeit und das Aktivierungsparadigma in der Arbeitsmarktpolitik ? Sicherlich ist es schwierig, die wirtschaftliche Entwicklung über einen längeren Zeitraum hinweg zu prognostizieren. Es spricht aber wenig dafür, dass sich der Aufschwung kontinuierlich fortsetzt. Vielmehr ist zu befürchten, dass es infolge ökonomischer Verwerfungen in Deutschland selbst, im Euro-Raum und in der EU insgesamt sowie auf den Weltmärkten auch wieder zu konjunkturellen Einbrüchen kommen kann. Wie tief und wie dauerhaft solche Rezessionen sein werden und ob sie erneut vom Banken-, Finanz- und Währungssektor ausgehen, lässt sich kaum bestimmen. Sicher ist aber, dass der Arbeitsmarkt nicht unberührt bleiben wird, wenn sich die Arbeitsnachfrage der Unternehmen konjunkturell rückläufig entwickelt. Entscheidend wird dabei sein, wie sich die Wirtschafts-, Finanz-, Haushalts- und auch Sozialpolitik diesen Herausforderungen stellen – mit einer angebotsorientierten Strategie, die mit ihren restriktiven Einschnitten bis hin zu einer strengen Austerität reicht, oder mit einer nachfrageorientierten Strategie, die versucht, möglichst europäisch abgestimmt, die Nachfrageausfälle durch eine expansive Haushalts- und Sozialpolitik zu überwinden. Den gesamtwirtschaftlichen Rahmenbedingungen kommt also eine Schlüsselrolle für die Arbeitsnachfrage und die Bekämpfung von Arbeitslosigkeit zu. Wenn dieser – hier nur grob skizzierte – Zusammenhang die Situation zutreffend beschreibt, dann hat die populäre These keinen Bestand, die politisch hart umkämpften HartzGesetze seien zwar in ihren sozialen Auswirkungen durchaus schmerzlich gewesen, hätten aber letztlich zum Abbau der Arbeitslosigkeit geführt. Die vorliegenden ökonomischen Analysen und Daten weisen nämlich ganz eindeutig darauf hin, dass

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Arbeit und Arbeitsmarkt

es sich sowohl bei der Zunahme der Arbeitsnachfrage und des Arbeitsvolumens als auch beim Rückgang von Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung um gesamtwirtschaftliche Niveaueffekte handelt. Diese sind bereits vor dem Inkrafttreten der Hartz-Gesetze eingetreten und haben sich seitdem über Jahre hinweg fortgesetzt. Ein sich selbst verstärkender Dauer-Effekt der Hartz-Gesetze lässt sich hingegen nicht erkennen. Für die Vermutung, dass durch das SGB II neue, zusätzliche Arbeitsplätze generiert werden, findet sich keine empirische Bestätigung. Der Aufschwung war und ist im Wesentlichen von der Zunahme des Exports aus dem verarbeitenden Gewerbe getragen, der sich vor allem auf die Entwicklung innovativer Produkte, die hohe Lieferzuverlässigkeit und Fertigungsqualität, im Kern also auf Erfolge in der Innovationsund Qualifizierungspolitik und nicht auf niedrige Löhne und abgesenkte Leistungen bei Arbeitslosigkeit, zurückführen lassen. Hinzu getreten ist dann eine Expansion der privaten Konsumnachfrage. Empirisch bestätigt ist allerdings, dass sich in den letzten Jahren das Verhältnis von offenen Stellen und Arbeitslosen günstiger entwickelt hat und offene Stellen schneller besetzt worden sind. Zweifelhaft ist jedoch, ob und inwieweit die verschärften Zumutbarkeitsregelungen und Sanktionen im SGB II oder die zeitliche Begrenzung des Bezugs von Arbeitslosengeld dafür verantwortlich waren. Denn auch die These, dass der Verbleib in Arbeitslosigkeit durch das Verhalten von Arbeitslosen verursacht sei, da keine ausreichende Bereitschaft bestehe, Arbeit aufzunehmen oder da es sich finanziell nicht zu arbeiten lohne, lässt sich empirisch nicht bestätigen. Arbeitslosigkeit ist und bleibt im Kern die Folge eines unzureichenden Angebots an freien Arbeitsplätzen. Letztlich ändern an dem Umstand, dass Arbeitsplätze fehlen und Arbeitslose um offene Stellen konkurrieren müssen, auch die stärkste Arbeitsmotivation, die größten finanziellen Arbeitsanreize und die umfassendste Mobilität nichts. Einen treffenden Beleg für den Tatbestand, dass Arbeitslosigkeit Folge eines Arbeitsmarktungleichgewichtes ist und nicht als Problem von Verhaltensmustern der Arbeitslosen, fehlenden Arbeitsanreizen oder unzureichender Sanktionsinstrumente umgedeutet werden kann, findet sich in den beträchtlichen regionalen Differenzen der Arbeitslosigkeit. Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, dass Arbeitsmotivation und Arbeitsanreize in jenen Regionen gering sind, die durch hohe Arbeitslosenquoten gekennzeichnet sind. Die teilweise immer noch sehr hohe Arbeitslosigkeit in einzelnen Regionen und Städten erklärt sich aus der regionalen Wirtschaftsstruktur. Auch Sanktionen können erst auf die Weigerung gegenüber einem konkreten Vermittlungsoder Eingliederungsangebot erfolgen. Einige der sozialen Verwerfungen, die durch die Politik nach 2005 entstanden bzw. verstärkt worden sind, sind in den zurückliegenden Jahren – zumindest teilweise – wieder ausgeglichen worden. So wurde der ausgedehnte Niedriglohnsektor durch die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns im Jahr 2015 und dessen nachfolgenden Anhebungen eingeschränkt. Trotz vieler Warnungen, dass dies zu einem massenhaften Verlust von niedrigproduktiven Arbeitsplätzen und zu einem Wiederaufschwung

Herausforderungen und Reformbedarfe

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der Arbeitslosigkeit führen werde, lassen sich keine negativen Beschäftigungseffekte erkennen. Auch die Verlängerung der Arbeitslosengeldbezugsdauer für Ältere und die Begrenzungen bei der Leiharbeit haben keine negativen Spuren auf dem Arbeitsmarkt hinterlassen. 9.2

Arbeitsförderung und Arbeitslosenunterstützung

Wenngleich es sinnvoll wäre, die Doppelstrukturen von SGB III und SGB II aufzulösen und zu einem einheitlichen System der Arbeitslosenunterstützung und Arbeitsförderung zu kommen, muss jedoch im Hinblick auf die politische und rechtliche Durchsetzbarkeit einer solchen Herkulesaufgabe davon ausgegangen werden, dass diese beiden Rechtskreise erhalten bleiben. Das gilt wohl auch für die Aufteilung der Jobcenter in gemeinsame Einrichtungen und zugelassene kommunale Träger. Harmonisierung der Ziele und Leistungen von SGB II und SGB III Erreichbar aber ist, die Schnittstellenprobleme zwischen den beiden Regimen zu verringern, und deren Ziele und Leistungen zu harmonisieren. Da beide Regime auf ein und denselben Arbeitsmarkt ausgerichtet sind, ist es nicht einsichtig, warum die Ziele des SGB III nicht auch für das SGB II gelten sollen. Der Arbeitsmarkt steht angesichts der technologischen und (welt)wirtschaftlichen Veränderungen vor der Herausforderung, Arbeitsangebot und Arbeitsnachfrage auch langfristig passgenau zueinander zu bringen, was vor allem bedeutet, die Kenntnisse und Fähigkeiten der Beschäftigten zu fördern, die Qualifikationen zu verbessern und zu nutzen und die Menschen fähig zu machen, den Strukturwandel auch aktiv zu begleiten. Die qualifikatorischen Herausforderungen durch die Digitalisierung auf der einen Seite und die qualifikatorischen Herausforderungen durch die berufliche und gesellschaftliche Integration von geflüchteten Menschen auf der anderen Seite, erfordern ganz unterschiedliche Anstrengungen in der Bildungs- und Weiterbildungspolitik, dürfen aber nicht gegeneinander ausgespielt werden. Es kann als sicher gelten, dass die Durchdringung sowohl des industriellen als auch des Dienstleistungssektors mit digitalen Technologien zu erheblichen Umbrüchen und Umstrukturierungen auf der Ebene von Branchen, Betrieben und Personalstrukturen führen wird. Diesen Anpassungsprozess zu begleiten, wird zu einer zentralen Aufgabe der Arbeitsförderung. Zu den Verlierern dieses Umbruchs werden nicht zuletzt die gering Qualifizierten zählen. Auch hier gilt es, frühzeitig einzugreifen, um dauerhafte Ausgrenzungen zu verhindern. Eine SGB II-Arbeitsförderung zweiter Klasse, die auf die Qualität der Arbeit keinen Wert legt, berufliche Abstiege und soziale Ausgrenzung nicht verhindert und auf kurzfristige Eingliederungserfolge nach dem Motto „Hauptsache Arbeit“ setzt, ist nicht nachhaltig und läuft Gefahr, einer politischen Stimmung des Rechtspopulismus noch mehr Nahrung zu geben. Eine Anpassung der Ziele des SGB II an die des SGB III würde dann auch bedeuten, dass die Regeln zumutbarer Arbeit und die Sank-

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Arbeit und Arbeitsmarkt

tionsnormen angepasst werden. Immer muss es darum gehen, den Arbeitslosen im SGB II den gleichen und gleichberechtigten Zugang zu den Leistungen der Arbeitsförderung zu verschaffen und diese Leistungen zugleich auszubauen, zu verstetigen und auf ein hochwertiges Niveau anzuheben. Dies ist nicht kostenlos zu haben, sondern erfordert auch eine gesicherte Bereitstellung von beitrags- und steuerfinanzierten Mitteln. Auch sollte bewusst sein, dass sich Arbeitsmarktpolitik und Arbeitsförderung nicht auf die Mikroperspektive beschränken dürfen; eine Verbindung mit der Wirtschafts-, Bildungs- und Innovationspolitik ist unerlässlich. Dem Gerechtigkeitsproblem, dass auch Arbeitslose, die langjährig Beiträge gezahlt haben, auf das selbe Leistungsniveau der Grundsicherung verwiesen werden, wie Personen, die neu in den Arbeitsmarkt einsteigen, kann dadurch begegnet werden, dass die vorgelagerte Arbeitslosenversicherung wieder gestärkt wird und dass sich das Arbeitslosengeld II in der ersten Phase des Leistungsbezugs am vormaligen Arbeitseinkommen orientiert (Arbeitslosengeld II Plus). Stärkung der Arbeitslosenversicherung Eine fortgesetzte Ausdünnung der Schutzwirkung der Arbeitslosenversicherung unterhöhlt das Vertrauen in einen Sozialstaat, der durch die Balance zwischen Leistung und Gegenleistung geprägt ist und die Vorleistungen der Beitragszahlenden auch anerkennt. Das Übergewicht der Fürsorgeleistungen unterhöhlt die Balance und sollte zurückgedrängt werden. Von daher ist es an der Zeit, die mit den Hartz-Gesetzen eingeführte Verkürzung der Rahmenfrist auf zwei Jahre wieder auf drei Jahre auszuweiten und die Anwartschaftszeit und entsprechend die Leistungsdauer auf sechs Monate zu verkürzen. Weiterreichend sind die Überlegungen die Arbeitslosenversicherung hin zu einer Arbeitsversicherung weiterzuentwickeln. Danach geht es um eine durchgängig präventive Förder- und Qualifizierungsperspektive für alle Beschäftigten, die auch jene Personen einbezieht, die wie Solo-Selbstständige nicht zum Versichertenkreis zählen, aber auf dem Arbeitsmarkt eine wachsende Bedeutung haben. Das setzt voraus, dass derartige gesamtgesellschaftliche Aufgaben durch Steuermittel zu finanzieren sind. Schon jetzt ist es kaum zu begründen, warum die Aufgaben der Beratung und Vermittlung, die der gesamten Bevölkerung zur Verfügung stehen, allein von den Beitragszahlenden aufgebracht werden müssen. Öffentlich geförderte Beschäftigung und soziale Teilhabe Die gesellschaftliche Integration der Menschen und ihre soziale Teilhabe werden ganz wesentlich durch Erwerbstätigkeit vermittelt. Deswegen ist dafür zu sorgen, dass der Arbeitsmarkt nicht aussondert, sondern inkludiert. Es ist aber auch nicht zu übersehen, dass es einem Teil der langzeitarbeitslosen, arbeitsmarktfernen Personen nicht gelingt, eine normale, ungeförderte Beschäftigung zu finden. Wie groß dieser Personenkreis ist, nach welchen Kriterien er sich bestimmen lässt, ist eine offene Frage. Auf der einen Seite ist zu vermeiden, dass Menschen nicht einfach als unvermit-

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telbar erklärt werden, auf der anderen Seite sind kumulative Beeinträchtigungen bei einzelnen Arbeitslosen aber auch nicht mit dem Hinweis auf das Erfordernis eines inklusiven Arbeitsmarkts wegzudefinieren. Anhaltspunkte über den Kreis derjenigen, die selbst mit dem Einsatz aller Instrumente der Arbeitsförderung nicht vermittelt werden können, bieten die Dauer der Arbeitslosigkeit oder die Dauer des Bezugs von Arbeitslosengeld II. Mit zunehmender Verhärtung der Langzeitarbeitslosigkeit wächst dieser Kreis. Aufgabe der Arbeitsmarktpolitik muss es deshalb auch sein, Angebote einer öffentlich geförderten Beschäftigung im Sinne eines sozialen Arbeitsmarkts zu entwickeln, deren Hauptziel darin besteht, die soziale Teilhabe für voraussichtlich dauerhaft Ausgeschlossene zu sichern. Der Übergang in eine reguläre Beschäftigung ist dann nicht mehr das primäre Ziel, aber auch nicht ausgeschlossen. Eine öffentlich geförderte Beschäftigung bietet gemeinwohlorientierte Tätigkeiten an, die es ohne eine Förderung nicht geben würde und die auch nicht in Konkurrenz zu marktlichen Tätigkeiten stehen. Ausgangspunkt ist die Ansicht, dass es in großem Umfang gesellschaftlich notwendige Arbeit gibt, die aber nicht geleistet wird, weil sie (noch) nicht marktfähig oder für einkommensschwache Haushalte (Ältere, kinderreiche Familien) nicht bezahlbar ist. Es handelt sich vor allem um die Bereiche der sozialen Dienste, kulturellen Angebote sowie der ökologischen Erneuerung. In diesen Bereichen könnten zahlreiche Projekte und Dienstleistungsangebote gefördert werden, um bislang ungedeckten Bedarf zu befriedigen. Ein öffentlicher Beschäftigungssektor kann in den einzelnen Feldern befristet, aber als Programm dauerhaft finanziell gefördert werden. 9.3

Ordnung des Arbeitsmarkts und Zeitoptionen für die Beschäftigten

Die Arbeitsmarktpolitik kann sich nicht auf einen wünschenswerten Arbeitsmarkt beziehen, sondern nur auf die realen Verhältnisse. Es käme einer Überforderung gleich, würde der Arbeitsmarktpolitik die Aufgabe zugewiesen, die Verfasstheit des Arbeitsmarktes, also die Arbeitsmarktordnung zu verbessern. Aber sie kann dazu beitragen, die Spaltungen und Ausgrenzungen nicht noch zu vertiefen. Allerdings sind die realen Verhältnisse zu großen Teilen Ergebnis einer Politik der Deregulierung des Arbeitsmarktes. Diese hat tiefe Spuren hinterlassen, wie am Beispiel von Niedriglöhnen, prekären Beschäftigungsverhältnissen und sinkenden Schutzstandards zu sehen ist. Die geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse erweisen sich im besonderen Maße als berufliche Sackgassen und Entwicklungsfallen. Mit ihnen lässt sich weder eine eigenständige Existenzsicherung noch eine eigenständige soziale Absicherung erreichen. Deswegen ist es angezeigt, die Steuer- und Beitragsfreiheit (jenseits einer Bagatellgrenze) nachteilsfrei für die Betroffenen abzuschaffen und durch verhaltensneutrale Regelungen zu ersetzen.

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Arbeit und Arbeitsmarkt

Die Befristung von Arbeitsverhältnissen macht Sinn, wenn es darum geht, den Unternehmen personalpolitische Flexibilität einzuräumen, wenn spezifische Gründe vorliegen und für eine begrenzte Zeit Personal ausfällt. Sachgrundlose Befristungen hingegen erfüllen dieses Kriterium nicht und sind von daher nicht geboten. Sie vergrößern gerade für Berufseinsteiger und junge Menschen die Beschäftigungsunsicherheit und Abhängigkeit. Bei der Leiharbeit gilt es, deren Missbrauch als Ausgliederungs- und Lohnsenkungsinstrument tatsächlich einzuschränken. Das Prinzip des ‚equal pay‘ und ‚equal treatment‘ sollte ohne jedwede Einschränkung oder Umgehung Anwendung finden. Gleichermaßen erscheint es geboten, die Höchstverleihdauer je Person und Arbeitsplatz verlässlich auf wenige Monate zu begrenzen. Werkverträge haben für die Beschäftigten immer dann problematische Folgen, wenn sie als systematisches Instrument der Ausgliederung und Tarif flucht und/oder zur Umgehung der Regulierung von Leiharbeit eingesetzt werden. Derartige Missbräuche sind zu verhindern. Die Grenzen zwischen abhängiger Beschäftigung, Selbstständigkeit und Scheinselbstständigkeit drohen zunehmend zu verwischen. Die Abgrenzungskriterien sind deshalb zu schärfen. Unabhängig davon stellt sich die Frage, wie und inwieweit ‚kleine‘ Selbstständige unter die Regelungen der Arbeitsmarkt-, Arbeitsschutz- und Arbeitszeitgesetze fallen sollten. Um das Risiko späterer Altersarmut zu vermeiden, sollten alle Selbstständigen perspektivisch in die Sozialversicherungspflicht einbezogen werden. Je mehr sich nun unter dem Einfluss der Digitalisierung der Wirtschaft selbstständige Tätigkeiten ausbreiten und Wechsel zwischen abhängiger und selbstständiger Beschäftigung üblich werden, umso größer wird das Erfordernis, die systemische Begrenzung der Sozialversicherung auf abhängige Beschäftigung zu überwinden. Bei der Bewertung prekärer Beschäftigungsverhältnisse und der Suche nach Reformen geht es vor allem um jene Tätigkeiten und Arbeitsplätze, deren Arbeitszeiten deutlich unterhalb des Vollzeitstandards liegen. Kurze Teilzeitarbeit, die mit Instabilität, versperrten Entwicklungschancen, geringen Stundenentgelten sowie mit unzureichender sozialer Absicherung verbunden ist, ist deshalb so weit wie möglich einzudämmen. Es geht allerdings nicht darum, die Norm der lebenslangen Vollzeitarbeit (mit Überstunden) allgemeingültig zu machen. Gefordert sind vielmehr Arbeitszeiten, die sich in ihrer Dauer wie in ihrer Lage und Verteilung den spezifischen Lebensphasen, Lebenslagen und Lebensentwürfen der Menschen anpassen. Dies erfordert Rechtsansprüche auf verkürzte Arbeitszeiten/Teilzeitarbeit, die ein Rückkehrrecht auf Vollzeitarbeit einschließen. Ein solch neues Normalarbeitsverhältnis kann dazu beitragen, Frauen und Männern ein Mehr an Zeitsouveränität zu ermöglichen und Arbeit und Leben besser miteinander zu verzahnen. Die Arbeitszeitpolitik hat in der Vergangenheit in vielfältigen inhaltlichen Formen und in unterschiedlichen Regulierungen einen wichtigen Beitrag zur Stabilisie-

Literaturhinweise

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rung der Beschäftigung und auch zur Schaffung neuer Beschäftigungsverhältnisse geleistet, so durch flexiblere Arbeitszeitstrukturen sowie durch Umverteilung des Arbeitsvolumens durch verschiedene Formen der Arbeitszeitverkürzung. Zweifelsohne haben sich die Arbeitszeitinteressen der Beschäftigten ausdifferenziert. Eine zukünftige Arbeitszeitpolitik sollte diese Interessen stärker aufgreifen, einen Beitrag auch zur gleichmäßigen Verteilung von Nicht-Erwerbsarbeit zwischen den Geschlechtern leisten und die Übergänge zwischen den verschiedenen Phasen von Bildung, Erwerbsarbeit und Nicht-Erwerbsarbeit erleichtern.

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Regelmäßige Veröffentlichungen Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung Bundesagentur für Arbeit: • Arbeitsmarkt Jahresberichte • SGB II Jahresberichte • Berichte Analyse Arbeitsmarkt • Blickpunkt Arbeitsmarkt Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), Kurzberichte, Discussion Papers Institut Arbeit und Qualifikation (IAQ), Dauerbaustelle Sozialstaat – Chronologie gesetzlicher Neuregelungen in der Sozialpolitik seit 1998 Jahresgutachten des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung Sozialbericht der Bundesregierung Statistisches Bundesamt (Hrsg.), Datenreport

Zeitschriften Arbeit DIW-Wochenbericht Industrielle Beziehungen Soziale Sicherheit

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Arbeit und Arbeitsmarkt

Sozialer Fortschritt Vierteljahreshefte zur Wirtschaftsforschung Wirtschaft und Statistik Wirtschaftsdienst WSI-Mitteilungen Zeitschrift für Sozialreform

Aktuelle Gutachten, Berichte, Analysen zu den Themenfeldern Arbeitsmarkt, Beschäftigung Arbeitslosigkeit und Arbeitsmarktpolitik finden sich auf www.sozialpolitik-aktuell. de/arbeitsmarkt-berichte.html zum Download.

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Qualifikation

1

Lebenslagen als Ergebnis von Qualifikation und Bildung

Lebenslagen und Lebensperspektiven der Menschen hängen maßgeblich davon ab, welche Qualifikation sie aufweisen, d. h. über welches Maß an Allgemeinbildung sowie fachlichen und sozialen Kompetenzen sie verfügen, wenn sie in das Erwerbsleben eintreten. Wenn im Folgenden von „Qualifikationen“ die Rede ist, dann werden sie auf die beruflichen Dimensionen bezogen, d. h. auf die Gesamtheit der Fähigkeiten, Kenntnisse und Fertigkeiten einer Person, die für die Erfüllung beruflicher Aufgaben und Anforderungen erforderlich sind. Qualifikationen sind Teil der Arbeits- und Beschäftigungsfähigkeit, die wesentlich über individuelle Chancen im Erwerbsleben und auf dem Arbeitsmarkt eines Menschen entscheiden. Mit einer fundierten Qualifikation verbessern sich die Chancen, eine inhaltlich interessante und gut bezahlte Tätigkeit auszuüben. Wer dank seiner Qualifikation ein höheres und gesichertes Einkommen erzielt, ist eher in der Lage, seine Lebensbedingungen – wie Wohnen, Freizeit, Kultur und soziale Teilhabe – entsprechend seinen Wünschen zu gestalten. Und wer auf Basis einer hohen Qualifikation in seinem Berufsleben vielseitige und anspruchsvolle Aufgaben zu erfüllen hat, wird auch außerhalb der Erwerbsarbeit eher ein breites Spektrum an persönlichen Interessen entfalten und realisieren können. Die Qualifikation der Menschen und deren kontinuierliche Weiterentwicklung im Laufe des Erwerbslebens entscheidet über den Zugang zum und zur Platzierung auf dem Arbeitsmarkt. Der Grad der Qualifikation ist damit auch ein zentrales Merkmal für den sozialen Status, den jemand in der Gesellschaft einnimmt. Qualifikationen werden vor allem durch die schulische Bildung sowie berufliche Aus- und Weiterbildung erworben und durch Schulzeugnisse, zertifizierte Abschlüsse und Nachweise dokumentiert. Insofern sind eine gute Bildung und Ausbildung eine grundlegende Voraussetzung, um die Anforderungen des Arbeitsmarktes erfüllen zu können. Zu unterscheiden ist dabei zwischen funktionalen Qualifikationen (Fachkompetenzen und Schlüsselqualifikationen) und extrafunktionalen Qualifikationen, wie vor allem Sozialkompetenzen. Qualifikation baut auf Bildung auf, das gilt nicht nur für die schulische und nachfolgende berufliche Bildung, sondern auch für die Weiterbildung im Verlauf des Be© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 G. Bäcker et al., Sozialpolitik und soziale Lage in Deutschland, https://doi.org/10.1007/978-3-658-06249-1_6

513

514

Qualifikation

rufslebens. Ausreichende Qualifikationen können das Eintreten sozialer Risiken und Probleme in den Bereichen Einkommen, Gesundheit und Arbeitsmarkt vermindern. Mehr denn je gilt, dass eine fehlende, unzureichende oder veraltete Qualifikation infolge von Versäumnissen in der Bildungs- und Ausbildungspolitik aufgrund ihrer langfristigen Folgewirkung bis hin zur sozialen Ausgrenzung führen kann. Bildungspolitik und (vorbeugende) Sozialpolitik, die in Deutschland traditionell als getrennte Politikfelder angesehen wurden, verschränken sich zunehmend. Aber nicht nur für Wohlstand und Wohlergehen des Einzelnen, sondern auch für die Gesellschaft insgesamt ist Bildung in seiner Funktion als „Humankapital“ ein Schlüsselfaktor für Wachstum, Produktivität, Innovationen und gesellschaftlichen Zusammenhalt. Bildung und Qualifikation lassen sich als wichtigster „Rohstoff“ in der modernen Wissensgesellschaft bezeichnen und sind eine unerlässliche Voraussetzung, um die mit der Digitalisierung verbundenen Verschiebungen von Arbeitsanforderungen und Arbeitskräftebedarfen erfolgreich bewältigen zu können. Eine schulische und berufliche Ausbildung umfasst mehr als nur die Vermittlung unmittelbar zweckgerichteten Wissens. Der Zugang zu und der Erwerb von Bildung ist Voraussetzung der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben insgesamt und erweist sich als ein zentrales Element im Prozess der Persönlichkeitsentfaltung. Bildung kann deshalb als Bürgerrecht bezeichnet werden. Bildung ist jedoch kein Allheilmittel zur Lösung aller Probleme. Ein hohes Bildungsniveau lässt sich als notwendige, nicht aber als hinreichende Voraussetzung für einen sicheren und gut bezahlten Arbeitsplatz, gute Lebensbedingungen und wirtschaftliche Prosperität bezeichnen. Ob das Versprechen, dass sich hohe Leistungen und bessere Bildungsabschlüsse „lohnen“, tatsächlich eintritt, hängt auch davon ab, wie die Arbeitsmarktlage insgesamt aussieht, welche Qualifikationen auf dem Arbeitsmarkt gefordert und wie diese bewertet werden. Ein Mangel an Arbeitsplätzen kann nicht dadurch behoben werden, dass alle Arbeitsuchenden eine bessere Ausbildung erhalten. Auch ändert ein steigendes Qualifikationsniveau erst einmal nichts an der Hierarchie der Berufspositionen und der Einkommensverteilung. Unabhängig davon bleibt es eine zentrale gesellschaftspolitische Aufgabe, allen Menschen den Zugang zu einem möglichst hohen Maß an Ausbildung und beruflichen Qualifikationen zu verschaffen. Darüber herrscht ein breiter gesellschaftlicher und politischer Konsens. Offensichtlich ist aber auch, dass sich erworbene Qualifikationen im Zuge der dynamischen technologischen und ökonomischen Entwicklung entwerten können und auf dem Arbeitsmarkt nicht mehr nachgefragt werden. In einer Wissensgesellschaft ist der Erwerb von Qualifikationen nicht mit dem Übergang vom schulischen und beruflichen Bildungssystem in den Arbeitsmarkt abgeschlossen, sondern vielmehr als ein Prozess zu verstehen, der in Form von Weiterbildung die Erwerbsbiografie begleiten muss. Bildung und Weiterbildung lassen sich von daher als Teil eines vorbeugenden und vorsorgenden Sozialstaats verstehen, der die Menschen befähigt, den aktuellen aber auch zukünftigen Anforderungen am Arbeitsmarkt zu entsprechen.

Das Bildungssystem im Überblick

515

Aus der Perspektive der Unternehmen geht es darum, dass die Fachkompetenzen wie auch die Sozialkompetenzen der Beschäftigten inhaltlich angemessen sind, um die technischen, ökonomischen und organisatorischen Arbeitsanforderungen erfüllen zu können. Passen Anforderungen und Qualifikation nicht zusammen, kann es zu einer unterwertigen, qualifikationsinadäquaten Beschäftigung, aber auch zu einer Überforderung kommen. Ein solcher mismatch erschwert oder verhindert den Ausgleich zwischen Angebot und Nachfrage am Arbeitsmarkt. Allerdings wäre es verkürzt, die jeweils aktuellen qualifikatorischen Anforderungen der Unternehmen als alleinige Bezugsgröße für die Ausrichtung der schulischen und beruflichen Ausbildung zu nehmen. Zum einen lässt sich nur bedingt absehen, welche Anforderungen in der Zukunft zu erwarten sind. Zum anderen schafft eine breite, nicht einseitig auf spezifische Kenntnisse und Fertigkeiten bezogene Bildung im Sinne von Schlüsselqualifikationen erst die Voraussetzungen dafür, dass sich Produkt- und Verfahrensinnovationen, neue Dienstleistungsangebote und neue Organisationsformen entwickeln und durchsetzen können. Angebot und Nachfrage hinsichtlich der Qualifikation bedingen sich also wechselseitig.

2

Das Bildungssystem im Überblick

„Das“ deutsche Bildungssystem gibt es nicht. Da die Bundesländer im Rahmen ihrer Kulturhoheit für das Schul- und Hochschulwesen zuständig sind, gibt es insbesondere für das allgemeinbildende Schulwesen wie für die beruflichen Vollzeitschulen sehr unterschiedliche Gestaltungen und Benennungen. Darauf kann im Detail nicht eingegangen werden. 2.1

Bildungsbereiche

Trotz aller Vielfältigkeit und Unübersichtlichkeit lassen sich über die Bundesländer hinweg aber Gemeinsamkeiten in den Grundstrukturen des deutschen Bildungssystems erkennen. Charakteristisch ist die Gliederung in sechs große Bildungsbereiche: • Elementarbereich, • Primarbereich, • Sekundarbereich I, • Sekundarbereich II, • Tertiärbereich, • Quartärbereich. Quer zu dieser Gliederung stehen die Förderschulen, die bis hin zum Sekundarbereich I reichen.

516

Qualifikation

Elementarbereich Der Elementarbereich umfasst neben der Kindertagespflege die Tageseinrichtungen für Kinder (halbtags- und ganztags) bis zum Eintritt in die Grundschule. Der Besuch der Einrichtungen ist nicht verpflichtend, gleichwohl nehmen über 90 % der Kinder zwischen drei und sechs Jahren und rund 30 % der Kinder zwischen einem und drei Jahren die Angebote in Anspruch (vgl. Kapitel „Familie und Kinder“, Pkt. 8.1). Primarbereich Die Vollzeitschulpflicht beginnt mit Vollendung des sechsten Lebensjahrs mit dem Besuch der Grundschule und dauert bis zum 15. bzw. 16. Lebensjahr. In der Grundschule werden wohnortbezogen im Grundsatz alle Kinder derselben Altersstufe unterrichtet. Je nach Wohngebiet führt dies zu einer unterschiedlich hohen Heterogenität in der sozialen und ethnischen Zusammensetzung der Schüler:innen. Eine leistungsbezogene Selektion findet (noch) nicht statt. Der Grundschulbesuch endet mit dem Abschluss der 4. Klasse (in einigen Bundesländern der 6. Klasse). Auf Grundlage der Schulnoten, der (in der Regel nicht verbindlichen) Schul- bzw. Lehrerempfehlung und vor allem der Entscheidung der Eltern beginnt danach der Besuch einer der weiterführenden Schulformen im Sekundarbereich I. Sekundarbereich I Bereits im Sekundarbereich I, also etwa im Alter von 10 Jahren, verteilen sich die Schüler:innen in unterschiedliche Schulformen und Bildungsgänge. Klassisch (in den alten Bundesländern !) ist die Aufteilung zwischen Hauptschulen, Realschulen und Gymnasien. Allerdings haben sich hier in den zurückliegenden Jahren Verschiebungen ergeben. So sind die Hauptschulen zu einem Auslaufmodell geworden, in fast allen Bundesländern werden die Bildungsgänge Haupt- und Realschule pädagogisch und organisatorisch zu einer Schulform zusammengefasst (häufig als Sekundarschulen bezeichnet). Und an den (integrierten oder kooperativen) Gesamtschulen, die neben dem herkömmlich gegliederten Schulsystem bestehen und bis in den Sekundarbereich II hineinreichen, kann zwischen Kursen unterschiedlicher Anforderungsgrade gewählt werden, die dann zu unterschiedlichen Schulabschlüssen führen. Der Sekundarbereich I endet je nach Bildungsgang und Schulform mit der 9. oder 10. Jahrgangsstufe. Erworben wird ein allgemeinbildender Schulabschluss, der je nach Abschluss (Hauptschulabschluss oder mittlerer Abschluss) zum Besuch einer Schulform bzw. einer beruflichen Ausbildung im Sekundarbereich II berechtigt. Sekundarbereich II Der Sekundarbereich II gliedert sich auf in • weiterführende allgemeinbildende Schulen auf der einen Seite und • berufliche Ausbildungsgänge auf der anderen Seite.

Das Bildungssystem im Überblick

517

Bei der Berufsausbildung im Sekundarbereich II ist zu unterscheiden zwischen dem Schulberufssystem (berufliche Vollzeitschulen), der betrieblichen Berufsausbildung im dualen System und dem Übergangssystem (vgl. dazu Pkt. 5.2 dieses Kapitels). Ein mittlerer Schulabschluss ermöglicht den Zugang zum Besuch •

einer gymnasialen Oberstufe (in den unterschiedlichen Schulformen). Mit dem erfolgreichen Abschluss (Abitur) wird die allgemeine Hochschulreife erworben, die zu einem Studium an einer Universität oder an einer Fachhochschule berechtigt. Nach einer zwischenzeitlichen Verkürzung auf die Jahrgangsstufe 12 (G8) wird die Dauer der Schulzeit in den meisten Ländern wieder auf Jahrgangsstufe 13 (G9) verlängert. • von Fachoberschulen, die nach beruflichen Fachrichtungen ausgerichtet sind und (in der Regel) nach der 12. Klasse mit der Fachhochschulreife abschließen. • Berufsfachschulen (Vollzeit), die zu einem Berufsabschluss führen und unter bestimmten Voraussetzungen, insbesondere hinsichtlich der Besuchsdauer, den Zugang zu Fachhochschulen ermöglichen. Der Zugang zu einer Berufsausbildung im dualen System, die durch die Kombination der Lernorte Betrieb und (Teilzeit)Berufsschule charakterisiert ist, setzt in der betrieblichen Praxis zumindest einen Hauptschulabschluss voraus. Für Jugendliche, die keinen Zugang zu Berufsfach- oder Fachoberschule haben und denen es auch nicht gelingt, einen Ausbildungsplatz in einem Betrieb zu finden, dienen Bildungsgänge und Maßnahmen im Übergangssektor als Ersatzlösung (vgl. Pkt. 7 dieses Kapitels). Sowohl in den Berufsfachschulen als auch in der dualen Berufsausbildung wird ein Abschluss erlangt, der zur Aufnahme eines bestimmten Berufes qualifiziert. Die Wahl zwischen allgemeinbildenden und berufsbildenden Abschlüssen ist flexibel. So können Abiturienten vor Beginn des Studiums eine berufliche Vollzeitschule besuchen oder eine duale Berufsausbildung absolvieren. In einigen Bundesländern – so in Nordrhein-Westfalen – sind die beruflichen Bildungsgänge (einschließlich der beruflichen Gymnasien) organisatorisch in Berufskollegs zusammengefasst. Tertiärbereich Der Tertiärbereich umfasst • Universitäten, Fachhochschulen und andere Hochschularten (so Kunst- und Musikhochschulen) sowie • Berufsakademien, Fachschulen und Einrichtungen der beruflichen Fortbildung. Das Studium an Hochschulen, die intern nach unterschiedlichen Fakultäten/Fachbereichen und Studiengängen gegliedert sind, führt zu akademischen Abschlüssen,

518

Qualifikation

die dann den Zugang zu überwiegend hochqualifizierten Tätigkeiten und Positionen auf dem Arbeitsmarkt eröffnen. Es handelt sich also auch hier um eine Art der beruflichen Ausbildung. Erworben werden Bachelor- und Masterabschlüsse, die vormaligen Diplom- und Magisterstudiengänge gibt es kaum noch. Besondere Bedingungen herrschen für Studiengänge mit Staatsexamina (Jura, Medizin, Lehramt). Der Besuch einer Berufsakademie basiert auf dem Prinzip eines dualen Studiums; die Tätigkeit in einem Unternehmen wird verbunden mit einer wissenschaftsbezogenen und zugleich praxisorientierten Ausbildung. Fachschulen sind nicht eindeutig dem Tertiärbereich zuzuordnen. Sie bewegen sich im Zwischenfeld zwischen dem Sekundarbereich II und dem Tertiärbereich. Der Besuch einer Fachschule setzt eine berufliche Erstausbildung und/oder Berufserfahrung voraus. Die Aufnahmebedingungen sind je nach Berufswahl recht unterschiedlich. In der Regel erfolgt die Aufnahme in diese Einrichtungen erst nach Vollendung des 18. Lebensjahres. Beispielhaft für diese Art der Berufsausbildung sind die Schulen des Gesundheitswesens, die für die nichtakademischen Gesundheitsberufe zuständig sind (z. B. Krankenpfleger:innen, Hebammen, Masseure, Ergotherapeut:innen) wie auch die Schulen des Sozialwesens, die vor allem für die Ausbildung von Erzieher:innen zuständig sind. Quartärbereich Der quartäre Bildungsbereich umfasst alle Formen der Fort- und Weiterbildung, die Abgrenzung zum Tertiärbereich ist dabei fließend. Träger der Maßnahmen sind vor allem Volkshochschulen, Bildungszentren der Gewerkschaften, Hochschulen, private und betriebliche Bildungseinrichtungen, die Industrie- und Handelskammern und die Handwerkskammern. Finanziert werden die Maßnahmen entweder privat, von den Unternehmen oder auch von der Bundesagentur für Arbeit im Rahmen der Arbeitsförderung. Allgemeinbildende Kurse, erweiterte Bildungsabschlüsse und berufliche Qualifizierung in einem gänzlich neuen Beruf fallen unter die Weiterbildung. Hingegen stellen spezifische Bildungsmaßnahmen innerhalb des alten Berufes eine Fortbildung dar. Während die Weiterbildung also breitere Bildung und Betätigungsfelder ermöglicht, steht die Fortbildung für Spezialisierung. Die Fortbildung soll die bisherige Berufsbildung anpassen, erweitern, erhalten oder für den Aufstieg ausbauen. So dient die Anpassungsfortbildung der Angleichung des aktuellen Wissensstandes an technische Veränderungen. Mit der Erweiterungsfortbildung werden die vorhandenen Qualifikationen durch zusätzliches Wissen ergänzt. Bei der Erhaltungsfortbildung wird vorwiegend das bestehende Wissen aufgefrischt. Für die Übernahme von mehr Verantwortung ist die Aufstiegsfortbildung gedacht. Eine typische Form der Aufstiegsfortbildung ist die Meisterausbildung nach der Handwerksordnung.

Das Bildungssystem im Überblick

519

Förderschulen Für Schüler:innen mit sozialpädagogischem Unterstützungsbedarf existieren traditionell besondere Schulen, die sich nach der Art des Förderbedarfs aufgliedern, bis zum Ende des Schulpflichtalters reichen und durch einen hohen sozialpädagogischen Förderanteil ausgezeichnet sind. Diese Schulform, früher als Sonderschule bezeichnet, steht seit Jahren in der Kritik, da sie zur Ausgrenzung der Betroffenen führt. Die Unterzeichnung der UN-Behindertenrechtskonvention durch die Bundesregierung im Jahr 2009 führt nunmehr zu der Verpflichtung für die „Inklusion“ der Menschen mit Behinderungen zu sorgen, was bedeutet, dass Kinder mit und ohne Behinderungen möglichst gemeinsam in den Regelschulen unterrichtet werden müssen. Gleichwohl kann längst noch nicht von einer flächendeckenden Umsetzung dieser Maßgabe ausgegangen werden. Bildungspolitik und Föderalismus Die Unübersichtlichkeit des Bildungssystems ist ein Ergebnis der Kulturhoheit der Länder in der föderalen Struktur der Bundesrepublik. Seit langem wird darüber gestritten, ob ein zentralisiertes System vorteilhafter wäre. Ein Ende und ein Ergebnis dieser Debatte sind nicht absehbar. Aber zumindest ist es gelungen, durch die Kooperation der Bundesländer im Rahmen der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder (KMK) die Angebote der allgemeinbildenden und berufsbildenden Schulen abzustimmen und gemeinsame Leistungsanforderungen festzulegen. Die Kooperation basiert auf einem freiwilligen Zusammenschluss und auf Übereinkommen, mit dem die Länder sich selbst verpflichten, über die für Bildung und Erziehung, Hochschulen und Forschung sowie kulturelle Angelegenheiten zuständigen Minister bzw. Senatoren weitgehende Einheitlichkeit und Gleichwertigkeit in der Bildungspolitik herzustellen, um eine bundesweite Mobilität der Schüler und Auszubildenden zu gewährleisten. Als Instrumente zur Steuerung der Kooperation greift die KMK im Wesentlichen auf gemeinsame Beschlüsse, Rahmenvereinbarungen, Rahmenordnungen und Rahmenlehrpläne sowie entsprechende Vereinbarungen zur gegenseitigen Anerkennung der Abschlüsse zurück. Ferner befasst sich die KMK mit der gegenseitigen Information zu Entwicklungen auf dem Gebiet der beruflichen Bildung in den Ländern und der Koordinierung berufsbildungspolitischer Initiativen sowie mit Vereinbarungen zur Förderung spezieller Personengruppen (z. B. Behinderte, Lernbeeinträchtigte). Dabei kommen die Beschlüsse nur bei Einstimmigkeit des Plenums zustande und haben lediglich den Status von Empfehlungen gegenüber den Ländern.

520

Qualifikation

Abbildung VI.1 Das Bildungssystem in Deutschland

Quelle: Bundeszentrale für politische Bildung (2018), Datenreport, S. 104.

2.2

Bildungsbeteiligung

Die Bildungsbeteiligung der Kinder und Jugendlichen ist durch einen starken und anhaltenden Veränderungsprozess geprägt: Die ab der Mitte der 1960er Jahre in den alten Bundesländern einsetzende sog. Bildungsexpansion hat dazu geführt, dass eine wachsende Zahl und ein wachsender Anteil von jungen Menschen eine weiterführende schulische Ausbildung absolviert. Die Volks- bzw. Hauptschule war bis Mit-

Das Bildungssystem im Überblick

521

te der 1960er Jahre noch für fast zwei Drittel der Kinder die übliche Schulform, bis 1990 sank der Anteilswert auf etwa ein Drittel und aktuell hat die Hauptschule nur noch den Status einer „Restschule“. Gymnasien und Gesamtschulen sind hingegen zu den dominanten Schulformen geworden. Betrachtet man die Bildungsbeteiligung nach Schularten und Jahrgangsstufen, so finden sich im 8. Schuljahr nur noch 10 % in einer Hauptschule und 19 % in einer Realschule, aber 38 % im Gymnasium und 21 % in einer Gesamtschule (vgl. Abbildung VI.2) Im Sekundarbereich II (allgemeinbildende Schulen) besuchen fast 85 % der rund 1 Mio. Schüler:innen das Gymnasium (Jahrgangsstufe 11 bis 13 bzw. 10 bis 12). Hinzu kommen noch diejenigen, die den gymnasialen Teil der Gesamtschulen besuchen. Die Verteilung auf die verschiedenen Schulformen in der Sekundarstufe I und in der Sekundarstufe II wird stark durch ihre Herkunft beeinflusst. So ist der Anteil ausländischer Schüler:innen an Hauptschulen mit rund 24 % fünfmal so groß wie an Gymnasien mit 5 %. Hier kann es sich um Kinder der erst kürzlich Zugewanderten (Asylbewerber und Schutzsuchende) handeln, aber auch um Kinder von Ausländern in der zweiten und dritten Generation.

Abbildung VI.2 2017

Schüler:innen im 8. Schuljahr (Sekundarbereich I) nach Schularten in %, 1955 –

100%

90%

25

80% 47

74

72

Volks/Hauptschule

13

Schularten mit meheren Bildungsgängen

10

7 21

19

26 27

26

21

29 10

30%

3

15

4

5

7

10

10

Realschule

27

24

40%

0%

12

7

28

10%

10

8

29

9

12

24

66

50%

20%

17

34

56

70%

60%

41

38

23

17

21 Gesamtschule

10

11

16

17

19

1955

1960

1965

23

27

28

30

31

31

33

26

1975

1980

1985

1990

1995

2000

2005

38

38

38

2010

2015

2017

Gymnasium 1970

Bis 1995: alte Bundesländer; ab 1995: Gesamtdeutschland Quelle: Bundesministerium für Bildung und Forschung (2019), Bildung und Forschung in Zahlen.

522

Qualifikation

Fasst man alle Absolventinnen und Absolventen des Abgangsjahrs 2017 an allgemeinbildenden Schulen zusammen, so können • 16,2 % einen Hauptschulabschluss, • 42,9 % einen mittleren Schulabschluss, • 34,6 % eine Fachhochschul- und Hochschulreife, • aber 6,3 % keinen Hauptschulabschluss aufweisen. Da der Hochschulzugang nicht nur durch ein Abitur an den allgemeinbildenden Schulen erworben werden kann, sondern auch durch spätere Abschlüsse an anderen Schulformen, ist mittlerweile mehr als die Hälfte der altersspezifischen Bevölkerung berechtigt, ein Studium aufzunehmen (vgl. Abbildung VI.3). Bei Frauen sind es sogar über 60 %. 1970 hatten gerade einmal 11 % der altersspezifischen Bevölkerung die Berechtigung zur Aufnahme eines Studiums. Die Zahl der Studierenden hat sich entsprechend dynamisch entwickelt. Gegenüber 1998/1999 kommt es 2017/2018 zu einem Anstieg um 58 %, von 1,8 Mio. auf knapp 2,5 Mio.

Abbildung VI.3 Studienberechtigtenquote nach Art der Hochschulreife 1970 – 2017; Anteil der Studienberechtigten an der altersspezifischen Bevölkerung 53

52

51

Insgesamt

49

50 43 40

36

37

31 30

33

28

20

41

41

40

29

22

28

28

23

20 22 11

15

Allgemeine Hochschulreife

17

10 14

11

0

6

5

6

1975

1980

1985

9

9

15

10

12

11

11

1 1970

Fachhochschulreife Fachhochschulreife

1990

1995

2000

2005

2010

2015

2016

* Ab 2015 ohne schulischen Teil der Fachhochschulreife Quelle: Bundesministerium Bildung und Forschung (2019), Bildung und Forschung in Zahlen.

2017

Das Bildungssystem im Überblick

523

Tabelle VI.1 Studierende und Studienanfänger 1957/1958 – 2018/2019 nach Geschlecht Studienjahr

Studierende Insg.

Studienanfänger im ersten Hochschulsemester männl.

weibl.

weibl. in %

Insg.

männl.

weibl.

1957*

153 932

124 292

29 640

19,3

17 491

14 932

2 559

1977*

905 645

593 867

311 778

34,4

137 414

83 269

54 145

1998/1999

1 801 233

999 951

801 282

44,5

291 447

147 634

143 813

2018/2019

2 863 609

1 464 643

1 400 485

49,0

434 134

212 031

222 103

* alte Bundesländer Quelle: Statistisches Bundesamt (zuletzt 2019), Fachserie 11, Reihe 4.1.

Ein nach wie vor großer – aber in der Tendenz sinkender – Teil der Jugendlichen wechselt nach dem Verlassen der allgemeinbildenden Schulen in eine berufliche Ausbildung im Rahmen des dualen Systems oder in die schulische Berufsausbildung. Auffällig ist dabei, dass das schulische Ausgangsniveau beim Einstieg in die berufliche Bildung ständig gestiegen ist. Von den Jugendlichen, die im Jahr 2015 einen Ausbildungsvertrag abgeschlossen haben, können mehr als ein Viertel (28 %) das Abitur oder die Fachhochschulreife vorweisen, und 43 % verfügen über einen Realschulabschluss (mittlere Reife). Der Anteil der Auszubildenden an der Gesamtzahl der Jugendlichen in den entsprechenden Jahrgängen geht zurück. Schon seit Mitte der 1990er Jahre übersteigt die Zahl die Studierenden die Zahl der Auszubildenden. Für einen präzisen Vergleich kommt es allerdings wegen der unterschiedlichen Ausbildungsdauer (die durchschnittliche Dauer eines Studiums, einschließlich Fachwechsel usw., übersteigt die Dauer einer beruflichen Ausbildung bei Weitem) auch auf die Gegenüberstellung von Studienanfängern und neu abgeschlossenen Ausbildungsverträgen an: 2018/2019 werden etwa 434 Tausend Studienanfänger und etwa 531 Tausend neue Ausbildungsverträge gezählt. Bei dem Vergleich von Studium und beruflicher Ausbildung ist zusätzlich zu berücksichtigen, dass es Überlappungen zwischen den beiden Bereichen gibt: Studienabbrecher wie auch Studienabsolventen nehmen in wachsender Zahl eine berufliche Ausbildung auf. Und auf der anderen Seite findet sich vermehrt Angebote eines dualen Studiums.

524

3

Qualifikation

Qualifikation und Erwerbstätigkeit

Wer nach dem Bildungsstand und Qualifikationsniveau der Bevölkerung fragt, findet in der Statistik zwei unterschiedliche Antworten: Zum einen geht es um die Verteilung der allgemeinen Schulabschlüsse sowie der beruflichen Ausbildungsabschlüsse nach Altersgruppen. Zum anderen wird aufgeschlüsselt, welche beruflichen Anforderungsprofile auf dem Arbeitsmarkt vorherrschen und wie sich diese Profile und Berufe auf die Segmente des Arbeitsmarkts zuordnen lassen. 3.1

Schulabschlüsse nach Altersgruppen

Je jünger die Befragten, umso verbreiteter sind „höherwertige“ Schulabschlüsse (vgl. Abbildung VI.4): So verfügt (2018) rund die Hälfte der Bevölkerung im Alter zwischen 25 und 29 Jahren über einen Fachhochschul- oder Hochschulabschluss. In der Altersgruppe 60 Jahre und älter sind es gerade einmal 19,8 %. Diese Menschen, die in den Nachkriegsjahren ihren Bildungsabschluss erreicht haben, weisen zu 51,4 % einen Volks- bzw. Hauptschulabschluss auf.

Abbildung VI.4 Allgemeiner Schulabschluss der Bevölkerung 2018 nach Altersgruppen in %

ohne allgemeinbildenden Schulabschluss

4,1

60 Jahre und älter

4,0

50-60 Jahre

4,4

40-50 Jahre

4,3

30-40 Jahre 25-30 Jahre

3,6 20,1 32,7 (Fach)Hochschulreife

35,5 46,7 52,7 25,2 41,4

Mittlerer Abschluss (Realschule; polytechn. Oberschule)

37,5 30,1 27,0 50,3 21,7

Haupt-(Volks-)Schule

22,2 18,3 15,5 0

10

20

30

Quelle: Statistisches Bundesamt (2019), Fachserie 1, Reihe 4.1, Bevölkerung und Erwerbstätigkeit.

40

50

Qualifikation und Erwerbstätigkeit

525

Im Unterschied zu diesem fundamentalen Wandel hat sich der Kreis derjenigen, die angeben, über keinen allgemeinbildenden Schulabschluss zu verfügen, kaum verändert: Hier schwankt über die Altersgruppen hinweg der Anteil um 4 %. Ursächlich dafür ist der Tatbestand, dass auch aktuell knapp 6 % aller Schulabgänger:innen keinen Hauptschulabschluss vorweisen können. Darunter stammt gut die Hälfte dieser Schüler:innen aus dem Bereich der Förderschulen. Zwar verringert sich dieser Anteil, weil es vielen gelingt, ihren Hauptschulabschluss in späteren Jahren an beruflichen Schulen oder in anderen Bildungsangeboten nachzuholen, aber es bleibt ein hoher Anteil ohne einen grundlegenden Schulabschluss. 3.2

Berufsabschlüsse nach Altersgruppen

Bei den beruflichen Ausbildungsabschlüssen überwiegt über die Altersgruppen hinweg die Gruppe der Menschen, die eine Lehre absolviert haben (einschließlich Berufsfachschule) (vgl. Abbildung VI.5). Allerdings ist der Bedeutungsverlust der beruflichen Bildung im dualen System nicht zu übersehen. In der Altersgruppe 30 bis 40 Jahre liegt der Anteil bei rund 45 %, in der Altersgruppe 50 bis 60 Jahre demgegen-

Abbildung VI.5

Beruflicher Bildungsabschluss der Bevölkerung 2018 nach Altersgruppen in % 20,8 14,7

(noch) ohne beruflichen Abschluss

16,6

60 Jahre und älter

17,0

50-60 Jahre

24,1

40-50 Jahre

14,7 19,3 Hochschulabschluss

30-40 Jahre

20,6

25-30 Jahre

28,2 25,0 9,6 10,7 Fachschulabschluss

9,8 9,1 8,1 54,4 54,8

Lehre/Berufsausbildung*

52,3 45,4 42,5 0

10

20

30

40

Quelle: Statistisches Bundesamt (2019), Fachserie 1, Reihe 4.14, Bevölkerung und Erwerbstätigkeit.

50

60

526

Qualifikation

über noch bei rund 55 %. Deutlich zugenommen haben hingegen die Absolventen einer Fachhochschule oder Hochschule: In der Altersgruppe 30 bis 40 Jahre haben 28,2 % der Bevölkerung einen akademischen Abschluss. Stark besetzt ist der Kreis der Bevölkerung, die ihren Lebens- und Berufsweg ohne einen beruflichen Abschluss bestreiten müssen. In der Altersgruppe 30 – 39 Jahre sind dies immerhin 17,0 %. Das heißt aber nicht, dass es sich generell um „Unqualifizierte“ handelt; ihnen fehlt ein berufliches Zertifikat, sie können aber durchaus angelernt tätig und erfolgreich sein. Umgekehrt ist ein Ausbildungsabschluss keineswegs automatisch mit einer ausbildungs- und qualifikationsadäquaten Beschäftigung verbunden. Da für viele Menschen in der Altersgruppe 25 bis 30 Jahre der Bildungsweg noch nicht abgeschlossen ist, geben die Werte in dieser Altersgruppe noch kein abschließendes Bild und sind deswegen zurückhaltend zu interpretieren. Fragt man abschließend nach den Merkmalen der Bevölkerung (alle Altersgruppen) mit einer höheren oder geringeren Bildung, so zeigt sich, dass hier der Migrationshintergrund eine zentrale Bedeutung hat: Gut ein Fünftel der Personen mit Migrationshintergrund verfügen über keine berufliche Ausbildung. Schlechter gestellt sind aber auch Frauen, Arbeitslose sowie Personen mit einem niedrigen Erwerbseinkommen (vgl. Abbildung VI.6).

Abbildung VI.6 Personen mit hoher und mit geringer Bildung 2015 in % der Bevölkerung 67,7

60

Hohe Bildung

50 40 30

35,9

35,7

20

32

29,4

26,7 14,4

10

28,4

15,8

0 28,1

25

Geringe Bildung

20 15

11,2

9,8

10

8,4

5

mit Migrationshinter grund

ohne Migrationshinter grund

hohes Einkommen

Mittleres Einkommen

geringes Einkommen

Arbeitslos

Frauen

2,1

Männer

0

20,9

15,5

Erwerbstätig

10

25,3

Quelle: Nach Bundesministerium für Arbeit und Soziales (2017), Lebenslagen in Deutschland. Der Fünfte Armuts- und Reichtumsbericht, S. 525 f.

Qualifikation und Erwerbstätigkeit

527

Zwar hat sich auch die Bildungsbeteiligung der ausländischen Bevölkerung in den vergangenen Jahren verbessert, gleichwohl bestehen weiterhin zum Teil große Unterschiede zur deutschen Bevölkerung. Ausländer haben zu 11,5 % keinen allgemeinbildenden Schulabschluss. Und immerhin 41 % der Ausländer in einer abhängigen Beschäftigung können keinen beruflichen Abschluss vorweisen. Das kann auch bedeuten, dass ein ausländischer Berufsabschluss in Deutschland nicht anerkannt wird. 3.3

Qualifikationsniveau und segmentierte Arbeitsmärkte

Will man wissen, wie sich – bezogen auf die sozialversicherungspflichtig Beschäftigten (also ohne Selbstständige, Beamte und geringfügig Beschäftigte) – die Berufsabschlüsse verteilen, so bieten die Daten der Bundesagentur für Arbeit hilfreiche Informationen. Danach hatten Mitte 2018 • • •

16,0 % einen akademischen Berufsabschluss, 61,9 % einen anerkannten Berufsabschluss und 12,2 % keinen Berufsabschluss (und 9,6 % „Ausbildung unbekannt“)

Die von diesen Personen ausgeübten Tätigkeiten weisen folgende Anforderungsprofile auf: • • • •

15,4 % Helfer- und Anlerntätigkeiten, 58,2 % fachlich ausgerichtete Tätigkeiten (Abschluss einer Berufsausbildung und/ oder Berufserfahrung), 12,8 % komplexe Spezialistentätigkeiten (berufliche Fortbildung, Bachelorabschluss), 13,0 % hoch komplexe Tätigkeiten (Master/Diplomabschluss, Staatsexamen).

Die Verteilung der Anforderungsprofile lässt erkennen, dass Arbeitsplätze mit einfachen Anforderungen eine nur noch geringe Bedeutung haben. Es ist zu erwarten, dass sich ihr Anteil in den nächsten Jahren vor dem Hintergrund der technologischen Entwicklung und der Arbeitsteilung in der globalisierten Ökonomie weiter verringern wird. Die größte Bedeutung haben demgegenüber Tätigkeiten, die von Fachkräften ausgeübt werden. Berufsabschlüsse und berufliche Anforderungsprofile sind mit den Strukturen des Arbeitsmarktes eng verknüpft. Es gibt nicht „den“ Arbeitsmarkt, vielmehr ist zwischen einzelnen Branchen und Regionen und vor allem zwischen den Arbeitsmarktsegmenten zu unterscheiden (vgl. Kapitel „Arbeit und Arbeitsmarkt“, Pkt. 4.2). Für Deutschland ist die Dominanz des beruflich ausgeprägten Arbeitsmarktsegments typisch, da im Unterschied zu vielen anderen Ländern viele Tätigkeiten sowohl im industriellen als auch im Dienstleistungssektor „verberuflicht“ sind. Dieser seit nun-

528

Qualifikation

mehr vielen Jahren festzustellende Trend hat auch Anlerntätigkeiten erfasst. Auf den beruflichen Arbeitsmärkten spielen standardisierte, in Berufsbildern zusammengefasste und zertifizierte Qualifikationen die entscheidende Rolle. Diese Berufe sind nicht an den einzelnen Betrieb gebunden sondern zwischen den Betrieben transferierbar. Zu unterscheiden ist dabei zwischen den „offenen“ und „geschlossenen“ beruflichen Arbeitsmärkten Bei den „geschlossenen“ Märkten handelt es sich um reglementierte Berufe bzw. Tätigkeiten, deren Ausübung zwingend an einen bestimmten Berufsabschluss gebunden ist. Beispiele finden sich u. a. im Gesundheits- und Sozialwesen, Justiz und Polizei, Schulen und Hochschulen sowie auch das sog. „gefahrgeneigte“ Handwerk (Meisterzwang). „Offene“ berufliche Arbeitsmärkte zeichnen sich hingegen dadurch aus, dass hier auch Angelernte oder Personen mit einer fachfremden Ausbildung im Zuge einer langen Berufspraxis die fehlende Qualifikation erwerben können. Allerdings fehlt ein Zertifikat, was sich bei einem unfreiwilligen Arbeitsplatzwechsel als äußerst nachteilig erweisen kann. Die innerbetrieblichen Arbeitsmärkte stellen ein weiteres Segment dar, das vorwiegend in Großunternehmen anzutreffen ist. Kennzeichnend ist hier die lange Betriebszugehörigkeit der Beschäftigten. Bei Besetzungen von (höherwertigen) Stellen wird vorrangig auf die interne Rekrutierung zurückgegriffen. Der Austausch zum externen Arbeitsmarkt bezieht sich auf die Besetzung hierarchisch und qualifikatorisch niedrig eingestufter Arbeitsplätze (sog. Eintrittspositionen). Damit unterteilt sich die Belegschaft in eine Stamm- und Randbelegschaft mit ungleichen Arbeitsbedingungen hinsichtlich Beschäftigungssicherheit, Qualifizierungs- und Aufstiegschancen. Das Ausbildungs- und Qualifikationsprofil der Stammbeschäftigten ist durch anerkannte Berufsabschlüsse, akademische Abschlüsse und Fortbildungsabschlüsse gekennzeichnet. Im Unterschied zu den eher flexiblen beruflichen Arbeitsmärkten und den stabilen innerbetrieblichen Arbeitsmärkten weisen die unstrukturierten Arbeitsmärkte mit ihren „Jedermanns-Arbeitsplätzen“ nur geringe Qualifikationsanforderungen auf. Dies ist das Feld für Beschäftigte mit fehlenden Berufsabschlüssen, für An- und Ungelernte, das aber hinsichtlich der Zahl der Arbeitsplätze an Bedeutung verliert. Typische Branchen für diese einfachen Tätigkeiten sind das Gastgewerbe, der Einzelhandel, die Logistik und die Leiharbeit. Die Grenzen zwischen diesen idealtypischen Arbeitsmarktsegmenten sind nicht klar gezogen. Es kommt zu Mischformen. Aber offensichtlich ist, dass das deutsche, beruflich orientierte Bildungs-, Beschäftigungs- und Produktionsmodell nicht durch den Gegensatz einer großen Zahl von Un- und Angelernten einerseits und akademischen Tätigkeiten anderseits geprägt ist, sondern durch ein breites Feld von Anforderungen und Qualifikationen auf der mittleren Ebene. Das wiederum hat Auswirkungen auf die Chancen von Jugendlichen nach dem Ende ihrer beruflichen Ausbildung einen angemessenen Arbeitsplatz zu finden (vgl. Pkt. 9.1 dieses Kapitels).

Bildung und soziale Herkunft

4

529

Bildung und soziale Herkunft

In der Bevölkerung sind die Schul- und Ausbildungsabschlüsse ungleich verteilt. Es gibt nicht „das“ Bildungsniveau, sondern vielfältige Abstufungen, die wiederum zu unterschiedlichen beruflichen Positionen sowie Einkommens- und Lebenschancen führen. Im zeitlichen Verlauf ist ein Aufwärtsprozess unübersehbar: Ein immer größerer Anteil der Bevölkerung erwirbt mittlere und höhere Bildungsabschlüsse und verweilt immer länger im Bildungssystem. Der Anteil der jungen Menschen, die die allgemeinbildenden Schulen mit einem Hauptschulabschluss verlassen, hat sich drastisch reduziert, der Anteil derer, die an Fachhochschulen und Universitäten studieren und mit einem akademischen Abschluss in den Beruf einmünden, hat deutlich zugenommen. Die Durchlässigkeit zwischen den Schulformen und Bildungsabschlüssen ist gestiegen. Unter den Auszubildenden in der betrieblichen Berufsausbildung finden sich immer häufiger Abiturient:innen und Schüler:innen mit einem mittleren Bildungsabschluss. „Bildungsarmut“ im Sinne von fehlenden oder unzureichenden Bildungsabschlüssen (gemessen an den Anforderungen einer modernen Wissensgesellschaft) ist zwar nicht überwunden, aber doch zurückgedrängt worden. Nicht jedoch gelöst worden ist das Problem, dass der Bildungserfolg nach wie vor stark von der sozialen Herkunft abhängt. Es besteht ein enger Zusammenhang zwischen dem Sozialstatus, der Qualifikation, dem Einkommen und auch dem Wohngebiet der Eltern einerseits und der Bildungsteilnahme sowie den Bildungsabschlüssen der Kinder andererseits. Auch bei gleichen oder gar besseren Leistungen und Begabungen schaffen es Kinder und Jugendliche aus Elternhäusern mit einem geringeren Bildungsniveau deutlich seltener, einen qualifizierten Schul- und Berufsausbildungsabschluss zu erwerben als ihre Altersgenossen, deren Eltern einer höheren sozialen Schicht angehören. Im besonderen Maße benachteiligt sind dabei Kinder aus Familien mit Migrationshintergrund. Das Versprechen ‚Aufstieg durch Bildung‘ liegt hier in weiter Ferne. Dieser soziale Selektionsprozess, der prägend auf den späteren Berufs- und Lebensweg einwirkt, widerspricht den Prinzipien einer liberalen Leistungsgesellschaft („Chancengerechtigkeit“), bei der die Bildungsunterschiede allein abhängig sein sollen von den individuellen Potenzialen. Er steht zugleich im Gegensatz zu der zentralen Norm des Grundgesetzes, dass niemand aufgrund seiner sozialen Herkunft, seines Geschlechts, seiner ethnischen Zugehörigkeit oder Behinderung benachteiligt werden darf. Eine Betrachtung der einzelnen Stufen des deutschen Bildungssystems belegt die soziale Selektion mehr als deutlich. Dies beginnt bereits in der Phase der frühkindlichen Erziehung und der Betreuung in Tagesstätten: Kinder aus Haushalten mit einem geringen Einkommen und einem niedrigen Bildungsniveau sowie Kinder mit Migrationshintergrund besuchen Kindertageseinrichtungen unterproportional häufig. Dies ist umso problematischer, da gerade Kinder von Eltern mit niedriger Bildung

530

Qualifikation

Abbildung VI.7 Zusammenhang zwischen Elternhaus und Wahl der Schulart in Klasse 5 – Anteil der Kinder, die zur 5. Klasse auf den jeweiligen Schultyp wechseln in % wenn das Kind in einem armutsgefährdeten Haushalt lebt

23

wenn das Kind bei einem alleinerziehenden Elternteil lebt

33

27

wenn mindestens ein Elternteil arbeitslos ist

30

wenn kein Elternteil Hochschulreife hat

31

35 34

29

30

29 37

24

wenn die Mutter aktuell vollzeitbeschäftigt ist

44

33

wenn kein Elternteil arbeitslos ist

45

30

14 17

wenn der Haushalt nicht armutsgefährdet ist

48

30

14

wenn das Kind in einem Partnerhaushalt lebt

48

30

15

wenn die Mutter aktuell teilzeitbeschäftigt ist

50

wenn ein Elternteil Hochschulreife hat

29 61

wenn beide Eltern Hochschulreife haben

Gesamtschule

25 84

0% Gymnasium

12

Realschule

10%

20%

30%

40%

Schule mit mehreren Bildungsgängen

6 11

50%

60% Hauptschule

70%

80%

90%

1 100%

Förderschule

Quelle: Bundesministerium für Arbeit und Soziales (2017), Lebenslagen in Deutschland. Der Fünfte Armuts- und Reichtumsbericht, S. 232.

und/oder ausländischer Herkunft einen besonderen Förderbedarf haben, vor allem hinsichtlich der sprachlichen Entwicklung. In der Grundschulzeit ist auffällig, dass die Kompetenzen und Schulleistungen der Kinder in einem deutlichen Zusammenhang mit ihrer sozialen Herkunft stehen. Ungleichheiten im familiären kulturellen Kapital werden in der Grundschule nicht kompensiert, sie werden vielmehr – wie Analysen zeigen – stärker für den Kompetenzerwerb von Kindern relevant als in Bildungssystemen anderer Länder. Empirisch gut belegt ist auch, dass beim Übergang von der Grundschule zu einer weiterführenden Schule der Bildungsstand der Eltern eine entscheidende Rolle spielt. Noch immer gehen Kinder von Eltern mit Hochschulreife häufiger auf das Gymnasium als Kinder aus bildungsschwächeren Elternhäusern. So wechseln 84 % der Kinder, deren Eltern beide eine Hochschulzugangsberechtigung haben, auf ein Gymnasium. Auf der anderen Seite besuchen Kinder aus armutsgefährdeten Haushalten und/oder die bei einem alleinerziehenden oder arbeitslosen Elternteil aufwachsen, mehrheitlich eine Haupt- oder auch Realschule – nicht aber das Gymnasium. Auch wird trotz der verbesserten, allerdings keineswegs vollständigen Durchlässigkeit zwischen den Schulformen die Chance, im Verlauf der Sekundarstufe I noch aufzusteigen, seltener genutzt.

Berufliche Bildung

531

Schließlich wirkt sich die soziale Herkunft auch auf den Hochschulzugang aus. Denn nach wie vor sind Kinder aus Familien mit geringem Bildungsniveau und/oder mit Migrationshintergrund nur selten an Fachhochschulen oder Universitäten zu finden. Soziale Disparitäten werden nicht nur hartnäckig von der Kita über die Grundschule bis zum Studium bzw. bis zur Berufsausbildung weitergeschleppt, sie verstärken sich sogar von Bildungsstufe zu Bildungsstufe. Die Ursachen für diesen anhaltenden Prozess der sozialen Selektion sind vielfältig. Zweifelsohne spielen auch finanzielle Überlegungen eine Rolle. Der Besuch der allgemeinbildenden Schulen sowie der beruflichen Schulen (mit Ausnahme der Fachschulen) ist zwar kostenfrei, auch besteht Lehr- und Lernmittelfreiheit. Hingegen werden im Elementarbereich (noch) Gebühren erhoben (vgl. Kapitel „Familie und Kinder“, Pkt. 8.1). Auch das Hochschulstudium ist wieder weitgehend kostenfrei, die vor einigen Jahren in verschiedenen Bundesländern eingeführten Studienbeiträge sind abgeschafft worden. Eine andere Frage aber ist, wie der Lebensunterhalt der Schüler und Studierenden während der Ausbildungsphase finanziert werden kann, wenn die Eltern dazu nicht in der Lage und/oder bereit sind (vgl. Pkt. 8.1 dieses Kapitels).

5

Berufliche Bildung

5.1

Charakteristik und Funktionen des Berufsbildungssystems

Weite Bereiche des Arbeitsmarktes in Deutschland basieren auf dem Berufsprinzip. Dieses wiederum beruht auf einem spezifischen Ausbildungskonzept. Auszubildende werden in bestimmten Berufen ausgebildet und erlernen die für den jeweiligen Ausbildungsberuf verbindlich festgelegten Kenntnisse, Fertigkeiten und Fähigkeiten, die sie betriebsübergreifend einsetzen können. Durch die Zertifizierung des Berufsabschlusses ist für die einstellenden Arbeitgeber erkenntlich, ob die Qualifikation ausreicht, eine bestimmte Tätigkeit auszuführen Eine gute und möglichst passgenaue Qualifikationsstruktur der Erwerbsbevölkerung ist aber nicht nur für die einzelnen Unternehmen von Vorteil, sondern für den Arbeitsmarkt und die Volkswirtschaft insgesamt von Belang. Nur eine gut ausgebildete Bevölkerung kann zur Steigerung der wirtschaftlichen Produktivität beitragen, die Anpassung an den wirtschaftlichen und technologischen Strukturwandel bewältigen und damit den gesellschaftlichen Wohlstand sichern. Das Berufsbildungssystem soll diese produktivitätsrelevanten und arbeitsmarktgängigen Qualifikationen vermitteln, die Ausbildung in einem Beruf mit formalisierten Bildungsgängen und Abschlusstiteln für die berufsbezogene Erwerbstätigkeit organisieren und den Unternehmen damit die benötigten Fachkräfte zur Verfügung stellen. Neben dieser Qualifizierungsfunktion als Kernaufgabe übernimmt das Berufsbildungssystem jedoch noch eine Reihe weiterer Aufgaben, die für den Einzelnen und

532

Qualifikation

die Gesellschaft von Bedeutung sind. Dabei handelt es sich vor allem um folgende Funktionen: • Allokations- und Rekrutierungsfunktion: Über das Berufsbildungssystem werden junge Menschen auf die Berufsstruktur und auf Berufspositionen verteilt. Das Berufsspektrum ist dabei nicht nur hierarchisch strukturiert, indem Berufe sich danach unterscheiden, mit welchem Grad sozialer Anerkennung, materieller Vergütung und möglicher Karriereperspektiven sie verbunden sind. Gleichzeitig sind Berufe horizontal, d. h. nach Qualifikationen in Branchen und Berufsgruppen, gegliedert („Beruflichkeit“). Die Allokationsfunktion beschreibt diesen horizontalen Verteilungsaspekt. Die Parallelstrukturierung des Berufsbildungs- und Beschäftigungssystems nach Berufen dient dazu, die Ausbildungsleistungen mit der Bedarfsstruktur abzugleichen und entsprechend zu organisieren. Aus dieser Perspektive nimmt das Berufsbildungssystem dann auch eine Zubringerposition für das Beschäftigungssystem ein. • Selektions- und Statusdistributionsfunktion Dem Berufsbildungssystem kommt es zu, die Zugänge zu Ausbildungswegen und Berufskarrieren zu regulieren und auf diesem Wege auf die Verteilung gesellschaftlicher Positionen Einfluss zu nehmen. Die Verteilung orientiert sich dabei an der Qualität der Schulabschlüsse, die zuvor im gegliederten allgemeinbildenden Schulsystem erworben wurden. Die formalen Bildungsabschlüsse informieren über das Leistungsvermögen und die Leistungsbereitschaft. Die Qualität der bisherigen Bildungsleistungen entscheidet in hohem Maße darüber, welche Bildungswege offen stehen oder verschlossen sind. Einfluss auf Bildungschancen haben darüber hinaus askriptive Merkmale der Schulabgänger:innen wie insbesondere der Migrantenstatus und das Geschlecht. • Sozialisations- und Integrationsfunktion Die in der Berufsausbildung vermittelten sozialen Qualifikationen stärken die grundlegenden persönlichen Voraussetzungen der Auszubildenden wie Selbstvertrauen und Selbstbewusstsein, schulen ihre Urteils- und Kritikfähigkeit sowie Teamfähigkeit und Flexibilität. Wenn es der beruflichen Bildung gelingt, einen guten Übergang in den Arbeitsmarkt zu erreichen und Arbeitslosigkeit im Jugendalter zu vermeiden, lassen sich die Risiken einer gesellschaftlichen Desintegration und Ausgrenzung bereits zu Beginn des Arbeitslebens begrenzen. Gerade für Jugendliche mit Migrationshintergrund, und hier insbesondere für Flüchtlinge und Schutzsuchende, ist die auf einer schulischen und beruflichen Ausbildung basierende Einmündung in den Arbeitsmarkt ein entscheidender Faktor für ihre gesellschaftliche Integration. Diese Funktionen zusammen kennzeichnen die Besonderheit des Ausbildungsmarktes als Übergangsmarkt. Anders als auf dem Arbeitsmarkt werden durch das Berufsbildungssystem auf dem Ausbildungsmarkt zum einen Übergänge der Schul-

Berufliche Bildung

533

abgänger:innen aus dem Bildungs- ins Berufsbildungssystem und zum anderen Übergänge der Ausgebildeten vom Berufsbildungs- ins Beschäftigungssystem organisiert. Der Ausbildungsmarkt ist daher ein ganz eigener Markt mit einer eigenen Dynamik und eigenen Entwicklungsbedingungen von Angebot und Nachfrage. So gelten im Berufsbildungssystem besondere gesetzliche Grundlagen und besondere Finanzierungsstrukturen. An der Regulierung und Bereitstellung von Angeboten zur beruflichen Ausbildung sind viele verschiedene Akteure und Träger beteiligt, die – je nach Bildungsweg – in besonderen Gremien zusammenarbeiten. Auch für die soziale Absicherung während der Ausbildung bestehen besondere Leistungssysteme (vgl. Pkt. 8.1 dieses Kapitels). 5.2

Sektoren des beruflichen Ausbildungssystems

Es gibt ein breites Spektrum an Möglichkeiten, das Ausbildungssystem in Deutschland zu durchlaufen und eine berufsbefähigende Qualifikation zu erwerben. •

Schulabgänger:innen mit (Fach-)Hochschulreife können eine akademische Ausbildung an einer Fachhochschule oder Universität beginnen, sie haben aber auch die Möglichkeit, eine berufliche Schule zu besuchen oder eine betriebliche Ausbildung im dualen System aufzunehmen. Die Alternative heißt auch nicht, berufliche Ausbildung oder Studium, sondern beide Ausbildungswege können miteinander verbunden werden. • Absolvent:innen mit mittlerer Reife oder gutem Hauptschulabschluss können zwischen verschiedenen Bildungsgängen an beruflichen Schulen und der Ausbildung im dualen System wählen. • Die geringste Auswahl haben schließlich Ausbildungssuchende, die ohne oder mit einem schlechteren Abschluss die allgemeinbildende Schule verlassen. Ihre Chancen, Zugang zum dualen System oder zu beruflichen Vollzeitschulen zu finden, sind äußerst gering. • Erfolglosen Bewerber:innen um einen Ausbildungsplatz oder einen Schulzugang werden ergänzende und fördernde Bildungsgänge und -maßnahmenangeboten, die sich an benachteiligte Jugendliche richten. Diese unterschiedlichen Formen einer beruflichen Ausbildung, in die die Abgänger:innen der allgemeinbildenden Schulen einmünden, lassen sich untergliedern in das • Schulberufssystem, • duale System der betrieblichen Berufsausbildung und • Übergangssystem. Hinzu kommen die Zugänge in das Hochschulsystem.

534

Qualifikation

In das berufliche Ausbildungssystem im engeren Sinne (ohne die Hochschulen) mündeten 2017 knapp 1 Mio. junge Menschen ein, etwa zur Hälfte in das duale System, gut 20 % in das Schulberufssystem und knapp 30 % in das Übergangssystem (vgl. Abbildung VI.8). Im Vergleich zu 2005 haben sich die Anteile merklich verschoben: Damals, unter den Bedingungen einer angespannten Arbeitsmarklage und hoher Arbeitslosigkeit, mündeten in das Übergangssystem über 36 % aller Schulabsolvent:innen ein und nur 45 % in das duale System. Wie zu erwarten hängt die Verteilung auf die Sektoren des Berufsbildungssystems im hohen Ausmaß vom schulischen Ausbildungsabschluss ab. In den Übergangssektor mündeten 2017 zu 28,5 % Jugendliche ohne Hauptschulabschluss und zu 36,9 % mit Hauptschulabschluss: Im dualen System und im Schulberufssystem haben demgegenüber Jugendliche ohne Hauptschulabschluss kaum Einmündungschancen (3,8 % und 0,3 %). Hier dominieren mittlere Abschlüsse (47,4 % und 58,2 %). Aber auch Jugendliche mit (Fach-)Hochschulreife wechseln in eine duale Ausbildung (20,2 %) und ins Schulberufssystem (23,3 %).

Abbildung VI.8 Neuzugänge in die drei Sektoren des beruflichen Ausbildungssystems 2005 – 2017 absolut und in %

291.924

302.881

266.881

252.670

255.401

259.727

281.662

316.494

344.515

Übergangssystem

29,3%

26,8%

214.346

217.139

208.824

210.032

215.602

212.079

209.617

212.363

209.524

211.089

21,5%

22,3%

490.267

481.423

479.545

481.136

491.380

505.523

523.577

509.900

512.518

559.324

531.471

569.460

18,8%

517.342

400.000

215.223

18,8%

215.873

600.000

36,3%

214.829

800.000 36,3%

358.969

386.864

412.083

417.649 1.000.000

36,3%

Schulberufssystem 36,3%

200.000

45,0% 0

2005

49,2%

51,0%

45,0% 2006

2007

2008

Quelle: Nationaler Bildungsbericht 2018.

2009

2010

2011

2012

2013

2014

2015

2016

2017

Duales System

Berufliche Bildung

5.3

535

Das Schulberufssystem

Das Schulberufssystem in Deutschland ist aufgrund seiner Ausdifferenzierung in verschiedene Schulformen und insbesondere aufgrund der zahlreichen Varianten dieser Formen kompliziert und schwer überschaubar. Dies ist im Wesentlichen eine Folge des Föderalismus in der Bildungspolitik, nach dem die schulische Berufsbildung in der Kulturhoheit der Bundesländer liegt. Jedes Bundesland hat ein eigenes Spektrum an vollzeitschulischen Angeboten zur beruflichen Bildung, das oft historisch gewachsen ist. Übersicht VI.1 Das System berufsbildender Schulen und Bildungsgänge Bildungsgang/Schulform

Voraussetzung

Ziel

Berufsvorbereitungsjahr (BVJ) an Berufs(fach)schulen

Keine

Berufsausbildungsreife, Vorbereitung auf eine berufliche Ausbildung oder Beschäftigung

Berufsgrundbildungsjahr (BGJ) an Berufs(fach)schulen

i. d. R. Hauptschulabschluss

Vermittlung von allgemeinen fachtheoretischen und -praktischen Inhalten eines Berufsfeldes

Berufsschule

(über-)betriebliches Ausbildungsverhältnis oder Arbeitsverhältnis

Vertiefung der Allgemeinbildung, Vermittlung fachtheoretischer Grundausbildung

Berufsfachschule (BFS)

Erfüllung der Vollzeitschulpflicht i. d. R. mind. Hauptschulabschluss

Volle Berufsausbildung in verschiedenen Berufsfeldern

Fachschulen

Berufsausbildung, berufliche Tätigkeit oder Nachweis fachspezifischer Begabung

Fachliche Weiter- und Fortbildung

Schulen des Gesundheitswesens

Vollendung 18. Lebensjahr, nach Erfüllung der Schulpflicht, einschlägige Berufsausbildung oder erfolgreicher Besuch einschlägiger ausbildungsvorbereitender Einrichtung

Berufsausbildung für nichtakademische Gesundheitsdienstberufe mit staatlich anerkanntem Abschluss

Fachoberschulen

i. d. R. Realschulabschluss

Fachhochschulreife

Berufliche/Fachgymnasien

Realschulabschluss, Oberstufenreife

Hochschulreife

Erwerb von Qualifikationen

Erwerb von Berechtigungen

536

Qualifikation

Unbeachtet aller landesspezifischen Einzelheiten und ihrer Varianten lassen sich die berufsbildenden Schulen aber unterscheiden in Schulen, die vorrangig berufliche Qualifikationen vermitteln (Berufsbildung) und Schulen, die vorrangig Berechtigungen verleihen (Bildungsabschlüsse) (vgl. Übersicht VI.1). Fachoberschulen, berufliche Gymnasien Die Schulen, an denen vorrangig weiterführende Bildungsabschlüsse erworben werden können, sind Fachoberschulen und berufliche Gymnasien. Sie richten sich an Absolvent:innen der Sekundarstufe I oder an Interessierte, die eine abgeschlossene Berufsausbildung und zumeist eine mehrjährige Berufspraxis vorweisen können. Es überwiegt der allgemeine und theoretische Unterricht, der fachliche oder berufliche Bezug hat eine geringere Bedeutung. Diese Schulen können in Voll- oder Teilzeit und – je nachdem – für die Dauer von einem bis zu drei Jahren besucht werden. Abgesehen von der Berufsaufbauschule ermöglicht der Abschluss an diesen Schulen die Aufnahme eines (fachgebundenen) Studiums. Fachschulen, Berufsfachschulen, Schulen des Gesundheitswesens Berufliche Qualifikationen vermitteln Fachschulen, Berufsfachschulen und die Schulen des Gesundheitswesens. Fachschulen dienen vor allem der Weiter- und Fortbildung von bereits beruflich ausgebildeten und oft langjährig Erwerbstätigen (z. B. Techniker- oder Meisterschulen). Während Berufsschulen mindestens bis zur Erfüllung der Teilzeitschulpflicht nach vollendetem 18. Lebensjahr und während der gesamten Dauer der betrieblichen Ausbildung besucht werden, variiert die Dauer des Besuchs von Fachschulen zwischen zwei und drei Jahren. Eine vollständige, staatlich anerkannte Berufsausbildung vermitteln allein Berufsfachschulen (zwei- bis dreijährige Besuchsdauer) und Schulen des Gesundheitswesens. Berufsfachschulen bieten Ausbildungen in der Regel in Vollzeitform an. Eine Bindung an einen Betrieb und auch eine Ausbildungsvergütung gibt es nicht, der Lernort ist ausschließlich die Schule (was Praxisphasen nicht ausschließt). In den einzelnen Bundesländern gibt es vielfältige Formen von Berufsfachschulen in unterschiedlichen Berufsfeldern und mit unterschiedlichem Qualifikationsniveau. Typische Berufsfelder sind u. a. die Assistenzberufe (z. B. chemisch-technischer Assistent:in), Fremdsprachenkorrespondent:in, Mediengestalter:in. Die Ausbildung richtet sich entweder nach Landesrecht oder nach dem Berufsbildungsgesetz/Handwerksordnung. Ein einjähriger Besuch einer Berufsfachschule kann aber auch als berufliche Orientierung dienen; da kein Schulabschluss erworben wird, wird dieser Typ dem Übergangssektor zugerechnet. In den Schulen des Gesundheits- und Sozialwesens, die in der Regel erst ab Beendigung der Schulpflicht besucht werden können, wird in nicht-akademischen Berufen ausgebildet (z. B. Gesundheits- und Krankenpfleger:in, Hebamme, Physiotherapeut:in, medizinisch -technische Assisent:in). Vorausgesetzt wird bei nahezu allen

Berufliche Bildung

537

Berufen eine einschlägige Berufsausbildung oder der erfolgreiche Besuch einer auf die Ausbildung vorbereitenden schulischen Einrichtung. Krankenpflegeschulen und -ausbildungen stellen insofern eine Besonderheit dar, da sie durch Bundesgesetz bundeseinheitlich geregelt sind und in enger Anbindung an Krankenhäuser ausbilden, die dann auch ein tarifvertraglich geregeltes Ausbildungsentgelt zahlen. Schüler:innen an beruflichen Schulen Den verschiedenen Arten der beruflichen Schulen kommt hinsichtlich ihrer Schülerzahl eine sehr unterschiedliche Bedeutung zu (vgl. Abbildung VI.9). Aufgrund des obligatorischen Besuchs während der betrieblichen Ausbildung besuchen mit zwei Drittel die meisten Schüler:innen an beruflichen Schulen eine Teilzeit-Berufsschule. Mit deutlichem Abstand folgen die Berufsfachschulen, Schulen des Gesundheitswesens, Fachschulen, Fachgymnasien und Fachoberschulen. Die Zahl der Schüler:innen hat an den Teilzeit-Berufsschulen und den Berufsfachschulen seit 2004 merklich abgenommen. Hinter dieser Entwicklung steht nicht nur der demografisch bedingte Rückgang der Zahl der Jugendlichen. Denn Schu-

Abbildung VI.9

Schüler:innen an beruflichen Schulen 2004 – 2018 157

Schulen des Gesundheitssystems

120 180

Fachschulen 163 14

2018

Berufsoberschulen

2014

18 180

Fachgymnasien/ berufliche Gymnasien

2012

117

2009

128

2004

Fachoberschulen 122 416

Berufsfachschulen 542

Berufsgrundbildungsjahr

6

48

Berufsvorbereitungsjahr

101

81 1.414

Teilzeit-Berufsschulen 1.672

Quelle: Statistisches Bundesamt (zuletzt 2019), Fachserie 11, Reihe 2.

538

Qualifikation

len, die einen direkten Weg in den Hochschulbereich eröffnen, haben dagegen Schüler:innen gewonnen. Das deutet auf Verhaltensänderungen auf der Seite der Nachfrage nach beruflicher Bildung hin. Das Interesse an Weiter- und Fortbildungen im Anschluss an eine abgeschlossene Berufsausbildung und/oder als Unterbrechung der Berufstätigkeit ist in den letzten Jahren enorm gestiegen. Die Entwicklungen im beruflich qualifizierenden Schulsektor stehen zudem in einem unmittelbaren Zusammenhang mit dem Ausbildungsmarkt. Insbesondere dem Berufsvorbereitungsjahr, dem Berufsgrundbildungsjahr sowie den Berufsfachschulen kann eine „ausgeprägte Pufferfunktion“ für den dualen Ausbildungsstellenmarkt zugeschrieben werden. Werden weniger betriebliche Ausbildungsplätze angeboten, münden immer mehr erfolglose Bewerber:innen mit niedrigen oder mittleren Schulabschlüssen in einer schulischen Alternative oder nehmen außerschulische Angebote wahr. 5.4

Hochschulen

Hochschulen zählen im Verständnis der deutschen Bildungspolitik (und auch in der statistischen Erfassung) nicht zum beruflichen Bildungssystem. Gleichwohl kommt ihnen eine zentrale Funktion hinsichtlich Berufsausbildung und Berufseinmündung zu. Denn ein immer größerer Teil der Absolventinnen und Absolventen des Schulsystems, aber auch des Schulberufssystems, verfügt über eine Hochschulzugangsberechtigung, und 80 % davon nehmen auch ein Studium auf. Der Eintritt ins Studium beginnt allerdings nicht zwingend unmittelbar nach Erreichen der Hochschulzugangsberechtigung: Phasen einer Erwerbstätigkeit, eines Praktikums, einer betrieblichen Berufsausbildung, von Auslandsaufenthalten oder von Tätigkeiten im freiwilligen sozialen und ökologischen Jahr oder im Bundesfreiwilligendienst können dem Studienbeginn vorausgehen. Die 2,9 Mio. Studierenden (2018) befinden sich zu • • •

62,1 % an Universitäten, 36,6 % an Fachhochschulen, 1,3 % Kunsthochschulen.

Sie verteilen sich auf unterschiedliche Studienfächer, die einzelnen Studienbereichen zugeordnet und die wiederum zu neun großen Fächergruppen zusammengefasst werden. Die mit Abstand größte Fächergruppe ist die der Rechts-, Wirtschafts- und Sozialwissenschaften (vgl. Tabelle VI.2). Die Wahl des Studienfachs wird zu großen Teilen durch Zulassungseinschränkungen gesteuert (Numerus clausus oder hochschulinterne Zulassungsverfahren). Der Frauenanteil der Studierenden liegt bei knapp 50 %, er variiert erheblich nach den Fachrichtungen. Frauen stellen die Mehrheit in der Humanmedizin/Gesund-

Berufliche Bildung

539

Tabelle VI.2 Studierende nach den wichtigsten Fächergruppen 2018/2019

2017/2018

2016/2017

340 127

341 642

342 928

28 369

28 199

27 822

1 056 577

1 048 789

1 025 852

Mathematik, Naturwissenschaften

324 452

318 675

315 393

Humanmedizin/Gesundheitswissenschaften

181 024

176 633

171 024

Agrar-, Forst- und Ernährungswissenschaften

63 774

63 579

63 253

Ingenieurwissenschaften

766 981

769 085

763 354

Kunst, Kulturwissenschaft

94 148

94 264

93 717

8 157

4 112

3 667

2 863 609

2 844 978

2 807 010

Geisteswissenschaften Sport Rechts-, Wirtschafts- und Sozialwissenschaften

Sonstige Fächer insgesamt

Quelle: Statistisches Bundesamt (zuletzt 2019), Fachserie 11, Reihe 4.1.

heitswissenschaften sowie in den Geisteswissenschaften, sind jedoch nach wie vor in einer Minderheitenposition in den sog. MINT-Fächern (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften, Technik). An den Fachhochschulen werden vor allem Studiengänge in den folgenden Studienbereichen angeboten: Ingenieurwissenschaften, Betriebswirtschaftslehre, Sozialwesen, Verwaltungs- und Rechtspflege, Informatik, Gestaltung/Design, Informationsund Kommunikationswesen, Gesundheitswesen, Pflege. Mit dem Bachelor- oder Master Abschluss oder mit dem Staatsexamen (nur an Universitäten) wird eine akademische Berufsbefähigung erworben, die je nach wissenschaftlicher Disziplin und je nach Studienrichtung zur Aufnahme unterschiedlicher Berufe führt. Während die Universitäten nur wenig praxisbezogen ausgerichtet sind, ist für die Fachhochschulen eine stärkere Anwendungsorientierung charakteristisch. Insgesamt ist der Trend hin zu einem stärkeren Praxisbezug unübersehbar, so durch die Verpflichtung zur Ableistung von Praktika vor Aufnahme des Studiums und/oder durch Studien- und Prüfungsordnungen, die Praktika im Verlauf des Studiums vorsehen. Vergleichsweise neu sind duale Studiengänge, diese verknüpfen eine praktische Tätigkeit in einem Unternehmen mit einem begleitenden Studium. Voraussetzung ist ein Ausbildungs- bzw. Arbeitsvertrag mit einem Unternehmen. Einige Studienfächer und -abschlüsse (so insbesondere mit Staatsexamen) zielen auf spezifische Berufe in geschlossenen beruflichen Arbeitsmärkten wie Lehrer, Arzt, Rechtsanwalt, Architekt, Sozialarbeit. Bei anderen Studienfächern und -abschlüssen, z. B. in den Sozialwissenschaften, Wirtschaftswissenschaften und Geisteswissenschaften,

540

Qualifikation

sind Berufseinmündung und die Art der Berufstätigkeit eher offen (offene berufliche Arbeitsmärkte). Insgesamt erreichten 2018 rund 325 Tausend Studierende einen ersten Ausbildungsabschluss. Dies entspricht einem Anteil von fast einem Drittel an der altersspezifischen Bevölkerung. Der Großteil dieser Absolventinnen und Absolventen sucht einen entsprechenden Arbeitsplatz auf dem Arbeitsmarkt, andere schließen ein Zweitstudium an, wechseln in ein Referendariat oder beginnen eine zusätzliche schulische oder betriebliche Berufsausbildung. Aber längst nicht alle, die ein Studium beginnen, beenden es auch mit einem Abschluss. Fast jeder Dritte der Studienanfänger bricht in der Frühphase sein Studium ab und muss sich neu orientieren. Viele der Betroffenen nehmen nach dem Verlassen der Hochschule eine Erwerbstätigkeit (ohne Berufsabschluss) auf, beginnen (nach einer Unterbrechung) ein anderes Studium oder entscheiden sich für eine anderweitige schulische oder betriebliche Berufsausbildung.

6

Betriebliche Berufsausbildung im dualen System

6.1

Charakteristika des dualen Systems

Bei der für Deutschland so typischen Form der betrieblichen Berufsausbildung handelt es sich um eine arbeitsmarktnahe Ausbildung, die an zwei Lernorten verläuft: •

Die fachpraktische Ausbildung vollzieht sich im Betrieb oder in überbetrieblichen Ausbildungsstätten. • Die fachtheoretische Ausbildung wird in Berufsschulen geleistet, die vom Staat (Bundesländer) getragen und kontrolliert werden. Dieses duale Ausbildungssystem, mit dem die Unternehmen ihren eigenen Fachkräftenachwuchs steuern, hat zwar in den vergangenen Jahren für den gesamten Ausbildungsmarkt an Bedeutung verloren, gleichwohl stellt es immer noch die wichtigste Form der beruflichen Erstausbildung dar. Wichtig ist sie nicht nur, weil immer noch die meisten, die sich in beruflicher Bildung befinden, eine betriebliche Ausbildung absolvieren (vgl. Abbildung VI.9). Wichtig ist die betriebliche Ausbildung darüber hinaus, weil sie den Kern des Berufsbildungssystems in Deutschland darstellt. Das Schulberufssystem ist gegenüber der betrieblichen Ausbildung auch in der politischen und öffentlichen Aufmerksamkeit deutlich nachrangig und ergänzt eher den dual zentrierten Ausbildungsmarkt. Indem das deutsche Berufsbildungssystem hauptsächlich auf die Ausbildung im dualen System setzt, sind die Entwicklungen auf dem Ausbildungsmarkt stark vom betrieblichen Ausbildungsverhalten abhängig. Es sind die Unternehmen, die frei darüber entscheiden, ob sie überhaupt Ausbildungsplätze anbieten und wenn ja für wel-

Betriebliche Berufsausbildung im dualen System

541

che Berufe und in welcher Zahl. Und zugleich entscheiden die Ausbildungsbetriebe frei darüber, mit welchen jungen Menschen sie – nach welchen Kriterien – ein Ausbildungsverhältnis begründen. Daher spielen Marktbedingungen für den Berufsbildungsprozess – anders als in der Allgemeinbildung – eine große Rolle. So werden bei der Gestaltung der Ausbildungspolitik ökonomische Kalküle und die betriebliche Praxis berücksichtigt. Nicht zuletzt aus diesem Grund sind an der Steuerung und Regulierung der Ausbildung im dualen System die Verbände der Arbeitgeber und die Gewerkschaften beteiligt, die Politik kooperiert also mit den Sozialpartnern. Gegenstand dieser Zusammenarbeit ist vor allem die Ausbildungsordnungspolitik, die qualitative Aspekte der betrieblichen Ausbildung behandelt, wie z. B. die Neuordnung bestehender und die Einführung neuer Ausbildungsberufe. Gesetzliche Grundlage der Ausbildungsordnung in Deutschland ist seit 1969 das Berufsbildungsgesetz (BBiG). Für die Ausbildung im Handwerk gilt zusätzlich die Handwerksordnung (HwO). Das BBiG regelt allerdings nicht nur die betriebliche Ausbildung, sondern sieht auch besondere Ausbildungsregelungen für Menschen mit Behinderungen vor, behandelt Fragen der beruflichen Fortbildung und Umschulung, und es ist auch für das Feld der Berufsausbildungsvorbereitung zuständig. Ausbildungsberufe und -ordnungen Für jeden Ausbildungsberuf gilt eine Ausbildungsordnung, die in Form einer staatlichen Rechtsverordnung erlassen wird. Nach dem Berufsbildungsgesetz müssen Ausbildungsordnungen als Grundlage einer „geordneten und einheitlichen Berufsausbildung“ (§ 25 BBiG) mindestens u. a. Folgendes festlegen: • Bezeichnung des Ausbildungsberufs, • Ausbildungsdauer (nicht mehr als drei und nicht weniger als zwei Jahre), • Ausbildungsberufsbild (Fertigkeiten und Kenntnisse, die Gegenstand der Berufsausbildung sind), • Ausbildungsrahmenplan (eine Anleitung zur sachlichen und zeitlichen Gliederung der Fertigkeiten und Kenntnisse), • Prüfungsanforderungen. Im Jahr 2017 gab es für 326 staatlich anerkannte Ausbildungsberufe und Ausbildungsordnungen. Die Zahl ist in letzten dreißig Jahren drastisch gesenkt worden, indem Berufe zusammengelegt, gestrichen oder modernisiert worden sind. Es wurden aber auch laufend neue Ausbildungsberufe geschaffen. Auf diesem Wege werden nicht nur neue Tätigkeitsfelder aufgenommen (z. B. im IT-Bereich), sondern bestehende Ausbildungsberufe abgewandelt, indem z. B. der fachtheoretische Anteil und die Ausbildungszeit auf zwei Jahre verkürzt werden. Das Verzeichnis der anerkannten Ausbildungsberufe wird vom Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB) geführt.

542

Qualifikation

Berufsausbildungsvertrag und Ausbildungsqualität Vor Beginn der Berufsausbildung muss zwischen Auszubildenden und Ausbildenden bzw. Ausbildungsbetrieb ein schriftlicher Berufsausbildungsvertrag geschlossen werden. Auch hierfür sieht das BBiG Mindestregelungsinhalte vor (u. a. sachliche, zeitliche Gliederung sowie Beginn und Dauer Berufsausbildung, Dauer der Probezeit, des Urlaubs, der regelmäßigen täglichen Ausbildungszeit, Zahlung und Höhe der Vergütung). Weil Ausbildungsverhältnisse reguläre sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse sind, unterliegen sie – neben den ausbildungsspezifischen – auch allen geltenden gesetzlichen Bestimmungen für abhängig Beschäftigte (u. a. Arbeitszeit, Mutterschutz). Zur Sicherung der Ausbildungsqualität müssen besondere Vorgaben nach dem BBiG eingehalten werden, die sowohl die Eignung der Ausbildungsstätte als auch die persönliche und fachliche Eignung der Ausbildenden betreffen. Im Ausbildungsbetrieb müssen z. B. die erforderlichen Kenntnisse und Fähigkeiten auch vermittelt werden können. Wenn dies nicht in vollem Umfang gewährleistet werden kann, muss ein Ausgleich durch Ausbildungsmaßnahmen in einer auswärtigen Einrichtung sichergestellt werden. Um diesen Bedarf von ausbildungsbereiten, aber nicht ausbildungsfähigen Betrieben zu begegnen, ist in den letzten Jahrzehnten eine Vielzahl von überbetrieblichen Ausbildungsstätten entstanden. Von großer Bedeutung ist auch die Qualifikation des Ausbildungspersonals. Neben den fachlichen Voraussetzungen, die im BBiG vorgegeben sind, müssen (neben- und hauptamtliche) Ausbildungsverantwortliche im Betrieb berufs- und arbeitspädagogische Kompetenzen nachweisen, die in der Ausbilder-Eignungsverordnung (AEVO) festgelegt sind. Festgestellt und kontrolliert werden diese Eignungen, die die Ausbildungsberechtigung von Betrieben bestimmen, durch die zuständigen Stellen, und diese sind die jeweiligen berufsständischen Kammern (u. a. Industrie- und Handelskammern, Handwerkskammern). Neben den formalisierten Kriterien sind für die Ausbildungsqualität und den Ausbildungserfolg eine Reihe weiterer Aspekte von Bedeutung: • Ausstattung und Technik der Ausbildung (z. B. Zustand und Modernität der Ausbildungseinrichtung), • Intensität der Ausbildung (z. B. Anteil organisierter Lernprozesse im Verhältnis zu produktiven Arbeitstätigkeiten, Auswahl praktischer Arbeiten nach pädagogischen Gesichtspunkten, Möglichkeiten zur selbstständigen Arbeit), • Methoden der Ausbildung (z. B. didaktische und sozial-kommunikative Gestaltung der Lehr- und Lernprozesse), • Soziale Atmosphäre der Ausbildung (z. B. Betriebsklima). Berufsschulen Die Berufsschule ist Teil des dualen Systems und wird vorrangig von Jugendlichen im Rahmen der allgemeinen Schulpflicht besucht, die sich in der beruflichen betrieb-

Betriebliche Berufsausbildung im dualen System

543

lichen Erstausbildung befinden. In Block- oder Teilzeitunterricht an zwei Wochentagen wird die Allgemeinbildung der Schüler:innen vertieft und die für den Beruf erforderliche fachtheoretische Grundausbildung vermittelt. Der Berufsschulunterricht steht damit in enger Beziehung zur Ausbildung im Betrieb oder in einer überbetrieblichen Ausbildungsstätte. Finanzierung Die berufliche Ausbildung im dualen System basiert auf dem Prinzip der Kostenteilung. Während der schulische Bereich von den Bundesländern finanziert wird, müssen die Kosten des betrieblichen Bereichs von den Betrieben getragen werden. Die ausbildenden Betriebe übernehmen alle durch die Ausbildung entstehenden Personal- und Sachkosten. Auszubildende erhalten eine Ausbildungsvergütung, die in der Regel tarifvertraglich geregelt ist (vgl. Pkt. 8.2 dieses Kapitels). Die Personalkosten für die Auszubildenden und die haupt- und nebenberuflichen Ausbilder fallen mit rund 50 % bzw. 36 % der Bruttokosten ins Gewicht. Eine geringere Rolle spielen die Anlage- und Sachkosten sowie die sonstigen Kosten. Von größerer Relevanz für das einzelbetriebliche Ausbildungsverhalten sind allerdings nicht die Brutto-, sondern die Nettokosten, die nach Abzug der Erträge faktisch bilanzwirksam für die einzelnen Betriebe werden. Im Schnitt reduzieren die Erträge durch die Ausbildung die Bruttokosten um rund 53 %. Inwieweit Auszubildende produktiv einsetzbar sind, unterscheidet sich jedoch zwischen den Betrieben bzw. Branchen. Im öffentlichen Dienst und in Industrie/Handel können die Bruttokosten am geringsten gemindert werden, da die Erträge durch einen produktiven Einsatz der Auszubildenden relativ niedrig sind. Durchschnittlich sind die Erträge bei recht hohen Bruttokosten in den freien Berufen. Von eigener Ausbildung durch überdurchschnittliche Erträge profitieren am ehesten die Landwirtschaft und das Handwerk, so dass dort die durchschnittlich geringsten Nettokosten entstehen. Vor allem auf diese günstige Kostensituation können die traditionell hohen Ausbildungsleistungen im Handwerk zurückgeführt werden. In einigen Wirtschaftsbereichen gibt es Abweichungen vom Prinzip der einzelbetrieblichen Finanzierung in Form von tarifvertraglichen Vereinbarungen. Sie sehen eine Beteiligung aller Betriebe des jeweiligen Geltungsbereichs an den Ausbildungskosten vor. Aus dem Mittelaufkommen erhalten ausbildende Betriebe die förderungsfähigen Ausbildungskosten ersetzt (z. B. im Baugewerbe, im Garten- und Landwirtschaftsbau, im Steinmetz- und Steinbildhauerhandwerk und im Dachdeckerhandwerk). Steuerung Die Steuerung der betrieblichen Berufsausbildung zeichnet sich dadurch aus, dass nichthoheitliche Entscheidungsträger in den staatlichen Politikbildungsprozess einbezogen werden. Das zentrale Steuerungsgremium auf nationaler Ebene ist der Hauptausschuss des Bundesinstituts für Berufsbildung. Besetzt ist der Hauptausschuss nach

544

Qualifikation

dem Vier-Bänke-Prinzip mit Vertreter:innen der Bundesregierung, der Länder sowie der Spitzenorganisationen der Gewerkschaften, Arbeitgeberverbände und der Kammern als Selbstverwaltungseinrichtungen der Wirtschaft. Der Hauptausschuss ist dabei weder staatliche und noch nichtstaatliche Instanz, sondern ein Forum funktionaler Repräsentation zur Meinungs- und Konsensbildung, zur Erarbeitung von Empfehlungen zur Förderung der Berufsbildungspraxis, aber insbesondere zur Übernahme der übertragenen Regelungsaufgaben. Arbeitsschwerpunkt ist die Neuordnung bestehender und die Einführung neuer Ausbildungsberufe. Über die Vertretung der Bundesländer im Hauptausschuss wird die Anpassung der Rahmenlehrpläne für die Teilzeit-Berufsschulen des dualen Systems an die Ausbildungsverordnungen des Bundes gewährleistet. Wird eine Einigung über die Ausbildungsordnungen im Gremium hergestellt, werden diese über Rechtsverordnungen von der Bundesregierung erlassen. Zwar verbleibt damit die Rechtsetzung bei der Bundesregierung bzw. dem zuständigen Ministerium als zentrale Instanz. Aber das gesetzte Recht ist Ergebnis eines dezentralen Aushandlungsprozesses, und durch das Konsensprinzip ist die staatliche Regulierung an das Verhandlungssystem gebunden. Begründet ist der Einsatz korporativer Arrangements nicht nur darin, die Politikgestaltung mit Sachverstand zu bereichern. Der verantwortliche Einbezug der bedeutenden Beteiligten in den politischen Entscheidungsprozess soll auch dazu dienen, die Interessenkonflikte zwischen den Beteiligten in Konsenszwänge zu kanalisieren und damit politisch zu entschärfen. 6.2

Ausbildungsbeteiligung der Betriebe

Das gesamtwirtschaftliche Angebot an Ausbildungsplätzen ist seit Anfang der 1990er Jahre deutlich gesunken. Dazu beigetragen hat der Rückgang der Ausbildungsbeteiligung der Betriebe. Der Anteil der Betriebe, die Jugendliche und junge Erwachsene ausbilden, betrug 2017 lediglich noch 19,8 % (vgl. Abbildung VI.10). Nach Angaben der Beschäftigungsstatistik der Bundesagentur für Arbeit beteiligten sich Ende 2016 von den bundesweit knapp 2,2 Mio. Betrieben mit mindestens einem/einer sozialversicherungspflichtig Beschäftigten lediglich rund 427 000 Betriebe an der beruflichen Ausbildung Jugendlicher und junger Erwachsener. Der Rückgang bei den Ausbildungsbetrieben ist vor allem auf Verluste im kleinbetrieblichen Bereich zurückzuführen, die allerdings die breite Masse der Betriebe in Deutschland ausmachen. Auch liegt die Ausbildungsbetriebsquote im Osten deutlich unter der im Westen. Die. Ausbildungsbetriebsquote ist zwar umso höher, je größer die Betriebe sind. Aber die Ausbildungsleistung – gemessen über den Anteil der Auszubildenden an den Beschäftigten (Ausbildungsquote) – ist umso höher, je kleiner der Betrieb ist. Knapp die Hälfte aller Auszubildenden findet sich in Betrieben mit weniger als 50 Beschäftigten.

Betriebliche Berufsausbildung im dualen System

545

Abbildung VI.10 Ausbildungs- und Ausbildungsbetriebsquoten 1999 – 2017 Ausbildungsquote

Ausbildungsbetriebsquote

25 24,1

23,6

21,2

20

19,8

15

10

5

0

6,5

6,3

5,5

1999

2007

4,9

2012

2017

Quelle: Bundesinstitut für Berufsbildung (zuletzt 2019), Datenreport zum Berufsbildungsbericht.

Weiter rückläufig hat sich in den zurückliegenden Jahren auch die Ausbildungsquote entwickelt. Während sie im Jahr 2007 noch bei 6,5 % lag, ist sie bis 2019 auf 4,9 % gesunken (vgl. Abbildung VI.10). 6.3

Zahl der Auszubildenden

Die insgesamt zurückgehende betriebliche Ausbildungsbeteiligung schlägt sich auch in der abnehmenden Zahl der Auszubildenden nieder. Wurden 1998 noch 1,66 Mio. Jugendliche und junge Erwachsene im dualen System ausgebildet, ging ihre Zahl bis 2018 auf 1,32 Mio. zurück (vgl. Tabelle VI.3). Am stärksten sank die Auszubildendenzahl im Handwerk. Über die Hälfte der Auszubildenden erhält mittlerweile ihre betriebliche Berufsbildung im Bereich von Industrie und Handel. Die Dominanz von Industrie, Handel und Handwerk prägt auch die Verteilung der Ausbildungsanfänger auf einzelne Ausbildungsberufe. Der im Jahre 2018 am stärksten besetzte Beruf war der Kaufmann/die Kauffrau im Büromanagement. Es folgen der/die Kraftfahrzeugmechatroniker/in und der Kaufmann/die Kauffrau im Einzelhandel. Insgesamt umfassen die zehn am stärksten besetzten Berufe rund 36 %

546

Tabelle VI.3

Qualifikation

Auszubildende nach Ausbildungsbereichen 1998 – 2017

Ausbildungsbereich

1998

2003

2008

2013

2018

in 1 000 Industrie/Handel

778,9

838,4

934,2

825,2

772,9

Handwerk

625,1

502,4

471,0

381,4

367,1

Landwirtschaft

40,1

38,3

42,2

33,6

32,5

Öffentlicher Dienst

48,2

43,3

38,0

34,9

40,1

151,1

145,7

116,7

109,4

112,8

14,1

13,1

11,2

7,4

5,3

Freie Berufe Hauswirtschaft Insgesamt

1 658

1 582

1 613

1 392

1 331

Quelle: Statistisches Bundesamt (zuletzt 2019), Fachserie 11, Reihe 3, Berufliche Bildung.

aller Ausbildungsverträge. Trotz des enormen Berufsspektrums ist die Konzentration der dualen Ausbildung somit recht hoch. 63 % der Auszubildenden sind Männer, 37 % Frauen. Bei der Aufgliederung der Ausbildungsbereiche nach Geschlecht zeigt sich, dass es Berufe gibt, die überwiegend von Männern bzw. Frauen ergriffen werden. Männer wählen überwiegend Berufe im gewerblich-technischen Bereich, während bei den Frauen alle stark besetzten Berufe dem kaufmännischen und Dienstleistungsbereich angehören (vgl. Abbildung VI.11). So war der am stärksten besetzte Beruf bei den männlichen Ausbildungsanfängern 2018 der Kraftfahrzeugmechatroniker/-mechaniker, gefolgt von den Industriemechanikern, Elektronikern, den Anlagemechanikern und Fachinformatikern. Bei den Frauen dominierte die Ausbildung zur Kauffrau für Büromanagement, gefolgt von der medizinischen und der zahnmedizinischen Fachangestellten sowie der Kauffrau im Einzelhandel. Ein weiterer geschlechtsspezifischer Unterschied der betrieblichen Berufsbildung im dualen System besteht in der deutlich stärkeren Konzentration der weiblichen Auszubildenden auf einzelne Ausbildungsberufe: Bei den Männern umfassen die zehn am stärksten besetzten Ausbildungsberufe etwa 39 %, bei den Frauen 54 % aller Neuabschlüsse. Diese Verteilung von Ausbildungsberufen ist jedoch nicht allein ein Ergebnis von Wünschen und Interessen der jungen Menschen, sondern hängt stark vom Angebot der Ausbildungsbetriebe ab, so dass teilweise auf Berufe zurückgegriffen werden muss, die eigentlich nicht präferiert werden. Ausländische Jugendliche und junge Erwachsene sind mit einem Anteil von knapp 9 % unter den Auszubildenden weiterhin deutlich unterrepräsentiert. Die Benachteiligungen ausländischer Jugendlicher insgesamt und ausländischer Frauen im

Betriebliche Berufsausbildung im dualen System

547

Abbildung VI.11 Auszubildende in den 10 am stärksten besetzten Ausbildungsberufen 2018 Frauen

Männer Kraftfahrzeugmechatroniker Fachinformatiker

4,2

Elektroniker

4,2

Kaufmann im Einzelhandel

4,1

Anlagenmechaniker für Sanitär-, Heizungs- und Klimatechnik

3,7

Industriemechaniker

3,6

Verkäufer

Kauffrau für Büromanagement

10,2

6,5

Medizinische Fachangestellte

8,3

Kauffrau im Einzelhandel

7,1

Zahnmedizinische Fachangestellte

6,2

Verkäuferin

5,9

3,0

Kaufmann im Groß- und Außenhandel

2,5

Mechatroniker

2

2,7

Hotelfachfrau

2,7

Kauffrau im Groß- und Außenhandel Verwaltungsfachangestellte

2,4

2,4 0

Friseurin

3,7

3,2

Fachkraft für Lagerlogistik

Industriekauffrau

5,4

4

6

8

10

10

8

6

4

2

0

Quelle: Statistisches Bundesamt (2019), Fachserie 11, Reihe 3, Berufliche Bildung.

Besonderen in der betrieblichen Berufsbildung werden durch Studien belegt. Ausländische Jugendliche bewerben sich häufiger erfolglos um einen Ausbildungsplatz – trotz mindestens gleichwertiger Schulabschlüsse und häufigeren Bewerbungen. Unter den ausländischen Bewerber:innen mit gleichen Schulabschlüssen mündeten nicht annähernd so viele in eine betriebliche Ausbildung wie deutsche Bewerber:innen. Die Chancen ausländischer Frauen auf eine Berufsausbildung sind insgesamt am geringsten. 6.4

Qualität der Ausbildung und Abbruchquoten

Über die tatsächlichen betrieblichen Ausbildungsbedingungen lässt sich kein umfassendes und einheitliches Bild gewinnen. Es liegen aber Befunde aus verschiedener Studien vor. Die Qualität der Ausbildung kommt danach nicht nur in der formalen Übereinstimmung der Ausbildungspraxis mit der Ausbildungsordnung und in der Vermeidung ausbildungsfremder Tätigkeiten zum Ausdruck. Sie hängt auch davon ab, in welche Inhalte mit welchen Methoden vermittelt werden. Zukunftsorientierte Ausbildungsinhalte, Vermittlung nicht nur von Wissen, sondern auch von sozialer Kompetenz, d. h. von Handlungs-, Kooperations- und Problemlösungsfähigkeit, kennzeichnen ein hohes Qualitätsniveau. Eine wichtige Rolle spielt auch die Mög-

548

Qualifikation

lichkeit der Auszubildenden, sich aktiv an der Durchführung und Ausgestaltung der Ausbildung zu beteiligen. Unzweifelhaft sind auch die Ausbildungsergebnisse selbst ein Indikator für die Ausbildungsqualität. Dazu gehören nicht nur die unmittelbaren Prüfungsergebnisse, sondern auch die berufspraktische Verwertbarkeit und die Arbeitsmarktchancen. Vor allem aber ist zu berücksichtigen, in welchem Maße begonnene Ausbildungsverhältnisse überhaupt beendet werden. Im Schnitt wird derzeit etwa jeder vierte neu abgeschlossene Vertrag während der Ausbildung wieder gelöst. Diese hohe Vertragslösungsquote ist zwar nicht mit einem Ausbildungsabbruch gleichzusetzen, denn ein Teil der Auszubildenden führt die Ausbildung im dualen System mit einem neuen Ausbildungsvertrag fort. Gleichwohl fällt auch die reine Abbruchquote mit rund 18 % immer noch hoch aus, jedoch geringer als die Abbruchquote von Studierenden (Studienanfänger ohne Abschluss im Verhältnis zu allen Studienanfängern). Hierbei zeigen sich große Unterschiede hinsichtlich der Schulabschlüsse der Auszubildenden und ihrer Ausbildungsfähigkeit. Aber auch der beruflich-betriebliche Kontext hat großen Einfluss auf das Risiko vorzeitiger Vertragslösungen. Bedeutung kommt hier den Branchen und Betriebsgrößen, aber auch den betrieblichen Ausbildungsaktivitäten und -investitionen zu. Besonders betroffene Berufsgruppen sind Köche, Restaurantfachkräfte und Friseure. Dort, wo die Ausbildungsvergütung besonders niedrig und kaum ausreicht, um den Lebensunterhalt zu bestreiten, ist die Abbrecherquote auch besonders hoch. 6.5

Angebot und Nachfrage auf dem Ausbildungsstellenmarkt

Die Situation auf dem Ausbildungsmarkt wird durch das Verhältnis von Ausbildungsstellenangebot zu Ausbildungsstellennachfrage bestimmt. Die Ausbildungsstellen werden von den ausbildenden Betrieben angeboten, die Nachfrage setzt sich aus den Jugendlichen zusammen, die einen Ausbildungsplatz suchen. Das Ausbildungsangebot betrug im Jahr 2018 bundesweit 589 000. Die Nachfrage nach Ausbildungsplätzen lag mit 556 000 leicht darunter. Nachfrage nach Ausbildungsstellen Höhe und Entwicklungstrend der Ausbildungsstellennachfrage werden von demografischen Faktoren (Besetzungsstärke der Schulabschlussjahrgänge) und von den Bildungsentscheidungen bestimmt. So haben der Rückgang der nachrückenden Kohorten und auch die starke Orientierung auf ein Studium dazu geführt, dass die Zahl der ausbildungsinteressierten Jugendlichen stark gesunken ist. Die Nachfrage nach beruflicher Bildung von Jugendlichen und jungen Erwachsenen orientiert sich zunehmend an einem breiteren Spektrum von Bildungsmöglichkeiten und hat sich auch in biografischer Hinsicht entstandardisiert. Die berufliche Ausbildung wird nicht mehr ausschließlich als eine einzelne Station im Lebenslauf begriffen, in

Betriebliche Berufsausbildung im dualen System

549

der einmal ein „Beruf für das Leben“ erlernt wird und einmal getroffene berufliche Entscheidungen nicht mehr korrigiert werden können. Vielmehr können sich Phasen der Aus- und Weiterbildung, Erwerbstätigkeit und Nichterwerbstätigkeit abwechseln. Diese Abkehr vom „Normalmodell“ Schule – Ausbildung – lebenslange Erwerbstätigkeit in einem Beruf, möglichst noch bei einem Arbeitgeber, – können allerdings am ehesten diejenigen verwirklichen, die mit höheren Schulabschlüssen auch tatsächlich eine größere Auswahl haben (z. B. zwischen Studium, schulischer oder betrieblicher Ausbildung). Je geringer die formalen Schulabschlüsse sind, desto geringer ist das Maß der „neuen Wahlfreiheit“. Jugendliche und junge Erwachsene ohne oder mit Hauptschulabschluss sind wie seit jeher auf die Aufnahme einer betrieblichen Ausbildung angewiesen, um einen Beruf zu erlernen und dauerhaft gute Arbeitsmarktchancen zu erlangen. Angebot an Ausbildungsstellen Demgegenüber wird das Ausbildungsstellenangebot durch die Entscheidungen der Betriebe beeinflusst. Von Bedeutung ist, welche Betriebe in welchen Branchen, in welchen Regionen und in welcher Intensität Ausbildungsplätze anbieten. Diese Entscheidungen werden durch eine ganze Reihe von Faktoren beeinflusst. Auf der einen Seite erweist sich die berufliche Ausbildung für die Betriebe mittel- und längerfristig als ökonomisch vorteilhaft, denn sie erlaubt es, für den eigenen Fachkräftenachwuchs zu sorgen und damit gleichzeitig die Kosten für spätere externe Personalgewinnung einzusparen. Zudem führt die erbrachte Arbeit der Auszubildenden zu Erträgen. Auf der anderen Seite entstehen den Betrieben durch die Ausbildung Kosten, die berücksichtigt werden müssen. Dies betrifft die Personalkosten in Form von Ausbildungsvergütungen, Sozialleistungen und Kosten für die Ausbilder. Weiterhin entstehen Kosten für die Bereitstellung eines Arbeitsplatzes sowie von Arbeitswerkzeugen, -kleidung oder -materialien. Für den Betrieb ist es also immer auch eine Kosten-Nutzen-Analyse, ob er Ausbildungsplätze anbietet. Allerdings sind neben den Kosten- und Nutzenerwägungen auch andere Aspekte zu berücksichtigen: So spielen Traditionen, z. B. Ausbildung im Handwerk, Imagegewinne bei Kunden und Geschäftspartnern und auch die soziale Verantwortung von Betrieben und Unternehmen gegenüber jungen Menschen eine Rolle. Wie die rückläufige Ausbildungsbetriebsquote erkennen lässt, ziehen sich trotz der guten Konjunktur- und Beschäftigungslage immer mehr Betriebe aus der betrieblichen Berufsausbildung zurück. Dahinter stehen Verschiebungen in der Wirtschaftsund Beschäftigtenstruktur, aber auch, dass es unter dem steigenden Wettbewerbsdruck schwieriger wird, die Berufsausbildung am langfristigen, gesamtwirtschaftlich erforderlichen Bedarf und nicht am kurzfristigen Planungshorizont zu orientieren. Der einzelwirtschaftliche Steuerungsmechanismus produziert bzw. begünstigt damit Fehlentwicklungen, die nachträglich nur schwer und mit einem erheblichen finanziellen Aufwand zu korrigieren sind. Hierzu gehören aus volkswirtschaftlicher Sicht

550

Qualifikation

Abbildung VI.12 Angebot und Nachfrage auf dem Ausbildungsstellenmarkt 1992 – 2018, Stellen in 1 000 und Angebots-Nachfrage-Relation 721,8 700

Angebot 660,4

650

658,5

654,5

644,2 Angebot

600

608,2

599,8

590,7 Nachfrage

589,1

581,7

562,8

550

556

Nachfrage 500 120

Angebot-Nachfrage-Relation 118,7

115 110

Zielgröße: Relation auswahlfähiges Angebot-Nachfrage: 112,5 106

105 102,3

100 95 90

96,6

94,6

1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018

Die horizontale Linie kennzeichnet den rein rechnerischen Ausgleich von 100 %. Quelle: Bundesministerium für Bildung und Forschung (2019), Berufsbildungsbericht.

ein drohender Fachkräftemangel und ein stetiger Bedarf an nachholender Qualifizierung in Form von Fortbildung oder Umschulung. Nutznießer sind vor allem jene Betriebe, die nicht ausbilden, aber auf dem Arbeitsmarkt dann die Ausgebildeten nachfragen und beschäftigen. Wie die Abbildung VI.12 zeigt, wird das Ausbildungsstellenangebot nicht zuletzt durch konjunkturelle Faktoren und die Lage auf dem Arbeitsmarkt insgesamt beeinflusst. So ist im Jahr 2009 in Folge der weltweiten Wirtschafts- und Finanzkrise die Zahl der neu abgeschlossenen Ausbildungsverträge im Vergleich zu den beiden Vorjahren gesunken. Allerdings ist es dennoch bemerkenswert, dass der Einbruch begrenzt geblieben ist, die Mehrzahl der Absolventen auch übernommen wurde und die Jugendlichen nicht – wie in anderen europäischen Ländern – massenhaft in die Arbeitslosigkeit getrieben worden sind. Angebots und Nachfragerelation Der Ausbildungsstellenmarkt ist durch gegenläufige Entwicklungen von Angebot und Nachfrage gekennzeichnet. Im Berufsbildungsbericht wird das Angebot an Ausbildungsstellen ausgewiesen als die Zahl der neu abgeschlossenen Ausbildungsver-

Angebote für benachteiligte Jugendliche im Übergangssektor

551

träge zuzüglich der bei der Bundesagentur für Arbeit gemeldeten noch unbesetzten Ausbildungsplätze. Die Nachfrage errechnet sich aus der Zahl der neu abgeschlossenen Ausbildungsverträge und den bei der BA gemeldeten noch unversorgten Bewerber:innen. Als Indikator zur Bewertung der Ausbildungsmarktsituation lässt sich dabei auf die „Angebots-Nachfrage-Relation“ (ANR) zurückgreifen. Nach dieser hat das Verhältnis von Angebot und Nachfrage im Vergleichszeitraum von 1991 bis 2007 den rein rechnerischen Ausgleich (100 Bewerber:innen auf 100 Stellen) in der Regel nicht erreicht. Seit etwa 2008 ergeben sich jedoch Angebotsüberhänge. Insgesamt gab es zum Ende des Ausbildungsjahres 2018 rund 58 000 unbesetzte Ausbildungsstellen und rund 25 000 unversorgte Bewerber:innen (vgl. Abbildung VI.12). Der Indikator „rechnerischer Ausgleich“ ist jedoch wenig aussagefähig, weil er eine Passgenauigkeit von Angebot und Nachfrage unterstellt und den Anspruch von Wahlmöglichkeiten unberücksichtigt lässt. Um ein realistischeres Bild zu erhalten, wird im Berufsbildungsbericht der Bundesregierung von dem Kriterium eines auswahlfähigen Angebotes ausgegangen, das als Norm ein Verhältnis von 112,5 Stellen auf 100 Bewerber:innen vorsieht. Danach kann Deutschland auch aktuell kein auswahlfähiges Angebot aufweisen, auch wenn sich rein rechnerisch eine Annäherung abzeichnet. Eine große Zahl von Jugendlichen bleibt nach wie vor unversorgt. Wichtiger ist aber noch die Einschränkung, dass die hier aufgezeigte AngebotsNachfrage-Relation nur den Bundesdurchschnitt wiedergibt. Tatsächlich gibt es keinen einheitlichen Ausbildungsmarkt, sondern eine Fülle von regionalen und beruflichen Teilmärkten. So finden sich – so im Süden der Republik – günstige Relationen, aber vor allem in den neuen Bundesländern und in den wirtschaftsstrukturell schwachen Regionen der alten Bundesländer (z. B. im Ruhrgebiet) erhebliche Unterdeckungen. Hier blieben nicht nur jene Bewerber unversorgt, die einen schlechten Hauptschulabschluss vorweisen, sondern auch junge Menschen mit einem mittleren Bildungsabschluss. Schwierigkeiten, einen den Vorstellungen und Neigungen entsprechenden Ausbildungsplatz zu finden, bestehen zugleich hinsichtlich der zur Auswahl stehenden Berufe. Berufssegmente, die hinsichtlich der Entwicklungsmöglichkeiten und Einkommensperspektiven besonders gefragt sind (so kaufmännische, verwaltende, ITund Medien- sowie Maschinen- und Fahrzeugtechnikberufe), weisen ein hohes Unterangebot auf. Dass hier die Berufswünsche nicht realisiert werden können, ist die eine Seite des Problems. Hinzu kommt, dass genau von diesen Berufen die Rede ist, wenn ein aktueller wie zukünftiger Mangel an Fachkräften diagnostiziert wird.

7

Angebote für benachteiligte Jugendliche im Übergangssektor

Mit dem Übergang in die Berufsbildungsphase gibt es – im Gegensatz zum Allgemeinbildungssystem – keine Garantie auf einen Ausbildungsplatz. Fehlen betriebliche Ausbildungsstellen oder (ausreichend gute) Schulabschlüsse, ist der Zugang zur

552

Qualifikation

Ausbildung im dualen System oder zur schulischen sowie akademischen Berufsbildung zumindest vorerst nicht möglich. Für die betroffenen Jugendlichen und jungen Erwachsenen müssen daher Alternativen angeboten werden, um eine unmittelbare und dauerhafte Arbeitslosigkeit zu verhindern. Dies gilt im besonderen Maße für jene Schulabgänger:innen, die keinen allgemeinbildenden Abschluss vorweisen können und damit kaum eine Chance haben, einen Ausbildungsplatz oder einen Arbeitsplatz zu erhalten. Im Jahr 2018 betraf dies 6,9 % der Abgänge – mit einer steigenden Tendenz gegenüber den Vorjahren (2014 noch 5,8 %). Unter den ausländischen Jugendlichen konnten sogar knapp 20 % keinen Hauptschulabschluss vorweisen – darunter befinden sich viele, die im Zuge der Flüchtlingsbewegung nach Deutschland migriert sind. Besonders betroffen sind Jugendliche, die eine Förderschule besucht haben. Aus sozialpolitischer Perspektive droht als Konsequenz über die individuelle Stigmatisierung hinaus eine Auseinanderentwicklung von Arbeits- und Lebenschancen ganzer gesellschaftlicher Gruppen, die auch auf lange Sicht nicht mehr rückgängig gemacht werden kann. Ausbildungslosigkeit geht nachweislich einher mit prekären Beschäftigungs- und Einkommenskarrieren, erhöhten Zugangs- und Verbleibsrisiken in Arbeitslosigkeit und Armut, geringer politischer Partizipation sowie gesundheitlichen Beeinträchtigungen und geringerer Lebenserwartung. Das berufliche Bildungssystem versucht diesem Problem durch spezifische Bildungsgänge und Maßnahmen zu begegnen, die sich dem sog. Übergangssystem oder -sektor zuordnen lassen. Der Übergangssektor umfasst (Aus)Bildungsangebote, die unterhalb einer qualifizierten Berufsausbildung liegen und zu keinem anerkannten Ausbildungsabschluss führen. Sie zielen vielmehr auf eine Verbesserung der individuellen Kompetenzen zur Aufnahme einer Ausbildung oder Beschäftigung und sollen das Nachholen eines Schulabschlusses ermöglichen. Der Übergangssektor ist durch eine Vielzahl an Maßnahmen mit unterschiedlichen institutionellen Strukturen geprägt. Zu unterscheiden ist dabei grundsätzlich zwischen den schulischen Angeboten, die in der Verantwortung der Länder stehen, und den außerschulischen, betriebs- und arbeitsmarktnahen Angeboten, die nach dem SGB III durch die Bundesagentur für Arbeit bereitgestellt werden. Berufsvorbereitungsjahr und Berufsgrundbildungsjahr Keine Schulform, sondern besondere Bildungsgänge sind das Berufsgrundbildungsund das Berufsvorbereitungsjahr, die – abhängig vom Bundesland – an Berufsschulen oder an Berufsfachschulen bzw. an Berufskollegs angeboten werden. Beide Bildungsgänge werden in der Regel in vollzeitschulischer Form angeboten. Das Berufsvorbereitungsjahr (BVJ) richtet sich an Jugendliche, die keinen oder lediglich einen Haupt- oder Förderschulabschluss haben und als nicht ausbildungsfähig angesehen werden („Sozialbenachteiligte“). In diesem einjährigen Bildungsgang sollen nicht ausbildungsreife Jugendliche auf eine berufliche Ausbildung oder auf eine Integration in den Arbeitsmarkt vorbereitet werden. Im Falle nicht vorhandener Schul-

Angebote für benachteiligte Jugendliche im Übergangssektor

553

abschlüsse soll es Jugendlichen den nachträglichen Erwerb eines dem Hauptschulabschluss gleichwertigen Bildungsstandes ermöglichen. Eine vergleichbare Funktion hat der Besuch einer Berufsfachschule, der aber keinen beruflichen Abschluss vermittelt. Dagegen wurde das Berufsgrundbildungsjahr (BGJ) nicht zur grundlegenden Berufsvorbereitung, sondern als ebenfalls einjähriger Bildungsgang zur berufsfeldspezifischen Berufsausbildung im Vorlauf zu einer betrieblichen Berufsausbildung eingeführt. Das BGJ richtet sich an Jugendliche, die zwar ausbildungsfähig sind und i. d. R. einen Hauptschulabschluss vorweisen können, aber keine betriebliche Ausbildungsstelle bekommen konnten („Marktbenachteiligte“). Wird der Besuch des BGJ erfolgreich abgeschlossen, besteht unter bestimmten Voraussetzungen die Möglichkeit, diesen Abschluss auf die Berufsausbildung im dualen System anzurechnen und die Ausbildungsdauer um bis zu ein Jahr zu verringern. Die Gefahr ist nicht von der Hand zu weisen, dass diese Bildungsgänge lediglich zu Warteschleifen führen können und die Chancen, im Folgejahr einen schulischen oder betrieblichen Ausbildungsplatz nur begrenzt verbessern. Nicht zuletzt kommt es deshalb auf die Bereitschaft der Betriebe an, auch benachteiligten Jugendlichen ein Ausbildungsverhältnis anzubieten. Bildungsmaßnahmen der Bundesagentur für Arbeit Neben diesen schulischen Angeboten bestehen für die gleichen Zielgruppen noch außerschulische Angebote zur (Berufs-)Bildung, die nach SGB III gefördert und von Bildungsträgen im Auftrag der BA durchgeführt werden. •

Berufsqualifizierende Bildungsmaßnahmen Darunter fallen vor allem die berufsvorbereitenden Bildungsmaßnahmen. Sie sollen allgemein die Aufnahme einer Ausbildung vorbereiten oder der beruflichen Eingliederung dienen. Die Lehrgangsstruktur ist durch ein modulares Konzept mit Qualifizierungsebenen gekennzeichnet. Vermittelt werden vorberufliche Kenntnisse und Fähigkeiten (u. a. allgemeine Grundfertigkeiten, Sprachförderung, Bewerbungstraining). Ferner sieht das Förderkonzept eine starke Betriebsnähe der Bildungsmaßnahmen vor und umfasst Phasen der betrieblichen Qualifizierung und – für Jugendliche mit geringen Aussichten auf eine berufliche Ausbildung – eine arbeitsplatzbezogene Einarbeitung. Junge Menschen ohne Schulabschluss können auf den nachträglichen Erwerb des Hauptschulabschlusses vorbereitet werden. Hierauf besteht ein Rechtsanspruch. • Einstiegsqualifizierung Ausbildungsplatzbewerber, die keine Ausbildungsstelle gefunden haben sowie junge Menschen, die benachteiligt oder noch nicht für die Aufnahme einer betrieblichen Berufsausbildung geeignet sind, können durch eine Einstiegsqualifizierung unterstützt werden. Eine Einstiegsqualifizierung wird als betriebliches Langzeitpraktikum in einem Betrieb durchgeführt.

554

Qualifikation

• Ausbildungsbegleitende Hilfen Angeboten werden ausbildungsbegleitende Hilfen während einer betrieblichen Ausbildung und Übergangshilfen, die diese Hilfen nach Abschluss, bei drohendem Abbruch oder nach Abbruch einer Ausbildung fortsetzen. • Außerbetriebliche Berufsausbildung Von besonderer Bedeutung ist die Förderung der Ausbildung in einer außerbetrieblichen Einrichtung. Jugendlichen erhalten hier bei einem nichtbetrieblichen Träger einen Ausbildungsvertrag nach dem BBiG und durchlaufen auch eine entsprechende Berufsausbildung. In der Zusammenschau der außerschulischen Angebote durch die Bundesagentur für Arbeit und der schulischen Bildungsgänge durch die Bundesländer wird deutlich, dass es in der Förderung für sozial- oder marktbenachteiligte Ausbildungssuchende ausgeprägte Parallelstrukturen gibt. Sowohl von den Ländern als auch von der Bundesagentur für Arbeit werden alternative Maßnahmen zur Berufsvorbereitung und Berufsgrundbildung gefördert. Eine vollwertige Berufsausbildung jenseits des Ausbildungsstellenmarktes können Jugendliche allerdings nur durch die regelhafte Förderung der Berufsausbildung nach SGB III erhalten. Die Länder tragen zu diesem

Abbildung VI.13

Neuzugänge in den Übergangssektor 2005 – 2017

450.000 417.649

400.000

412.083 386.864

44.037

358.969

18.881

344.515

350.000

316.494

300.000

302.881

91.811 281.662 26.198

250.000

259.727

255.401

291.924 17.242

266.194

13.455

252.670

15.403

41.816

58.389

200.000

Insgesamt weitere Maßnahmen Einstiegsqualifizierung der BA Berufsvorbereitende maßnahmen der BA

155.907 114.429

150.000

Berufsfachschulen, die keinen beruflichen Abschluss vermitteln

115.049

100.000 58.432

50.000 48.581

0

99.242

38.479

2005

Berufsgrundbildungsjahr

28.144

2006

2007

2008

2009

Quelle: Nationaler Bildungsbericht 2018.

2010

2011

Berufsvorbereitungsjahr

2012

2013

2014

2015

2016

2017

Soziale Sicherung während der Ausbildung

555

Ausgleich für den Ausbildungsstellenmarkt allenfalls im Rahmen von zeitlich befristeter Programmförderung bei. Die Inanspruchnahme von Angeboten des Übergangssektors weist in den Jahren zwischen 2005 und 2015 eine stark rückläufige Entwicklung auf (vgl. Abbildung VI.13), seitdem steigen die Zahlen aber wieder an. Dieser Verlauf ist nicht leicht zu interpretieren, da die demografischen Einflüsse (rückläufig besetzte Geburtenjahrgänge) dafür nicht allein verantwortlich sein können. Innerhalb dieses Sektors hat das Berufsbildungsjahr keine Bedeutung mehr; zentral sind die Übergangsangebote im Berufsvorbereitungsjahr und in den Berufsfachschulen.

8

Soziale Sicherung während der Ausbildung

8.1

Finanzierung des Lebensunterhalts als sozialpolitische Aufgabe

Die Bildungsexpansion hat zu einer grundlegenden Veränderung der Lebenssituation der Kinder und Jugendlichen geführt. Sie erhalten nicht nur eine bessere Ausbildung als die Vorgängerkohorten, sondern werden deutlich später ökonomisch selbstständig, d. h. wohnen länger bei den Eltern und nehmen erst im höheren Alter eine Erwerbstätigkeit auf. Die Lebensphase junger Menschen, in der sie ihre schulische und berufliche Ausbildung erhalten, hat sich in den zurückliegenden Jahren deutlich verlängert. Der Anteil der Jugendlichen, die eine weiterführende Schule und anschließend eine Hochschule besuchen, ist gestiegen. Und öfter als früher wird nach Beendigung einer ersten Berufsausbildung eine weitere Ausbildung aufgenommen. Im Ergebnis erzielen deshalb immer mehr der Jugendlichen erst spät ein eigenes Erwerbseinkommen. Im Jahr 2018 lag das durchschnittliche Erwerbseintrittsalter bei etwa 22 Jahren. Würde man die Auszubildenden im dualen System, die in dieser Rechnung mitenthalten sind, herausrechnen, läge der Altersdurchschnitt noch höher. Für einen relativ langen Zeitraum befinden sich damit Jugendliche bzw. junge Erwachsene in einer Situation, in der sie kein eigenes und ein nur geringes (Neben)Einkommen erwerben. Während Auszubildende im dualen System Anspruch auf eine Ausbildungsvergütung haben, müssen Auszubildende in der schulischen, außerschulischen sowie in der akademischen Berufsbildung ihren Lebensunterhalt anderweitig sichern. Je älter sie sind, umso höher sind dabei auch die erforderlichen Aufwendungen, zumal ein andauernder Verbleib im Elternhaus weder den Vorstellungen der Kinder noch ihrer Eltern entspricht, und ein eigenständiges Wohnen und Leben mit hohen Kosten verbunden ist. Der Kindergeldanspruch endet mit dem 25. Lebensjahr, und ab diesem Alter besteht auch eine eigenständige Krankenversicherungspflicht. Zwar kann auf die elterlichen Unterhaltspflichten und -leistungen verwiesen werden, aber Eltern mit einem Einkommen im unteren und mittleren Bereich sind schnell überfordert, wenn der Lebensunterhalt über eine lange Zeit finanziert werden muss.

556

Qualifikation

Dies trifft naturgemäß vor allem dann zu, wenn sich gleich mehrere Kinder in der Ausbildungsphase befinden. Wenn sich die Wahl eines Bildungsgangs nicht nach der Einkommenslage des Elternhauses richten soll, sondern nach der Eignung und Neigung der Jugendlichen, wird die soziale Absicherung während der Ausbildung zu einer Aufgabe der Sozialpolitik. Im System der sozialen Sicherung finden sich zwei spezifische Leistungssysteme, die diese Aufgaben übernehmen (sollen). Sie unterscheiden sich nach der Art des Ausbildungswegs: •

Leistungen nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz (BAföG) für Studierende und Schüler:innen in einer schulischen Berufsausbildung, • Berufsausbildungsbeihilfe (BAB) nach SGB III für Auszubildende in betrieblicher Ausbildung und außerschulischen Maßnahmen der Bundesagentur für Arbeit. Darüber hinaus können allgemeine sozialpolitische Leistungssysteme direkt oder indirekt die Einkommenslage von jungen Menschen (nicht nur in Ausbildung) berühren:

• Ansprüche aus dem Familienleistungsausgleich (Kindergeld und steuerliche Freibeträge) stehen den Eltern zu. Die Leistungen sollen dazu beitragen, die Eltern in ihren Unterhaltsverpflichtungen zu entlasten (vgl. Kapitel „Familie und Kinder“, Pkt. 6.1.2). • Kinder, soweit sie nicht versicherungspflichtig beschäftigt sind, sind bis zum 25. Lebensjahr in der gesetzlichen Krankenversicherung der Eltern kostenfrei mitversichert. Die Krankenversicherung der Studierenden (mit günstigen Beiträgen) reicht bis zum 30. Lebensjahr (vgl. Kapitel „Gesundheit und Gesundheitssystem“, Pkt. 5.1.1). • Junge Menschen ab Vollendung des 15. Lebensjahrs haben bei Bedürftigkeit Anspruch auf Leistungen der Grundsicherung (vgl. Kapitel „Einkommen“, Pkt. 6.2.1). Abzusichern ist nicht nur eine qualifizierte Erstausbildung, auch die Inanspruchnahme von Maßnahmen der Weiterbildung kann daran scheitern, dass die Finanzierung des Lebensunterhalts nicht gesichert ist (vgl. dazu Pkt. 10 dieses Kapitels). 8.2

Ausbildungsvergütung

Tarifliche Ausbildungsvergütung Die betriebliche Berufsausbildung im dualen System unterscheidet sich von den schulischen Formen der Berufsausbildung und der Hochschulausbildung dadurch, dass während des Ausbildungsverhältnisses von den Arbeitgebern eine Ausbildungsvergütung bezahlt wird. Die Höhe der Ausbildungsvergütung wird tariflich verein-

Soziale Sicherung während der Ausbildung

557

bart und ist nach Ausbildungsjahren gestaffelt. Da Tarifverträge auf der Ebene von Branchen abgeschlossen werden, kann es für den gleichen Beruf je nach Branche zu unterschiedlichen Vergütungen kommen. Im Durchschnitt über alle Tarifbereiche, Ausbildungsberufe und Ausbildungsjahre betrug die Ausbildungsvergütung 2018 in den alten Bundesländern 913 Euro und in den neuen Bundesländern 859 Euro pro Monat. Zwischen den einzelnen Ausbildungsbereichen und -berufen bestehen markante Unterschiede im durchschnittlichen Vergütungsniveau. In Abbildung VI.14 sind die durchschnittlichen tariflichen Ausbildungsvergütungen in zwanzig exemplarisch ausgewählten Berufen in Deutschland (neue und alte Länder gemeinsam) dargestellt. Besonders hoch war demnach das Vergütungsniveau im Handwerksberuf „Maurer/-in“ mit einem Gesamtdurchschnitt von 1 159 Euro im Monat. Hohe Vergütungen wurden beispielsweise auch in den Berufen „Mechatroniker/-in“, „Industriemechaniker/-in“ sowie „Kaufmann/-frau für Versicherungen und Finanzen“ erreicht. Eher niedrige Beträge wiesen zum Beispiel die Berufe „Schornsteinfeger/-in“, „Florist/-in“ und „Bäcker/-in“ auf.

Abbildung VI.14 Tarifliche Ausbildungsvergütung in ausgewählten Berufen 2018, durchschnittliche monatliche Beträge in Euro Friseur/-in

584

Florist/-in

617

Bäcker/-in

678

Maler/-in und Lackierer/-in

718

Metallbauer/-in

778

Kraftfahrzeugmechatroniker/-in

783

Kaufmann/-frau für Büromanagement

790

Koch/Köchin

799

Gärtner/-in

825

Gebäudereiniger/-in

826

Medizinische/-r Fachangestellte/-r

852

Kaufmann/-frau im Einzelhandel

882

Medientechnologe/-technologin

981

Verwaltungsfachangestellte/-r

1.003

Kaumann/-frau für Versicherungen und Finanzen

1.035

Industriekaufmann/-frau

1.047

Industriemechaniker/-in

1.082

Mechatroniker/-in

1.088

Maurer/-in

1.159 0

200

400

600

800

Quelle: Bundesinstitut für Berufsforschung (2019), Tarifliche Ausbildungsvergütungen 2018.

1.000

1.200

558

Qualifikation

Mindestausbildungsvergütung Der gesetzliche Mindestlohn gilt nicht für Auszubildende (vgl. Kapitel „Einkommen“, Pkt. 2.3.4). Da nicht alle Branchen und Betriebe, in denen junge Menschen nach den Regelungen des BBiG ausgebildet werden, Ausbildungstarifverträge existieren, liegen die Vergütungen für viele junge Menschen sogar noch weit unterhalb der in Abbildung VI.14 genannten niedrigen Tarifvergütungen. Auch dies ist ein Grund für die rückläufige Attraktivität der beruflichen Ausbildung. Um Auszubildende finanziell besser abzusichern, wird erstmalig ab 2020 eine Mindestvergütung von Auszubildenden gesetzlich festgelegt: Auszubildende, die im Jahr 2020 ihre Ausbildung beginnen, erhalten im ersten Ausbildungsjahr eine Mindestvergütung von monatlich 515 Euro. Die Vergütungen für das zweite, dritte und vierte Lehrjahr werden durch prozentuale Aufschläge von 18, 35 beziehungsweise 40 % auf das jeweilige Basisjahr ermittelt. Zudem erfolgt eine jährliche Anpassung der Sätze: Für Auszubildende, die im Jahr 2021 eine Ausbildung aufnehmen, steigt der Betrag auf 550 Euro. Für die Jahre 2022 und 2023 sind 585 Euro und 620 Euro vorgesehen. Daran anschließend soll eine jährliche Erhöhung erfolgen, die der Entwicklung der durchschnittlichen Ausbildungsvergütung entspricht. 8.3

Ausbildungsförderung

Mit dem Bundesausbildungsförderungsgesetz (BAföG) von 1971 sollte das Ziel verfolgt werden, allen Schüler:innen und Studierende einen Anspruch auf individuelle Ausbildungsförderung zu geben, wenn die für den Lebensunterhalt und die Ausbildung erforderlichen Mittel anderweitig nicht zur Verfügung stehen. Ausbildungsförderung nach diesem Gesetz ist ein bedarfsorientierter und einkommensabhängiger Transfer (familienabhängige Förderung), der nicht nur den Bezug von Sozialhilfe vermeiden, sondern darüber hinausgehend auch Kindern, deren Eltern im mittleren Einkommensbereich liegen, einen Förderungsanspruch einräumen soll. Für Schüler:innen sowie für Studierende, die dem Grunde nach BAföG erhalten können, ist der Bezug von Grundsicherung/Sozialhilfe und von Wohngeld grundsätzlich ausgeschlossen. Allerdings gibt es im SGB II einige Ausnahmen für besondere Ausbildungs- und Studienphasen sowie Lebenslagen. Die Ausbildungsförderung nach dem BAföG bezieht sich nicht auf die Förderung der beruflichen Ausbildung (mit Ausnahme der Ausbildung von Fachkräften, geregelt im Aufstiegsfortbildungsförderungsgesetz), denn die Förderung der betrieblichen und überbetrieblichen Berufsausbildung sowie die Teilnahme an berufsvorbereitenden Maßnahmen richtet sich nach dem Recht der Arbeitsförderung/SGB III. Die Leistungsvergabe nach dem BAföG erfolgt im Grundsatz beim Besuch aller beruflichen Vollzeitschulen, Schulen des zweiten Bildungsweges sowie von Hochschulen. Der Besuch weiterführender allgemeinbildender Schulen ist nur dann förderungsfähig, wenn die Schüler:innen nicht bei ihren Eltern wohnen und die Aus-

Soziale Sicherung während der Ausbildung

559

bildungsstätte nicht zumutbar täglich vom Elternhaus erreichbar ist. Gefördert wird bis zur Förderungshöchstdauer. Die Auszubildenden und Studierenden dürfen bei Beginn ihrer Ausbildung grundsätzlich nicht älter als 30 Jahre (bei Master-Studiengängen höchstens 35 Jahre) sein. Die Höhe des Förderungsbetrages soll dem Anspruch nach den Bedarf voll abdecken. Je nach Art der besuchten Bildungseinrichtung und der elternabhängigen bzw. -unabhängigen Unterkunft werden pauschalierte Förderungssätze berechnet. Ab 2020 gelten für den Hochschulbesuch folgende monatliche Bedarfssätze: • Wohnung bei den Eltern: • auswärtige Unterkunft:

483 Euro 752 Euro

Bei besonders hohen Mietkosten einer auswärtigen Unterkunft kann der Bedarfssatz aufgestockt werden (Mietzuschuss). Zusätzlich wird ein Zuschuss von zur Krankenund Pflegeversicherung der Studierenden geleistet. Der maximale Förderbetrag für auswärtig wohnende Studierende beträgt damit 861 Euro. Für Schüler:innen liegen die Bedarfssätze je nach Ausbildungsstätte niedriger. Auf den Bedarf werden Einkommen und Vermögen der Auszubildenden, ihrer Ehepartner und ihrer Eltern in dieser Reihenfolge angerechnet. Eine elternunabhängige Förderung erfolgt nur unter bestimmten Voraussetzungen, z. B. nach Absolvierung einer dreijährigen berufsqualifizierenden Ausbildung und einer anschließenden Erwerbstätigkeit von drei Jahren. Diese Einkommens- bzw. Familienabhängigkeit der Ausbildungsförderung führt zu einem System, dessen Leistungen bis zur Freibetragsgrenze in voller Höhe gezahlt werden (Vollförderung), dann fallen (nur noch Teilförderung) und oberhalb gewisser Grenzen ganz auslaufen. Die anrechnungsfreien Beträge des Elterneinkommens werden danach ausgelegt, dass zunächst der Mindestbedarf der Eltern selbst und der von ihnen Abhängigen gesichert bleibt. Übersteigt das Einkommen diese Freibeträge, wird der übersteigende Einkommensteil nicht vollständig, sondern prozentual in Anrechnung gebracht. Anrechnungsfrei bleiben 50 % zuzüglich 5 % für jedes Kind. Die absoluten Freibeträge betragen (2020) u. a. • •

Grundfreibetrag des Elterneinkommens: 24 000 Euro netto im Jahr, Freibetrag für Kinder unter 15 Jahren: 605 Euro netto im Monat.

Der so angerechnete Unterhaltsbetrag, den die Eltern leisten müssen, wird vorausgeleistet, wenn die Eltern nicht zahlen. Der Unterhaltsanspruch in der Höhe der Vorauszahlungsbeträge geht damit auf die Ämter für Ausbildungsförderung über, die diesen gegenüber den unterhaltspflichtigen Eltern (notfalls gerichtlich) geltend machen. Schüler:innen erhalten BAföG als Vollzuschuss, Studierende sowie Schüler:innen an höheren Fachschulen und Akademien erhalten die Zahlung zur Hälfte auf der Basis zinsloser Darlehen, zur anderen Hälfte als Zuschuss, der nicht zurückgezahlt wer-

560

Qualifikation

den muss. Bezugsberechtigt sind die Auszubildenden selber. Die Rückzahlung (bis zu einem Maximalbetrag von insgesamt 10 000 Euro und in Mindestraten von 105 Euro im Monat) beginnt fünf Jahre nach dem Ende der Förderungshöchstdauer, wenn das Einkommen eine Mindesthöhe übersteigt. Die Finanzierung der Ausbildungsförderung wird zu 100 % vom Bund getragen. Die Durchführung der Leistungen erfolgt über die Ämter für Ausbildungsförderung bzw. über die Studierendenwerke. Eine dynamisierte Anpassung von Förderungssätzen und Freibeträgen an die Preis- und Einkommensentwicklung ist nicht vorgesehen, aber deren laufende Überprüfung. Die in den letzten Jahren erfolgten Anpassungen haben aber die wirtschaftliche Entwicklung nur teilweise aufgefangen. Dieser Anpassungsrückstand wirkt sich in zweifacher Hinsicht aus: Zum einen deckt der Bedarfssatz nicht die tatsächlichen Kosten einer Ausbildung, und zum anderen erhalten immer weniger Studierende die Förderung, da das Elterneinkommen zu immer größeren Teilen angerechnet wird. Von einer bedarfsdeckenden Förderung, die eine von finanziellen Problemen unbehinderte Ausbildung ermöglicht, kann also nicht gesprochen werden. Entweder sind die Eltern veranlasst, trotz ihres geringen Einkommens zusätzliche Unterstützung zu leisten, oder die Schüler:innen sowie die Studierenden sind gezwungen, die Finanzierung ihrer Ausbildung durch Erwerbstätigkeit zu sichern. Zahl und Anteil erwerbstätiger Studierender auch während des Semesters sind in den letzten Jahren kontinuierlich gestiegen. Ein Großteil der geringfügig Beschäftigten setzt sich aus Schülerinnen und Schülern und Studierenden zusammen (vgl. Kapitel „Arbeit und Arbeitsmarkt“, Pkt. 3.3). Ein zügiger Ausbildungsabschluss wird dadurch erschwert; die verlängerten Studienzeiten und die hohen Abbrecherquoten haben einen wesentlichen Grund in der unzureichenden Ausbildungsförderung. Die Einengung des Kreises der Förderungsberechtigten hat dazu geführt, dass die Gefördertenquote bei den Studierenden in den letzten Jahren deutlich gesunken ist (Tabelle VI.4). Im Jahre 2018 erhielten 12,2 % aller Studierenden an den Hochschulen sowie 19,8 % der prinzipiell Anspruchsberechtigten Leistungen nach dem BAföG.

Soziale Sicherung während der Ausbildung

561

Tabelle VI.4 Nach BAföG geförderte Studierende 2006 – 2018 2006

2008

2010

2013

2016

2018

Geförderte Schülerinnen und Schüler (in Tsd.)

199

192

199

181

148

129

Geförderte Studierende (in Tsd.)

342

333

386

439

377

338

Gefördertenquote in % der Gesamtzahl der Studierenden

17,6

17,4

18,4

17,8

13,9

12,2

Gefördertenquote in % der Anspruchsberechtigten

25,0

25,1

27,3

26,8

22,1

19,8

Quelle: Deutscher Bundestag (2017), 21. Bericht nach § 35 des Bundesausbildungsförderungsgesetzes; Statistisches Bundesamt (2019), BAföG-Statistik.

8.4

Berufsausbildungsbeihilfe

Berufsausbildungsbeihilfe nach SGB III wird gewährt zum einen als Zuschuss zur Ausbildungsvergütung für die Lebenshaltungskosten für Auszubildende in betrieblicher oder außerbetrieblicher Ausbildung und zum anderen als Leistung zum Lebensunterhalt bei Teilnahme an einer berufsvorbereitenden Maßnahme (inkl. Übernahme der Kosten für die berufsvorbereitenden Lehrgänge). Auch diese Förderleistung ist an allgemeine und spezielle Voraussetzungen gebunden. Je nachdem, ob die Beihilfe wegen eines Ausbildungsverhältnisses oder der Teilnahme an einer berufsvorbereitenden Maßnahme geleistet wird, gelten unterschiedliche Förderanforderungen und Förderbedingungen bei der konkreten Berechnung der Leistungen. Grundsätzlich ist die Leistungsberechnung wie bei anderen bedarfsabhängigen Leistungen geregelt. Dem Bedarf – ermittelt über Bedarfssätze, die sich ebenfalls unterscheiden nach dem Wohnort (bei Eltern oder auswärtig) und zusätzlich nach dem Familienstand – werden Eigenmittel aus Einkommen sowie Vermögen gegenübergestellt und bei Überschreitung von gesetzten Freibeträgen abgezogen. Allerdings wird bei der Teilnahme an berufsvorbereitenden Maßnahmen Berufsausbildungsbeihilfe unabhängig vom Wohnort und auch unabhängig vom Einkommen gewährt. Dagegen erhalten betrieblich Auszubildende den Zuschuss zur Ausbildungsvergütung nur, wenn sie älter als 18 Jahre oder verheiratet sind oder nicht bei den Eltern wohnen können, weil der Ausbildungsbetrieb vom Elternhaus zu weit entfernt ist. Er entspricht dem Zuschuss für Studierende nach BAföG, bei der Förderung der Berufsvorbereitung dem Bedarf für Schüler:innen nach BAföG. Im Jahr 2018 haben im Jahresdurchschnitt rund 82 000 Jugendliche und junge Erwachsene Berufsausbildungsbeihilfe bezogen, 67 % wegen zu geringer betrieblicher Vergütungen und 27 % wegen der Teilnahme an einer berufsvorbereitenden Maßnahme. Über die durchschnittliche Höhe der Berufsausbildungsbeihilfe stehen keine Da-

562

Qualifikation

ten aus der Statistik der Bundesagentur für Arbeit zur Verfügung. Die Ausgaben werden aus Beitragsmitteln aufgebracht. 8.5

Armutsrisiken bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen

Das SGB II schreibt zwar vor, dass Auszubildende, die eine Ausbildung absolvieren, die dem Grunde nach mit dem BAföG oder der Berufsausbildungsbeihilfe förderungsfähig sind, keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld II haben. Ebenso wie für Schüler:innen wie Studierende gibt es aber auch für Auszubildende Ausnahmen, die „Leistungen für Auszubildende“ als Zuschuss oder Darlehen in der der Grundsicherung für Arbeitsuchende begründen. Wenn gleichwohl nahezu 20 % aller Leistungsberechtigten unter 25 Jahre alt sind, handelt es sich hierbei weit überwiegend entweder um Arbeitslose, um Personen, denen eine Erwerbstätigkeit nicht zugemutet wird (z. B. wegen Kindererziehung) oder um Jugendliche und junge Erwachsene, deren geringes Arbeitseinkommen aufgestockt werden muss. Fragt man nach dem Armutsrisiko von Jugendlichen und jungen Erwachsenen im Alter zwischen 18 und 25 Jahren, dann zeigt sich, dass es sich hier um die am stärksten betroffene Altersgruppe handelt: Die Armutsrisikoquote erreicht hier im Jahr 2018 26 % (vgl. Kapitel „Einkommen“, Pkt. 7.3.2). Dies ist zunächst überraschend, da die Jugendarbeitslosigkeit in Deutschland auf einem niedrigen Niveau liegt. Eine Erklärung dürfte sein, dass Menschen in diesem Alter im hohen Maße in den besonders armutsanfälligen Einpersonenhaushalten leben. Darunter befinden sich häufig Auszubildende und Studierende, die nicht mehr bei ihren Eltern wohnen. Sie müssen mit einem vergleichsweise geringen Einkommen auskommen, da selbst die BAföGHöchstsätze deutlich unter der Armutsrisikoschwelle (Median) liegen. Allerdings handelt es sich um eine zeitlich begrenzte Phase, die in der Regel mit der Aufnahme einer Berufstätigkeit beendet wird. Problematischer ist hingegen die Situation für jene jungen Menschen, die ohne schulische und berufliche Ausbildung bleiben, den Übergangssektor erfolglos, d. h. ohne Abschluss, verlassen und es auf dem Arbeitsmarkt äußerst schwer haben, eine stabile und existenzsichernde Beschäftigung zu finden. Dabei handelt es sich überproportional um Menschen mit ausländischer Staatsangehörigkeit bzw. mit Migrationshintergrund.

9

Qualifikation und Erwerbsverläufe

9.1

Übergänge in Beschäftigung

Der Übergang von einer Berufsausbildung in Beschäftigung stellt eine zentrale Schwelle im Erwerbsleben dar. Betrachtet man den Arbeitsmarkt in Deutschland insgesamt, so gelingt dieser Übergang, der in die Beschäftigungssektoren Privatwirt-

Qualifikation und Erwerbsverläufe

563

Abbildung VI.15 Arbeitslosenquoten Jüngerer 2000 – 2018 12,5

12,2 12

10

9,9

9,5 9,6

8,5

unter 25-jährige

9,1

8,0

8

7,4

7,2

7,2 6

6,0

6,5

4

5,8

unter 20-jährige

5,8

4,2

4,4

5,4 4,7

4,4 3,6

3,7

4,0 3,4

2

0

1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018

Arbeitslose in % aller abhängigen zivilen Erwerbspersonen Quelle: Bundesagentur für Arbeit (2019), Arbeitslosigkeit im Zeitverlauf.

schaft, öffentlicher Dienst und freie Berufe/Selbstständigkeit führt, recht gut. Ein Indikator dafür ist die niedrige Arbeitslosigkeit. Die Arbeitslosenquoten in den Altersgruppen 15 bis unter 20 Jahre sowie 15 bis unter 25 Jahre liegen unterhalb der Gesamtarbeitslosenquote und haben sich seit 2000 kontinuierlich verringert (vgl. Abbildung VI.15). Im Vergleich mit vielen Ländern in der EU, die mit einer sehr hohen Jugendarbeitslosigkeit zu kämpfen haben, ist dies eine bemerkenswert positive Entwicklung. Für alle jungen Arbeitslosen gilt, dass sie im Vergleich zu anderen Altersgruppen deutlich kürzer arbeitslos sind. Ihr Zugangsrisiko, d. h. nach der Ausbildung zunächst arbeitslos zu werden, ist vergleichsweise hoch, ihr Verbleibsrisiko dagegen gering. Die Übergangschancen in eine stabile Beschäftigung lassen sich nach Bildungsabschlüssen ausdifferenzieren: •

Hochschulabsolventen gelingt der Einstieg in den Arbeitsmarkt im Großen und Ganzen reibungslos, da sowohl die Privatwirtschaft (im verarbeitenden Gewerbe und bei den Dienstleistungen) als auch der öffentliche Dienst einen hohen Bedarf an qualifizierten Arbeitskräften haben. Auch bieten sich bei den freien Berufen gute Beschäftigungschancen. Dieser positive Befund gilt zwar nicht für alle Fachrichtungen und Abschlussrichtungen gleichermaßen, aber auch in den kritischen Bereichen fällt die Sucharbeitslosigkeit gering aus. Das schließt allerdings nicht aus, dass der Einstieg zunächst nur befristet erfolgt (insbesondere im öffentlichen

564

Qualifikation

Dienst und in den Hochschulen) (vgl. Kapitel „Arbeit und Arbeitsmarkt“, Pkt. 3.4). Auch erfüllen sich die Positions- und Einkommenserwartungen von BachelorAbsolventen häufig nicht. So stellen Betriebe insbesondere im kaufmännischen Bereich Bachelor-Absolventen ein statt selbst auszubilden. Es kommt insofern zu einem Verdrängungsprozess zu Lasten der betrieblichen Ausbildung, obgleich das Qualifikationsniveau von Industriekaufmännern/frauen keineswegs niedriger sein muss. • Die geringe Jugendarbeitslosigkeit in Deutschland hat vor allem damit zu tun, dass das duale System der Berufsausbildung eine enge Kopplung zwischen Ausbildung und Betrieb bzw. Arbeitsmarkt aufweist und der Großteil der Absolventen einer betrieblichen Ausbildung vom Ausbildungsbetrieb übernommen wird. Die Übernahmequote liegt bei fast 70 % und ist seit mehreren Jahren kontinuierlich angestiegen. Sie variiert dabei stark nach Betriebsgröße und Branche: Sie steigt mit der Beschäftigtenzahl in den Betrieben und ist in den Bereichen der Investitions- und Gebrauchsgüter, der Produktionsgüter, in der öffentlichen Verwaltung sowie im Kredit- und Versicherungsgewerbe am größten. Die Gründe für eine Nicht-Übernahme können daran liegen, dass Betriebe systematisch über den eignen Bedarf (und der Bedarf der Branche) ausbilden. In der Vergangenheit gab es aber auch immer wieder Situationen, in denen Betriebe vor einem Personalabbau standen. Dies ist auch für die Zukunft nicht auszuschließen. Hier galt und gilt es zu entscheiden, ob dies zu Lasten der Jüngeren geht. Gewerkschaften und Betriebsräte haben deshalb in vielen Fällen Tarifverträge und Betriebsvereinbarungen, die eine Übernahmegarantie vorsehen, abgeschlossen (vgl. Kapitel „Arbeitsbeziehungen“, Pkt. 4). Den nicht übernommenen Ausbildungsabsolventen gelingt es aktuell dennoch relativ schnell, in einem anderen Betrieb eine Beschäftigung zu finden. Ob dies berufsadäquat oder nur berufsfremd gelingt, lässt sich anhand der vorliegenden empirischen Befunde nicht genau klären. Als ausgesprochen gut erweisen sich die Übernahmechancen in den Mangelberufen des Gesundheits-, Sozial- und Erziehungswesens. • Junge Menschen, die keinen beruflichen Abschluss vorweisen können, womöglich auch keinen schulischen Abschluss haben, die also nicht über ein Mindestmaß an fachlicher Qualifikation verfügen, haben es hingegen äußerst schwer, einen dauerhaften Arbeitsplatz zu finden. Angesichts der erhöhten qualifikatorischen Anforderungen in der Arbeitswelt sind sog. Einfacharbeitsplätze, die keinen Berufsabschluss erfordern, nur noch selten anzutreffen. Die Konkurrenz der Menschen um eine Anstellung in diesem enger werdenden Segment ist hoch. Zu finden sind diese Arbeitsplätze und -verhältnisse schon längst nicht mehr in der Industrie, sondern weit überwiegend im Dienstleistungssektor (Einzelhandel, Gastgewerbe, Sicherheitsdienste, Logistik). Niedriglöhne, Leiharbeit, Minijobs und eine leichte Austauschbarkeit der Beschäftigten prägen hier das Bild. Von einer beruflichen Entwicklungsperspektive und stabilen Erwerbsverläufen kann keine Rede sein.

Qualifikation und Erwerbsverläufe

565

Abbildung VI.16 Qualifikationsspezifische Arbeitslosenquoten 2000 – 2018 26,9

26

25 22,2

21,9

20,3

20,1

19,7

20

17,4

ohne Berufsabschluss

14,5 11,8

11,3 9,6

6,0

5,6

5,3 5,0

3,4 2,0

2017

2016

2015

2,5

2011

2007

2006

2005

2004

2003

2002

2,5 2,5

2001

2000

1998

1999

1997

1996

1995

1994

1993

1992

1991

6,6

4,1

4,0 2,9

0

6,9

2010

4,1

4,0

8,4

2014

7,3 5

7,7

8,1

2013

6,9

Arbeitslose insgesamt Lehr-, Fachschulabschluss Hoch-, Fachhochschulabschluss

2018

9,7

9,3

2012

9,1

2009

10

2008

15

Arbeitslose in % aller zivilen Erwerbspersonen (ohne Auszubildende) gleicher Qualifikation Quelle: Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (2019), Aktuelle Daten und Indikatoren.

Aber selbst hier steigen die Qualifikationsanforderungen hinsichtlich (Fremd) Sprachenkenntnisse, Schreiben, Lesen, Kommunikation und Sozialkompetenz. Die Spaltung des Arbeitsmarktes nach dem Grad der Qualifikation wird überdeutlich, wenn man das qualifikationsspezifische Arbeitslosigkeitsrisiko betrachtet (vgl. Abbildung VI.16). Während bei den Hochqualifizierten von Vollbeschäftigung gesprochen werden kann – mit einer Arbeitslosenquote von 2,3 % (2018) –, weisen Personen ohne Berufsabschluss eine Quote von 19,1 % auf und stellen mehr als die Hälfte aller Arbeitslosen. 9.2

Anerkennung ausländischer Abschlüsse und Fachkräfteeinwanderung

Junge Menschen mit Migrationshintergrund, die das deutsche Bildungs- und Ausbildungssystem durchlaufen haben, verfügen zu hohen Anteilen über keinen Abschluss und haben es deshalb schwer, auf dem Arbeitsmarkt Fuß zu fassen. Aber auch Menschen, die erst im Erwerbsalter nach Deutschland zugewandert sind und ihre Ausbildung im Ausland erhalten haben, sind auf dem Arbeitsmarkt in mehrfacher Hinsicht schlechter gestellt als die deutsche Bevölkerung (vgl. Kapitel „Arbeit und Arbeits-

566

Qualifikation

markt“, Pkt. 2.2.4). Das heißt aber nicht, dass sie über keine Qualifikation verfügen. Das Gegenteil kann der Fall sein, wenn an die nachfolgenden Konstellationen gedacht wird: Der Arzt aus dem Iran, der als Taxifahrer arbeitet. Die Krankenschwester aus Syrien, die als Reinigungskraft tätig ist. Der als Ingenieur ausgebildete Hartz-IV Empfänger aus Russland. Da ihre Qualifikation in Deutschland nicht anerkannt wird, können sie ihre Ausbildung nicht verwerten, haben keine Chance auf eine qualifikationsadäquate Arbeit. Ein nicht-anerkannter schulischer und/oder beruflicher Abschluss wirkt sich dann vergleichbar negativ auf die Erwerbsintegration aus wie ein fehlender Abschluss. In einer Situation, in der ein demografisch bedingter Fachkräftemangel befürchtet wird, ist diese Nicht-Nutzung von Humankapital widersinnig. Und für die Betroffenen selbst bedeutet die fehlende Anerkennung ihrer Qualifikation auch eine fehlende Anerkennung ihrer Person. Anerkennungsverfahren Mit dem Berufsqualifikationsfeststellunggesetz (BQFG) soll diesem Problem entgegengewirkt werden. Danach haben alle Personen, unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit und ihrem Aufenthaltsstatus, einen Rechtsanspruch auf Prüfung ihrer im Ausland erworbenen Qualifikation und auf Mitteilung, ob der Abschluss anerkannt wird oder nicht. Das Verfahren über die Anerkennung einer beruflichen Qualifikation innerhalb der EU ist damit ausgeweitet worden. Allerdings sind wesentliche Einschränkungen zu machen: •

Das BQFG ist ein Bundesgesetz und gilt lediglich für die bundesrechtlich geregelten Berufe (insbesondere für Ausbildungsberufe im dualen System und für Berufe des Gesundheitswesens). • Die Zuständigkeit für die Anerkennung von Berufen, die durch Landesrecht geregelt sind, liegt bei den 16 Bundesländern. Diese haben vergleichbare Gesetze verabschiedet. • Die Anerkennungsverfahren, unabhängig davon ob über Bundes- oder Landesrecht geregelt, werden ebenfalls auf der Ebene der Bundesländer durchgeführt. Insofern gibt es eine Fülle von unterschiedlichen Anerkennungsstellen, so u. a. die Industrie-, Handels- und Handwerkskammern, Landesbehörden und -ministerien. • Auch über die Anerkennung schulischer Leistungen/Abschlüsse entscheiden die Bundesländer in Zeugnisanerkennungsstellen. Diese Komplexität ist eine unmittelbare Folge des föderal strukturierten Bildungssystems in Deutschland. Es liegt in der Logik dieses Systems, dass die Entscheidung, ob eine im Ausland erworbene Qualifikation gleichwertig ist zu einer entsprechenden deutschen Qualifikation, von den Institutionen zu treffen ist, die für die Zuerkennung von Bildungstiteln von Inländern zuständig sind.

Qualifikation und Erwerbsverläufe

567

Die Anerkennung eines Bildungsabschlusses verbessert die Chancen auf dem Arbeitsmarkt, bedeutet aber nicht, dass dann auch ein qualifikationsadäquater Arbeitsplatz gefunden wird. Über eine Beschäftigung und über die Bewertung von inländischen und anerkannten ausländischen Abschlüssen entscheiden die Arbeitgeber. Deshalb ist es auch denkbar, dass eine qualifizierte Tätigkeit ohne Anerkennung ausgeübt werden kann. Nur bei den sog. reglementierten Berufen ist das ausgeschlossen. Hier handelt es sich um berufliche Tätigkeiten, deren Ausübung zwingend an einen entsprechenden Ausbildungsabschluss gebunden ist (Arzt, Apotheker, Krankenpfleger, Rechtsanwalt usw.). Im Jahr 2017 wurden knapp 22 000 im Ausland erworbene berufliche Abschlüsse nach dem BQFG als vollständig oder eingeschränkt gleichwertig zu einer in Deutschland erworbenen Qualifikation anerkannt. Die mit großem Abstand meisten Anerkennungsverfahren betrafen Gesundheitsberufen, nämlich Krankenpfleger:innen, Ärzt:innen sowie Physiotherapeut:innen. Bei den landesrechtlich geregelten Berufen wurden insgesamt 8 400 im Ausland erworbene Abschlüsse anerkannt, im Wesentlichen Ingenieur:innen, Lehrer:innen und Erzieher:innen. Das Qualifikationsniveau der in den letzten Jahren Zugewanderten hängt entscheidend vom Lebensalter, Geschlecht und Herkunftsland ab. Bürger:innen aus den Ländern der EU weisen ein deutliches höheres schulisches und berufliches Bildungsniveau auf als die Schutzsuchenden aus Syrien, Irak und Afghanistan. Unverkennbar ist, dass für viele der Geflüchteten umfangreiche fachliche und sprachliche Qualifizierungen nötig sein werden, um eine Arbeitsmarktintegration zu erreichen. Fachkräfteeinwanderung Davon zu unterscheiden ist die gezielte und gesteuerte Zuwanderung von qualifizierten Fachkräften aus dem EU-Ausland im Rahmen des Fachkräfteeinwanderungsgesetzes. Abgestellt wird auf drittstaatsangehörige Ausländer, die eine mit einer inländischen qualifizierten Berufsausbildung gleichwertige ausländische Berufsqualifikation besitzen oder einen anerkannten ausländischen oder einen einem deutschen Hochschulabschluss vergleichbaren ausländischen Hochschulabschluss haben. Die Vorrangprüfung für die qualifizierte Beschäftigung wird hier aufgehoben. Damit muss nicht mehr vor jeder Einstellung einer Fachkraft aus einem Drittstaat festgestellt werden, ob ein inländischer oder europäischer Bewerber zur Verfügung steht. 9.3

Qualifikationsrisiken im Erwerbsverlauf

Eine qualifizierte berufliche Erstausbildung, auch wenn ein passgenauer Übergang in eine Beschäftigung gelingt, bietet keine Garantie dafür, dass diese Beschäftigung auch dauerhaft ausgeübt werden kann. Denn die kontinuierliche Tätigkeit mit den gleichen Arbeitsinhalten und -anforderungen war immer schon selten und ist heute

568

Qualifikation

eine absolute Ausnahme. Auf dem Arbeitsmarkt entstehen vielmehr ständig neue und entfallen alte Arbeitsplätze. Dies ist Folge der Dynamik des Wirtschaftssystems, die sich in gesamtwirtschaftlichen und Branchenkonjunkturen sowie in Umbrüchen auf der betrieblichen Ebene äußert. Getrieben durch eine rasche technologische Entwicklung kommt es zu Produkt- und Verfahrensinnovationen, zur Aufgabe oder zum Aufbau von Produktionslinien und Dienstleistungsangeboten. Entsprechend verändern sich die qualifikatorischen Anforderungen, die an die Beschäftigten gestellt werden. Alte Berufe können inaktuell oder dysfunktional werden. Offensichtlich kann und soll eine berufliche Ausbildung die qualifikatorischen Anforderungen, die sich im Erwerbsverlauf ergeben, nicht im Verhältnis 1 : 1 vorwegnehmen. Breite und dynamische Berufsbilder mit einer überbetrieblichen Standardisierung der Qualifikationsanforderungen bieten hier eine bestimmte Sicherheit, sie sind nicht nur offen gegenüber technologischen und arbeitsorganisatorischen Veränderungen, sondern machen auch einen Wechsel von Arbeitsplatz, Arbeitgeber und Branche leichter möglich. Hingegen schränken eine enge fach- und betriebsspezifische Ausbildung, fehlendes Grundlagenwissen und erst recht die Ausbildung in einem sog. Sackgassenberuf die Verwertbarkeit stark ein. Zum Risiko der Dequalifizierung kommt es dann, wenn auf Weiterbildung verzichtet wird und die erworbenen Kenntnisse, Fähigkeit und Fertigkeiten nicht mehr angewandt werden können, weil sich die Anforderungen der Tätigkeit stark gewandelt haben oder es diese Tätigkeit überhaupt nicht mehr gibt. Muss in der Folge eine unterwertige, qualifikationsinadäquate Beschäftigung aufgenommen werden, kann dies zu einem Verlust derjenigen Qualifikationsbestandteile führen, die nicht mehr verlangt werden. In extremer Form ist dies bei einer langandauernden Arbeitslosigkeit der Fall, in deren Folge auch berufs- und tätigkeitsübergreifende Fähigkeiten verloren gehen. Je größer der Qualifikationsverlust ist und je länger unterwertige Beschäftigung oder Arbeitslosigkeit andauern, umso schwieriger wird es, eine adäquate Beschäftigung zu finden. Auch dann, wenn die Beschäftigten, in der überwiegenden Mehrheit Frauen, ihre Berufstätigkeit nach der Geburt von Kindern langjährig unterbrechen, erwachsen daraus Probleme bei der Wiederbeschäftigung. Die Berufspraxis fehlt, die Erfahrungen gehen zumindest teilweise verloren, neuere ökonomische und technologische Entwicklungen gehen an den Betroffenen vorbei. Im Ergebnis führt dies dazu, dass Berufsrückkehrerinnen, auch wenn sie über eine abgeschlossene Berufsausbildung verfügen, sehr häufig unterwertig beschäftigt werden. Veränderungen der Qualifikationsanforderungen im Arbeitsleben, haben aber nicht automatisch und ausschließlich negative Konsequenzen für die Beschäftigten. Der Wechsel auf eine neue Arbeitsstelle und -aufgabe kann auch neue, vielseitige Anforderungen mit sich bringen. Das allerdings geschieht nicht im Selbstlauf, sondern erfordert Maßnahmen der beruflichen Weiterbildung. Angesichts der mit dem demografischen Umbruch einhergehenden Alterung der Belegschaften und der Beendigung einer Politik der Frühausgliederung betrifft dies im besonderen Maße die Be-

Qualifikation und Erwerbsverläufe

569

schäftigten im mittleren und höheren Erwerbsalter. Zudem führt die fortschreitende Digitalisierung zu einer beschleunigten Veränderung der Arbeitsanforderungen, die jedem Beschäftigten neue Kompetenzen abverlangt. 9.4

Qualifikationsschutz im Sozialrecht

Der Sozialstaat gewährt in einer Reihe von arbeits- und sozialrechtlichen Regelungen einen Schutz des beruflichen Status und damit auch des Qualifikations- und Einkommensniveaus. Allerdings ist dieser Schutz recht begrenzt, zunehmend reduziert worden und in der Regel nur noch auf das Einkommen bezogen. Folgende Regelungen sind hierbei von besonderem Belang: •

Bei einer krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit besteht Anspruch auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall und nach Überschreiten der maximalen Bezugsdauer auf Krankengeld. Der Zustand der Arbeitsunfähigkeit dauert solange, bis die Betroffenen in ihrem Beruf wieder voll leistungsfähig und belastbar sind. Ein Verweis auf einen anderen Arbeitsplatz bzw. Beruf ist nicht zulässig. • Während der Elternzeit und auch der Pflegezeit besteht Kündigungsschutz. Die Beschäftigungsgarantie beinhaltet einen Anspruch auf Rückkehr auf den alten oder einen gleichwertigen Arbeitsplatz. Eine Umsetzung, die mit einer Schlechterstellung, insbesondere mit einem geringen Entgelt verbunden wäre, ist ausgeschlossen. • Wer wegen einer schweren gesundheitlichen Beeinträchtigung nicht mehr oder nur noch stundenweise arbeiten kann, kann eine Erwerbsminderungsrente beantragen. Maßstab ist dabei die Erwerbsfähigkeit des Versicherten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt. Die subjektive Zumutbarkeit unter dem Gesichtspunkt der Ausbildung und des Status der bisherigen bzw. zuletzt ausgeübten beruflichen Tätigkeit ist hingegen seit der Reform aus dem Jahr 2001 ohne Bedeutung. Das Risiko der Berufsunfähigkeit wird nicht mehr durch die gesetzliche Rentenversicherung abgedeckt. • Zielsetzung der Arbeitsförderung nach dem SGB III ist es unter anderem, unterwertiger Beschäftigung entgegenzuwirken. Dem entspricht ein gewisser Statusschutz bei Arbeitslosigkeit. Einen Berufs- und Qualifikationsschutz wie im vormaligen Arbeitsförderungsgesetz gibt es zwar nicht mehr. Arbeitslose, die Anspruch auf die Versicherungsleistung Arbeitslosengeld haben, dürfen „unzumutbare“ Beschäftigung ablehnen. Zumutbarkeit heißt, dass hinsichtlich der Höhe des Arbeitsentgeltes abgestufte Regelungen gelten: In den ersten drei Monaten der Arbeitslosigkeit ist ein um 20 % vermindertes Bruttogehalt zumutbar und in den nachfolgenden drei Monaten um 30 %. Ab dem siebten Monat sind alle Beschäftigungen zumutbar, wenn das Nettoeinkommen die Höhe des Arbeitslosengelds nicht unterschreitet.

570



Qualifikation

Für Arbeitslose im Rechtskreis des SGB II ist demgegenüber jedes Arbeitsverhältnis zumutbar, soweit es nicht gegen Gesetz und gute Sitten verstößt – ungeachtet des vorherigen Einkommens oder der Qualifikation. Auch das Ziel der Vermeidung unterwertiger Beschäftigung findet sich hier nicht.

10

Berufliche Weiterbildung

10.1 Die Weiterbildungslandschaft Wenn unter Weiterbildung die Fortsetzung oder Wiederaufnahme organisierten Lernens nach Abschluss einer ersten Bildungsphase verstanden wird, dann zeigt sich in Deutschland das Bild einer enorm vielfältigen, zerklüfteten Weiterbildungslandschaft, die neben der beruflichen Weiterbildung auch die allgemeine und politische Weiterbildung („Erwachsenenbildung“) mit einschließt. Aber auch dann, wenn nur die berufliche Weiterbildung ins Auge gefasst wird, ist das Feld kaum übersehbar und auch empirisch (auf der Basis von Bevölkerungsbefragungen) nur teilweise erfasst. Ein systematische gesetzliche Regelung und Förderung der Weiterbildung für Personen im Erwachsenenalter gibt es nicht. Bei der beruflichen Weiterbildung lässt sich zwischen der non-formalen und der formalen Weiterbildung unterscheiden, wobei die Grenzen durchaus fließend sind. Bei der formalen Weiterbildung handelt es sich um Bildungsgänge innerhalb des Bildungssystems, die mit einem zertifizierten Abschluss beendet werden. Die nonformale Weiterbildung erfolgt durch die Betriebe (betriebliche Weiterbildung) oder wird individuell durchgeführt (individuell berufsbezogene Weiterbildung). Insgesamt geben rund 50 % der Erwachsenen an, im Jahr 2016 an non-formalen Weiterbildungsmaßnahmen teilgenommen zu haben, wobei sich hinter dieser Quote erhebliche Unterschiede hinsichtlich der Zahl der Maßnahmen und ihrer zeitlichen Dauer verbergen. Erfasst sind u. a. Kurse oder Lehrgänge in der Arbeits- oder Freizeit, kurzzeitige Veranstaltungen wie Vorträge, Schulungen, Seminare oder Workshops sowie Schulungen am Arbeitsplatz. Mit einem Anteil von rund 70 % an allen Weiterbildungsaktivitäten ist die betriebliche Weiterbildung das mit Abstand größte Weiterbildungssegment. Den Beschäftigten wird angeboten, zum Teil auch abverlangt, während der Arbeitszeit oder in bezahlten Freistellungsphasen an internen oder externen Kursen, Seminaren und Lehrgängen teilzunehmen, die in der Regel durch unterschiedliche Anbieter auf dem Weiterbildungsmarkt durchgeführt werden. Die Teilnahme ist in der Regel kostenfrei. Die vorliegenden Daten lassen erkennen, dass sowohl hinsichtlich der Branchen, der Größenordnung der Betriebe wie auch hinsichtlich der Beschäftigtengruppen große Unterschiede im Angebot und in der Inanspruchnahme bestehen. Benachteiligt sind Beschäftigte in Kleinst-, Klein- und Mittelbetrieben, Beschäftigte in atypischen Arbeitsverhältnissen und gering qualifizierte Beschäftigte. Zu erkennen ist, dass die

Berufliche Weiterbildung

571

betrieblichen Weiterbildungsaktivitäten unter dem Druck drohender Fachkräfteengpässe zunehmen. Die individuell berufsbezogene Weiterbildung wird privat organisiert und finanziert und von den unterschiedlichsten Trägern und Organisationen angeboten. An Bedeutung gewonnen haben hier Fernlehrgänge, in den Markt sind aber auch Universitäten und Fachhochschulen eingestiegen. Die formelle berufliche Weiterbildung erfolgt nach Abschluss einer ersten Bildungsphase, Bildungsorte sind Fachschulen, speziellen Meisterschulen und auch Hochschulen. Zu unterscheiden ist zwischen Umschulungs- und Fortbildungsmaßnahmen. Umschulungen orientieren auf einen anderen Beruf. Die Fortbildungsmaßnahmen gliedern sich auf in die Anpassungs- und die Aufstiegsfortbildung. Die berufliche Fortbildung setzt in der Regel eine abgeschlossene Berufsausbildung voraus. Die Ausbildungsinhalte, die Durchführung der Prüfung, die Bezeichnung des Abschlusses werden durch Gesetz oder Rechtsverordnung geregelt. Die bekanntesten Abschlüsse sind die des Handwerks- oder Industriemeisters. Der Abschluss zum Handwerksmeister befähigt dazu, einen eigenen Betrieb zu führen und Auszubildende einzustellen und auszubilden 10.2 Geförderte Weiterbildung nach SGB III und SGB II Die berufliche Weiterbildung der Beschäftigten ist zuvorderst Aufgabe und Verpflichtung der Unternehmen, die im eigenen Interesse dafür Sorge tragen müssen, dass das Personal qualifikatorisch auch in der Lage ist, den sich wandelnden Arbeitsanforderungen zu entsprechen. Eine Finanzierung von Weiterbildungsmaßnahmen durch öffentliche Mittel findet aber dann statt, wenn ein besonderes politisches Interesse daran besteht und/oder wenn bestimmte Personenkreise von den betrieblichen Maßnahmen nicht erreicht werden. Das trifft vor allem auf Arbeitslose und für gering bzw. unzureichend qualifizierte Beschäftigte zu, die keinen Zugang zur betrieblichen Weiterbildung haben und sich auch eine eigenfinanzierte Weiterbildung nicht leisten können. Die Förderung der beruflichen Bildung nach dem SGB III soll diese Lücke schließen. Sie stellt den Kernbereich vorbeugender und aktiver Arbeitsmarktpolitik dar. Durch die Verringerung von Profildiskrepanzen („mismatches“) zwischen einem Arbeitskräfteangebot, das fehlende oder unzureichende Qualifikationen aufweist, und einer Arbeitskräftenachfrage, die durch hohe und sich verändernde Qualifikationsanforderungen gekennzeichnet ist, sollen gesamtwirtschaftlich die Ausgleichsprozesse auf dem Arbeitsmarkt und individuell die relativen Chancen auf dem Arbeitsmarkt verbessert werden. Zugleich zielt die Unterstützung von Qualifizierungsprozessen darauf ab, Arbeitslosigkeit vorzubeugen und zu verringern sowie Arbeitskräfteknappheit in spezifischen Qualifikationsbereichen zu vermeiden.

572

Qualifikation

Die Förderung besteht in der Übernahme der Weiterbildungskosten und der Zahlung des Arbeitslosengeldes während der Teilnahme. Es handelt sich hierbei nicht um einen Rechtsanspruch, sondern um eine Kann-Leistung, deren Gewährung im Ermessen der Behörde liegt. Die Regelungen zur Weiterbildungsförderung nach dem SGB III finden auch in der Grundsicherung für Arbeitsuchende Anwendung. Arbeitnehmer:innen können gefördert werden, wenn die Weiterbildung notwendig ist, • •

um sie bei Arbeitslosigkeit beruflich einzugliedern oder eine ihnen drohende Arbeitslosigkeit abzuwenden.

Auch Arbeitnehmer:innen in einem Beschäftigungsverhältnis können bei Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen von einer Förderung profitieren. Das gilt insbesondere für Beschäftigte ohne oder mit einem nicht mehr verwertbaren Berufsabschluss. Weisen Beschäftigte zwar eine abgeschlossene Berufsausbildung auf, sind aber seit mindestens vier Jahren nur an- oder ungelernt tätig und können die erlernte Tätigkeit nicht mehr ausüben („Berufsentfremdung“), so können auch sie zum Erwerb eines Berufsabschlusses gefördert werden. Zudem haben Arbeitnehmer:innen ohne Schulabschluss unter bestimmten Voraussetzungen einen Anspruch auf Übernahme der Weiterbildungskosten zum Nachholen eines Hauptschulabschlusses. Verlangt wird, dass der Arbeitgeber das Arbeitsentgelt auch für Zeiten zahlt, in denen wegen der Weiterbildung nicht gearbeitet wird. Schließlich können Arbeitnehmer:innen, die noch nicht über eine Berufsausbildung verfügen, Förderleistungen zum Erwerb von Grundkompetenzen erhalten (insbesondere in den Bereichen Lesen, Schreiben, Mathematik und Informations- und Kommunikationstechnologien), wenn dies für die erfolgreiche Teilnahme an einer abschlussbezogenen beruflichen Weiterbildungsmaßnahme erforderlich ist. Bildungsgutschein Wird eine Weiterbildungsmaßnahme genehmigt, händigen die Agentur bzw. das Jobcenter den Betroffenen ein Bildungsgutschein aus. Dieses Gutscheinverfahren gilt seit 2003. Statt wie zuvor Inhalt und Umfang von Maßnahmen zu planen, Träger einzuwerben und Teilnehmende zuzuweisen, werden seitdem nach Beratung Ziele, Inhalte und Dauer der erforderlichen Weiterbildung formuliert sowie eine entsprechende Gutschrift von den Agenturen für Arbeit ausgestellt. Ausgestattet mit diesem Bildungsgutschein können Arbeitslose und Arbeitnehmer:innen aus dem Angebot der regionalen Anbieterlandschaft ihre für die Förderung zugelassene Weiterbildungsmaßnahme frei wählen. Hierbei handelt es sich um Anpassungsfortbildungen, Weiterbildungen für eine andere berufliche Tätigkeit oder um Umschulungen mit dem Ziel eines Berufsabschlusses. Der Träger rechnet die Kosten schließlich direkt mit der Arbeitsagentur ab. Zugelassen werden solche Maßnahmen, wenn Inhalte, Methoden und Materialien eine erfolgreiche berufliche Bildung erwarten lassen, wenn sie nach Lage und

Berufliche Weiterbildung

573

Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt zweckmäßig, die Teilnahmebedingungen, Kosten und Dauer angemessen sind sowie mit einem aussagekräftigen Zeugnis abgeschlossen werden. Es werden ferner nur Maßnahmen zugelassen, die folgende Ziele verfolgen: •

Erhaltung oder Erweiterung beruflicher Kenntnisse, Fertigkeiten und Fähigkeiten (wie auch Anpassung an technische Entwicklung oder Ermöglichung eines beruflichen Aufstiegs), • Vermittlung eines beruflichen Abschlusses oder • Befähigung zu einer anderen beruflichen Tätigkeit (Umschulung). Ferner muss eine Weiterbildungsmaßnahme, die zu einem anerkannten Ausbildungsberuf führt, mindestens um ein Drittel kürzer sein als die Erstausbildung in diesem Beruf. Während der gesamten Zeit der Maßnahme wird Arbeitslosengeld gezahlt, auch wenn in dieser Zeit der Anspruch auslaufen würde. Wer Anspruch auf Arbeitslosengeld II hat und an einer beruflichen Weiterbildungsmaßnahme nach SGB III teilnimmt, bekommt das Arbeitslosengeld II fortgezahlt. Angesichts der geringen Höhe der Versicherungsleistung Arbeitslosengeld und insbesondere der fürsorgeförmigen Leistung Arbeitslosengeld II stellt sich in beiden Konstellationen allerdings das Problem, dass diese Zahlungen nicht ausreichen, um während einer nicht nur kurzfristigen Maßnahme den Lebensunterhalt zu sichern. Dies erweist sich als ein Hindernisgrund eine Teilnahme zu beginnen bzw. sie erfolgreich abzuschließen. Zwar wird eine Weiterbildungsprämie gezahlt, wenn ein Abschluss in anerkannten Ausbildungsberufen mit mindestens zweijähriger Dauer erworben worden ist. Gleichwohl reicht dies kaum aus, um Motivation und Durchhaltevermögen zu stärken. Weiterbildungsförderung während der Beschäftigung Die Fördermöglichkeiten für Personen in einem Beschäftigungsverhältnis sind durch das Qualifizierungschancengesetz von 2018 deutlich ausgeweitet worden. Im Ziel stehen Arbeitnehmer:innen, die berufliche Tätigkeiten ausüben, die durch Technologien ersetzt werden können, in sonstiger Weise von Strukturwandel betroffen sind oder die eine berufliche Weiterbildung in einem Engpassberuf anstreben, also in einem Beruf, in dem Fachkräftemangel besteht. Die Übernahme von Lehrgangskosten und die Zahlung von Zuschüssen zum Arbeitsentgelt setzen grundsätzlich eine Kofinanzierung durch den Arbeitgeber voraus. Die Kostenbeteiligung der Arbeitgeber richtet sich nach der Betriebsgröße – größere Unternehmen müssen sich stärker beteiligen als kleine oder mittlere Unternehmen. Es wird vorausgesetzt, dass Fertigkeiten, Kenntnisse und Fähigkeiten vermittelt werden, die über ausschließlich arbeitsplatzbezogene kurzfristige Anpassungsfortbildungen hinausgehen, dass der Erwerb des Berufsabschlusses in der Regel mindestens vier Jahre zurückliegt und

574

Qualifikation

dass die Maßnahme außerhalb des Betriebes oder von einem zugelassenen Träger im Betrieb, dem sie angehören, durchgeführt wird. Entwicklung der Förderzahlen Die Teilnehmerzahlen an Maßnahmen der beruflichen Weiterbildung sind seit Jahren deutlich rückläufig. Die Hochphase dieses Instruments einer aktiven Arbeitsmarktpolitik lag in den 1990er Jahren. Vor allem in den neuen Bundesländern wurde die Weiterbildung intensiv genutzt. Seit etwa 1996 sind dann die eingesetzten Mittel und entsprechend die Teilnehmerzahlen in zwei Schüben (1996 – 1998 und 2001 – 2005) drastisch zurückgefahren worden. Der Stand im Jahr 2005 mit 142 Tausend Geförderten lag um 75 % niedriger als der Stand im Jahr 1994 mit 563 Tausend Geförderten. Seit 2005 liegt die Anzahl der geförderten Arbeitnehmer:innen weit unter 200 000, 2018 werden rund 149 000 Personen gezählt (vgl. Abbildung IV.17). Nur 35 % der Geförderten befinden sich im Rechtskreis des SGB II, der aber zwei Drittel aller Arbeitslosen erfasst. Die Rückführung der Förderung beruflicher Weiterbildung ist allerdings nicht das Ergebnis eines geringeren Bedarfs an Qualifizierung, sondern Folge der Neuausrichtung der Förder- und Geschäftspolitik der Bundesagentur für Arbeit. Die Förderung beruflicher Weiterbildung hat gegenüber der direkten Vermittlung immer mehr an Bedeutung verloren. Insbesondere längerfristige Qualifizierungen (ab-

0

379,0

385,0

358,1

394,4

537,7

149

154,2

154,0

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188,7

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197,4 154

131,6

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124,8

100

227,5

200

305,3

300

344,7

400

Geförderte in der beruflichen Weiterbildung 1994 – 2018 in Tausend

424,8

563,1 500

552,6

Abbildung VI.17

1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018

Quelle: Bundesagentur für Arbeit (zuletzt 2019), Arbeitsmarktberichte und Arbeitsmarkt in Zeitreihen.

Berufliche Weiterbildung

575

schlussbezogene Maßnahmen) sind abgebaut worden. Im Mittelpunkt steht das Ziel der direkten Verwertbarkeit der Qualifikationen und der zügigen Vermittlung in Beschäftigung. Kurzfristige Erfolge, gebunden an strengen Förderkriterien, bestimmen die Vergabe von Fördermitteln (vgl. Kapitel „Arbeit und Arbeitsmarkt“. Pkt. 8.2). Der Vermittlungsvorrang und die Feststellung der „Notwendigkeit“ einer Weiterbildung haben zur Folge, dass die Agentur für Arbeit oder das Jobcenter abwägen müssen, ob z. B. die Arbeitslosigkeit auch ohne eine Weiterbildung beendet werden kann oder ob andere arbeitsmarktpolitische Instrumente erfolgversprechender für eine Eingliederung auf dem Arbeitsmarkt sind. Diese Anforderungen an einen effektiven Mitteleinsatz – gemessen an der Beendigung von Arbeitslosigkeit, nicht der nachhaltigen Aufnahme einer Beschäftigung – führen dazu, dass von der Förderung vor allem die bereits besser Qualifizierten, jüngeren und kurzfristig Arbeitslosen oder von Arbeitslosigkeit bedrohten Beschäftigten profitieren. Benachteiligte Zielgruppen werden bei einer solchen „Bestenauslese“ („creaming“) zusätzlich benachteiligt. Diesen Gruppen von Arbeitslosen werden stattdessen allenfalls kürzere Maßnahmen angeboten, die kein anspruchsvolles formales Bildungsziel wie das Nachholen eines Berufsabschlusses oder das Erlernen eines neuen Berufes haben und die damit weitaus kostengünstiger sind. Parallel zum Rückgang der Förderung beruflicher Weiterbildung sind die Teilnehmerzahlen in Eignungsfeststellungs- und Trainingsmaßnahmen angestiegen (vgl. Kapitel „Arbeit und Arbeitsmarkt“, Pkt. 8.2). Allerdings ist seit etwa 2015 eine Umkehr dieser restriktiven Orientierung erkennbar. So sind durch mehrere Änderungen des SGB III, zuletzt durch das Qualifizierungschancengesetz, nicht nur die Ziele einer geförderten Weiterbildung, sondern auch der Kreis der Anspruchsberechtigten erweitert worden. Weiterbildungsförderung für behinderte Menschen Für die berufliche Weiterbildung behinderter Menschen sind im Rahmen der Förderung der Teilhabe am Arbeitsleben besondere Leistungen im SGB III vorgesehen. Sie können je nach Art oder Schwere ihrer Behinderung allgemeine Leistungen wie jede/r andere auch oder aber besondere Leistungen erhalten. Dazu gehört erstens das Ausbildungsgeld bei beruflicher Ausbildung, das sich nach Alter, Familienstand und Wohnsituation der Behinderten richtet und grundsätzlich mit der Berufsausbildungsbeihilfe vergleichbar ist. Zweitens werden die Teilnahmekosten für Maßnahmen übernommen, die sich nach SGB IX bestimmen und den besonderen Bedarf behinderter Menschen berücksichtigen. Drittens können behinderte Menschen zur Sicherung des Lebensunterhaltes Übergangsgeld erhalten, wenn während einer beruflichen Aus- oder Weiterbildung besondere Leistungen gewährt werden.

576

Qualifikation

10.3 Förderung einer beruflichen Aufstiegsfortbildung Einen anderen Ansatz der öffentlichen Förderung von Weiterbildung verfolgt das 1996 eingeführte Aufstiegsfortbildungsförderungsgesetze (AFBG). Anders als in der Arbeitsförderung nach dem SGB III und SGB II stehen nicht Arbeitslose und benachteiligte Beschäftigtengruppen im Mittelpunkt, sondern Handwerker und andere Fachkräfte, die zwar schon einen Berufsabschluss vorweisen können, denen aber eine Teilnahme an einer beruflichen Aufstiegsfortbildung ermöglicht werden soll. In den Förderbedingungen lehnt sich das AFBG an das BAföG an, es wird deshalb auch als Meister-BAföG bezeichnet. Gefördert werden – unabhängig vom Lebensalter – alle, die sich mit einem Lehrgang oder an einer Fachschule auf eine berufliche Fortbildungsprüfung in Voll- oder Teilzeit vorbereiten. Geförderte erhalten einkommensunabhängig einen Beitrag zu den Kosten der Fortbildung und bei Vollzeitmaßnahmen zusätzlich einkommensabhängig einen Beitrag zum Lebensunterhalt. Die Unterstützung erfolgt teils als Zuschuss, teils als zinsgünstiges Darlehen. Im Jahr 2017 haben gut 150 Tausend Personen eine Förderung in Anspruch genommen.

11

Herausforderungen und Reformperspektiven

Das Spektrum an Herausforderungen und Reformerfordernisse im Bereich von Bildung und Qualifikation ist übergroß und beschäftigt Wissenschaft wie Politik seit vielen Jahren. Dies ist auch nicht verwunderlich, da es um die Lebenschancen und -perspektiven der gesamten Bevölkerung geht und die Sorge um die Ausbildung der nachrückenden Generation eine Frage der zukünftigen Entwicklung der Gesellschaft ist. Nicht zuletzt hat das Bildungs- und Qualifikationsniveau Auswirkungen auf die wirtschaftliche Leistungs- und Wettbewerbsfähigkeit Deutschland in einer globalisierten Welt. Dieses breite Diskussionsfeld kann an dieser Stelle nicht nachgezeichnet werden. Vielmehr sollen jene Punkte aufgegriffen werden, an denen die Verbindung zwischen Qualifikation, sozialer Lage und Sozialpolitik besonders deutlich wird. 11.1 Abbau der sozialen Selektion Ein übergreifender Konsens besteht in dem Ziel, die immer noch viel zu hohe Quote jener Schüler:innen deutlich zu begrenzen, die keinen allgemeinbildenden Schulabschluss erreichen und/oder keine berufliche Ausbildung vorweisen können. Wie die empirischen Befunde aufweisen, handelt es sich hier vor allem um Kinder aus einkommensschwachen und sozial benachteiligten Familien, darunter insbesondere aus Familien mit Migrationshintergrund. Die Anforderungen werden in den nächsten Jahren wachsen, weil es darum geht, den Kindern von Asylbewerbern und Schutzsuchenden einen Schulabschluss zu ermöglichen. Gelingt dies nicht, wird es

Herausforderungen und Reformperspektiven

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umso schwerer fallen, das zweite Ziel zu erreichen, dass nämlich möglichst alle Schüler:innen eine berufliche Ausbildung absolvieren. Das Problem ist nicht zu überschätzen, da fehlende Schul- und Ausbildungsabschlüsse mit den Risiken von Arbeitslosigkeit, Armut, sozialer Ausgrenzung und gesellschaftlicher Desintegration eng verbunden sind. Ein Versagen der Bildungsund Ausbildungspolitik würde den Sozialstaat und die Sozialpolitik mit wachsenden Aufgaben und Ausgaben belasten, ohne mit den nachsorgenden Leistungen die eigentlichen Probleme lösen zu können. Erforderlich ist ein präventiver, ursachenbezogener Ansatz, der neben der Bildungspolitik das ganze Spektrum der weiteren Politikfelder (Einwanderungspolitik, Wohnungspolitik, Familienpolitik, Kinder- und Jugendhilfe, Arbeitsmarktpolitik) miteinbezieht. Zwar sind die Erfolge einer auf Expansion setzenden Bildungspolitik beachtlich. Das Bildungs- und Qualifikationsniveau der jüngeren Jahrgänge ist bei Weitem höher als das der Vorgängerkohorten. Ein immer größerer Anteil der Bevölkerung erwirbt mittlere und höhere allgemeinbildende und berufliche Abschlüsse Auch ist die Durchlässigkeit zwischen den Schulformen und Bildungsabschlüssen gestiegen. Nicht geändert oder gar gelöst worden ist die hohe soziale Selektivität des deutschen Bildungssystems. Am Ende der Sekundarstufe I zeigt sich überdeutlich, wie stark die Bildungsbeteiligung durch die soziale und ethnische Herkunft geprägt ist. Kinder und Jugendlichen aus Elternhäusern mit einem geringeren Bildungs- und Einkommensniveau haben deutlich geringere Chancen einen qualifizierten Schul- und Berufsausbildungsabschluss zu erwerben als ihre Altersgenossen, deren Eltern einer höheren sozialen Schicht angehören. Das Versprechen „Aufstieg durch Bildung“ gilt für einen Teil der jungen Menschen nach wie vor nicht. Dies zu verändern ist Aufgabe einer Bildungspolitik, die nicht auf frühzeitige Selektion setzt, sondern auf Förderung und Integration. Das betrifft gleichermaßen die berufliche Bildung. Wenn eine unverändert hohe Zahl von jungen Menschen nach Verlassen der allgemeinbildenden Schulen keinen Platz weder im Schulberufssystem noch im dualen System findet, im Übergangssektor versorgt werden muss und dennoch keinen Ausbildungsabschluss erwirbt, dann ist das nicht nur eine Folge fehlender Schulabschlüsse. Zu fragen ist auch nach der unzureichenden Bereitschaft der Unternehmen, auch für diese Menschen einen Ausbildungsplatz bereitzustellen. Aber auch die unübersichtlichen Maßnahmen und Bildungsgänge im Übergangssektor stehen unter dem Verdacht, dass sie in vielen Fällen einen reinen Aufbewahrungscharakter haben. Um den Übergang von der Schule in den Beruf auch für sozial benachteiligte junge Menschen möglichst lückenlos zu gestalten, gilt es, ein standardisiertes und verbindliches Konzept zu entwickeln, das bereits an den allgemeinen Schulen ansetzt und auf der Ebene einer jeden Kommune (kreisfreie Städte und Landkreise) koordiniert wird. Das in Nordrhein-Westfalen praktizierte Programm „Kein Abschluss ohne Anschluss“ kann hier ein Vorbild sein. Gleichermaßen muss ein Recht auf das Nachholen eines Schul- und/oder Berufsabschlusses eingeführt werden.

578

Qualifikation

11.2 Stärkung der beruflichen Bildung Gerade im internationalen Vergleich zeigt sich, dass sich das deutsche System der dualen Berufsbildung bewährt hat und erfolgreich dazu beiträgt, vielen jungen Menschen eine breite und zukunftsfähige Ausbildung zu bieten und für einen weitgehend nahtlosen Übergang in Beschäftigung zu sorgen. Die zweigleisige berufliche Ausbildung mit einer festen, praxisnahen Einbindung im Ausbildungsbetrieb trägt nicht nur dazu bei, dass die Jugendarbeitslosigkeit niedrig ausfällt. Auch ist der breite Mittelbau qualifizierter Arbeitskräfte in der Industrie, im Handwerk und im Dienstleistungssektor ein wesentlicher Faktor für die hohe Innovationskraft und Wettbewerbsfähigkeit des Modells der sozialen Marktwirtschaft. Der Ruf nach einer weiteren Akademisierung von Berufen, die bislang im Berufsbildungssystem ausgebildet werden, ist deshalb in seiner Pauschalität kritisch zu hinterfragen. Wichtiger erscheint es, den Prozess einer dynamischen Aktualisierung von Berufen und Berufsbildern in der bewährten Zusammenarbeit von Arbeitgebern, Gewerkschaften und Staat fortzusetzen und die breite Grundlagenausbildung beizubehalten, so dass den raschen technologischen und arbeitsorganisatorischen Veränderungen in den Arbeitsanforderungen auch in Zukunft entsprochen werden kann. Ein grundlegendes Problem für das duale Berufsbildungssystem besteht darin, dass es für seine Absolvent:innen keine hinreichenden weiteren Entwicklungsperspektiven bietet. Die Durchlässigkeit und die weiteren Aufstiegsmöglichkeiten sind sehr begrenzt, von einer zufriedenstellenden Anbindung an das übrige Bildungssystem kann noch keine Rede sein. Deshalb muss die Attraktivität der beruflichen Bildung erhöht und die Durchlässigkeit hin zu höheren Abschlüssen (z. B. Meister und Technikerausbildung) und zum Studium weiter verbessert werden. Dazu passt es nicht, dass trotz der guten Konjunktur und trotz des zu erwartenden Fachkräftebedarfs die Ausbildungsbereitschaft der Unternehmen rückläufig ist und immer noch viele Ausbildungswillige unversorgt bleiben. Deshalb steht die (alte) Frage nach einer gerechten Finanzierung der beruflichen Ausbildung unverändert im Raum: Jene Betriebe, die nicht oder nicht ausreichend ausbilden, sollten eine Ausbildungsabgabe leisten. Aus diesem Umlagefonds sind dann Betriebe zu unterstützen, deren betriebsspezifische Ausbildungsquote die notwendige Ausbildungsquote überschritten hat. Sie sollen Mittel für die Schaffung zusätzlicher Ausbildungsstellen erhalten. 11.3 Gesamtkonzept der beruflichen Weiterbildung Die Aussage, dass eine abgeschlossene Berufsausbildung nicht ausreicht, um über ein langes Erwerbsleben hinweg den sich wandelnden Anforderungen in der Arbeitswelt zu entsprechen, ist mittlerweile zu einem Gemeinplatz geworden. Der anhaltende technologische und wirtschaftliche Strukturwandel, die rasche – durch die Digitali-

Herausforderungen und Reformperspektiven

579

sierung vorangetriebene – Veränderung der Arbeitsorganisation sowie von Produkten, Produktionsverfahren und Dienstleistungsangeboten, und nicht zuletzt der längere Verbleib der älteren Beschäftigten im Arbeitsleben, verlangen mehr denn je nach einem Gesamtkonzept der beruflichen Weiterbildung. Davon ist jedoch nur wenig zu erkennen. Die betriebliche Weiterbildung lässt vor allem jene Beschäftigten zurück, bei denen eine Förderung besonders notwendig wäre. Und die Förderung der Weiterbildung im Rahmen des SGB III und SGB II ist nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ unzureichend. Solange in der Politik die kurzfristige Strategie dominiert, die Kosten der aktiven Arbeitsmarktpolitik zu reduzieren und die Beitragssätze zur Arbeitslosenversicherung zu senken, ist nicht zu erwarten, dass der Kreis der Geförderten – auch in bestehenden Beschäftigungsverhältnissen – ausgeweitet wird und abschlussorientierte Maßnahmen im Vordergrund stehen. Es besteht ein merkwürdiger Gegensatz zwischen der Diskussion über „Arbeit 4.0“ und der tatsächlichen Bereitschaft, sich dieser Zukunftsaufgabe „Weiterbildung“ frühzeitig und offensiv zu stellen. Dazu gehört auch, den unbedingten Vermittlungsvorrang abzuschaffen und finanziellen Bedingungen für die Teilnahme an geförderten Weiterbildungsmaßnahmen deutlich zu verbessern, vor allem durch höhere Lohnersatzleistungen. Das wirft die Frage auf, ob es angemessen ist, diese gesellschaftspolitischen Aufgaben und Ausgaben der Bundesagentur für Arbeit über Beitragsmittel zu finanzieren. Vorschläge zur Einführung eines allgemeinen Weiterbildungsfonds oder einer die gesamte Erwerbsbevölkerung umfassenden Arbeitsversicherung stehen im Raum, haben aber noch keine Mehrheit gefunden. Auf der „mittleren“ Ebene von Reformen steht der Vorschlag, die Finanzierung des Lebensunterhalts und der Ausbildungskosten während der Erstausbildung und zugleich der Weiterbildung in einem neuen Ausbildungsförderungsgesetz, das dann auch für Ältere gilt, umfassend zu regeln. Bislang beeinflussen die Förderregelungen bzw. die Nicht-Förderung im hohen Maße die Berufswahl(möglichkeiten) und damit die Verteilung der künftigen Erwerbspersonen auf Qualifikations- und Berufsgruppen. Ein Ausbildungsgang kann gegenüber einem anderen schon allein deshalb für Ausbildungssuchende attraktiver sein, weil mit diesem überhaupt oder sogar eine höhere finanzielle Unterstützungsleistung verbunden ist. Die unterschiedliche Behandlung der akademischen, schulischen und außerschulischen, außerbetrieblichen und betrieblichen Auszubildenden wie auch die Unterschiede in den Finanzierungsquellen – einzelbetrieblich, steueroder beitragsfinanziert – ist kaum nachvollziehbar. Das unverbundene Nebeneinander der Leistungssysteme ist in hohem Maße intransparent und schließt die Weiterbildung weitgehend aus. Not tut, die Verschränkung von Sozial- mit Bildungspolitik zu erhöhen und die in Deutschland hohe Segmentierung der beiden Politikfelder zu überwinden. Dabei geht es nicht darum, einem neoliberalen Wohlfahrtsstaatsmodell Vorschub zu leisten, der sich auf „Sozialinvestitionen“ in Bildung zurückzieht und sich in der Herstellung sozialer Gerechtigkeit und der Sicherung sozialer Risiken lediglich auf die Vertei-

580

Qualifikation

lungswirkung von Bildung verlässt. Es ist das eine weiter zu tun, ohne das andere so zu belassen, wie es ist. Damit würde auch der Erkenntnis Rechnung getragen, dass ohne eine Integration von Bildung als sozialpolitisches Handlungsfeld viele andere Interventionen und Investitionen schnell ins Leere laufen können und allenfalls die sozialen Risiken, die durch niedrige Bildung entstehen, im Nachhinein ausgeglichen werden.

12

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Regelmäßige Veröffentlichungen Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung Bundesagentur für Arbeit: • Arbeitsmarkt Jahresberichte • SGB II Jahresberichte • Berichte Analyse Arbeitsmarkt • Blickpunkt Arbeitsmarkt Bundesinstitut für Berufsbildung, Berichte zur beruflichen Bildung Berufsbildungsberichte der Bundesregierung Institut Arbeit und Qualifikation, Dauerbaustelle Sozialstaat – Chronologie gesetzlicher Neuregelungen in der Sozialpolitik seit 1998

582

Qualifikation

Jahresgutachten des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung Kultusministerkonferenz, Bildungsberichterstattung: Bildung in Deutschland Statistisches Bundesamt (Hrsg.), Datenreport

Zeitschriften Arbeit Berufsbildung in Wissenschaft und Praxis BIBB Report DIW-Wochenbericht Soziale Sicherheit Sozialer Fortschritt Wirtschaft und Statistik Wirtschaftsdienst WSI-Mitteilungen Zeitschrift für Sozialreform

Aktuelle Gutachten, Berichte, Analysen zum Themenfeld Berufliche Bildung finden sich auf www.sozialpolitik-aktuell.de/arbeitsmarkt-berichte.html zum Download.

VII

Arbeit und Gesundheit

1

Gesundheitsgefährdungen in der Arbeitswelt

Die Gefährdung und Beeinträchtigung der Gesundheit ist ein elementares soziales Risiko für den Menschen. Die Absicherung gegen dieses Risiko zählt deshalb zum Kernbereich der Sozialpolitik. Die Gesundheit der Menschen ist nicht nur ein hohes individuelles Gut, sie ist auch von großer gesellschaftlicher Bedeutung. Nicht zuletzt stellt ein guter Gesundheitszustand der Bevölkerung einen wichtigen ökonomischen Produktivitätsfaktor dar. Aufgabe der Sozialpolitik ist es nicht nur, Krankheiten zu heilen oder zu lindern und deren sozialen und ökonomischen Folgen auszugleichen. Zugleich geht es auch darum, den Eintritt von Erkrankungen durch präventive Maßnahmen möglichst zu vermeiden oder zu begrenzen. Das setzt voraus, an den unterschiedlichen Ursachen von Krankheiten anzusetzen. Denn unterschiedliche Ursachen bedingen unterschiedliche Herangehensweisen bei der Risikobegrenzung. So ist bei der Prävention zu unterscheiden ist zwischen der Verhältnisprävention und der Verhaltensprävention. Während die Verhaltensprävention darauf abzielt, gesundheitsgefährdende Verhaltensweisen der Menschen zu begrenzen, setzt die Verhältnisprävention bei den Risikofaktoren an, die in der Arbeitswelt, der Umwelt und den Lebensverhältnisse zu verorten sind (vgl. zum Gesamtspektrum der Bestimmungsfaktoren von Erkrankungen Kapitel „Gesundheit und Gesundheitssystem“, Pkt. 2.5). Eine zentrale Bedeutung für Gesundheitsgefährdungen haben hierbei die Verhältnisse in der Erwerbsarbeit. Erwerbsarbeit ist nicht per se gesundheitsgefährdend. Eher ist das Gegenteil der Fall, denn Erwerbsarbeit ist von großer Bedeutung für das Selbstwertgefühl und das individuelle Wohlbefinden. Wenn die beruflichen Fähigkeiten, Kenntnisse und Fertigkeiten der Menschen gebraucht werden, wenn diese durch eine inhaltlich interessante Arbeit gefordert werden, dann wirkt sich die Erwerbstätigkeit außerordentlich positiv auf das Wohlbefinden des Einzelnen aus. Selbst die im Arbeitsleben stark benachteiligten Beschäftigtengruppen, wie z. B. im Bereich der monotonen, wenig anspruchsvollen Fließbandarbeit, sind keineswegs nur aus finanziellen Gründen an ihrer Arbeit interessiert. Die produktive Arbeit als solche und nicht zuletzt die sozialen Kontakte zu Arbeitskolleg:innen führen zu einer persönlichen Wertschätzung auch © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 G. Bäcker et al., Sozialpolitik und soziale Lage in Deutschland, https://doi.org/10.1007/978-3-658-06249-1_7

583

584

Arbeit und Gesundheit

wenig attraktiver Tätigkeiten. Die große Bedeutung, die die Erwerbsarbeit für den/ die Einzelnen hat, wird indirekt auch an den problematischen Folgen der Erwerbslosigkeit für die Betroffenen deutlich. Neben den materiellen Folgen sind es vor allem die Konsequenzen für den psycho-physischen Gesundheitszustand der Arbeitslosen, die erkennen lassen, wie wichtig die Integration in das Erwerbsarbeitsleben für die meisten Menschen ist. Erwerbsarbeit ist aber auch mit Risiken verbunden. Die konkreten Arbeitsbedingungen können mit belastenden, ja gesundheitsschädigenden Auswirkungen verbunden sein. Und dies in einem doppelten Sinne: Die konkrete Ausgestaltung des Arbeitsprozesses, angefangen bei Lage und Dauer der Arbeitszeit über schädigende Einflüsse aus der Arbeitsumgebung bis hin zum Arbeitsvollzug selbst, kann eine direkte Quelle gesundheitlicher Gefährdungen darstellen. Deutliche Belege für arbeitsbedingte Gesundheitsrisiken sind: • • • • •

amtlich registrierte Arbeitsunfälle, Berufskrankheiten, der nach Branchen und Betrieben unterschiedliche Krankenstand, chronischer Gesundheitsverschleiß und gesundheitliche Befindlichkeitsstörungen.

Art und Umfang dieser Gefährdungen sind je nach Wirtschaftszweig und Tätigkeitsbereich sehr unterschiedlich, und in vielen Fällen ist der Nachweis der ursächlichen Verbindung von Arbeitsbedingungen und Gesundheitsbeeinträchtigung nicht leicht zu erbringen. Dennoch liefern die vorliegenden Zahlen und Fakten Hinweise auf eindeutige Zusammenhänge. Die Erwerbsarbeit spielt aber auch indirekt eine die gesundheitliche Lage prägende Rolle: Die Teilnahme des Menschen am Erwerbsleben vermittelt über das Einkommen den materiellen Gestaltungsspielraum der individuellen Lebensführung und der gesellschaftlichen Teilhabe. Die Möglichkeiten der Versorgung mit Konsumgütern, der Wohnbedingungen, der Freizeit- und Urlaubsgestaltung u. a. werden weitgehend durch das Arbeitseinkommen begrenzt. Die Arbeitsbedingungen und -erfahrungen beeinflussen zugleich Wertorientierungen und Verhaltensweisen, darunter auch den persönlichen Gesundheitsbegriff jedes Einzelnen, seine subjektive Bereitschaft, Gesundheitsrisiken in Kauf zu nehmen bzw. sie zu vermeiden.

Gesundheitsgefährdungen in der Arbeitswelt

1.1

585

Bestimmungsgrößen der Gesundheitsgefährdung

Es sind drei Bereiche, die unmittelbar Auswirkungen auf die arbeitsbedingte Struktur der Gesundheitsrisiken entfalten: •

Der Einsatz und die Gestaltung der technisch-materiellen Grundlagen des Arbeits- und Produktionsprozesses, • der Arbeitskräfteeinsatz, der wesentlich durch die konkrete Arbeitsteilung und Gestaltung der Arbeitsorganisation bestimmt wird und • die Festlegung der unmittelbaren Leistungsbedingungen durch die Konzepte und Maßnahmen der Personalwirtschaft und die Ausgestaltung des Lohn-Leistungsverhältnisses. Diese Bereiche lösen sich bei näherem Hinsehen in zahlreiche einzelne Bestimmungsfaktoren auf, die für die nach Branchen und Tätigkeitsbereichen sehr unterschiedlichen Arbeitsbedingungen ursächlich sind. Dazu zählen: • inhaltliche Arbeitsanforderungen und Arbeitsablauf, • Umfang der quantitativen Arbeitsleistung, • Dauer, Lage und Verteilung der Arbeitszeit, • psychische Belastungen durch den Arbeitsvollzug, • physikalisch-chemische Einflüsse aus Produktionsprozess und Arbeitsumgebung, • Kooperationszusammenhänge und Kommunikationsmöglichkeiten im Arbeitsprozess, • betriebliche Ansprüche an das Arbeitsverhalten, • betriebliche Lohn-Leistungspolitik und • betriebliche Beschäftigungs- und Arbeitseinsatzpolitik. Das Zusammenspiel dieser belastungsbestimmenden Faktoren ergibt die verschiedenen Belastungsprofile und -muster, die die objektive Seite des Zusammenhangs von Arbeit und Gesundheitsgefährdung kennzeichnen. Die Faktoren lassen erkennen, dass das Niveau der Gesamtbelastung und seine Entwicklung immer auch durch die konkrete sozialökonomische Situation mitbestimmt werden. Insbesondere in ökonomischen Krisenphasen können die arbeitsbedingten Belastungen steigen, wenn die Unternehmen den wirtschaftlichen Problemdruck durch Arbeitsintensivierung aufzufangen versuchen. Dies kann verschärft werden durch eine selektive betriebliche Beschäftigungspolitik, die auf eine Rekrutierung von jüngeren und hochleistungsfähigen Beschäftigten gerichtet ist. Die Gefahr besteht, dass ältere und/oder weniger leistungsfähige Beschäftigte ausgegrenzt werden. In Krisenzeiten, unter dem Druck des drohenden Arbeitsplatzverlustes, akzeptieren Beschäftigte oftmals auch schlechtere Arbeitsbedingungen.

586

Arbeit und Gesundheit

Arbeitsbelastungen und ihre gesundheitlichen Folgen stehen in einer vielfältigen Wechselbeziehung zum Arbeitsmarktgeschehen, insbesondere zur Arbeitslosigkeit. So vermindern Gesundheitsschädigungen die Chancen der beruflichen (Aufstiegs) Mobilität, auf der anderen Seite erhöhen sie die Risiken von Arbeitsplatzverlusten und des Zugangs und Verbleibs in Arbeitslosigkeit. Die Unternehmen haben beispielsweise die Möglichkeit, denjenigen Arbeitnehmer:innen, die häufig und lange krank sind, eine verhaltensbedingte Kündigung auszusprechen. Selektionsmöglichkeiten ergeben sich zudem bei Neueinstellungen. Arbeitslose mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen, insbesondere mit Behinderungen, haben besonders schlechte Wiedereingliederungschancen, sind also länger arbeitslos und scheitern an der Selektionspraxis der Betriebe bei Neueinstellungen (vgl. Kapitel „Arbeit und Arbeitsmarkt“ Pkt. 5.3.3). Wenn deren Wiedereingliederung gelingt, dann häufig um den Preis von beruflichem Abstieg und Dequalifizierung. So entstehen instabile Wiederbeschäftigungskarrieren mit einer Problemhäufung bei älteren, gesundheitlich beeinträchtigten Arbeitnehmer:innen. Lange Zeit herrschte die optimistische Einschätzung vor, dass durch den technischen Fortschritt wie Mechanisierung und Automatisierung die Arbeitsbedingungen gewissermaßen im Selbstlauf leichter, die körperlichen und nervlichen Belastungen geringer und die Arbeit selbst interessanter werden würden. Diese Erwartungen haben sich jedoch so nicht erfüllt: Zwar haben die klassischen Gefährdungen durch körperlich schwere Arbeit und belastende Umgebungseinflüsse in einer Reihe von Wirtschaftszweigen und Tätigkeitsbereichen an Bedeutung verloren, und dazu haben neben dem wirtschaftlich-technischen Wandel nicht zuletzt die Maßnahmen des Arbeitsschutzes beigetragen. Zugleich sind jedoch bei vielen Tätigkeiten auch neue, vornehmlich psycho-soziale Belastungen durch Stress, Monotonie, soziale und kommunikative Anforderungen sowie Isolierung und Unterforderung hinzugekommen. Längst nicht überall ist es deshalb zu einem generellen Absinken des Niveaus der Gesamtbelastung gekommen, sondern eher zu einer Verschiebung im Belastungsprofil. Wie sich die arbeitsbedingten Belastungen auf die Beschäftigten konkret auswirken, hängt von einem vielschichtigen Bedingungsgefüge insbesondere der subjektiven Verarbeitung der gegebenen Arbeits- und Belastungssituation durch die Betroffenen ab (vgl. Kapitel „Gesundheit und Gesundheitssystem“, Pkt. 2.5). Die Belastbarkeit gegenüber einzelnen Einflussfaktoren ist sehr unterschiedlich ausgeprägt. Das gilt für die körperlichen Belastungen, etwa durch Schwerarbeit und Zwangshaltungen, für nervlich-psychische Belastungen, z. B. durch Zeitdruck, monotone inhaltsleere Arbeiten oder auch durch neue Steuerungsformen der Arbeit, durch hohe Anforderungen an Konzentration und Dispositionsfähigkeit wie auch für soziale Belastungen, z. B. infolge von Konflikten mit Vorgesetzten oder in der Zusammenarbeit mit anderen Arbeitskolleg:innen. Zu besonderen Problemen kann es kommen, wenn die beruflichen Anforderungen mit den Anforderungen der Kindererziehung oder der Pflege von Angehörigen vereinbart werden müssen.

Gesundheitsgefährdungen in der Arbeitswelt

587

Es ist aber keineswegs so, dass die belastenden Arbeitsbedingungen – lediglich gebrochen bzw. gefiltert durch die physische und psychische Konstitution und Disposition der Beschäftigten – unmittelbar zu gesundheitlichen Auswirkungen führen. Die Bewältigung von Belastungen stellt selbst einen dynamischen Prozess dar, der sowohl einen kompensierenden wie auch verschärfenden Effekt haben kann. Das Bewältigungshandeln des Einzelnen („coping“) hängt von den Freiheits- und Handlungsspielräumen in der Arbeit ab und wird außerdem bestimmt von den sonstigen Lebensbedingungen wie Familiensituation, Wohnverhältnisse usw. Es deckt in seiner konkreten Ausprägung ein sehr breites Spektrum ab: Es reicht vom passiven Erleiden der Arbeitssituation, Medikamentenkonsum, verstärkten Alkohol- und Tabakkonsum über gesundheitsbewusstes Verhalten außerhalb der Arbeit bis hin zum betrieblichen und gewerkschaftlichen Engagement zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen. Das der Arbeit und den Arbeitsbedingungen innewohnende Belastungspotenzial wird hinsichtlich seiner Gesundheitsgefahren aus zwei Gründen systematisch unterschätzt. Zum einen vermeiden bzw. verlassen die Beschäftigten selbst, soweit ihnen das möglich ist, frühzeitig Berufe und Tätigkeiten, die sie körperlich oder nervlichpsychisch überfordern. Zum anderen gibt es eine gezielte Selektion durch die Betriebe bei der Personalauswahl. Dieser gleichsam selbst- und fremdgesteuerte Ausleseprozess sorgt dafür, dass hochbelastende Arbeitsplätze von vornherein mit Personen besetzt werden, die den Belastungen weit besser gewachsen sind als der Durchschnitt. Dieser „Healthy-worker-Effekt“ muss bei der folgenden Darstellung von ausgewählten belastenden Arbeitsbedingungen und ihren gesundheitlichen Folgewirkungen berücksichtigt werden. 1.1.1 Dauer, Lage und Verteilung der Arbeitszeit

Die Arbeitszeit steckt den zeitlichen Rahmen ab, in dem sich die Belastungen etwa aus der Arbeitsumgebung und dem Arbeitsvollzug auswirken können. Außerdem wirkt sie dadurch belastungsbeeinflussend, dass sie die zur Regeneration der Arbeitskraft potenziell verbleibende Zeit begrenzt. Je höher der Grad der Ausnutzung des physischen und psychischen Leistungsvermögens der Arbeitenden, umso mehr arbeitsfreie Zeit zur Erholung ist notwendig. In dem Maße, wie eine vollständige Regenerierung mittel- bzw. langfristig aufgrund hoher Belastung und langer Arbeitszeiten unmöglich ist, steigt die Gefahr einer Schädigung der Arbeitskraft. Eine lange Dauer bzw. ungünstige Lage oder Verteilung der Arbeitszeit erhöht darüber hinaus die unmittelbare Gesundheitsgefährdung. Generell gilt: Je höher die arbeitszeitinduzierte Belastung, desto größer die materiellen und immateriellen Reproduktionserfordernisse der betroffenen Arbeitnehmer:innen und damit auch die prägende Wirkung des gesamten Arbeitszeitarrangements auf den Reproduktionsbereich.

588

Arbeit und Gesundheit

Arbeitszeitdauer Die Entwicklung der Arbeitszeit wird maßgeblich bestimmt von den Arbeitszeitstandards. Die tarifvertraglich vereinbarten Arbeitszeiten zeigen das andauernde, wenn auch nicht immer gleichermaßen erfolgreiche Bemühen der Gewerkschaften um die Verkürzung der Arbeitszeit. So sank die durchschnittliche tarifliche Wochenarbeitszeit (Vollzeit) für die Arbeitnehmer:innen in den alten Bundesländern von 44,6 Stunden im Jahr 1960 über 40,1 Stunden im Jahr 1980 auf 37,4 Stunden im Jahr 2000 und 37,6 Stunden im Jahr 2018. In den neuen Bundesländern beträgt 2018 die tarifliche Wochenarbeitszeit 38,7 Std. (vgl. Kapitel „Arbeit und Arbeitsmarkt“, Pkt. 4.3.4). Die tariflichen Arbeitszeiten prägen die tatsächlichen Arbeitszeiten aufgrund der rückläufigen Tarifbindung allerdings nur noch für rund die Hälfte der Beschäftigten. Für die andere Hälfte gilt im günstigsten Fall eine Orientierung an den tariflichen Standards oder eine Arbeitszeit im Rahmen des Arbeitszeitgesetzes. Um ein realistisches Bild von der tatsächlich geleisteten Arbeitszeit zu gewinnen, müssen neben der vertraglichen Arbeitszeit außerdem auch die geleisteten Mehrarbeitsstunden berücksichtigt werden. Sie beliefen sich 2018 im Durchschnitt auf 52 Überstunden, davon je zur Hälfte bezahlt bzw. unbezahlt. Die tatsächlich geleistete Arbeitszeit muss zudem berücksichtigen, dass es eine hohe und wachsende Zahl von Beschäftigten mit Nebentätigkeiten gibt; in Form von Mini-Jobs oder selbstständiger Arbeit neben der abhängigen Arbeit. Auch die Berücksichtigung der gesamten effektiv geleisteten Arbeitszeit je Beschäftigten gibt noch keine Auskunft darüber, wieviel Stunden am Tag die Beschäftigten durch ihre Arbeit insgesamt beansprucht werden. Das relevante Maß ist hier die so genannte arbeitsgebundene Zeit, die vom Verlassen der Wohnung bis zur Heimkehr nach der Arbeit reicht, also An- und Abfahrt, Pausen und Rüstzeiten mit einschließt. Schließlich bleibt zu berücksichtigen, dass beim Bezug allein auf die Erwerbsarbeit übersehen wird, welche zusätzlichen zeitlichen Belastungen noch durch die Familien- und Hausarbeit entstehen, die nach wie vor allem von den Frauen übernommen wird. Lage und Verteilung der Arbeitszeit Arbeitszeitformen, die von der normalen Tagesarbeitszeit abweichen, sind in Deutschland weit verbreitet. Dies hängt zum einen mit strukturellen Veränderungen der Wirtschafts- und Arbeitsprozesse zusammen, ist aber auch eine Folge von veränderten Arbeitszeitwünschen der Beschäftigten. Es können daher nicht alle Abweichungen automatisch als Belastungsfaktoren gewertet werden. Knapp die Hälfte der Erwerbstätigen (49 %) arbeiten am Wochenende, am Abend, in Nacht oder in Wechselschicht, 51,1 % der Männer und 45,4 % der Frauen. Deutlich über ein Drittel der Beschäftigten arbeiten Samstags, mehr als ein Fünftel an Sonnund Feiertagen (vgl. Tabelle VII.1) Diese abweichenden Arbeitszeitformen sind dabei sehr ungleichmäßig über die Wirtschaftszweige verteilt.

Gesundheitsgefährdungen in der Arbeitswelt

589

Tabelle VII.1 Erwerbstätige nach Lage der Arbeitszeit 2017 Insgesamt

Männer

Frauen

in 1000

in %

in 1000

in %

in 1000

in %

Erwerbstätige

41 641

100,0

22 727

100,0

19 369

100,0

Dar.: Samstags-, Sonn-/Feiertags-, Abend-/Nachtarbeit bzw. Wechselschicht

20 412

49,0

11 614

51,1

8 798

45,4

Samstagsarbeit

16 132

38,7

8 295

36,5

6 837

35,3

8 873

21,3

4 866

21,4

4 007

20,7

Abendarbeit

14 739

35,4

8 675

38,2

6 064

31,3

Nachtarbeit

4 502

10,8

3 096

13,6

1 406

7,3

Wechselschicht

5 689

13,7

3 262

14,4

2 427

12,5

Sonn- und/oder Feiertagsarbeit

Quelle: Statistisches Bundesamt, Fachserie 1 Bevölkerung und Erwerbstätigkeit, Reihe 4.1, 2017, Wiesbaden 2018.

Nachtarbeit und einige Formen der Schichtarbeit wie Dreischicht- und vollkontinuierliche Schichtarbeit sind gravierende Belastungsfaktoren mit pathogenen Wirkungen. Da der Mensch auch nach langer Gewöhnungszeit nicht in der Lage ist, seinen biologischen Tagesrhythmus auf Nachtschicht- und Wechselschichtarbeit umzustellen, arbeiten die Schichtbeschäftigten gegen ihre „innere Uhr“ und werden noch dazu durch den Wechsel der Schichtzeit (Schichtlage) belastet. Hinzu kommt, dass die Schlafbedingungen von Schichtarbeitern erheblich ungünstiger als normal sind: Der Tagschlaf ist deutlich kürzer als der Nachtschlaf, und seine Qualität ist z. B. wegen der häufigen Störungen erheblich schlechter. Das daraus resultierende Schlafdefizit ist selbst ein zusätzlicher Belastungsfaktor. Außerdem sind sowohl physische wie auch psychische Belastungsmomente bei Schichtarbeiter:innen in wesentlich stärkerem Maße ausgeprägt als bei Beschäftigten, die selten oder nie in Schicht arbeiten. Neben Schlafstörungen gibt es zahlreiche Befindlichkeitsstörungen und Erkrankungen, die für Schichtarbeiter typisch sind. Dazu zählen chronische Appetitstörungen, Störungen der Magen- und Darmfunktionen u. a. Außerdem verstärkt die Schichtarbeit Herz-Kreislauf-Beschwerden. Dort, wo Schichtarbeit bei gefährlichen Tätigkeiten geleistet wird, erhöht sich das Unfallrisiko, so z. B. bei Transport- und Verkehrsberufen, für Instandhaltungs- und Reparaturtätigkeiten oder für die Bedienung von Maschinen. Nacht- und Schichtarbeit haben schließlich problematische soziale Folgen für das Familienleben, die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben und die individuelle Freizeit. Neben der Nacht- und Schichtarbeit können auch andere, von der Normalarbeitszeit abweichende flexible Arbeitszeitformen besondere Belastungen nach sich ziehen.

590

Arbeit und Gesundheit

So hat sich die seit Mitte der 1980er Jahre realisierte Verkürzung der tariflichen Wochenarbeitszeit in zahlreichen Wirtschaftszweigen ambivalent ausgewirkt: Zum einen hat sie zweifellos entlastende Wirkungen entfaltet, zum andern haben sich bei der betriebspraktischen Umsetzung besondere Formen der (belastenden) Arbeitszeitflexibilisierung herausgebildet. Diese orientieren sich an den konjunkturellen, saisonalen und branchenspezifischen Produktions- und Nachfrageschwankungen und dem daraus resultierenden variablen Personalbedarf. In vielen Branchen gibt es Arbeitszeitkorridore mit Schwankungsbreiten der regelmäßigen Arbeitszeit von 5 und mehr Stunden in der Woche. Die vorgeschriebene wöchentliche Arbeitszeit muss zumeist lediglich im Durchschnitt eines Ausgleichszeitraums von einem Jahr oder noch länger erreicht werden. Zu diesen Variationsmöglichkeiten der regelmäßigen Arbeitszeit kommt das Flexibilitätspotenzial der Mehrarbeit noch hinzu. Darüber hinaus bestehen in einigen Bereichen bereits traditionell belastende Arbeitszeitmuster. Im Hotel- und Gaststättengewerbe existiert beispielsweise häufig eine gespaltene Arbeitszeit, der Teilschichtdienst, bei dem die Arbeitszeit durch eine lange, mehrstündige Pause unterbrochen wird. Im Einzelhandel ist vor allem die Arbeit auf Abruf, bei der auf der Grundlage individueller Arbeitsverträge Beschäftigungsverhältnisse mit variabler Dauer und Lage vereinbart werden, weit verbreitet. Beginn und Ende der Arbeitszeit werden dabei in der Regel kurzfristig festgelegt. 1.1.2 Belastungen aus der Arbeitsumgebung und aus dem Arbeitsvollzug

Die konkrete Ausgestaltung der Arbeitsumgebung sowie Formen und Inhalt des Arbeitsvollzugs selbst bilden wesentliche Bestandteile der Arbeitsbedingungen der Beschäftigten. Dazu gehören beispielsweise das Klima, der Lärm, gefährliche Arbeitsstoffe, körperliche Schwerarbeit, Zwangshaltungen, taktgebundene Arbeiten, konzentrationsfordernde monotone Arbeiten usw. Immer noch ist eine große Zahl von Arbeitnehmer:innen diesen Belastungen ausgesetzt. Tabelle VII.2 zeigt den Gesamtverbreitungsgrad belastender Arbeitsanforderungen und seine Entwicklung seit Ende der 1990er Jahre. Im Jahr 2018 musste ein gutes Fünftel (23 %) der Beschäftigten schwere Lasten heben und tragen, ein Viertel (25 %) arbeitete häufig unter Lärm, 20 % unter ungünstigen klimatischen Bedingungen. 17 % mussten körperliche Zwangshaltungen einnehmen, waren Schmutz, Dreck, Staub ausgesetzt, 17 % arbeiteten mit Öl oder Fett. Typisch waren Mehrfachbelastungen. Knapp die Hälfte der Erwerbstätigen ist ständig starkem Termin- und Leistungsdruck ausgesetzt, fast ebenso viele müssen häufig repetitive Tätigkeiten ausführen. 16 % geben an, häufig bis an die Grenze der Leistungsfähigkeit zu gehen. Gesundheitsgefährdende Belastungen entstehen nicht allein aus der technisch-arbeitsorganisatorischen Anforderungsstruktur. Sie erschließen sich in ihrer Gesamtheit nur, wenn auch die Auswirkungen der betrieblichen Leistungspolitik berücksichtigt werden. Mit unterschiedlichen Mitteln und Methoden wird je nach Tätigkeit und

Gesundheitsgefährdungen in der Arbeitswelt

591

Tabelle VII.2 Auftreten von körperlichen und psychischen Arbeitsbelastungen Arbeitsbelastungen

1998/19991)

2005/20061)

20122)

20182)

in %

in %

in %

in %

Arbeiten im Stehen

38

56

54

54

Schwere Lasten (mehr als 20/10 kg bei M/F) heben oder tragen

27

23

22

23

Kälte Hitze, Nässe, Zugluft

21

21

20

20

Unter Lärm arbeiten

21

24

24

25

Körperliche Zwangshaltung

19

14

17

17

Öl, Fett, Schmutz, Dreck

18

18

16

17

Tragen von Schutzkleidung

17

21

26

k. A.

Rauch, Staub, Gase, Dämpfe

15

14

12

12

Gefährliche Stoffe, Strahlungen

6

7

10

k. A.

Starker Termin-/Leistungsdruck

50

54

52

48

ständig wiederkehrende Arbeitsvorgänge

45

51

48

46

Störungen bei der Arbeit

34

46

43

45

Arbeitsdurchführung bis in alle Einzelheiten vorgeschrieben

31

23

25

25

Kleine Fehler – große finanzielle Verluste

29

15

17

k. A.

Leistungsvorgaben (Stückzahl, Mindestleistung, Zeit)

26

31

30

29

bis an die Grenzen der Leistungsfähigkeit

20

17

17

16

1) von der Arbeitsbelastung sind … % oft oder immer betroffen 2) kommt häufig vor bei … % Quelle: Wittig, P., Nöllenheidt, Ch., Brenscheidt, S., Grundauswertung der BIBB/BAuA-Erwerbstätigenbefragung 2012, BAUA, Dortmund, Berlin, Dresden 2013; Bundesministerium für Arbeit und Soziales, Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit 2005, S. 203 | 1998/1999: Jansen, R., Arbeitsbedingungen, Arbeitsbelastungen und Veränderungen auf betrieblicher Ebene, in: Dostal, W., Jansen, R., Parmentier, K. (Hrsg.), Wandel der Erwerbsarbeit: Arbeitssituation, Informatisierung, berufliche Mobilität und Weiterbildung. BeitrAB 231, Nürnberg 2000, S. 39 ff.; Lück, M. u. a. Grundauswertung der BIBB/ BAuA-Erwerbstätigenbefragung 2018, Dortmund 2019.

Arbeitsbereich ein bestimmtes, von den Beschäftigten zu erreichendes Leistungsniveau festgelegt. Je höher das zu erfüllende Arbeitssoll, umso größer sind auch die Arbeitsintensität und damit letztlich die real existierenden Belastungen. Ein wesentliches Instrument der betrieblichen Leistungspolitik sind die zahlreichen Verfahren der leistungs- und ergebnisbezogenen Lohn- und Einkommensfindung. Die betrieblichen und tarifpolitischen Konflikte um Lohn und Leistung sind

592

Arbeit und Gesundheit

deshalb nicht nur Auseinandersetzungen um das Arbeitseinkommen, sondern immer auch um das Ausmaß und die Intensität der Arbeitsbelastungen (vgl. auch Kapitel „Arbeitsbeziehungen“, Pkt. 4.3). Leistungsverdichtung wird von den Unternehmen aber nicht nur über die Beeinflussung des Lohn-Leistungs-Verhältnisses angestrebt, auch die anderen Konzepte zur wirksameren betrieblichen Arbeitskräftenutzung können belastungsrelevante Auswirkungen haben: •

Dazu gehören z. B. personalwirtschaftliche Rationalisierungsmaßnahmen, die ausgehend von einer „Personalpolitik der unteren Linie“ durch Reduzierung der Stammbelegschaften über den verstärkten Einsatz von Fremdfirmen und Leiharbeit, befristete und geringfügige Arbeitsverhältnisse die Kosten senken und den Personaleinsatz effektivieren wollen. • Ferner sind innerbetriebliche Organisationskonzepte z. B. nach der Profit- bzw. Cost-Center-Methode zu nennen, die den leistungspolitischen Zugriff auf die Beschäftigten in den einzelnen Betriebsteilen erhöhen. • Die auf zunehmender Digitalisierung basierenden beschleunigten Veränderungsprozesse in Betrieben und Unternehmen führen vielfach zu Arbeitsintensivierung. • Von Bedeutung ist schließlich auch, wie die Betriebe und Unternehmen generell mit Krankheit und Arbeitsunfähigkeit der Beschäftigten umgehen. Hier reicht das Spektrum des Verhaltens von harter negativer Sanktionierung über Nichtzurkenntnisnahme bis hin zu Maßnahmen verhaltensbezogener gesundheitlicher Prävention und einem systematischen betrieblichen Gesundheitsmanagement (siehe Pkt. 5.3 dieses Kapitels). Insgesamt gilt: Der betriebliche Umgang mit Arbeitsbedingungen, Belastungen und Krankheit sowie erkrankten Beschäftigten ist auch Ausdruck der „betrieblichen Sozialverfassung“, also des Charakters der Gesamtheit der Beziehungen zwischen Betriebs- oder Unternehmensleitung einerseits und den abhängig Beschäftigten und ihrer Interessenvertretung andererseits. 1.2

Art und Ausmaß der Gesundheitsgefährdungen

Das Belastungsgeschehen in seiner Gesamtheit führt nicht unmittelbar und zwangsläufig zu gesundheitlichen Beeinträchtigungen oder Schäden der betroffenen Beschäftigten. Seine gesundheitlichen Auswirkungen hängen wesentlich von den individuellen und auch kollektiven Verarbeitungs- und Bewältigungsmöglichkeiten ab. Es gehört zu den typischen Erscheinungsformen des sozial und beruflich sehr ungleich verteilten Belastungsgeschehens, dass es Wirkungsketten wie „belastungsbedingte verminderte Leistungsfähigkeit → geringeres Einkommen → schlechtere Reproduktionschancen“ usw. hervorruft.

Gesundheitsgefährdungen in der Arbeitswelt

593

Die gesundheitsbezogenen Wirkungen der Arbeitsbedingungen können akut und kurzfristig auftreten (z. B. Arbeitsunfälle), sie zeigen sich aber vor allem als Folgen eines langfristigen (Verschleiß-)Prozesses. Dieser kann sich in einem breiten Spektrum von Gesundheitsbeeinträchtigungen äußern, das von dauerhaften Befindlichkeitsstörungen über arbeitsbedingte Erkrankungen einschließlich der offiziell anerkannten Berufskrankheiten bis zu dauerhafter Invalidität und vorzeitigem Tod reicht. 1.2.1 Arbeitsunfähigkeit und arbeitsbedingte Erkrankungen

Zahlreiche Untersuchungen belegen, dass ein Großteil der Arbeitnehmer:innen an gesundheitlichen Beeinträchtigungen im Vorfeld offenkundiger Gesundheitsstörungen und Erkrankungen leidet, die im engen Zusammenhang mit den Belastungen ihrer Erwerbstätigkeit stehen. Ihre Ermittlung bedarf der subjektiven Einschätzung und Beurteilung des Gesundheitszustandes durch die Betroffenen selbst. Diese Selbstbeurteilung ermöglicht und erleichtert das frühzeitige Aufspüren von besonderen Belastungs- und Verschleißschwerpunkten, die dann zum Gegenstand gezielter präventiver Maßnahmen gemacht werden können. Erkrankungen, die – basierend auf einer ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung – zu einer Arbeitsunfähigkeit führen, sind keineswegs nur eine Folge von Belastungen und Beanspruchungen in der Arbeitswelt, sondern lassen sich auf verschiedene Gründe und Faktoren zurückführen. Gleichwohl ergeben sich Hinweise auf enge Zusammenhänge zwischen dem Krankenstand, der Lage auf dem Arbeitsmarkt allgemein und der Stellung der Beschäftigten im Erwerbsprozess und ihrer beruflichen Tätigkeit im Besonderen. Als arbeitsbedingte Erkrankungen können solche Krankheiten gelten, die durch bestimmte berufs- und tätigkeitsspezifische Belastungen hervorgerufen oder zumindest teilweise mitverursacht werden. Sie sind immer dann zu vermuten, wenn Krankheiten unter Angehörigen bestimmter Berufs- und Tätigkeitsgruppen signifikant häufiger vorkommen als im Durchschnitt der Erwerbstätigen oder der Bevölkerung. Allerdings ist nur ein kleiner Teil der arbeitsbedingten Krankheiten sozialversicherungsrechtlich als Berufskrankheit anerkannt und begründet insofern Entschädigungsansprüche in Form von Unfallrenten (vgl. Pkt. 4.1 dieses Kapitels). Verfolgt man die Entwicklung des Krankenstands in der Gesamtwirtschaft, so zeigt sich im langfristigen Verlauf (1970 – 2018) eine insgesamt deutlich rückläufige Entwicklung (vgl. Abbildung VII. 1). Im Jahr 2018 lag der Krankenstand der Arbeitnehmer:innen bei 4,2 %. Dieser Wert besagt, dass im Jahresdurchschnitt 4,2 % der in den gesetzlichen Krankenkassen pflichtversicherten Arbeitnehmer:innen als arbeitsunfähig gemeldet waren. Demgegenüber wurden in den 1970er und 1980er Jahren noch Quoten um 5,5 % registriert. Für diese rückläufige Entwicklung gibt es verschiedene Gründe: Neben der Verbesserung des allgemeinen Gesundheitszustandes, der auch im Anstieg der Lebenserwartung zum Ausdruck kommt, wirken sich Veränderungen der Arbeitswelt po-

594

Arbeit und Gesundheit

Abbildung VII.1 Entwicklung des Krankenstands 1995 – 2018 – Arbeitsunfähigkeit der Pflichtmitglieder der GKV in % 6

5

5,08

5

4,19

4,27

4,20

4,19

4,25

4 3,83 3,61

3,78

3,85

3,66

4 3,40 3,22 3

1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018

Quelle: Gesundheitsberichterstattung des Bundes (GBE): Gesetzliche Krankenversicherung, Mitglieder, mitversicherte Angehörige und Krankenstand, Berlin.

sitiv aus. Zu nennen sind vor allem der Rückgang der Schwerindustrie und des Bergbaus, die Erfolge beim Arbeits-und Gesundheitsschutz und die verkürzten Arbeitszeiten. Darüber hinaus hat es in vielen Betrieben Anstrengungen zur Senkung des Krankenstandes gegeben, die mittelfristig Wirkung gezeitigt haben. Dazu gehören Instrumente wie die sog. Krankenrückkehrgespräche, aber auch Maßnahmen der betrieblichen Gesundheitsförderung, die auf das individuelle Gesundheitsverhalten wie auch auf die Gestaltung der Arbeitsbedingungen abzielen (vgl. Punkt 5 dieses Kapitels). Die Höhe des Krankenstandes wird aber auch durch die Lage auf dem Arbeitsmarkt beeinflusst. In Zeiten hoher Arbeitslosigkeit verzichten viele Arbeitnehmer:innen aus Sorge um den Verlust des Arbeitsplatzes auf notwendige Krankmeldungen; auch missbräuchliche Krankmeldungen nehmen ab. Einen weiteren Einfluss haben betriebliche Selektionsprozesse: Die Unternehmen versuchen, sich bei Personalabbaumaßnahmen von weniger leistungsfähigen, häufig kranken Beschäftigten zu trennen bzw. sich bei Neueinstellungen auf jüngere Mitarbeiter zu konzentrieren. Die Belegschaft wird dadurch im Schnitt „gesünder“. Der leichte Wiederanstieg des Krankenstandes seit 2008 ist ebenfalls auf mehrere Faktoren zurückzuführen. Von besonderer Bedeutung ist die fortlaufende Ent-

Gesundheitsgefährdungen in der Arbeitswelt

595

spannung auf dem Arbeitsmarkt, denn der Druck am Arbeitsplatz und die Sorge um Kündigungen haben nachgelassen. Auch wirkt sich die steigende Erwerbsbeteiligung Älterer aus: Die Unternehmen beschäftigen vermehrt Ältere, der Altersdurchschnitt der Belegschaften steigt. Ältere sind zwar nicht häufiger krank als Jüngere, die Dauer der Arbeitsunfähigkeit ist aber höher, so dass die Fehlzeiten insgesamt höher ausfallen. Während im Jahr 2018 auf 100 Beschäftigte in der Altersgruppe zwischen 20 bis 24 Jahren rund 231 Arbeitsunfähigkeitsfälle mit einer Dauer von durchschnittlich jeweils 6,1 Tagen Arbeitsunfähigkeit entfielen, kamen 100 Beschäftigte der Altersgruppe zwischen 60 bis 64 Jahren auf nur rund 181 Arbeitsunfähigkeitsfälle, allerdings hier mit einer Dauer von durchschnittlich jeweils 21 Tagen Arbeitsunfähigkeit (vgl. Abbildung VII.2). Dies liegt zum einen daran, dass Ältere häufiger von mehreren Erkrankungen gleichzeitig betroffen sind (Multimorbidität), aber auch daran, dass sich das Krankheitsspektrum mit zunehmendem Alter verändert und Muskel- und Skeletterkrankungen sowie Herz-und Kreislauferkrankungen in den Vordergrund rücken, die jeweils mit langen Ausfallzeiten verbunden sind. Differenzierte Auswertungen der Arbeitsunfähigkeitsfälle machen deutlich, dass es nicht „den“ Krankenstand gibt und Durchschnittswerte nur begrenzt aussagefähig sind. Zu unterscheiden ist zwischen einzelnen Branchen und Berufen. Abbil-

Abbildung VII.2 Arbeitsunfähigkeitsfälle und -dauer von AOK-Mitgliedern nach Lebensalter 2018, AU-Fälle je 100 Mitglieder und Tage je Fall 283,3

AU-Fälle je 100 Versicherte

AU-Tage je Fall

250

20,9 20

Tage je Fall

230,9 17,3

200

171,1

13,2

161,0

11,2

155,7

152,0

152,2

154,4

170,9

150

181,1

15,3

15

10 8,8

100

10,0

7,7 6,1 50

0

5

5,0

15 - 19

20 - 24

25 - 29

30 - 34

35 - 39

40 - 44

45 - 49

50 - 54

55 - 59

Altersgruppen

Quelle: Badura, B. u. a. (Hrsg.) (2019), Fehlzeiten-Report: Daten und Analysen, Berlin, Heidelberg, S. 431.

60 - 64

0

596

Arbeit und Gesundheit

Abbildung VII.3 gruppen 2018

Arbeitsunfähigkeitstage von AOK-Mitgliedern nach ausgewählten Berufs-

4,6

Berufe in der Hochschullehre und - forschung

Bundesdurchschnitt: 19,4 Tage

7,7

Berufe in der Softwareentwicklung Ärzte/Ärztinnen

8,0

Berufe in der techn. Forschung und Entwicklung

8,0 8,8

Berufe in der IT-Anwendungsberatung Berufe im Controlling

9

Berufe in Werbung und Marketing

9,2 9,5

Berufe in der Kosmetik Geschäftsführer/innen und Vorstände

10,1

Berufe in der Konstruktion und im Gerätebau

10,3

Berufe in der Altenpflege

27,7

Berufe in der Papierverarbeitung

27,8 28,1

Berufe im Dialogmarketing Bus- und Straßenbahnfahrer/innen

29,4

Berufe in der spanlosen Metallbearbeitung

29,4

Platz- und Gerätewarte

29,4 30,0

Berufe in der industriellen Gießerei

31,4

Straßen- und Tunnelwärter/innen

32,5

Berufe in der Ver- und Entsorgung 0

3

6

9

12

15

18

21

24

27

30

33

Quelle: Badura, B. u. a. (Hrsg.) (2019), Fehlzeiten-Report: Daten und Analysen, Berlin, Heidelberg, S. 440.

dung VII.3 zeigt die Zahl der Arbeitsunfähigkeitstage nach Berufsgruppen im Jahr 2018. Die Unterschiede zwischen den Berufen fallen so groß aus, dass mit Sicherheit angenommen werden kann, dass die Arbeitsbedingungen und -belastungen dafür mit ursächlich sind. So beläuft sich die Zahl der AU-Tage bei den Berufen in der Ver- und Entsorgung auf 32,5, bei den Berufen in der Softwareentwicklung dagegen nur auf 7,7. Qualitative Analysen kommen zudem zu dem Ergebnis, dass es erhebliche Unterschiede zwischen Betrieben derselben Branche gibt und dass auch Abweichungen zwischen einzelnen Abteilungen zu verzeichnen sind. Dies verweist auf die Bedeutung des betrieblichen Bemühens um gute Arbeitsbedingungen, ein gutes Arbeitsklima und ein gutes Führungsverhalten der Vorgesetzten. 1.2.2 Belastungskumulation und Berufskrankheiten

Das Ausmaß arbeitsbedingten Gesundheitsverschleißes nimmt erheblich zu, wenn eine Belastungskumulation über ein ganzes Arbeitsleben hinweg erfolgt und so ein Aufschaukelungsprozess von Belastung und Gesundheitsbeeinträchtigung zustande kommt. Die Stärke des Zusammenhangs von Arbeitstätigkeit und Gesundheitsgefährdung wird allerdings vielfältig überlagert und gebrochen z. B. durch:

Gesundheitsgefährdungen in der Arbeitswelt

• • • • • • •

597

Berufs- und Tätigkeitswechsel, mit der Folge, dass viele Arbeitnehmer:innen belastende Arbeitsplätze verlassen, bevor die Belastungswirkungen sichtbar werden, die selektive Wirkung von arbeitsmedizinischen Einstellungs- und Vorsorgeuntersuchungen, die Selbstselektion z. B. bei Schichtarbeitern, die dadurch zustande kommt, dass leistungsgeminderte und ältere Arbeitnehmer:innen sich kaum für Schichtarbeitsplätze bewerben, die Unterbrechung der Erwerbstätigkeit von Frauen, individuelle Reduzierung der Arbeitszeit, Wechsel von Vollzeit auf Teilzeit, Phasen der Arbeitslosigkeit; gesundheitlich beeinträchtigte Arbeitnehmer:innen haben ein höheres Zugangs- wie Verbleibsrisiko in Arbeitslosigkeit, Bezug einer Erwerbsminderungsrente und vorzeitige Inanspruchnahme einer Altersrente mit der Folge, dass gesundheitlich beeinträchtigte Beschäftigte frühzeitig aus dem Erwerbsprozess ausscheiden.

Längsschnittuntersuchungen mit dem Ziel, Abfolge und Zusammenhang von Belastungen und gesundheitlichen Folgewirkungen über die Zeit herauszuarbeiten, kommen zu dem Ergebnis, dass es eine hohe Konzentration von schwerwiegenden arbeitsbedingten Gesundheitsrisiken auf eine sehr kleine Gruppe von abhängig Beschäftigten gibt, denen ein Ausbruch aus der Wirkungskette „Belastung – gesundheitliche Beeinträchtigung – berufliche Benachteiligung“ nur selten gelingt. Arbeitsschutz und betriebliche Gesundheitsförderung müssen sich daher vorrangig auf diese Gruppen und Tätigkeitsbereiche konzentrieren. Bei Berufskrankheiten handelt es sich um solche Krankheiten, „die nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft durch besondere Einwirkungen verursacht sind, denen bestimmte Personengruppen durch ihre versicherte Tätigkeit in erheblich höherem Grade als die übrige Bevölkerung ausgesetzt sind“ (§ 9 Absatz 1 SGB VII). Sie begründen versicherungsrechtliche Entschädigungsansprüche in Form von Unfallrenten. Im Jahr 2017 wurden etwa 21 800 Berufskrankheiten anerkannt. Diese Zahl stieg seit etwa 2008 (13 500) langsam an. Im Vergleich zu 1995 zeigt sich jedoch ein deutlicher Rückgang. Sehr viel höher als die anerkannten Krankheiten liegen die angezeigten Fälle: 2017 zeigt sich ein Verhältnis von 79 774 zu 21 772. Das heißt, dass nur rund 27 % der angezeigten Fälle auch tatsächlich anerkannt werden (vgl. Abbildung VII.4). Die statistisch erfassten Berufskrankheiten unterzeichnen damit das faktische Ausmaß des Berufskrankheitengeschehens, da sie vom Anzeigeverhalten der (Betriebs-) Ärzte, Arbeitgeber und Arbeitnehmer:innen abhängen. Es zeigt sich weiter, dass die Zahl der Verdachtsfälle und der Entschädigungsfälle weit auseinander klafft. Ursächlich dafür ist nicht nur der Tatbestand, dass in immer größerem Umfang bereits dann eine Anzeige gemacht wird, wenn erste Verdachtsmomente vorliegen, ohne dass bereits Arbeitsunfähigkeit besteht, sondern auch der vielfach beklagte Tatbestand einer restriktiveren Anerkennungspraxis der Berufsgenossenschaften als Träger der ge-

598

Arbeit und Gesundheit

Abbildung VII.4

Entwicklung der Berufskrankheiten 1995 – 2017 Angezeigte Verdachtsfälle

79.774

80.163

81.702

75.102

73.574

73.574

73.425

21.772

2016

5.064

5.458

2015

22.320

2014

5.180 18.041

2012

5.277 16.969

2012

5.053 15.949

2010

5.053 15.949

2008

6.202 15.926

2006

4.488 13.546

4.940 14.732

2004

63.757

64.182

2002

5.217 17.413

2000

5.684 18.352

5.570 18.689

1999

63.812

71.008

5.993 19.402

7.588

7.867 23.432

24.298

1997

Neue Berufskrankheitenrenten

81.542

83.738

88.797

91.561 1995

Anerkannte Berufskrankheiten

2017

Quelle: Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (zuletzt 2018), Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit.

setzlichen Unfallversicherung. Außerdem werden nur in ganz geringem Umfang Berufskrankheiten nach § 9 (2) SGB VII bestätigt. Dieser Paragraf ermöglicht eine Entschädigung von arbeitsbedingten Erkrankungen auch dann, wenn sie nicht in der Berufskrankheitenliste enthalten sind, aber über sie neue einschlägige Erkenntnisse vorliegen. Die offizielle Berufskrankheitenliste, die zuletzt 2017 erweitert wurde, umfasst 80 Krankheiten. Ihr liegt ein restriktives, weitgehend naturwissenschaftliches Verursachungsmodell zugrunde, das Krankheitsfolgen nur aufgrund bestimmter physikalischer oder chemischer Einflüsse (Noxen) anerkennt. Tabelle VII.3 zeigt die häufigsten Berufskrankheiten. Gesundheitliche Beanspruchungen, die etwa aus arbeitsorganisatorischen Bedingungen, psychischen Belastungsfaktoren wie hohe Verantwortung, Zeitdruck u. ä. oder Mehrfachbelastungen resultieren, bleiben ausgeklammert. Die Entwicklung der Berufskrankheiten kann daher auch nicht als Indikator für die Gesamtentwicklung arbeitsbedingter Gesundheitsgefährdung gewertet werden.

Gesundheitsgefährdungen in der Arbeitswelt

599

Tabelle VII.3 Angezeigte Verdachtsfälle und anerkannte Berufskrankheiten 2017 Berufskrankheiten

Angezeigte Fälle

Anerkannte Fälle

Insgesamt

79 774

21 772

Hauterkrankungen

21 402

520

Lärmschwerhörigkeit

12 995

6 849

Hautkrebs durch UV-Strahlung

8 557

5 318

Lendenwirbelsäule, Heben und Tragen

5 280

425

Lungen-/Kehlkopfkrebs, Asbest

5 038

785

Asbestose

3 465

1 955

Infektionskrankheiten

1 979

983

Neubildungen der Harnwege

1 713

209

Atemwegserkrankungen, allergisch

1 678

373

darunter:

Quelle: Bundesministerium für Arbeit und Soziales (Hrsg.), Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit 2017, Berlin 2018, S. 37.

1.2.3 Arbeitsunfälle

Die Zahl der Arbeitsunfälle ist in den vergangenen Jahrzehnten stark zurückgegangen. Der rückläufige Trend ist nicht allein ein Erfolgsausweis des Arbeitsschutzes. Eine gewichtige, für bestimmte Zeiträume ausschlaggebende Rolle spielen insbesondere folgende Faktoren: • Veränderung der Branchenstruktur, die zum Rückgang von Branchen mit besonders unfallträchtigen Tätigkeiten geführt hat, • Veränderung der Sozialstruktur der Erwerbstätigen mit einer erheblichen Zunahme des Anteils weniger von Arbeitsunfällen gefährdeter Angestellten, • Abbau von unfallträchtigen Überstunden sowie • Veränderungen im Unfallmeldeverhalten. Die Betroffenheit von Arbeitsunfällen ist je nach Berufstätigkeit und Branchenzugehörigkeit sehr unterschiedlich. Abbildung VII.5 zeigt, dass 2017 an der Spitze die der Berufsgenossenschaft Bau mit 54 meldepflichtigen Arbeitsunfällen je 1 000 Vollzeit-Arbeitnehmer:innen stand, gefolgt von der BG Verkehrswirtschaft, Post-Logistik, Telekommunikation mit 43 und der BG Holz und Metall mit 35 Arbeitsunfällen je 1 000 Vollzeitbeschäftigten. Am Ende standen die BG Verwaltung mit 12 und die

600

Arbeit und Gesundheit

112,0 110,0

Abbildung VII.5 Meldepflichtige Arbeitsunfälle nach ausgewählten Bereichen 1990 – 2017 je 1 000 Beschäftigten (Unfallquote)

1990

90,0

100

0

2010

2015

2017

51,0

28,0 23,0

25,0 27,0 22,9 23,1

36,0 33,0

41,0 43,0 42,6 43,0

44,0

44,0 43,0 37,0 34,6

16,0 13,0 16,0 15,9 15,7

20,0 19,0 18,3 18,1 Rohstoffe und chemische Industrie

57,0 58,0

55,5 53,6

50,0 43,0 31,0 20

2005

67,0 67,0

70,0 58,0

60

40

2000

82,0

80

1995

Holz und Metall

Bau

Handel und Warenlogistik

Verkehr

Gesundheitsdienste, Wohlfahrtspflege

Quelle: Hauptverband der gewerblichen Berufsgenossenschaften (Hrsg.), Geschäfts- und Rechnungsergebnisse, verschiedene Jahrgänge, Sankt Augustin.

BG Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege mit 16 Arbeitsunfällen je 1 000 Vollzeit-

beschäftigten.

1.2.4 Erwerbsminderung

Das gesundheitsbedingte vorzeitige Ausscheiden von Arbeitnehmer:innen aus dem Arbeitsprozess aufgrund von Erwerbsminderung signalisiert sowohl ein besonders hohes Maß an Belastungen am Arbeitsplatz als auch die kumulative, sich selbst verstärkende Wirkung von dauerhaften negativen Arbeitseinflüssen. Darüber hinaus bewirken auch außerberufliche Belastungen und Gesundheitsgefährdungen den Eintritt von Erwerbsminderungen. Anspruch auf eine Erwerbsminderungsrente haben Mitglieder der gesetzlichen Rentenversicherung. Sie wird gezahlt, wenn bestimmte versicherungsrechtliche Voraussetzungen (Wartezeiten) erfüllt sind und wenn eine beliebige Berufstätigkeit aus gesundheitlichen Gründen nur noch weniger als sechs Stunden täglich ausgeübt werden kann. Eine volle Erwerbsminderungsrente wird gewährt, wenn ein Antragsteller dauerhaft so krank ist, dass er weniger als drei Stunden am Tag arbeiten könnte (vgl.

Gesundheitsgefährdungen in der Arbeitswelt

601

Kapitel „Alter“, Pkt. 6.4.2). Zur Beurteilung der Schwere der Erkrankung erfolgt eine ärztliche Prüfung. Nur gut die Hälfte aller Anträge auf eine Erwerbsminderungsrente wird auch bewilligt. So kann es sein, dass die rentenrechtlichen Wartezeiten nicht erfüllt sind oder dass das medizinische Gutachten von eine Erwerbsfähigkeit von mehr als sechs Stunden täglich ausgeht. Für den weitaus größten Teil der Frühverrentungen ist nur eine sehr begrenzte Zahl von Krankheitsbildern verantwortlich. Den größten Anteil machen psychische Störungen aus, bei Männern beträgt er 36,7 %, bei Frauen sogar 49,3 %. Es folgen Neubildungen, Krankheiten des Kreislaufsystems sowie des Bewegungsapparates mit jeweils rund 13 % (vgl. Kapitel „Gesundheit und Gesundheitssystem“, Pkt. 2.2). Vor allem die chronischen Verschleiß- und psychosomatischen Erkrankungen deuten auf belastende Arbeitsbedingungen als ursächlichen Hintergrund hin. Erwerbsminderungsrentner:innen weisen folgende berufliche Faktoren besonders häufig auf: gering qualifizierte Tätigkeiten, häufigere Überlastung und Unterauslastung durch die Tätigkeit, häufigere Arbeitslosigkeit, häufigerer Arbeitsplatz- und Berufstätigkeitswechsel sowie niedrigere Zufriedenheit mit Arbeitseinkommen und Arbeitsleben insgesamt. Frühinvalidität geht zudem einher mit Frühsterblichkeit. Die Lebenserwartung von 65jährigen Rentner:innen wegen Erwerbsminderung ist deutlich niedriger als die durchschnittliche Lebenserwartung der Rentner:innen insgesamt. Die Rentenzugangsstatistik weist folgende Zahlen auf (Tabelle VII.4): Rund 17 % der Rentenneuzugänge 2018 erfolgten wegen Erwerbsminderung. Bei den Männern waren es mit gut 18 % etwas mehr als bei den Frauen mit gut 17 % % (vgl. dazu im Einzelnen Kapitel „Alter“, Pkt. 6.4.2).

Tabelle VII.4 Rentenzugänge wegen verminderter Erwerbsfähigkeit 2018 Versichertenrenten insgesamt

Renten wegen Erwerbsminderung

absolut

absolut

In % aller Rentenzugänge

Insgesamt

952 337

167 978

17,6

Männer

450 026

81 543

18,1

Frauen

502 311

86 435

17,2

Quelle: Deutsche Rentenversicherung, Rentenversicherung in Zahlen, Berlin 2019.

602

2

Arbeit und Gesundheit

Arbeitsschutz

Der Arbeits- und Gesundheitsschutz stellt den Kernbereich präventiver Gesundheitspolitik in Deutschland dar. Er zielt auf die Herstellung und den Erhalt sicherer und menschengerechter Arbeitsbedingungen. Seine Vorschriften sind vorrangig darauf ausgerichtet, die Ursachen von Gefährdungen im Arbeitsprozess zu beseitigen bzw. diese gar nicht entstehen zu lassen. Die Begrenzung arbeitsbedingter Gesundheitsgefährdungen ist seit dem Aufkommen der industriell-kapitalistischen Produktionsweise stets Gegenstand von unmittelbaren Auseinandersetzungen zwischen Kapital und Arbeit sowie von staatlicher Regulierung gewesen. Dabei entwickelten sich unterschiedliche Schwerpunkte: Die staatlichen Vorschriften bezogen sich vorrangig auf Gefährdungen, die sich aus der angewandten Produktionstechnik (Maschinen und Anlagen, Produktionsverfahren), aus der Gestaltung und Einrichtung der Betriebe und Produktionsstätten sowie aus den im Produktionsprozess verarbeiteten Stoffen und Materialien ergeben. Hingegen unterlagen insbesondere Dauer und Intensität der Verausgabung menschlicher Arbeitskraft, die sich auf Grund der Arbeitszeit, der arbeitsinhaltlichen Anforderungen und des Lohn-Leistungsverhältnisses ergeben, in der Hauptsache Regelungen unmittelbar zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern. In Sachen Arbeitszeit beschränkte sich der Staat auf die Setzung von Obergrenzen. Die in Tarifverträgen getroffenen Schutzbestimmungen weisen ein breites Spektrum auf, das die Arbeitszeit, Arbeitsinhalt und -organisation, Arbeitserschwernisse und das Lohn-Leistungsverhältnis umfasst (vgl. Kapitel „Arbeitsbeziehungen“, Pkt. 4). Die komplexe Gesamtheit der Arbeitsschutzvorschriften setzt die Rahmenbedingungen für das Handeln ganz unterschiedlicher Akteure, etwa von den Herstellern von Maschinen und Anlagen, über die Betriebe, die Institutionen des Arbeitsschutzsystems bis hin zu den Beschäftigten selbst. Dabei kommt den betrieblichen Interessenvertretungen sowie den Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden eine besondere Bedeutung zu. Zentraler Ort des Arbeits- und Gesundheitsschutzes ist der Betrieb. Dort entscheidet sich, ob und inwieweit es gelingt, das Vorschriften- und Regelwerk wirksam umzusetzen. Maßgeblich ist nicht zuletzt, mit welchem Leitbild die Betriebe und Unternehmen den Arbeits- und Gesundheitsschutz angehen. In dem Maße, wie die Betriebe auch ein wohl verstandenes ökonomisches Eigeninteresse an der Gesundheit der Beschäftigten haben, steigen die Chancen auf die Realisierung gesundheitssichernder Arbeitsbedingungen. Qualität und Präzision der Arbeitsschutzvorschriften entscheiden zu einem wesentlichen Teil mit über die Chancen der Beschäftigten, bei ihrer Arbeit gesund zu bleiben bzw. die Gesundheitsrisiken in der Arbeitswelt zu minimieren. Ein detailliertes Vorschriftenwerk ist insofern eine notwendige, aber keinesfalls hinreichende Voraussetzung für einen wirkungsvollen Arbeitsschutz. Dem Arbeits- und Gesundheitsschutz kommt nicht nur Aufgabe zu, Gesundheitsgefährdungen zu vermeiden, er soll ferner dazu beitragen, die Arbeitsverhältnisse

Arbeitsschutz

603

und -bedingungen darüber hinaus so zu gestalten, dass auch Beschäftigte mit ggf. dauerhaften gesundheitlichen Beeinträchtigungen und Behinderungen am Erwerbsleben teilnehmen können. Der Arbeits- und Gesundheitsschutz erfasst nur abhängig Beschäftigte. Selbstständige – gleich welcher Art – stehen außen vor. Die gesundheitlichen Risiken etwa durch hohe Belastungen (Selbstausbeutung) vor allem kleiner Selbstständiger und freiberuflich Tätiger werden durch das System nicht erfasst. 2.1

Rechtliche Struktur des Arbeitsschutzsystems

2.1.1 Staatliches Arbeitsschutzrecht und Unfallverhütungsrecht

Das Arbeitsschutzsystem ist zweigleisig aufgebaut (vgl. Abbildung VII.6): Es besteht aus den staatlichen Arbeitsschutzvorschriften, im Wesentlichen Gesetze und Verordnungen des Bundes und zum Teil der Länder, und aus den Unfallverhütungsvorschriften der Berufsgenossenschaften, den Trägern der gesetzlichen Unfallver-

Abbildung VII.6

Das Arbeitsschutzsystem in Deutschland

ILO-Übereinkommen

Verordnungen und Richtlinien der EU

Arbeitsschutzsystem

Staatliches Arbeitsschutzrecht Bund und Bundesländer

Rechtsetzung

Bund und Bundesländer: Gesetze, Verordnungen, Regeln staatlicher Ausschüsse

Beratung/Überwachung

der Einhaltung der Vorschriften durch Gewerbeaufsicht bzw. Ämter für Arbeitsschutz

Autonomes Arbeitsschutzrecht der Unfallversicherungsträger

Rechtsetzung

(nur nach Bedarfsprüfung) Unfallverhütungsvorschriften mit Genehmigung durch Bund und Länder

Beratung/Überwachung

der Einhaltung der Unfallverhütungsvorschriften durch Aufsichtsdienste

Zusammenarbeit in der Gemeinsamen Deutschen Arbeitsschutzstrategie (GDA) Nationale Arbeitsschutz-Konferenz (NAK)

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Arbeit und Gesundheit

sicherung. Dieses duale System ist historisch gewachsen: Seit der Durchsetzung der industriellen Revolution und der kapitalistischen Produktionsweise erließ der Staat etwa seit Mitte des 19. Jahrhunderts Schutzvorschriften zugunsten der abhängig Beschäftigten, die jedoch lange Zeit weder sehr zahlreich noch besonders wirksam waren. Als Beginn der staatlichen Arbeitsschutzgesetzgebung gilt allgemein das 1839 erlassene preußische „Regulativ über die Beschäftigung jugendlicher Arbeiter in Fabriken“. Die Schutzvorschriften bezogen sich zunächst vor allem auf das „Gewerbe“ mit der Folge, dass bis heute Teile der staatlichen Arbeitsschutzvorschriften in der Gewerbeordnung (GewO) verankert oder von dort abgeleitet sind. Im Zuge der Bismarck’schen Sozialversicherungsgesetzgebung wurde 1884 auch die gesetzliche Unfallversicherung eingerichtet. Ihre Träger, die Berufsgenossenschaften, sind auch zuständig für die Unfallverhütung und deswegen berechtigt, Unfallverhütungsvorschriften (UVVen) zu erlassen, die als Satzungsrecht die Mitglieder der jeweiligen Berufsgenossenschaft binden. Diese Unfallverhütungsvorschriften regelten lange Zeit im Wesentlichen branchenbezogene Bereiche. Unterteilt man die existierenden Arbeitsschutzregelungen nach inhaltlichen Kriterien, dann ergeben sich folgende Hauptgruppen des Arbeitsschutzrechts: • Maschinen, Geräte und technische Anlagen (z. B. Produktsicherheitsgesetz), • Arbeitsstätten einschließlich Betriebshygiene (z. B. Arbeitsstättenverordnung), • gefährliche Arbeitsstoffe und Strahlen (z. B. Gefahrstoffverordnung), • Arbeitszeitregelungen (z. B. Arbeitszeitgesetz), • Schutz bestimmter Personengruppen (z. B. Jugendarbeitsschutzgesetz), • Arbeitsschutz-Organisation im Betrieb (z. B. Arbeitssicherheitsgesetz). Seit Mitte der 1980er Jahre wird das nationale Vorschriftenwerk in zunehmendem Maße auch durch Bestimmungen der Europäischen Union beeinflusst. Die Europäische Gemeinschaft (EG) und später die Europäische Union (EU) haben eine Vielzahl von Richtlinien erlassen, die darauf abzielen, in allen europäischen Mitgliedsstaaten einheitliche Mindeststandards im Arbeitsschutz zu schaffen. EU-Richtlinien bedürfen der Umsetzung in nationales Recht durch die Mitgliedsstaaten. Die sogenannten Binnenmarktrichtlinien enthalten u. a. verbindliche Vorgaben zu den Sicherheitsstandards technischer Produkte. Sie sollen den Arbeitnehmer:innen zum Schutz vor den Gefahren verhelfen, die von den bei der Arbeit verwendeten Produkten ausgehen. Ein wichtiges Beispiel dafür ist die Maschinenrichtlinie, die in Deutschland durch das Produktsicherheitsgesetz umgesetzt wurde. Zum anderen gibt es Richtlinien zur Verbesserung der Arbeitsumwelt und zum Schutz der Sicherheit und Gesundheit der Beschäftigten. Sie definieren mit Rücksicht auf die unterschiedlichen nationalen Ausgangsbedingungen allerdings nur Mindeststandards. Vor allem die Rahmenrichtlinie Arbeitsschutz von 1989 war von großer Bedeutung und ist bis heute das zentrale Element der gemeinschaftlichen Rechtsetzung im Arbeits- und Gesundheitsschutz. Sie ist 1996 als „Gesetz zur Umsetzung der EG-Rah-

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menrichtlinie Arbeitsschutz und weiterer Arbeitsschutz-Richtlinien“ (Arbeitsschutzgesetz) in Kraft getreten (vgl. Pkt. 2.2.1 dieses Kapitels). Nach der Rahmenrichtlinie wurden rund 20 Einzelrichtlinien angenommen, um verschiedene Risikofaktoren und Arbeitnehmergruppen abzudecken. 2.1.2 Aufbau und Entstehung von Arbeitsschutzvorschriften

Die Regelungen des bundesdeutschen Arbeitsschutzsystems sind fast ausnahmslos dadurch charakterisiert, dass sie Mindeststandards festlegen. Diese Standards reichen von der Festschreibung der Abmessungen von Arbeitsräumen über die Definition zulässiger Grenzwerte für bestimmte Arbeitsstoffe bis hin zu Beschäftigungsverboten bzw. -beschränkungen für bestimmte Personengruppen. Die Arbeitsschutzvorschriften beschränken sich – mit wenigen Ausnahmen – auf die stoff lich-materiellen Komponenten der Arbeit und der Arbeitsbedingungen. Nicht quantifizierbare, lediglich qualitativ zu charakterisierende Faktoren bleiben weitgehend unberücksichtigt. Hierzu zählen etwa der gesamte Komplex der Arbeitsorganisation, der Leistungsanforderungen und die damit verbundene Intensität der Verausgabung von Arbeitskraft. Jedes Arbeitsschutzsystem muss eine zentrale Aufgabe lösen: Einerseits müssen die Vorschriften hinreichend präzise sein, damit sie „greifen“ und dem Adressaten, also dem Unternehmen, keine Ausweichmöglichkeiten lassen. Andererseits muss das System insgesamt so flexibel sein, dass es auch technische Entwicklungen und Veränderungen von Produktionsverfahren, Gefährdungen durch neue Arbeitsstoffe usw. berücksichtigt und nicht hinter der (technischen) Entwicklung in den Betrieben und Verwaltungen zurückbleibt. Diese doppelte Anforderung hat zur Konsequenz, dass die Verankerung von Vorschriften in Gesetzen allein nicht ausreicht. Der Gesetzgebungsapparat ist viel zu schwerfällig, als dass er diesen sich ständig weiterentwickelnden Anforderungen entsprechen könnte. Es hat sich daher im Laufe der Zeit ein hierarchisch gegliedertes, duales System von Vorschriften mit unterschiedlicher rechtlicher Qualität herausgebildet. Das besondere Strukturprinzip des bundesdeutschen Arbeitsschutzsystems, allgemeine Rahmenvorschriften mit konkretisierenden Durchführungsbestimmungen zu verbinden, die z. T. ihrerseits auf weitere Einzelbestimmungen verweisen, lässt erkennen, dass gerade die Entstehungsprozesse von Vorschriften unterhalb der Ebene des Gesetzgebers von besonderem Interesse sind. Bei allen Fragen des Arbeitsschutzes lässt sich das zuständige Bundesarbeitsministerium durch staatliche Ausschüsse beraten, deren Einrichtung im Arbeitsschutzgesetz grundsätzlich geregelt und in den jeweiligen Arbeitsschutzverordnungen umgesetzt werden. Solche Ausschüsse bestehen für die Bereiche Arbeitsstätten, Arbeitsmedizin, Betriebssicherheit, biologische Arbeitsstoffe und Gefahrstoffe.

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Übersicht VII.1 Überblick über ausgewählte Bestimmungen des Arbeitsschutzsystems Sachgebiet

Vorschriften & Bestimmungen

Inhalte/Normen

1. Maschinen, Geräte, Technische Anlagen

• EG-Maschinenrichtlinie • Produktsicherheitsgesetz

• Inverkehrbringen und Ausstellen technischer Arbeitsmittel

2. Arbeitsstätten

• Arbeitsstättenverordnung und technische Regeln für Arbeitsstätten • Lärm- und Vibrations-Arbeitsschutzverordnung

• Mindestgröße der Arbeitsräume • Beleuchtung und Lüftung • Raumtemperatur • Flucht- und Rettungswege • Sozial- und Sanitäreinrichtungen

3. Gefährliche Arbeitsstoffe sowie Strahlen

• Chemikaliengesetz und Gefahrstoffverordnung • Strahlenschutzverordnung • Störfallverordnung

• Einstufung, Kennzeichnung, Verpackung und Umgang mit gefährlichen Stoffen

4. Arbeitszeit

• Arbeitszeitgesetz • Ladenschlussgesetz • Sozialvorschriften im Straßenverkehr

• werktägliche Arbeitszeit • tägliche und wöchentliche Ruhezeiten • Pausen und Arbeitszeitlänge

5. Schutz besonderer Personengruppen

• • • •

Heimarbeitsgesetz Jugendarbeitsschutzgesetz Mutterschutzgesetz Schwerbehindertenschutz (SGB IX) • Arbeitnehmerüberlassungsgesetz

• • • •

6. Organisation des Arbeitsschutzes im Betrieb

• Arbeitsschutzgesetz • Arbeitssicherheitsgesetz • Betriebsverfassungsgesetz und Personalvertretungsgesetze

• Aufgabenfelder und Zusammenarbeit von Betriebsärzten, Fachkräften für Arbeitssicherheit, Betriebs- und Personalräten

2.2

Beschäftigungsverbote ärztliche Untersuchungen Pausen und Arbeitszeitlänge Bezahlung

Inhalt und Struktur von Arbeitsschutzvorschriften

Um exemplarisch zumindest einen groben Einblick in die Inhalte des Arbeitsschutzes zu geben, sollen neben dem übergreifenden Arbeitsschutzgesetz beispielhaft einige Einzelgesetze und Vorschriften zu folgenden Bereichen vorgestellt werden: • Arbeitsbedingungen: Arbeitszeitgesetz, Gefahrstoffverordnung, • Schutz bestimmter Personengruppen: Frauenarbeitsschutz, Jugendarbeitsschutzgesetz, Schwerbehindertenschutz, • Arbeitsschutzorganisation: Arbeitssicherheitsgesetz.

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2.2.1 Arbeitsschutzgesetz – Rahmenvorschriften

Das Arbeitsschutzgesetz von 1996 kodifizierte erstmals in der Geschichte des Arbeitsschutzes eine einheitliche gesetzliche Grundlage für den Arbeits- und Gesundheitsschutz der Beschäftigten in allen Tätigkeitsbereichen der privaten Wirtschaft und des öffentlichen Dienstes. Es beschreibt u. a. die Grundpflichten des Arbeitgebers, es legt allgemeine Grundsätze für die Arbeitsschutzmaßnahmen fest und schreibt dem Arbeitgeber eine Beurteilung der Arbeitsbedingungen und der damit verbunden Gefährdung für die Beschäftigten vor (sogenannte Gefährdungsbeurteilung). Das Gesetz fixiert Rechte und Pflichten der Beschäftigten und regelt das Zusammenwirken von staatlichen Behörden und den Trägern der gesetzlichen Unfallversicherung. Es ermächtigt ferner die Bundesregierung bzw. den Bundesarbeitsminister, Verordnungen und allgemeine Verwaltungsvorschriften zu erlassen, und sieht u. a. Bußgelder bei Verstößen bis zu 25 000 Euro vor. Die allgemeinen Grundsätze betonen vor allem den Grundsatz der Prävention und geben Gestaltungsmaßnahmen den Vorrang vor persönlichen Schutzmaßnahmen. Die Maßnahmen sollen Technik, Arbeitsorganisation, sonstige Arbeitsbedingungen, soziale Beziehungen und Einflüsse der Umwelt auf den Arbeitsplatz sachgerecht miteinander verknüpfen. Damit wird die bis dahin vorherrschende systematische Ausblendung sozialer Faktoren aus dem Arbeits- und Gesundheitsschutz bewusst aufgebrochen. Darüber hinaus ist festgehalten, dass mittelbar oder unmittelbar geschlechtsspezifisch wirkende Regelungen nur zulässig sind, wenn dies aus biologischen Gründen zwingend geboten ist. Der Arbeitgeber hat die Ergebnisse der Gefährdungsbeurteilungen zu dokumentieren und muss die Beschäftigten über Sicherheit und Gesundheitsschutz bei der Arbeit (gegebenenfalls regelmäßig) unterweisen. Bei besonderen Gefahren muss der Arbeitgeber u. a. dafür sorgen, dass nur Beschäftigte Zugang zu besonders gefährlichen Arbeitsbereichen haben, die zuvor geeignete Anweisungen erhalten haben. Die Beschäftigten werden durch das Gesetz verpflichtet, nach ihren Möglichkeiten sowie entsprechend der Unterweisung des Arbeitgebers für ihre Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit selbst Sorge zu tragen. Sie sind berechtigt, dem Arbeitgeber Vorschläge zu allen Fragen der Sicherheit und Gesundheitsschutzes zu machen.

Übersicht VII.2 Grundpflicht des Arbeitgebers nach § 3 ArbSchG „Der Arbeitgeber ist verpflichtet, die erforderlichen Maßnahmen des Arbeitsschutzes unter Berücksichtigung der Umstände zu treffen, die Sicherheit und Gesundheit der Beschäftigten bei ihrer Arbeit beeinflussen. Er hat die Maßnahmen auf ihre Wirksamkeit zu überprüfen und erforderlichenfalls sich verändernden Gegebenheiten anzupassen. Dabei hat er eine Verbesserung von Sicherheit und Gesundheitsschutz der Beschäftigten anzustreben.“

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Sie haben unter bestimmten Umständen auch das Recht, sich an die zuständige Behörde zu wenden, ohne dass ihnen daraus Nachteile entstehen dürfen. In der betrieblichen Umsetzung der Vorschriften gibt es allerdings noch Defizite. Nach einer repräsentativen Befragung von Betriebsräten aus dem Jahr 2015 werden die vom Gesetz vorgeschriebenen Gefährdungsbeurteilungen nur in knapp 80 % der Betriebe durchgeführt. Dabei bestehen erhebliche Unterschiede nach Betriebsgröße und Branche. 2.2.2 Arbeitszeitgesetz

Das Arbeitszeitgesetz, das 1994 die Arbeitszeitordnung von 1938 ablöste, stellt nicht nur eine Vereinheitlichung der bis dahin stark zersplitterten, zum Teil noch aus dem 19. Jahrhundert stammenden Arbeitszeitregelungen dar, sondern brachte auch erhebliche inhaltliche Änderungen mit sich. Es erlaubt – wie früher – eine flexible Verteilung der Arbeitszeit auf die Woche, allerdings sind Ausnahmen vom generellen Verbot der Sonn- und Feiertagsarbeit seitdem leichter möglich. Ferner wurde der bisherige besondere Frauenarbeitszeitschutz aus Gründen der Gleichbehandlung weitgehend aufgehoben. Bei der Dauer der Arbeitszeit und den Ruhepausen gelten nunmehr einheitliche Bestimmungen für männliche und weibliche Beschäftigte. Das Arbeitszeitrecht ist in Teilen tarifdispositiv, d. h. es kann durch Tarifverträge abweichend, und unter Umständen sogar ungünstiger gestaltet werden. Die grundlegenden Bestimmungen sehen u. a. vor: •

Die Höchstdauer der regelmäßigen Arbeitszeit darf werktäglich acht Stunden nicht überschreiten, d. h. eine Wochenarbeitszeit von Montag bis Samstag von 48 Stunden ist zulässig. Eine Verlängerung auf bis zu 10 Stunden täglich ist möglich, wenn innerhalb von 6 Monaten ein Ausgleich auf 8 Stunden täglich erfolgt. Abweichend davon kann ohne Ausgleich an höchstens 60 Tagen im Jahr die Arbeitszeit auf bis zu 10 Stunden werktäglich verlängert werden. • Spätestens nach 6 Stunden Arbeit ist den Beschäftigten eine Pause einzuräumen. Die Pause beträgt bei 6 bis 9 Stunden Arbeit 30 Minuten, bei mehr als 9 Stunden 45 Minuten. Die Mindestruhezeit beträgt 11 Stunden nach Beendigung der täglichen Arbeitszeit. • Es besteht ein grundsätzliches Beschäftigungsverbot an Sonn- und gesetzlichen Feiertagen. Davon kann in zahlreichen im Gesetz festgelegten Tätigkeitsbereichen (z. B. Not- und Rettungsdienste, Krankenhäuser, Hotels und Gaststätten, kulturelle und Freizeitveranstaltungen, Energieversorgung, Bewachungsgewerbe u. a. m.) abgewichen werden, wenn die Arbeiten nicht an Werktagen vorgenommen werden können. • Darüber hinaus hat die Aufsichtsbehörde in weiteren Ausnahmefällen einen Ermessensspielraum. Sie hat Sonn- und Feiertagsarbeit zu bewilligen, „wenn bei einer weitgehenden Ausnutzung der gesetzlich zulässigen wöchentlichen Be-

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triebszeiten und bei längeren Betriebszeiten im Ausland die Konkurrenzfähigkeit unzumutbar beeinträchtigt ist und durch die Genehmigung von Sonn- und Feiertagsarbeit die Beschäftigung gesichert werden kann“. 2.2.3 Schutz einzelner Personengruppen

Jugendarbeitsschutz Das Gesetz zum Schutze der arbeitenden Jugend (Jugendarbeitsschutzgesetz) gilt für alle Personen unter 18 Jahren, die sich in einer Berufsausbildung o. ä. befinden oder als Arbeitnehmer:innen bzw. Heimarbeiter:innen tätig sind. Es enthält neben einem, allerdings von Ausnahmen durchbrochenen, Kinderarbeitsverbot (bis 14 Jahre), Regelungen zu den Bereichen Arbeit und Freizeit, Beschäftigungsbeschränkungen und -verbote sowie zur gesundheitlichen Betreuung. Jugendliche dürfen nicht mehr als acht Stunden am Tag und 40 Stunden in der Woche arbeiten sowie nur in der Zeit von 6.00 bis 20.00 Uhr beschäftigt werden. Nachtarbeit ist also ebenso untersagt wie Samstags- und Sonntagsarbeit. Beide Verbote werden allerdings durch Ausnahmen abgeschwächt: In der Landwirtschaft darf während der Erntezeit länger gearbeitet werden, im Gaststättengewerbe bis 22.00 Uhr, in Bäckereien z. T. bereits ab 4.00 Uhr usw. Jugendliche haben einen längeren gesetzlichen Urlaub als Erwachsene: Er beträgt je nach Alter zwischen 25 und 30 Werktagen pro Jahr. Jugendliche dürfen keine der im Gesetz näher bezeichneten gefährlichen Arbeiten, wie z. B. Akkord- und tempoabhängige Arbeiten sowie Untertagearbeit, ausüben. Auch hier gelten jedoch weit reichende Ausnahmen. Jugendliche unterliegen einer besonderen gesundheitlichen Betreuung: So müssen sie sich einer Erstuntersuchung bei der Einstellung sowie einer Nachuntersuchung nach Ablauf eines Jahres unterziehen. Weitere Nachuntersuchungen sind möglich, wenn auch nicht zwingend vorgeschrieben. Abgesehen davon, dass zahlreiche Ausnahmebestimmungen die Wirksamkeit des Gesetzes begrenzen, liegen die Hauptprobleme in dem großen Ausmaß der Verstöße gegen einzelne Bestimmungen und – wie bei allen Arbeitsschutzvorschriften – in der mangelhaften Kontrolle der Einhaltung des Gesetzes, für die die Gewerbeaufsichtsämter oder Ämter für Arbeitsschutz zuständig sind. Bei Verstößen können Geldbußen bis zu 15 000 Euro verhängt werden. Frauenarbeitsschutz und Mutterschutz Das Arbeitsschutzgesetz von 1996 enthält eine allgemeine Bestimmung, nach der spezielle Frauenarbeitsschutzbestimmungen nur dann zulässig sind, wenn dies aus biologischen Gründen gerechtfertigt ist. Diese Regelung trägt einer jahrelangen Diskussion über die Frage Rechnung, ob die Arbeitsschutzbestimmungen die Frauen tatsächlich umfassend vor gesundheitsschädigenden Belastungen in der Erwerbsarbeit schützen und inwieweit sie Ausdruck einer (indirekten) Benachteiligung der Frauen darstellen.

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Die Arbeitsschutzbestimmungen, die speziell für Frauen gelten, beziehen sich im Wesentlichen auf die Bereiche Mutterschutz und spezielle Beschäftigungsbeschränkungen. Die Arbeitsschutzvorschriften zum Mutterschutz zielen darauf ab, die gesundheitlichen Risiken, die sich aus dem Arbeitsprozess für Mutter und Kind während der Schwangerschaft und in der Zeit danach ergeben können, möglichst weitgehend auszuschalten. Das Mutterschutzgesetz, das 2018 gründlich überarbeitet wurde, enthält als wichtigste Bestimmung ein Verbot der Beschäftigung sechs Wochen vor und acht Wochen nach der Entbindung. Der Arbeitgeber muss eine Gefährdungsbeurteilung durchführen und Schutzmaßnahmen festlegen. Jeder einzelne Arbeitsplatz muss auf „unverantwortbare Gefährdungen“ im Hinblick auf eine Schwangerschaft überprüft werden. Darüber hinaus verbietet das Gesetz u. a. Mehr- und Nachtarbeit sowie Akkord- und Fließbandarbeit. Schwerbehindertenschutz – Sozialgesetzbuch IX Gesundheitlich beeinträchtigte und schwerbehinderte Arbeitnehmer:innen gehören zu den besonders benachteiligten Gruppen des Arbeitsmarktes. Mit dem arbeitsrechtlichen Schwerbehindertenschutz, der seit 2001 Bestandteil des Sozialgesetzbuches IX „Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen“ ist, soll dieser Beschäftigtengruppe ein besonderer Schutz am Arbeitsplatz und im Erwerbsleben zuteilwerden. Die Vorschriften gelten für alle Personen mit einem Grad der Behinderung von mindestens 50 %. Der amtlichen Statistik zufolge sind dies rund 7,8 Mio. Menschen in der Bundesrepublik, wovon die meisten aber nicht (mehr) im Erwerbsleben stehen. (vgl. Kapitel „Gesundheit und Gesundheitssystem“, Pkt. 2.3). Das SGB IX enthält nicht nur spezielle Arbeitsschutzvorschriften, sondern sieht auch Bestimmungen vor, die die Beschäftigungssituation der Schwerbehinderten insgesamt verbessern sollen: So müssen alle privaten und öffentlichen Arbeitgeber, die über mindestens 20 Arbeitsplätze verfügen, auf mindestens 5 % der Arbeitsplätze Schwerbehinderte beschäftigen (Pflichtquote). Dabei sind schwerbehinderte Frauen besonders zu berücksichtigen. Solange dieser Anteil nicht erreicht wird, muss für jeden nicht besetzten Pflichtplatz monatlich eine Ausgleichsabgabe von 125, 220 bzw. 320 Euro gezahlt werden, je nachdem ob die Beschäftigungsquote über 3 %, zwischen 2 bis 3 % oder unter 2 % liegt. In der Praxis zeigt diese Vorschrift durchaus Wirkung: 2017 betrug die Beschäftigungsquote durchschnittlich 4,6 % auf, je größer die Betriebe desto höher. Nach Branchen reichte die Quote von 2,7 % in der Landwirtschaft und 2,9 % im Baugewerbe über 4,8 % in der Metallindustrie bis zu 6,9 % in der öffentlichen Verwaltung. Allerdings blieben immer noch rund 285 000 Pflichtarbeitsplätze unbesetzt. Eine Kündigung des Arbeitsverhältnisses von Schwerbehinderten ist nicht ohne weiteres möglich. Sie bedarf der vorherigen Zustimmung des Integrationsamtes. Dieses holt vor seiner Entscheidung eine Stellungnahme der Arbeitsagentur, des Betriebsoder Personalrates und der Schwerbehindertenvertretung ein und hört auch den Betroffenen an. Der besondere Kündigungsschutz hat die überdurchschnittlich hohe

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Arbeitslosigkeit von Schwerbehinderten nicht verhindern können. (Vgl. Kapitel „Arbeit und Arbeitsmarkt“, Pkt. 5.4.2) Von zentraler Bedeutung für die Durchführung des Gesetzes sind die Integrationsämter (früher: Hauptfürsorgestellen). Ihnen obliegt nicht nur der Kündigungsschutz, sondern auch die Erhebung und Verwendung der Ausgleichsabgabe und die Leistung begleitender Hilfen im Arbeits- und Berufsleben. Die Arbeitgeber müssen durch geeignete Maßnahmen sicherstellen, dass die Schwerbehinderten eine möglichst dauerhafte behinderungsgerechte Beschäftigung finden. Sie haben die Schwerbehinderten zur Förderung ihres beruflichen Fortkommens bei innerbetrieblichen Maßnahmen der beruflichen Fortbildung bevorzugt zu berücksichtigen. In jedem Betrieb mit mindestens fünf Schwerbehinderten ist eine Vertrauensperson zu wählen, die die Interessen dieser Beschäftigten zu vertreten hat. Das Gesetz enthält darüber hinaus u. a. Bestimmungen zur Förderung der Werkstätten für Behinderte und zur kostenlosen Beförderung von Schwerbehinderten im öffentlichen Personenverkehr. 2.2.4 Gefahrstoffverordnung

Die Verordnung zum Schutz vor Gefahrstoffen (Gefahrstoffverordnung) stützt sich auf das Arbeitsschutzgesetz, das Chemikaliengesetzes und das Sprengstoffgesetz und wurde zuletzt 2010 neu gefasst. Sie beinhaltet Vorschriften über das Inverkehrbringen gefährlicher Stoffe und Zubereitungen sowie über den Umgang mit Gefahrstoffen. Die Anhänge der Verordnung enthalten u. a. spezielle Bestimmungen zur Einstufung und Kennzeichnung von Gefahrstoffen und spezielle Vorschriften zum Umgang mit besonderen, z. B. krebserzeugenden Stoffen. Für bestimmte Stoffe sieht die Verordnung Herstellungs- und Verwendungsverbote bzw. allgemeine Beschäftigungsverbote und -beschränkungen vor. Aus Sicht des Arbeits- und Gesundheitsschutzes sind vor allem die Vorschriften zum Umgang mit Gefahrstoffen von Bedeutung. Sie gelten für alle Stoffe und Zubereitungen, die explosionsgefährlich, brandfördernd, entzündlich, giftig, ätzend, reizend, sensibilisierend, krebserzeugend, fortpflanzungsgefährdend, erbgutverändernd, umweltgefährlich sind oder sonstige chronisch schädigende Eigenschaften besitzen. Sie verpflichten zunächst den Arbeitgeber zu einer umfassenden Gefährdungsbeurteilung und der darauf basierenden Festlegung von Schutzmaßnahmen. Unter anderem muss geprüft werden, ob es Stoffe mit geringerem Gesundheitsrisiko gibt und welche Arbeitsplatzgrenzwerte oder biologischen Grenzwerte einzuhalten sind. Bei den vorgesehenen Schutzmaßnahmen ist eine feste Reihenfolge vorgeschrieben: An erster Stelle steht die Gestaltung geeigneter Verfahren und die Verwendung geeigneter Arbeitsmittel und Materialien nach dem Stand der Technik. An zweiter Stelle folgen kollektive Schutzmaßnahmen an der Gefahrenquelle, z. B. durch angemessene Be- und Entlüftung, und schließlich drittens Vorschriften zur Durchführung von individuellen Schutzmaßnahmen, z. B. auch die Anwendung von persönlicher

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Schutzausrüstung. Durch verständliche Betriebsanweisungen sind die Beschäftigten zu informieren, welche Gefahren ihnen drohen und welche Schutzmaßnahmen und Verhaltensregeln beachtet werden müssen. Ferner enthält die Verordnung detaillierte Vorschriften über arbeitsmedizinische Vorsorgeuntersuchungen. Die konkrete Umsetzung der Anforderungen der Gefahrstoffverordnung geschieht in den Technischen Regeln für Gefahrstoffe (TRGS). Sie geben den jeweiligen Stand der Technik, Arbeitsmedizin und sonstigen wissenschaftlichen Erkenntnisse wieder und werden vom Ausschuss für Gefahrstoffe festgelegt. 2.2.5 Arbeitsstättenverordnung

Die Verordnung über Arbeitsstätten wurde erstmalig im Jahr 1975 erlassen und im Jahr 2004 auf Grundlage des Arbeitsschutzgesetzes komplett neu gefasst und in den vergangenen Jahren mehrfach angepasst. An die Stelle eines detaillierten Vorschriftenwerks mit 58 Paragrafen trat eine auf derzeit zehn Paragrafen reduzierte Verordnung. Sie wird durch einen Anhang mit speziellen Anforderungen an die Arbeitsstättengestaltung ergänzt, die aber weit weniger detailliert ausgeprägt sind. Die erklärte politische Absicht war, den Arbeitsschutz in diesem Bereich zu „entbürokratisieren“ und den Betrieben mehr Gestaltungsspielraum zu geben. Die Arbeitgeber werden verpflichtet, die Arbeitsstätten so einzurichten und zu betreiben, dass von ihnen keine Gefährdungen für Sicherheit und Gesundheit der Beschäftigten ausgehen. Sie müssen dabei die Regeln für Arbeitsstätten berücksichtigen, die vom Ausschuss für Arbeitsstätten ermittelt werden. In diesem Ausschuss sind die privaten wie öffentlichen Arbeitgeber, die Gewerkschaften und die Wissenschaft mit je drei Personen vertreten. Bei seiner Arbeit hat der Ausschuss die allgemeinen Grundsätze des Arbeitsschutzes (§ 4 Arbeitsschutzgesetz) zu berücksichtigen. Die von ihm zu erstellenden Arbeitsstätten-Regeln müssen insbesondere den Stand von Technik, Arbeitsmedizin und Hygiene sowie sonstige gesicherte arbeitswissenschaftliche Erkenntnisse berücksichtigen. Zentrale Regelungsbereiche der Arbeitsstättenverordnung sind die allgemeinen Anforderungen an Arbeitsgebäude (z. B. Fenster, Türen, Tore, Raumabmessungen), Maßnahmen zum Schutz gegen besondere Gefahren (Brandschutz, Fluchtwege), die Bedingungen am Arbeitsplatz (u. a. Lüftung, Raumtemperaturen, Beleuchtung, Schutz gegen Lärm, Bewegungsfläche am Arbeitsplatz) sowie Anforderungen an Pausen-, Sanitär- und Erste-Hilfe-Räume. 2.2.6 Betrieblicher Arbeitsschutz: Arbeitssicherheitsgesetz

Das Gesetz über Betriebsärzte, Sicherheitsingenieure und andere Fachkräfte für Arbeitssicherheit (Arbeitssicherheitsgesetz – ASiG) schreibt den Betrieben den Einsatz von Betriebsärzt:innen und Sicherheitsfachkräften verbindlich vor. Diese sollen die Betriebe beim Arbeitsschutz und bei der Unfallverhütung unterstützen.

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Dem einzelnen Arbeitgeber ist freigestellt, ob er Mediziner:innen und Fachkräfte als eigenes Personal beschäftigen will, ob er freiberufliche Kräfte oder einen überbetrieblichen Dienst verpflichten will. In der Unfallverhütungsvorschrift „Betriebsärzte und Fachkräfte für Arbeitssicherheit“ der Berufsgenossenschaften werden in Abhängigkeit von Betriebsgröße und konkreter Arbeitssituation verschiedene Betreuungsmodelle zur Auswahl vorgegeben. Die sehr umfassend definierten Aufgaben der Betriebsärzt:innen beinhalten u. a. die Beratung des Arbeitgebers bei Planung und Unterhaltung von Betriebsanlagen, bei der Einführung von Arbeitsverfahren und Arbeitsstoffen, bei arbeitsphysiologischen, arbeitspsychologischen und sonstigen ergonomischen sowie arbeitshygienischen Fragen. Hinzu kommen die Untersuchung der Arbeitnehmer:innen, ihre arbeitsmedizinische Beurteilung und Beratung sowie die Erfassung und Auswertung der Untersuchungsergebnisse, die Beobachtung der Durchführung des Arbeitsschutzes und der Unfallverhütung und die im Zusammenhang damit regelmäßig vorzunehmende Begehung der Arbeitsstätten. Ferner sollen die Betriebsärzt:innen Maßnahmen zur Beseitigung der festgestellten Mängel vorschlagen, Ursachen von arbeitsbedingten (nicht nur Berufs-)Krankheiten untersuchen und Maßnahmen zur Verhütung dieser Erkrankungen vorschlagen. Sie sollen darauf hinwirken, dass alle im Betrieb Beschäftigten sich den Anforderungen des Arbeitsschutzes und der Unfallverhütung entsprechend verhalten. Für die Arbeitssicherheitsfachkräfte gelten entsprechende Aufgaben. Beide Gruppen sind zur Zusammenarbeit mit dem Betriebsrat verpflichtet. Auf diese Weise soll eine Grundlage für ein wirkungsvolles betriebliches Gesundheitsmanagement gelegt werden. Die umfassende Aufgabenstellung, die erstmals in einem Arbeitsschutzgesetz auch die Analyse arbeitsbedingter Erkrankungen zum Gegenstand des Arbeitsschutzes erklärt, macht das ASiG zu einem arbeitsschutzpolitischen Gesetz von zentraler Bedeutung. 2.3

Durchsetzung und Kontrolle von Arbeitsschutzvorschriften

Die Wirkung von präventiven Arbeitsschutzvorschriften hängt nicht nur von der Qualität ihrer Inhalte, sondern gleichermaßen von ihrer praktischen Umsetzung und Kontrolle ab. 2.3.1 Aufsichtsdienste im Arbeitsschutz: Staatliche Gewerbeaufsicht und technische Aufsicht der Berufsgenossenschaften

Zwar ist die betriebliche Interessenvertretung durch das Betriebsverfassungsgesetz zur Kontrolle des Unternehmens in Sachen Arbeitsschutz verpflichtet, die Hauptaufgabe in diesem Bereich liegt jedoch bei den staatlichen Gewerbeaufsichtsbeamt:innen und beim technischen Aufsichtsdienst der Berufsgenossenschaften.

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Die Gewerbeaufsichtsämter bzw. die Ämter für Arbeitsschutz sind bei den Ländern angesiedelt, regional gegliedert und beschäftigten (2017) 3 151 Gewerbeaufsichtsbeamt:innen. Die gesetzliche Unfallversicherung wird von neun gewerblichen Berufsgenossenschaften, einer landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaft und 24 Unfallversicherungsträgern der öffentlichen Hand getragen. Die gewerblichen Berufsgenossenschaften sind im Gegensatz zu den Gewerbeaufsichtsämtern in erster Linie nach Branchen gegliedert. Als Sanktionsmittel stehen den beiden Aufsichtsdiensten bei ihrer Arbeit verschiedene Mittel und Maßnahmen mit z. T. unterschiedlicher rechtlicher Grundlage zur Verfügung; wie z. B. die Revisions- und Besichtigungsschreiben, Anordnungen und schließlich Zwangsmaßnahmen. Bußgelder und Strafanzeigen stellen die härteste Maßnahme der Aufsichtsdienste zur Ahndung von Verstößen gegen die Arbeitsschutzvorschriften dar. Insgesamt wurden im Jahr 2017 rund 268 721 von 3 358 553 Unternehmen besichtigt. Allein diese Zahlen belegen, dass die Ämter mit ihrer Kontrollaufgabe bei ihrem derzeitigen Personalstand überfordert sind. Dabei besteht ein erhebliches Betriebsgrößengefälle. Während von den Unternehmen mit 500 und mehr Beschäftigten knapp 80 % von den Besichtigungen erfasst werden, sind es bei den Kleinbetrieben mit 10 bis zu 49 Beschäftigten lediglich rund 16 %. 2.3.2 Betrieblicher Arbeitsschutz und Interessenvertretung

Der größte Teil der Arbeitsschutzvorschriften muss im Betrieb angewandt und die Einhaltung der Bestimmungen auch vor Ort kontrolliert werden. Zu den wichtigen betrieblichen Akteuren, die Verantwortung für den Arbeitsschutz tragen, zählen neben dem Arbeitgeber, den Betriebsärzt:innen und den Sicherheitsfachkräften die betrieblichen Interessenvertretungen. In Betrieben, in denen es einen Betriebsarzt oder eine Sicherheitsfachkraft gibt, ist darüber hinaus ein Arbeitsschutzausschuss zu bilden, der Fragen des Arbeitsschutzes und der Unfallverhütung berät. Ihm gehören sämtliche genannten Akteure an. Das Betriebsverfassungsgesetz enthält eine Reihe von für den Arbeitsschutz wichtigen Paragrafen. Sie regeln die Kontroll-, Mitsprache-, und Mitbestimmungsrechte des Betriebsrates. So hat der Betriebsrat bei Regelungen über die Verhütung von Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten sowie über den Gesundheitsschutz im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften oder der Unfallverhütungsvorschriften mitzubestimmen. In einem weiteren Bereich hat er Informations- und Beratungsrechte sowie ein initiatives Mitbestimmungsrecht: Der Arbeitgeber hat den Betriebsrat über die Planung von Neu-, Um- und Erweiterungsbauten, von technischen Anlagen, Arbeitsverfahren, Arbeitsabläufen und Arbeitsplätzen rechtzeitig unter Vorlage der erforderlichen Unterlagen zu unterrichten. Dabei sollen die gesicherten arbeitswissenschaftlichen Erkenntnisse über die menschengerechte Gestaltung der Arbeit berücksichtigt werden. In der Praxis zeigt sich, dass das arbeitsschutzpolitische Durchsetzungsvermögen der Betriebsräte, vor allem in Klein- und Mittelbetrieben,

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in denen immerhin weit über die Hälfte der abhängig Beschäftigten arbeiten, nur unzureichend entwickelt ist. Befragungen zeigen allerdings, dass Arbeitsschutz und Gesundheitsförderung ein zentrales Thema der Betriebsratsarbeit sind (vgl. Kapitel „Arbeitsbeziehungen“, Pkt. 6.2). Der hohe Stellenwert von Arbeitsschutz und Gesundheitsförderung schlägt sich auch in der Häufigkeit von Betriebsvereinbarungen nieder. Mehr als die Hälfte (55 %) der Betriebsräte gaben 2018 an, dass in ihrem Betrieb Vereinbarungen zu diesem Themenbereich bestehen. Höhere Anteilswerte weisen lediglich die Themen Arbeitszeit (Arbeitszeitkonten, Mehrarbeit, Urlaubsregelungen) sowie Datenschutz auf. Auch speziellere Fragestellungen, wie z. B. die wachsenden psychischen Belastungen am Arbeitsplatz, spielen eine Rolle (vgl. Kapitel „Arbeitsbeziehungen“, Pkt. 6.3). In 30 % der Betriebe bestehen Betriebsvereinbarungen zur psychischen Gefährdungsbeurteilung mit stark wachsender Tendenz. Insgesamt zeigt sich bei der Umsetzung der Vorschriften des Arbeits- und Gesundheitsschutzes ein doppeltes Gefälle: Je kleiner der Betrieb und je weniger häufig die Interessen der Beschäftigten durch Betriebsräte vertreten werden umso niedriger die Standards. Und außerdem gilt: Je größer der Abstand vom Normalarbeitsverhältnis desto geringer das Schutzniveau.

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Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall

3.1

Ausgangslage und gesetzliche Grundlagen

Erkranken Arbeitnehmer:innen, so stellt sich die Frage, ob und in welchem Maße bei einer anerkannten Arbeitsunfähigkeit der Einkommensfluss gesichert ist. Die finanzielle Absicherung während der Phase einer Arbeitsunfähigkeit ist eine der Kernaufgaben des Sozialstaates und Voraussetzung dafür, dass Beschäftigte nicht gezwungen sind, krank zur Arbeit gehen müssen, sondern dass Krankheiten auskuriert und womöglich Folgeerkrankungen vermieden werden können. In Deutschland erfolgt der Ausgleich des Einkommensausfalls durch eine gestufte Regelung: •

Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall als Arbeitgeberleistung für maximal sechs Wochen einer Arbeitsunfähigkeit • Anschlusszahlung von Krankengeld durch die gesetzliche Krankenversicherung für eine länger währende Arbeitsunfähigkeit (vgl. Kapitel „Gesundheit und Gesundheitssystem“, Pkt. 5.1.2) Die Leistungen der Entgeltfortzahlung nach dem Entgeltfortzahlungsgesetz werden unabhängig von der Verursachung der Arbeitsunfähigkeit erbracht und haben des-

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halb auch nur einen indirekten Arbeitsweltbezug. Die ärztliche Bescheinigung über die Hinderung zur Arbeit muss dem Arbeitgeber spätestens an dem Arbeitstag vorliegen, der auf den dritten Kalendertag der Arbeitsunfähigkeit folgt, kann jedoch vom Arbeitgeber auch schon früher verlangt werden. Es gelten folgende Bestimmungen: Wenn ein/e Arbeitnehmer:in durch Arbeitsunfähigkeit infolge einer Krankheit die Arbeitsleistung nicht erbringen kann, hat er/ sie Anspruch auf volle Entgeltfortzahlung bis zur Dauer von sechs Wochen. Dieser Anspruch gilt auch bei Maßnahmen der medizinischen Vorsorge und Rehabilitation. Maßgebend ist das den Beschäftigten bei regelmäßiger Arbeitszeit zustehende Arbeitsentgelt. Folgende Vergütungsbestandteile werden dabei berücksichtigt: • effektiv gezahlte Grundentgelte (z. B. Stunden- oder Akkordlohn, Monatsgehalt), • Zulagen für Nacht-, Schicht-, Sonntagsarbeit, für Gefahren oder Erschwernisse, wenn sie angefallen wären, • vermögenswirksame Leistungen, • Aufwendungsersatz, wenn die Aufwendungen auch während der Krankheit anfallen, • allgemeine Lohnerhöhungen (oder Lohnminderungen). Das Überstundenentgelt wird bei der Entgeltfortzahlung nicht berücksichtigt. Die Tarifparteien haben das Recht, die Bemessungsgrundlage der Entgeltfortzahlung anders festzulegen, also beispielsweise auch die Mehrarbeitsvergütung einzubeziehen, sie können aber auch nach unten davon abweichen. Der Anspruch entsteht erst nach vierwöchiger ununterbrochener Dauer des Arbeitsverhältnisses. Jede neue krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit begründet einen erneuten Anspruch auf Entgeltfortzahlung. Wird ein Beschäftigter wegen derselben Krankheit arbeitsunfähig, hat er nur dann einen (erneuten) Anspruch auf Entgeltfortzahlung, wenn diese Erkrankung mindestens sechs Monate zurückliegt oder wenn seit Beginn der ersten Arbeitsunfähigkeit infolge dieser Krankheit mindestens zwölf Monate vergangen sind. Die Beschäftigten sind verpflichtet, dem Arbeitgeber die Arbeitsunfähigkeit und die voraussichtliche Dauer unverzüglich mitzuteilen und – wenn sie länger als drei Kalendertage dauert – eine ärztliche Bescheinigung (Attest) beizubringen. Sie sind nicht verpflichtet, den Arbeitgeber über die Art der Erkrankung und die Krankheitssymptome zu unterrichten. Der Arbeitgeber ist berechtigt, die Vorlage der Bescheinigung früher zu verlangen. Bei einem Auslandsaufenthalt sind die Beschäftigten verpflichtet, die voraussichtliche Dauer, Fall der Arbeitsunfähigkeit und die Adresse am Aufenthaltsort schnellstmöglich mitzuteilen. Der Arbeitgeber kann die Entgeltfortzahlung verweigern, wenn die Bescheinigung nicht vorliegt oder wenn die Beschäftigten ihren Mitteilungspflichten nicht nachkommen.

Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall

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Die Krankenkassen können, wenn sie Zweifel an der Arbeitsunfähigkeit eines versicherten Arbeitnehmers haben, diesen durch den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung untersuchen lassen. Das kann auch auf Verlangen des Arbeitgebers erfolgen, wenn dieser Zweifel an der Arbeitsunfähigkeit darlegt. Solche Zweifel sind laut SGB insbesondere in den Fällen anzunehmen, in denen der/die Versicherte auffällig häufig oder auffällig nur für kurze Dauer arbeitsunfähig ist oder der Beginn der AU häufig auf einen Arbeitstag am Beginn oder am Ende einer Woche fällt. Das Gleiche gilt, wenn die AU von einem Arzt festgestellt worden ist, der durch die Häufigkeit der von ihm ausgestellten Bescheinigungen auffällig geworden ist. Die Bestimmungen des Gesetzes sind mit Ausnahme der Festlegung der Bemessungsgrundlage unabdingbar, das heißt, sie dürfen nicht zuungunsten der Beschäftigten abgeändert werden. Wie alle sozialpolitischen Leistungen, die ein erwerbsloses Einkommen garantieren (so z. B. das Arbeitslosengeld), ist auch die Entgeltfortzahlung immer wieder Gegenstand sozial- und gesellschaftspolitischer Kontroversen. Während die Befürworter sie als sozialpolitisch notwendige und sinnvolle Leistung bewerten, argumentieren die Kritiker mit dem Generalverdacht des Missbrauchs durch die anspruchsberechtigten Arbeitnehmer:innen und fordern zumindest eine restriktive Ausgestaltung der Entgeltfortzahlung. Die Durchsetzung der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall war daher lange umkämpft und ihre Ausgestaltung unterlag im Laufe der Zeit vielfältigen Wandlungen. Die gesetzlichen Grundlagen der Entgeltfortzahlung reichen bis ins 19 Jahrhundert zurück. Zunächst erlangten die kaufmännischen Angestellten einen Anspruch auf Gehaltsfortzahlung (1861), der dann auch auf die technischen Angestellten ausgedehnt wurde (1891). Im Bürgerlichen Gesetzbuch (1896) wurde eine allgemeine Regelung für alle Beschäftigten verankert. In der Nachkriegszeit gelang erst über mehrere Stufen mit dem Lohnfortzahlungsgesetz 1969 die völlige Gleichstellung von Arbeiter:innen und Angestellten, wobei der Arbeitskampf um die Lohnfortzahlung in der schleswig-holsteinischen Metallindustrie 1956/57 eine wichtige Katalysatorfunktion hatte. Die unterschiedlichen Rechtsgrundlagen wurden 1994 im Entgeltfortzahlungsgesetz zusammengefasst. Die 1996 vorgenommene gesetzliche Absenkung der Entgeltfortzahlung von 100 auf 80 % des Nettoeinkommens wurde durch zahlreiche tarifvertragliche Regelungen ausgeglichen. Nach der Bundestagswahl 1998 wurde die gesetzliche Kürzung wieder rückgängig gemacht. Für die Betriebe stellt die Entgeltfortzahlung einen Kostenfaktor dar, der in die Berechnung der Lohnnebenkosten eingeht (vgl. Kapitel „Ökonomische Grundlagen und Finanzierung“, Pkt. 3.7.2). Bei einer nicht nur kurzfristigen Arbeitsunfähigkeit müssen personelle Ersatzmaßnahmen getroffen werden, um Einschränkungen des Betriebsablaufs zu verhindern. Mehrarbeit der Kolleginnen und Kollegen, befristete Einstellungen oder Rückgriff auf Leiharbeit können die Antworten sein. Dauert die Arbeitsunfähigkeit länger als sechs Wochen, so übernimmt die Krankenversicherung die Finanzierung des Krankengelds.

618

Arbeit und Gesundheit

Die Finanzierung der Entgeltfortzahlung durch die Unternehmen hat jedoch nicht nur einen Kosteneffekt. Durch die unmittelbare Verknüpfung zum Betrieb werden auch Anreize gesetzt, den Arbeitsschutz zu intensivieren und die betriebliche Gesundheitsförderung auszubauen. Lässt sich in einem Betriebsbereich oder in einer Abteilung der Krankenstand ein besonders hoher und anhaltender Krankenstand feststellen, so ist dies ein Anhaltspunkt für die Personalpolitik und das betriebliche Gesundheitsmanagement, tätig zu werden. Das Sozialbudget weist für 2018 Ausgaben für die Entgeltfortzahlung in Höhe von rund 54 Mrd. Euro aus, das entspricht 5,2 % der gesamten Sozialleistungen (vgl. Kapitel „Ökonomische Grundlagen und Finanzierung“, Pkt. 2.1). Der kontinuierliche Anstieg der Ausgaben ist jedoch nicht der Höhe des Krankenstandes geschuldet. Im Wesentlichen begründet sich der Zuwachs aus den steigenden Löhnen und Gehältern, die bei einer Arbeitsunfähigkeit dann weitergezahlt werden müssen. 3.2

Erhöhter Krankenstand als Folge der Entgeltfortzahlung ?

Es gibt es regelmäßig Diskussionen um das Wechselverhältnis von Entgeltfortzahlung und Krankenstand. Immer wiederkehrend steht der Vorwurf im Raum, dass die Ausgestaltung der Entgeltfortzahlung zu einer missbräuchlichen Inanspruchnahme führe und viele Beschäftigte „krankfeiern“, d. h. sich unbegründet arbeitsunfähig melden. Als Mittel zur Beseitigung der Missstände werden verschiedene Maßnahmen von verschärften Missbrauchskontrollen über die Einführung von Karenztagen bis hin zur Kürzung des fortzuzahlenden Entgelts vorgeschlagen. Gelegentlich wird auch das Konstruktionsprinzip selbst, die Finanzierung der Entgeltfortzahlung durch den einzelnen Arbeitgeber, infrage gestellt und stattdessen eine (privat)versicherungsrechtliche Lösung vorgeschlagen. Zur Untermauerung der Kritik wird in der Regel mit der Krankenstandstatistik argumentiert. Die hohe Zahl der Arbeitsunfähigkeitsmeldungen am Wochenanfang („blauer Montag“), die starken Schwankungen im Konjunkturverlauf mit einem Anstieg des Krankenstandes in konjunkturellen Hochphasen werden als Belege angeführt. Diese Kritik lässt jedoch gesicherte Erkenntnisse zur Entwicklung und Verursachung von Arbeitsunfähigkeit und Krankenstand außer Acht. Wie die Entwicklung des Krankenstandes im Zeitverlauf zeigt (vgl. Pkt. 1.2.1 dieses Kapitels) hat sich die Ende der 1960er Jahre bei Verabschiedung des Lohnfortzahlungsgesetzes geäußerte Befürchtung eines (dauerhaften) Anstiegs des Krankenstandes nicht bewahrheitet. Verschiedene Analysen von Entwicklung und Struktur des Arbeitsunfähigkeitsgeschehens ergaben keine substanziellen Hinweise auf die Existenz eines „blauen Montags“. Zwar beginnt tatsächlich ein überdurchschnittlicher Anteil der Arbeitsunfähigkeiten am Montag, doch schließt dies Erkrankungen, die bereits am Wochenende begannen, mit ein, weil zumeist erst zu Wochenbeginn die Möglichkeit besteht,

Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall

Abbildung VII.7

619

Beginn der Arbeitsunfähigkeit nach Wochentag in % der AU-Fälle, 2018 Summe: 35,7

35

30

11,3

25

Krankheitsfälle vom Wochenende 20

11,5

15

10

19,5 11,3

11,5

5

0

1,5

1,3

Samstag

Sonntag

16,0 12,9

Montag

15,6 10,4

Dienstag

Mittwoch

Donnerstag

Freitag

Quelle: Badura, B. u. a. (Hrsg.) (2019), Fehlzeiten-Report: Daten und Analysen, S. 442.

die erforderliche AU-Bescheinigung zu erhalten. Die Zahl der Arbeitsunfähigkeitstage bei Kurzeiterkrankungen verteilt sich im Übrigen relativ gleichmäßig auf die Wochentage (vgl. Abbildung VII.7). Das Ende der Arbeitsunfähigkeiten verteilt sich nicht gleichmäßig auf die Wochentage, sondern hängt stark von der Dauer der Arbeitsunfähigkeit ab: So ergaben Untersuchungen, dass 1 – 3tägige Krankschreibungen am häufigsten mittwochs enden, 1 – 5tägige dagegen mehrheitlich freitags, 6- und 7tägige sowie die Langzeit-Arbeitsunfähigkeiten am häufigsten am Wochenende. Hierin kommt auch ein bestimmtes rekonvaleszenzbezogenes Verordnungsverhalten der Ärzt:innen zum Ausdruck, die das Wochenende in den Genesungsprozess miteinbeziehen. Im Hinblick auf die Kostenbelastung durch die Entgeltfortzahlung ist zu berücksichtigen, dass die kurzzeitigen Erkrankungen, die gerne als Beleg für das „Blaumachen“ bzw. „Krankfeiern“ genommen werden, nur einen geringen Anteil des gesamten Krankheitsgeschehens ausmachen. Zwar liegt ihr Anteil an den Arbeitsunfähigkeitsfällen am höchsten, ihr Anteil an den gesamten Arbeitsunfähigkeitstagen jedoch am niedrigsten. Bis zu vier Fünftel des Arbeitsunfähigkeitsvolumens entfallen auf Langzeiterkrankungen von mehreren Wochen (vgl. Abbildung VII.8). Auch internationale Vergleiche sind nicht geeignet, die bestehende Entgeltfortzahlungsregelung in Frage zu stellen. Zumeist werden unscharf und unterschiedlich definierte „Fehlzeiten“ miteinander verglichen, die keineswegs pauschal mit Arbeitsunfähigkeit gleichgesetzt werden können. Zudem verbietet sich aufgrund unter-

620

Arbeit und Gesundheit

Abbildung VII.8

Arbeitsunfähigkeit nach Fällen und Tagen, Anteil in %, 2018

Langzeit > 42 Tage

29 - 42 Tage

8,5

-2,9

22 - 28 Tage

-2,8

15 - 21 Tage

5,9

8,6

5,8

8 - 14 Tage

15,7

17,9

4 - 7 Tage

1 - 3 Tage

41,9

4,3

13,5

31,5

5,9

34,8

Anteil an den AU-Fällen in %

Anteil an den AU-Tagen in %

Quelle: Badura, B. u. a. (Hrsg.) (2019), Fehlzeiten-Report: Daten und Analysen, S. 424.

schiedlicher gesellschaftlicher und sozialrechtlicher Rahmenbedingungen der Vergleich etwa mit Japan oder den USA. Bezogen auf den europäischen Raum weist Deutschland keineswegs eine überdurchschnittlich hohe Fehlzeitenrate, sondern liegt im Mittelfeld.

4

Gesetzliche Unfallversicherung

4.1

Aufgaben und Leistungen

Im Gesamtzusammenhang der Maßnahmen und Institutionen zur Bewältigung der gesundheitlichen Risiken der Beschäftigten nehmen die Träger der gesetzlichen Unfallversicherung eine doppelte Funktion ein: Sie treffen Maßnahmen zur Unfallverhütung sowie zur Vermeidung von Berufskrankheiten und sonstiger arbeitsbedingter Gesundheitsgefahren und sind damit zuständig für den Arbeitsschutz, der präventiv in den betrieblichen Entstehungszusammenhang von Gesundheitsgefährdung eingreift. Auf der anderen Seite übernehmen sie Leistungen zum Schadensausgleich und zur Rehabilitation, treffen also Maßnahmen mit kurativem und rehabilitativem Charakter. Durch diese Doppelgleisigkeit sind die Unfallversicherungen die einzige institutionelle Nahtstelle zwischen Arbeitsschutz und dem System der gesundheitlichen Versorgung.

Gesetzliche Unfallversicherung

621

Die gesetzliche Unfallversicherung wurde 1996 als Siebtes Buch in das Sozialgesetzbuch (SGB VII) eingegliedert. Im Rahmen dieser Eingliederung wurde der Präventionsauftrag der Unfallversicherung auf die Verhütung nicht nur von Unfällen und Berufskrankheiten sondern aller arbeitsbedingten Gesundheitsgefahren erweitert. Die Unfallversicherungsträger sind seitdem ausdrücklich verpflichtet, den Ursachen von arbeitsbedingten Gesundheitsgefahren, z. B. durch entsprechende Forschungstätigkeit, nachzugehen und bei ihrer Verhütung mit den Krankenkassen zusammenzuarbeiten. Die gesetzliche Unfallversicherung hat seit ihrer Gründung 1884 die individuelle, privatrechtliche Haftpflicht der Arbeitgeber gegenüber unfallverletzten Beschäftigten abgelöst und in eine allgemeine öffentlich-rechtliche Regelung überführt, bei der auch dann Schadensersatzleistungen gewährt werden, wenn ein unmittelbares Verschulden des Arbeitgebers nicht nachweisbar oder der Schaden aufgrund der Fahrlässigkeit des Betroffenen eingetreten ist. Ziele der Leistungen der Unfallversicherung sollen dem Anspruch nach sein: • • •

die Folgen entstandener Unfälle möglichst zu begrenzen, die Erwerbsfähigkeit wiederherzustellen und die Betroffenen in Betrieb und Beruf wieder einzugliedern sowie – wenn dies nicht gelingt – die Betroffenen (oder ihre Hinterbliebenen) durch Geldleistungen zu entschädigen.

Der Kreis der Pflichtversicherten in der Unfallversicherung umfasst viele Gruppen: Neben allen Arbeitnehmer:innen und Personen mit arbeitnehmerähnlicher Stellung (unabhängig von der Höhe ihres Arbeitsentgelts) sind auch Personen in Ausbildung (Auszubildende, Schüler:innen, Studierende, Kinder in Krippen, Kindergärten und -horten) erfasst, so dass von einer allgemeinen Unfallversicherung, die über den Bereich des Arbeitslebens hinausragt, gesprochen werden kann. Allerdings sind z. B. Freizeitunfälle oder Unfälle im Haushalt gesetzlich nicht versichert. Selbstständige sind im Allgemeinen nicht versichert; sie können aber durch Satzung der einzelnen Berufsgenossenschaft einbezogen werden oder sich selbst freiwillig versichern. Leistungen der Unfallversicherung werden gewährt, wenn durch einen Arbeitsunfall, einen Wegeunfall oder durch eine Berufskrankheit Schaden erlitten wurde. Bei den Wegeunfällen handelt es sich um Arbeitsunfälle im weit gefassten Sinne, die mit dem Weg von und zu dem Betrieb in Verbindung stehen, auf die aber der Arbeitgeber unmittelbar keinen Einfluss hat. Auch Berufskrankheiten sind als Arbeitsunfälle im weit gefassten Sinne, nämlich als die langfristigen Folgen gesundheitsschädigender Arbeitsbedingungen zu verstehen. Die Sachleistungen der Unfallversicherung im Schadensfall beziehen sich auf das Ziel der Wiederherstellung der Gesundheit und Erwerbsfähigkeit und müssen den Maßnahmen der Rehabilitation zugeordnet werden. Die Geldleistungen bestehen im Wesentlichen aus dem Verletztengeld, dem Übergangsgeld und der Unfallrente.

622

Arbeit und Gesundheit

Das Ausgabenvolumen liegt nach Angaben des Sozialbudgets bei 13,9 Mrd. Euro (2018), das sind 1,3 % aller Sozialleistungen und 2,3 % der Gesamtausgaben der fünf Zweige der Sozialversicherung (vgl. Kapitel „Ökonomische Grundlagen und Finanzierung“, Pkt. 2.1). Der Großteil der Ausgaben (etwa 40 %) wird für die Zahlung von Renten an Verletzte und Hinterbliebene eingesetzt; die ambulante und stationäre Heilbehandlung macht rund ein Viertel der Ausgaben aus. Während der Heilbehandlung erhalten die Versicherten, wenn sie arbeitsunfähig sind oder eine ganztägige Erwerbstätigkeit wegen einer Heilmaßnahme nicht ausüben können, Verletztengeld. Es beträgt 80 % des vorher erzielten (Brutto-)Einkommens, jedoch nicht mehr als das Nettoeinkommen. Für die ersten sechs Wochen einer durch Arbeitsunfall verursachten Arbeitsunfähigkeit haben die Versicherten jedoch in der Regel Anspruch auf Entgeltfortzahlung durch den Arbeitgeber. Wenn die Versicherten berufsfördernde Leistungen erhalten und deshalb nicht ganztägig erwerbstätig sein können, erhalten sie Übergangsgeld. Das Übergangsgeld beträgt für Versicherte mit einem Kind oder wenn der/die Ehepartner:in den/die Verletzte(n) pflegt und nicht erwerbstätig sein kann, 75 % der Bemessungsgrundlage, bei den übrigen Versicherten beläuft es sich auf 68 %. Das Übergangsgeld wird für den Zeitraum der Rehabilitationsmaßnahmen, längstens aber bis zum Zeitpunkt der Rentengewährung, gezahlt und ist dynamisiert. Die Unfallrente als wichtigste Form der Entschädigungsleistung soll die Beeinträchtigung der Erwerbsfähigkeit finanziell ausgleichen. Bei einem Minderungsgrad der Erwerbsfähigkeit (MdE) um mindestens 20 % über die 26. Woche nach dem Unfall hinaus sind für den Rentenbezug die Voraussetzungen gegeben. Die relative Rentenhöhe richtet sich nach dem Grad der Erwerbsminderung. Bei vollständigem Verlust der Erwerbstätigkeit wird eine Vollrente gezahlt, bei eingeschränkter Erwerbsfähigkeit beträgt die Rente den Teil der Vollrente, der dem Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit entspricht. Die Festsetzung des Grades der Erwerbsminderung ermittelt sich aus ärztlichen Befunden und Gutachten, aber auch unter Berücksichtigung der Arbeitsmarktlage. Diese Unbestimmtheit des Erwerbsunfähigkeitsbegriffs macht die fortwährenden arbeits- und sozialrechtlichen Auseinandersetzungen um seine Festlegung verständlich: Für die Betroffenen bedeutet dies nicht selten Unsicherheit. Die Vollrente beträgt zwei Drittel des Brutto-Jahresarbeitsverdienstes, das als Bemessungsgrundlage für die Unfallrenten gilt, und liegt damit nahe beim letzten Nettoverdienst. Für die Höhe des Jahresarbeitsverdienstes sind Mindest- und Höchstgrenzen festgelegt, um minimale wie auch maximale Renten auszuschalten. Hinterbliebenenrenten können für zwei Jahre von den Ehegatten, den Kindern und den Verwandten der aufsteigenden Linie in Anspruch genommen werden. Die Witwen-/Witwerrente beläuft sich auf 30 % des Jahresverdienstes des/der Verstorbenen, erhöht sich aber auf 40 %, wenn die Witwe/der Witwer das 47. Lebensjahr vollendet hat, Kinder erzieht oder erwerbsgemindert ist. Die Halbwaisenrente beträgt 20 %, die Vollwaisenrente 30 % des Jahresarbeitsverdientes des Elternteils.

Rehabilitation, Gesundheitsförderung und Wiedereingliederung Erkrankter

623

Die Anpassung der Renten aus der Unfallversicherung erfolgt in Anlehnung an die Entwicklung der Altersrenten (vgl. Kapitel „Alter“, Pkt. 6.5.5). 4.2

Organisation und Finanzierung

Die Trägerschaft der Unfallversicherung ist nach Gewerbe- bzw. Berufszweigen geordnet. Die wichtigsten Träger sind die acht gewerblichen und die landwirtschaftliche Berufsgenossenschaft. sowie die Versicherungsträger der öffentlichen Hand (z. B. Unfallkassen, Landesunfallkassen, Gemeindeunfallversicherungsverbände). Die Ausgaben der Unfallversicherung werden grundsätzlich über lohnsummenbezogene Arbeitgeberbeiträge im Wege des Umlageverfahrens finanziert. Eine Beitragspflicht der Arbeitnehmer:innen besteht wegen des Arbeitgeber-Haftpflichtcharakters der Unfallversicherung nicht. Die Höhe der Beiträge variiert nach den einzelnen Berufsgenossenschaften und nach den Gefahrenklassen, in die die einzelnen Betriebe eingeordnet werden. Die Gefahrklassen werden aus dem Verhältnis der gezahlten Leistungen zu den Arbeitsentgelten berechnet. Unter Berücksichtigung von Zahl, Schwere und Aufwendungen für die Versicherungsfälle können einzelnen Unternehmen Zuschläge zum Beitragssatz auferlegt oder auch Nachlässe gewährt werden. Auch können Prämien je nach Wirksamkeit der Verhütung von Arbeitsunfällen und arbeitsbedingten Gesundheitsgefahren vergeben werden. Dieses Finanzierungssystem entspricht in seiner Anlage dem Kausalitäts- und Verursacherprinzip und zielt darauf ab, die Unternehmen über finanzielle Anreize bzw. Strafen zur Schadensverhütung zu bewegen. Allerdings bleibt fraglich, ob nicht durch die Abwälzung der Beiträge in die Preise der angestrebte Mechanismus weitgehend unwirksam bleibt. Höhere, aber überwälzbare Beiträge sind nach der einzelwirtschaftlichen Rentabilitätsorientierung oftmals billiger als kurzfristig noch kostspieligere Unfallverhütungsmaßnahmen. Vergleicht man die Entwicklung der Beitragssätze in den zurückliegenden Jahren, so zeigen sich durchgängig, über alle Branchen und Berufsgenossenschaften hinweg Rückgänge. So sank in der Bauwirtschaft, in der Branche mit dem höchsten Schadensaufkommen, der Beitragssatz von 3,95 % (2010) auf 3,56 % (2017). Im Bereich Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege liegt der Beitragssatz bei nur 0,75 % im Jahr 2017), gegenüber 0,76 % in 2010.

5

Rehabilitation, Gesundheitsförderung und Wiedereingliederung Erkrankter

Viele Krankheiten sind von langwieriger und schwerwiegender Natur, beinhalten die Gefahr einer dauerhaften, chronischen Beeinträchtigung und/oder von gesundheitlichen Nebenfolgen bzw. Nachfolgeerkrankungen. Dies trifft insbesondere auf

624

Arbeit und Gesundheit

die „modernen Volkskrankheiten“, die chronisch-degenerativen Erkrankungen wie Krebs, Rheuma, Herz-Kreislauf-Erkrankungen u. a., aber auch auf Suchterkrankungen und psychische Erkrankungen zu. Nicht selten droht die Gefahr einer dauerhaften Behinderung und/oder einer Erwerbsminderung. Diese Gefahr zu verringern, bleibende Gesundheitsschäden zu vermeiden und die Wiedereingliederung in das berufliche und gesellschaftliche Leben nach einer Krankheit zu erleichtern, ist Aufgabe der Rehabilitation und des betrieblichen Eingliederungsmanagements. 5.1

Rehabilitation

Wenn Beschäftigte aufgrund einer ernsten Erkrankung oder eines schweren Unfalls ihre Tätigkeit für längere Zeit haben unterbrechen müssen, stellt sich nach Beendigung der Arbeitsunfähigkeit die Aufgabe der Wiedereingliederung in den Beruf. Dies liegt nicht nur im Interesse der Betroffenen, sondern auch des Unternehmens, das auf den Einsatz der Beschäftigten angewiesen ist – dies umso mehr, wenn es sich um Fachkräfte handelt und der Arbeitsmarkt angespannt ist. Die Maßnahmen der beruflichen Rehabilitation, auch bezeichnet als Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben, dienen der Wiedererlangung der Erwerbsfähigkeit und der Sicherung eines Erwerbseinkommens auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt. Danach erbringen die Bundesagentur für Arbeit, die gesetzliche Unfallversicherung und die gesetzliche Rentenversicherung, die erforderlichen Leistungen, um die Erwerbsfähigkeit der Versicherten zu erhalten, zu verbessern, herzustellen oder wiederherzustellen. Dies gilt insbesondere für behinderte oder von Behinderung bedrohte Menschen. „Rehabilitation vor Rente“ lautet der Grundsatz (vgl. Kapitel „Gesundheit und Gesundheitssystem“ Pkt. 10). Die Geld- und Dienstleistungen umfassen insbesondere: • • • • •

Hilfen zur Erhaltung oder Erlangung eines Arbeitsplatzes einschließlich Leistungen zur Aktivierung und beruflichen Eingliederung, z. B. durch Umschulungen, Weiterbildungen und berufliche Trainingsmaßnahmen, Berufsvorbereitung einschließlich einer wegen der Behinderung erforderlichen Grundausbildung, individuelle betriebliche Qualifizierung im Rahmen unterstützter Beschäftigung, berufliche Fortbildung, Ausbildung und Umschulung einschließlich eines zur Teilnahme an diesen Maßnahmen erforderlichen schulischen Abschlusses sowie sonstige Hilfen der Arbeits- und Berufsförderung, um den Betroffenen eine angemessene und geeignete Erwerbs- oder Berufstätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt oder in einer Werkstatt für Behinderte zu ermöglichen.

Zu den wichtigsten beruflichen Rehabilitationseinrichtungen zählen die Berufsbildungswerke und Berufsförderungswerke. Berufsbildungswerke sind überbetriebliche

Rehabilitation, Gesundheitsförderung und Wiedereingliederung Erkrankter

625

Einrichtungen zur beruflichen Erstausbildung behinderter Jugendlicher, die auf begleitende Betreuung (auch ärztlich, psychologisch usw.) angewiesen sind. Bei den Berufsförderungswerken handelt es sich um überbetriebliche Einrichtungen zur beruflichen Umschulung erwachsener Behinderter, die ausbildungsbegleitende Dienste benötigen n. Daneben treten anerkannte Werkstätten für behinderte Menschen, die Behinderten, die noch nicht oder nicht wieder auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt tätig sein können, Gelegenheit zur Ausübung einer geeigneten Beschäftigung bieten sollen. Als Bindeglied zwischen beruflicher und medizinischer Rehabilitation fungieren spezielle Einrichtungen der medizinisch-beruflichen Rehabilitation (Rehabilitationszentren) für spezielle Behinderungen (z. B. Hirnverletzungen, Querschnittslähmungen). 5.2

Betriebliches Eingliederungsmanagement

Um die betriebliche Wiedereingliederung zu erleichtern und das Risiko eines erneuten gesundheitsbedingten Ausfalls zu minimieren, können Mitarbeiter in der Genesungsphase nach einer Erkrankung oder Verletzung stundenweise beschäftigt und so wieder an die am Arbeitsplatz auftretenden Belastungen herangeführt werden. Diese Form der schrittweisen Wiedereingliederung ist ein wichtiger Baustein der Rehabilitation im beruflichen Bereich und im Sozialgesetzbuch SGB IX verankert. Voraussetzung für die Wiedereingliederungsmaßnahme ist, dass der Arbeitnehmer bereit und in der Lage ist, seine bisherige Tätigkeit in gewissem Umfang wieder aufzunehmen. Die Wiedereingliederungsmaßnahme begründet ein eigenes Rechtsverhältnis zwischen Arbeitnehmer:in und Arbeitgeber in einer Phase, in der die Betroffenen weiterhin dem rechtlichen Status nach arbeitsunfähig geschrieben sind. Der/die Arbeitnehmer:in erhält während der Eingliederungsphase kein reguläres Arbeitsentgelt, sondern die vorgesehen Lohnersatzleistungen (Krankengeld, Übergangsgeld, Verletztengeld). Dafür kommt je nach Sachlage der jeweilige Rehabilitationsträger auf. Die Arbeitgeber sind gesetzlich verpflichtet, ihren kranken Arbeitnehmer:innen eine stufenweise Eingliederung ins Arbeitsleben zu ermöglichen. Voraussetzung ist, dass ein Beschäftigter im Laufe der vergangenen zwölf Monate länger als sechs Wochen ununterbrochen oder wiederholt arbeitsunfähig war. Um den betreffenden Personenkreis zu ermitteln, werden Auswertungen über die Krankenstände der Mitarbeiter von der Personalabteilung erhoben. Der Arbeitgeber muss klären, wie die Arbeitsunfähigkeit möglichst überwunden werden und mit welchen Leistungen oder Hilfen erneuter Arbeitsunfähigkeit vorgebeugt und der Arbeitsplatz erhalten werden kann. Dabei soll er die betriebliche Interessenvertretung (Betriebs- bzw. Personalrat) und ggf. auch die Schwerbehindertenvertretung beteiligen. Die Teilnahme ist für die Beschäftigten freiwillig. Die praktische Umsetzung dieser gesetzlichen Vorgabe zum BEM ist nicht flächendeckend gegeben. Vor allem in Klein- und Mittelbetrieben besteht noch Nach-

626

Arbeit und Gesundheit

holbedarf. In Betrieben mit Betriebsräten geben rund drei Viertel der Betriebsräte an, dass ein BEM angeboten wird. In Betrieben mit weniger als 50 Beschäftigten sind es rund 73 %, in Betrieben mit 500 und mehr Beschäftigten sogar rund 91 %. 5.3

Betriebliches Gesundheitsmanagement und Gesundheitsförderung

Das betriebliche Eingliederungsmanagement kann als Bestandteil eines umfassenden betrieblichen Gesundheitsmanagements (BGM) verstanden werden. Aufgabe des betrieblichen Gesundheitsmanagements ist es, Arbeit, Organisation und Verhalten am Arbeitsplatz gesundheitsförderlich zu gestalten. Durch gute Arbeitsbedingungen können auf der einen Seite die Gesundheit und Motivation nachhaltig gefördert sowie Fehlzeiten verringert und auf der anderen Seite die Produktivität, Produkt- und Dienstleistungsqualität und Innovationsfähigkeit eines Unternehmens erhöht werden. Dies senkt dann auch die betrieblichen Personalkosten. Zugleich soll angesichts des demografischen Wandels und des Fachkräftebedarfs in manchen Bereichen ein vorzeitiges, krankheitsbedingte Ausscheiden von Beschäftigten verhindert werden. Insofern überschneiden sich die Interessen von Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Zum betrieblichem Gesundheitsmanagement zählen alle Ansätze, die die gesundheitsförderliche Gestaltung von betrieblichen Strukturen und Prozessen und die Befähigung zum gesundheitsfördernden Verhalten der Beschäftigten zum Ziel haben. Durch die Vernetzung der verschiedenen Einzelmaßnahmen und das abgestimmte Verhalten der beteiligten Akteure sollen verhältnis- und verhaltenspräventive Maßnahmen aufeinander abgestimmt werden. Zu den Handlungsfeldern des BGM gehören präventive Bereiche wie der Arbeitsschutz, die Suchtprävention, die Personalund die Organisationsentwicklung. Der ganzheitliche BGM-Ansatz beinhaltet zudem betriebliche Gesundheitsförderung, Verbesserung der Führungskultur, Maßnahmen zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf sowie Aufgaben der altersgerechten Arbeitsgestaltung. Die wichtigsten Analyse-Instrumente des BGM sind die Gefährdungsbeurteilung (Arbeitsschutz, psychische und physische Belastungen), Fehlzeiten-Analysen, Krankenkassenberichte, biometrische Daten, Gesundheitszirkel, Workshops zur strategischen und operativen Zielfindung sowie Mitarbeiter-Befragungen. Sofern sie nicht Gegenstand gesetzlicher und sonstiger Vorschriften sind, werden sie in der Regel von den Betrieben freiwillig und zusätzlich angeboten. In der Praxis umfassen diese freiwilligen Maßnahmen zumeist ein breites Angebot an die Beschäftigten, das von Ernährungsberatung über Nichtraucherkurse, Seminare zur Entspannung und Stressmanagement, Sportangeboten bis zu jährlichen betrieblichen Gesundheitstagen reichen kann. Diese betrieblichen Aktivitäten werden auch von den verschiedensten überbetrieblichen Akteuren unterstützt. Betriebliche Gesundheitsförderung ist in einigen Fällen auch Gegenstand von tarifvertraglichen Regelungen. Die gesetzlichen Krankenkassen haben nach § 20b SGB V die Aufgabe der betrieblichen Gesundheitsförderung.

Arbeitsbedingungen und Gesundheit im Strukturwandel

6

627

Arbeitsbedingungen und Gesundheit im Strukturwandel: Herausforderungen und Reformbedarfe

Der tiefgreifende Strukturwandel der Wirtschaft durch Tertiarisierung, Globalisierung und Digitalisierung verändert die Arbeitswelt und den Arbeitsmarkt. Arbeitsbedingungen und Arbeitsanforderungen wandeln sich und damit entwickeln sich auch neue Anforderungen an die Gestaltung und Regulierung des Zusammenhangs von Arbeit und Gesundheit. Das Ziel bleibt die Herstellung von Rahmenbedingungen für „Gute Arbeit“ im Sinne gesundheits- und persönlichkeitsförderlicher Arbeitsbedingungen. 6.1

Arbeitsschutz

Trotz seines ausgeprägten Beharrungsvermögens hat das deutsche Arbeitsschutzsystem in den vergangenen Jahrzehnten einen bemerkenswerten Wandel durchlaufen. Das Geflecht von Arbeitsschutzvorschriften hat – insbesondere infolge der Reformaktivitäten der 1970er und 1980er Jahre sowie durch die Umsetzung der EU-Richtlinien in den vergangenen Jahren – an Systematik und Flächendeckung gewonnen. Eine durchgehende Präventionsorientierung bei gleichzeitig systematischer Abstufung der Schutzmaßnahmen lässt das Vorschriftensystem zwar nicht als vorbildlich, aber doch als sehr vorzeigbar erscheinen. Positiv ist in diesem Zusammenhang zu vermerken, dass auch die – staatlich geförderte – arbeitsschutzbezogene Forschung den Erkenntnisbestand für betriebsbezogene Gesundheitspolitik langsam aber sicher erweitert hat. Dennoch bestehen in einigen Bereichen immer noch erhebliche Forschungslücken. Zudem ist in der betrieblichen Praxis ein beträchtliches Umsetzungsdefizit zu konstatieren. Die Bundesregierung hat deswegen verschiedene Förderprogramme und Initiativen aufgelegt, die diese Defizite beseitigen sollen. Seit 2000 besteht das „Programm zur Förderung von Modellvorhaben zur Bekämpfung arbeitsbedingter Erkrankungen“, das vor allem auf den Transfer neuer Erkenntnisse auf diesem Gebiet in die betriebliche Praxis zielt. Die 2002 gegründete „Initiative Neue Qualität der Arbeit“ (INQA) ist ein Zusammenschluss von Bund, Ländern, Sozialversicherungspartnern, Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden sowie Unternehmen, um einen Beitrag zur Verknüpfung von positiven, gesundheits- und persönlichkeitsförderlichen Arbeitsbedingungen mit der Notwendigkeit wettbewerbsfähiger Arbeitsplätze zu leisten. Sie knüpft an das Programm der Bundesregierung „Forschung und Humanisierung des Arbeitslebens“ (1974 – 1989) und das Folgeprogramm „Arbeit und Technik“ (1989 – 2001) an. Es handelt sich um ein Transferprogramm, das eine breite gesellschaftliche Debatte über die Qualität führen und zugleich konkrete betriebliche Lösungen entwickeln will. Durch Netzwerkbildung sollen die verschiedenen Akteure zusammengeführt werden.

628

Arbeit und Gesundheit

Ein Schwerpunkt der Reformdiskussion der vergangenen Jahre waren die zunehmenden psychischen Belastungen in der Arbeitswelt. Dies hat sich in zahlreichen Modellprojekten und betrieblicher Einzelaktivitäten niedergeschlagen. Um die Begrenzung der psychischen Belastungen in den Arbeits- und Gesundheitsschutzes systematisch zu integrieren, schlug etwa die IG Metall die Einführung einer Verordnung zum Schutz vor Gefährdungen durch psychische Belastung bei der Arbeit, kurz Anti-Stress-Verordnung, vor. Dies konnte kurzfristig nicht realisiert werden, dokumentierte aber nachhaltig die Bedeutung des Themas für die künftige Ausgestaltung präventiver Gesundheitspolitik in der Arbeitswelt. 6.2

Alterns- und altersgerechte Arbeitsbedingungen

Der Handlungsdruck für die Weiterentwicklung des Arbeits- und Gesundheitsschutzes wird nicht zuletzt aufgrund des demografischen Wandels größer. Der Anteil der Beschäftigten zwischen dem 50. und 64. Lebensjahr ist in den 2000er Jahren kräftig gestiegen und wird von 2010 bis 2025 von 28 auf 32 % zunehmen. Die Heraufsetzung des gesetzlichen Rentenalters verstärkt diesen Trend. Diese Wandlung der Altersstruktur und das in vielen Branchen und Betrieben steigende Durchschnittsalter der Belegschaften machen die Entwicklung alters- und alternsgerechter Arbeitsstrukturen zu einer vorrangigen Aufgabe für die betriebliche Beschäftigungs- und -personalpolitik; in einigen Branchen unterstützt durch sog. „Demografietarifverträge“. Unterschieden wird dabei im Allgemeinen zwischen „age-management“ und „ageing management“. Ersteres ist auf die Gestaltung altersgerechter Arbeitsbedingungen für bereits älter/alt gewordene Beschäftigte ausgerichtet. Es soll erreichen, dass sie – trotz ihrer häufig eingeschränkten gesundheitlichen Konstitution, ihrem alternstypisch veränderten beruflichen Leistungspotenzial und ihren teils veralteten qualifikatorischen Fähigkeiten – noch freiwillig und in Würde bis zum Erreichen der Altersgrenzen erwerbstätig sein können. Hingegen zielt das ageing-management auf die präventive Gestaltung alternsgerechte Arbeitsbedingungen, ist also auf den späteren Lebenslauf älter werdender Beschäftigter bezogen. Damit wird eine alle Altersgruppen einbeziehende Prozessperspektive eingenommen, die berücksichtigt, dass Altern ein lebenslanger, interindividuell variierender Entwicklungs- und Veränderungsprozess ist. Neuere Konzepte zielen daher in diesem Zusammenhang auf eine „lebenslauforientierte betriebliche Personalpolitik“. Zwar wird ein solches System auch künftig nicht auf bestimmte Altersgrenzen verzichten können, doch die personalpolitischen Maßnahmen orientieren sich viel stärker als herkömmliche Konzepte an den sehr unterschiedlichen Berufs- und Lebensverläufen der Beschäftigten. Nur wenn es gelingt, die Lebenslauforientierung zum Leitkriterium betrieblichen Handelns vom Arbeitsschutz über die Gestaltung der Leistungsanforderungen bis hin zur Weiterbildungspolitik und langfristigen Personalplanung zu machen, bestehen realistische Aussichten auf eine erfolgreiche Umsetzung solcher Konzepte. Dies

Arbeitsbedingungen und Gesundheit im Strukturwandel

629

wird auch dadurch begünstigt, dass aufgrund des hohen und eher noch wachsenden Fachkräftebedarfs in vielen Wirtschaftszweigen und Tätigkeitsbereichen ein produktiver Einsatz älterer Beschäftigter auch ökonomisch geboten erscheint. Dafür gibt es bereits zahlreiche Belege aus der betrieblichen Praxis, wo die lange Zeit auch in Deutschland praktizierte Frühverrentungspraxis – befördert durch „Push- und PullFaktoren“ – mittlerweile einem neuen Interesse an der produktiven Weiterbeschäftigung Älterer gewichen ist. Allerdings gilt dies weit überwiegend nur für höher bzw. besonders betriebsspezifisch qualifizierte ältere Beschäftigte. Insofern sind die aktuellen Strukturen der Beschäftigung Älterer stark sozial selektiv verteilt. 6.3

Neue Beschäftigungsformen und Schutz selbstständiger Tätigkeiten

Eine weitere Herausforderung ist die wachsende Bedeutung sogenannter neuer Beschäftigungsformen. Das reicht von freiberuflich tätigen Solo-Selbstständigen mit Verträgen auf Werkvertrags- und Honorarbasis über unterschiedliche Formen des Crowd- und Cloudworkings bis zu (schein)selbstständigen Tätigkeiten im Dienstleistungsbereich (z. B. Kurierdienste) und in der Industrie (z. B. Fleischindustrie). Weitgehend unbeachtet in der Fachdiskussion bleiben die Auswirkungen dieser Entwicklung auf das System des Arbeitsrechts allgemein und des Arbeits- und Gesundheitsschutzes im Besonderen. Obgleich gerade die „kleinen“ Selbstständigen zum Teil unter ebenfalls sehr belastenden Arbeitsbedingungen tätig sind, bleiben sie im System des Arbeitsrechts außen vor. Dies gilt auch für den staatlichen und berufsgenossenschaftlichen Arbeitsschutz. Diese Ausklammerung entfacht Anreize, aus Kostengründen selbstständige Beschäftigungsformen zu kreieren, bei denen es keine Ansprüche auf Entgeltfortzahlung, Urlaub, Mindestlohn, Kündigungsschutz, Arbeitszeitregelungen usw. gibt. Ob es sich hierbei um eine tatsächliche Selbstständigkeit handelt, um eine arbeitnehmerähnliche Selbstständigkeit oder um eine Scheinselbstständigkeit, muss dabei im Einzelfall und mit rechtlichen Mühen festgestellt werden. Je mehr sich nun unter dem Einfluss der Digitalisierung der Wirtschaft selbstständige Tätigkeit ausbreiten und Wechsel zwischen abhängiger und selbstständiger Beschäftigung üblich werden, umso größer wird das Erfordernis, diese systemische Begrenzung zu überwinden. 6.4

Digitalisierung und flexible Arbeitsformen und -zeiten

Schließlich sind die Folgen der zunehmenden Digitalisierung auf die Arbeitsbeziehungen, insbesondere den Arbeitsort und die Arbeitszeit, als Gestaltungsfeld auch des Arbeits- und Gesundheitsschutzes zu nennen. Je weniger eine Anwesenheit am Arbeitsplatz erforderlich bzw. gewünscht ist, umso mehr Bedeutung gewinnt das mobile Arbeiten zu Hause (home office) oder anderswo. In gleichem Maße verschwim-

630

Arbeit und Gesundheit

men die Grenzen zwischen Erwerbsarbeit und Privatleben. Die damit verbundene Flexibilisierung von Arbeit und Arbeitszeit wirft die Frage nach einem angemessenen Arbeits(zeit)schutz auf. Während insbesondere die Unternehmen auf eine durchgreifende Liberalisierung des Arbeitszeitrechts drängen, um die neuen Spielräume nutzen zu können, setzen betriebliche Interessenvertretungen und Gewerkschaften auf eine Anpassung der gesetzlichen und tarifvertraglichen Regelungen, um das Belastungs- und Gefährdungspotenzial dieser Entwicklung zu begrenzen und die Schutzwirkung der Arbeitszeitbestimmungen aufrecht zu erhalten. Der technisch-ökonomische, soziale und gesellschaftliche Strukturwandel stellen also den Arbeits- und Gesundheitsschutz insgesamt vor große Herausforderungen. Es wird nicht nur darauf ankommen, seine durchaus beachtliche Wirkungskraft im Bereich hoch regulierter Kernbereiche von Industrie und Dienstleistung zu sichern und auszubauen, sondern auch die eher prekären Randbereiche traditioneller Erwerbsarbeit und die neuen, ebenfalls risikobehafteten Formen der Erwerbsarbeit systematisch einzubeziehen.

7

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Arbeit und Gesundheit

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Zeitschriften Arbeit Betriebliche Prävention Bundesarbeitsblatt – Gesundheitsforschung – Gesundheitsschutz Deutsche Rentenversicherung DGUV Forum – Fachzeitschrift für Prävention, Rehabilitation und Entschädigung Gesundheit und Gesellschaft Wissenschaft Gute Arbeit – Zeitschrift für Arbeitsschutz und Arbeitszeitgestaltung sicher ist sicher – Fachzeitschrift für Sicherheitstechnik, Gesundheitsschutz und menschengerechte Arbeitsgestaltung Soziale Sicherheit WSI-Mitteilungen

Literaturhinweise

633

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Aktuelle Gutachten, Berichte, Analysen zu den Themenfeldern Arbeitsbedingungen, Arbeitszeiten, Unfallgeschehen und Krankenstand finden sich auf http://www.sozialpolitikaktuell.de/arbeitsbedingungen-berichte.html

VIII

Gesundheit und Gesundheitssystem

1

Gesundheit und Krankheit

Die Gesundheit gilt den meisten Menschen als das höchste Gut. Die Hoffnung auf ein von dauerhaften Gesundheitsbeeinträchtigungen freies Leben spiegelt das Wissen um die aus Krankheit resultierenden körperlich-seelischen Belastungen und sozialen Folgen wider. Hinzu kommt: Wer gesund und damit leistungsfähig ist, kann zumindest von seinen persönlichen Voraussetzungen her besser für den eigenen Lebensunterhalt und eventuell den seiner Angehörigen sorgen. Kranke Menschen hingegen sind häufiger auf die Hilfe anderer angewiesen und bedürfen oftmals der finanziellen Unterstützung. Das gilt gleichermaßen für Pflegebedürftige (vgl. dazu Kapitel „Pflegebedürftigkeit und Pflege“). Gesundheit ist aber nicht nur die Voraussetzung für die materielle Existenzsicherung, sondern darüber hinaus eine wesentliche Grundlage für die Selbstentfaltung des Einzelnen und seiner sozialen und gesellschaftlichen Aktivitäten. Gesundheit kann deshalb nicht nur funktional auf die Arbeitsfähigkeit bezogen werden, sondern schließt Wohlbefinden, Zufriedenheit und soziales Wohlergehen mit ein. Die Frage, was als gesund oder krank zu gelten hat, lässt sich nicht eindeutig beantworten, denn das Krankheits- bzw. Gesundheitsverständnis wird nicht von vermeintlich objektiven medizinischen Kriterien bestimmt, sondern ist von sozialen und gesellschaftlichen Einflussfaktoren abhängig. Eine Vielzahl von sich wechselseitig beeinflussenden Faktoren und Rahmenbedingungen spielt in diesem Zusammenhang eine Rolle: •

Die individuelle Auffassung wie auch das gesellschaftlich vorherrschende Verständnis von Gesundheit und Krankheit sind vom kulturell geprägten Normen- und Wertsystem abhängig. Die Lebens- und Arbeitsbedingungen und das gesamte soziale Umfeld der Menschen beeinflussen das Gesundheitsbewusstsein, die subjektive Wahrnehmung von gesundheitlichen Beeinträchtigungen und auch das Verhalten gegenüber dem Medizinsystem. Längst nicht alle, die nach medizinischen Kriterien als krank gelten, gehen auch tatsächlich zum Arzt/zur Ärztin. Das Abwarten, ob die Beschwerden von selbst verschwinden, Selbstmedikation und

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 G. Bäcker et al., Sozialpolitik und soziale Lage in Deutschland, https://doi.org/10.1007/978-3-658-06249-1_8

635

636

Gesundheit und Krankheit

das Nichtausheilen von Krankheiten sind weit verbreitete Handlungsweisen. Die Unsicherheit darüber, ob Beschwerden Anzeichen für Erkrankungen sind und therapiert werden müssen, ist oft Ausdruck sozialer Zwänge, in denen der Einzelne steckt: Angst vor der Diagnose, der drohende Verlust des Arbeitsplatzes oder unaufschiebbare Familienpflichten können Gründe für die Nichtinanspruchnahme des Gesundheitssystems sein. • Das Verständnis von und der Umgang mit Gesundheit und Krankheit werden von den vorherrschenden medizinischen Auffassungen über Entstehung und Wirkungsweise von Krankheiten bestimmt. Der Krankheitsbegriff der Medizin geht im Kern von einem naturwissenschaftlich geprägten Krankheitsverständnis aus, demzufolge Krankheit sich als eine Funktionsstörung von einem oder mehreren Organen, der Psyche oder des gesamten Organismus darstellt. • Das Gesundheitssystem wirkt mit seinen Strukturen und Aktivitäten selbst wieder auf das Krankheitsverständnis zurück. Als krank gilt zunächst, wer einer ärztlichen Behandlung bedarf, und darüber entscheiden in erster Linie der Arzt/die Ärztin auf Grund der ihnen allein zugestandenen Fachkompetenz. Die ärztliche Diagnose über Vorhandensein, Art und Schwere der gesundheitlichen Beeinträchtigungen bestimmt aber nicht nur die medizinische „Patientenkarriere“, sie entscheidet auch über die Arbeits(un)fähigkeit und legt damit u. a. fest, ob jemand seiner Erwerbstätigkeit nachgehen muss, oder bis zu seiner Genesung einen Anspruch auf Entgeltfortzahlung oder Krankengeld hat. Die Sichtweisen von Gesundheit und Krankheit werden also von sich überlagernden medizinischen, sozialen und ökonomisch-politischen Einflussfaktoren und Interessen bestimmt. In der Praxis ist der Krankheitsbegriff, wie er seit Jahrzehnten in der Sozialrechtsprechung herausgearbeitet worden ist, von zentraler Bedeutung: Krankheit ist danach als ein regelwidriger körperlicher oder geistiger Zustand zu verstehen, dessen Eintritt entweder die Notwendigkeit einer Heilbehandlung des Versicherten oder aber seine Arbeitsunfähigkeit oder beides zugleich zur Folge hat. Die medizinische Krankheitsursache ist dabei nicht entscheidend, das Schwergewicht wird auf die Notwendigkeit einer Heilbehandlung oder das Bestehen von Arbeitsunfähigkeit gelegt. Diese Definition mag zu einseitig sein, sie hat aber den Vorteil der Offenheit hinsichtlich der Anerkennung neuer Krankheitsbilder und der Weiterentwicklung der Medizin. Die Rechtsfortbildung der sozialgerichtlichen Rechtsprechung hat im Laufe der Jahre den Krankheitsbegriff erweitert. So werden beispielsweise psychosomatische und psychische Erkrankungen, Drogenabhängigkeit, Alkoholismus, Einschränkung der Zeugungsfähigkeit sowie Behinderungen als Krankheiten anerkannt und damit die erforderliche ärztliche Diagnostik und Behandlung von der Krankenversicherung getragen. In eine andere Richtung zielt die aus dem Jahre 1948 stammende Definition der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Sie skizziert ein eher utopisches Bild eines anzustrebenden Gesundheitszustandes: „Gesundheit ist ein Zustand vollständigen phy-

Gesundheitszustand der Bevölkerung

637

sischen, geistigen und sozialen Wohlbefindens und nicht die bloße Abwesenheit von Krankheit und Gebrechlichkeit. Der Genuss des höchsten erreichbaren Niveaus von Gesundheit ist eines der fundamentalen Rechte jedes Menschen ohne Unterschiede von Rasse, Religion, politischer Überzeugung, ökonomischer und sozialer Stellung.“ Auch wenn die WHO-Definition die individuelle Bewertung sehr in den Vordergrund stellt und auch viel zu allgemein ist, um eine rechtlich präzise und sozialpolitisch praktikable Abgrenzung von Krankheit und Gesundheit zu gewährleisten, zeigt sie doch, dass Gesundheit nicht allein eine Angelegenheit des Medizinsystems ist, sondern soziale, rechtliche, politische und ökonomische Dimensionen hat. In Anlehnung an die WHO-Definition befassen sich die Gesundheitswissenschaften heute zunehmend mit einer positiven Bestimmung des anzustrebenden Zieles „Gesundheit“. Danach sind Menschen gesund, wenn sie sich mit ihren körperlichen, psychischen und sozialen Eigenschaften in Einklang mit der eigenen Entwicklung, den eigenen Möglichkeiten und Zielvorstellungen befinden. Eine Beeinträchtigung von Gesundheit und möglicherweise eine Krankheit liegen dann vor, wenn sich Anforderungen ergeben, die nicht bewältigt werden können. Gesundheit und Krankheit sind demnach keine scharf voneinander abgrenzbaren Zustände, sondern Pole eines Kontinuums. Auch für die Gesundheitspolitik ergibt sich eine Neuorientierung. Sie fragt nicht mehr in erster Linie „Was macht uns krank ?“, sondern „Was macht und erhält uns gesund ?“ (salutogenetischer Ansatz). Vor diesem Hintergrund müssen die aktuellen Aufgaben der Gesundheitspolitik und die konkrete Ausgestaltung des Versorgungssystems bestimmt werden. Das heißt insbesondere, die vielfältigen gesellschaftlichen Determinanten für Erkrankungen und Belastungen zu untersuchen. Umweltfaktoren, also die Arbeitswelt, Wohnverhältnisse und Lebensweisen gehören ebenso zum Gesamtkomplex „Gesundheit“ wie die institutionelle Ausgestaltung des Versorgungssystems und seine jeweilige Leistungsfähigkeit. Das Herstellen von Gesundheit schließt auch die Kompetenz des Einzelnen ein, mit Störungen umzugehen und psycho-physische Belastungen zu bewältigen.

2

Gesundheitszustand der Bevölkerung

2.1

Datengrundlagen

Für eine Gesundheitspolitik, die den Gefährdungen und Beeinträchtigungen der Gesundheit vorbeugen, Krankheiten heilen oder zumindest lindern und ihre negativen sozialen und ökonomischen Folgen ausgleichen will, sind vor allem gesicherte Informationen über Ausmaß und Art gesundheitlicher Risiken und Beeinträchtigungen erforderlich. Dazu gehören auch Informationen über die gesellschaftlichen, psychosozialen und biologischen Determinanten und ihre Verteilung auf die Bevölkerung. Aufbauend auf den vorliegenden Daten können

638

Gesundheit und Krankheit

Präventionsstrategien, die unmittelbar auf die Risiko- und Gefährdungsursachen einwirken, entwickelt und umgesetzt, • Zeitpunkt, Art und Umfang der Interventionen des Gesundheitssystems geregelt sowie • Art und Ausmaß finanzieller Kompensationsleistungen (Krankengeld, Renten wegen Erwerbsminderung u. ä.) festgelegt werden. •

Zwar ist das hoch differenzierte Spektrum von Krankheiten und gesundheitlichen Beeinträchtigungen in seiner Gesamtheit kaum überschaubar, bei näherer Betrachtung zeigt sich jedoch, dass es nur wenige Krankheitsbilder und -gruppen sind, die das Krankheitsgeschehen im Wesentlichen bestimmen. Es dominieren Herz-Kreislauf-Krankheiten, rheumatische Erkrankungen, Krebs, Diabetes und psychische Erkrankungen. Erkenntnisse über den Gesundheitszustand der Bevölkerung liefern vor allem sozialepidemiologische Untersuchungen und Statistiken, die sich mit der Beschreibung und Verteilung von Krankheiten auf Bevölkerungsgruppen befassen: •

• • •



Nach dem Infektionsschutzgesetz sind die Gesundheitsämter der Gemeinden verpflichtet, bestimmte übertragbare Krankheiten (Influenza, Virushepatitis, Malaria usw.) zu erfassen. Hierzu zählen auch die besonders gefährlichen Infektionskrankheiten wie Tuberkulose und Cholera. Ferner müssen die nachgewiesenen HIV-Infektionen in anonymisierter Form dem Bundesgesundheitsamt gemeldet werden. Die örtlichen Gesundheitsämter verfügen ebenfalls über die Daten der Schulgesundheitsuntersuchungen. Die Krankenkassen erheben Daten über Krankheitsarten, Krankenhausbehandlung sowie über Arbeitsunfähigkeitsfälle und -tage. Das Statistische Bundesamt erfasst im Mikrozensus, einer repräsentativen Bevölkerungsstichprobe (1 %), Informationen zu gesundheitsrelevanten Daten der Bevölkerung. Diese basieren auf den subjektiven Angaben der Befragten. Die Gesundheitsberichterstattung des Bundes (GBE) erfasst auf der Grundlage der repräsentativen Daten des vom Robert Koch-Instituts (RKI) durchgeführten Gesundheitsmonitorings den Gesundheitszustand der Bevölkerung. Dargestellt werden die gesundheitliche Lage, die Verbreitung einzelner wichtiger Krankheiten, das Gesundheitsverhalten, die Gesundheitsgefährdungen und die Inanspruchnahme von Leistungen des Gesundheitswesens. Die Todesursachenstatistik (Mortalitätsstatistik) enthält Informationen über Anzahl und Ursachen der Todesfälle. Sie stellt einen Ausschnitt aus der Morbiditätsstatistik dar und basiert auf einer Auswertung der ärztlichen Leichenschauscheine. Die Verlässlichkeit, die stark variiert, ist von den Angaben des ausfüllenden Arztes abhängig.

Gesundheitszustand der Bevölkerung

2.2

639

Dominanz chronischer und psychischer Erkrankungen

In den zurückliegenden Jahren hat sich der Anteil der Menschen, die ihre Gesundheit als „gut“ oder „sehr gut“ angeben, schrittweise erhöht. Auch der Anstieg der Lebenserwartung deutet in diese Richtung (vgl. hierzu vor allem Kapitel „Alter“, Pkt. 2). Im Jahr 2017 bezeichneten sich nach eigenen Angaben rund 9,5 Mio. Personen als krank, d. h. etwa 12 % der Bevölkerung gaben an, gesundheitlich beeinträchtigt zu sein. Die subjektive Krankheitsquote hängt dabei stark vom Lebensalter ab: In der Altersgruppe 40 – 65 Jahre lag sie bei 14,6 %, in der Altersgruppe 75 Jahre und mehr bei etwa 20 %, Frauen sind dabei etwas stärker von Krankheit betroffen als Männer (vgl. Abbildung VIII.1). Kennzeichnend für das Krankheitsgeschehen vor allem der älteren Bevölkerung ist die große Bedeutung der chronischen Krankheiten: Über die Hälfte der 65 Jahre und älteren Menschen gibt an, unter mindestens einer chronischen Erkrankung zu leiden. Dahinter steht nur selten eine einzige isolierbare Ursache, typisch sind vielmehr multifaktorielle Einflüsse, die sich über einen längeren Zeitraum entwickeln. Chronische Erkrankungen können, wenn sie das Stadium der Befindlichkeitsstörungen überschritten haben, meist nicht mehr geheilt, sondern in ihren Auswirkungen nur noch gelindert werden. Erschwerend kommt das Problem der Multimorbidität

Abbildung VIII.1

Kranke nach Altersgruppen und Geschlecht 2017 in % der Bevölkerung

25

24,0

23,9

20

16,5

17,1 15,0

15,2

16,0

14,0

15,1

12,5

13,1

12,4

12,9

12,2

10,9

11,1

11,6

12,8

13,4

13,1

12,7

13,5 10

16,3

Frauen 15

17,9

18,1

Männer

8,9

7,0

7,0

7,3

8,1

8,4

8,5

5

0

unter 5

5-10

10-15

15- 20

20- 25

25- 30

30- 35

35- 40

40- 45

45- 50

Quelle: Statistisches Bundesamt (2019), Ergebnisse des Mikrozensus 2018.

50- 55

55- 60

60- 65

65- 70

70- 75

75 und älter

640

Gesundheit und Krankheit

hinzu. So besteht bei der Volkskrankheit Diabetes – ein Fünftel der Älteren sind an Diabetes erkrankt – ein hohes Risiko von Folgeerkrankungen (wie Augenschwäche, Bluthochdruck, Nierenerkrankungen, Fußschäden). Der Zusammenhang zwischen Lebensalter und (chronischer) Erkrankung darf allerdings nicht missverstanden werden. Alter und Krankheit sind keinesfalls identisch, allerdings wächst die Wahrscheinlichkeit zu erkranken (vgl. Kapitel „Alter“, Pkt. 1). Kontrovers diskutiert wird, welche Folgen der Anstieg der Lebenserwartung hat. Bedeutet die erhöhte Lebenserwartung auch einen Morbiditätsanstieg und steigende Gesundheitsausgaben ? Unstrittig ist, dass nicht das längere Leben der Älteren entscheidend ist, sondern ihr Gesundheitszustand: Die Kompressionsthese geht von der Annahme aus, dass sich als Ergebnis allgemein besserer Lebensbedingungen und des medizinisch-technischen Fortschritts der Gesundheitszustand der Bevölkerung insgesamt verbessert und eine Verlängerung der Lebenserwartung auch mit einem Herausschieben von (schweren) Krankheiten und von Pflegebedürftigkeit verbunden ist. Entscheidend sind nach dieser Sicht die letzten Lebensmonate vor dem Tod. Da jeder Mensch nur ein letztes Lebensjahr erlebt, werden sich Morbidität und Pflegebedürftigkeit nicht aufgrund einer längeren Lebenserwartung erhöhen. • Nach der Medikalisierungsthese wird hingegen erwartet, dass die Morbiditätsraten allgemein, die altersspezifischen Morbiditätsraten im Besonderen zunehmen werden. Lebensbedrohliche Krankheiten im jüngeren Alter lassen sich zwar verhindern oder heilen. Aber in der Folge erreichen damit immer mehr Menschen ein Alter, das durch ein Auftreten von langwierigen, chronischen Krankheiten mit schwerwiegenden Beeinträchtigungen und einen hohen Behandlungs- und Pflegeaufwand charakterisiert ist. Die verlängerte Lebenserwartung verlängert auch die Zahl der Lebensjahre unter diesen schwierigen Bedingungen. • Das bipolare Kombinationsmodell kombiniert beide Überlegungen. Es geht generell von einem verbesserten Gesundheitszustand zukünftiger Generationen aus und unterstellt gleichzeitig die Zunahme chronisch Kranker und Pflegebedürftiger. Eine Erweiterung erfährt das Modell durch die Ausdifferenzierung der Bevölkerung nach sozio-ökonomischer Lage. Bei generell benachteiligten Bevölkerungsgruppen nehmen die Gesundheitsrisiken zu, während bei Personengruppen mit gutem materiellem Status die Zahl der gesunden Lebensjahre steigen dürfte. •

Eine hohe und wachsende Bedeutung haben psychische Erkrankungen (vgl. Abbildung VIII.2). Bezogen auf die Krankheiten, die für die Arbeitsunfähigkeit von Versicherten im Erwerbsalter (im Wesentlichen zwischen 18 und 65 Jahren) verantwortlich sind, zeigt sich, dass psychische Erkrankungen ihren Anteil an allen Arbeitsunfähigkeitstagen von 1999 auf 2017 mehr als verdoppelt haben (von 5,4 % auf 11,2 %). Dieser Bedeutungsanstieg psychischer Erkrankungen im Erwerbs- bzw. mittleren Lebensalter lässt sich auch an den Zugängen in eine Erwerbsminderungsrente er-

Gesundheitszustand der Bevölkerung

Abbildung VIII.2 1999 und 2018

641

Arbeitsunfähigkeit nach Krankheitsarten, AOK-Mitglieder in % aller AU-Tage

100 90

22,5

26,9

80

Muskel/Skelett 13,3

70 15,4

Atemwege

60

11,1

50

14,9

40

5,4

Verletzungen Psyche

30

7,6

Herz/Kreislauf Verdauung

10,9 5,3 4,7

7,2 20 10

Sonstige

32,4

22,6

0 AU - Tage 1999

AU - Tage 2018

Quelle: Badura, B. u. a. (Hrsg.) (zuletzt 2019), Fehlzeiten-Report: Daten und Analysen, S. 447.

kennen. Im Jahr 2018 wurden von den neu zugegangenen Erwerbsminderungsrenten 42,6 % aufgrund von psychischen Störungen bewilligt. Andere Diagnosegruppen wie „Krankheiten von Skelett, Muskeln, Bindegewebe“, „bösartige Neubildungen“, und „Krankheiten des Herz-Kreislaufsystems“ haben demgegenüber eine weit geringere Bedeutung. Vergleicht man das Gewicht der Diagnosegruppen im Zeitverlauf seit 1995, zeigt sich, dass die Bedeutung von „psychischen Störungen“ kontinuierlich zugenommen hat. Der Anteil ist von 18,6 % (1995) auf 42,6 % (2018) gestiegen (vgl. Abbildung VIII.3). Die Gründe für diesen Trend sind vielfältig. Zum einen haben sich die psychischen Belastungen in der modernen Arbeits- und Lebenswelt deutlich erhöht: Arbeiten unter Stress und Zeitdruck und mit hoher Konzentration, Schicht- und Nachtarbeit sowie die Doppelbelastung durch Erwerbs- und Familien- bzw. Pflegearbeit lauten hier die Stichworte. Es kann aber auch vermutet werden, dass die zunehmende Sensibilisierung der Ärzt:innen für diesen Anstieg mitverantwortlich ist. Zudem führt eine gestiegene gesellschaftliche Akzeptanz psychischer Krankheiten dazu, dass die Bereitschaft der Patient:innen, psychische Probleme offener anzusprechen als früher, gestiegen ist und diese dementsprechend eher dokumentiert werden. Bei einem Blick auf die Mortalitätsstatistik wird deutlich, dass sich auch die Häufigkeiten einzelner Erkrankungen und ihre Bedeutung für die Sterblichkeit im Laufe

642

Gesundheit und Krankheit

Abbildung VIII.3 Neuzugänge in Erwerbsminderungsrenten nach Diagnosegruppen 1995 – 2018 Neubildungen

Muskel/Skelett/Bindegewebe

Psychische Störungen

32,3

39,3

40

42,6

Kreislauf

42,6

Stoffwechsel/Verdauung

25,4

24,2

28,9

30

0

1995

2000

13,3 9,2 3,5

3,5 2010

12,8

12,8 9,3

10,0 3,9 2005

12,2

13,3

14,7

18,1 14,5 11,0 4,3

4,9

5,3

10,4

10

13,5

13,3

18,2

18,6

20

2015

2018

Quelle: Deutsche Rentenversicherung Bund (zuletzt 2019), Statistikportal der Deutschen Rentenversicherung.

Abbildung VIII.4 Todesursachen nach Krankheitsarten 2017

Krankheiten des Kreislaufsystems 37,0%

Krankheiten der Verdauungssystems 4,4%

Sonstige Krankheiten 11,9%

Psychische und Verhaltensstörungen 5,6%

Krankheiten des Atmungssystems 7,3%

Quelle: Statistisches Bundesamt (2019).

Verstorbene insgesamt: 932.272

Bösartige Neubildungen 24,4%

Herzinfarkt 5,0%

Äußere Ursachen 4,3% darunter: Suizid 1,0%

Gesundheitszustand der Bevölkerung

643

des vergangenen Jahrhunderts drastisch gewandelt haben. Waren es bis hinein ins 20. Jahrhundert vor allem die Infektionskrankheiten (Tuberkulose, Diphtherie, Meningitis, infektiöse Darmerkrankungen) und schwere Volksseuchen (Cholera, Fleckfieber, Pocken, Grippe), die einen wesentlichen Anteil unter den Todesursachen ausmachten, so entfällt heute der größte Teil der lebensbedrohenden Krankheiten auf Herz-Kreislauf-Krankheiten, die über 40 % aller Todesfälle verursachen sowie zu einem Viertel auf bösartige Neubildungen (Krebs.) (vgl. Abbildung VIII.4). 2.3

Behinderungen

Der medizinische und soziale Fortschritt schafft z. T. seine eigenen gesundheitlichen Folgeprobleme: Je höher die Lebenserwartung, umso größer werden die Zahl älterer Menschen und ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung und damit Zahl und Anteil der pflegebedürftigen Menschen (vgl. dazu Kapitel „Pflegebedürftigkeit und Pflege“) sowie der Menschen mit Behinderungen. Die in Deutschland lebenden Menschen mit Behinderungen sind keine genau abgrenzbare Gruppe. In Anlehnung an die Definition der WHO werden alle diejenigen als Behinderte bezeichnet, die von den Auswirkungen einer nicht nur vorübergehenden Funktionsbeeinträchtigung betroffen sind und deren Zustand von vergleichbaren Menschen des jeweiligen Lebensalters in körperlicher, geistiger oder seelischer Hinsicht abweicht. Die Abgrenzung der Schwerbehinderung geht von dieser Begriffsbestimmung aus und hebt auf die besondere Schwere der Behinderung ab. Über 9,4 % der Bevölkerung oder 7,8 Mio. sind (2017) als anerkannte Schwerbehinderte registriert. Darunter versteht man Personen mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 50 % und mehr. Die weitaus meisten Behinderungen sind dabei krankheitsbedingt und nicht angeboren. Insgesamt steigt der Anteil der Menschen mit Behinderungen an der Gesamtbevölkerung mit zunehmendem Lebensalter. So sind in der Altersgruppe zwischen 25 – 45 Jahren 2,9 % der Bevölkerung amtlich als anerkannte Schwerbehinderte registriert, in der Altersgruppe der 65 – 70jährigen sind es dagegen schon 22,3 % (vgl. Abbildung VIII.5). Generell liegt die ausgewiesene Schwerbehindertenquote der Frauen unter der der Männer. Weiterhin lässt sich eine schichtenspezifische Verteilung von Behinderungen nachweisen: Mit sinkendem Sozialstatus steigt der Anteil der Behinderten. Nur der kleinere Teil der Behinderten steht im Erwerbsleben. Aber im Erwerbsleben sind Behinderte weitaus stärker von Arbeitslosigkeit (insbesondere von Langzeitarbeitslosigkeit) betroffen; dies trotz bestehender Einstellungspflicht und eines besonderen Kündigungsschutzes nach SGB IX (vgl. Kapitel „Arbeit und Gesundheit“, Pkt. 2.2.3).

644

Gesundheit und Krankheit

Abbildung VIII.5 Schwerbehinderte und Schwerbehindertenquote nach Altersgruppen 2017 35 2622,4

2.500

30 2.000

29,1 25

22,3

1.500

20 19,7

17,4 1.000

907,1

860,6 593,6

500 1,3 0

15

12,0

1,9

137,5

166,2

unter 15

15-25

6,4

10

783,7

727,5

5

Schwerbehinderte in 1.000 (linke Achse)

2,9

25-45

968,1

45-55

55-60

60-65

65-70

in % der gleichaltrigen Bevölkerung

Schwerbehinderte in % der Bevölkerung (rechte Achse)

70-75

75 und älter

0

Quelle: Statistisches Bundesamt (2018), Fachserie 13, Reihe 5, Sozialleistungen: Schwerbehinderte.

2.4

Gesundheit und soziale Ungleichheit

Beeinträchtigungen der Gesundheit bis hin zum Auftreten schwerer Erkrankungen und einem vorzeitigen Tod zählen zu den zentralen Risiken des Lebens, die jeden Menschen betreffen können. Aus einer Reihe empirischer Untersuchungen lässt sich allerdings erkennen, dass die Risiken von Morbidität und Mortalität keineswegs gleich verteilt sind. Vielmehr differieren sie stark nach demografischen Merkmalen (Alter und Geschlecht), nach dem Erwerbstatus und den Arbeitsbedingungen sowie nach dem sozialen Status der Bevölkerung. Die sozialen Unterschiede im Gesundheitszustand werden besonders deutlich, wenn die Einkommenslage berücksichtigt wird. So bezeichnen Personen, die einem Armutsrisiko unterliegen (weniger als 60 % des Median-Einkommens), ihren Gesundheitszustand häufiger als weniger gut oder schlecht gegenüber Personen mit einem hohen Einkommen. Abweichungen zeigen sich neben der subjektiv eingeschätzten Morbidität der Befragten auch bei der Verbreitung chronischer Krankheiten und Beschwerden. In den Armutsrisikogruppen treten Erkrankungen wie Herzinfarkt, Schlaganfall, Diabetes mellitus oder chronisch-obstruktive Lungenerkrankung vermehrt auf. Das Risiko an diesen Erkrankungen zu erkranken, ist zwei bis drei Mal höher bei Personen, die von Armut betroffen sind. Nachweisbar ist auch, dass der Anteil von Personen mit einem anerkannten Grad der Behinderung von mindestens 50 % bei den unteren Einkommensgruppen höher als bei den oberen Einkommensgruppen.

Gesundheitszustand der Bevölkerung

645

Allerdings sind Wechselwirkungen zwischen „Einkommen“ und „Gesundheit“ zu beachten: Niedriges Einkommen (in Verbindung mit ungünstigen Arbeitsbedingungen oder gar Arbeitslosigkeit) kann zu gesundheitlichen Beeinträchtigungen führen. Ein schlechter Gesundheitszustand wie auch eine Behinderung wiederum können Ursache sein für schlechte Einkommenschancen. Lebenserwartung Empirisch gut belegt sind die Zusammenhänge zwischen sozialer Lage und Lebenserwartung. Dies gilt für die mittlere Lebenserwartung (bei der Geburt) als auch für die fernere Lebenserwartung (etwa ab Erreichen des 65. Lebensjahres): Je niedriger der Status – gemessen an Merkmalen wie Einkommen, Qualifikation, Lebensbedingungen und Art der Berufstätigkeit – desto größer sind die Risiken zu erkranken und auch früh zu versterben. Zwar haben sich im Zuge der steigenden Lebenswartung auch die „gesunden“ Lebensjahre verlängert, aber nicht alle Menschen haben diese positive Entwicklung der Lebenserwartung im gleichen Maße mitgemacht und sind bis ins hohe Lebensalter gesund. Denn gerade im fortgeschrittenen Lebensalter prägen sich die sozialen Ungleichheiten im besonderen Maße aus, da sich die physischen und psychischen Belastungen – verbunden mit geringeren materiellen, sozialen und kulturellen Ressourcen – über den Lebens- und Erwerbsverlauf hinweg kumulieren. Die Zugewinne der ferneren Lebenserwartung fallen deswegen in den unteren Statusgruppen deutlich geringer aus als in den mittleren und vor allem in den höheren Statusgruppen. So kommen Auswertungen auf der Datenbasis des Sozio-oekonomischen Panels, die die relative Position der Bevölkerung im Einkommensgefüge zum Maßstab nehmen, zu dem Ergebnis, dass die Abstände der mittleren Lebenserwartung zwischen der obersten und untersten Einkommensposition bei 8,6 Jahren (Männer) bzw. 6,6 Jahren (Frauen) liegen. Bei der ferneren Lebenserwartung ab 65 betragen die Spannen 6,6 Jahre (Männer) bzw. 3,7 Jahre (Frauen) (vgl. Abbildung VIII.6). Die Daten der Gesundheitsberichterstattung des Bundes (Robert-Koch-Institut) zeigen bei sozioökonomisch schwachen Personen eine überdurchschnittliche Konzentration von Risikofaktoren wie Rauchen, starkes Übergewicht sowie unzureichende sportliche Aktivität und bei Angehörigen der Oberschicht häufigeres Auftreten von Hypertonie und Hypercholesterinämie. Das Beschwerdeniveau in der Unterschicht ist deutlich höher als in der Oberschicht. Bei sozial benachteiligten Schichten entstehen Gesundheitsrisiken bereits in erheblichem Ausmaß im Kindes- und Jugendalter.

646

Gesundheit und Krankheit

Abbildung VIII.6 Lebenserwartung bei Geburt und ab 65 Jahren nach Einkommensposition, Männer und Frauen

80,9

150% und mehr

19,7 77,2

100 bis unter 150%

17

Männer

75,2

80 bis unter 100%

15,6 73,4

60 bis unter 80%

14,4

bei Geburt 70,1

unter 60%

ab 65 Jahre

12,3

des Durchschnittseinkommens 85,3

150% und mehr

22,5 84,4

100 bis unter 150%

21,8

Frauen 82

80 bis unter 100%

19,9 81,9

60 bis unter 80%

19,8 76,9

unter 60%

16,2 0

10

20

30

40

50

60

70

80

90

Quelle Lampert, Th. u. a. (2016), Gesundheitliche Ungleichheit im höheren Lebensalter, In: GBE Kompakt 01/2016, 1 – 13.

2.5

Verursachungszusammenhänge zwischen Gesundheitsrisiken und Krankheiten

Krankheiten sind das Ergebnis komplexer und nicht exakt bestimmbarer Verursachungszusammenhänge. Ganz allgemein kann zwischen mehreren gesundheitsgefährdender Faktoren unterschieden werden: • • • • •

genetische Disposition, äußere Einflüsse (Unfälle, Vergiftungen, Infektionen), Lebens-, Arbeits- und Umweltbedingungen, Bewältigungsressourcen, persönliche Lebensweise.

Veranlagungen und Bewältigungsressourcen Gesundheit hängt maßgeblich von der körperlichen und seelischen Belastungsfähigkeit ab. Die den Menschen von Geburt an genetisch mitgegebene physisch-psychische Konstitution unterliegt lebensgeschichtlich wirkenden Einflüssen und verändert sich

Gesundheitszustand der Bevölkerung

647

daher im Laufe der Zeit. Physisch-psychisch robuste Naturen sind eher imstande, körperliche oder seelische Belastungen ohne gesundheitliche Schädigungen zu ertragen als weniger stabil veranlagte Menschen. Die Bewältigungsmöglichkeiten sind von subjektiven und kollektiven Lernprozessen in Bezug auf den Umgang mit Belastungen abhängig. Umfang und Qualität der persönlichen Beziehungen zur Familie, zu Freunden oder Arbeitskollegen spielen eine große Rolle. Die gesamte soziale Einbindung des Menschen in seine Umgebung wirkt sich in gesundheitsrelevanter Weise auf sein Verhalten aus, bestimmt das Maß an sozialer Unterstützung und an psychischer Kraft, mit der er Belastungen bewältigen kann. Ein differenziertes und stabiles soziales Netzwerk kann eine wesentliche Hilfestellung und Unterstützung bei dem Bemühen um gesundheitsgerechte Lebensweise, die Bewältigung von Gesundheitsgefährdungen und Krankheiten sowie den Umgang mit Krankheitsfolgen sein. Umgekehrt wirkt sich ein Mangel an solchen sozialen Ressourcen negativ auf die gesundheitliche Lage und das gesundheitsbezogene Verhalten aus und erschwert einen positiven Umgang mit Krankheiten. Lebens-, Arbeits- und Umweltbedingungen Die Lebens- und Arbeitsbedingungen haben zusammen mit den Umwelteinflüssen einen maßgeblichen Einfluss auf die Gesundheit des Einzelnen. Wer einer Erwerbsarbeit nachgeht, die nicht nur inhaltlich anspruchsvoll und gut bezahlt ist, sondern sich zusätzlich durch positive Arbeitsbedingungen und ein geringes Belastungsniveau auszeichnet, ist in mehrfacher Hinsicht privilegiert: So ist das gesundheitsgefährdende Risikopotenzial unter solchen Umständen begrenzt. Zudem bieten sich vielfältigere Möglichkeiten, die außerbetrieblichen Lebensbedingungen gesundheitsgerecht zu gestalten. Großzügige, ruhige Wohnverhältnisse, Erholungsurlaub, gesundheitsfördernde Freizeitaktivitäten und Teilhabe am kulturellen Leben bieten günstige Voraussetzungen für die Regeneration der Arbeitskraft. Auch führt eine berufliche Arbeitssituation, die gekennzeichnet ist durch große Handlungs- und Entscheidungsspielräume, ein angenehmes Betriebsklima oder eine selbstverantwortete Tätigkeit mit entsprechender Zeitsouveränität zu mehr Arbeitszufriedenheit und weniger gesundheitlichen Beeinträchtigungen. Eine große Zahl der Erwerbstätigen ist jedoch belastenden Arbeitsbedingungen ausgesetzt: Lange und unregelmäßige Arbeitszeiten einschließlich Nacht- und Schichtarbeit, schwere körperliche Arbeit, schädliche Arbeitsumgebungseinflüsse und psychosoziale Belastungen können je nach Ausmaß und Intensität im Laufe eines Arbeitslebens zu mehr oder minder starken gesundheitlichen Beeinträchtigungen führen (vgl. Kapitel „Arbeit und Gesundheitsschutz“, Pkt. 1.1). Hinzu kommen die Umweltbedingungen, denen die Menschen allgemein – und auch am Arbeitsplatz – ausgesetzt sind. Die Luftverschmutzung, schadstoff belastete Böden oder verunreinigte Gewässer wirken sich unmittelbar oder beispielsweise über die Nahrungskette auf die Gesundheit der Menschen aus. Atemwegserkrankungen, Allergien, Krebserkrankungen, Frucht- und Erbgutschäden und viele andere

648

Gesundheit und Krankheit

Gesundheitsschädigungen stehen mit ökologischen Belastungsfaktoren im Zusammenhang. Zwar ist der Satz „Not ist hierarchisch, Smog ist demokratisch“ durchaus plausibel, gleichwohl besteht nach wie vor ein sozial gestaffeltes Gefälle vieler umweltbedingter Gesundheitsgefährdungen, insbesondere bei wohnortbedingten Lärmund Schadstoffemissionen. Lebens- und Verhaltensweisen Auch die individuelle Lebensweise der Menschen hat Einfluss auf den Gesundheitszustand. Bewegungsmangel, Fehl- und Überernährung, Rauchen, Alkoholkonsum usw. sind nachweislich Risikofaktoren, die insbesondere mit den chronisch-degenerativen Volkskrankheiten in Zusammenhang stehen. Lebens- und Verhaltensweisen sind vom Einzelnen beeinflussbar, lassen sich jedoch nicht beliebig verändern, sondern entwickeln sich vielmehr in enger Wechselbeziehung mit den allgemeinen Lebens- und Arbeitsbedingungen. Ganz generell ist die Lebensweise der Menschen Ausdruck ihres persönlichen Bewältigungsverhaltens gegenüber den Anforderungen und Belastungen des alltäglichen Lebens zu verstehen. Von hoher Bedeutung ist hier das Bildungsniveau. Denn das Bildungsniveau – angefangen bei der frühkindlichen Erziehung durch die Eltern bis hin zu den einzelnen Bildungsabschlüssen – beeinflusst nicht nur die berufliche Position, sondern hat Rückwirkungen auf eine gesundheitsförderliche Lebensweise sowie auf den Umgang mit Arbeitsbelastungen und auftretenden Gesundheitsproblemen. Gesundheitsbezogene Einstellungen und Verhaltensmuster bilden sich bereits im Kinder- und Jugendalter aus und haben häufig bis ins höhere Alter hinein Bestand. Die Daten der Gesundheitsberichterstattung zeigen bei den unteren Statusgruppen eine überdurchschnittliche Konzentration von Risikofaktoren wie Rauchen, starkes Übergewicht und unzureichende sportliche Aktivität. Dabei überlagern sich langfristige gesellschaftliche Entwicklungstrends und unmittelbar wirksame Einflussfaktoren, die z. B. aus den Arbeits- und Umweltbedingungen resultieren. So zeigen beispielsweise die empirischen Befunde, dass es einen deutlichen Zusammenhang zwischen bestimmten belastenden Arbeitsbedingungen wie z. B. Nacht- und Schichtarbeit, Akkordarbeit, Untertagearbeit und einem erhöhten Alkoholkonsum gibt (vgl. Kapitel „Arbeit und Gesundheitsschutz“, Pkt. 1.1.2).

Anforderungen und Handlungsfelder der Gesundheitspolitik

3

649

Anforderungen und Handlungsfelder der Gesundheitspolitik

Unter Gesundheitspolitik kann die Gesamtheit aller Maßnahmen und Leistungen verstanden werden, die sich auf mehrere Zielbereiche erstrecken: • •



Förderung und Erhalt der Gesundheit durch Minimierung der gesundheitsgefährdenden Risikopotenziale und ihrer Ursachen (Prävention), Linderung von Krankheiten und – wenn möglich – Wiederherstellung der Gesundheit durch Behandlung, Pflege und Rehabilitation von Kranken und gesundheitlich Beeinträchtigten mit Hilfe der Einrichtungen und Akteure des Gesundheitssystems (Kuration, Rehabilitation und Pflege), Sicherung des materiellen Lebensunterhalts im Fall von z. B. Krankheit, Arbeitsund Erwerbsunfähigkeit (soziale Sicherung bei Krankheit),

Gesundheitspolitik ist somit eine gesellschaftliche Querschnittsaufgabe, die unterschiedliche Politikfelder tangiert. Zwar steht das Gesundheitsversorgungssystem mit der ambulanten und stationären Versorgung und der gesetzlichen Krankenversicherung mit ihrer Sicherungs- und Lenkungsfunktion im Vordergrund; eine wirksame Gesundheitspolitik kann jedoch ebenso wenig auf Krankheitsverhütung durch das Arbeitsschutzsystem und die Umweltpolitik verzichten wie auf eine Kontrolle des knappen Ressourceneinsatzes für vorrangige Gesundheitsziele. 3.1

Gesundheitsförderung und Prävention

Mehr Ärzt:innen, wirksamere Arzneimittel und bessere medizinisch-technische Versorgung sind kein Allheilmittel, wenn es um die Bekämpfung insbesondere chronischer Erkrankungen geht. Erforderlich ist vielmehr, nach den Ursachen zu suchen und sich auf die Vermeidung von Erkrankungen zu konzentrieren. Zu unterscheiden ist bei der Ursachenbekämpfung zwischen Gesundheitsförderung und Prävention. Unter Gesundheitsförderung werden vor allem die unspezifischen Maßnahmen zum Erhalt der Gesundheit verstanden. Hierbei geht es um die Krankheitsverhütung im weiteren Sinne, wie u. a. um die Steigerung des gesundheitlichen Wohlbefindens und die Vermeidung von körperlichem und psychischem Verschleiß. Durch politisch-administrative Eingriffe sollen allgemeine, zunehmend globale Gesundheitsrisiken (z. B. Klimabelastung, Luft- und Wasserqualität) eingeschränkt werden. Eine maßgebliche Orientierung bietet die Ottawa-Charta der UNO zur Gesundheitsförderung von 1986. Sie betont, dass Gesundheitsförderung ein wesentlicher Bestandteil des alltäglichen Lebens ist und ein koordiniertes Handeln zur Schaffung gesundheitsfördernder Lebenswelten auf allen Ebenen und in allen Bereichen (Ernährung, Wohnen, Arbeiten, Freizeit etc.) der Gesellschaft erfordert. Sie bündelt die die Gesundheit fördernden Aktivitäten zu folgenden fünf Handlungsfeldern:

650

• • • • •

Gesundheit und Krankheit

Entwicklung einer gesundheitsfördernden Gesamtpolitik, Schaffung von gesundheitsfördernden Lebenswelten, Stärkung gesundheitsbezogener Aktivitäten in der Gemeinde, Förderung persönlicher Kompetenzen, Neuorientierung der Gesundheitsdienste.

Als Handlungsstrategien werden Beraten (advocating), Befähigen (enabling) und Vermitteln (mediating) vorgeschlagen, die Menschen werden selbst zu Akteuren der Prävention. Einen besonderen Stellenwert haben lokale Initiativen zur Gesundheitsförderung, weil sie individuelle Verhaltensänderungen mit regionalen Erfordernissen in Einklang bringen können. Die in der Ottawa-Charta konzipierte Gesundheitsförderung ist wesentlicher Bestandteil dessen, was man unter Public Health versteht. Zwar gibt es in Deutschland keine allgemein akzeptierte Abgrenzung dieses Begriffes, dennoch kann man Public Health als gesundheitspolitisches Konzept bezeichnen, das auf der Basis von sozialepidemiologischen Studien wissenschaftliche Strategien zur Verminderung der Erkrankungswahrscheinlichkeit bereitstellt. Gegenüber der Gesundheitsförderung kann präventive Gesundheitspolitik als spezielle Handlungsstrategie eines umfassenden Public Health Konzeptes angesehen werden. Sie zielt darauf ab, durch unterschiedliche Maßnahmen den Eintritt von vor allem chronischen Krankheiten zu verhindern oder zu verzögern, d. h. sie auf einen möglichst kurzen Abschnitt am Ende eines möglichst langen Lebens zu begrenzen oder eine Verschlimmerung bereits eingetretener Erkrankungen zu vermeiden. Dahinter steht die Erkenntnis, dass die Ursachen von einzelnen Krankheiten zu unterschiedlichen Anteilen auch in den Arbeits-, Lebens- und Umwelteinflüssen zu verorten sind. Zum Kernbereich präventiver Gesundheitspolitik gehört deshalb die Eindämmung arbeits- und umweltbedingter Gesundheitsrisiken. In der Gesundheitspolitik hat sich für diese Präventionsstrategien der Begriff Verhältnisprävention durchgesetzt. Maßnahmen sind insbesondere die Reduzierung von Schadstoffen in der Luft, im Wasser und im Boden, die Lebensmittelhygiene und -kontrolle sowie die Begrenzung bzw. die Reduzierung von Belastungen in der Lebens- und Arbeitswelt. Diese Maßnahmen sind in der Regel nicht auf konkrete Krankheitsbilder bezogen, sondern sind eher unspezifisch: Beispielsweise senkt saubere Luft das Risiko von ganz unterschiedlichen Erkrankungen der Atemwege und des Herz-Kreislaufsystems. Die politische Umsetzung der Verbesserung der Luftqualität ist aber alles andere als einfach: Es müssen Grenzwerte z. B. der Feinstaubbelastung normiert, kontrolliert und bei deren Überschreiten Fahrverbote von Automobilen durchgesetzt werden, was auf Widerstände von vielen Akteuren stößt. Davon zu unterscheiden ist die Verhaltensprävention, die auf ein gesundheitsgerechtes Handeln und Verhalten des Einzelnen bzw. von Gruppen zielt. Dies gilt besonders für die Vermeidung von solchen individuellen Verhaltensmustern, die als

Anforderungen und Handlungsfelder der Gesundheitspolitik

651

Risikofaktoren für das Entstehen von Erkrankungen gelten können. Prominenteste Beispiele für verhaltenspräventive Konzepte sind die Einschränkung des Rauchens, um das Lungenkrebsrisiko zu reduzieren, eine gesunde Ernährung, um Stoffwechselerkrankungen vorzubeugen, oder der Ausbau der Zahnprophylaxe, um Karieserkrankungen zu vermeiden. Angeboten werden Programme und Konzepte, z. B. zum Abbau von Bewegungsmangel, zur Senkung des Bluthochdrucks, zur Raucherentwöhnung, zur Gewichtsreduzierung, zur gesunden Ernährung und Stressbewältigung. Der Vorteil verhaltenspräventiven Vorgehens ist, dass die Verantwortlichkeit für Prävention zielgenau beim Individuum ansetzen kann, ohne lange politische oder bürokratische Entscheidungsprozesse abwarten zu müssen. Offen bleibt allerdings, in welchem Maße sich die Bevölkerung an diesen Programmen beteiligt und ob es gelingt, risikoarme und gesundheitsfördernder Lebensformen zu praktizieren. Da zahlreiche gesundheitsschädigende Verhaltensweisen ihre Ursache z. B. in beruflicher Über- oder Unterforderung, in Arbeitslosigkeit oder in familiären Konfliktsituationen haben, muss die verhaltensorientierte Präventionspolitik die objektiven Begrenzungen der individuellen Handlungsspielräume durch die vorgegebenen Lebensbedingungen berücksichtigen und diese nach Möglichkeit selbst zum Gegenstand von Lernprozessen machen. Dies kann durch Stärkung der individuellen und kollektiven Bewältigungsmöglichkeiten von Belastungen geschehen. Während bei der Verhaltens- und Verhältnisprävention die gesellschaftlichen Verhältnisse bzw. die Lebensweise des Individuums Gegenstand von Interventionen sind, setzt die Unterscheidung in Primär-, Sekundär- und Tertiärprävention an dem Entstehungszeitpunkt einer Erkrankung an. Diese Präventionsmaßnahmen werden überwiegend vom Gesundheitssystem im engeren Sinne geleistet: • •

Ein typisches Beispiel für primärpräventive Maßnahmen, die die Entstehung von Erkrankungen verhindern sollen, sind die Schutzimpfungen. Für die Krankenversicherung haben vor allem die sekundärpräventiven Maßnahmen, wie Vorsorge- oder Früherkennungsuntersuchungen, große Bedeutung. Sie zielen nicht auf die Verhinderung, sondern auf die Früherkennung beginnender Erkrankungen. Damit kann die Therapie bereits zu einem früheren Zeitpunkt einsetzen, so dass im Allgemeinen die Heilungschancen vergrößert und die Behandlungsdauer verkürzt werden. Unstrittig sind Früherkennungsmaßnahmen allerdings nur, wenn zum Zeitpunkt der Diagnose auch entsprechende Therapiekonzepte vorliegen. Massenscreenings (medizinische Suchverfahren wie z. B. Labortests, Mammographie, physikalische Messungen usw.) sind nicht generell sinnvoll und z. T. sogar mit neuen Risiken behaftet. So sind zum Beispiel Röntgenuntersuchungen immer mit Strahlenbelastungen verbunden. Eine zusätzliche Belastung des Organismus ist aber nur bei konkreten Verdachtsmomenten zu vertreten. Die Krankenkassen können die Inanspruchnahme der bereits bestehenden Früherkennungsuntersuchungen verbessern, wenn diese nicht nur passiv angebo-

652

Gesundheit und Krankheit

ten werden, sondern aktiv an die Zielgruppen herangetragen werden, z. B. durch bessere Kooperation mit den Hausärzten. • Tertiärpräventive Maßnahmen, zu denen häufig auch die Rehabilitation gezählt wird, widmen sich den Folgen von Erkrankungen. Sie sollen – soweit möglich – den Gesundheitszustand vor der Erkrankung wiederherstellen, zumindest aber Verschlimmerungen oder Folgeerkrankungen vorbeugen sowie eine berufliche und soziale Wiedereingliederung herbeiführen (vgl. Pkt. 10 dieses Kapitels). Angesichts der Zunahme chronischer Erkrankungen werden Primär-, Sekundär- und Tertiärprävention immer wichtiger. Gelingt es, das Eintreten derartiger Erkrankungen in spätere Lebensjahre zu verschieben oder Verschlimmerungen vorzubeugen, ist dies nicht nur mit mehr Lebensqualität für die Betroffenen verbunden, sondern wirkt sich zudem kostensenkend aus. Ein Problem der Prävention in Deutschland ist das der Zuständigkeit. Sie erstreckt sich von der kommunalen Ebene (Gesundheitsämter) bis zur Verantwortung des Bundes (als Gesetzgeber) und der EU (Festlegung von Grenzwerten für Schadstoffemissionen), sie umfasst alle Institutionen des Gesundheitssystems (Leistungserbringer, Sozialversicherungsträger, private Versicherungen) und reicht weit in die Arbeits-, Umwelt-, Landwirtschafts-, Wirtschafts-, Bildungs- und Verkehrspolitik hinein. Berührt werden die Arbeits- und Lebenswelten wie Kita, Schule, Betriebe, Sport, Selbsthilfegruppen. Um diese unterschiedlichen Akteure und Ebenen zusammenzubringen, werden in einer „nationalen Präventionskonferenz“ bundeseinheitliche, trägerübergreifende Rahmenempfehlungen erarbeitet und eine nachhaltige Präventionsstrategie entwickelt. Beteiligt sind u. a. die Spitzenorganisationen der gesetzlichen Sozialversicherung, die Gebietskörperschaften, die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, die Bundesagentur für Arbeit, Patientenvertretungen sowie Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände. Das Präventionsgesetz von 2015 setzt dafür die Rahmenbedingungen und verpflichtet u. a. die Sozialleistungsträger zur Zusammenarbeit bei der Gesundheitsförderung insbesondere in den Kommunen (Kitas, Schulen, Pflegeeinrichtungen) und in den Betrieben. Ob und in welchem Maße es durch Präventionsstrategien zu Einsparungen im Feld der kurativen Medizin kommt, ist ungewiss. In konkreten Euro-Beträgen ausdrücken lassen sich derartige Minderausgaben, die ja erst in langfristiger Sicht erwartet werden können, ohnehin nicht. Auf der anderen Seite sind Präventionsmaßnahmen auch ausgabenwirksam. Bei der Erfassung der Ausgaben für Prävention und Gesundheitsschutz berücksichtigt das Statistische Bundesamt den allgemeinen Gesundheitsschutz, die Gesundheitsförderung, Früherkennungsmaßnahmen, Gutachten/Koordination und kommt für das Jahr 2017 zu einem Anteilswert von 3,2 % der Gesamtausgaben. Allerdings werden hier nur die unmittelbaren Ausgaben berücksichtigt; Kosten und Nutzen von Maßnahmen der Verhältnisprävention in den Bereichen Umweltpolitik, Landwirtschaftspolitik, Verkehrspolitik usw. lassen sich nicht bilanzieren.

Anforderungen und Handlungsfelder der Gesundheitspolitik

3.2

653

Linderung von Erkrankungen, Wiederherstellung der Gesundheit

Die Begrenzung bzw. Linderung von Krankheiten und möglichst die Wiederherstellung der Gesundheit bilden die zentrale Aufgabe des Gesundheitssystems. Um die gesundheitlich Beeinträchtigten und Kranken kümmert sich ein hoch differenziertes Geflecht von medizinischen und paramedizinischen Berufsgruppen und Einrichtungen. Die Hauptzentren sind der ambulante Sektor (Ärzt:innen, Zahnärzt:innen, Psychotherapeut:innen) und der stationäre Sektor (Krankenhäuser) und quer dazu die Versorgung mit Arzneimitteln sowie Heil- und Hilfsmitteln. Dazu gehören auch die therapeutischen Berufe (Ergo- und Physiotherapeut:innen, Logopäden) und Einrichtungen, die sich mit solchen Erkrankten befassen, die sich nicht (mehr) in medizinischer Akutbehandlung befinden, aber gleichwohl der gesundheitlichen Versorgung bedürfen. Dies sind vor allem Rehabilitationskliniken und Sonderkrankenhäuser sowie Einrichtungen der Hospiz- und Palliativversorgung. Übersicht VIII.1 vermittelt einen Eindruck davon, mit welchen Maßnahmen im Gesundheitswesen auf Prävention, Kuration und Rehabilitation von Krankheiten bzw. kranken Menschen hingewirkt wird. Die Akteure und Einrichtungen des Gesundheitssystems werden keineswegs automatisch initiativ, wenn gesundheitliche Beeinträchtigungen und Krankheiten auftreten. Voraussetzung ist, dass die Menschen ihre gesundheitlichen Probleme auch als solche wahrnehmen und für behandlungsbedürftig halten. Das hängt von ihrem individuellen Gesundheits- und Krankheitsverständnis, aber auch von den sonstigen Lebensbedingungen und den daraus resultierenden Zwängen ab. Ein großer Teil meist leichterer Erkrankungen gelangt überhaupt nicht bis in das professionelle Medizinsystem. Sie werden gar nicht kuriert oder individuell behandelt und verbleiben somit im Laiensystem. Viele Krankheiten und Krankheitsfolgen werden vor, während und nach Beendigung der (Akut-)Behandlung im Medizinsystem auch durch Gesundheitsselbsthilfegruppen aufgegriffen, die als Bindeglied zwischen dem Einzelnen und dem professionellen System fungieren. Das Spektrum der Krankheiten, für die das gilt, hat sich im Laufe der Jahre stark ausgeweitet. Es reicht von Suchtkrankheiten, wie z. B. Alkoholismus über Behinderungen, psychische Erkrankungen bis hin zu rheumatischen Erkrankungen und Herz-Kreislauf-Krankheiten (vgl. Kapitel „Soziale Dienste“, Pkt. 8.3.3).

654

Gesundheit und Krankheit

Übersicht VIII.1 Ziele und Maßnahmen im Gesundheitswesen Bereich

Ziel

Maßnahmen (Beispiele)

Primärprävention (Vorsorge)

Verhütung der Entstehung von Krankheit durch • Verstärkung der körpereigenen Abwehrkräfte • Verhütung von Faktoren, die das Krankheitsrisiko erhöhen • generelle Begrenzung potenziell belastender Umweltfaktoren

Spezifische Maßnahmen: • Schutzimpfungen • Fluoridprophylaxe • Vitamin D-Prophylaxe

Sekundärprävention (Krankheitsfrüherkennung)

Erkennung von pathologischen Abweichungen im Frühstadium einschließlich Aufdecken von Risikofaktoren, die bereits einen krankhaften Zustand beschreiben

Screening-Verfahren • Massenscreening (z. B. Tbc-Untersuchung) • selektives Screening (z. B. Früherkennung bei Kindern) • Selbstuntersuchungen (z. B. Zuckertest) • Verbesserte Information der Laien und Ärzte über Früherkennung

Kuration (Behandlung)

Heilung/Linderung erkannter Krankheiten • im ambulanten Bereich • im stationären Bereich • Versorgung mit Arzneimitteln, Heil- und Hilfsmitteln

• • • •

Rehabilitation (Tertiärprävention)

Verhinderung von Rückfällen bei bereits geheilten und von Verschlimmerung bei gelinderten Krankheiten

Kompensation verlorener Funktionen

Vermeidung von Folgeerkrankungen Schaffung größtmöglicher Funktionsfähigkeit trotz bestehender und irreversibler Schäden

Unspezifische Maßnahmen: • Etablierung von gesundheitsfördernden Einstellungen und Normen • Verhaltensbeeinflussung zu ausgewogener Lebensführung) • Verbesserung der Wohn- und Arbeitssituation • Umweltschutz

Ärztliche Heilkunst Psychotherapie Verhaltensbeeinflussung Arzneitherapie, therapeutische Verfahren (Physio- und Ergotherapie) • Einkommenssicherung bei Krankheit und Kostenübernahme der Behandlung

Ständige Kontrollen Dauermedikation Arbeitsplatz-/Berufswechsel Verhaltensbeeinflussung Einkommenssicherung bei Wiedereingliederung und Kostenübernahme der Rehabilitation

Anforderungen und Handlungsfelder der Gesundheitspolitik

3.3

655

Ökonomische und ethische Fragen des Einsatzes von Ressourcen

Bei der Gesundheitspolitik – wie auch in anderen Bereichen der Sozialpolitik – stellt sich grundsätzlich das Problem, Finanzmittel auf den vielfältigen Bedarf für Gesundheitsleistungen zu verteilen. Ökonomische Überlegungen über Ressourcen, Knappheit, Mitteleinsatz und Finanzierung spielen insofern eine wichtige Rolle. Werden knappe Mittel ineffektiv (unwirksam) und/oder ineffizient (unwirtschaftlich) eingesetzt, stehen möglicherweise für wichtige andere Aufgaben keine Gelder mehr zur Verfügung. Auf der Makroebene geht es beispielsweise um die Frage, wie viele Mittel für Kuration und wie viele Mittel für Prävention zur Verfügung gestellt werden sollen. Vermutlich wäre der Nutzen der eingesetzten Mittel höher und könnte ein besserer Gesundheitszustand realisiert werden, wenn mehr Ressourcen für Gesundheitsförderung und Prävention zur Verfügung stünden. Auf der Mesoebene stellt sich die Frage, wie das Gesundheitsversorgungssystem unter ökonomischen Gesichtspunkten aufgebaut ist und wie Leistungserbringung und Finanzierung funktionieren. Hier geht es z. B. darum, wie ambulante und stationäre Versorgung so organisiert und aufeinander abgestimmt werden, dass ein Nebeneinander von Über- und Unterversorgung sowie medizinisch nicht erforderliche und nicht sinnvolle Verfahren vermieden werden. Auf der Mikroebene schließlich interessieren die Organisation und das einzelwirtschaftliche Verhalten von Leistungserbringern wie Arztpraxen oder Krankenhäusern. Hier ist nicht nur zu prüfen, wie hier jeweils effektiv und effizient gearbeitet wird, sondern auch welche Auswirkungen Wettbewerbsbeziehungen und die Konkurrenz um finanzielle Ressourcen zwischen den Einrichtungen auf die Qualität der Leistungserbringung haben. Wie lässt sich erreichen, dass sich der Wettbewerb auf die bestmögliche Versorgung von (chronisch) Kranken bezieht und nicht auf Kostenminimierung und Gewinnmaximierung ? Ökonomischer Mitteleinsatz ist stets eng verknüpft mit ethischen Fragen. Dies zeigt folgendes Beispiel: Soll ein Früherkennungsprogramm, das mit hohen Kosten verbunden ist, alle Personen ab einer Altersgrenze umfassen oder sollen nur Risikogruppen in das Programm einbezogen werden ? Die Kosten der zweiten Vorgehensweise sind wesentlich geringer, als die der ersten. Dafür stünden dann Mittel für andere Zwecke zur Verfügung. Bei der ersten Variante dagegen ist die Erfassung total. Unterstellt man jedoch Mittelknappheit, müsste an anderen medizinischen Aufgaben gespart werden. Ökonomische Berechnungen können ethische Entscheidungen also nicht ersetzen. Ethische Vorgaben sind gleichsam Rahmenbedingungen für ökonomisches und medizinisches Handeln. Dies wird besonders deutlich, wenn über eine mögliche Rationierung medizinischer Leistungen gesprochen wird. Zwei Formen kommen in Betracht. Die explizite Versagung von Leistungen für bestimmte Personengruppen, z. B. nach Kriterien wie Alter, Schweregrad einer Behinderung, Höhe der Kosten etc. Sollen eine Dialy-

656

Gesundheit und Krankheit

se-Behandlung oder eine Hüftgelenkoperation auch noch für über 80jährige durchgeführt und finanziert werden ? „Lohnt“ sich das noch ? Eine derartig ökonomisch begründete Verweigerung einer medizinisch wirksamen Leistung gibt es in Deutschland nicht. Denn es lässt sich darauf verweisen, dass derartige Entscheidungsprobleme nur vordergründig existieren. Gesundheitspolitik verfügt über genügend Finanzierungsspielräume, um Leistungen, die medizinisch anerkannt sind und deren Nutzen unbestritten ist, allen zugutekommen zu lassen. Eine gänzlich andere Frage ist, bis zu welchem Ausmaß belastende medizinische Maßnahmen bei schweren, unheilbaren Erkrankungen noch ethisch zu vertreten und von den Betroffenen und ihren Angehörigen gewünscht sind, wenn damit lediglich eine Verlängerung des Leidens und Lebens erreicht werden kann. Gesundheitspolitik muss sich aber auch mit dem Problem einer impliziten Rationierung auseinandersetzen. Da die Ressourcen nicht unendlich sind, entsteht die Aufgabe Prioritäten zu setzen. Welche Leistungen sind vorrangig und müssen besser ausgestattet werden, welche Leistungen sind weniger wichtig ? Wie dicht muss – auch in ländlichen Regionen – die Versorgung mit Arztpraxen sein, um lange Wartezeiten, die sich z. B. hinsichtlich der Früherkennung von Krankheiten gefährlich auswirken können, zu vermeiden ? Ist es vertretbar, dass es Krankenhäuser der Maximalversorgung nicht überall, sondern nur vereinzelt gibt, so dass bei schweren Unfällen, die sofortige Eingriffe erforderlich machen, längere Wegezeiten in Kauf genommen werden müssen ?

4

Das Gesundheitssystem

4.1

Besonderheiten von Angebot und Nachfrage

Wenn Menschen krank werden, Ärzt:innen aufsuchen müssen, Arzneimittel benötigen oder ein Krankenhausaufenthalt erforderlich wird, so nehmen sie Einrichtungen, Leistungen und Güter des Gesundheitswesens in Anspruch. Wenn im Folgenden das Gesundheitswesen in der Bundesrepublik dargestellt und analysiert werden soll, dann werden dabei nicht allein medizinische und soziale Probleme berührt, gleichermaßen bedeutsam ist auch die ökonomische Dimension: Ärzteschaft, pharmazeutische Unternehmen und Krankenhäuser sind – ökonomisch gesehen – Anbieter im Gesundheitswesen. Nachfrager sind die Kranken, die die Gesundheitsleistungen und -güter benötigen. Seit langem wird in Deutschland – wie auch im Ausland – eine Diskussion darüber geführt, ob und inwieweit die Bedarfsdeckung im Gesundheitsbereich primär über den Markt oder durch die Politik gesteuert werden soll. Dabei ist unstrittig, dass der Markt für Gesundheitsleistungen nicht mit dem Markt etwa für Konsumgüter vergleichbar ist, da er gleich mehrfache Besonderheiten aufweist. Strittig ist, in welchem Maße und in welchen Bereichen es erforderlich ist, den Markt als Zuteilungs-

Das Gesundheitssystem

657

modell von Gesundheitsleistungen zu begrenzen und ihn einer sozialstaatlichen Regulierung zu unterwerfen. Ökonomisch gesehen setzt eine Versorgung über den Markt auf der Nachfrageseite vor allem voraus, dass •

Patient:innen wissen, worunter sie leiden, welche Diagnostik eingesetzt werden muss, welche Therapie erforderlich ist und welche Dienstleistung bzw. welches „Produkt“ sie erwerben wollen, • Transparenz über das vorhandene Angebot existiert, • die Betroffenen zeitlich und räumlich eigenständig und frei entscheiden können („Konsumentensouveränität“) und zugleich in der Lage sind, den Preis für die Leistungen auch bezahlen zu können, Diese grundlegenden Voraussetzungen sind aber bei der Nachfrage nach Gesundheitsleistungen nicht oder nur unzureichend vorhanden. Vielmehr bestimmen wie bei den sozialen Diensten insgesamt auch bei den Gesundheitsdiensten gleich mehrere Besonderheiten die Situation (vgl. dazu ausführlich Kapitel „Soziale Dienste“, Pkt. 2.1): Unbestimmtheit der Nachfrage Der Bedarf von Kranken an Heilung oder Linderung ist meist unspezifisch. Die Betroffenen können bestenfalls entscheiden, ob, wann und zu welchem/r Arzt/Ärztin sie gehen (Primärnachfrage). Ansonsten bestimmen Ärzt:innen durch ihre Diagnosen, Therapien, Überweisungen, Krankenhauseinweisungen, Arzneimittelverordnungen usw. die Sekundärnachfrage. Denn die zu erwerbende „Leistung“ Heilung bzw. Linderung steht vor einer Behandlung noch nicht fest. Bei vielen Erkrankungen, so vor allem bei chronischen Erkrankungen, ist das Behandlungsziel kaum abschätzbar. So gesehen sind die Leistungserbringer und nicht die Leistungsempfänger die eigentlichen Nachfrager im Gesundheitssystem. Unvollständige Information Das Informationsgefälle zwischen Auftraggebern bzw. Leistungsempfängern auf der einen und Beauftragten bzw. Leistungserbringern auf der anderen Seite (Prinzipal und Agent) ist übergroß. Die Information über die Notwendigkeit, Art, Ausmaß und Qualität einer Behandlung, ist nicht gewährleistet. Den Kranken fehlen die Kenntnisse, um die ärztlichen, therapeutische oder pflegerische Leistungen beurteilen und kontrollieren zu können. Auch die Wirksamkeit oder Gefährlichkeit von Arzneimitteln können Laien nicht abschätzen. Letztlich entscheiden die behandelnden Ärzt:innen auf der Grundlage medizinischer Erkenntnisse, was als gesund und krank zu gelten hat und welche Diagnose und Therapie zum Zuge kommen. Dazu gibt es keine Alternative. Gesundheitliche Dienstleistungen sind deshalb sog. Vertrauensgüter. Hier müssen Leistungsempfänger darauf vertrauen, dass sie die richtige Leistung erhalten.

658

Gesundheit und Krankheit

Die Medizin kennt bei den heute vorherrschenden Krankheiten eine Fülle z. T. widersprüchlicher Behandlungsmethoden. Versuche, Effizienz, Qualität und Kosten transparent zu machen, z. B. in Bezug auf Arzneimittel und Krankenhausversorgung, sind bisher erst in Teilbereichen gelungen. Ein Ansatz besteht darin, durch evidenzbasierte Leitlinien Ärzt:innen und Patient:innen bei der Entscheidung über zweckdienliche Maßnahmen der Krankenversorgung (Prävention, Diagnostik, Therapie und Nachsorge) zu unterstützen. Koproduktion und uno-actu Prinzip Die Inanspruchnahme einer gesundheitlichen Dienstleistung setzt wegen ihrer fehlenden Transport- und Lagefähigkeit nicht nur die gleichzeitige Anwesenheit von Leistungserbringer und Leistungsempfänger voraus (uno-actu Prinzip), was wohnortnahe Angebote erfordert, sondern auch die Bereitschaft und Fähigkeit der Leistungsempfänger, sich am Prozess der Leistungserstellung aktiv zu beteiligen (Koproduktion). Abkopplung der Nachfrage von der Zahlungsfähigkeit Entscheidend ist jedoch vor allem, dass der Preis den Zugang zum Gesundheitssystem und die Nachfrage nach medizinischen Leistungen nicht steuern und begrenzen soll. Denn individuell zu zahlende Preise machen die Nachfrage vom Einkommen abhängig. Im Zuge der sozialstaatlichen Entwicklung der Bundesrepublik ist ein breiter gesellschaftspolitischer Konsens darüber entstanden, allen Bürger:innen im Krankheits- und Bedarfsfall die notwendigen Gesundheitsgüter und -leistungen gleichermaßen zur Verfügung zu stellen. Dieses Ziel kann nur erreicht werden, wenn die Nachfrage von der individuellen Zahlungsfähigkeit abgekoppelt wird. Dies ist nicht nur für die Bezieher von Niedrigeinkommen von großer Bedeutung. Selbst hohe Einkommen reichen oft nicht aus, um z. B. die Kosten einer intensivmedizinischen Krankenhausbehandlung oder einer andauernden Arzneimitteltherapie bei chronischen Krankheiten abzudecken. Eine gesicherte Finanzierung außerhalb des Marktsystems ist schließlich auch notwendig, um zu verhindern, dass sich die Weiterentwicklung der Medizin mangels kaufkräftiger Nachfrage selbst blockiert. Diese Notwendigkeit zur kollektiven Finanzierung der Nachfrage kennzeichnet damit den „Gesundheitsmarkt“ als einen besonderen Markt. Ähnliche Verhältnisse charakterisieren die sozialen Dienste insgesamt. Gesundheitsmarkt als Anbietermarkt Daraus ergibt sich, dass sich auch auf der Angebotsseite Besonderheiten zeigen, die den marktwirtschaftlichen Idealvorstellungen widersprechen. Im Grundsatz ist der Gesundheitsmarkt ein Anbietermarkt, der den Leistungserbringern eine dominante Position einräumt. Zwischen Angebot und Nachfrage besteht kein Gleichgewicht. Der/die Patient:in befindet sich vielfach in einer Notsituation und kann nicht frei entscheiden, ob, wann und wo er/sie sich behandeln lassen will. Soll Heilung erfol-

Das Gesundheitssystem

659

gen, muss häufig sofort behandelt werden. Bei der Anschaffung eines Autos oder eines TV-Gerätes spielt dagegen der Zeitfaktor keine so entscheidende Rolle. Auch der Preis ist kein Qualitätsindikator. In Notlagen, etwa bei einem lebensbedrohlichen Unfall, orientiert sich die Nachfrage nach schnellstmöglicher Behandlung überhaupt nicht am Preis. Es würde jeder Preis gezahlt, um Leben zu retten. Die Ärzt:innen entscheiden im Rahmen ihrer professionellen Kompetenz, welche Diagnose- und Behandlungsverfahren eingesetzt und welche Arzneimittel verschrieben werden. Doch nicht jeder weitere Arztbesuch oder jeder verlängerte Krankenhausaufenthalt ist auch medizinisch erforderlich. Und neue oder zusätzliche Diagnose- und Therapieverfahren sind nicht automatisch sinnvoll und wirksam. Da auf dem Markt das wirtschaftliche Eigeninteresse nach hohen Umsätzen, Gewinnen und Einkommen eine Rolle spielt, erwächst daraus die Tendenz einer solchen angebotsinduzierten, aber medizinisch nicht immer erforderlichen Mengenausweitung. Hier sind regulierende politische Eingriffe erforderlich. 4.2

Grundmodelle der Gesundheitsversorgung

Diese Besonderheiten des Gesundheitsmarktes hinsichtlich Nachfrage und Angebot haben historisch dazu geführt, dass in den meisten entwickelten Industriestaaten sowohl die Finanzierung des Gesundheitssystems als auch die Organisation der Leistungserbringung mehr oder minder deutlich vom reinen Marktmodell abweichen. Dabei lassen sich folgende Grundtypen unterscheiden: Finanzierung • Gesetzliche Krankenversicherung Es besteht eine Pflichtversicherung in der gesetzlichen Krankenversicherung. Der Kreis der versicherungspflichtigen Personen und der Leistungskatalog werden gesetzlich geregelt. Die Versicherung stellt die medizinische Leistung als Sachleistung kostenlos zur Verfügung (Sachleistungsprinzip). Anspruchsberechtigt ist der Kreis der jeweils Versicherten. Die Krankenkassen finanzieren sich über Beiträge, die die anfallenden Kosten decken (Kostendeckungsprinzip). Diese sind im Gegensatz zur PKV nicht risiko-, sondern einkommensabhängig (Solidarprinzip) bemessen. • Private Krankenversicherung Um Vorsorge vor den unkalkulierbaren Krankheitsrisiken zu treffen, kann Schutz bei einer privaten Krankenversicherung gesucht werden. Preis und Leistungsumfang der auf Gewinnerzielung ausgerichteten Versicherungen variieren. Die Versicherung erstattet die von den Leistungserbringern in Rechnung gestellten Kosten ganz oder anteilig (Kostenerstattungsprinzip). Der Preis der Versicherung (Prämie) ist risikoabhängig: Je höher das Gesundheitsrisiko, je schlechter der Gesundheitszustand, desto höher fällt die Prämie aus.

660

Gesundheit und Krankheit



Direktzahlungen Die Zahlungen an die Leistungserbringer erfolgen unmittelbar aus laufendem Einkommen oder Vermögen der Kranken. Hierbei ist zu beachten, dass diese Finanzierungsform – wenn überhaupt – nur von einer wohlhabenden Minderheit wahrgenommen werden kann. Für die Masse der Bevölkerung sind Direktzahlungen gesundheits- und sozialpolitisch nur dann vertretbar, wenn es sich um geringfügige Kosten handelt. Eine besondere Form der Direktzahlung stellen die Zuzahlungen und die sog. individuellen Gesundheitsleistungen (IGeL) dar (vgl. 5.1.4). • Staatshaushalt Der Staat finanziert über allgemeine Steuermittel die Leistungen, die von den Bürger:innen kostenlos in Anspruch genommen werden können (z. B. Krankenhausbehandlung). Das Gesundheitsbudget ist Teil des Staatsbudgets. Leistungserstellung • Privatwirtschaftliche Anbieter Private Anbieter wie gewinnwirtschaftliche Unternehmen (z. B. Pharmaindustrie, Hersteller medizinisch-technischer Geräte), Freiberufler in Arztpraxen und Apotheken sowie gemeinnützige Einrichtungen (z. B. Krankenhäuser) verkaufen ihre Güter und Leistungen. Leistungserstellung und Preisgestaltung können dabei durch gesetzliche Regelungen normiert werden. Dies drückt sich z. B. im Arzneimittelrecht aus oder in der staatlichen Zulassung zur Berufsausübung von Ärzt:innen und Apotheker:innen (Approbationsordnung, Gebührenordnungen usw.). Diese privatwirtschaftliche Form der Leistungserstellung kann idealtypisch zusammentreffen mit • privaten Direktzahlungen der Kranken, • Kostenerstattungen durch Privatversicherungen, • einer Finanzierung durch die gesetzliche Krankenversicherung. Hier schließen die Krankenkassen mit den Anbietern (und ihren Verbänden) Verträge über Preise und Mengen ab. • Einrichtungen der Krankenkassen Die Krankenkassen erstellen in eigener Regie medizinische Leistungen und Güter. Sie stellen z. B. in Ambulatorien Ärzt:innen an, die die ambulante Versorgung für die Versicherten übernehmen. Weitere Möglichkeiten bestehen in kasseneigenen Laboratorien, Röntgeninstituten oder Gesundheitszentren. Die Finanzierung erfolgt durch die Kassen. • Öffentliche Einrichtungen Der Staat, d. h. die einzelnen Gebietskörperschaften, übernimmt die Leistungserstellung und beschäftigt in Gesundheitsämtern, Krankenhäusern und Gesundheitszentren Ärzt:innen, Pflegepersonal usw. Öffentliche Leistungserstellung und Finanzierung sind in der Regel integriert. Durch staatliche Finanzierung und Leistungserstellung entsteht ein umfassendes Gesundheitsversorgungssystem für alle Bürger:innen (nationaler Gesundheitsdienst).

Das Gesundheitssystem

661

Es handelt sich bei dieser Auflistung um Idealtypen, die sich in der Realität in den unterschiedlichen Ländern vermischen. Rein marktwirtschaftliche Systeme gibt es nicht, auch nicht in den USA. Die dort dominierenden marktlichen Elemente (Privatversicherungen und gewinnwirtschaftliche Leistungsanbieter) werden u. a. auf der Finanzierungsseite durch steuerfinanzierte Sicherungssysteme für Arme und Ältere (Medicare und Medicaid) und auf der Leistungsseite durch öffentliche oder gemeinnützige Träger (vor allem in der stationären Versorgung) ergänzt. Auch rein staatliche Systeme finden sich in Europa nicht (mehr). Ausgeprägt waren sie in der DDR und in den anderen sozialistischen Staaten. Der National Health Service in Großbritannien ist zwar steuerfinanziert, aber die Leistungserstellung, insbesondere im ambulanten Sektor, erfolgt aber auch durch private/privatwirtschaftliche Anbieter. Für die Gesundheitssysteme in den einzelnen Ländern gilt, dass sie historisch gewachsen sind und eine hohe Strukturkontinuität aufweisen, was nicht zuletzt eine Angleichung der Systeme in der EU ausschließt (vgl. Pkt. 11 dieses Kapitels). Zu einem radikalen Bruch ist es allerdings in den neuen Bundesländern gekommen, da im Zuge der Wiedervereinigung das DDR-System voll und ganz durch das westdeutsche System ersetzt wurde. Es handelt sich durchgängig um komplexe Systeme. Denn anders als bei den Leistungen der sozialen Sicherung, die sich auf Einkommensübertragungen konzentrieren (Renten, Arbeitslosengeld), spielt in den Gesundheitssystemen die monetäre Umverteilung eine nur geringe Rolle. Die Aufgabe ist umfassender: Es müssen soziale und medizinische Dienstleistungen und Einrichtungen sowie Arzneimittel und Medizinprodukte bereitgestellt und finanziert werden. Wenn die Erbringung dieser Leistungen nicht direkt durch den Staat erfolgt, kommen die privaten/privatwirtschaftlichen Anbieter ins Spiel. Sie agieren jeweils nach dem ökonomischen Prinzip der Gewinnmaximierung, müssen aber durch Regulierungen so gesteuert werden, dass dies nicht den Zielen der Gesundheitspolitik zuwiderläuft. 4.3

Strukturmerkmale des Gesundheitssystems in Deutschland

4.3.1 Rahmenregelung durch den Staat

Das deutsche Gesundheitssystem ist durch die gesetzliche Krankenversicherung (GKV) geprägt. Rund 90 % der Bevölkerung sind als Mitglieder, Rentner:innen oder Familienangehörige versichert. Diese Dominanz geht auf die Bismarck’sche Sozialversicherungspolitik zurück und ist Folge der historischen Entscheidung, die abhängig Beschäftigten – bis zu einer gewissen Einkommensgrenze (Versicherungspflichtgrenze) – sowie die Empfänger von Lohnersatzleistungen (Arbeitslose, Rentner) in einer gesetzlichen Krankenkasse pflichtig zu versichern und die nichterwerbstätigen Familienangehörigen in den Versicherungsschutz mit einzubeziehen.

662

Gesundheit und Krankheit

Die soziale Absicherung bei Krankheit weist in Deutschland eine Besonderheit auf, die zumindest in Europa einzigartig ist: Neben der gesetzlichen Krankenversicherung existiert eine private Krankenversicherung, die einem Teil der Bevölkerung (etwa 10 %) offensteht und stark abweichende Regelungen hinsichtlich Leistungen und Finanzierung aufweist (vgl. dazu im Detail Pkt. 5.2 dieses Kapitels). Seit 2008 gilt eine allgemeine Krankenversicherungspflicht mit Mindestleistungsumfang: Jeder Einwohner muss sich in einer gesetzlichen oder (wenn die Voraussetzungen dafür gegeben sind) in einer privaten Krankenversicherung versichern. Das gleiche gilt für die Pflegeversicherung. Für die gesetzlich Versicherten besteht im Grundsatz ein voller Anspruch auf die Leistungen des Gesundheitssystems. Prüfungen der Bedürftigkeit sind auf Grund des Versicherungsprinzips mit der medizinischen Versorgung nicht verbunden. Die Leistungen erfolgen im Grundsatz kostenfrei und richten sich als Sachleistungen nach dem jeweiligen Bedarf. Das Angebot an Versorgungseinrichtungen und -leistungen ist vielfältig. Es erstreckt sich auf den gesamten Komplex der professionellen medizinischen, therapeutischen, pflegerischen und sozialen Leistungen des Gesundheitswesens, einschließlich des Angebotes an Arzneimitteln, Heil- und Hilfsmitteln. Erbracht werden die Gesundheitsleistungen nicht durch die Krankenkassen selbst. Anbieter sind vor allem • • • •

die freien Berufe wie Ärzt:innen, Zahnärzt:innen, Therapeut:innen, Apotheker:innen, gemeinnützige Einrichtungen, z. B. Krankenhäuser in der Trägerschaft von Kirchen und Wohlfahrtsverbänden, Klein- und Mittelbetriebe wie auch internationale Konzerne in den Bereichen der Herstellung und des Vertriebs von Arzneimitteln, Medizinprodukten und Medizintechnik sowie Heil- und Hilfsmitteln, gewinnwirtschaftliche Krankenhäuser bzw. Krankenhausketten.

Öffentliche Einrichtungen haben lediglich in der stationären Versorgung eine Bedeutung (städtische Krankenhäuser, Universitätskliniken und psychiatrische Krankenhäuser der Bundesländer, Rehakliniken der Rentenversicherung). Aus dieser Grundstruktur folgt, dass sich der Staat weitgehend aus dem unmittelbaren Geschehen der gesundheitlichen Versorgung herausnimmt und die Verantwortung für die konkreten Leistungen auf die gesetzliche Krankenversicherung und die Leistungsanbieter bzw. deren Verbände überträgt. Allerdings ist und bleibt der Staat, d. h. der Bund und die Länder, in der Gesamtverantwortung und -steuerung: •

Der Staat ist für den rechtlichen Ordnungsrahmen des Systems und seiner Teilelemente verantwortlich und gestaltet diesen durch seine Gesetzgebung. Zuständig für die Gesetzgebung und den Erlass von Verordnungen ist in erster Linie der Bund, teilweise sind es auch die Länder. Zu nennen sind hier auf Bundesebene u. a.

Das Gesundheitssystem

663

SGB V (gesetzliche Krankenversicherung), SGB VII (gesetzliche Unfallversicherung), SGB IX (Rehabilitation und Teilhabe von Menschen mit Behinderungen), Krankenhausfinanzierungsgesetz, Arzneimittelgesetz, Apothekengesetz, Gebührenordnung für Ärzte, Medizinproduktegesetz, Pflegeberufegesetz, Präventionsgesetz, Transplantationsgesetz. • Die staatliche Verwaltung (mit Zulassungs-, Kontroll- und Überwachungsaufgaben) obliegt auf der Ebene des Bundes dem Bundesministerium für Gesundheit einschließlich der nachgeordneten Behörden (u. a. Robert-Koch-Institut, Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte, Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, Bundesamt für Soziale Sicherung). • Das Bundesministerium für Gesundheit beruft seit 1985 einen Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen, der im Abstand von in der Regel zwei Jahren gutachterlich zur Entwicklung von Qualität und Quantität der Versorgung und zum Abbau von Versorgungsdefiziten und Überversorgung Stellung nehmen sowie Möglichkeiten zur Weiterentwicklung des Systems und seiner Komponenten aufzeigen soll (vgl. Literaturhinweise in diesem Kapitel). • Auf Länderebene haben die entsprechenden Landesministerien die Aufsicht über nachgeordnete Landesbehörden sowie über die Ärztekammern, kassenärztlichen Vereinigungen und die regionalen Krankenkassen. Im Mittelpunkt der kommunalen Verantwortlichkeit stehen neben der Planung und Steuerung des Krankenhaussektors Aufgaben wie Verhütung und Bekämpfung übertragbarer Krankheiten, Schulgesundheitspflege und Gesundheitserziehung.

Vor allem für das SGB V gilt, dass sich die zahlreichen Änderungen dieses Gesetzes, die in den zurückliegenden Jahren durchgesetzt worden sind, kaum noch erfassen lassen. Hintergrund sind die sich verändernden ökonomischen und sozialen Rahmenbedingungen, die immer wieder zu neuen Regelungen Anlass gegeben haben. Es gilt die Devise „nach der Reform ist vor der Reform“ (vgl. Pkt. 12.5 dieses Kapitels). Erkennen lässt sich aber auch ein Wandel von Zielvorstellungen. Insofern können die Ausführungen zu den einzelnen Aspekten der Ausformung des deutschen Gesundheitssystems immer nur den aktuellen Stand wiedergeben. Allerdings ist durch die Gesetzgebung die Grundstruktur des Systems zwar modifiziert, aber nicht grundlegend verändert worden und das dürfte sich auch in Zukunft fortsetzen. 4.3.2 Verbandliche Steuerung, gemeinsamer Bundesausschuss

Entscheidend für die konkrete Ausgestaltung der Leistungen des Gesundheitssystems ist die Steuerung auf einer mittleren, korporatistischen Ebene. Zwar stellt die gesetzliche Krankenversicherung den Versicherten Sachleistungen zur Verfügung, das heißt aber nicht, dass die Versicherten selbst mit den Leistungsanbietern in ein Vertragsverhältnis eintreten. Vielmehr schließen die Krankenkassen mit den Leistungsanbietern Verträge ab, und zwar (mit einigen Ausnahmen) nicht zwischen den ein-

664

Gesundheit und Krankheit

zelnen Kassen und Leistungsanbietern, sondern auf der Ebene von Verbänden. Diese Verbände sind jeweils Körperschaften des öffentlichen Rechts. Die Verbände der Krankenkassen und der Vertragsärzte (kassenärztliche Vereinigungen) übernehmen zugleich vom Gesetz vorgeschriebene Aufgaben. Sie haben zu entscheiden, welche diagnostischen oder therapeutischen Leistungen erbracht und finanziert werden, wie sich der – regional und fachlich differenzierte – Bedarf an niedergelassenen Vertragsärzten gestaltet, in welchem Maß Vertragsärzte neu zugelassen werden, ob neue Arzneimittel verordnet werden können. Diese Entscheidungen obliegen den gemeinsamen Ausschüssen der Verbände. Diese verbandliche Steuerung findet auf Bundesebene durch den gemeinsamen Bundesausschuss (GBA) statt. Er setzt sich aus je fünf Vertretern der Leistungserbringer (Deutsche Krankenhausgesellschaft, kassenärztliche Bundesvereinigung, Kassenzahnärztliche Bundesvereinigung) und des GKV-Spitzenverbands zusammen. Hinzu kommen zwei unparteiische Mitglieder, ein unparteiischer Vorsitzender und beratende Patientenvertreter. Dem GBA (Beschlussgremium und mehrere themenspezifische Unterausschüsse) stehen unterstützend zwei fachlich unabhängige wissenschaftliche Institute zur Seite: das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWig) und das Institut für Qualitätssicherung und Transparenz im Gesundheitswesen (IQTIG). Der GBA hat eine zentrale Bedeutung, mitunter wird er sogar als „zweiter Gesetzgeber“ bezeichnet. Er hat verbindliche Richtlinien zu erarbeiten und zu verabschieden, die unmittelbar wirksam sämtliche Bereiche des Gesundheitssystems betreffen: Die Richtlinien definieren und konkretisieren den Leistungskatalog der GKV und sollen gewährleisten, dass die Leistungen angemessen, zweckmäßig, qualitativ hochwertig und wirtschaftlich erbracht werden. Die Richtlinien beziehen sich vor allem auf folgende Bereiche: • ärztliche und zahnärztliche Behandlung, • Krankenhausbehandlung, • Psychotherapie, • Einführung neuer Untersuchungs- und Behandlungsmethoden, • Verordnung von (neuen) Arznei-, Heil- und Hilfsmitteln, • Bedarfsplanung, • medizinische Maßnahmen zur Herbeiführung einer Schwangerschaft, Empfängnisverhütung, Schwangerschaftsabbruch, • Qualitätssicherung, • Vergütung der Leistungen. Daneben entscheidet der GBA u. a. auch über die Verteilung besonderer Fördermittel (Innovationsfonds, Strukturfonds), die zum Aufbau innovativer Versorgungsstrukturen im ambulanten wie stationären Sektor beitragen sollen und aus den Reserven des Gesundheitsfonds (vgl. Pkt. 5.1.3 dieses Kapitels) finanziert werden.

Das Gesundheitssystem

665

4.3.3 Akteurs- und Interessensvielfalt, sektorale Trennung

Diese Steuerungsstruktur entlastet den Staat, hat allerdings auch zur Folge, dass eine alle Ebenen umfassende und zielgerichtet aufeinander abgestimmte Gesundheitspolitik nur schwer zu erreichen ist. Ziele und Prioritäten ergeben sich jeweils nach Maßgabe vorherrschender Leitbilder und Interessen sowie unter dem Einfluss von Leistungsanbietern oder bestimmten Finanzierungsmodalitäten. Die Entscheidungsstrukturen sind bestimmt durch Interessengegensätze der Akteure: • •







Die Aufteilung der gesundheitspolitischen Kompetenzen und Verantwortlichkeiten zwischen Bund und Ländern führt zu Finanzierungskonflikten z. B. hinsichtlich von Krankenhausinvestitionen. Auf der politischen Ebene werden Parteiinteressen wirksam, die eine unterschiedliche Wählerklientel abdecken und sich z. T. diametral gegenüberstehen. So ist unübersehbar, dass sich eine Partei besonders stark für die Interessen von Ärzt:innen und Apotheken einsetzt, während die anderen die Interessen der Versicherten in den Vordergrund stellt. Auf der normativen Ebene stehen den an wirtschaftsliberalen Vorstellungen orientierten Konzepten jene Leitbilder gegenüber, die das Solidaritätsprinzip betonen. Wichtige gesundheitspolitische Entscheidungen sind auf die GKV und die kassenärztlichen Vereinigungen delegiert. In der GKV stehen sich im Rahmen der Selbstverwaltung Arbeitnehmer- und Arbeitgeberinteressen gegenüber. Zudem konkurrieren die einzelnen Kassen untereinander um Mitglieder. Die GKV insgesamt steht bei der Finanzierung und Leistungserbringung mit anderen Zweigen der Sozialversicherung in Konkurrenz, z. B. bei der Rehabilitation und bei der Krankenhausversorgung. In den kassenärztlichen Vereinigungen konkurrieren verschiedene Ärztegruppen (z. B. Fachärzte und Hausärzte/Allgemeinmediziner) sowie Psychotherapeuten um die Bewertung ihrer Leistungen und damit um die begrenzten Verteilungsspielräume. Die Krankenkassen wie die Leistungsanbieter (so vor allem Pharmaunternehmen und Großgerätehersteller, aber auch niedergelassene Ärzte und ihre Verbände sowie Apotheker etc.) machen in der Politik ihre ökonomischen Interessen geltend. Wiederholt ist – mit Erfolg – auf Entscheidungen des Gesetzgebers Einfluss genommen worden. Gesetzesvorhaben mussten verändert oder gar ganz zurückgenommen werden. Die Dominanz der Leistungsanbieter wird durch die Vielfalt der Nachfrage- und Finanzierungsseite verstärkt. Die GKV ist in knapp 110 selbstständige Kassen gegliedert. Auch wird eine Reihe von Gesundheitsleistungen neben der GKV auch noch von der gesetzlichen Unfallversicherung, der gesetzlichen Rentenversicherung, der Pflegeversicherung, vom Staat, der Kriegsopferversorgung, der Sozialhilfe und von den privaten Krankenversicherungen getragen. Darüber hinaus wird ein großer und wachsender Teil an Gesundheitsgütern und -leistungen in-

666

Gesundheit und Krankheit

dividuell finanziert und erbracht: Selbstmedikation, Heilpraktiker, Selbsterfahrungsgruppen usw. Eine klare Richtungsbestimmung in zentralen Fragen ist deshalb nur schwer möglich: Wie kann z. B. der Zunahme von chronischen Krankheiten begegnet werden ? Wie soll eine bedarfsgerechte ambulante wie stationäre Versorgung gestaltet werden, die vor allem die gesundheitliche Lage und die Bedarfe älterer, häufig multimorbider Menschen berücksichtigt. Mit welchen Methoden lässt sich die Qualität der gesundheitlichen Versorgung sichern und überprüfen ? Wie können die Leistungen wirtschaftlich erbracht werden, ohne die Qualität zu beeinträchtigen ? Diese und ähnliche Fragen bestimmen seit vielen Jahren die gesundheitspolitische Debatte. Im Kern steht dabei die Frage im Vordergrund, wie die sektorale Trennung des Systems, die zu einer weitgehenden Abschottung der jeweiligen Versorgungsbereiche führt, überwunden werden kann. So existiert eine Trennung zwischen • dem ambulanten und stationären Sektor, • innerhalb der ambulanten Versorgung zwischen einzelnen Arztgruppen, • Ärzt:innen und den paramedizinischen Berufen (u. a. Hebammen, Ergo- und Physiotherapeut:innen, Logopäd:innen). Hinzu kommen noch die Unterscheidung zwischen Krankenversicherung und Pflegeversicherung, zwischen der gesetzlichen und privaten Krankenversicherung und die Konkurrenzen zwischen öffentlichen, frei-gemeinnützigen und privat-gewinnwirtschaftlichen Trägern von Diensten und Einrichtungen. Diese Sektoren unterliegen jeweils eigenen Steuerungsregelungen hinsichtlich Zulassung, Sicherstellung, Finanzierung, Bedarfsplanung, Qualitätssicherung und Honorierung. Dies kann zu Informationsbrüchen, Missverständnissen, Mehrfachdiagnostik, Behandlungsfehlern, unnötigen Arztkontakten und Mengenausweitungen führen. Angesichts der Entwicklung des Krankheitspanoramas vor allem älterer Menschen, die häufig von mehreren Krankheiten und Einschränkungen zugleich betroffen sind, bedarf es hingegen einer Zusammenarbeit von allen Beteiligten wie beispielsweise Hausarzt, Facharzt, Krankenhaus, Pflegekraft und Physiotherapeuten. Das Ziel einer solchen integrierten Versorgung steht deshalb im Mittelpunkt der Gesundheitspolitik der zurückliegenden Jahre, war und ist aber – gegen erhebliche Widerstände vor allem der Leistungserbringer – nur schrittweise durchsetzbar (vgl. Pkt. 13.2 dieses Kapitels).

Das Gesundheitssystem

4.4

667

Eckdaten des Gesundheitssystems

Die ökonomische Bedeutung des Gesundheitswesens ist außerordentlich groß und in den vergangenen Jahren noch gewachsen. Das bezieht sich auf die Gesamtausgaben für Gesundheit, hinter denen ein erhebliches Umsatz- und Einkommensvolumen der Anbieter steht. Zugleich ist das Gesundheitswesen ein bedeutender, dynamischer Beschäftigungssektor. Das Statistische Bundesamt beziffert die Gesundheitsausgaben der öffentlichen Haushalte, Krankenversicherungen, Rentenversicherungen, Arbeitgeber und privaten Haushalte für das Jahr 2017 auf knapp 376 Mrd. Euro. Das entspricht (ohne Einkommensleistungen wie Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall, Krankengeld,) einem Anteil von 11,5 % des Bruttoinlandsproduktes. Ausgaben nach Einrichtungen und Kostenträgern Fast die Hälfte der Ausgaben (49,3 %) wurde 2017 in ambulanten Einrichtungen erbracht, darunter Arztpraxen (14,6 %), Apotheken (13,1 %) und Zahnarztpraxen (7,1 %). Im (teil-)stationären Sektor fielen 36,8 % aller Ausgaben an, darunter Krankenhäuser (25,2 %), (teil-)stationäre Pflege (9,0 %) und Vorsorge- und Rehabilitationseinrichtungen (2,7 %) (vgl. Abbildung VIII.7). Bei der Untergliederung nach Kostenträgern wird offensichtlich, dass die vier Sozialversicherungszweige den Großteil an den Ausgaben tragen. 2017 waren dies 68 %,

Abbildung VIII.7

Gesundheitsausgaben nach Einrichtungen 2017 in Mrd. Euro und in %

Arztpraxen: 55,008 Mrd. € = 14,6% Krankenhäuser: 94,731 Mrd. = 25,2% Zahnarztpraxen: 26,657 Mrd. € = 7,1% (teil)stationäre Einrichtungen 138,43 Mrd. = 36,8%

(teil)stationäre Pflege: 33,968 Mrd. = 9,0%

Gesundheitsausgaben insgesamt: 375,562 Mrd. Euro

Ambulante Einrichtungen: 185,525 Mrd. = 49,3%

Vorsorge- & Rehaeinrichtungen: 9,731 Mrd. € = 2,6%

Apotheken: 49,315 Mrd. € = 13,1%

Gesundheithandwerk: 21,161 Mrd. € = 5,6% ambulante Pflege: 19,389 Mrd. € = 5,2% Sonstige Praxen & ambulante Einrichtungen: 13,995 Mrd.=3,7%

Sonstiges: 25,330 Mrd. € = 6,7% Investitionen: 6,965 Mrd. € = 1,9%

Verwaltung: 19,312 Mrd. € = 5,1%

Quelle: Statistisches Bundesamt (2019), Genesis – Datenportal, Gesundheitsausgaben.

668

Gesundheit und Krankheit

Abbildung VIII.8 Gesundheitsausgaben nach Ausgabenträgern 2017 in Mrd. Euro und in % Soziale Pflegeversicherung: 31,605 Mrd. = 8,4% Gesetzliche Rentenversicherung: 4,692Mrd. = 1,2% Gesetzliche Unfallversicherung: 5,742 Mrd. = 1,5% Private Krankenversicherung: 37,702 Mrd. = 10,0% Gesetzliche Krankenversicherung: 214,181 Mrd. = 57,0%

Gesundheitsausgaben insgesamt: 375,562 Mrd. Euro

Arbeitgeber: 15,561 Mrd. = 4,1%

Private Haushalte/private Organisationen: 50,801 Mrd. € = 13,5%

Öffentliche Haushalte: 15,722 Mrd. € = 4,2%

Quelle: Statistisches Bundesamt (2019), Genesis – Datenportal, Gesundheitsausgaben.

darunter entfielen allein auf die gesetzliche Krankenversicherung 57 %. Die privaten Haushalte wurden mit 13,5 % belastet. Dies betrifft insbesondere Zuzahlungen und Ausgaben für Selbstmedikation (die Beitragszahlungen zur gesetzlichen Krankenversicherung werden nach dieser Rechnung dem Ausgabenträger GKV zugeordnet). Die private Krankenversicherung (einschließlich Pflegeversicherung, vgl. Kapitel „Pflegebedürftigkeit und Pflege“) rangierte mit einem Ausgabenanteil von 10 % an dritter Stelle (vgl. Abbildung VIII.8). Beschäftigte Das Gesundheitswesen (einschließlich der ambulanten und stationären Pflege) zählt zu den wichtigsten Beschäftigungszweigen in Deutschland. Gut 5,5 Millionen Personen, das sind über 10 % aller Erwerbstätigen, arbeiten 2017 in den unterschiedlichen Einrichtungen des Gesundheitswesens einschließlich der Vorleistungsindustrien (vgl. Abbildung VIII.9). Im Jahr 2000 lag die Gesamtzahl des Gesundheitspersonals bei 4,0 Mio. Im Verlauf der zehn Jahre zwischen 2000 und 2016 errechnet sich damit ein Anstieg von 37,5 %. Von besonderer Bedeutung als Beschäftigungsträger sind die Krankenhäuser. Dort arbeiten mit rund 1,2 Mio. Personen (Ärzt:innen, Pflege-, Hauswirtschaftsper-

Das Gesundheitssystem

Abbildung VIII.9

669

Beschäftigte im Gesundheitswesen 2017

Krankenhäuser

1.155

stationäre/teilstat. Pflege

712

Arztpraxen

693

Praxen sonstiger med. Berufe

514

ambulante Pflege

378

Zahnarztpraxen

354

Apotheken Verwaltung

2017: 5.579 2015: 5.380 2010: 4.881 2005: 4.375 2000: 4.028

219

medizintechn., augenoptische Industrie

162

Pharmazeutische Industrie

148

Großhandel/Handelsvermittlung

139

Vorsorge- und Reha-Einrichtungen

121

Einzelhandel

123

Rettungsdienste Gesundheitsschutz

Beschäftigte insgesamt:

226

75 37 0

200

400

600

800

1000

Quelle: Statistisches Bundesamt (2019), Genesis-Datenportal, Gesundheitspersonalrechnung.

sonal etc.) mehr Menschen als z. B. im Maschinenbau. An zweiter und dritter Stelle der Beschäftigungszahlen liegen die stationären und teilstationären Pflegeeinrichtungen (712 Tausend) sowie die Praxen der niedergelassenen Ärzte (693 Tausend). Bei den Beschäftigtenzahlen muss berücksichtigt werden, dass im Gesundheitswesen der Frauenanteil unter den Erwerbstätigen hoch und entsprechend Teilzeitarbeit weit verbreitet ist. Rechnet man Teilzeitarbeit in Vollzeitarbeit um, beziffert sich das Beschäftigtenvolumen insgesamt auf rund 4 Millionen Vollzeitäquivalente. Ärzt:innen und Arztdichte Die Gesamtzahl der berufstätigen Ärztinnen und Ärzte in Deutschland beziffert sich Ende 2018 auf etwa 392 Tausend. Im Vergleich zu 1995 ist ein Zuwachs von 43 % zu verzeichnen. Diese Entwicklung zeigt sich auch, wenn man die Arztdichte, nämlich die Zahl der berufstätigen Ärztinnen und Ärzte in Relation zur Gesamtbevölkerung, errechnet: Während 1995 ein Arzt/eine Ärztin auf 290 Einwohner kamen, waren es 2018 noch 211 Einwohner (vgl. Abbildung VIII.10). Von den berufstätigen Ärzt:innen sind 157 Tausend bzw. 40 % ambulant und knapp 202 Tausend bzw. 52 % stationär tätig. Zu den anderen Bereichen (rund 33 Tausend bzw. 8,4 %) zählen u. a. Behörden, Körperschaften, Forschungseinrichtungen. Ärztinnen und Ärzte in der stationären Versorgung, d. h. in einem Krankenhaus oder einer Rehabilitationseinrichtung, sind als Angestellte abhängig beschäftigt. In

670

Gesundheit und Krankheit

Abbildung VIII.10

Struktur der Ärzteschaft 2018 in Tausend Berufstätige Ärztinnen und Ärzte: 392,4

Ambulant:

Stationär:

in anderen

157,3

201,8

Bereichen: 33,3

Niedergelassene Ärzte:

Angestellte Ärzte:

Leitende Ärzte:

Nichtleitende Ärzte:

117,5

39,8

15,9

185,9

Hausärzte 42,9%

Fachärzte 57,1%

Quelle: Bundesärztekammer (2019), Ärztestatistik.

Abbildung VIII.11

Ärzt:innen in Tausend und Arztdichte 1995 – 2018 Berufstätige Ärzte insgesamt

450 400

Ärzte in anderen Bereichen

350 300 250 200

273,9

23,6

132,7

304,1

306,4

307,6

311,2

314,9

319,7

294,7

297,9

301,1

25,6

25,9

26,2

26,7

26,3

26,8

26,7

27,6

26,7

139,5

142,3

143,8

145,5

146,4

146,5

148,3

150,6

153,8

128,5

130,0

131,3

132,3

133,4

134,8

136,1

137,5

138,3

117,6

333,6

28,1

28,5

157,6

163,3

385,1

392,4

31,6

32,2

32,3

33,3

365,2

371,3

30,3

31

342,1

29,4

29,8

181

186,3

189,6

194,4

201,8

174,8

198,5

169,8

144,1

145,9

147,9

150,1

152

154,3

157,3

221

219

217

214

211

2014

2015

2016

2017

2018

Ärzte in stationärer Tätigkeit

150 100

325,9

378,8

357,2

348,7

50

143,2

141,5

142,9

Ärzte in ambulanter Tätigkeit

0

300

Einwohner je Arzt 299

279

277

274

271

269

268

264

261

257

252

250

200

1995

2000

2001

2002

2003

2004

2005

2006

Quelle: Bundesärztekammer (zuletzt), Ärztestatistik.

2007

2008

2009

245

2010

239

2011

235

2012

230

2013

Krankenversicherung

671

der ambulanten Versorgung sind sie (weit überwiegend) freiberuflich, d. h. selbstständig tätig. Es handelt sich in aller Regel um Vertragsärzte („Kassenärzte“), also um Ärzt:innen, die eine Zulassung als Vertragsärzte der gesetzlichen Krankenkassen haben und damit Mitglieder der (regionalen) kassenärztlichen Vereinigung (KV) sind (vgl. Pkt. 6.2 dieses Kapitels). Vertragsärzte sind zugleich als Privatärzte tätig, wenn sie Privatpatienten behandeln. Ausschließlich privat liquidierende Ärzt:innen gibt es nur selten.

5

Krankenversicherung

5.1

Gesetzliche Krankenversicherung

5.1.1 Grundprinzipien und versicherter Personenkreis

Hauptaufgabe der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) ist die Gewährleistung der gesundheitlichen Versorgung der versicherten Bevölkerung sowie der Ersatz des wegen Krankheit ausgefallenen Erwerbseinkommens durch Einkommensleistungen (Krankengeld). Das Recht der Krankenversicherung ist im Sozialgesetzbuch (SGB) Buch V geregelt. Die GKV basiert dabei auf mehreren Grundprinzipien – dem Bedarfsdeckungsprinzip, dem Solidarprinzip und dem Sachleistungsprinzip: Nach dem Bedarfsdeckungsprinzip haben alle Versicherten einen (individuell einklagbaren) Rechtsanspruch auf die Gewährung aller medizinisch notwendigen Leistungen. Die Kassen sind gesetzlich verpflichtet, eine bedarfsgerechte und gleichmäßige, dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse entsprechende Versorgung der Versicherten zu gewährleisten. Die Leistungen müssen ausreichend und zweckmäßig sein, dürfen allerdings auch das Maß des Notwendigen nicht überschreiten. Der Anspruch der Versicherten auf die im Einzelfall notwendigen und bedarfsgerechten Leistungen besteht auch dann, wenn der Finanzierungsspielraum einer Kasse begrenzt ist. Das Bedarfsdeckungsprinzip hat Vorrang gegenüber dem Bestreben, den Beitragssatz stabil zu halten. Zu berücksichtigen ist, dass das Bedarfsdeckungsprinzip nicht für die Pflegeversicherung gilt (vgl. Kapitel „Pflegebedürftigkeit und Pflege“, Pkt. 5.2). Nach dem Solidarprinzip hat jeder Versicherte unabhängig von der Höhe seines Einkommens und seiner Beitragszahlung einen Anspruch auf bedarfsgerechte Leistungen – seien sie auch noch so aufwendig. Das gilt ausnahmslos auch für Niedriglohnbezieher, Teilzeitbeschäftigte, Empfänger von Arbeitslosengeld I (SGB III) oder Arbeitslosengeld II (SGB II) oder für Ältere mit einer geringen Rente. Mitversichert (familienversichert) sind unterhaltsberechtigte Familienangehörige (Ehegatten, Kinder), wenn sie keinen eigenen gesetzlichen Anspruch auf Krankenversicherungsschutz haben oder ein bestimmtes monatliches Einkommen nicht überschreiten.

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Gesundheit und Krankheit

Die Finanzierung über Beiträge richtet sich hingegen nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit; der Beitrag wird als Prozentsatz vom beitragspflichtigen Einkommen erhoben. Ein Beispiel: Beschäftigte mit einem (Teilzeit)Einkommen von 451 Euro im Monat zahlen einen nur geringen Beitrag, haben aber Anspruch auf alle medizinisch notwendigen Leistungen. Einen Risikobezug der Beiträge (individueller Gesundheitszustand beim Eintritt in die Versicherung) gibt es nicht. Im Ergebnis kommt es damit nicht nur zum Ausgleich zwischen Gesunden und Erkrankten, sondern auch zwischen Personen mit hohem und niedrigem Einkommen. Darüber hinaus führt die beitragsfreie Mitversicherung von Familienangehörigen (soweit nicht versicherungspflichtig beschäftigt) zu einer erheblichen finanziellen Entlastung vor allem von Haushalten mit Kindern. Diese aus dem Solidarprinzip folgenden Umverteilungsvorgänge beziehen sich auf die Situation zu einem bestimmten Zeitpunkt. In einer längeren, zeitraumbezogenen Betrachtung können sich die Ent- und Belastungen aber zumindest teilweise ausgleichen: Im Lebensverlauf werden die Jüngeren alt, die Gesunden krank und die Ledigen gründen eine Familie. Nettozahler können deshalb zu Nettoempfängern werden, wenn sie infolge einer schwereren Erkrankung und/oder wegen Arbeitslosigkeit, Familiengründung und späterem Rentenbezug nur noch geringe Beiträge zahlen, aber hohe Leistungen benötigen. Nach dem Sachleistungsprinzip erhalten die Versicherten die Leistungen natural und damit kostenlos. Die Krankenkassen bieten diese Leistungen jedoch nicht in eigener Regie an; sie schließen mit Leistungsanbietern Verträge ab, in denen sich die Anbieter gegen Zahlung der vereinbarten Vergütungen zur Behandlung und Versor-

Übersicht VIII.2 Versicherungspflichtige in der gesetzlichen Krankenversicherung • Arbeiter:innen und Angestellte bis zur Versicherungspflichtgrenze. Diese dynamische, von der allgemeinen Entgeltentwicklung abhängige Grenze liegt im Jahr 2020 bei 5 213 € Monatseinkommen. Für abhängig Beschäftigten, deren Einkommen höher liegt, entfällt die Versicherungspflicht. Wechseln sie nicht zu einer privaten Versicherung, werden sie freiwillige Mitglieder. • Rentner:innen der gesetzlichen Rentenversicherung. Diese müssen mindestens neun Zehntel der zweiten Hälfte ihres Erwerbslebens in der gesetzlichen Krankenversicherung Mitglied oder familienversichert gewesen sein. • Arbeitslose, die Leistungen der Arbeitslosenversicherung (ALG I) oder der Grundsicherung (ALG II) beziehen. • Personen, die in Einrichtungen der Jugendhilfe für eine Erwerbstätigkeit befähigt werden, sowie die Teilnehmer an berufsfördernden Maßnahmen zur Rehabilitation. • Behinderte, die in Heimen, Werkstätten oder gleichartigen Einrichtungen beschäftigt sind und mindestens ein Fünftel der Leistung eines voll Erwerbstätigen erbringen. • Land- und Forstwirte sowie ihre im Unternehmen arbeitenden Familienangehörigen sowie Künstler. • Studierende (soweit nicht familienversichert) bis zum Abschluss des vierzehnten Semesters, längstens bis zur Vollendung des 30. Lebensjahres. • Bezieher:innen von Elterngeld

Krankenversicherung

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gung der Versicherten verpflichten. Möglich ist es allerdings auch, eine Kostenerstattung zu vereinbaren (vgl. Pkt. 5.1.4 dieses Kapitels). Die Mitgliedschaft in der GKV ist verpflichtend. Dies gilt aber nicht für die gesamte Bevölkerung. Seit der Einführung der GKV im Jahre 1883 mit dem „Gesetz, betreffend die Krankenversicherung der Arbeiter“, hat sich der geschützte Personenkreis allerdings ständig erweitert. Waren es zunächst nur die Industriearbeiter:innen, die in der GKV pflichtig versichert waren, so sind es heute fast alle abhängig Beschäftigten und ihre mitversicherten Familienangehörigen sowie weitere Personengruppen (vgl. Übersicht VIII.2). Mitversichert (familienversichert) sind unterhaltsberechtigte Familienangehörige (Ehegatten, Kinder), wenn sie keinen eigenen gesetzlichen Anspruch auf Krankenversicherungsschutz haben oder ein bestimmtes monatliches Einkommen nicht überschreiten. Die Versicherungspflicht in der GKV endet, wenn das Einkommen der abhängig Beschäftigten eine bestimmte Grenze, die Versicherungspflichtgrenze, übersteigt. Sie können in eine private Krankenversicherung wechseln oder als freiwilliges Mitglied in der GKV bleiben. Angesichts der generellen Versicherungspflicht muss einer dieser beiden Wege gewählt werden. Auch Selbstständige haben die Wahl zwischen einer freiwilligen Mitgliedschaft in der GKV oder einem Abschluss eines Versicherungsvertrags mit einem privaten Versicherungsunternehmen. Versicherungsfrei sind die Arbeitnehmer:innen, die geringfügig beschäftigt (MiniJob bis 450 Euro) sind. Die Ausübung einer solchen versicherungsfreien Tätigkeit ist aber nur dann möglich, wenn eine anderweitige Absicherung im Krankheitsfall gewährleistet ist (beitragsfreie Mitversicherung für Ehepartner oder Kinder, Krankenversicherung der Rentner, Versicherungsschutz für Grundsicherungsempfänger oder Bezieher von Arbeitslosengeld I) (vgl. dazu Kapitel „Einkommen“, Pkt. 5.1). Ausgenommen von der GKV-Versicherungspflicht sind schließlich die Beamt:innen. Sie erhalten im Krankheitsfall eine Beihilfe vom Staat. Da die Beihilfe nur einen Teil der Kosten abdeckt, sind die Beamt:innen faktisch gezwungen, sich ergänzend privat zu versichern. Träger der GKV sind die einzelnen Krankenkassen mit insgesamt 72,8 Mio. Versicherten (2018). Davon waren (vgl. Abbildung VIII.12): • • • •

33,7 Mio. Pflichtmitglieder, 16,6 Mio. Rentner:innen, 8,4 Mio. freiwillige Mitglieder und 16,2 Mio. mitversicherte Familienangehörige.

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Abbildung VIII.12 Versicherte in der gesetzlichen Krankenversicherung 2000 – 2018 in Mio.

71,3

71,0

20,2 20,0 = 28,3%

70,8 19,8

70,5

70,3

70,5

70,4

70,3

70,2

70,0

69,8

69,6

69,7

69,9

70,3

70,8

19,7

19,6

20,1

19,9

19,6

19,2

18,8

18,4

18,0

17,7

17,4

17,3

17,1

71,4 16,2

72,2

72,8

insgesamt

16,2 16,2 = 22,2% Familienangehörige

15,3 15,3 = 21,5%

6,5 29,2 = 41,0%

6,6 29,0

16,2

16,7

16,8

16,9

16,9

16,9

16,9

16,9

16,9

16,8

16,8

16,7

16,7

16,8

16,8

16,8

16,6 = 22,7%

5,8

6,0

6,1

32,6

33,2

33,7 = 46,3%

Rentner

5,9

5,1

5,1

4,8

4,8

4,6

4,5

4,4

4,5

4,9

5,2

5,3

28,8

29,0

28,7

28,7

28,7

29,2

29,7

29,9

30,1

29,9

30,1

30,5

5,5 30,9

5,7 31,2

freiwillig

Versicherte

Pflichtmitglieder 2000

2001

2002

2003

2004

2005

2006

2007

2008

2009

2010

2011

2012

2013

2014

2015

2016

2017

20018

Quelle: Bundesministerium für Gesundheit (zuletzt 2019), GKV-Statistik.

5.1.2 Leistungen

Das gesetzlich festgelegte und für alle Kassen verbindliche Leistungsspektrum der GKV bezieht sich auf folgende Grundkategorien von Leistungen: • • • • • •

Prävention und Gesundheitsförderung, Früherkennung von Krankheiten, Förderung der gesundheitsbezogenen Selbsthilfe, Schwangerschaft und Mutterschaft, Behandlung von Krankheiten, Zahnersatz, Rettungsdienst, Rehabilitation.

Im Vordergrund stehen die Sachleistungen, also ärztliche und zahnärztliche Behandlung, Krankenhauspflege und die Versorgung mit Arzneimitteln sowie mit Heil- und Hilfsmitteln, die zusammen etwa 85 % der Gesamtausgaben ausmachen. Nach dem Sachleistungsprinzip können die Versicherten die Leistungen der Kasse ohne eigene Aufwendungen in Anspruch nehmen. Das Sachleistungsprinzip sichert eine vom Einkommen der Kranken unabhängige gesundheitliche Versorgung, die ausschließlich dem medizinischen Bedarf entspricht, da eine direkte Bezahlung der Leistungserbringer – auch wenn sie durch die Kasse später erstattet wird – die Versicherten

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finanziell schnell überfordern und Abschreckungswirkungen auslösen würde. Zwischen Patienten und Leistungsanbietern bestehen keinerlei direkte finanzielle und vertragliche Beziehungen. Die Versicherten weisen sich lediglich durch ihre elektronische Gesundheitskarte aus und sind damit auch von der Aufgabe entlastet, die Angemessenheit der geforderten Vergütungen zu überprüfen. Das Sachleistungsprinzip eröffnet den Krankenkassen darüber hinaus die Möglichkeit, bei den Leistungserbringern die Qualität der Leistungen und die Vergütungen zu beeinflussen und zu kontrollieren. Nach zahlreichen Kostendämpfungs- und Neuordnungsgesetzen sind Bedarfsdeckungs- und Sachleistungsprinzip allerdings nicht mehr das uneingeschränkte Leistungsprinzip der GKV. Die Zuzahlungen bei der Inanspruchnahme von Leistungen und die Einführung von Wahltarifen nähern die GKV in einigen Versorgungsbereichen an das System der privaten Krankenversicherung an (vgl. Pkt. 5.1.4 dieses Kapitels). Gegenüber den Sachleistungen spielen in der GKV die Geldleistungen eine nachrangige Rolle. Die wichtigste ist das Krankengeld, das nach der Entgeltfortzahlung einsetzt. In den zurückliegenden Jahren und Jahrzehnten ist der gesetzliche Leistungskatalog deutlich ausgeweitet worden. Und laufend werden durch Entscheidungen des Gemeinsamen Bundesausschusses (GBA) neue Diagnostik- und Behandlungsverfahren sowie medikamentöse Therapien anerkannt. Zusätzlich zu den Regelleistungen ist es den Kassen freigestellt, durch Bestimmungen in ihren Satzungen freiwillige Leistungen anzubieten (Satzungs- oder Zusatzleistungen). Das betrifft z. B. Leistungen zur Gesundheitsförderung, medizinische Telefonberatung, Gesundheits-Apps, Übernahme von Reiseimpfungen, Naturheilverfahren oder alternative Behandlungen und Bonusprogramme. Insgesamt unterliegt die Leistungserbringung dem Wirtschaftlichkeitsgebot: Alle Leistungen, die zu Lasten der GKV erbracht werden, müssen nach § 12 SGB V) • • • •

ausreichend, zweckmäßig sowie wirtschaftlich sein und dürfen das Maß des Notwendigen nicht überschreiten.

Welche Leistungen diesen Kriterien entsprechen bzw. nicht entsprechen, etwa in Bezug auf Heilverfahren oder Diagnosemethoden, ist im Gesetz nicht festgelegt, sondern wird wiederum vor allem durch Entscheidungen des GBA geregelt. Die wesentlichen Leistungen der GKV stellen sich im Überblick wie folgt dar: Ärztliche Behandlung Innerhalb des Leistungsspektrums stehen ärztliche Leistungen (Krankenhilfe) im Vordergrund. Sie umfassen Behandlung durch Vertragsärzte (Beratung, Untersu-

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Gesundheit und Krankheit

chung, Verordnung, Überweisung, Besuche, Eingriffe, Operationen u. ä.) und die Inanspruchnahme von Leistungen der Heil- und Hilfsberufe nach ärztlicher Anordnung (vgl. Pkt. 6.1 dieses Kapitels). Zahnärztliche Behandlung Zahnärztliche Behandlung im Rahmen des Sachleistungsprinzips wird ohne Zuzahlungen gewährt. Allerdings haben die Versicherten für den Zahnersatz erhebliche Zuzahlungen zu leisten (vgl. Pkt. 6.1 dieses Kapitels). Psychotherapeutische Behandlung (vgl. Pkt. 9 dieses Kapitels) Versorgung mit Arznei-, Verband-, Heil- und Hilfsmitteln Versicherte haben Anspruch auf Arzneimittel, soweit diese nicht von der Versorgung ausgeschlossen sind. Heilmittel sind ein wichtiger Bestandteil ärztlicher Therapie. Hierzu zählen physikalisch-therapeutische Verordnungen, wie z. B. Massagen, Bäder, Krankengymnastik sowie Sprach- und Beschäftigungstherapie. Als Hilfsmittel gelten u. a. Brillen, Hörgeräte, Prothesen und Rollstühle (vgl. Pkt. 6.2 dieses Kapitels). Häusliche Krankenpflege und Haushaltshilfe Wenn eine Krankenhausbehandlung geboten, aber nicht ausführbar ist, oder wenn sie durch häusliche Krankenpflege vermieden oder verkürzt wird, leistet die Kasse Grund- und Behandlungspflege sowie hauswirtschaftliche Versorgung. Ferner erhalten Versicherte häusliche Behandlungspflege, wenn sie zur Sicherung der ärztlichen Behandlung erforderlich ist. Pflegebedürftige Versicherte, die in einer stationären Einrichtung untergebracht sind, haben hingegen keinen Anspruch auf eine häusliche Krankenpflege zu Lasten der Krankenversicherung; zuständig ist hier die Pflegeversicherung. Krankenhausbehandlung Ärztliche Behandlung im Krankenhaus, in Rehabilitations- und Spezialeinrichtungen, Krankenpflege, Verpflegung, Unterkunft, Medikamente u. ä. (vgl. Pkt. 6.3 dieses Kapitels) Palliativ- und Hospizversorgung Ambulante und stationäre Betreuung sterbender Menschen: Bezuschussung der Personal- und Sachkosten der ambulanten Hospizdienste und bei der stationären Hospizversorgung; Übernahme der Kosten des Hospizaufenthalts in Höhe von 95 % des mit dem jeweiligen Hospiz vereinbarten tagesbezogenen Bedarfssatzes. Ambulante oder stationäre Palliativversorgung: Versicherte mit einer nicht heilbaren, fortschreitenden und weit fortgeschrittenen Erkrankung bei einer zugleich begrenzten Lebenserwartung, haben Anspruch auf eine spezialisierte, besonders aufwändige Versorgung.

Krankenversicherung

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Mutterschaftshilfe und -geld Während der Schwangerschaft und nach der Entbindung hat die Versicherte Anspruch auf ärztliche Behandlung. Während der arbeitsrechtlichen Schutzfrist für Mütter (6 Wochen vor und 8 Wochen nach der Entbindung) wird Mutterschaftsgeld in Höhe von höchstens 13 Euro pro Kalendertag gezahlt. Der Arbeitgeber ist verpflichtet, die Differenz zum Nettoeinkommen durch eigene Leistungen aufzustocken. Im Anschluss an das Mutterschaftsgeld kann Elterngeld beantragt werden. Rehabilitation Zu den Kassenleistungen gehören auch medizinische und ergänzende Leistungen zur Rehabilitation. Reicht zur Krankenbehandlung oder zur medizinischen Rehabilitation die ambulante ärztliche Behandlung nicht aus, kann die Kasse ambulante oder stationäre Rehabilitationskuren genehmigen. Auch Anschlussheilbehandlungen, Belastungserprobung und Arbeitstherapie müssen finanziert werden, wenn andere Träger (z. B. die Rentenversicherung) nicht vorrangig zuständig sind (vgl. Pkt. 10 dieses Kapitels). Leistungen zur Verhütung von Krankheiten, betriebliche Gesundheitsförderung und Prävention arbeitsbedingter Gesundheitsgefahren, Förderung der Selbsthilfe Zur Verhütung von Krankheiten übernimmt die GKV Leistungen zur Verbesserung des Gesundheitszustandes und zur Vermeidung und Verminderung von Gesundheitsrisiken (primäre Prävention), finanziert Gesundheitsuntersuchungen (Früherkennung), unterstützt in Zusammenarbeit mit dem Arbeitsschutz und den Unfallversicherungsträgern die betriebliche Gesundheitsförderung, übernimmt Schutzimpfungen und fördert die Prophylaxe zahnmedizinischer Erkrankungen. Zielgruppen der Leistungen zur Früherkennung von Krankheiten sind: •

Kinder bis zur Vollendung des sechsten Lebensjahres. Das Früherkennungsprogramm umfasst neun ärztliche Untersuchungen. • Erwachsene Versicherte, die – jeweils abhängig von Lebensalter, Geschlecht und Krankheitsart – Anspruch auf kostenlose Früherkennungsuntersuchungen von unterschiedlichen Krebserkrankungen haben (Gebärmutterhalskrebs, Brustkrebs, Hautkrebs, Prostatakrebs, Darmkrebs). Ergänzend haben Männer wie Frauen nach Vollendung des 35. Lebensjahres jedes dritte Jahr im Rahmen eines „Checkup“ Anspruch auf eine ärztliche Gesundheitsuntersuchung zur Früherkennung von Herz-Kreislauf- und Nierenerkrankungen sowie von der Zuckerkrankheit. Das Einbeziehen von Vorsorge- und Früherkennungsmaßnahmen in den Leistungskatalog der GKV wird unterstützt durch die Beratungsangebote im Rahmen der Verhaltensprävention, z. B. Angebote zur Raucherentwöhnung, Ernährungsberatung, Bewegungstraining.

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Krankengeld Das Krankengeld ist Lohnersatz im Falle von Krankheit und wird im Anschluss an die Entgeltfortzahlung des Arbeitgebers (vgl. Kapitel „Arbeit und Gesundheit“, Pkt. 3) gezahlt. Das Krankengeld beträgt 70 % des regelmäßigen Bruttoarbeitseinkommens, maximal jedoch 90 % des Nettoeinkommens. Das Krankengeld ist beitragspflichtig zur Arbeitslosen- und zur Rentenversicherung. Der Beitrag wird je zur Hälfte von den Versicherten und den Kassen gezahlt. Zeiten der Arbeitsunfähigkeit können einen Anspruch auf Arbeitslosenunterstützung begründen und sich rentensteigernd auswirken. Bei Vorliegen ein und derselben Krankheit besteht ein Anspruch auf Krankengeld längstens für 78 Wochen innerhalb eines Zeitraumes von 3 Jahren. Für jedes Kind unter 12 Jahren, das wegen Krankheit gepflegt werden muss, können für jeden Elternteil bis zu 10 (Alleinerziehende bis zu 20) Tage Krankengeld in Anspruch genommen werden. Bei mehreren Kindern ist der Anspruch auf 25 (Alleinerziehende 50) Tage erweitert. Für die Pflege behinderter oder pflegebedürftiger Jugendlicher oder Erwachsener wird kein Krankengeld gezahlt, wohl aber leistet die Pflegeversicherung ein dem Krankengeld vergleichbares „Pflegeunterstützungsgeld“, um die Organisation einer akut aufgetretenen Pflegesituation ohne Einkommensverlust bewältigen zu können. Es besteht Anspruch auf eine Auszeit von bis zu zehn Arbeitstagen (vgl. Kapitel „Pflegebedürftigkeit und Pflege“, Pkt. 3.2). Ausgaben nach Leistungsarten Das hier skizzierte Leistungsspektrum lässt sich auch anhand seiner quantitativen Bedeutung, also hinsichtlich des Ausgabevolumens darstellen. Die Gesamtausgaben der GKV beliefen sich (2017) auf ca. 230 Mrd. Euro, davon 11 Mrd. Euro Verwaltungskosten. Innerhalb der Leistungsausgaben (vgl. Abbildung VIII.13) haben die Ausgaben für Krankenhauspflege (inklusive der in den Krankenhäusern verordneten Arzneimittel) mit gut einem Drittel das größte Gewicht. Ambulante ärztliche und zahnärztliche Behandlung machen zusammen einen Anteil von knapp einem Viertel aus. Allerdings veranlassen die niedergelassenen Ärzt:innen den größten Teil der übrigen Leistungen, wie z. B. Arzneimittel, Zahnersatz, Heil- und Hilfsmittel oder die Krankenhausbehandlung.

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Abbildung VIII.13 Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung nach Leistungsarten 2018 Krankengeld: 13,1 Mrd. € = 5,8%

Arzneimittel: 38,9 Mrd.€ = 17,2%

Fahrkosten: 5,9 Mrd. € = 2,6% Heil- und Hilfsmittel: 16,0 Mrd. € = 7,1% Zahnersatz: 3,4 Mrd. € = 1,5%

Krankenhausbehandlung: 77,2 Mrd. € = 34,1%

LeistungsAusgaben insgesamt 226,4 Mrd. €

Sonstige Ausgaben: 10,6 Mrd. € = 47% Vorsorge/Rehabilitation: 2,8 Mrd. € = 1,2% Häusliche Krankenpflege: 6,4 Mrd. € = 2,8%

Ärztliche Behandlung: 39,5 Mrd. € = 17,2%

Schwangerschaft/Mutterschaft: 1,5 Mrd. € = 0,7% Zahnärtzliche Behandlung: 11,1 Mrd. € = 4,9%

Quelle: Bundesministerium für Gesundheit (2019), Gesetzliche Krankenversicherung – Kennzahlen und Faustformeln.

5.1.3 Finanzierung

Die GKV finanziert sich im Wesentlichen über die Beiträge ihrer Mitglieder (Pflichtversicherte und freiwillig Versicherte). Der allgemeine Beitragssatz ist gesetzlich festgelegt und beträgt seit 2015 einheitlich 14,6 % des Bruttoeinkommens. Staatliche Zuwendungen werden nur in wenigen Ausnahmefällen (z. B. Mutterschaftsgeld) gewährt. Allerdings gibt es seit 2004 einen steuerfinanzierten Bundeszuschuss. Beitragsberechnung Die Beiträge für abhängig Beschäftigte sind je zur Hälfte vom Arbeitgeber und dem Versicherten zu zahlen und werden prozentual vom Bruttoeinkommen berechnet, allerdings nur bis zur Beitragsbemessungsgrenze (4 688 Euro im Jahr 2020). Für die Bezieher:innen von Leistungen nach dem SGB III tragen die Bundesagentur für Arbeit, nach dem SGB II der Bund die Beiträge. Die Beiträge für Künstler:innen und Publizist:innen werden von der Künstlersozialkasse, für Rehabilitanden und Personen in Einrichtungen der Jugendhilfe von den jeweiligen Trägern der Einrichtung übernommen. Studierende tragen ihren Beitrag selbst, Rentner:innen tragen die Hälfte, die

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andere Hälfte wird von der Rentenversicherung übernommen. Betriebsrenten (oberhalb eines dynamisierten Freibetrags) unterliegen der vollen Beitragspflicht. Bei freiwillig versicherten Selbstständigen werden neben dem Gewinn, den Selbstständige aus ihrer Tätigkeit erzielen, auch Einkommen aus Zinsen, Mieten, Pachten etc. in die Beitragsberechnung einbezogen. Da hier ein Arbeitgeber fehlt, müssen die Betroffenen ihrer Beiträge alleine zahlen und tragen. Da es unmöglich ist, die Einkommen (Gewinne) aktuell zu erfassen, werden die Beiträge immer vorläufig festgesetzt. Ist das tatsächliche Einkommen laut Einkommensteuerbescheid niedriger als die vorläufige Berechnungsgrundlage, erfolgt grundsätzlich eine Erstattung der Beiträge. Im umgekehrten Fall sind Beiträge nachzuentrichten. Dabei sind jedoch Mindestbemessungsgrenzen zu beachten. Auf der Basis der Werte für 2020 liegt der Beitragssatz bei 14,0 % (plus Zusatzbeitrag), die Mindestbemessungsgrenze beträgt etwa 1 062 Euro im Monat. Für geringfügig Beschäftigte fällt kein Arbeitnehmerbeitrag an, für sie zahlt lediglich der Arbeitgeber einen pauschalen Beitragssatz von 13 % an die Krankenversicherung. Für Einkommen von 450 Euro – 1 300 Euro (Übergangsbereich) steigen die Arbeitnehmerbeiträge schrittweise bis zur vollen Beitragshöhe an (vgl. Kapitel „Einkommen“, Pkt. 3.4). Seit 2004 ergänzen Bundeszuschüsse die Beitragseinnahmen. Sie belaufen sich 2020 auf 14,5 Mrd. Euro. Beitragsbelastung Die Beiträge werden – anders als bei der privaten Krankenversicherung – unabhängig vom jeweils individuellen Risiko (Gesundheitszustand, Alter, Geschlecht) erhoben. Familienangehörige sind kostenfrei mitversichert. Dadurch ist die gesetzliche Krankenversicherung durch einen umfassenden Solidarausgleich (Solidarprinzip) gekennzeichnet, der auch deshalb besonders ausgeprägt ist, weil zwar die Beiträge nach der finanziellen Leistungsfähigkeit berechnet werden, sich die Sachleistungen hingegen ausschließlich am Bedarf orientieren. Unabhängig von der Beitragshöhe wird allen Versicherten die gleiche Leistung geboten. So kann eine teure Krankenhausbehandlung völlig unabhängig von der Höhe des Beitrages in Anspruch genommen werden. Das Äquivalenzprinzip gilt nur für das Krankengeld. Durch die Beitragsbemessungsgrenze kommt es aber dazu, dass für Einkommensbezieher oberhalb des Grenzwertes die prozentuale Belastung des gesamten Einkommens sinkt. Diese Gruppe trägt somit relativ weniger zum Solidarausgleich bei als die Gruppe der Versicherten mit niedrigerem Einkommen. Besonders vorteilhaft wirkt sich dies für Ehepaare aus, die denen nur ein Partner/eine Partnerin versichert ist und gut verdient: Beträgt hier das Bruttoeinkommen 8 000 Euro, so liegt – basierend auf einer Beitragsbemessungsgrenze von 4 688 Euro (2020) – die prozentuale Arbeitnehmerbeitragsbelastung (ohne Zusatzbeitrag) bei 4,3 %. Verdienen hingegen beide Ehepartner jeweils 4 000 Euro und haben damit ebenfalls ein Gesamteinkommen von 8 000 Euro, erreicht der prozentuale Belastungswert 7,3 %.

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Bezieher höherer Einkommen, die über der Versicherungspflichtgrenze liegen, haben zudem die Möglichkeit, die GKV zu verlassen und sich privat zu versichern. Diese Öffnungsklausel hat zur Konsequenz, dass sich „gute“ Risiken, z. B. gutverdienende Jüngere ohne Familienangehörige, häufig für eine private Absicherung entscheiden. Für Besserverdienende mit mehreren Kindern und nicht erwerbstätigen Ehepartnern ist demgegenüber ein Verbleib in der GKV zweckmäßig, da Familienangehörige kostenfrei mitversichert sind. Gesundheitsfonds und Zusatzbeiträge Die Krankenkassen ziehen die Beiträge zunächst ein und übertragen sie dann an den Gesundheitsfonds. Hinzu kommt der Bundeszuschuss. Aus dem Gesundheitsfonds erhalten die einzelnen Krankenkassen eine einheitliche Pauschale pro Versicherten, die sich aus den durchschnittlichen Ausgaben aller Versicherten errechnet. Angesichts dieses vollständigen Finanzausgleichs auf der Einnahmenseite hat es für die einzelnen Krankenkassen keine Bedeutung (mehr), ob ihre Mitglieder gut oder wenig verdienen (vgl. Abbildung VIII.14). Hinzu kommen besondere Zuweisungen, die Alter, Geschlecht und Gesundheitszustand der Versicherten berücksichtigen. Hierdurch wird der unterschiedlichen Risikostruktur der Versicherten Rechnung getragen. Krankenkassen mit älteren und kranken Versicherten erhalten durch diesen Risikostrukturausgleich somit mehr Finanzmittel als Krankenkassen mit einer Vielzahl an jungen und gesunden Ver-

Abbildung VIII.14 Finanzierung der gesetzlichen Krankenkassen durch den Gesundheitsfonds 2019 Mitglieder: versicherungspflichtig, freiwillig, Rentner

Zusatzbeitrag Ø 0,9 %

7,3 %

Arbeitgeber/ Rentenversicherung

7,3 %

Minijob-Zentrale

Bundesagentur für Arbeit/Jobcenter

Bundeszuschuss

A-geberpauschalbeitrag 13 %

Beiträge für ALGI/ II Empfänger

14 ,5 Mrd. Euro

Allgemeiner Beitragssatz 14,6 % Beitragseinnahmen 216,7 Mrd. Euro Reserve: 8,7 Mrd.€

Einnahmen Gesundheitsfonds: 231,2 Mrd. Euro Zuweisungen an Krankenkassen: Pauschale je Versicherten und besondere Zuweisungen Verteilung über den morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich und Einkommensausgleich

Ausgaben der Krankenkassen: 244,4 Mrd. Euro Satzungs- und Ermessensleistungen: 1,1 Mrd. Euro

Regelleistungen: 232,2 Mrd. Euro

Netto-Verwaltungskosten: 12,1 Mrd. Euro

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sicherten (vgl. weiter unten). Darüber hinaus erhalten alle Krankenkassen weitere Zuweisungen zur Deckung der sonstigen standardisierten Ausgaben (zum Beispiel Verwaltungsausgaben, Satzungs- und Ermessensleistungen). Verwaltet wird der Gesundheitsfonds vom Bundesamt für Soziale Sicherung. Das Bundesamt ist damit auch zuständig für die Zuweisungen aus dem Gesundheitsfonds an die Krankenkassen und für die Durchführung des Risikostrukturausgleichs. Da der allgemeine Beitragssatz von 14,6 % gesetzlich eingefroren ist, kommt es dazu, dass die Zuweisungen aus dem Gesundheitsfonds nicht ausreichen, um die Ausgaben einer Krankenkasse zu finanzieren. Die Kassen müssen deshalb Zusatzbeiträge erheben, diese Beiträge werden ebenso wie der einheitliche Beitragssatz seit 2019 wieder zu gleichen Teilen (paritätisch) von Arbeitgebern und Arbeitnehmer:innen getragen. Zuvor (seit 2005) wurden allein die Arbeitnehmer:innen durch den Zusatzbeitrag belastet. Über die Höhe des Zusatzbeitragssatzes entscheiden die einzelnen Krankenkassen. Erhebt eine Kasse einen solchen Zusatzbeitrag erstmalig oder erhöht ihn, gilt ein Sonderkündigungsrecht für die Versicherten. Vor allem jene Kassen, die wegen ihrer überproportional hohen Ausgaben benachteiligt sind, unterliegen dem Risiko, den Weg von steigenden Zusatzbeiträgen beschreiten zu müssen. Mitgliederverluste sind die Folge, da die Mitglieder aufgrund des Sonderkündigungsrechts ohne Umstände in andere Kassen mit niedrigeren Zusatzbeiträgen wechseln können. Die Erfahrung zeigt, dass es dabei zu einer Selbstselektion der Mitglieder kommt: Während die chronisch kranken und älteren Mitglieder eine nur geringe Wechselbereitschaft zeigen, sind es die Jüngeren und Gesunden, die sehr sensibel auf die Unterschiede bei den Zusatzbeiträgen reagieren. Für das Jahr 2020 wird von einem kassendurchschnittlichen Zusatzbeitrag von 1,1 % ausgegangen. Er wird von einzelnen Kassen unter- aber auch überschritten. Ohne einen Zusatzbeitrag kommt indes keine Kasse aus: Die Spannweite bewegt sich (2019) zwischen etwa 0,5 % und 1,3 %. Die Finanzierung über den Gesundheitsfonds erfolgt nach dem Umlageprinzip. Ein Kapitalstock wird nicht gebildet. Beim Fonds existiert eine Liquiditätsreserve, mit der Einnahmeschwankungen ausgeglichen werden, die aber auch dazu dient, um besondere Förderprogramme zu finanzieren. Auch die einzelnen Krankenkassen bilden Rücklagen (per Gesetz begrenzt auf eine Höhe von maximal einer Monatsausgabe), mit denen Schwankungen bei den Ausgaben aufgefangen werden sollen. Grundsätzlich gilt: Je höher der Prozentsatz der Rücklage im Verhältnis zu den Monatsausgaben, umso finanzstärker ist die Krankenkasse aufgestellt. Werden die vorgeschriebenen Grenzen (ein Viertel einer Monatsausgabe) unterschritten, ist eine Erhöhung des Zusatzbeitrags der Krankenkasse wahrscheinlich. Risikostrukturausgleich Die einzelnen Krankenkassen weisen hinsichtlich der Struktur ihrer Versicherten eine unterschiedliche Finanzlage auf. Denn auf der Ausgabenseite kommt es zu einer sehr unterschiedlichen Inanspruchnahme von Leistungen. Benachteiligt sind jeweils

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die Kassen, die u. a. auf Grund des Alters, des Geschlechts und des ungünstigen Gesundheitszustandes ihrer Versicherten hohe Ausgaben verkraften müssen. Wenn sie allein deswegen ihre Zusatzbeiträge deutlich anheben müssten, würde der Grundsatz der Einkommensproportionalität als Element des Solidarprinzips in Frage gestellt. Das hieße, dass für die gleichen Leistungen die Versicherten in Kassen mit hohen Zusatzbeiträgen deutlich mehr zu bezahlen haben, als in Kassen mit niedrigen Beiträgen. Zudem führen Beitragssatzunterschiede bei den Kassen mit hohen Beiträgen zu existenzbedrohenden Wettbewerbsnachteilen bei der Erhaltung und Sicherung des Mitgliederbestandes. Vor dem Hintergrund von freiem Kassenwahlrecht und der Verpflichtung der Krankenkassen, niemanden abzulehnen, der sich in der GKV versichern darf (Kontrahierungszwang), setzt ein „fairer“ Kassenwettbewerb deshalb zwingend voraus, dass risikobedingte Unterschiede in den Zusatzbeiträgen möglichst umfassend, zielgenau und manipulationsresistent ausgeglichen werden. Nicht die Akquise von besonders attraktiven Versichertengruppen mit „guten“ Risiken (Risikoselektion), die mehr einbringen, als sie an Leistungsausgaben verursachen, soll der entscheidende Faktor im Wettbewerb zwischen den Kassen sein, sondern das Bemühen, die gesundheitliche Versorgung der Versicherten effizient und effektiv zu gestalten. Um risikobedingte Beitragssatzunterschiede zu vermeiden, existiert ein komplexes Ausgleichssystem zwischen den Kassen, morbiditätsorientierter Risikostrukturausgleich (Morbi-RSA) genannt. Die Zuweisungen, die die Krankenkassen aus dem Gesundheitsfonds erhalten, werden nach der Risikostruktur der Versicherten differenziert. Krankenkassen, die auf Grund der Zahl der Familienversicherten, des Alters, des Geschlechts und Morbidität ihrer Versicherten ungünstige Risikostrukturen haben, erhalten höhere Zuweisungen. Die Morbidität der Versicherten wird dabei anhand von Diagnosen (Entlass-, Neben- und Sekundärdiagnosen aus dem Krankenhaus, Diagnosen bei der Behandlung durch niedergelassene Ärzt:innen) ermittelt, begrenzt allerdings auf 80 chronische, ausgabenintensive Erkrankungen. Da der RSA keine tatsächlichen Ausgaben erstattet, sondern allen Kassen einen nach der Risikostruktur berechneten Zuweisungsbedarf zumisst, werden lediglich Benachteiligungen ausgeglichen, ohne dass unwirtschaftliches Verhalten belohnt wird. Angesichts der finanziellen Größenordnungen des Risikostrukturausgleichs kann es nicht verwundern, dass die Zielgenauigkeit der Zuweisungen aus dem Gesundheitsfonds seit Jahren ein Konfliktpunkt zwischen den einzelnen Krankenkassen ist. Im Laufe der Jahre sind die deshalb die Parameter des RSA ständig fortentwickelt worden und zugleich immer komplizierter geworden worden.

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Gesundheit und Krankheit

5.1.4 Zuzahlungen und Wahltarife

Bedarfsdeckungs- und Sachleistungsprinzip der GKV werden durch Regelungen zur Zuzahlung sowie durch Wahltarife und Regelungen zur Kostenerstattung durchlöchert. Zuzahlungsregelungen Zuzahlungen legen fest, dass Kranke bei der Leistungsinanspruchnahme einen Eigenbeitrag (zusätzlich zum Versicherungsbeitrag) zu entrichten haben. Diese Zuzahlungen, auch als Selbstbeteiligung bezeichnet, finden sich durchgängig im gesamten Leistungsspektrum der GKV (vgl. Übersicht VIII.3). Von den Zuzahlungen ausgenommen sind Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren. Die im Jahr 2004 eingeführte Zuzahlung in Höhe von 10 Euro (Praxisgebühr), die bei Arzt-, Zahnarzt- oder Psychotherapeutenbesuchen sowie im kassenärztlichen Notdienst (ärztlicher Notdienst oder Notaufnahme eines Krankenhauses) einmal im Quartal (Vierteljahr) entrichtet werde musste, ist Ende 2013 ersatzlos entfallen. Die Zuzahlungen werden bis zum Erreichen der jährlichen Belastungsgrenzen fällig. Oberhalb von 2 % des Bruttoeinkommens (Familieneinkommen) dürfen keine Zuzahlungen mehr erhoben werden. Voraussetzung ist, dass die Versicherten die entsprechenden Belege vorweisen können. Für Familien verringert sich die Belastungsgrenze durch Freibeträge. Auch Empfänger von Leistungen der Grundsiche-

Übersicht VIII.3 Zuzahlungsregelungen im Überblick Stand 2020 Krankenkassenleistungen

Zuzahlungen

Krankenhausbehandlung, Anschlussrehabilitation

10 € pro Tag, max. 28 Tage

Stationäre und ambulante Rehabilitationsmaßnahmen

10 € pro Tag

Arznei- und Hilfsmittel

10 % des Preises; mind. 5 €, max. 10 €

Sonstige Leistungen: z. B. häusliche Krankenpflege

10 %, mind. 5 €, max. 10 €

Fahrtkosten

10 %, mind. 5 € max. 10 € pro Fahrt

Zahnersatz und damit verbundene zahnärztliche Behandlung

Ausgliederung aus dem Leistungskatalog

Belastungsobergrenzen: Die jährliche Eigenbeteiligung der Versicherten darf 2 % der Bruttoeinnahmen nicht überschreiten. Für chronisch Kranke gilt eine Grenze von 1 %. Familien erhalten Kinderfreibeträge.

Krankenversicherung

685

rung müssen Zuzahlungen leisten. Hier gilt der Bedarf der Regelbedarfsstufe 1 als Berechnungsgrundlage für die Belastungsgrenze. Für chronisch Kranke gilt eine Grenze von 1 % des Einkommens. Zuzahlungen sollen bewirken, dass die Versicherten im Rahmen ihrer Möglichkeiten auf eine kostenbewusste und verantwortungsvolle Inanspruchnahme von Leistungen Wert legen. Bei stationärer Unterbringung können Zuzahlungen auch als Äquivalent für die eingesparten Kosten für die Ernährung angesehen werden. Kritisch ist anzumerken, dass Zuzahlungen keine „Kostendämpfungsmaßnahmen“ sind, da sie nicht die Gesamtkosten senken, sondern nur die von den Kassen zu tragenden Kostenanteile. Es handelt sich de facto um Kostenverlagerungen auf Kranke. Zwar schaffen die Befreiungsregelungen einen sozialen Ausgleich, aber problematisch ist, dass • die Belastungsgrenzen sehr hoch angesetzt sind, • viele Versicherte nicht wissen, wann sie diese erreichen bzw. überschreiten, • in das Versicherungssystem zunehmend Bedürftigkeitsprüfungen eingebaut werden, • der bürokratische Aufwand zunimmt, da die Versicherten alle Belege sammeln müssen, um eine finanzielle Überforderung nachzuweisen, und auch die Kassen alle Belege und die Einkommensverhältnisse zu prüfen haben. Eine ausführliche Bewertung der Zuzahlungsregelungen, vor allem unter dem Aspekt der Kostensteuerung, erfolgt unter Pkt. 5.1.4 dieses Kapitels. Wahltarife In Abweichung vom Sachleistungsprinzip gibt es für die Versicherten die Möglichkeit, Wahltarife in Anspruch zu nehmen. Während die Pflichttarife zwingend von jeder Krankenkasse angeboten werden müssen, sind die Kann-Tarife ein freiwilliges Angebot, über das jede Krankenkasse selbst entscheiden kann. •

Kostenerstattung So kann eine Kostenerstattung, die für die PKV typisch ist, gewählt werden. Die Kosten werden allerdings nur bis zu dem Betrag erstattet, der bei entsprechender Sachleistung angefallen wäre, abzüglich gesetzlicher Zuzahlungen und einem Abschlag für fehlende Wirtschaftlichkeitsprüfung und Verwaltungskosten. Es dürfen auch nur Leistungserbringer in Anspruch genommen werden, mit denen die Krankenkasse Verträge abgeschlossen haben. • Selbstbehalte, Prämien für Nichtinanspruchnahme Bei Selbstbehalten verpflichten sich die Versicherten, im Krankheitsfall einen festgelegten jährlichen Höchstbetrag (Selbstbehalt) selbst zu tragen. Dafür gewährt die Kasse einen Bonus. Vergleichbar sind Tarife, die eine Beitragsrückerstattung vorsehen, wenn im Verlauf eines Jahres keine Leistungen in Anspruch genommen werden. Darüber hinaus werden für Versicherte, die an besonderen Versorgungs-

686

Gesundheit und Krankheit

formen teilnehmen, besondere Tarife angeboten. Hierbei handelt es sich u. a. um Modelle zur integrierten Versorgung, strukturierte Behandlungsprogrammen bei chronischen Krankheiten und hausarztzentrierte Versorgung (vgl. Pkt. 6.2.3 dieses Kapitels). Wahltarife vergrößern die Wahlfreiheit der Versicherten. Allerdings ist diese Wahlfreiheit nur für Gesunde konzipiert und interessant. Für chronisch Kranke hingegen, die regelmäßig Leistungen in Anspruch nehmen müssen, kommt ein Tarif mit Beitragsrückerstattung oder Selbstbehalten nicht in Frage. Diese Selektion widerspricht damit dem Prinzip des Solidarausgleichs. Denn wenn bei der Gruppe mit guten Risiken die Beitragssätze niedriger ausfallen, Prämien gezahlt werden oder Beiträge rückerstattet werden, dann müssen die fehlenden Einnahmen von der Gesamtheit der Versicherten ausgeglichen werden (vgl. Pkt. 12.4 dieses Kapitels). Wie groß Zahl und Anteil der Versicherten sind, die die unterschiedlichen Varianten von Wahltarifen wahrnehmen, ist nicht bekannt. Zu vermuten ist, dass es sich nur um eine kleine Minderheit handelt. 5.1.5 Organisation und Selbstverwaltung

Die GKV ist durch eine Vielfalt an Trägern, d. h. den einzelnen Krankenkassen gekennzeichnet. Diese Organisationsstruktur der Krankenversicherung ist das Ergebnis gewachsener Strukturen, die bereits vom Gesetzgeber 1883 und der Reichsversicherungsordnung von 1911 vorgegeben waren. Allerdings hat die Zahl der Kassen massiv abgenommen. Waren es 1992 noch über 1 200 Kassen, so sind bis 2019 noch 109 Kassen übriggeblieben (vgl. Tabelle VIII.1). Entsprechend hat sich die Zahl der Versicherten je Kasse erhöht. Ursächlich für diesen radikalen Umbruch in der Kassenlandschaft ist die im Jahr 1993 im sog. Lahnstein-Kompromiss vereinbarte (weitgehend) freie Wahl der Krankenkassen für alle Versicherten und damit der Wegfall der vormaligen nach Arbeitern und Angestellten unterschiedenen Pflichtkassen. Da die Pflichtkassen – trotz des einheitlichen Leistungsrechts – hoch unterschiedliche Beitragssätze aufwiesen (zwischen 8 % und 16 %), waren die „teuren“ Kassen nicht mehr wettbewerbs- und überlebensfähig und gingen in anderen Kassen auf. Dieser Konzentrationsprozess dauert an. Beispiele dafür sind die Vereinigungen von Ortskrankenkassen – zunächst auf örtlicher Ebene, dann auf der Ebene von Bundesländern und schließlich zwischen Bundesländern. Zu nennen ist hier u. a. die AOK Nordwest (zuvor Westfalen und Schleswig-Holstein). Die Zusammenschlüsse finden auch kassenartenübergreifend statt. Als Beispiele unter vielen können hier die Fusion der BKK Gesundheit mit der DAK zur DAK Gesundheit, also einer Betriebskrankenkasse mit einer Ersatzkasse, oder der Zusammenschluss der Barmer GEK und der Deutschen BKK zur neuen Barmer genannt werden. Damit gibt es mit rund 9,2 Millionen Versicherten (Barmer) und der Techniker Krankenkasse mit 10,3 Mio. Versicherten zwei Großkassen, die allein 28 % aller GKV-Versicherten auf sich vereinen.

Krankenversicherung

687

Tabelle VIII.1 GKV: Krankenkassen und Versicherte 2018 Zahl

Versicherte insg.

davon: Pflichtmitglieder

freiwillige Mitglieder

Rentner:innen

Familienangehörige

in Mio.

in %

in %

in %

in %

109

72,781

46,3

8,4

22,7

22,2

Ortskrankenkassen

11

26,504

48,0

5,6

24,0

22,4

Betriebskrankenkassen

84

10,873

46,9

10,5

17,9

24,7

Innungskrankenkassen

6

5,205

52,2

6,7

18,2

22,9

Ersatzkassen

6

27,978

44,4

10,8

23,2

21,4

Sonstige

2

2,222

31,1

4,6

47,5

18,0

Krankenkassen insgesamt

Quelle: Bundesministerium für Gesundheit (2019), GKV-Statistik, Daten des Gesundheitswesens.

Dies deutet darauf hin, dass am Ende wohl nur noch einige große Kassen das Bild der gesetzlichen Krankenversicherung prägen. In den letzten Jahren neu gegründet worden sind aber auch Kassen, die den Kontakt zu den Versicherten über Call-Center und online-Verfahren herstellen und auf ein teures Zweigstellennetz verzichten. Der Gesamtbestand der Versicherten verteilt sich u. a. zu über 36 % auf die Ortskrankenkassen, zu 15 % auf die Betriebskrankenkassen, zu 7,2 % auf die Innungskrankenkassen und zu 38,4 % auf die Ersatzkassen (vgl. Abbildung VIII.15). Jede der 109 Kassen ist organisatorisch und finanziell selbstständig. Sie sind – wiederum historisch bedingt – untergliedert nach regionalen (Ortskrankenkassen), betrieblichen (Betriebskrankenkassen) und berufsständischen (Innungskassen, Ersatzkassen) Gesichtspunkten. Pflichtversicherte wie freiwillig Versicherte können wählen zwischen der • • •

Ortskrankenkasse des Beschäftigungs- oder Wohnortes, jeder Ersatzkasse, jeder Betriebs- oder Innungskasse, falls deren Satzung dies vorsieht.

Für die Gründung einer Betriebs- bzw. Innungskasse bestehen spezielle Vorschriften. So kann ein Arbeitgeber eine Betriebskrankenkasse errichten, wenn mindestens 1 000 versicherungspflichtige Beschäftigte vorhanden sind und ihre Leistungsfähigkeit auf Dauer gesichert ist. Die einzelnen Kassen sind autonome Körperschaften des öffentlichen Rechts und Teil der mittelbaren Staatsverwaltung. Sie unterstehen staatlichen Aufsichtsbehörden. Zuständig ist bei den bundesunmittelbaren Kassen das Bundesamt für Soziale Siche-

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Gesundheit und Krankheit

Abbildung VIII.15 Versicherte nach Kassenarten 2018

BKK (84) 10,9 Mio. = 14,9%

IKK (6) 5,2 Mio. = 7,2%

AOK (11) 26,5 Mio. = 36,4%

Sonstige (2) 2,2 Mio. = 3,0%

insgesamt 72,781 Mio.

Ersatzkassen (6) 28,0 Mio. = 38,4%

Versicherte: Mitglieder und mitversicherte Familienangehörige, im Jahresdurchschnitt, Zahl der Kassen 12/2018 Quelle: Bundesministerium für Gesundheit (2019), GKV-Statistik.

rung; bei den landesunmittelbaren Kassen (AOKs) führen die Behörden der Länder die Aufsicht. Gegen die Entscheidung einer Kasse (z. B. Ablehnung einer Medikation) kann Widerspruch eingelegt werden. Auch steht der Klageweg vor einem Sozialgericht offen. Die Kassen haben sich – kassenartenbezogen – in privatrechtlich organisierten Landes- und Bundesverbänden zusammengeschlossen. Die Vertretung sämtlicher Kassen übernimmt der (öffentlich-rechtliche) GKV-Spitzenverband, der auch in die gemeinsame Selbstverwaltung (Gemeinsamer Bundesausschuss) eingebunden ist. Die gesetzlichen Krankenkassen unterliegen der Selbstverwaltung. Das Selbstverwaltungsprinzip bedeutet in der GKV – wie auch in den anderen Bereichen der Sozialversicherung – eine staatsunmittelbare Autonomie, bei der der Gesetzgeber den Handlungsrahmen und die Aufgaben festlegt, die die Organe der Selbstverwaltung eigenverantwortlich zu erfüllen haben. Selbstverwaltungsorgane sind der Verwaltungsrat und der Vorstand. Der Verwaltungsrat ist paritätisch aus Vertretern der Arbeitgeber und Versicherten zusammengesetzt und bestellt für jeweils sechs Jahre den hauptamtlichen Vorstand. Der Verwaltungsrat hat insbesondere die Satzung sowie deren Änderungen zu beschließen. Er entscheidet über die Höhe des Zusatzbeitrags,

Krankenversicherung

689

über die Einführung von Satzungsleistungen und stellt den Haushaltsplan auf. Insgesamt ist der Entscheidungsspielraum der Selbstverwaltung in Bezug auf den Leistungsumfang relativ klein, da der Gesetzgeber den Leistungsrahmen vorgibt. Seine Begründung bezieht das Selbstverwaltungsprinzip aus der Überlegung, Zentralisierung und Dezentralisierung, Machtkonzentration und Machtbeschränkung, staatliche Steuerung und freie Selbstregulierung miteinander zu verbinden. Vor allem im Bereich der sozialen Dienstleistungen gelten zentralstaatliche Systeme leicht als überfordert bei der Aufgabe, bürgernah und bedürfnisorientiert zu handeln. Neben praktischen Vorteilen entspricht das Selbstverwaltungsprinzip der demokratischen Tradition der Sozialversicherung und erfüllt Demokratie- und Mitbestimmungserfordernisse. Untersuchungen zeigen, dass die Möglichkeiten der Selbstverwaltung zur Kontrolle, Steuerung und Planung des Leistungsangebotes nur begrenzt genutzt werden. Gegenüber den Versicherten und dem Verwaltungsrat dominieren der hauptamtliche Vorstand und die Verwaltung durch ihr Expertenwissen. 5.1.6 Kassenwettbewerb

Ziel der Politik und der entsprechenden gesetzlichen Veränderungen in den zurückliegenden Jahren war und ist es, den Wettbewerb zwischen den Kassen zu forcieren, um so die Wirtschaftlichkeit und die Qualität des Gesundheitssystems zu verbessern. Die Rede ist von einem solidarischen Wettbewerb. Fraglich bleibt jedoch, inwieweit sich Wettbewerb und Solidarität miteinander verbinden lassen. Zwar sind Krankenkassen keine auf Gewinnerzielung gerichteten Unternehmen, und auch bleibt der Kassenwettbewerb durch den weitgehend festgelegten, einheitlichen Leistungskatalog und durch den Risikostrukturausgleich „solidarverträglich“. Gleichwohl zeigt die Realität, dass sich der Wettbewerb bislang weniger auf die Qualität der Versorgung und die Vielfalt von Versorgungsangeboten, sondern vorrangig auf die Zahl der Mitglieder konzentriert. Können doch die GKV-Mitglieder – anders als privat Versicherte – ihre Krankenkasse rasch wechseln. Die Bindungsfrist nach einem Kassenwechsel beträgt lediglich 18 Monate, hinzukommen Sonderkündigungsrechte bei Beitragserhöhungen. Der Kampf um Mitglieder konzentriert sich deshalb darauf, für die Versicherten finanziell attraktiv zu bleiben und Anhebungen der Zusatzbeiträge zu vermeiden. Eine solche Ausrichtung auf den Preis kann aber dazu führen, auf eine Verbesserung der (kostspieligen) Leistungen für chronisch Kranke zu verzichten und Investitionen in neue Vertrags- und Versorgungsmodelle zu unterlassen. Auch werden dadurch die Bemühungen um eine Stärkung präventiver Maßnahmen eher erschwert. Denn wenn die Kassen zunehmend in einer Wettbewerbssituation um günstige Risiken und niedrige Beitragssätze stehen, sind die Chance für gemeinsame verhältnispräventive Anstrengungen, die sich ja nicht auf die Mitglieder einer einzelnen Kasse begrenzen lassen, gering.

690

Gesundheit und Krankheit

5.1.7 Medizinischer Dienst

Die Krankenkassen (zu den Pflegekassen, vgl. Kapitel „Pflegebedürftigkeit und Pflege“) sind verpflichtet, den medizinischen Dienst (MD) bei wichtigen medizinischen und pflegerischen Fragen mit Begutachtungen und Beratungen zu beauftragen. Der MD hat insofern die Aufgabe, den Kassen eine medizinische Grundlage für ihre leistungsrechtlichen Entscheidungen zur Verfügung zu stellen. Das bezieht sich u. a. auf Fragen zur Arbeitsunfähigkeit, zur Verordnung von Arznei-, Heil- und Hilfsmitteln, zu Behandlungsfehlern, zu Leistungen der Rehabilitation, zur Notwendigkeit eines Krankenhausaufenthalts sowie zur Notwendigkeit und Dauer von häuslicher Krankenpflege. Darüber hinaus prüft der MDK die Richtigkeit der Abrechnungen der Krankenhäuser (Beanstandungen von Rechnungen, Abrechnungsfehler, zu lange Verweildauern usw.). Die Aufgaben des MD werden von Ärzt:innen und Angehörigen anderer Heilberufe sowie Pflegefachkräften wahrgenommen. Seit 2020 ist der medizinische Dienst eine eigenständige Körperschaft des öffentlichen Rechts. Die Dienste stellen damit keine Arbeitsgemeinschaften der Krankenkassen mehr dar. Auch der bisherige Medizinische Dienst des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen wird vom GKV-Spitzenverband organisatorisch gelöst und erhält die Kompetenz zum Erlass der Richtlinien für die Tätigkeit der Medizinischen Dienste. Neu geregelt ist auch die Besetzung der MD-Verwaltungsräte, Mitglieder sind neben den Vertretern der Krankenkassen nunmehr auch Vertreter der Patientinnen und Patienten, der Pflegebedürftigen, Verbraucherverbände sowie der Ärzteschaft und der Pflegeberufe. 5.2

Private Krankenversicherung

5.2.1 Grundlagen und Prinzipien

Die private Krankenversicherung (PKV) ist ein fester Bestandteil des Systems der sozialen Absicherung im Krankheitsfall. Sie hat in den letzten Jahren einen erheblichen Bedeutungszuwachs erfahren. Während die PKV 1991 erst 6,3 Mio. Vollversicherte (Krankheitskostenversicherung) zählte, stieg deren Zahl bis 2018 auf knapp 8,8 Mio. Seit etwa 2012 zeigen sich allerdings kleinere Mitgliederverluste. Hinzu kommen aber noch, mit anhaltend steigender Tendenz, 25,5 Mio. Zusatzversicherungen, die auch von gesetzlich Versicherten abgeschlossen werden und die zusätzliche Leistungen u. a. bei einem Krankenhausaufenthalt, bei Zahnbehandlungen oder bei Auslandsaufenthalten beinhalten (vgl. Tabelle VIII.2). Die Bedeutung der PKV spiegelt sich nicht nur in den Versichertenzahlen wider. Festzustellen ist auch eine schrittweise Annäherung zwischen GKV und PKV. Augenfälliger Ausdruck dieser Entwicklung ist die Tatsache, dass seit 2007 die private Krankenversicherung eine Pflichtversicherung für all jene Personen ist, die nicht

Krankenversicherung

691

Tabelle VIII.2 Eckdaten der privaten Krankenversicherung 1991 – 2018 Krankheitsvollversicherung

Wechsel GKV/ PKV – Nettozugewinn der PKV

Zusatzversicherungen insgesamt*)

in Tsd.

in Tsd.

1991

6 333

1996

Prämieneinnahmen insgesamt

darunter Krankentagegeld

Krankenhauswahlleistungen

in Tsd.

in Tsd.

In Tsd.

in Mio. €

231

9 281

1 780

3 964

10 518

6 977

66

11 212

2 027

4 337

17 518

2000

7 494

176

13 892

2 623

4 394

20 712

2005

8 373

120

17 088

3 237

5 040

27 348

2010

8 896

75

21 969

3 537

5 644

33 270

2011

8 976

74

22 499

3 582

5 713

34 667

2012

8 956

−20

23 071

3 628

5 777

35 628

2013

8 890

−37

23 895

3 607

5 815

36 051

2014

8 834

−30

24 342

3 586

5 815

36 323

2015

8 787

−20

24 770

3 584

5 980

36 822

2016

8 772

−1

25 089

3 598

6 059

37 258

2017

8 753

−1

25 520

3 613

6 112

39 049

2018

8 736

−4

25 519

3 638

6 181

39 786

*) Eine Person kann mehrere Zusatzversicherungen haben. Quelle: Zusammengestellt nach: Verband der Privaten Krankenversicherung (zuletzt 2019), PKV-Zahlenportal.

zum Versichertenkreis der GKV zählen. Zugleich müssen die privaten Versicherungen für diese Personen einen Basistarif anbieten. Diese Entwicklung ist bereits mit der Einführung der Pflegeversicherung eingeleitet worden, denn die PKV ist die Pflege-Pflichtversicherung für die bei ihr Krankenversicherten. Andererseits sind typische Elemente der PKV in die GKV implantiert worden, so hinsichtlich von Wahltarifen (Beitragsrückerstattung, Kostenerstattung und Selbstbehalte). Gesetzliche Grundlage für das Wirken der PKV ist das Versicherungsvertragsgesetz (VVG). Da die private Krankenversicherung risikointensiv ist, werden besondere Anforderungen an die Versicherungsunternehmen gestellt. Sie werden nach dem Versicherungsaufsichtsgesetz (VAG) in der Rechtsform von Aktiengesellschaften und Versicherungsvereinen auf Gegenseitigkeit betrieben. Die 41 größten Ver-

692

Gesundheit und Krankheit

Übersicht VIII.4 Zentrale Unterschiede zwischen GKV und PKV (Krankheitsvollversicherung) GKV

PKV

Art der Versicherung

Gesetzliche Versicherung

Privatrechtlicher Versicherungsvertrag

Personenkreis

Pflichtversicherte und freiwillig Versicherte

Personen, die nicht der Versicherungspflicht in der GKV unterliegen

Familienversicherung

beitragsfrei

Versicherung jedes einzelnen Familienangehörigen

Finanzierung

Fester Beitragssatz in % des Bruttoeinkommens bis zur Beitragsbemessungsgrenze

Individuelle Prämie in Euro, risikoäquivalente Berechnung nach Gesundheitszustand und Alter bei Vertragsbeginn

Anpassung der Kosten

Variation des Beitragssatzes und des Zusatzbeitrags, dynamische Anpassung der Beitragsbemessungsgrundlage

Erhöhung der Prämie

Kontrahierungszwang

Ja

Nein (Ausnahme Basistarif )

Leistungskatalog

gesetzlich vorgegeben

Tarifgestaltung per Vertrag zu vereinbaren

Leistungsverfahren

Sachleistungsprinzip

Kostenerstattungsprinzip

Risikoausgleich

ja

ja, nach Risikogruppen

Solidarausgleich

ja

nein, nur risikobezogener Versicherungsausgleich

Wahltarife

Begrenzt möglich

ja

Freie Arztwahl

unter den niedergelassenen Vertragsärzten

unter allen Ärzten

Finanzierungsverfahren

Umlagefinanzierung und Bundeszuschuss

Umlage und Altersrückstellungen (Anlage auf Kapitalmarkt)

Abschluss von Versorgungsverträgen

Verträge mit Leistungserstellern gemäß Sachleistungsprinzip

nein, PKV ist kein Vertragspartner der Leistungserbringer

Honorierung der niedergelassenen Ärzte

Gesamtvergütung und Anwendung des EBM

nach GOÄ

Verwaltungs- und Abschlusskosten

Verwaltungskosten

Verwaltungskosten, Abschlusskosten

Krankenversicherung

693

sicherungsunternehmen, auf die weit über 90 % des gesamten Marktanteils entfallen, haben sich im Verband der Privaten Krankenversicherung organisiert. Die Krankenversicherungsunternehmen stehen unter staatlicher Aufsicht (Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht/BAFin). Die Zielgruppen der PKV sind Beschäftigte, deren Einkommen die Versicherungspflichtgrenze übersteigen, sowie Selbstständige und Freiberufler. Zur Zielgruppe gehören vor allem Beamt:innen, die grundsätzlich nicht in der GKV versichert sind. Vielmehr übernimmt der Staat (der „Dienstherr“) einen Teil der anfallenden Krankheitskosten durch die Beihilfe, wobei sich der Anteilswert nach Familiensituation und Alter (Pensionierung) richtet. Für den nicht gedeckten Teil der anfallenden Kosten können und werden sich Beamt:innen bei einer PKV im Rahmen eines Prozenttarifs versichern. Der Statistik des Verbandes der privaten Krankenversicherung ist zu entnehmen, dass 49,1 % der Versicherten der PKV Beamt:innen und deren Familienangehörige sind. Obwohl sich auch Beamt:innen freiwillig in der GKV versichern können, unterliegen sie jedoch faktisch einer PKV-Versicherungspflicht. Denn als freiwillig Versicherte erhalten sie weder eine Beihilfe noch einen den Arbeitgeberbeitrag, so dass dies zu einer deutlichen finanziellen Schlechterstellung führen würde. Allerdings sind einzelne Bundesländer (so z. B. Hamburg) dazu übergegangen, ihren neu eingestellten Beamt:innen die Option zwischen Beihilfe und gesetzlicher Krankenversicherung (mit Arbeitgeberbeiträgen) einzuräumen. Bei dem anderen Teil der Vollversicherten handelt es sich um Selbstständige sowie um Arbeitnehmer:innen mit einem Einkommen oberhalb der Versicherungspflichtgrenze, die die gesetzliche Krankenversicherung verlassen haben und die auch als Rentner:innen nicht wieder in die GKV zurückkehren können. Weit überwiegend leben die PKV-Versicherten in den alten Bundesländern, da in den neuen Ländern die Selbstständigen wie die Beamt:innen nur schwach vertreten sind. Und innerhalb der alten Bundesländer zeigt sich eine starke Konzentration der Privatversicherten auf wirtschaftsstarke Regionen und Städte. Angesichts der relativ niedrigen Versicherungspflichtgrenze in der gesetzlichen Krankenversicherung, die in etwa dem 1,5fachen des Durchschnittseinkommens entspricht, ist der Kreis der Beschäftigten, die das Wahlrecht zum Wechsel in die PKV haben, recht groß. Sie werden sich für den Wechsel entscheiden, wenn die Prämien eines Unternehmens der Privatversicherung niedriger ausfallen als die einkommensbezogenen Beiträge/Zusatzbeiträge einer gesetzlichen Krankenkasse. Das bedeutet in der Praxis, dass der Wechsel gerade für gesunde und jüngere Singles attraktiv ist: Sie müssen weder Risikozuschläge bei der Prämienkalkulation befürchten noch Prämien für Familienangehörige bezahlen. Dieser Kreis der gut verdienenden Beschäftigten, der sich in den zurückliegenden Jahren aufgrund der Einkommensspreizung bei den Löhnen erhöht hat, kann sich also dem Solidarausgleich der GKV entziehen. Dies ermöglicht der PKV eine Politik des „Rosinenpickens“, d. h. das Abwerben günstiger Risiken. Um die Mitgliederselektion zu Lasten der GKV einzuschränken, hat der Ge-

694

Gesundheit und Krankheit

setzgeber den späteren Wiedereintritt PKV-Versicherter in die GKV sehr restriktiv geregelt bzw. gänzlich ausgeschlossen. Bis etwa zur Jahrtausendwende sind jedes Jahr weitaus mehr von vordem gesetzlich Versicherten in die PKV übergetreten als in die umgekehrte Richtung. Seitdem ist jedoch eine zwar schwache, aber doch gegenläufige Tendenz zu erkennen. Es kommt vermehrt zu einem Wechsel von der PKV zur GKV. Eine Rückkehr in die GKV ist dabei schwierig, denn sie ist für Privatversicherte nur dann möglich, wenn sie wegen eines sinkenden Einkommens versicherungspflichtig werden (das aber auch nur bis zu einer Altersgrenze von 55 Jahren) oder wenn sie sich als beitragsfreie Familienmitglieder gesetzlich versichern können. Zugleich entscheiden sich weniger Versicherte, von der gesetzlichen in die private Versicherung zu wechseln. Dies ist bemerkenswert, da dieser Weg einfach ist und schon beim einmaligen Überschreiten der Jahresarbeitsentgeltgrenze erfolgen kann. Zusätzliche Betätigungsfelder hat der Gesetzgeber der PKV durch Einschränkungen bei den Leistungen der GKV geschaffen. Für die in der GKV Versicherten werden von der PKV daher Zusatzversicherungen angeboten, die jene Leistungen abdecken, die die GKV gar nicht mehr oder nicht mehr voll trägt. Solche Tarife beziehen sich z. B. auf die Zuzahlungsregelungen bei Hörgeräten, Zahnersatz und Krankenhausaufenthalten. 5.2.2 Risikoäquivalente Prämien und Altersrückstellungen

Die PKV finanziert sich über in Euro-Beträgen ausgewiesene risikoäquivalente Prämien – unabhängig vom Einkommen des Versicherten und seiner wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit, auch soziale Aspekte (so Unterhalt von Kindern oder Arbeitslosigkeit) bleiben unberücksichtigt. Der versicherungstypische Risikoausgleich besteht darin, indem aus den Prämien aller Versicherten bzw. ausreichend großer Teilgruppen (Versicherungskollektive) die Krankheitskosten der Behandlungsbedürft igen finanziert werden. Die Höhe der Prämie ist nach dem Risiko bemessen, das die PKV mit dem Abschluss des Versicherungsvertrages übernommen hat, um den Versicherungsschutz zu gewährleisten. Eine Unterscheidung nach dem Geschlecht ist nicht mehr zulässig; es handelt sich um sog. „Unisex-Tarife“. Eine nach dem Versicherungsabschluss eintretende Verschlechterung des Gesundheitszustands spielt bei Prämienberechnung keine Rolle. Allerdings führen Preissteigerungen im Gesundheitssystem zu erhöhten Kosten des Unternehmens mit der Folge einer laufenden Anhebung der Prämien. Zugleich kommt es bei der Prämienberechnung auf den Umfang des Versicherungsvertrages, d. h. auf den vereinbarten Leistungstarif an: Je mehr die Versicherten zu zahlen bereit sind, desto mehr Leistungen können sie in Anspruch nehmen. Werden Tarife mit Selbstbehalt oder Rückerstattungen gewählt, verringern sich die Prämien. Für die PKV besteht kein Kontrahierungszwang: Vor einem Vertragsabschluss werden Auskünfte über Vorerkrankungen und über den Gesundheitszustand ein-

Krankenversicherung

695

geholt. Antragsteller, deren Eintritt in die Versicherung ein hohes Risiko bedeuten würde, weil sie z. B. chronisch krank sind, an Aids erkrankt sind oder einen Herzfehler aufweisen, haben keinen Anspruch auf Aufnahme in die Versicherung (dies gilt nicht für den Basistarif). Eine Ablehnung ist nicht begründungsbedürftig. Üblich ist, dass bei erhöhten Risiken die Prämien durch Risikozuschläge erhöht oder Leistungsausschlüsse hinsichtlich der Kosten bestimmter Krankheiten ausgesprochen werden. Um zu vermeiden, dass die Prämien altersbedingt steigen, weil sich im Alter das Krankheitsrisiko erhöht, ist die PKV verpflichtet, für den altersbedingten Morbiditätsanstieg Rückstellungen zu bilden. Deshalb liegt in jungen Jahren die Prämie höher als zur Deckung der Leistungsausgaben erforderlich, in späteren Jahren darunter. Die Differenz zwischen der Prämie in jungen Versicherungsjahren und den rechnerischen Kosten wird in Altersrückstellungen verzinslich angelegt, die dann aufgelöst werden, wenn in späteren Jahren die rechnerischen Kosten über den Prämien liegen. In die Prämienkalkulation gehen außerdem Verwaltungskosten und vor allem die hohen Abschlussaufwendungen (Akquisition, Werbung, Marketing) ein. Privatversicherte Arbeitnehmer:innen erhalten zu ihrer Prämie für die Krankheitskostenversicherung einen Zuschuss des Arbeitgebers in Höhe der Hälfte des Beitrages, der bei Versicherungspflichtigen an die zuständige Krankenkasse zu zahlen wäre, maximal aber die Hälfte des durchschnittlichen Höchstbetrages der GKV. 5.2.3 Leistungen

Privatversicherte, üblicherweise auch als Privatpatient:innen bezeichnet, haben die freie Wahl unter den Leistungserbringern, mit denen sie in privatrechtliche Vertragsbeziehungen eintreten. Die Leistungserbringung erfolgt dem Kostenerstattungsprinzip. Die Versicherungsgesellschaft steht mit den Leistungserbringern in keinerlei vertraglichen Beziehungen und ist nicht in die Steuerung und Bewertung der Leistungserbringung durch Ärzt:innen, Zahnärzt:innen, Krankenhäuser einbezogen. Versicherte erhalten, z. B. nach einer ärztlichen Behandlung, eine Rechnung, die bei der zuständigen PKV einzureichen ist. Lediglich bei Krankenhausbehandlungen praktizieren einige Gesellschaften eine Direktabrechnung zwischen Versicherung und Krankenhaus. In allen anderen Fällen wird der Rechnungsbetrag entsprechend des gewählten Tarifs, d. h. hinsichtlich des Umfangs der Absicherung und einer womöglich vereinbarten Selbstbeteiligung, von dem Unternehmen erstattet. Die Erstattung bezieht sich in aller Regel auf die ambulante und stationäre Behandlung, Gesundheitsvorsorgeuntersuchungen, Heilmittel, Zahnersatz und Laborleistungen. Nicht erstattete Rechnungsbeträge, z. B. wegen überhöhter Gebühren, verbleiben beim Versicherten. Nur durch Zusatztarife abgesichert bzw. überhaupt nicht vorgesehen sind Vorsorgeleistungen oder Rehabilitationsmaßnahmen. Dagegen werden Leistungen von Heilpraktikern, anders als in der GKV, übernommen.

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Gesundheit und Krankheit

Die Kostenkalkulation der Leistungsersteller wird durch gesetzliche Regulierung begrenzt. Für die ambulante ärztliche oder zahnärztliche Behandlung gelten die Bestimmungen der Gebührenordnung für Ärzte (GOÄ) bzw. für Zahnärzte (GOZ). Die Krankenhäuser rechnen – wie auch gegenüber der GKV – mit dem DRG-Fallpauschalenkatalog ab. Um die Kosten im Bereich der Arzneimittel zu begrenzen, gelten einige Regelungen des Arzneimittelpreisrechts auch für die PKV (vgl. Pkt. 7.2.2 dieses Kapitels). So müssen die pharmazeutischen Unternehmen die gesetzlichen Arzneimittelrabatte auch den privaten Krankenversicherungsunternehmen einräumen. Private Krankenversicherer müssen einen Basistarif anbieten, der den Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung entspricht. Die Versicherer dürfen hier keinen Kunden ablehnen und es darf keine vom Krankheitsrisiko abhängigen Zuschläge oder Leistungsausschlüsse geben. Die Prämien des Basistarifs dürfen höchstens so teuer sein wie der Höchstbeitrag in der GKV (2019: rund 660 Euro). Versicherte im Basistarif können bei einem Wechsel des Unternehmens Altersrückstellungen mitnehmen. 5.2.4 Versicherungswechsel und Kostenentwicklung

Versicherte, die einmal aus der GKV ausgetreten sind, können in der Regel nicht wieder in ihren Schutz eintreten. Eine Rückkehr ist nur dann möglich, wenn das aktuelle Einkommen unter der Versicherungspflichtgrenze liegt, also z. B. bei Arbeitslosigkeit oder Berufswechsel. Für ältere Privatversicherte (nach Vollendung des 55. Lebensjahres) ist ein Wechsel ausgeschlossen. Für PKV-Versicherte ist aber auch der Wechsel von einem Unternehmen in ein anderes Unternehmen faktisch ausgeschlossen. Denn die Altersrückstellungen können bei einem Wechsel zu einem anderen Versicherer nicht mitgenommen werden. Sie verbleiben beim Erstversicherer und müssen in der neuen Gesellschaft neu aufgebaut werden. Hinzu kommt, dass die Prämien vom Eintrittsalter abhängen und bei einem Wechsel mit steigendem Lebensalter immer höher ausfallen. Dies führt dazu, dass in einem Bereich, der als marktförmig gilt und immer wieder als Alternative zur sozialstaatlichen Gestaltung des Gesundheitssystems angesehen wird, der Wettbewerb zwischen den privaten Versicherungsunternehmen so gut wie ausgeschlossen ist. Die Anstrengungen hinsichtlich der Tarifgestaltung und nicht zuletzt der Aufwendungen für Werbemaßnahmen konzentrieren sich ausschließlich auf junge Neukunden, nicht aber auf Bestandversicherte, denn diese können eine einmal getroffene Entscheidung für ein bestimmtes Unternehmen und einen bestimmten Tarif faktisch nicht mehr korrigieren. Es besteht eine lebenslange Bindung. Innerhalb des GKV-Systems ist dies anders: Eine Kündigung ist leicht und nachteilsfrei möglich und kann bei einer Erhöhung des Zusatzbeitrags bereits in kürzester Frist erfolgen. Die Daten zeigen, dass gerade von dem Sonderkündigungsrecht lebhaft Gebrauch gemacht worden ist und wird.

Krankenversicherung

697

Bei der Ausgabenentwicklung je Versicherten und den preisbedingten Anhebungen der Prämien schneidet die PKV in den Sektoren Krankenhaus (größter Ausgabenblock) und Zahnbehandlung/Zahnersatz schlechter als die GKV ab; im Bereich der ambulanten ärztlichen Behandlung ist es umgekehrt. In der Folge haben sich die Prämien in den zurückliegenden Jahren deutlich erhöht – obwohl die Versicherten der PKV im Schnitt gesünder sind als die GKV-Versicherten. Insgesamt zeigt sich, dass die abweichenden leistungsrechtlichen Regelungen zwischen Privatversicherung, hier das Kostenerstattungsprinzip, und gesetzlicher Versicherung, hier das Sachleistungsprinzip, keinen maßgeblichen Einfluss auf den Ausgabenanstieg haben. Im Gegenteil lässt sich sagen, dass die PKV aufgrund des Kostenerstattungsprinzips keinen vertraglichen Einfluss auf Wirtschaftlichkeit und Qualität der Leistungen hat, was Kostensteigerungen leichter möglich macht. Zudem bietet die einzelleistungsbezogene Gebührenordnung starke Anreize für eine Mengenausweitung (Gefahr der Überdiagnostik und -therapie). Die reinen Verwaltungskosten der PKV für 2018 liegen bei 2,3 % der Prämieneinnahmen und sind damit geringer als die der GKV (4,8 %), denn die gesetzlichen Kassen und deren Verbände haben auch allgemeine Kosten wie vor allem für den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung, für die Verwaltung des Gesundheitsfonds oder für Schiedsverfahren zu tragen. Die Gesamtkosten der PKV liegen aber mit 8,6 % deutlich höher als die der GKV: Hinzu kommen nämlich noch mit 6,3 % die Abschlusskosten an, also für Werbung, Provisionen für Neuabschlüsse und Umstufungen. 5.3

Zwei Klassen-System ?

Angesichts des Dualismus von gesetzlicher und privater Krankenversicherung liegt die Frage auf der Hand, ob und inwieweit es dadurch zu einer gravierenden Besserstellung der Personen kommt, die sich für eine private Versicherung entscheiden können, und zu einer Schlechterstellung jener, die verpflichtet sind, Mitglied einer gesetzlichen Versicherung zu werden und zu bleiben. Die Antwort auf diese Frage ist nicht eindeutig, da zwischen dem Aspekt der Finanzierung und dem Aspekt der Leistungen unterschieden werden muss. Bei der Finanzierung ist offensichtlich, dass sich „gute Risiken“ und Personen mit einem hohen Einkommen weitaus günstiger privat als gesetzlich versichern können. Der für die GKV charakteristische Solidarausgleich wird damit zu Lasten der Einkommensschwächeren sowie der gesundheitlich beeinträchtigten Versicherten ausgehöhlt. Hingegen gibt es auf der Leistungsseite, also hinsichtlich der medizinischen Versorgung, keine ausgesprochene „Zwei-Klassen-Medizin“. Auch die gesetzlich Versicherten haben Anspruch auf alle notwendigen Leistungen – unabhängig von ihrer sozialen Lage und finanziellen Leistungsfähigkeit. Weder in der ambulanten noch

698

Gesundheit und Krankheit

in der stationären Versorgung werden den gesetzlich Versicherten erforderliche diagnostische oder therapeutische Leistungen vorenthalten. Dies gilt gleichermaßen für die Versorgung mit Arzneimitteln. Allerdings gibt es Ausnahmen, denen in der gesundheitspolitischen Debatte ein hoher Stellenwert zukommt. • •





Privatpatient:innen werden von vielen Ärzt:innen bevorzugt, da Termine schneller vereinbart werden. Gesetzlich Versicherte müssen hingegen gerade bei Fachärzt:innen lange Wartezeiten in Kauf nehmen. Beim Einsatz von Diagnostikverfahren (z. B. Einsatz von neuester Medizintechnik) und Therapien (z. B. alternative Heilmethoden) gibt es Abweichungen. Allerdings bleibt zu fragen, ob diese Mehrleistungen tatsächlich wirksam und medizinisch erforderlich sind oder ob es zu Fällen einer Überversorgung kommt. Diese Ungleichbehandlung ist Folge der Unterschiede bei der Honorierung der ärztlichen Leistungen: Für die identische Versorgung erhalten Ärzt:innen für Patient:innen, die privat versichert sind, eine weitaus höhere Vergütung als für gesetzlich versicherte Patient:innen. In der stationären Versorgung können Privatpatient:innen eine bessere Unterbringung (Einzelzimmer) und Verpflegung erwarten, wenn sie in ihrem Vertrag entsprechende Leistungen vereinbart haben. Die medizinische Behandlung bleibt davon jedoch unberührt. Ob die Visite durch den Chefarzt erfolgt oder nicht, ist hier eher unmaßgeblich.

Da in Deutschland die gesamte Bevölkerung einer Krankenversicherungspflicht unterliegt, gibt es im Grundsatz keinen Ausschluss aus der Versorgung im ambulanten wie im stationären Sektor oder im Bereich von Arznei- sowie Heil- und Hilfsmitteln. Für Empfängern von Leistungen des Asylbewerberleistungsgesetzes werden Leistungen zur medizinischen Versorgung allerding nur bei akuter Krankheit bzw. akutem Behandlungsbedarf und bei schmerzhafter Krankheit erbracht. Leistungen für sonstige Behandlungen, insbesondere bei chronischen Erkrankungen und Behinderungen, „können“ – wie es im Gesetz heißt – als Ermessensleistungen gewährt werden, soweit dies „zur Sicherung der Gesundheit unerlässlich“ ist. Erst nach einer Wartefrist von 15 Monaten erhalten Leistungsberechtigte eine vollwertige Gesundheitskarte, mit der sie die gleichen medizinischen Leistungen wie gesetzlich Krankenversicherte beanspruchen können. Ein für alle Versicherten garantierte umfassende Anspruch auf medizinische, gesundheitliche und auch pflegerische Leistungen ist aber nicht gleichbedeutend mit deren tatsächlicher Inanspruchnahme. Unterschiedliche Inanspruchnahmemuster zeigen sich darin, dass höhere Statusgruppen und privat Versicherte vermehrt Fachärzte und Früherkennungs- bzw. präventive Maßnahmen in Anspruch nehmen.

Ambulante ärztliche Versorgung

6

699

Ambulante ärztliche Versorgung

Die ambulante ärztliche und zahnärztliche Versorgung in Deutschland wird nahezu vollständig von niedergelassenen Ärzt:innen getragen (zur psychotherapeutischen Versorgung vgl. Pkt. 9 dieses Kapitels). Das gilt auch für die Versorgung durch Fachärzt:innen. In den meisten anderen europäischen Ländern wird hingegen ein erheblicher Teil der ambulanten Medizin – insbesondere die spezialfachärztliche Versorgung – durch Ärzt:innen geleistet, die an Krankenhäusern angestellt sind. In Deutschland sind das Krankenhaus und die Krankenhausärzt:innen von der ambulanten Diagnostik und Therapie jedoch weitgehend ausgeschlossen. Krankenhäuser können nur in Ausnahmefällen ambulante Leistungen anbieten, so in Notfällen (Ambulanzen), in bestimmten Fällen vor- und nachstationärer Diagnostik und Therapie, bei seltenen Erkrankungen, bei ambulanten Operationen, bei einer regionalen Unterversorgung oder bei Einbindung in ein medizinisches Versorgungszentrum. Je nach Fall müssen Krankenhausärzt:innen erst durch die KV dazu ermächtigt werden. An der Versorgung der GKV-Versicherten dürfen niedergelassene Ärzt:innen nur dann teilnehmen, wenn sie als „Vertragsärzte“ zugelassen sind. Über 80 % der niedergelassenen Ärzt:innen sind Vertragsärzt:innen (früher: Kassenärzt:innen). In der ambulanten vertragsärztlichen Versorgung waren Ende 2018 gut 148 000 Ärzte tätig, im Zeitverlauf seit 2000 (127 000 Ärzte) zeigt sich auch hier ein deutlicher Anstieg. Rein rechnerisch kommt damit aktuell ein Vertragsarzt auf 560 Einwohner. Hinzu kommen noch knapp 27 000 psychologische Psychotherapeut:innen und 50 000 Vertragszahnärzt:innen. Eine steigende Arztdichte lässt allerdings noch keine Aussage über den Versorgungsgrad der Bevölkerung zu. Auch ein Ärztemangel ist nicht ausgeschlossen. Denn zum einen kommt es auf die wohnortnahe Versorgung an. Hier zeigen sich vor allem bei den niedergelassenen Ärzt:innen in ländlichen Regionen sowie in einkommensund strukturschwachen (groß)städtischen Gebieten erhebliche Versorgungslücken. Das gilt vor allem für Hausärzt:innen, aber auch für bestimmte Facharztgruppen. Zu erwarten ist, dass diese Probleme zunehmen, da viele Ärzt:innen vor der Pensionierung stehen und die Bereitschaft der nachrückenden jüngeren Ärzt:innen, sich in unterversorgten Regionen niederzulassen, gering ist. Zum anderen muss berücksichtigt werden, dass Behandlungszahlen (behandelte Patient:innen in einer Zeiteinheit) und Behandlungsintensität (medizinische Leistungen je Fall) angestiegen sind. Ursächlich dafür sind u. a. steigende Krankheitshäufigkeiten und komplexere Krankheitsbilder infolge des Alterungsprozesses der Bevölkerung. Bei der Messung der Arztdichte wird lediglich von der Zahl der Ärzt:innen ausgegangen. Nicht berücksichtigt wird die eingesetzte Arbeitszeit. Da sich immer mehr Frauen niederlassen (Feminisierung des Arztberufes), ist zu beobachten, dass es angesichts der Schwierigkeiten, Beruf und Kindererziehung miteinander zu vereinbaren, bei den Ärzt:innen zu kürzeren Arbeitszeiten bzw. zu Unterbrechungszeiten und in der Folge zu einer begrenzten Patientenversorgung kommt.

700

Gesundheit und Krankheit

Rund 17 000 der an der vertragsärztlichen Versorgung teilnehmenden Ärzt:innen sind angestellt, im Jahr 2000 waren es nur 1 500. Ärzt:innen, die nur privat Versicherte behandeln, definieren sich als Privatärzte. Grundsätzlich haben die Versicherten die freie Wahl unter den Vertragsärzt:innen. Auch besteht ein Anspruch auf eine ärztliche Zweitmeinung bei bestimmten planbaren Operationen. 6.1

Kassenärztliche Vereinigungen und Sicherstellungsauftrag

Die Zulassung als Vertragsarzt/ärztin (früher auch als Kassenarzt bezeichnet) erfolgt nicht direkt durch die Krankenkassen, sondern durch Kassenzulassungsausschüsse, die paritätisch mit Vertretern der Kassen und der kassenärztlichen Vereinigungen (KV) besetzt sind. Auch sind die KVen Verhandlungs- und Vertragspartner der Krankenkassen, nicht aber die einzelnen Ärzt:innen oder Ärztegruppen (mit Ausnahme von Selektivverträgen). Bei den KVen handelt es sich um Zusammenschlüsse aller Vertragsärzt:innen je nach Bundesland. Die 17 KVen (2 KVen in NRW) wiederum sind auf Bundesebene in der kassenärztlichen Bundesvereinigung zusammengeschlossen. Es handelt sich jeweils um Körperschaften des öffentlichen Rechts, die organisatorisch in eine Vertretersammlung, einen Vorstand und einen hauptamtlichen Geschäftsführer gegliedert sind. Sie übernehmen staatliche Aufgaben und sind mit einem Vertretungsmonopol gegenüber den Krankenkassen versehen. So ist den KVen per Gesetz der Sicherstellungsauftrag für die ambulante ärztliche Versorgung zugewiesen; sie haben damit die Verpflichtung für alle Bereiche eines KV-Bezirks für eine ausreichende vertragsärztliche Versorgung Sorge zu tragen. Die KVen übernehmen gemeinsam mit den Verbänden der Krankenkassen auf Bundes- wie auf Landesebene auch die Aufgaben der gemeinsamen Selbstverwaltung. Jeder Vertragsarzt/jede Vertragsärztin ist automatisch Pflichtmitglied der KV und an die zwischen KV und Krankenkassen vereinbarten Verträge gebunden. Zu unterscheiden von den KVen sind die Ärztekammern. Alle Ärzte, nicht nur die Vertragsärzte, sind Pflichtmitglieder einer Ärztekammer. Sie haben als Körperschaften öffentlichen Rechts eine direkte Aufsichtspflicht gegenüber den Ärzten und organisieren deren Weiterbildung. Die Landesärztekammern sind zur Bundesärztekammer als Arbeitsgemeinschaft der Ärztekammern zusammengeschlossen. Ihr oberstes Gremium ist der Deutsche Ärztetag. Hiervon wiederum abzugrenzen sind die Ärzteverbände, deren Mitgliedschaft freiwillig ist. Zu nennen sind z. B. der Hartmannbund, der Verband niedergelassener Ärzte Deutschlands (NAV) oder der Marburger Bund. Letzterer vertritt die Interessen der Krankenhausärzt:innen und schließt für diese Gruppe auch eigenständige Tarifverträge ab.

Ambulante ärztliche Versorgung

6.2

701

Vertragsärztliche Versorgung

Die Vertragsärzt:innen haben in der Gesundheitsversorgung eine Schlüsselstellung. Sie sind nicht nur zuständig für allgemein- oder fachärztlichen Erstbehandlung wie auch Wiederholungsbehandlung, sondern koordinieren somit auch die Einzelaktivitäten der anderen Leistungserbringer und beeinflussen die Arbeitsverteilung zwischen den Teilbereichen der gesundheitlichen Versorgung. Sie entscheiden vor allem über • • • •

die Notwendigkeit einer Einweisung in ein Krankenhaus, eine Arbeitsunfähigkeit, eine Überweisung an andere Ärzt:innen, insbesondere Fachärzt:innen, die Verschreibung von Arznei-, Heil- und Hilfsmitteln.

Damit veranlassen sie Ausgaben, die grob gerechnet vier Mal höher sind als die Kosten des eigentlichen ärztlichen Honorars und sich auf mehr als 70 % der Gesamtausgaben der GKV summieren. Ärztlich festgestellte Arbeitsunfähigkeit begründet zudem den Anspruch der Patient:innen auf Entgeltfortzahlung bzw. das spätere Krankengeld oder sonstige Ansprüche an die Sozialversicherung. Die vertragsärztliche Versorgung umfasst nahezu alle Fachgebiete (vgl. Abbildung VIII.16). Zu unterscheiden ist zwischen Hausärzt:innen und Fachärzt:innen. An der

Abbildung VIII.16 An der vertragsärztlichen Versorgung teilnehmende Ärzt:innen und Psychotherapeut:innen 2018 Sonstige

14.608

Kinder - u. Jugendpsychiater

1.076

Urologen

3.379

Hautärzte

3.938

Anästhesisten

3.987

Radiologen

4.259

Hals-Nasen-Ohrenärzte

4.528

insgesamt: 175.294 Frauen: 47,0% Männer: 53,0%

Nervenärzte/Neurologen/Psychiater

5.876

Chirugen

6.164

Augenärzte

6.277

Psychotherapeut. Ärzte

6.302

Orthopäden

7.475

Kinderärzte

7.739

(Fach-)Internisten

10.208

Frauenärzte

12.499

Psycholog. Psychotherapeuten

26.693

Hausärzte

54.741 0

10.000

20.000

30.000

Quelle: Kassenärztliche Bundesvereinigung (2019), Statistische Informationen.

40.000

50.000

60.000

702

Gesundheit und Krankheit

hausärztlichen Versorgung können Allgemeinärzte, praktische Ärzte, Internisten ohne Fachgebietsbezeichnung und Kinderärzte teilnehmen. Sie müssen sich bei der kassenärztlichen Vereinigung einschreiben. 6.2.1 Angebotsstrukturen: Praxen, medizinische Versorgungszentren

Die ambulante Leistungserbringung erfolgt in über 165 000 Einrichtungen. Dominierender Typ ist die Einzelpraxis. Im Durchschnitt beschäftigt jede Arztpraxis 4 – 5 Arzthelfer:innen. Die gewachsene Personalstärke korrespondiert mit der Anschaffung medizinisch-technischer Geräte und einem entsprechend hohen Kostenanteil. Der hohe Kostendruck der teilweise sehr teuren Diagnosegeräte führt zu einem ökonomischen Zwang der Auslastung, d. h. zur entsprechenden Abrechnung von Leistungspositionen bei den Krankenkassen. Die Einzelpraxis verliert jedoch an Bedeutung. Die ökonomischen und rechtlichen Rahmenbedingungen der ambulanten Versorgung, verbunden mit dem Interesse der Ärzteschaft nach Kooperation, besseren Arbeitsbedingungen und einer gesicherten Investitionsfinanzierung, haben in den zurückliegenden Jahren vermehrt zu neuen, kooperativen Betriebsformen geführt. Bei rund der Hälfte aller Betriebsformen handelt es sich (2018) um folgende Einrichtungen: • • • •

Praxisgemeinschaften, die ein Zusammenschluss weiterhin selbstständiger Einzelpraxen unterschiedlicher Fachrichtungen in Ärztehäusern sind, Gemeinschaftspraxen, in denen mehrere Ärzt:innen in einer gemeinsamen Praxis zusammenarbeiten, sowie partielle Praxisgemeinschaften, wie Apparate- und Laborgemeinschaften, Praxiskliniken, in denen ambulante Operationen durchgeführt werden, sowie medizinische Versorgungszentren (MVZ).

Bei den medizinischen Versorgungszentren handelt es sich um rechtlich selbstständige Versorgungseinrichtungen, in denen mehrere Ärzt:innen unter einem Dach zusammenarbeiten. Die hier tätigen zugelassenen Vertragsärzt:innen sind zu einem großen und zunehmenden Teil als Angestellte beschäftigt und setzen sich fachübergreifend oder nur aus einer Fachgruppe zusammen. MVZ können nicht nur von Ärzt:innen sondern auch von Krankenhäusern, bestimmten gemeinnützigen Trägern und Kommunen gegründet werden. Die Kommunen haben damit die Möglichkeit, aktiv die Versorgung in einer Region zu verbessern. Im Jahr 2018 wurden etwa 3 300 MVZ gezählt – 2009 waren es hingegen erst 1 500. Die Honorierung und Abrechnung der MVZ erfolgt über die kassenärztlichen Vereinigungen (KV). Das Vertragsverhältnis besteht zwischen MVZ und KV. Die Krankenkassen können mit den MVZ im Rahmen einer integrierten Versorgung aber auch Selektivverträge abschließen (vgl. Pkt. 6.2.3 dieses Kapitels).

Ambulante ärztliche Versorgung

703

6.2.2 Ablauf der ambulanten medizinischen Versorgung

Der Ablauf der ambulanten medizinischen Versorgung und die Beziehungen zwischen Vertragsärzt:innen, Krankenkassen, Versicherten und kassenärztlichen Vereinigungen lassen sich anschaulich in einem Kreislaufmodell darstellen (vgl. Abbildung VIII.17). Der hier nur grob schematisierte Kreislauf zeigt die dem Sachleistungsprinzip entsprechende Abrechnung der Honorare sowie die Vertragsbeziehungen zwischen kassenärztlichen Vereinigungen und Kassen. Versicherte erhalten von ihrer Kasse eine elektronische Gesundheitskarte. Ist ärztliche oder zahnärztliche Behandlung erforderlich, wenden sich die Versicherten an niedergelassene Ärzt:innen, die die jeweiligen Behandlungen vornehmen. Es erfolgt keine direkte Bezahlung durch Geldleistungen, sondern der Arzt/die Ärztin ruft die Versichertendaten von der Gesundheitskarte ab und leitet die Daten mit den erbrachten Leistungen am Ende eines Quartals an die zuständige kassenärztliche Vereinigung weiter und erhält von ihr das Honorar. Die KV wiederum übergibt die Leistungsdaten nach Arztgruppen geordnet den Kassen, die den KVen eine Gesamtvergütung überweisen. Für die kassenzahnärztliche Versorgung gilt entsprechendes.

Abbildung VIII.17 Leistungs- und Vertragsbeziehungen in der ambulanten Versorgung* Leistungsabrechnung Kassenärztliche Vereinigung

Krankenkasse

Gesundheitskarte

Beitrag

Quartalsabrechnung

Honorar

Gesamtvergütung

Gesundheitskarte Vertragsarzt/MVZ

Versicherte Ambulante Behandlung

* vereinfachtes Modell

704

Gesundheit und Krankheit

6.2.3 Besondere Formen der ambulanten Versorgung, Selektivverträge

Abweichend von der Regelversorgung auf der Grundlage von Kollektivverträgen mit den kassenärztlichen Vereinigungen können die Krankenkassen unter bestimmten Voraussetzungen auch Einzelverträge, sog. Selektivverträge, mit Leistungserbringern über eine besondere Versorgung der Versicherten abschließen. Sie ermöglichen eine interdisziplinäre Versorgung, die verschiedene Leistungssektoren übergreift. Selektivverträge werden zwischen einer oder mehreren Krankenkassen und einzelnen Leistungserbringern bzw. deren Gruppen geschlossen. Der den kassenärztlichen Vereinigungen obliegende Sicherungsstellungsauftrag gilt hier nicht mehr. Vertragspartner können einzelne Ärzte, Arztnetze oder medizinische Versorgungszentren sein. Selektivverträge räumen den (untereinander im Wettbewerb stehenden) Krankenkassen einen erheblichen größeren Gestaltungsspielraum für eine patientenorientierte Versorgung und sind den kassenärztlichen Vereinigungen in mehreren Gesundheitsreformgesetzen in kleinen Schritten abgerungen worden. Sie beziehen sich im Wesentlichen auf besonderen Versorgungsformen, auf strukturierte Behandlungsprogramme für chronische Erkrankungen und auf die hausarztzentrierte Versorgung. Hausarztzentrierte Versorgung Zwar können gesetzlich Versicherte können bei Bedarf jeden Arzt/jede Ärztin ihres Vertrauens aufsuchen, soweit diese als Vertragsärzte zur Behandlung berechtigt sind. Das trifft auch auf Fachärzt:innen zu, ein vorheriger Kontakt bei einem Hausarzt/ einer Hausärztin, der/die dann eine Überweisung tätigen muss, ist nicht erforderlich. Gleichwohl kommt Hausärzt:innen eine besonders wichtige Rolle bei der ambulanten Versorgung zu, da diese die Lebenssituation und die Biografie der Patient:innen kennen und Einzelbefunde zusammenführen können. Sie fungieren als Wegweiser im Gesundheitssystem, sie sprechen die nächsten Behandlungsschritte ab und beraten bei Therapieentscheidungen sowie bei der Auswahl von Fachärzt:innen und Kliniken. Sie können dazu beitragen, dass teure Mehrfachdiagnostik und „Ärztehopping“ vermieden werden. Ungeachtet des gesundheitspolitisch hohen Stellenwerts des Hausarztes und vieler Maßnahmen zur Aufwertung dieser Versorgungsform, ist eher ein Rückgang der hausärztlichen Versorgung eingetreten. So nimmt nur weniger als die Hälfte der Vertragsärzte an der hausärztlichen Versorgung teil, und die Patienten- bzw. Behandlungsfallzahlen der Hausärzte bleiben zunehmend hinter denen der Fachärzte zurück. Um die gefährdete Rolle der Hausärzte zu stärken, müssen alle gesetzlichen Krankenkassen ihren Versicherten eine hausarztzentrierte Versorgung als speziellen Wahltarif anbieten. Die Teilnahme der Versicherten an einer hausarztzentrierten Versorgung ist freiwillig. Sie verpflichten sich bei Einwilligung aber, ausschließlich einen bestimmten Hausarzt, der mit ihrer Kasse einen Vertrag abgeschlossen hat, zu wählen. Fachärzte können dann nur nach einer Überweisung (Ausnahme Augenärzte

Ambulante ärztliche Versorgung

705

und Gynäkologen) aufgesucht werden. Im Gegenzug erhalten Versicherte im Hausarzttarif einen finanziellen Bonus. Die Krankenkassen schließen bei der hausarztzentrierten Versorgung mit einzelnen Hausärzten bzw. Hausarztverbänden Selektivverträge ab, die neben einer besonderen Vergütung besondere Anforderungen an die Ärzt:innen vorsehen: Ausrichtung der Behandlung an Qualitätsstandards wie evidenzbasierte Leitlinien, praxisinternes Qualitätsmanagement oder patientenzentrierte Gesprächsführung. Disease-Management-Programme Da das Krankheitsbild vor allem der älteren Bevölkerung durch chronische Erkrankungen und Multimorbidität geprägt ist – verbunden mit hohen Ausgaben der Kassen – richtet sich das Augenmerk der vertragsärztlichen Versorgung verstärkt auch darauf, die Versorgung dieses Personenkreises bedarfsgerechter und auch wirtschaftlicher zu organisieren. Unstrittig ist nämlich, dass Patient:innen, deren chronische Erkrankung verschiedene Aspekte von Beeinträchtigungen aufweist und die an Folgeerkrankungen leiden, auf Hilfe mehrerer Leistungserbringer und Anlaufstellen angewiesen sind. Erforderlich sind deshalb strukturierte Behandlungsprogramme, sog. Disease-Management-Programme (DMP), die die Maßnahmen von Haus- und Fachärzt:innen sowie nichtärztlicher Gesundheitsberufe fachlich abstimmen und koordinieren. Die diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen orientieren sich dabei an den Kriterien der evidenzbasierten Medizin. Die Teilnahme der Versicherten ist freiwillig, Voraussetzung ist die aktive Beteiligung, die häufig durch Bonusmaßnahmen unterstützt wird. Anwendungsbereiche von DMP sind definierte Krankheitsbilder, insbesondere chronische Erkrankungen wie Diabetes mellitus, koronare Herzkrankheiten, Brustkrebs, Asthma und chronisch obstruktive Atemwegserkrankungen (COPD). Mit dem Patienten gemeinsam festgelegte Therapieziele sollen die Therapietreue erhöhen und gesundheitsförderndes Verhalten unterstützen. Die Indikationen werden vom Gemeinsamen Bundesausschuss (GBA) ausgewählt. Die gesetzlichen Krankenkassen müssen für Versicherte, die sich für ein strukturiertes Behandlungsprogramm freiwillig einschreiben, einen entsprechenden Wahltarif anbieten. Versicherte, die in ein DMP eingeschrieben sind, können gleichzeitig auch an einer anderen Vertragsform im Rahmen von Integrierter Versorgung teilnehmen. 6.2.4 Notfallversorgung und Rettungsdienst

Der weit überwiegende Teil der ärztlichen Primärbehandlung wie auch von Wiederholungsbehandlungen findet während der Sprechstundenzeiten statt. Da diese Zeiten nur Werktage abdecken und dies auch nur für einige Stunden, bleibt das Problem der Versorgung von Notfällen (objektiv oder subjektiv empfunden). Grundsätzlich haben die KVen in Erfüllung ihres Sicherstellungsauftrags die Aufgabe, vertragsärzt-

706

Gesundheit und Krankheit

liche Bereitschaftsdienste zu organisieren. Die Form unterscheidet sich nach KVen, Regionen und Städten: Es finden sich Bereitschaftspraxen in Räumen der KVen, Notfallpraxen (Portalpraxen) an Krankenhäusern und Praxen einzelner Ärzt:innen. Die meisten Hausärzt:innen führen auch Hausbesuche durch. Vertragsärzt:innen sind zum (ungeliebten) Bereitschaftsdienst verpflichtet. Schwierig ist jedoch, dass nicht jeder verpflichtete Arzt, bzw. jede Ärztin (z. B. ein Augenarzt) auch in der Lage ist, allgemeinärztliche Aufgaben zu übernehmen. Dies ist ein Grund dafür, dass immer mehr Versicherte bei Beschwerden ein Krankenhaus aufsuchen. Jedoch sind Notaufnahmen beziehungsweise Rettungsstellen am Krankenhaus vor allem für lebensbedrohliche Erkrankungen wie Herzinfarkt und Schlaganfall oder für Verletzungen, Knochenbrüche oder Verbrennungen vorgesehen. Das führt vielerorts dazu, dass die Notaufnahmen stark überlastet sind. Für lebensbedrohliche Notfälle steht der Rettungsdienst – notärztliche Versorgung und Krankentransport – zur Verfügung. Der Rettungsdienst wird durch Gesetze der Bundesländer geregelt. Gesetzliche Versicherte haben einen Anspruch auf Erstattung der Kosten, die durch die Leistungen des Rettungsdienstes entstehen. Der Sicherstellungsauftrag für die rettungsdienstliche Versorgung obliegt den Kommunen – durch eigene Dienste (Feuerwehr) oder beauftragte private Dienste (vor allem DRK, Johanniter, Malteser). 6.3

Bedarfsplanung und Kassenzulassung

Eine ausreichende Zahl von Haus- und Fachärzt:innen ist eine grundlegende Voraussetzung für eine hochwertige ambulante Versorgung. Gleichwohl würden sich aus einer unbegrenzten Niederlassung von Ärzt:innen und deren Kassenzulassung erhebliche Probleme ergeben. Denn es ist der ökonomische Sachverhalt zu berücksichtigen, dass eine steigende Zahl von Ärzt:innen auch einen Anstieg des von ihnen erbrachten oder veranlassten Leistungsvolumens nach sich ziehen kann; empirische Befunde haben die Annahme einer arztinduzierten Nachfrage nach Gesundheitsleistungen immer wieder bestätigt. Zudem ist selbst bei einer steigenden Zahl von Ärzt:innen noch keineswegs sichergestellt, dass sich die Niederlassung auch am wohnortspezifischen Bedarf orientiert und den vier Versorgungsebenen (hausärztlichen Versorgung, allgemeine fachärztliche Versorgung, spezialisierte fachärztlichen Versorgung und gesonderte fachärztliche Versorgung) entspricht. Deshalb muss die Zulassung von Vertragsärzt:innen gesteuert werden, um Mengenausweitungen und Zustände der Überversorgung auf der einen Seite und Unterversorgung auf der anderen Seite zu vermeiden. Bei der vertragsärztlichen Versorgung erfolgt die Steuerung des ärztlichen Angebotes in erster Linie über die Bedarfsplanung und das Zulassungsrecht. Der GBA hat die Aufgabe, mittels einer Bedarfsplanungs-Richtlinie die Verteilung von Ärzt:innen bevölkerungsbezogen im Raum zu regeln. Dabei werden vor allem die räum-

Ambulante ärztliche Versorgung

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lichen Bezüge der Planung und die Zahl der Ärzt:innen festgelegt, die für die bedarfsgerechte Versorgung der Bevölkerung benötigt werden. Dies erfolgt über die Festlegung eines Verhältnisses von Einwohnern je Arzt/Ärztin (Verhältniszahlen). Aus dem Vergleich der Ist- und Sollzahlen berechnet sich der Versorgungsgrad. Ein Versorgungsgrad von 100 % bedeutet, dass genau so viele Ärzt:innen zugelassen sind, wie auch benötigt werden. Bei einem Versorgungsgrad von mehr als 110 % ist Überversorgung anzunehmen. Ob eine Überversorgung besteht, wird vom Landesausschuss der Ärzte und Krankenkassen festgestellt. Ist dies der Fall, ordnet der Landesausschuss Zulassungsbeschränkungen an und der betreffende Planungsbereich wird für Neuzulassungen gesperrt. Ärzt:innen, die in eigener Praxis ambulant tätig werden und GKV-Patienten behandeln möchten, können sich dann nur noch niederlassen, wenn sie die Praxis eines ausscheidenden Vertragsarztes übernehmen. Der Zustand einer Überversorgung wird aber erst dann verändert, wenn KVen freiwerdende Praxen in überversorgten Städten aufkaufen und im Gegenzug auf dem Land für Ärztenachwuchs sorgen. Fraglich bei der Bedarfsplanung ist, ob die Planungsbereiche in ihrer Größenordnung so ausgewiesen werden, dass sie auch Aussagen über eine wohnortnahe Versorgung zulassen. Durchschnittszahlen für die Stadt Berlin sagen beispielsweise wenig darüber aus, wie die Versorgung in den einzelnen Bezirken und Stadtteilen aussieht. Die Gesamtzahl der Vertragsärzt:innen ist in den zurückliegenden Jahren kontinuierlich angestiegen. Allerdings gilt das nur für die Fachärzt:innen, während bei den Hausärzt:innen ein Rückgang zu verzeichnen ist. In der Folge hat sich der Versorgungsgrad mit Hausärzt:innen verschlechtert, dies gilt insbesondere für die Situation in ländlichen Regionen. Aber auch bei der Versorgung mit Fachärzt:innen muss nach den einzelnen Facharztgruppen und nach Regionen unterschieden werden. Zentren mit einem hohen Angebot meist hochspezialisierter Facharztpraxen stehen Regionen und Versorgungsbereiche mit Versorgungsdefiziten gegenüber. Vor allem in ländlichen Regionen sowie in einkommens- und strukturschwachen (groß)städtischen Gebieten zeigen sich erhebliche Versorgungslücken (Beispiel: Kinderärzt:innen in strukturschwachen Gebieten). Durch verschiedene Mittel wird – bislang weitgehend erfolglos – versucht, dem gegenzusteuern, so durch finanzielle Anreize bei einer Niederlassung, durch besondere Vergütungszulagen und den Aufbau besonderer integrierter Versorgungsformen (Medizinische Versorgungszentren). Bei der regional hoch unterschiedlichen Versorgung mit Fachärzt:innen spielen Einkommensmotive eine wichtige Rolle. Da die Vergütungen der privaten Krankenversicherung erheblich besser sind als die der gesetzlichen Krankenversicherung, gibt es eine enge Verbindung zwischen dem Anteil an Privatversicherten in der Bevölkerung und der Fachärztedichte. Überversorgungen finden sich entsprechend in Regionen mit einem hohen Anteil an Privatversicherten, während es in den unterversorgten ländlichen Gebieten, und hier insbesondere in den neuen Bundesländern, kaum Privatversicherte gibt.

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Gesundheit und Krankheit

Erforderlich ist also eine bedarfsangemessene Verteilung von Hausarzt- und Facharztpraxen. Die Wartezeiten auf einen Arzttermin hängen aber auch davon ab, wie lange die Praxen geöffnet sind, es kommt also auf die eingesetzte Arbeitszeit an. Gesetzlich vorgegeben ist deshalb, dass das Mindestsprechstundenangebot der Vertragsärzte für Kassenpatienten 25 Stunden beträgt. Ergänzend sollen regionale Terminservicestellen der KVen Patienten innerhalb von vier Wochen einen Termin beim Facharzt oder beim Psychotherapeuten vermitteln. 6.4

Honorierung und Ärzteeinkommen

Die Leistungsausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung beziehen sich zu rund 17 % auf die Honorierung der Vertragsärzte. Dieser Anteilswert ermittelt sich nicht aus einem marktförmigen Zusammenspiel von Angebot und Nachfrage, vielmehr erfolgt die Bewertung der vertragsärztlichen Leistungen durch Vereinbarungen der Selbstverwaltungskörperschaften der Kassen und der Ärzte, die im Rahmen der gemeinsamen Selbstverwaltung und in Verhandlungen die Vergütung für ärztliche Leistungen festlegen. Welche Leistungen überhaupt abrechnungsfähig sind und wie ihre relative Bewertung ist, bestimmt der Einheitliche Bewertungsmaßstab (EBM). Er enthält eine Nummerierung der ca. 1 500 abrechnungsfähigen Einzelleistungen und drückt ihre relative Bewertung in Punktzahlen aus. Der EBM wird von den Bundesverbänden der Krankenkassen und der kassenärztlichen Bundesvereinigung im Bewertungsausschuss gemeinsam festgelegt. Im Unterschied dazu unterliegt der Preis für privatärztliche Leistungen der direkten staatlichen Festlegung durch eine staatliche Gebührenordnung (Gebührenordnung für Ärzte, GOÄ). Die Vergütung, die Vertragsärzt:innen für die Behandlung von Versicherten erhalten, wird zunächst von den Krankenkassen an die kassenärztliche(n) Vereinigung(en) entrichtet, die diese Gelder nach einem komplizierten Verteilungsmechanismus an die Ärzte weiterleiten. Die Abrechnung der ärztlichen Leistungen erfolgt quartalsweise. Der Staat hat weitgehend nur die Rahmenrichtlinien fixiert. Die Honorarregelungen sollen – orientiert an der Darstellung des GKV-Spitzenverbandes – an dieser Stelle nur in ihren Grundstrukturen dargestellt werden. Ausdruck für die Komplexität der Regelungen ist allein schon der Tatbestand, dass die entsprechenden Regelungen im SGB V (§ 85 ff.) mehr als 20 eng beschriebene Seiten füllen. 6.4.1 Morbiditätsbedingte und extrabudgetäre Gesamtvergütung

Für die Behandlung von Versicherten der gesetzlichen Krankenversicherung erhält der niedergelassene Arzt ein Gesamthonorar. Es setzt sich aus mehreren Bestandteilen zusammen. Die Mehrzahl der Leistungen (etwa 70 %) wird mit der morbiditätsbedingten Gesamtvergütung (MGV) finanziert. Orientierungsmaßstab sind die

Ambulante ärztliche Versorgung

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Einnahmen der Kassen, aber auch der Behandlungsbedarf der Versicherten einer Krankenkasse. Gemessen wird der Behandlungsbedarf an den EBM-Punkten. Typische, der morbiditätsbedingten Gesamtvergütung zugehörige Leistungen, sind im EBM aufgelistet und umfassen u. a.: • • • • • •

arztgruppenübergreifende allgemeine Leistungen, arztgruppenspezifische Versicherten- und Grundpauschalen, arztgruppenspezifische Untersuchungsleistungen, Gesprächsleistungen, Hausbesuche, Basisdiagnostik.

Die Höhe der Gesamtvergütung wird durch Verhandlungen zwischen der kassenärztlichen Bundesvereinigung und dem GKV-Spitzenverband (Bewertungsausschuss) ermittelt. Beschlossen wird ein in Euro bezifferter Orientierungspunktwert. Er liegt im Jahr 2018 bei 10,6543 Cent. Die Vereinbarung dieser Preiskomponente wird ergänzt durch die Festlegung einer morbiditätsorientierten Mengenkomponente. Im Anschluss an die Entscheidungen der Bundesebene verhandeln die regionalen Gesamtvertragspartner. Da die morbiditätsbedingte Gesamtvergütung eine mit befreiender Wirkung von den Krankenkassen entrichtete Vergütung darstellt, unterliegen die hier zugeordneten Leistungen einer Mengensteuerung. Sie soll eine übermäßige und medizinisch nicht zu begründende Mengenausweitung verhindern. Das heißt, dass Leistungen nur bis zu einer bestimmten Menge je Quartal zum vollen Preis vergütet werden. Darüber hinaus abgerechnete Leistungen werden im Preis abgesenkt. Zur Umsetzung dieses geschilderten Mechanismus bedarf es eines Regelwerkes, der Honorarverteilung. Die Kompetenzen zur inhaltlichen Ausgestaltung der Honorarverteilung hat der Gesetzgeber weitgehend den KVen übertragen: Die kassenärztliche Bundesvereinigung hat Vorgaben zur Festlegung und Anpassung des Vergütungsvolumens für die hausärztliche und fachärztliche Versorgung sowie Kriterien und Qualitätsanforderungen für die Anerkennung besonders förderungswürdiger Praxisnetze als Rahmenvorgabe für Richtlinien der einzelnen regionalen KVen zu bestimmen, für die das Einvernehmen mit dem GKV-Spitzenverband zu erfolgen hat. Auf Landesebene haben die kassenärztlichen Vereinigungen die vereinbarten morbiditätsbedingten Gesamtvergütungen an die im Bereich einer kassenärztlichen Vereinigung zugelassenen Vertragsärzt:innen, psychologischen Psychotherapeut:innen und medizinischen Versorgungszentren sowie ermächtigte Einrichtungen zu verteilen. Dazu ist ein bei der Verteilung zugrunde zu legender (Honorar-)Verteilungsmaßstab anzuwenden, der zuvor auf Basis der Bundesvorgaben festgesetzt wurde. Welches Geld Hausärzt:innen und Fachärzt:innen und Facharztgruppen im Rahmen der Honorarverteilung aus der morbiditätsbedingten Gesamtvergütung durch die gesetzliche Krankenversicherung erhalten, wird durch die Regelungen der jeweiligen

710

Gesundheit und Krankheit

Honorarverteilungsmaßstäbe festgelegt. Die konkrete Ausgestaltung der Honorarverteilungsmaßstäbe wiederum liegt in den Händen der einzelnen KVen. Der geringere und nicht der Mengensteuerung unterliegende Teil der Leistungen (zurzeit ca. 30 %) wird zum vollen Preis der Euro-Gebührenordnung außerhalb der morbiditätsbedingten Gesamtvergütung vergütet. Dieser Vergütungsbereich wird als extrabudgetäre Gesamtvergütung (EGV) bezeichnet. Beispiele für diese extrabudgetären Leistungen sind z. B. • • • • • • •

ambulante Operationen, Gesundheits- und Früherkennungsuntersuchungen, Mutterschaftsvorsorge, Leistungen im Rahmen von strukturierten Behandlungsprogrammen und von Modellvorhaben, Leistungen im Bereich von Selektivverträgen (z. B. hausarztzentrierte Versorgung), Impfungen, Leistungen der Strahlentherapie, Leistungen im Rahmen der qualifizierten Versorgung krebskranker Patienten.

Die extrabudgetären Vergütungen werden von den Kassen direkt über die KVen an die jeweiligen Vertragsärzt:innen bezahlt und gehen nicht in die allgemein zu verteilende Gesamtvergütung ein. Es liegt auf der Hand, dass die Verhandlungen und Entscheidungen über Höhe, Art und Struktur der Honorierung der Vertragsärzte konfliktreich sind. Denn die Einnahmen der Ärzt:innen sind die Ausgaben der Krankenkassen. Das Interesse an einer hohen, angemessenen Honorierung steht dem Interesse an begrenzten Kosten und Beitragssätzen gegenüber. Aber auch innerhalb der Ärzteschaft kämpfen einzelne Arztgruppen um einen möglichst großen Anteil an dem „Verteilungskuchen“. Dies betritt auch und gerade die Gegensätze zwischen Ärzt:innen und psychologischen Psychotherapeut:innen. Schließlich gehen von den unterschiedlichen Vergütungsformen Steuerungs- und Anreizwirkungen hinsichtlich gesundheitspolitischer Ziele aus. 6.4.2 Individuelle Gesundheitsleistungen (IGeL)

Zusätzliche Einnahmen aus der Behandlung von Kassenpatient:innen erzielen Ärzt:innen mit der Erbringung von Leistungen, die nicht von den Kassen erstattet werden. Die Abrechnung dieser „individuellen Gesundheitsleistungen“ (IGeL) richtet sich nach der Gebührenordnung für Ärzte (GOÄ). Dies gilt insbesondere für Leistungen, die nach der Entscheidung des Gemeinsamen Bundesausschusses wegen fehlender Evidenz von der Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung ausgeschlossen wurden, weil sie über das vom Gesetzgeber definierte Maß einer ausreichenden, zweckmäßigen und wirtschaftlichen Patientenversorgung hinausgehen. Das betrifft z. B. mehrfache Ultraschalluntersuchungen oder Leistungen zur Glaukom- und Prostatafrüherkennung. Hinzu kommen ärztliche Leistungen außerhalb

Ambulante ärztliche Versorgung

711

des Versorgungsumfangs der gesetzlichen Krankenkassen, wie z. B. medizinische Beratungen zu Fernreisen oder gutachterliche Bescheinigungen zur Flugtauglichkeit und nicht zuletzt Schönheitsoperationen. Kritisiert wird, dass es bei den IGeL vorrangig um wirtschaftliche Interessen von Ärzt:innen und nicht um notwendige medizinische Leistungen für Kranke geht und dass der Nutzen häufig sogar fragwürdig ist. Die Patienten sind damit überfordert, die Leistungen zu bewerten und fühlen sich unter Druck gesetzt, wenn deren Einsatz ärztlicherseits als medizinisch erforderlich empfohlen wird. Um hier einen Gegenpol zu setzen, bewertet das Online-Portal IGeL-Monitor des Medizinischen Dienstes des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen Nutzen und Schaden von IGeL nach wissenschaftlichen Kriterien. 6.4.3 Ärzteeinkommen

Die Honorare, die die Vertragsärzt:innen in jedem Quartal eines Jahres von den Krankenkassen – verteilt durch die kassenärztlichen Vereinigungen – erhalten, fallen je nach Fachrichtung sehr unterschiedlich aus (vgl. Abb. VIII.18). An der Spitze mit Beträgen von rund 100 000 Euro im Jahr und von 97 000 Euro im vierten Quartal 2017 liegen die Internisten und die Radiologen. Am unteren Ende rangieren Neurologen und HNO-Ärzt:innen. Abgeschlagen sind die Psychotherapeut:innen, bei ihnen liegt das Quartalshonorar nur bei etwa 23 000 Euro. Bei diesen Beträgen handelt sich um Durchschnittswerte, d. h. auch innerhalb der jeweiligen Ärztegruppen verteilen sich die Honorare unterschiedlich. Honorare, Erträge und Nettoeinkommen dürfen nicht verwechselt werden. Werden von den Honoraren die Betriebsausgaben abgezogen (Personalkosten, Mieten, Abschreibungen usw.), errechnen sich die Erträge. Besonders hohe Ausgaben für Geräte und Personal haben Internist:innen und Radiolog:innen. Um zum persönlichen Nettoeinkommen zu kommen, müssen dann in einem zweiten Schritt auch die Steuerabzüge sowie die Beiträge zur Krankenversicherung und Altersversorgung in Anrechnung gebracht werden. Bei der Bewertung der Ärzteeinkommen sind darüber hinaus auch die langen Ausbildungszeiten bis zur Approbation zu berücksichtigen. Ein echter Einkommensvergleich mit anderen Berufsgruppen müsste sich deshalb auf die Gegenüberstellung des Lebenseinkommens beziehen. Auf der anderen Seite leben die Vertragsärzt:innen im Schnitt nur zu etwa 70 % von den Kassenhonoraren. Zusätzliche Einnahmen entstehen aus der privatärztlichen Tätigkeit. Hier wird direkt mit den Privatversicherten und/oder Beihilfeberechtigten abgerechnet, die die Kosten dann von ihrer Versicherung oder von der Beihilfe erstattet erhalten (Kostenerstattungsprinzip). Für die Behandlungen von Privatpatienten sind die Vergütungen – auch bei identischen Leistungen – deutlich höher als für die Behandlung von gesetzlich Versicherten. Vermehrt von den Ärzt:innen angeboten werden zudem die oben genannten individuellen Gesundheitsleistungen (IGeL), die die Versicherten gegen Selbstzahlung erhalten können

712

Gesundheit und Krankheit

Abbildung VIII.18

Ärztl. Psychotherapeuten

Quartals Honorare je Vertragsarzt, 4. Quartal 2017, in Euro

23.082

Hautärzte

45.946

Frauenärzte

48.534

HNO-Ärzte

48.902

Chirurgen

50.978

Allg. Mediziner, hausärztl. Internisten

53.944

Urologen

54.236

Neurologen

58.634

Augenärzte

60.896

Orthopäden

61.779

Kinderärzte

62.380

Innere Medizin

96.797

Radiologen

100.452 0

20.000

40.000

60.000

80.000

100.000

Quelle: Kassenärztliche Bundesvereinigung (2018), Honorarbericht.

7

Arzneimittelversorgung

7.1

Die Bedeutung von Arzneimitteln

Als Hilfsmittel der ärztlichen Versorgung haben Arzneimittel eine ständig steigende Bedeutung erlangt. Zur Vorbeugung und Heilung von Krankheiten, zur Vermeidung von Operationen sowie zur Linderung von Beschwerden sind Arzneimittel unerlässlich. Die Arzneimitteltherapie hat deshalb einen festen Platz in der modernen Medizin. Hervorzuheben ist der Doppelcharakter von Arzneimitteltherapie. Sie hat gegenüber Therapieformen, wie z. B. der eines chirurgischen Eingriffs im Rahmen einer stationären Behandlung, eine Reihe von Vorteilen, nicht zuletzt in Bezug auf die Kosten. Andererseits kann sie Heilung z. B. bei unspezifischen psychischen Krankheitssyndromen suggerieren, ohne dass ihr immer eine klare Diagnose und zielgerichtete Behandlung zu Grunde liegt. Auch kann sie Menschen dazu veranlassen, eher ein Medikament zur Linderung der Symptome einzunehmen anstatt ursachenorientiert die Ernährungs- und Verhaltensweisen zu verändern.

Arzneimittelversorgung

713

Arzneimittel machen an den Gesamtausgaben im Gesundheitswesen (vgl. Abbildung VIII.7) etwa 15 % aus. Ihr Anteil an den Leistungsausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung liegt bei über 17 %, unberücksichtigt sind dabei die Arzneimittel, die in den Krankenhäusern eingesetzt werden (vgl. Abbildung VIII.13). Der weit überwiegende Teil der Arzneimittel (2018: 80 %) ist verschreibungspflichtig, d. h. die Abgabe erfolgt in Apotheken und nur gegen Vorlage einer ärztlichen Verschreibung (Rezept). Versicherte der gesetzlichen Krankenversicherung erhalten die verschreibungspflichtigen Arzneimittel als Sachleistungen, müssen aber in vielen Fällen eine Zuzahlung leisten (vgl. Übersicht VIII.4). Nicht alle Arzneimittel werden von der GKV übernommen. Für bestimmte Indikationsgebiete ist die Leistungspflicht der Kassen ausgeschlossen. So werden Arzneimittel gegen Erkältungskrankheiten und grippale Infekte, Abführmittel, Mund- und Rachentherapeutika, leichte Schmerzmittel sowie Lifestyle-Medikamente (die z. B. zur Verbesserung des Haarwuchses, der Behandlung der erektilen Dysfunktion und der Steigerung der sexuellen Potenz dienen) nicht von der Kasse übernommen. Versicherte einer privaten Krankenversicherung erhalten eine Rückerstattung ihrer zunächst privat getätigten Auslagen (Kostenerstattungsverfahren bei der PKV) – abzüglich einer evtl. vertraglich vereinbarten Selbstbeteiligung. Nicht verschreibungspflichtige Arzneimittel sind Arzneimittel, die jeder ohne Rezept selbst kaufen kann und die zur Selbstmedikation dienen. Mit Ausnahme einiger verordnungsfähiger Medikamente werden sie nicht von der gesetzlichen Krankenversicherung übernommen. Auch die frei verkäuflichen, nicht verschreibungspflichtigen Arzneimittel dürfen zum größten Teil nur über Apotheken vertrieben werden. Einige Mittel, wie z. B. Vitamine oder pflanzliche Säfte, werden auch in Drogerie- und Supermärkten angeboten. Im Jahr 2018 wurden 661 Mio. Arzneimittelverordnungen registriert (vgl. Tabelle VIII.3). Gegenüber 2000 (749 Mio.) ist dies ein Rückgang. Aber im gleichen Zeitraum stieg der Wert je Verordnung um 151 %, von 25,80 Euro auf etwa 64,8 Euro, so dass 2017 in der Summe Arzneimittel im Wert von 42,8 Mrd. Euro verordnet wurden. Der rechnerische Durchschnittsverbrauch verteilt sich nicht gleichmäßig auf die gesamte Bevölkerung. Gut die Hälfte der Bevölkerung nehmen nie oder selten Arzneimittel. Sehr groß ist der Anteil des Arzneimittelverbrauchs bei Älteren. Das Angebot der in der Bundesrepublik auf dem Markt befindlichen Arzneimittel ist – verglichen mit anderen Ländern – überdurchschnittlich hoch und wenig transparent. Gut 100 000 verkehrsfähige Arzneimittel sind (2018) beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte registriert und zugelassen. In dieser Zahl sind verschiedene Stärken und Darreichungsformen (Tabletten, Tropfen, Säfte usw.) enthalten. In der Praxis werden jedoch weit weniger Arzneimittel benötigt. 90 % der GKV-Ausgaben konzentrieren sich auf 2 000 Präparate. Im Jahr 2018 existierten insgesamt 19 423 Apotheken, die einen Gesamtumsatz an Arzneimittel von ca. 45,9 Mrd. € erzielten. Über 70 % der Umsätze entfallen auf die GKV. Der Apotheken-Umsatz mit Arzneimitteln wird zu 90 % durch verschreibungs-

714

Gesundheit und Krankheit

Tabelle VIII.3 Eckdaten der Arzneimittelversorgung 2000 – 2018 2000

2005

2010

2015

2018

Verordnungen in Mio.

749

591

626

657

661

Wert je Verordnung in Euro

25,80

39,85

47,5

53,8

64,8

Umsatz

19,3

23,6

29,7

38,8

45,9

21 592

21 476

21 441

20 249

19 423

1 228

3 478

4 281

4 541

3 842

3 800

4 015

4 348

Verordnungen

Apotheken Zahl der Apotheken darunter: Filialapotheken Einwohner je Apotheke

3 800

Ausgaben der GKV für Arzneimittel in Mrd. Euro

20,12

25,36

30,18

34,8

38,9

Veränderung zum Vorjahr in %

+ 4,5

+ 16,8

+0,6

+4,2

+3,2

je Versicherten

272

350

432

493

535

Anteil der Gesamtleistungsausgaben in %

15,4

18,3

18,3

16,8

17,2

Quelle: Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände (zuletzt 2019), Zahlen, Daten, Fakten – Bundesministerium für Gesundheit (zuletzt 2019), GKV-Statistik.- VDAK (2019) Basisdaten 2018/2019.

pflichtige und zu 9 % durch nicht verschreibungspflichtige Mittel bestimmt. Auf Selbstmedikation, also auf den nicht ärztlich verordneten Kauf von apothekenpflichtigen oder freiverkäuflichen Arzneimitteln, die von den Patient:innen selber bezahlt werden müssen, entfällt ein Anteil von 8,1 % des Arzneimittelumsatzes der Apotheken. Unter den verschreibungspflichtigen Arzneimitteln machen die Generika (Arzneimittel mit patentfreien Wirkstoffen) gut ein Drittel der Verordnungen und die Hälfte des Umsatzes aus. Bei der Arzneimittelabgabe haben die Apotheken ein Monopol. Aber der Markt wandelt sich: Die Gründung von Filialen ist möglich, wenn neben der Hauptapotheke nicht mehr als vier Filialen in der näheren Umgebung betrieben werden. Auch der Versandhandel gewinnt zunehmende an Bedeutung. So können in Internetapotheken auch rezeptpflichtige Arzneimittel geordert werden. Insbesondere chronisch Kranken, Gehbehinderten und Älteren kommt dies entgegen. Europarechtlich führt dies zu der Frage, ob auch Versandapotheken aus dem EU-Ausland Arzneimittel abgeben dürften und sich dabei an die Festpreisregelung halten müssen. Empirisch (noch) nicht zu überprüfen ist, ob der Versandhandel, durch das Internet beschleunigt, zu einer Verdrängung der Präsenzapotheken führt und eine flächendeckende Versorgung vor allem in ländlichen Regionen gefährdet.

Arzneimittelversorgung

7.2

715

Zulassung und Preisbildung von Arzneimittel

7.2.1 Zulassungsverfahren

Der Markt für Arzneimittel ist gekennzeichnet durch eine große Zahl von pharmazeutischen Unternehmen, Produkten und Vertriebswegen. Er unterscheidet sich von den Märkten für andere Güter und Produkte durch eine Reihe von Besonderheiten: • Wirksame und therapeutisch sinnvolle Arzneimittel müssen ständig verfügbar sein. • An Arzneimittel werden besondere Anforderungen in Bezug auf Sicherheit, Wirksamkeit und therapeutischen Nutzen gestellt. • Es müssen die Patienten-Compliance (positives Befolgen ärztlicher Anordnung) und Bioverfügbarkeit auch wirkstoffgleicher Mittel berücksichtigt werden. • Arzneimittel müssen zu bezahlbaren Preisen angeboten werden. Um die Versorgung mit wirksamen und qualitativ unbedenklichen Arzneimitteln sicherzustellen, hat der Gesetzgeber die Herstellung von Arzneimitteln an die Erteilung einer landesbehördlichen Herstellungserlaubnis und den Verkauf an die amtliche Zulassung gebunden. Hierfür sind das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) bzw. z. B. bei Seren und Impfstoffen das Paul-Ehrlich-Institut (PEI) zuständig. Ein vom BfArM eingerichtetes Informationssystem enthält eine öffentlich zugängliche Datenbank über Arzneimittel und Arzneistoffe. Über die Zahl der relevanten Medikamente informiert die von den Verbänden der pharmazeutischen Industrie herausgegebene „rote Liste.“ Bei der Zulassung von Arzneimitteln nach dem Arzneimittelgesetz steht der Nachweis von Wirksamkeit und Unbedenklichkeit im Zentrum. Der Antragsteller muss dazu entsprechende Unterlagen, insbesondere zu Ergebnissen klinischer Prüfungen, vorlegen. Gegenstand der Zulassung ist nicht der therapeutische Nutzen, der hinter dem von bereits am Markt befindlichen Präparaten zurückbleiben kann. Eine europaweite Zulassung kann über zwei Wege erfolgen: Die von der EU-Kommission eingerichtete Agentur zur Beurteilung von Arzneimitteln (European Medicines Evaluation, EMEA) oder die gegenseitige Anerkennung der Zulassungen. Die EMEA konzentriert sich auf gen- und biotechnologisch hergestellte Präparate. Für neu zugelassene Arzneimittel gilt ein Patentschutz von 20 Jahren. Erst nach Ablauf dieser Frist kann das Arzneimittel (womöglich mit einem anderen Namen) als Generika (Nachahmerprodukt) von anderen Firmen produziert und deutlich preiswerter verkauft werden.

716

Gesundheit und Krankheit

7.2.2 Festbeträge

Der Abgabepreis der Apotheken basiert auf dem Herstellerabgabepreis, dem Großhandelshöchstzuschlag, dem Apothekenzuschlag und der Mehrwertsteuer. Die Apotheken haben innerhalb wirkungs- und wirkstoffgleicher Medikamente die kostengünstigen Arzneimittel auszugeben („Aut-idem Regelung“). Die Herstellerabgabepreise unterliegen im Grundsatz keiner direkten gesetzlichen Festlegung. Für Arzneimittel, die nicht dem Patentschutz unterliegen oder trotz einer Neueinführung keinen therapeutischen Zusatznutzen gegenüber bereits eingeführten Präparaten aufweisen, greift jedoch eine indirekte Preissetzung, da die Krankenkassen nur Festbeträge erstatten. Festbeträge sind Höchstbeträge, die die GKV für diese Arzneimittel zahlt. Übersteigt der Abgabepreis diese Höchstgrenze, müssen die Versicherten den Differenzbetrag selbst tragen. Dies führt dazu, dass Arzneimittel, deren Preis über dem Festbetrag liegt, nur noch in wenigen Fällen in Anspruch genommen werden, was wiederum die Hersteller zwingt, die Preise zu senken. Arzneimittel, deren Abgabepreis des pharmazeutischen Unternehmers ohne Mehrwertsteuer mindestens um 30 % niedriger als der jeweils gültige Festbetrag ist, können von der Zuzahlung freigestellt werden. Für welche Gruppen von Arzneimitteln Festbeträge festgelegt werden, bestimmt der Gemeinsame Bundesausschuss. Die Höhe die Festbeträge legt der GKV-Spitzenverband fest. Es werden drei Gruppen von Arzneimitteln unterschieden, für die Festbeträge bestimmt werden: • Arzneimittel mit denselben Wirkstoffen, • Arzneimittel mit pharmakologisch-therapeutisch vergleichbaren Wirkstoffen, • Arzneimittel mit pharmakologisch-therapeutisch vergleichbarer Wirkung, insbesondere Kombinationspräparate. Eine zentrale Frage ist, ob neu in den Markt eingeführte Arzneimittel mit neuen Wirkstoffen der Festbetrags-Regelung unterliegen. Das Gesetz sieht vor, dass der der Hersteller zunächst frei über den Abgabepreis entscheiden kann. Das führt in der Praxis dazu, dass von der Industrie äußerst hohe Preise für neue Präparate festgesetzt werden, die dann in der ärztlichen Praxis verordnet werden. Die Ausgaben für diese Arzneimittel entwickeln sich dynamisch. Die Praxiseinführung ist u. a. Aufgabe der Pharmaberater:innen im Außendienst. Innerhalb eines Zeitraums von einem Jahr muss dann aber der Zusatznutzen dokumentiert werden – einschließlich der Ergebnisse klinischer Studien. Der GBA entscheidet über die Zuordnung des neuen Arzneimittels: Analog-Präparate, die keinen Zusatznutzen aufweisen, werden in eine bestehende Festbetragsgruppe eingeordnet. Wird hingegen ein Zusatznutzen festgestellt, verhandeln der GKV-Spitzenverband und das Pharmaunternehmen nach Ablauf einer weiteren Frist über einen Erstattungsbetrag. Dieser gilt dann ab dem 13. Monat nach der Markteinführung für

Arzneimittelversorgung

717

alle gesetzlich Versicherten wie auch für Privatversicherte und liegt zumeist deutlich niedriger als der zunächst vom Hersteller verlangte Preis. Zu einer rückwirkenden Preisfestsetzung kommt es nicht, so dass die Gewinne bei den Unternehmen verbleiben. Es lässt sich allerdings kaum beurteilen, ob in den Verhandlungen auch angemessene Preise vereinbart werden. Von Seiten der Pharmaunternehmen wird in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, dass erst ein hohes Preisniveau die Finanzierung der teuren Pharmaforschung ermöglicht. Rabatte Die Krankenkassen erhalten von den Apotheken auf verschreibungspflichtige Arzneimittel einen sogenannten Apothekenabschlag als Rabatt. Dieser wird zwischen dem GKV-Spitzenverband und dem Deutschen Apothekerverband (DAV) ausgehandelt. Zunehmend wird aber auch von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, selektive Rabattverträge zwischen Krankenkassen und Arzneimittelherstellern abzuschließen. Durch die Verträge räumen die Hersteller der Arzneimittel den Krankenkassen Rabatte ein und werden im Gegenzug exklusive Lieferanten der Krankenkasse. Der Patient erhält bei entsprechendem Vermerk des Arztes/der Ärztin auf dem Rezept in der Apotheke nicht mehr das Medikament von dem Hersteller, der auf dem Rezept benannt ist, sondern ein Medikament von einem der Hersteller, die einen Rabattvertrag mit der Krankenkasse des Patienten geschlossen haben. Das Medikament muss dabei über den gleichen Wirkstoff, die gleiche Arzneiform, Dosierung und Packungsgröße verfügen. Mengensteuerung Nur jene Arzneimittel sollten verordnet und von den Versicherten genutzt werden, die auch tatsächlich erforderlich sind. Übermäßig verschriebene und verwendete Arzneimittel führen nicht nur zu vermeidbaren Ausgabenanstiegen, sondern können auch medizinisch unerwünschte Nebenfolgen haben (Polypharmazie insbesondere bei älteren Menschen). Deshalb zählt neben der Preisgestaltung auch die Mengenbegrenzung zum Repertoire der Regulierung des Arzneimittelmarktes. Ein Instrument sind die Zuzahlungen der Versicherten. Allerdings haben die Erfahrungen gezeigt, dass Zuzahlungen eher zu Kostenverlagerungen zu Lasten der Patienten, nicht aber zur Mengensteuerung führen. Denn die Verschreibung von Arzneimitteln liegt in der Hand des Arztes/der Ärztin. Um das Verschreibungsverhalten der Vertragsärzt:innen zu beeinflussen, wurden über mehrere Jahre hinweg Arzneimittelbudgets festgesetzt, bei deren Überschreitungen die Ärzt:innen im Kollektivregress durch eine entsprechende Minderung ihrer Gesamtvergütung „hafteten“. Das ist jedoch wieder abgeschafft worden. Stattdessen sieht das SGB V vor, dass die Landesverbände der Krankenkassen und die regionalen kassenärztlichen Vereinigungen jährlich neue Arzneimittelvereinbarungen

718

Gesundheit und Krankheit

abschließen müssen. Ziel dieser verbindlichen Vereinbarungen ist es, die vertragsärztliche Versorgung mit Arzneimitteln zu sichern. Dazu werden bestimmte Ausgabevolumen und Versorgungs- sowie Wirtschaftlichkeitsziele festgelegt. Darüber hinaus werden konkrete, auf die Umsetzung dieser Ziele ausgerichtete Maßnahmen definiert. Der Rahmen für die Arzneimittelvereinbarungen wird jedes Jahr auf Bundesebene zwischen der kassenärztlichen Bundesvereinigung und dem GKV-Spitzenverband in den so genannten Rahmenvorgaben für Arzneimittel bestimmt.

8

Stationäre Versorgung

8.1

Strukturmerkmale und Eckdaten der Krankenhausversorgung

Im Gesamtspektrum der gesundheitlichen Versorgung kommt den Krankenhäusern eine hohe Bedeutung zu. Bei schweren Erkrankungen oder Verletzungen oder bei Erkrankungen mit einer aufwändigen Spezialbehandlung müssen die Patienten stationär behandelt und versorgt werden. In Krankenhäusern werden ärztliche Behandlung, Krankenpflege, Unterkunft und Verpflegung gebündelt bereitgestellt. Das Krankenhaus ist der zentrale Ort der Anwendung und Umsetzung des medizinischtechnischen Fortschritts in Diagnose und Therapie und spielt eine zentrale Rolle bei der Ausbildung in Gesundheitsberufen. Es ist für viele Menschen aber auch die letzte Station vor dem Tod, nahezu die Hälfte aller Sterbefälle findet im Krankenhaus statt. Die Aufwendungen für die stationäre Behandlung machen ein gut ein Viertel der Gesamtausgaben im Gesundheitswesen aus (vgl. Abbildung VIII.7). Bezogen allein auf die Leistungsausgaben der GKV verursacht der Krankenhaussektor 34,1 % (2018) der Ausgaben – und dies mit seit Jahren steigender Tendenz. Im Krankenhaus fallen dabei nicht nur Aufwendungen für ärztliche Behandlung und Pflege an, sondern auch für Unterkunft und Versorgung sowie für Arznei-, Heil- und Hilfsmittel. Sicherstellungsauftrag der Bundesländer Der Auftrag zur Sicherstellung einer bedarfsgerechten Krankenhausversorgung liegt bei den Bundesländern. Sie müssen im Sinne der Daseinsvorsorge gewährleisten, dass eine ausreichende Zahl von Krankenhäusern und Betten in erreichbarer Nähe vorhanden ist. Das schließt auch die Verpflichtung ein, für die Behandlung und Versorgung in Notfällen und bei Epidemien Kapazitäten vorzuhalten. Zu diesem Zweck erstellen die Länder Krankenhauspläne. Die Pläne umfassen die Verteilung der Krankenhäuser nach Standort, Bettenzahl, Fachrichtungen, Leistungsqualität und Versorgungsstufen. Unterschieden wird zwischen den Stufen: Grund-, Regel-, Zentral- und Maximalversorgung. Da keine konkreten Kriterien für eine bundeseinheitliche Bedarfsplanung festgelegt sind, entwickelt sich das Krankenhauswesen in den Bundesländern ungleichmäßig.

Stationäre Versorgung

719

Jedes Krankenhaus, das die Anforderungen erfüllt und in diesen Plan aufgenommen worden ist (Plankrankenhaus), ist auch für die Versorgung von Kassenpatient:innen zugelassen. Das gilt auch für die Universitätskliniken. Den Kassen ist es (mit Ausnahmen, vgl. Pkt. 6.2.3 dieses Kapitels) nicht möglich, mit einzelnen Häusern selektive Versorgungsverträge abzuschließen und andere Plankrankenhäuser auszuschließen. Gemäß dem Subsidiaritätsprinzip betreiben die Länder Krankenhäuser nicht in eigener Regie (mit Ausnahme der Universitätskliniken), sondern ermöglichen anderen Trägern (Kommunen, gemeinnützige Wohlfahrtsverbände, Privatunternehmen) den Betrieb solcher Einrichtungen. Träger und Beschäftigte Zu unterscheiden sind die allgemeinen Krankenhäuser von den sonstigen Krankenhäusern. Bei den sonstigen Krankenhäusern handelt es sich um Einrichtungen der psychiatrischen und neurologischen Versorgung, der Rehabilitation sowie um Tagesoder Nachtkliniken, die der teilstationären Versorgung dienen. Der Trend zur Privatisierung der Krankenhauslandschaft geht einher mit einer formalen Privatisierung im Rahmen der öffentlichen Trägerschaft. So werden die kommunalen Krankenhäuser mittlerweile in der Regel in einer privatrechtlichen Form (GmbH) geführt. Bei den Krankenhäusern in öffentlicher Trägerschaft handelt es sich überwiegend um große Einrichtungen der Regel- und Maximalversorgung oder auch um die großen Universitätskliniken. Demgegenüber haben die freigemeinnützigen wie auch die privatwirtschaftlichen Häuser ihren Schwerpunkt in der Spezialisierung. Bezogen auf die Zahl der Betten kommt insofern den öffentlichen Einrichtungen – mit abnehmender Tendenz – immer noch das Hauptgewicht zu. Ihr Bettenanteil liegt 2017 bei 48 % (vgl. Abbildung VIII.19). Einen starken Zuwachs auch bei den Betten verzeichnen die privatwirtschaftlichen Unternehmen. Ihr Anteil an den Betten hat sich seit 2000 von 7,4 % auf 18,7 % mehr als verdoppelt. Die Krankenhausträger der jeweiligen Bundesländer schließen sich zu Landeskrankenhausgesellschaften zusammen, diese wiederum bilden auf Bundesebene die Deutschen Krankenhausgesellschaft. Im Unterschied zu den kassenärztlichen Vereinigungen handelt es sich hier nicht um öffentlich-rechtliche Körperschaften, sondern um privatrechtliche Vereine. Mit gut 1,2 Mio. Beschäftigten (2017) ist der Krankenhaussektor einer der bedeutendsten Wirtschaftszweige in Deutschland. Knapp ein Viertel aller Beschäftigten im Gesundheitswesen arbeiten im Krankenhaus. Allerdings sind insbesondere im Pflegedienst im hohen und steigenden Maße Teilzeitbeschäftigte zu finden. Teilzeitbeschäftigung konzentriert sich hier auf die weiblichen Beschäftigten, die im Krankenhaus 81 % des nichtärztlichen Personals und 46 % des ärztlichen Personals stellen. Unter den weiblichen Beschäftigten des nicht-ärztlichen Personals arbeiten 54,2 % auf Teilzeitbasis, unter den weiblichen Beschäftigten des ärztlichen Personals arbeiten 36,5 % auf Teilzeitbasis. Bereinigt man die Personalentwicklung um diesen Teilzeiteffekt und rechnet die Beschäftigtenzahlen in Vollzeitäquivalente um, so ist über vie-

720

Gesundheit und Krankheit

Tabelle VIII.4 Eckdaten der Krankenhausversorgung 2000 – 2017

Krankenhäuser

2000

2010

2015

2017

2 242

2 065

1 956

1 942

744

630

577

560

davon • öffentliche Krankenhäuser • in % der Einrichtungen

37,1

30,5

29,5

28,8

• in % der Betten

54,2

48,5

48,2

48,0

• freigemeinnützige Krankenhäuser

813

756

679

662

• in % der Einrichtungen

40,6

36,6

34,7

34,1

• in % der Betten

38,3

34,5

33,6

33,2

• private Krankenhäuser • in % der Einrichtungen

445 22,3

• in % der Betten Betten in 1 000

7,4 560

680 32,9 17.0 503

700

720

35,8

37,1

18,3

18,7

499

497

• Betten je 10 000 Einwohner

68,1

61,5

61,1

60,2

• Bettenauslastung in %

81,9

77,4

77,5

77,8

17 263

18 024

19 240

19 240

Fallzahl in 1 000 • Fallzahl je 10 000 Einwohner

2 100,4

2 205,3

2 355,3

2 352,2

Berechnungs- und Belegungstage (Pflegetage) in 1 000

167 789

141 967

141 281

141 152

• Durchschn. Verweildauer in Tagen

9,7

7,9

7,3

7,3

Personal in Krankenhäusern (ärztliches u. nichtärztliches Personal) in 1 000

1 100,5

1 096,5

1 186,7

1 237,6

834,6

807,9

868,0

894,4

• umgerechnet in Vollzeitkräfte Gesundheitsausgaben in Krankenhäusern in Mrd. Euro

56,1

74,3

84,2

88,1

• in % der Gesundheitsausgaben insg.

26,4

25,3

26,1

27,6

GKV-Ausgaben: Krankenhausbehandlung in Mrd. Euro

44,2

58,1

70,4

74,9

• in % der Leistungsausgaben

35,1

35,2

34,8

34,4

Quelle: Statistisches Bundesamt, Fachserie 12, Reihe 6.1 „Grunddaten der Krankenhäuser und Vorsorge- oder Rehabilitationseinrichtungen“.

Stationäre Versorgung

721

Abbildung VIII.19 Krankenhäuser und Betten nach Trägerschaft 1992 – 2017 Einrichtungen: Zahl und Anteil 2.500 2.000

2.381

2.337

insgesamt 2.269

2.242

2.221

2.166

2.104

2.083

2.064

2.017

1.980

1.951

44,6%

1.942 28,8%

öffentliche Einrichtungen

1.500 1.000

2.263

39,9%

freigemeinnützige Einrichtungen

15,5%

privatwirtschaftliche Einrichtungen

34,1%

500 -

insgesamt

Betten: Zahl in 1.000 und Anteil

600

547

531

511

500

503

503

501

501

499

54,5%

400

497

48,0%

öffentliche Einrichtungen 300 200

freigemeinnützige Einrichtungen

36,7%

33,2%

100 0

1994

1996

1998

2000

2002

18,7%

privatwirtschaftliche Einrichtungen

8,9 % 1992

2004

2006

2008

2010

2012

2014

2016

2017

Quelle: Statistisches Bundesamt (2018), Fachserie 12, Reihe 6.1.1, Grunddaten der Krankenhäuser.

le Jahre hinweg ein merklicher Rückgang feststellbar. Erstmals im Jahr seit 2010 ist wieder ein Anstieg zu notieren. Der Rückgang betrifft vor allem die Wirtschafts- und Versorgungsdienste (z. B. Küchen- und Reinigungspersonal), die aus Kostengründen ausgegliedert und auf Fremdfirmen übertragen worden sind. Über viele Jahre rückläufig war auch die Zahl der Krankenpfleger und -schwestern. Dies ist bemerkenswert, weil gleichzeitig die Fallzahlen gestiegen und die durchschnittlichen Verweildauern gesunken sind und diese beiden Trends einen erhöhten Arbeitsaufwand zur Folge haben. Insofern muss der in Vollzeitäquivalenten berechnete Personalabbau eher mit Rationalisierungs- und Sparmaßnahmen im Krankenhaus erklärt werden. Allerdings steigt die Besetzung im Pflegedienst seit 2007 (ca. 298 300) wieder an bis auf ca. 328 300 im Jahr 2017 (in Vollzeitäquivalenten) (vgl. Abbildung VIII.20). Der Beschäftigungsrückgang betrifft nicht die Ärzt:innen. Zwischen 1991 und 2017 sind ihre Beschäftigtenzahlen (in Vollzeitäquivalenten) ununterbrochen gestiegen.

722

Gesundheit und Krankheit

Abbildung VIII.20

Ärztliches Personal und Pflegepersonal in Krankenhäusern 1991 – 2017

880,5

894,4

1215,6

859,4

868

1178,7

837,7

850,1

1192,9

1146,5

816,3

825,7

1164,1

1113,0

797,6

807,9

1128,4

1078,2

1096,5

791,9

792,3

796,1

1067,3

805,3

600

1064,4

1063,2

834,6

824

843,5

1071,8

1100,5

850,9

1096,4

1105,9

861,5

832,5

1116,3

880

833,5

1124,9

887,6

1112,4

1142,2

1101,4

1138,2

1153,2

875,1

880,1

1124,7

1126,4

875,8

882,4

800

1111,6

1000

Personal insgesamt

1237,6

1200

umgerechnet in Vollzeitkräfte

400 200 0 380 330

Pflegedienst 326,1 331,3

342,3

349,4

337,7

332,3

327,4

280

309,5

299,3

300,4

306,2

320,9

328,3

jeweils umgerechnet in Vollzeitkräfte

180

80

318,7

Ärztliches Personal

230

130

313,5

95,2

97,6

97,1

104,4

107,1

108,7

112,8

117,7

123,7

128,1

134,8

142,9

150,8

154,4

161,2

1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017

Quelle: Statistisches Bundesamt (zuletzt 2018), Krankenhausstatistik, Fachserie 12, Reihe 6.1.1.

8.2

Fallzahlen, Betten und Verweildauer

Immer mehr Menschen werden immer häufiger stationär behandelt. Im Jahr 2017 wurden über 19,9 Mio. Krankenhausfälle registriert. Dies entspricht 2 320,1 Fälle je 10 000 Einwohner; gegenüber 1 822 Fälle je 10 000 Einwohner im Jahr 2000. Dies ist nicht nur auf die steigende Wohnbevölkerung zurückzuführen, sondern auch auf die Zunahme schwerer Erkrankungen, die veränderte Altersstruktur der Bevölkerung und auf das Überweisungsverhalten der niedergelassenen Ärzt:innen. Die Fallzahlen und Fallquoten (je Einwohner) hängen stark vom Lebensalter ab. Schwerwiegende Erkrankungen konzentrieren sich auf ein höheres Lebensalter (vgl. Abbildung VIII.21). So lassen sich im Jahr 2017 in der Altersgruppe 70 bis 75 Jahre mehr als doppelt so viele Fälle zählen wie in der Altersgruppe 40 bis 45 Jahre. Die Fallquote steigt von 13,9 in der Altersgruppe 20 – 25 Jahre auf 111,5 in der Altersgruppe 90 Jahre und älter. Eine Person kann mehrmals im Jahr in einem Krankenhaus versorgt werden, so dass die Zahl der Personen niedriger liegt als die der Fälle. Trotz dieser Erhöhung von Fallzahlen und Fallquoten hat sich die Zahl der Krankenhausbetten verringert – von 560 Tausend auf 497 Tausend. Je 10 000 Einwohner werden 2017 noch 60,2 Betten bereitgehalten – gegenüber 68,1 Betten im Jahr 1991. Dies entspricht einem Rückgang von 11,6 %.

Stationäre Versorgung

723

Abbildung VIII.21 Krankenhausfälle nach Lebensalter 2017 2.500 111,5 100 2.000

Anzahl der Fälle in 1.000

85,4

80

1.500 je 100 Einwohner (rechte 67,7 Achse)

60

53,3

1.000

40

43,1 Anzahl in 1.000 (linke Achse)

33,0 27,5

500 337,8 234,6

584,3

1.106,2

1.768,6

2.253,4

1.548,4

1.540,2

1.458,4

15,3

930,4

669,4

779,7

13,7

1.416,2

15,1

18,2

1.270,3

15,3

16,9

892,1

5-10

13,2

809,1

1-5

7,7

585,1

0

6,5

498,7

12,2

11,4

20

22,6

283,9

10-15 15-20 20-25 25-30 30-35 35-40 40-45 45-50 50-55 55-60 60-65 65-70 70-75 75-80 80-85 85-90 90 und mehr Alter in Jahren

0

Quelle: Statistisches Bundesamt (2018), Fachserie 12, Reihe 6.2.1; und eigene Berechnungen nach Statistisches Bundesamt (2018), Fachserie 1, Reihe 4.1 Bevölkerung und Erwerbstätigkeit.

Die gegenläufigen Trends von Fallquoten und Bettenquoten erklären sich durch die stark sinkende Verweildauer. Die durchschnittliche Verweildauer je Fall liegt im Jahr 2017 nur noch bei 7,3 Tagen – gegenüber 9,7 Tagen im Jahr 2000. Dies ist gleichbedeutend mit einem Rückgang von knapp 25 % %. Die sinkende Verweildauer ist zu einem Teil Folge neuer diagnostischer, therapeutischer und (minimalinvasiver) operativer Verfahren. Von Bedeutung für den Entwicklungstrend sind darüber hinaus die Veränderungen in der Krankenhausfinanzierung. So üben die ab 2000 eingeführten Fallpauschalen, deren Höhe unabhängig von den tatsächlich entstandenen Kosten ist, einen starken ökonomischen Anreiz aus, die Pflegetage zu begrenzen. Ein Anstieg der Krankenhausfälle kann deshalb auch daher rühren, dass Patienten schneller entlassen, dann aber auch häufiger wieder aufgenommen werden („Fall-Splitting“), um bei einer fallbezogenen Vergütung finanzielle Vorteile zu erzielen. Die Entwicklung der Eckdaten der Krankenhausversorgung zwischen 1991 und 2017 lässt sich als Indexverlauf darstellen (vgl. Abbildung VIII.22). Die Ausgangswerte werden dabei auf 100 gesetzt, so dass sich erkennen lässt, um welchen Prozentsatz sich beispielsweise die Krankenhausfälle in dem zurückliegenden Zeitraum von über 25 Jahren verändert haben. Die Fallzahl ist um 29,1 % gestiegen, die Verweildauer um 47,1 % gesunken.

724

Gesundheit und Krankheit

Abbildung VIII.22 1991 = 100

Entwicklung der Krankenhausversorgung 1991 – 2017, Indexdarstellung:

129,1

130

= 2.352,2 Fälle je 10.000 Einw.

120

110 Fallzahl je 10.000 Einwohner

100

92,5

= Bettenauslastung von 77,8 %

72,4

= 60,2 Betten je 10.000 Einw.

90 Bettenauslastung in % 80 Betten je 10.000 Einwohner

70

60

50 1991

Durchschnittl. Verweildauer in Tagen

1993

1995

1997

1999

2001

2003

2005

2007

2009

52,1 2011

2013

2015

= 7,3 Tage ø Verweildauer

2017

Quelle: Statistisches Bundesamt (zuletzt 2018), Fachserie 12 Reihe 6.1.1, Gesundheit: Grunddaten der Krankenhäuser.

8.3

Steuerung und Finanzierung

Die Behandlung in einem Krankenhaus setzt für gesetzlich Versicherte eine Einweisung durch einen Vertragsarzt voraus. Ausnahmen von dieser Einweisungspflicht bestehen bei Unfällen und Notfällen. Eine ambulante Behandlung im Krankenhaus, also ohne Unterkunft und Verpflegung, ist für gesetzlich Versicherte im Regelfall nicht möglich. Allerdings hat in den zurückliegenden Jahren eine vorsichtige und schrittweise Öffnung der Krankenhäuser bzw. der Krankenhausärzt:innen für die ambulante Versorgung stattgefunden. Dies ist (teilweise unter Voraussetzung einer Ermächtigung durch die KVen) möglich: •

im Rahmen von strukturierten Behandlungsprogrammen für chronisch kranke Menschen (vgl. Pkt. 6.2.3 dieses Kapitels), • durch Beteiligung an fach- und sektorübergreifenden medizinischen Versorgungszentren (vgl. Pkt. 6.2.3 dieses Kapitels), • bei der spezialfachärztlichen Diagnostik und Behandlung komplexer, schwer therapierbarer Krankheiten (Erkrankungen mit besonderen Krankheitsverläufen, seltene Erkrankungen oder bestimmte hochspezialisierte Leistungen), • in Situationen einer regionalen Unterversorgung, die durch niedergelassene Ärzt:innen nicht behoben werden kann.

Stationäre Versorgung

725

Ärztinnen und Ärzte sind an den Krankenhäusern fest angestellt. Eine Ausnahme machen die sog. Belegärzt:innen. Hier handelt es sich um zugelassene Vertragsärztinnen und -ärzte, die in kleinen Krankenhäusern mengenmäßig weniger bedeutende (operative) Fächer vertreten. Die Pflichtversicherten können im Krankenhaus ärztliche Behandlung, Pflege, Unterkunft, Verpflegung, Arzneimittel, Heil- und Hilfsmittel kostenlos in Anspruch nehmen (Bedarfsdeckungs- und Sachleistungsprinzip). Allerdings muss je Tag der stationären Unterbringung (bis maximal 28 Tage) eine Zuzahlung von 10 Euro entrichtet werden, die an die Kassen fließt. Die Krankenhäuser decken ihre Kosten durch ein duales Finanzierungssystem. Nach dem Krankenhausfinanzierungsgesetz werden • •

die Bereitstellungskosten, d. h. die Investitionskosten, durch die Länder getragen und durch Steuern finanziert, die Benutzerkosten, d. h. die laufenden Betriebskosten, die unmittelbar durch die Behandlung entstehen, über Fallpauschalen mit den gesetzlichen Krankenkassen oder privaten Versicherungsunternehmen abgerechnet.

Bereitstellungskosten Die Bereitstellungskosten umfassen die Ausgaben für Errichtung und Unterhalt von Gebäuden (Investitionen) sowie für Beschaffung und Erneuerung medizinischer Geräte. Die Finanzierung dieser Ausgaben durch die Bundesländer ist Ausdruck der Tatsache, dass die Vorhaltung von Krankenhäusern eine öffentliche Aufgabe darstellt. Ein Anrecht auf öffentliche Finanzierung haben die Krankenhäuser jedoch nur dann, wenn sie in die Bedarfspläne der einzelnen Bundesländer, die jeweils eigene Krankenhausgesetze verabschiedet haben, aufgenommen werden. Allerdings haben sich die Länder zunehmend aus der Finanzierung der Krankenhäuser zurückgezogen, die Investitionszuwendungen sind rückläufig. Benutzerkosten: Fallpauschalen In die Benutzerkosten gehen die laufenden Ausgaben für ärztliche Behandlung, Pflege, Unterbringung, Verpflegung, Arzneimittel, Heil- und Hilfsmittel ein. Sie werden über diagnosebezogene Fallpauschalen (DRGs: Diagnosis Related Groups), die unabhängig von den tatsächlichen Kosten und Verweildauern (mit Ausnahmen) berechnet werden, abgegolten. Das Fallpauschalensystem, das seit 2009 für alle Krankenhäuser voll wirksam ist und gleichermaßen für Kassen- wie für Privatpatient:innen gilt, hat die über lange Jahre praktizierte Finanzierung durch das Selbstkostendeckungsprinzip abgelöst. Ausnahmen gelten für die Psychiatrie, die Psychosomatik und die Psychotherapie – hier erfolgt die Abrechnung durch tagegleiche Pflegesätze. Und ausgenommen sind seit 2020 die Kosten des Pflegepersonals, die über ein eigenes Pflegebudget finanziert werden (vgl. Pkt. 8.5 dieses Kapitels).

726

Gesundheit und Krankheit

Im DRG-System werden die Krankenhausfälle (Patient:innen) anhand von medizinischen Kriterien Fallgruppen zugeordnet. Aktuell sind dies etwa 1 200 Gruppen. Für die Fallgruppen werden – ähnlich wie bei nach dem EBM (vgl. Pkt. 6.4.1 dieses Kapitels) – Punktzahlen festgelegt, die die relativen Gewichte der Fallgruppen beziffern. Um den Euro-Wert einer Fallpauschale zu bestimmen, werden die Punktzahlen mit einem vereinbarten Punktwert (Basisfallwert) multipliziert. Die Relativgewichte der Fälle und die Höhe des Basisfallwertes werden jährlich in Vertragsverhandlungen neu ermittelt. Auf der Bundesebene müssen sich die Deutsche Krankenhausgesellschaft und der GKV-Spitzenverband auf einen Bundesbasisfallwert verständigen. Dieser Wert umreißt einen Korridor, der dann auf jeweils Landesebene in Verhandlungen auf einen Landesbasisfallwert festgelegt wird und für alle Krankenhäuser gilt. Anspruch auf die entsprechende Erstattung durch die Krankenkassen hat jedes einzelne Krankenhaus, eine wie bei der ambulanten Versorgung an die KVen fließende Gesamtvergütung gibt es nicht. Bei den Privatversicherten ist es üblich, dass – im Gegensatz zum Kostenerstattungsprinzip – die Versicherungsunternehmen direkt mit dem Krankenhaus abrechnen. Der Versicherte erhält also keine Rechnung, faktisch gilt das Sachleistungsprinzip. Das gilt jedoch nicht für die Abrechnung von Wahlleistungen (z. B. Unterkunft, Chefarztbehandlung). Weitgehend ungelöst ist die Mengensteuerung in der stationären Versorgung. Untersuchungen belegen, dass ein großer Teil der Leistungssteigerungen nicht durch die demografische Entwicklung begründet werden kann. Vieles deutet darauf hin, dass Leistungserbringer aufgrund ökonomischer Anreize medizinisch nicht notwendige Leistungen erbringen. Dies betrifft im besonderen Maße Operationen. Hierauf hat das DRG-System einen nur geringen Einfluss. Deshalb ist geregelt, dass die Vertragsparteien auf Bundesebene die Bewertung bei Leistungen mit wirtschaftlich begründeten Fallzahlsteigerungen abzusenken oder abzustufen haben. Zudem ist die Mengensteuerung von der Landes- auf die Krankenhausebene verlagert worden. Kostenvorteile, die bei der Erbringung zusätzlicher Leistungen entstehen, werden dann nicht mehr mindernd auf Landesebene berücksichtigt. Vielmehr werden diese durch einen grundsätzlich dreijährigen Abschlag (Fixkostendegressionsabschlag) beim einzelnen Krankenhaus berücksichtigt, das diese Leistungen vereinbart. Die Höhe des Abschlags wird auf der Landesebene vereinbart. 8.4

Qualitätssicherung

Ziel der Fallpauschalen ist es, den Wettbewerb zwischen den Einrichtungen zu verstärken und das Bemühen um Wirtschaftlichkeit zu stärken. Denn da allein der Fall honoriert wird, rechnet es sich für ein Krankenhaus nicht (mehr), die Pflegetage zu erhöhen. Ganz im Gegenteil gerät ein Krankenhaus, das durch hohe Kosten und lange Behandlungszeiten charakterisiert ist, in wirtschaftliche Schwierigkeiten. Insofern

Stationäre Versorgung

727

gibt es ökonomische Anreize, medizinisch nicht notwendige Leistungen einzuschränken und die Behandlungsabläufe zu rationalisieren. Dies muss nicht zu Lasten der Qualität gehen, aber die Gefahr ist nicht von der Hand zu weisen, dass der ökonomische Druck dazu veranlasst, Patient:innen vorzeitig zu entlassen, Personal einzusparen bzw. gering zu entlohnen oder „teure Fälle“ möglichst nicht aufzunehmen. Im Ergebnis kommt es dann zu einem Wettbewerb um niedrige Kosten und Preise, aber nicht um die Qualität der Versorgung. Krankenhäuser, die aufgrund ihres umfassenden Versorgungsauftrages oder wegen regionaler Besonderheiten hier nicht mithalten können, erwirtschaften Defizite und drohen geschlossen zu werden. Ein derartiger wettbewerblicher Ausleseprozess kann jedoch in Widerspruch zu der Aufgabe der Krankenhausplanung der Länder geraten, eine bedarfsdeckende und wohnortnahe Versorgung sicherzustellen. Deshalb sind in das DRG-System eine Reihe von Zuschlägen und Zusatzentgelten bzw. bestimmte Ausnahmen eingearbeitet worden. Es ist Aufgabe der (Landes-)Politik zu entscheiden, ob kleinere, unwirtschaftliche Krankenhäuser nicht mehr in die Bedarfsplanung aufgenommen werden und ob stattdessen jene größeren Krankenhäuser gestärkt werden, die spezialisierter sind und größere Expertise aufweisen – zum Beispiel hinsichtlich einer Mindestmenge an Operationen. Regionalpolitik und Gesundheitspolitik stehen hier durchaus im Widerspruch. Seit der Einführung der Fallpauschalen sind flankierende Qualitätssicherungsmaßnahmen zwingend vorgesehen. Dazu zählen u. a. die Erhebung und Veröffentlichung ausgewählter fallbezogener Merkmale: Operationsrate, Komplikationsrate, Infektionsrate, Sterberate, Verweildauer nach Krankheiten, Wiederaufnahmerate. So lassen sich Behandlungsergebnisse einzelner Häuser miteinander verglichen werden. Die Qualitätskontrolle kann durch externe Prüfungen unabhängiger Institute, regelmäßige interne Prüfungen der Krankenhäuser und berufsgruppenübergreifende Qualitätszirkel vorgenommen werden (vgl. Kapitel „Soziale Dienste, Pkt. 7.2.3). Die Festlegung von verbindlichen Regelungen erfolgt durch den Gemeinsamen Bundesausschuss. Ferner sind die Krankenhäuser verpflichtet, regelmäßig einen Qualitätsbericht zu veröffentlichen, der den Stand der Qualitätssicherung betrifft und der auch für die Versicherten bzw. Patienten informativ ist. Die Qualität ist auch ein Kriterium bei der Krankenhausplanung und bei der Krankenhausvergütung. Eine schlechte Qualität kann Konsequenzen haben für den Verbleib eines Krankenhauses im Krankenhausbedarfsplan des jeweiligen Bundeslandes. Die Kostenentwicklung im Krankenhaus (inklusive der dort verordneten Arznei-, Heil- und Hilfsmitteln) liegt über der durchschnittlichen Entwicklung der Leistungsausgaben in der GKV. Da es sich um den größten Ausgabensektor handelt, liegt es nahe, die Preis- und Mengentwicklung zu begrenzen. Jedoch deutet viel darauf hin, dass bei den gegebenen Strukturen die Rationalisierungsreserven im Krankenhaus weitgehend erschöpft sind. Hinzu kommt ein steigendes Morbiditätsrisiko, das sich in steigenden Fallzahlen ausdrückt und mit der Zunahme älterer, häufig demenz-

728

Gesundheit und Krankheit

erkrankter, pflegebedürftiger oder behinderter Patienten verbunden ist. Insofern kann es kein „billiges“ Krankenhaus geben, aber Effizienz und Effektivität der Leistungen könnten durch Strukturreformen im Krankenhaussektor verbessert werden (vgl. Pkt. 13.2 dieses Kapitels). 8.5

Pflegequalität und Pflegepersonal

Qualitätssicherung kann sich nicht nur auf die ärztliche Behandlung beschränken, sondern muss die gesamte Versorgung, und hier insbesondere die Pflege, im Blick haben. Die Empirie zeigt, dass die Behandlungsergebnisse und die Pflegequalität in einem engen Zusammenhang stehen. Über Jahre hinweg haben die Kliniken aber gerade im Bereich des Pflegepersonals gespart. In der Folge haben sich in der Krankenpflege – und erst recht in der Altenpflege (vgl. Kapitel „Pflegebedürftigkeit und Pflege“, Pkt. 11.2) – Probleme aufgetürmt: Die unzureichende Pflegepersonalausstattung war und ist mit einer Arbeitsverdichtung verbunden, die wenig Zeit lässt für die eigentliche Pflege am Krankenbett. Dies hat negative Rückwirkungen auf die Patientensicherheit und die Behandlungsergebnisse; zugleich wird es schwierig, notwendiges Pflegepersonal zu gewinnen, da die hohen Arbeitsbelastungen zu einer steigenden Personalfluktuation und zur vorzeitigen Berufsaufgabe führen. Eine Ausbildung und Berufstätigkeit in der Pflege wird unattraktiv, und auf dem Arbeitsmarkt macht sich ein erheblicher Personalmangel bemerkbar, in dessen Folge sogar ganze Abteilungen von einzelnen Kliniken (temporär) geschlossen werden mussten. Vor diesem Hintergrund hat es die zuständige Gewerkschaft Verdi, verbunden mit Streiks des Pflegepersonals, erreicht, in einzelnen Krankenhäusern Tarifverträge für eine bessere Personalausstattung abzuschließen. Diese als Pflegenotstand bezeichnete Lage hat in der Politik zu einer Umkehr der restriktiven, allein auf Ausgabenbegrenzung abstellende Krankenhauspolitik geführt. So wird ab 2020 die Vergütung für das Pflegepersonal aus den Fallpauschalen herausgenommen und durch ein krankenhausindividuelles Pflegebudget abgelöst. Dieses Budget entspricht damit faktisch wieder dem alten Selbstkostendeckungsprinzip, da Tariferhöhungen und Personalaufstockungen voll finanziert werden. Zugleich sind mit einer Verordnung in vier pflegesensitiven Bereichen der Krankenhäuser, nämlich Intensivmedizin, Geriatrie, Kardiologie und Unfallchirurgie Pflegepersonaluntergrenzen festgesetzt worden. Krankenhäuser, die die Mindeststandards beim Personal unterschreiten, haben mit wirtschaftlichen Sanktionen zu rechnen und dürfen dann auch nur weniger Patienten behandeln. Das Problem ist damit aber nicht gelöst, da sich die Untergrenzen am Ist-Stand orientieren und Mängel eher fortschreiben. Zu entwickeln und verbindlich zu gestalten sind vielmehr differenzierte Pflegepersonalregelungen.

Versorgung psychisch Kranker

9

729

Versorgung psychisch Kranker

Psychischen Erkrankungen kommt eine immer größere Bedeutung zu (vgl. Pkt. 2.2 dieses Kapitels). Dazu zählen psychische Störungen und Erkrankungen wie Depressionen, Psychosen, Angst- und Zwangserkrankungen, psychische Alterskrankheiten, psychosomatische Erkrankungen, psychische Auffälligkeiten und Erkrankungen von Kindern usw. Psychische Erkrankungen sind nach Muskel- und Skeletterkrankungen die zweithäufigste Ursache für die Bescheinigung einer Arbeitsunfähigkeit, Für Frühverrentungen sind sie sogar der häufigste Grund. Da diese Erkrankungen eine in mehrfacher Hinsicht besondere Rolle einnehmen und einen spezifischen Versorgungsbedarf aufweisen, werden sie gesondert betrachtet. Der Krankheitsverlauf ist in der Regel langwierig und phasenhaft. Bei vielen Betroffenen besteht die Tendenz, die psychische Erkrankung nicht als solche wahrzunehmen oder sie nicht einzugestehen. Die Erkrankung macht zudem oft initiativund motivationslos, so dass Ärzt:innen, Therapeut:innen oder andere Helfende nicht oder nur sehr spät aufgesucht werden. Zugleich reagiert die Umwelt auf psychische Erkrankungen häufig mit Vorurteilen und Diskriminierungen. Psychisch erkrankte und behinderte Personen werden schnell aus ihrem sozialen Beziehungsgeflecht ausgegrenzt, bei der Arbeitsplatzsuche benachteiligt und abgeschoben. Bei der Versorgung psychisch Kranker sind sehr verschiedenartige Gruppen von Krankheiten und Behinderungen zu berücksichtigen. Die Betroffenen benötigen Hilfen in den vielfältigen Formen psychotherapeutischer, medikamentöser und nicht zuletzt sozialer Unterstützung. Um zu gewährleisten, dass die Betroffenen sich möglichst nicht von der Familie, dem Arbeitsbereich und dem räumlichen und sozialen Umfeld lösen müssen, kommt der gemeindenahen ambulanten Versorgung dabei der Vorrang vor der teilstationären und stationären Versorgung zu (Gemeindepsychiatrie als Handlungs- und Organisationsprinzip). 9.1

Ambulante Versorgung

Die ambulante medizinische Versorgung psychisch Kranker wird weit überwiegend von den niedergelassenen ärztlichen und psychologischen Psychotherapeut:innen getragen. Ein großer Teil der Betroffenen sucht aber auch Haus- wie Fachärzt:innen auf, insbesondere dann, wenn sich bei den Betroffenen somatische und psychische Krankheiten überlagern. Ärzt:innen für Neurologie und/oder Psychiatrie (Nervenärzte), die eine qualifizierte Weiterbildung in den genannten Gebieten aufweisen, haben demgegenüber eine eher nachrangige Bedeutung. Die Berufsausübung eines psychologischen Psychotherapeuten wird durch das Psychotherapeutengesetz geregelt. Bedingung ist eine Approbation als Psychotherapeut:in und die Qualifikation in anerkannten Behandlungsverfahren. Kinder- und

730

Gesundheit und Krankheit

Jugendlichentherapeut:innen dürfen alle Patient:innen behandeln, die jünger als 21 Jahre sind. Zur Teilnahme an der psychotherapeutischen Versorgung der gesetzlich Versicherten werden approbierte Psychotherapeut:innen nur zugelassen, wenn sie in einem Verfahren ausgebildet sind, das durch den Gemeinsamen Bundesausschuss anerkannt ist. Über den Antrag auf Kassenzulassung befindet der Zulassungsausschuss der gemeinsamen Selbstverwaltung, der für jeden Bezirk einer kassenärztlichen Vereinigung oder für Teile dieses Bezirks gebildet wird und der mit vier Vertretern der Krankenkassen mit zwei Ärzt:innen, einem/r psychologischen Psychotherapeut:in und einem/r Kinder- und Jugendlichentherapeut:in besetzt ist. Es ist allerdings fraglich, ob bei der Zulassung der wachsende Bedarf ausreichend berücksichtigt wird, und ob – wie bei den Haus- und Fachärzten – die Maßnahmen zur besseren regionalen Verteilung der Psychotherapeuten auch tatsächlich greifen. Erschwerend kommt hinzu, dass die Behandlungskapazitäten bzw. Fallzahlen einer Praxis begrenzt sind, da die Therapiezeiten und -einheiten lang sind. An der Versorgung der gesetzlich Krankenversicherten nehmen (2017) 5 877 Nervenärzt:innen und 6 121 ärztliche Therapeut:innen sowie 25 297 psychologische Psychotherapeut:innen teil (einschließlich Kinder- und Jugendlichentherapeut:innen) (vgl. Tabelle VIII.5). Speziell auf Kinder und Jugendliche bezogen existieren darüber hinaus 7 626 Praxen für Kinder- und Jugendpsychiatrie. Krankenkassen übernehmen die gesamten Behandlungskosten, sofern es sich um eine psychische Störung mit Krankheitswert handelt. Dazu gehören u. a. Angststörungen, Depressionen, Essstörungen, Persönlichkeitsstörungen, psychosomatische Störungen, Süchte und Verhaltensstörungen. Die Feststellung einer solchen Störung obliegt den kassenzugelassenen psychologischen oder ärztlichen Psychotherapeut:innen. Dabei stellt der/die Psychotherapeut:in zunächst eine Verdachtsdiagnose. Spätestens nach den probatorischen Sitzungen ist eine ärztliche Untersuchung nötig. Sie soll vor Aufnahme einer Therapie klären, ob es organische Ursachen gibt, auf die das Leiden zurückzuführen ist. So kann sich beispielsweise eine Schilddrüsenerkrankung auf das seelische Gleichgewicht auswirken. Der/die Arzt/Ärztin verfasst dazu einen sogenannten Konsiliarbericht, den der/die Psychotherapeut:in gemeinsam mit seiner Diagnose und dem Antrag auf Therapie bei der Krankenkasse einreicht. Die Krankenkasse muss dann eine Behandlung genehmigen. Wer in einer schweren seelischen Krise steckt, hat Anspruch auf 12 bis 24 Therapiestunden. Vor einer Akutbehandlung oder einer probatorischen Sitzung ist die Inanspruchnahme der psychotherapeutischen Sprechstunde zwingend vorgeschrieben. Anders als bei einer regulären Therapie sind vor Beginn der Akutbehandlung keine Probesitzungen notwendig. Auch muss diese nicht zuerst von der Krankenkasse genehmigt werden. Der Therapeut muss der Kasse nur schriftlich mitteilen, welche Erkrankung er beim Patienten festgestellt hat und wann die Akutbehandlung beginnt. Obgleich die Zahl der ärztlichen und vor allem der psychologischen Psychotherapeut:innen seit Beginn der 90er Jahre stark gestiegen ist, entspricht das Angebot nicht

Versorgung psychisch Kranker

731

Tabelle VIII.5 Vertragsversorgung der gesetzlich Krankenversicherten 1996 – 2017 An der Versorgung Teilnehmende

1996

Ärztliche Psychotherapeut:innen

2 502

Psychologische Psychotherapeut:innen

2005

2017

4 004

6 121

1)

12 564

19 752

Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut:innen

1)

2 605

5 545

Nervenärzt:innen

5 246

5 732

5 877

1) Keine Daten vorhanden. Quelle: Kassenärztliche Bundesvereinigung.

dem Bedarf. Menschen, die Hilfe bräuchten, finden vor allem in ländlichen Gebieten nur schwer einen zeitnahen Termin. Die Wartelisten sind selbst in gut versorgten Gebieten lang. Dieses lange Warten auf einen Therapieplatz hat im Zweifel gravierende Folgen. Denn wenn die Diagnostik zu spät erfolgt, sind psychische Erkrankungen im schlimmsten Fall bereits chronisch geworden. Das wiederum wirkt sich auf den Therapieverlauf, die weitere Krankengeschichte und die Heilungsaussichten nachteilig aus. Deswegen sind die Terminservicestellen „Psychotherapie“ der kassenärztlichen Vereinigungen verpflichtet, innerhalb einer Woche einen Termin bei einem entsprechenden Psychotherapeuten zu vereinbaren. Die Wartezeit zwischen Anruf und Termin soll maximal vier Wochen betragen, bei Terminen für eine Akutbehandlung sind es maximal zwei Wochen. Gerade für die Versorgung psychisch Kranker wirkt sich die im Gesundheitssystem vorherrschende Abschottung zwischen ambulanter und stationärer Versorgung nachteilig aus. Allerdings ist es möglich, dass sich die psychiatrischen Krankenhäuser bzw. die psychiatrischen Fachabteilungen von Allgemeinkrankenhäusern mit Institutsambulanzen an der ambulanten Versorgung beteiligen. In den letzten Jahren sind die Ambulanzen deutlich ausgebaut worden. Zielgruppen sind vor allem jene chronisch kranken Patienten, die (wiederholt) stationär behandelt worden sind und der kliniknahen Nachsorge bedürfen. In den Ambulanzen arbeiten neben den Ärzt:innen häufig auch Psycholog:innen, Sozialarbeiter:innen und Pflegekräfte, so dass das Helferspektrum breiter angelegt ist als in der Einzelpraxis. Psychisch Kranke brauchen mehr als Therapeut:innen oder Ärzt:innen, die in der Praxis auf sie warten („Komm-Struktur“). Viele Patienten bedürfen vielmehr aktiv aufsuchender Betreuung und sozialer Hilfe. Akteure sind psychosoziale Beratungsstellen, Leistungserbringer der Eingliederungshilfe und die sozialpsychiatrischen Dienste. Die sozialpsychiatrischen Dienste, die auf Grundlage der Landesgesetze für psychisch Kranke (PsychKG) tätig werden und den kommunalen Gesundheitsämtern angegliedert sind, erfüllen nicht nur Vorsorge-, Beratungs-, Betreuungs- und

732

Gesundheit und Krankheit

teilweise auch Behandlungsfunktionen, sondern auch hoheitliche Aufgaben, wie die zwangsweise Unterbringung psychisch Kranker in Kliniken (vgl. Pkt. 9.4 dieses Kapitels). Im Rahmen der Eingliederungshilfe werden unterstützende Wohnformen (betreutes Einzelwohnen, betreute Wohngruppen) angeboten, die sich insbesondere an psychisch erkrankte Menschen mit Behinderungen richten. Einen wichtigen Beitrag zur Hilfe bei psychosozialen Problemen und Störungen außerhalb der Vertragsversorgung leisten die niedrigschwelligen psychosozialen Kontakt- und Beratungsstellen. Während sich diese direkt an psychisch Kranke richten, zielen allgemeine Beratungsstellen (Familien-, Erziehungs- und Sexualberatung, Beratung bei Alkohol- und Drogenproblemen) auf einen breiteren Bevölkerungskreis und bieten Hilfen bei persönlichen Problemlagen und Lebenskrisen an. Träger dieser Einrichtungen und Stellen sind die Kommunen, die Wohlfahrtsverbände oder sonstige freie Träger. Beratungsstellen können das soziale Umfeld der Betroffenen mit einbeziehen (Angehörigenarbeit), Selbsthilfegruppen initiieren und fördern und können deshalb als Ergänzung der ärztlichen/therapeutischen Versorgung angesehen werden (vgl. Kapitel „Soziale Dienste“, Pkt. 4). 9.2

Stationäre und teilstationäre Versorgung

Kommen psychisch Kranke nicht mehr mit ihrem Leben zurecht, sind alle sonstigen komplementären und ambulanten Behandlungs- und Hilfemöglichkeiten ausgeschöpft und besteht möglicherweise sogar die Gefahr, dass sie sich selbst oder anderen Schaden zufügen, dann müssen sie stationär behandelt werden. Eine stationäre Unterbringung kann auch wegen einer erforderlichen Diagnose notwendig werden. Die stationäre Versorgung findet vor allem in folgenden Einrichtungen statt: • • • • • •

Fachkrankenhäuser für Psychiatrie und Neurologie, Fachabteilungen für Psychiatrie und Neurologie an Allgemeinkrankenhäusern, Psychiatrische Universitätskliniken, Fachkrankenhäuser und Fachabteilungen für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Fachkrankenhäuser bzw. Fachabteilungen für Gerontopsychiatrie, Fachkrankenhäuser für Suchtkranke.

Die vollstationäre Therapie wird von Ärzt:innen, psychiatrisch und allgemeinpflegerisch qualifiziertem Pflegepersonal, Sozialarbeiter- und -pädagog:innen sowie Ergotherapeut:innen durchgeführt. Seit der Psychiatriereform (Ende der 1970er Jahre) hat die stationäre Behandlung psychisch Kranker im Verhältnis zur ambulanten Versorgung an Bedeutung verloren. Nach dem Abbau der psychiatrischen Großkrankenhäuser sind die Kliniken kleiner geworden, haben sich geöffnet und die Verweildauer der Patientinnen und Patienten ist deutlich gesunken. Ausgebaut worden ist das Angebot an psychiatrische Tageskliniken, in dem die Patient:innen tagsüber be-

Versorgung psychisch Kranker

733

handelt werden und die deshalb eine Alternative zur vollstationären Unterbringung darstellen und durch deren Besuch eine Krankenhausbehandlung vermieden oder verkürzt werden kann. Die Patient:innen bleiben auf Grund der begrenzten zeitlichen Bindung an die Institution unabhängiger und behalten einen größeren Freiheits- und Entscheidungsspielraum. Sie werden nicht aus ihrem sozialen Umfeld isoliert. Insofern entspricht die tagesklinische Behandlung den Forderungen nach einer offenen, auf die Förderung und Erweiterung der Selbsthilfepotenziale und den Erhalt sozialer Bindungen ausgerichteten Psychiatrie. 9.3

Rehabilitation und komplementäre Versorgung

Psychische Erkrankungen verlaufen oft sehr langwierig. Mit einer Akutbehandlung wird die soziale und berufliche Eingliederung chronisch Kranker nicht immer erreicht. Ein wesentlicher Bestandteil der Versorgung psychisch Kranker sind deshalb Rehabilitationseinrichtungen und -maßnahmen. Diese haben die Aufgabe, chronisch Kranken und Behinderten ein eigenständiges Leben zu ermöglichen, sie in das Netz der sozialen Beziehungen wiedereinzugliedern und ihre Arbeitsfähigkeit so weit wie möglich wiederherzustellen. Erkrankungswege, Erkrankungsfelder und Genesungsaussichten psychisch Kranker machen spezifische Rehabilitationsmaßnahmen notwendig. Folgende Einrichtungen und Maßnahmen zur Rehabilitation psychisch Kranker sind zu unterscheiden: • Wohnheime, die geschützte Wohn- und oft auch Beschäftigungsmöglichkeiten anbieten und eine sozialtherapeutische, pädagogische und pflegerische Betreuung sicherstellen, • Wohngemeinschaften, Wohngruppen, betreute Einzelwohnungen, in denen die Menschen weitgehend selbstständig leben und bei Bedarf fachlich betreut werden, • Tagesstätten mit Beratungs-, Kontaktstiftungs- und Beschäftigungsfunktionen und mit Hilfen zur Tagesstrukturierung sowie zur Alltags- und Freizeitgestaltung, • arbeitstherapeutische und geschützte Werkstätten für psychisch Behinderte. Anhaltende Versorgungsdefizite Trotz aller Verbesserungen, die in den letzten Jahren erreicht worden sind, ist die Situation psychisch Kranker immer noch durch eine Reihe von Problemen und Defiziten gekennzeichnet. Dies gilt für die ambulante Behandlung, für die teil- und vollstationäre Versorgung sowie für die medizinische, berufliche und soziale Rehabilitation in komplementären Einrichtungen. Auch die soziale und sozialpolitische Ausgrenzung der Betroffenen besteht nach wie vor: Die Mehrzahl der chronisch psychisch Kranken ist aus dem Erwerbsleben ausgegrenzt. Die Zahl derer wächst, die infolge von Arbeitslosigkeit und schärferer Auslese auf dem Arbeitsmarkt als „neue chronisch Kranke“ bezeichnet werden können. Eine volle sozialrechtliche Gleichstellung

734

Gesundheit und Krankheit

psychisch Kranker mit somatisch Kranken ist nicht erreicht. Und auf Grund der Besonderheiten des gewöhnlich phasenhaften und langwierigen Verlaufs verlieren viele der schwerkranken Patient:innen früher oder später die Anspruchsvoraussetzungen für die Leistungen der Krankenversicherung mit einer maximalen Leistungsdauer des Krankengeldes von 78 Wochen. Psychisch Kranke sind deshalb im hohen Maße auf Sozialhilfe- bzw. Grundsicherungsleistungen angewiesen. Ihre soziale und materielle Lage ist damit erheblich schlechter als die somatisch Kranker. In der ambulanten Versorgung besteht ein Defizit an Ambulanzen, sozialpsychiatrischen Diensten, psychosozialen Kontakt- und Beratungsstellen und psychiatrischen Pflegediensten. Bei der Versorgung durch die niedergelassenen Kassenärzt:innen führt vor allem das Kassenarztrecht zu Fehlentwicklungen. Denn durch die geltenden Vorschriften werden der Aufbau eines multiprofessionellen Teams, bestehend z. B. aus Ärzt:innen, Psycholog:innen und Sozialarbeiter:innen, und eine flexible Kooperation mit anderen Diensten sehr erschwert. Auch die stationäre Behandlung weist Mängel auf. Fehlende Behandlungskontinuität, insbesondere in Bezug zur vorhergehenden ambulanten Behandlung, Mehrfachbetreuung und die sog. Drehtürpsychiatrie sind und bleiben Hauptkritikpunkte. Das Angebot an teilstationären Einrichtungen (Tageskliniken, Nachtkliniken) entspricht nicht dem Bedarf. Bei psychisch Kranken entspricht der Leitsatz „Rehabilitation vor Rente“ noch weit weniger der Realität als bei körperlich Kranken. Die herkömmliche, vom Leistungsrecht und den Institutionen geprägte strenge Trennung zwischen medizinischer, beruflicher und sozialer Rehabilitation ist für psychisch Kranke wenig zweckmäßig. Medizinische Behandlung und Pflege überschneiden sich häufig mit beruflichen und sozialen Rehabilitationsmaßnahmen. 9.4

Betreuungsrecht, zwangsweise Unterbringung

Mit dem Abbau der stationären Versorgung und dem Ausbau gemeindenaher ambulanter und teilstationärer Versorgungsangebote wurde erreicht, dass die gesellschaftliche Diskriminierung psychisch Kranker zwar nicht aufgehoben, aber doch verringert worden ist. Diesem Zweck dient auch das Betreuungsgesetz. Es richtet sich nach dem Grundsatz der Erforderlichkeit und sieht anstelle der früheren Entmündigung und Vormundschaft weniger einschneidende persönliche Betreuungsmaßnahmen vor. Die Betreuung richtet sich in ihrem Ausmaß danach, inwieweit Betreute ihre Angelegenheiten in Bezug auf Heilbehandlung, Unterbringung, Vermögensangelegenheiten nicht mehr selbst besorgen können. Bei der Auswahl des Betreuers ist primär den Wünschen des Betreuten und seinen persönlichen Bindungen Rechnung zu tragen. Die gegen den Willen der Betroffenen oder im Zustand der Willenlosigkeit durchgeführte Unterbringung in einer psychiatrischen Klinik stellt eine Beschneidung der grundgesetzlich garantierten Freiheitsrechte dar. Einschränkungen können deshalb

Rehabilitation

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nur auf Grund eines förmlichen Gesetzes und nur durch richterliche Anordnung stattfinden. Entsprechende Landesgesetze regeln die Bedingungen, unter denen Einweisung und Verbleiben in einer geschlossenen Krankenanstalt rechtmäßig sind. So erlaubt das Gesetz über Hilfen und Schutzmaßnahmen bei psychischen Krankheiten (PsychKG) in Nordrhein-Westfalen bei psychischen Störungen nur dann die Unterbringung gegen den Willen der Betroffenen, wenn Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung besteht oder Selbsttötung bzw. eine Gefährdung der Gesundheit befürchtet werden müssen. Bevor eine Einweisung erfolgen darf, sind andere Hilfen zu prüfen. Der Antrag auf Unterbringung muss vom zuständigen Amtsgericht angeordnet werden und soll ein ärztliches Zeugnis enthalten. In den Fällen, in denen eine sofortige Unterbringung notwendig ist, kann nur dann ohne gerichtliche Entscheidung gehandelt werden, wenn ein aktueller ärztlicher Befund vorliegt. Ist die Unterbringung nicht bis zum folgenden Tage durch ein Gericht angeordnet, muss der/die Betroffene entlassen werden.

10

Rehabilitation

10.1 Medizinische Rehabilitation Mit dem Abschluss der Akutbehandlung einer Krankheit oder eines Unfalls durch den niedergelassenen Arzt/die Ärztin oder durch das Krankenhaus ist zwar in der Regel der akute Krankheitsprozess zum Stillstand gebracht, in vielen Fällen jedoch noch nicht gewährleistet, dass auch die Gesundheit wieder voll hergestellt ist und dass eine unbehinderte Wiedereingliederung in das berufliche und gesellschaftliche Leben erfolgen kann. Viele Krankheiten sind langwieriger und schwerwiegender Natur, beinhalten die Gefahr einer chronischen Beeinträchtigung und/oder von gesundheitlichen Nebenfolgen bzw. Nachfolgeerkrankungen. Dies trifft insbesondere auf die modernen Volkskrankheiten, die chronisch-degenerativen Erkrankungen wie Rheuma, Herz-Kreislauf-Erkrankungen u. a., aber auch auf Suchterkrankungen und psychische Erkrankungen zu. Nicht selten droht die Gefahr einer dauerhaften Behinderung und/ oder von Frühinvalidität und damit auch einer dauerhaften Erwerbsunfähigkeit. Eine medizinische Rehabilitation kommt damit für all diejenigen Menschen in Frage, denen auf Grund ihrer Erkrankung eine körperliche, geistige oder seelische Behinderung droht oder die bereits behindert sind. Ihr Ziel ist die Wiederherstellung des besterreichbaren Standes ihres Leistungsvermögens und die Wiedereingliederung in das berufliche und soziale Leben. Rehabilitation ist also zugleich auch Prävention und zielt vom Grundsatz auf alle Altersgruppen, also auch auf ältere Menschen. Als Grundsätze der Rehabilitation gelten: • nahtloser Übergang von medizinischer Behandlung und Rehabilitation, • Wunsch- und Wahlrecht bezüglich der Rehabilitationseinrichtungen,

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Gesundheit und Krankheit



frühzeitige Intervention, um Fehlentwicklungen in einem möglichst frühen Stadium zu korrigieren und die Wirksamkeit der Therapie zu erhöhen, • individuelle Hilfe, die auf die konkrete Bedarfssituation abstellt, • Teilhabe statt Pflege, Fördern statt Versorgen, • Finalität, d. h. notwendige Hilfen werden jedem behinderten Menschen unabhängig von der Ursache der Behinderung zuteil, auch wenn unterschiedliche Träger zuständig sind. Nicht alle Maßnahmen der medizinischen Rehabilitation sind rehabilitationsspezifisch. Die meisten sind deckungsgleich mit der Krankenbehandlung, die auch mit der Zielsetzung erbracht werden muss, Behinderungen abzuwenden, zu beseitigen oder zu bessern. Eine Akutbehandlung hat immer zugleich den Zielen der Rehabilitation zu dienen. Im Einzelnen umfassen diese Maßnahmen: • • • • • •

ärztliche und zahnärztliche Behandlung, stationäre Heilmaßnahmen in Krankenhäusern, Kur- und Spezialeinrichtungen einschließlich Unterkunft und Verpflegung, ggf. weitere Anschlussheilbehandlungen, Heilmittel, einschließlich Krankengymnastik, Bewegungs-, Sprach- und Ergotherapie, Sporttherapie, Kunsttherapie etc., Ausstattung mit Prothesen, orthopädischen und anderen Hilfsmitteln, Belastungserprobung und Arbeitstherapie.

10.2 Leistungen zur Teilhabe Rehabilitation umfasst weit mehr als nur medizinische Maßnahmen, sondern beinhaltet den koordinierten Einsatz medizinischer, sozialer, beruflicher und pädagogischer Maßnahmen sowie Einflussnahmen auf das physische und soziale Umfeld. Grundlegendes Ziel ist es, die Wiedereingliederung in das berufliche und gesellschaftliche Leben zu erleichtern, die gleichberechtigte Teilhabe für behinderte oder von Behinderung bedrohte Menschen am Leben in der Gesellschaft zu fördern und Benachteiligungen zu vermeiden bzw. entgegenzuwirken. Kodifiziert ist die Gesamtaufgabe der Rehabilitation im SGB IX (Rehabilitation und Teilhabe von Menschen mit Behinderung). Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben/Berufliche Rehabilitation Berufsfördernde Leistungen sollen die Erwerbsfähigkeit der behinderten Menschen erhalten, bessern, herstellen oder wiederherstellen, um sie hierdurch möglichst auf Dauer in Arbeit und Beruf einzugliedern. Für die berufliche Wiedereingliederung sieht das SGB IX außerdem die Pflicht der Arbeitgeber vor, Schwerbehinderte zu beschäftigen (vgl. Kapitel „Arbeit und Gesundheit“, Pkt. 2.2.3).

Rehabilitation

737

Leistungen zur sozialen Teilhabe/Soziale Rehabilitation Die Soziale Rehabilitation soll den Betroffenen helfen, sich in der Gemeinschaft über den Beruf hinaus in den familiären, politischen, kulturellen und sportlichen Bereich wieder einzufinden und sich – soweit möglich – unabhängig von Betreuung und Pflege weiterzuentwickeln. Eine wichtige Rolle spielen dabei vor allem sozialpsychologische und psychosoziale Betreuung, Hilfen zur Wohnungsanpassung, Mobilitätshilfen und Haushaltshilfen. Soziale Maßnahmen der Rehabilitation werden nie alleine, sondern als Ergänzung zu medizinischen und/oder beruflichen Maßnahmen der Rehabilitation gewährt, 10.3 Träger und Finanzierung Im Sinne des auch in den Katalog der sozialen Rechte (§ 10 SGB I) aufgenommenen Anspruchs auf Rehabilitation wird nicht nach den Ursachen der (drohenden) Behinderung unterschieden. Trotz dieser finalen Orientierung gibt es keinen eigenständigen Rehabilitationsträger mit einheitlicher Zuständigkeit. Stattdessen besteht ein Nebeneinander von sieben verschiedenen Trägergruppen, wobei nach dem Kausalitätsprinzip jeder Träger für seine Rehabilitationsleistung zuständig ist. Für Voraussetzungen, Art, Umfang und Finanzierung der Leistungen sind die jeweiligen Rechtsvorschriften der einzelnen Institution maßgeblich. Die Konsequenzen hieraus sind unterschiedliche Leistungen der einzelnen Rehabilitationsträger. Diese Trägerstruktur und der damit zusammenhängende Kompetenzwirrwarr führen zu Unübersichtlichkeit nicht nur für die Betroffenen, sondern selbst für Experten. Die Durchsetzung des umfassenden finalen Rehabilitationsziels im Sinne eines postulierten Rehabilitations-Gesamtplanes wird dadurch erheblich erschwert. Die Zersplitterung spiegelt zugleich die Entstehungsgeschichte des heutigen gegliederten Systems der sozialen Sicherung einschließlich der Besitzstandsinteressen der jeweiligen Träger wider. Diese strukturellen Mängel im Rehabilitationssystem sollen durch die Regelungen im SGB IX wenn nicht beseitigt, so doch verringert werden. Ziel ist es, die strukturellen Voraussetzungen für die Kooperation der verschiedenen Träger zu verbessern, so dass sich die einzelnen Maßnahmen als nahtlos ablaufender Prozess vollziehen, bei dem die einzelnen Phasen im Rahmen eines Gesamtplanes ineinandergreifen und sich ergänzen. Um dieses Ziel einer umfassenden Rehabilitation auch praktisch zu verwirklichen, ist der jeweils zuständige Rehabilitationsträger zur Aufstellung eines Gesamtplanes verpflichtet, der alle zur vollständigen und dauerhaften Rehabilitation erforderlichen Maßnahmen in einer genauen zeitlichen Abfolge festlegt und der für die anderen beteiligten Träger verbindlich sein soll. Das Konzept des Case Managements erlaubt es Kassen, Trägern und Einrichtungen, die schwer zu überschauenden Leistungsangebote und Zuständigkeiten sinnvoll zu strukturieren und die Nahtlosigkeit der Phasen sowie die Qualität sicherzustellen. Danach lassen sich auf mehreren Ebenen patientenorientiert Handlungs- und Pro-

738

Gesundheit und Krankheit

blemlösungsverfahren beschreiben, die die medizinisch-pflegerischen und psychosozialen Angebote koordinieren. Zuständig sind im Wesentlichen die folgenden Trägergruppen: Gesetzliche Rentenversicherung Der wohl wichtigste Rehabilitationsträger ist die gesetzliche Rentenversicherung. Ziel ihrer Rehabilitationsmaßnahmen ist die Erhaltung der gefährdeten bzw. die wesentliche Besserung oder Wiederherstellung der geminderten Erwerbsfähigkeit. Diesem Ziel dienen sowohl medizinische Leistungen in Form von stationären Heilbehandlungen in Schwerpunktkliniken, Kurkliniken und Sanatorien als auch berufsfördernde Maßnahmen. Ihr Schwerpunkt liegt eindeutig im medizinischen Bereich. Neben den medizinischen Voraussetzungen müssen bestimmte versicherungsrechtliche Bedingungen erfüllt sein, die sich u. a. nach der Dauer der Beitragszahlung und Versicherungszeit richten. Rentner:innen erhalten von der Rentenversicherung keine Rehabilitationsmaßnahmen. Zentral für die GRV ist der Grundsatz „Rehabilitation vor Rente“. Danach sollen Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit erst dann gewährt werden, wenn zuvor Maßnahmen zur Rehabilitation durchgeführt worden sind oder wenn ein Erfolg solcher Maßnahmen nicht zu erwarten ist. In der Praxis, insbesondere bei älteren Arbeitnehmer:innen mit geringen Arbeitsmarktchancen und reduzierten betrieblichen Einsatzmöglichkeiten, läuft dieser Grundsatz aber häufig ins Leere, weil er letztlich doch keine Beschäftigung ermöglicht und somit die Rehabilitationsmaßnahme nur ein Zwischenstadium zur vorgezogenen Rente darstellt. Die hohe Zahl von Erwerbsminderungsrenten im frühen Lebensalter zeigt, wie weit die Praxis von diesem Ziel entfernt ist (vgl. Kapitel „Alter“). Die gesetzliche Rentenversicherung hat 2017 insgesamt 1,1 Mio. Bewilligungen für medizinische Leistungen der Rehabilitation (Leistungen zur Teilhabe einschließlich Übergangsgeld) erteilt und dafür 1,1 Mrd. Euro ausgegeben. Gesetzliche Krankenversicherung Liegen die Voraussetzungen für eine Leistungspflicht des Rentenversicherungsträgers nicht vor, kommen Rehabilitationsleistungen durch die Krankenversicherung in Betracht. Sie gewährt allerdings nur ambulante und stationäre medizinische, nicht aber berufliche Rehabilitationsmaßnahmen. Als Rehabilitationsmaßnahmen der gesetzlichen Krankenversicherung werden in erster Linie die Behandlungen in Spezialeinrichtungen erfasst. Für die erwerbstätigen und damit in aller Regel rentenversicherten Rehabilitanden kommen jedoch die Leistungen der Krankenkassen nur insoweit in Betracht, als die Rentenversicherung nicht mit Rehabilitationsleistungen eintritt. Somit deckt die Krankenversicherung hauptsächlich das gesamte Spektrum der medizinischen Leistungen für die Personen ab, die nicht im Erwerbsleben stehen, wie z. B. Kinder, Hausfrauen und ältere Menschen. Eine besondere Bedeutung spielen die Anschlussheilbehandlungen (AHB). Sie können

Rehabilitation

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in Anspruch genommen werden, wenn ambulante oder stationäre Krankenbehandlung nicht ausreichen. Die gesetzliche Krankenversicherung gab 2017 etwa 2,3 Mrd. Euro, das sind 1,1 % ihrer Gesamtleistungsausgaben, für die stationäre Rehabilitation und für Anschlussheilbehandlungen aus. Gesetzliche Unfallversicherung Die gesetzliche Unfallversicherung als dritter Träger ist bei Arbeitsunfällen (einschließlich Unfällen beim Besuch von Kindergärten, Schulen, Hochschulen) und Berufskrankheiten für medizinische, berufliche und soziale Rehabilitation zuständig. Dabei haben alle Maßnahmen zur Wiederherstellung der Gesundheit und zur beruflichen und sozialen Eingliederung auch hier Vorrang vor den zum Ausgleich des erlittenen materiellen Schadens vorgeschriebenen Geldleistungen. Da die Leistungen ebenfalls auf die Erhaltung, Besserung bzw. Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit abzielen, sind – wie bei der Rentenversicherung – unter den Rehabilitanden der Unfallversicherung zum allergrößten Teil erwerbstätige Personen vertreten. Bundesagentur für Arbeit Die Bundesagentur für Arbeit führt ausschließlich berufliche Rehabilitationsmaßnahmen durch. Kommunen Die Kommunen waren bis Ende 2018 im Rahmen der Sozialhilfe für Leistungen der Eingliederungshilfe zuständig. Infolge der Regelungen des Bundesteilhabegesetzes werden diese Leistungen aus der Sozialhilfe herausgenommen. Die Kommunen treten mit sozialen Rehabilitationsleistungen erst dann ein, wenn sich der Hilfe Suchende selbst nicht mehr helfen kann und auch von keiner anderen Seite, insbesondere von keinem anderen Reha-Träger, Hilfe erhält. Die Heranziehung der Eltern durch die Bedürftigkeitsprüfung der Sozialhilfe ist für Leistungen der medizinischen Rehabilitation und beruflichen Teilhabe aufgehoben. Leistungen der Eingliederungshilfe haben 2018 knapp 1 Mio. Personen bezogen, der Gesamtaufwand lag bei rund 20 Mrd. Euro. 10.4 Mängel in der Rehabilitationspraxis Die z. T. hohen Zahlen der durchgeführten Rehabilitationsmaßnahmen verdecken Mängel in der Rehabilitationspraxis. Die Kritik ist vielfältig und bezieht sich neben der Unüberschaubarkeit in der Trägerstruktur insbesondere auf die fehlende Nahtlosigkeit zwischen den einzelnen Phasen im Rehabilitationsprozess. Dies ist besonders offensichtlich, wenn mehrere Träger am Rehabilitationsprozess beteiligt sind, wenn zeitaufwändige Zuständigkeits- und Kostenabklärungen erforderlich sind und damit eine zügige Abwicklung des Verfahrens einschließlich der rechtzeitigen Einlei-

740

Gesundheit und Krankheit

tung von Nachfolgemaßnahmen erschwert wird. Dies gilt vor allem für die Schnittstellen zwischen vorangehender medizinischer und nachgehender beruflicher und sozialer Rehabilitation. In der medizinischen Rehabilitation bezieht sich die unzureichende Nahtlosigkeit auf die Übergänge zwischen kurativer Medizin bzw. stationärer Krankenhausbehandlung und ambulanter Nachsorge. Medizinische Rehabilitation wird überwiegend stationär betrieben. Obwohl die psychosoziale Betreuung unabhängig vom Träger wesentlicher Bestandteil jeder Versorgung sein muss, sind psychosoziale Angebote nur unzureichend vorhanden. Vor allem besteht ein Mangel an Angeboten für chronisch Kranke, psychisch Kranke und Behinderte. Die Rehabilitationspraxis hat aber auch beachtliche Erfolge aufzuweisen. So lassen sich z. B. nach Abschluss der medizinischen Rehabilitationsmaßnahmen bei fast 81 % der Rehabilitanden Verbesserungen des Gesundheitszustandes nachweisen. Rund 91 % der Teilnehmer:innen an beruflichen Rehabilitationsmaßnahmen können danach wieder ihre letzte Beschäftigung aufnehmen, wobei jedoch die Wiederbeschäftigungsquoten bei Älteren erheblich niedriger sind. Dies spiegeln auch die überdurchschnittlich hohen Arbeitslosigkeitsquoten und die lange Dauerarbeitslosigkeit von Schwerbehinderten bzw. gesundheitlich starken Eingeschränkten (vgl. Kapitel „Arbeit und Arbeitsmarkt“, Pkt. 5.4.2 wider. Der erfolgreiche Abschluss einer beruflichen Rehabilitationsmaßnahme hat also keineswegs auch immer die erfolgreiche Wiedereingliederung in das Erwerbsleben zur Folge. Die dargestellten Mängel, insbesondere im medizinischen Rehabilitationssystem als dem quantitativ weitaus bedeutsamsten, erfordern vielfältige Umorientierungen und Reformen. Im Bereich der medizinischen Rehabilitation ist insbesondere eine bessere Abstimmung zwischen dem Krankenhaus und den ambulanten Versorgungsangeboten notwendig, ebenso wie die Vernetzung des Krankenhaussektors mit den übrigen sozialpflegerischen und sonstigen rehabilitativ ausgerichteten Diensten wie Psychotherapie, Physiotherapie und Krankengymnastik, Ergotherapie oder den verschiedenen sozialarbeiterischen Diensten. Solche Mängel bestehen insbesondere in der Geriatrie und der Gerontopsychiatrie. Ambulante Therapiezentren, gerontopsychiatrische Regionalzentren, ambulante Zentren für die Versorgung behinderter und chronisch kranker Kinder und Jugendlicher als Ergänzung zu Krankenhäusern und Arztpraxen sind Beispiele für ein vernetztes Versorgungsangebot, die jedoch bundesweit noch Mangelware sind.

11

Gesundheitssysteme in Europa

Der Blick über die Grenzen wird in einer Welt, in der zunehmend internationale Zusammenhänge auch die nationale Politik prägen, wichtiger denn je. Regelmäßig wird auf Sozialsysteme verwiesen, die auf tatsächlich oder vermeintlich bessere Versor-

Gesundheitssysteme in Europa

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gungsstrukturen haben, kostengünstiger sind oder besserer Qualität liefern. In Bezug auf die Gesundheitsversorgung ist hier z. B. der World Health Report 2018 zu nennen, der für 182 Nationen ein Ranking in Bezug auf Versorgungs-, Verteilungs- und Qualitätsmerkmale enthält. Er bestätigt, was auch nationale Studien belegen, dass in Bezug auf bestimmte Qualitätsmerkmale in Deutschland erheblich Defizite existieren. Internationale Vergleichsstudien zeigen darüber hinaus, dass nicht ein bestimmter Systemtyp (Privat, Staat, Sozialversicherungen oder Mischsysteme) in Bezug auf Qualität oder Kosten die Nase vorn hat, sondern dass der Charakter der Gesundheitssysteme stark von kulturellen Eigenheiten der Nationen geprägt ist und die Steuerung von Versorgungs- und Kostenstrukturen entscheidend ist. Der Blick über die Grenzen oder das Motto „Von den Nachbarn lernen“, spielt in der Reformdebatte also eine wichtiger werdende Rolle. Nicht zuletzt geht von der Europäischen Union ein Trend zur Annäherung der Sozialsysteme bzw. einzelner Leistungsbereiche aus, obwohl von einer Konvergenz – gerade wegen der kulturellen, politischen und sozialen Traditionen – allenfalls in sehr langfristiger Sicht ausgegangen werden kann. Insofern ist es nicht möglich, andere Systeme oder Systembestandteile komplett zu kopieren und zu implementieren. Auch die Typologie von Wohlfahrtsstaaten (vgl. Kapitel „Sozialpolitik und soziale Lage“, Pkt. 6) „liberal“, „konservativ“, „sozialdemokratisch“ ist auf die Gesundheitssysteme kaum anwendbar und zu grobmaschig. So sind z. B. die Länder Frankreich, Belgien, Deutschland und Österreich, die überwiegend durch Sozialversicherungssysteme geprägt sind, in ihrer Versorgungs-, Finanzierungs- und Organisationsstruktur des Gesundheitssystems sehr unterschiedlich und darüber hinaus Mischsysteme mit staatlichen und privaten Versorgungsstrukturen. Großbritannien wiederum, das zum liberalen Typus gerechnet wird, hat mit dem rein steuerfinanzierten Nationalen Gesundheitsdienst ein Gesundheitssystem, das mit seinem Versorgungscharakter eher dem skandinavischen Typus zuzuordnen ist. Groß ist die Vielfalt von Angebotsstrukturen: Einige Länder setzen auf kommunale (Finnland) oder regionale (Frankreich) Gesundheitszentren, in denen die ambulante Versorgung stattfindet. In Großbritannien wiederum findet die ambulante fachärztliche Versorgung überwiegend durch die Krankenhäuser statt. Die strenge Trennung zwischen ambulantem, durch Privatpraxen geprägten Sektor und dem Krankenhaus, das nur für die stationäre Versorgung zuständig ist, findet sich nur in Deutschland. Das für Deutschland so selbstverständliche Prinzip der freien Arztwahl wiederum ist in vielen anderen EU-Ländern nicht die Regel, sondern die Ausnahme. Zentrale Indikatoren bieten einen groben Einblick in die Ausprägung der jeweiligen Systeme. Vergleicht man ausgewählte EU-Staaten sowie die USA und Japan (vgl. Tabelle VIII.6), so fällt auf, dass •

das Gesundheitssystem der USA mit 16,9 % den weitaus größten Anteil am BIP beansprucht und dass die osteuropäischen Staaten hier am unteren Ende rangieren,

742

• •

Gesundheit und Krankheit

die Zahl der Ärzt:innen je 1 000 Einwohner in Österreich (5,2) und in Deutschland (4,3) besonders hoch liegt, bei den Krankenhausbetten je 1 000 Einwohner Japan (13,1) und Deutschland (8,0) Spitzenwerte aufweisen, während in Dänemark (2,5) und Schweden (2,2) die stationäre Versorgung eine weitaus geringere Rolle spielt.

Trotz dieser Vielfalt haben es die Staaten mit ähnlichen Problemen zu tun. So macht sich angesichts vergleichbarer Rahmenbedingungen (Anstieg chronisch-degenerativer Erkrankungen, Alterung der Gesellschaft, Weiterentwicklung von Diagnostik und Therapie) überall ein Kosten- und Ausgabenanstieg bemerkbar. Nach den europäischen Verträgen verbleibt die Gesundheitsversorgung in der Verantwortung der Mitgliedsstaaten. Allerdings ist bei grenzüberschreitender Inanspruchnahme von Leistungen des Gesundheitssystems das Verhältnis von Gemeinschaftsrecht zum nationalen Sozialrecht relevant. So schränkt das europäische Wettbewerbsrecht die sozialversicherungsrechtliche Autonomie der Mitgliedsstaaten ein. Urteile des EuGH zur Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen im Ausland

Tabelle VIII.6 Gesundheitsausgaben, ärztliche Versorgung und Krankenhausbetten, ausgewählte Staaten im Vergleich 2017 Staaten

Gesundheitsausgaben1) in % des BIP

Ärzt:innen je 1 000 Einwohner

Belgien

10,4

3,1

5,7

Dänemark

10,5

4,0

2,5

Deutschland

11,2

4,3

8,0

Frankreich

11,2

3,2

6,0

8,8

4,0

3,2

10,3

5,2

7,4

6,3

2,4

6,7

11,0

4,1

2,2

Spanien

8,9

3,9

3,0

Ungarn

6,6

3,3

7,0

Ver. Königreich

9,8

2,9

2,5

USA

16,9

2,6

2,8

Japan

10,9

2,4

13,1

Italien Österreich Polen Schweden

1) Öffentliche und private Ausgaben, einschließlich Pflege Quelle: OECD (2019), Health Data.

Krankenhausbetten je 1 000 Einwohner

Finanzierungsprobleme der gesetzlichen Krankenversicherung

743

stärken die Patientenrechte nach freier Behandlungswahl und begrenzen damit das Sachleistungsprinzip. So können seit 2004 GKV-Versicherte aus Deutschland ohne vorherige Genehmigung durch die Kasse Leistungen im EU-Ausland in Anspruch nehmen (das gilt nicht für Krankenhausbehandlungen). Auch können verschreibungspflichtige Arzneimittel aus dem EU-Ausland bezogen werden.

12

Finanzierungsprobleme der gesetzlichen Krankenversicherung

12.1 Kostenexplosion ? Die Gesundheitsausgaben steigen seit Jahren an. Vor diesem Hintergrund stehen Fragen der Finanzierbarkeit des Gesundheitswesens seit langem im Mittelpunkt der sozialpolitischen Diskussion. Die Höhe der Gesundheitsausgaben sagt indes weder positiv noch negativ etwas über die Wirksamkeit und Qualität der gesundheitlichen Versorgung aus und auch nicht über die Wirtschaftlichkeit der eingesetzten Mittel. Ein insgesamt teures Gesundheitswesen kann ineffektiv und schlecht sein, ein kostengünstigeres womöglich besser. Die Beurteilung des Gesundheitswesens kann sich deshalb nicht primär oder gar allein auf die Ausgaben- und Kostenentwicklung beschränken. Entscheidend ist vielmehr, ob Gesundheitssystem und -politik eine bedarfsgerechte und qualitativ hochwertige Versorgung für alle Gruppen der Bevölkerung sicherstellen und ob die Mittel effizient eingesetzt werden. Wenn überprüft werden soll, in welchem Ausmaß die Gesundheitsausgaben gewachsen sind, ob diese Entwicklung als bedrohlich eingeschätzt werden muss, welche Bestimmungsfaktoren ihr zu Grunde liegen und welche Lösungswege sich anbieten, dann ist vorab zu klären, welche Ausgaben gemeint sind. Zu unterscheiden ist zwischen • •

den öffentlichen und privaten Gesundheitsausgaben insgesamt und den Ausgaben, die durch die gesetzliche Krankenversicherung finanziert werden.

Gesamtausgaben für Gesundheit Die Gesamtausgaben für die Erhaltung und Wiederherstellung der Gesundheit beliefen sich 2018 in Deutschland auf insgesamt 376 Mrd. Euro. Von 2000 bis 2018 errechnet sich ein Anstieg um 75 %. Mehr als die Hälfte aller Ausgaben (57,0 %) entfällt dabei auf die gesetzlichen Krankenkassen Und fast 90 % aller Ausgaben fließen in die ambulanten und (teil)stationären Einrichtungen (vgl. Abbildungen VIII.8 und VIII.7). Die absolute Höhe der Ausgaben gibt allerdings noch keine Auskunft über ihre Bedeutung in einer Volkswirtschaft. Erst in der Relation zur Wirtschaftskraft lässt sich deren gesamtwirtschaftliche Dimension ermessen. Aussagefähig sind deshalb nur die Gesundheitsquoten, die den Anteil der Gesundheitsausgaben am Bruttoinlandspro-

744

Gesundheit und Krankheit

dukt wiedergeben. Auch internationale Vergleiche sind nur auf dieser Berechnungsbasis sinnvoll. Die Entwicklung der Gesundheitsquote im Zeitverlauf hängt dabei nicht nur von den Ausgabesteigerungen ab, sondern variiert auch mit den Veränderungen des Bruttoinlandsprodukts. Bei einem rückläufigen Sozialprodukt und konstanten Gesundheitsausgaben kommt es zu einem Anstieg der Gesundheitsausgaben am Sozialprodukt, umgekehrt sinkt die Quote, wenn die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit stärker wächst als die Gesundheitsausgaben. Grundsätzlich stellt sich die Frage, warum hohe und steigende Ausgaben in dem Wirtschaftssektor „Gesundheit“ per se ein Anlass für Besorgnis sein sollen. Auch die Umsatz- und Ausgabenzuwächse in vielen anderen Bereichen des Dienstleistungssektors lassen sich nicht als bedrohliche Kostenexplosion bezeichnen. Vielmehr gilt der prosperierende Dienstleistungssektor als die Wachstums- und Beschäftigungshoffnung. Wenn dennoch die Ausgaben des Gesundheitswesens häufig anders betrachtet werden, dann wegen der unterschiedlichen Finanzierung. Steigende Gesundheitsausgaben werden dann zum Problem (gemacht), wenn sie durch Steuern oder Beiträge öffentlich finanziert werden und sich in steigenden Einkommensabzügen und Lohnnebenkosten niederschlagen. Aus der erwünschten „Wachstumsdynamik“ wird dann eine „Kostenexplosion“. 12.2 Ausgabenentwicklung der GKV Im Mittelpunkt des politischen Interesses stehen weniger die Gesundheitsausgaben insgesamt als vielmehr die beitragsfinanzierten Ausgaben der GKV. Insgesamt sind die GKV-Ausgaben zwischen 2000 und 2018 um 79 % gestiegen, gleichzeitig hat sich aber auch das Bruttoinlandsprodukt deutlich erhöht. Der Anteil der GKV-Ausgaben am Bruttoinlandsprodukt hat sich damit im Zeitverlauf nur geringfügig verändert (vgl. Abbildung VIII.22). Die Ausgabenentwicklung der GKV wird durch sehr unterschiedliche Faktoren beeinflusst. Zu nennen sind vor allem: • Preis- und Einkommenssteigerungen bei den Leistungsanbietern, • von den Leistungsanbietern erbrachte bzw. abgerechnete Mengen (Zahl der Behandlungsfälle, der Diagnostikverfahren, der verordneten Arznei-, Heil- und Hilfsmittel), • Veränderung des Krankheitsgeschehens, • Altersstruktur der Bevölkerung. Es handelt sich demnach um Ausgabensteigerungen, die zu großen Teilen den Preisanstieg in den Versorgungsbereichen widerspiegeln. Vor allem die stationäre aber auch die ambulante Versorgung sowie die Tätigkeitsfelder der nicht-ärztlichen Gesundheitsberufe sind sehr personalintensiv. Rationalisierungsreserven und Produk-

Finanzierungsprobleme der gesetzlichen Krankenversicherung

745

tivitätszuwächse, wie sie für das verarbeitende Gewerbe typisch sind, finden sich hier nur sehr begrenzt. Passen sich die Löhne im Gesundheitswesen dennoch der allgemeinen Einkommensentwicklung an, so steigen die Preise stärker als das nominale Bruttoinlandsprodukt. Hinzu kommt die Ausweitung der erbrachten Mengen. Hier spielt nicht nur die veränderte Morbidität eine Rolle, sondern ausgabensteigernd wirkt auch die sog. angebotsgetriebene Nachfrage. Denn die Leistungsanbieter sind durchaus in der Lage, ihre erbrachten Leistungen autonom zu erhöhen, ohne dass es dafür eine zwingende medizinische Begründung gibt (vgl. Pkt. 4.1 dieses Kapitels). Die Altersstruktur der Bevölkerung und die wachsende Zahl älterer Menschen sind insofern eine wichtige Determinante für die Ausgabenentwicklung des Gesundheitswesens allgemein und der Krankenversicherung im Besonderen, da ältere Menschen überproportional häufig zu den Leistungsempfängern zählen. Entscheidend ist dabei aber nicht, dass die Menschen überhaupt länger leben, sondern dass deren Zahl steigt. Denn unabhängig von der Dauer des Lebens es kommt bei den Gesundheitsausgaben vor allem auf die Situation vor dem Tod an. Nach dieser sog. Sterbethese bezieht sich der größte Teil der Gesundheitsausgaben auf die letzten Jahre vor dem Tod. Von Bedeutung ist darüber hinaus der medizinische und pharmakologische Fortschritt. Es ist Aufgabe des GBA nach den Grundsätzen einer evidenzbasierten Medizin darüber zu entscheiden, welche neuen Verfahren und Methoden von Diagnose und Behandlungen und welche neuen Arznei-, Heil- und Hilfsmittel eingesetzt werden. Nicht zwingend sind damit Ausgabesteigerungen verbunden, wie dies bei der Hochleistungsmedizin (z. B. Organtransplantationen, künstliche Gelenke, bildgebende Verfahren: CT- und MRT-Diagnostik) der Fall ist. Durch die minimal-invasive Chirurgie oder durch den Einsatz neuer Arzneimittel lassen sich auch längere Krankenhausaufenthalte vermeiden. 12.3 Einnahmeentwicklung in der GKV Trotz der weitgehend parallelen Entwicklung von GKV-Ausgaben und Sozialprodukt mussten in den zurückliegenden Jahren die Krankenkassen auf Grund immer wieder neu auftretender Finanzierungsdefizite die Beitragssätze laufend anheben. Trotz ausgeprägter Schwankungen zeichnet sich ein durchgängiger Trend zu höheren Beitragssätzen ab. Lag der durchschnittliche Beitragssatz 1970 noch bei 8,2 %, so war er 1980 bereits auf 11,4 % angestiegen und hat 2000 einen Wert von 13,6 % erreicht. Seitdem bewegt sich der Anstieg langsamer; der Beitragssatz und liegt 2011 bei 15,5 %. Rechnet man den Zusatzbeitrag hinzu, bleibt dieses Niveau seitdem unverändert (vgl. Abbildung VIII.23). Analysiert man die Ursachen für den Widerspruch zwischen konstantem BIPAnteil und langfristig steigenden Beitragssätzen, lässt sich feststellen, dass der An-

746

Gesundheit und Krankheit

Abbildung VIII.23 2000 – 2018

Beitragssatzentwicklung in der GKV und Anteil der GKV-Ausgaben am BIP

GKV-Ausgaben am Bruttoinlandsprodukt (rechte Achse) 7,0

20

7

6,5 Zusatzbeitrag

13,6

13,6

14,6

14,2

14,8

14,9

14,9

14,9

6

0,9

14,2

15,5

1,1

14,3

15,5

1,1

14,0

15,5

0,9

15

0,9

6,5

14,6

14,6

14,6

14,6

14,6

5

4 10

3

5

2

Beitragssatz Gesundheitsfonds

durchschn. Beitragssatz der Krankenkasen

1

2018

2017

2016

2015

2014***

2013

2012

2011

2010

2009**

2008

2007

2006

2005*

2004

2003

2002

2001

2000

0

0

* ab 2005 einschließlich Sonderbeitrag von 0,9 %, ** ab 2014 zuzüglich durchschnittlicher Zusatzbeitrag Quelle: Bundesministerium für Arbeit und Soziales (zuletzt 2018), Sozialbudget.

stieg der Beitragssätze weniger Folge einer über das Wachstum der Volkswirtschaft hinausreichenden Ausgabensteigerung ist, sondern vielmehr einer hinter dem Anstieg des Sozialprodukts zurückbleibenden Entwicklung der Finanzierungsbasis der GKV, nämlich der versicherungspflichtigen Arbeitnehmerentgelte (Grundlohnsumme). Diese „Einnahmeschwäche“ der GKV lässt sich zurückführen auf das Absinken der Lohnquote (Anteil der Löhne und Gehälter am Volkseinkommen), auf das Anwachsen von Beschäftigungsverhältnissen, die nicht der Versicherungs- und Beitragspflicht unterliegen, und auf die Abwanderung von Arbeitnehmer:innen mit einem Einkommen oberhalb der Versicherungspflichtgrenze in die private Krankenversicherung Eine Indexdarstellung (vgl. Abbildung VIII.24) zeigt, dass sich die beitragspflichtigen Einkommen je Mitglied seit 1995 nur um rund 43 % erhöht haben, und weit hinter der Zuwachsrate der Leistungsausgaben (73 %) und des Sozialprodukts (78 %) zurückgeblieben sind.

Finanzierungsprobleme der gesetzlichen Krankenversicherung

747

Abbildung VIII.24 Entwicklung von BIP, GKV-Ausgaben und beitragspflichtigen Einnahmen 1995 – 2018 180

178,4 173,3

170

Bruttoinlandsprodukt GKV-Leistungsausgaben je Mitglied

160

150 143,2

140

GKV-beitragspflichtige Einnahmen je Mitglied

130

120

2018

2017

2016

2015

2014

2013

2012

2011

2010

2009

2008

2007

2006

2005

2004

2002

2003

2001

2000

1999

1998

1997

1996

100

1995

110

Quelle: Berechnungen nach Bundesministerium für Gesundheit (zuletzt 2019) Gesetzliche Krankenversicherung – Kennzahlen und Faustformeln.

12.4 Ausgabenbegrenzung durch Selbstbeteiligung und Wahltarife ? Durch das Bedarfsprinzip in der gesetzlichen Krankenversicherung wird der Preis als Lenkungsinstrument der Nachfrage ausgeschaltet. Genau dieser Effekt nährt die Vermutung, dass es für die einzelnen Versicherten rational sei, möglichst viele Leistungen für ihren Versicherungsbeitrag zu beanspruchen, mit der Folge einer „Überversorgung“ oder „missbräuchlichen Inanspruchnahme“ und entsprechenden Ausgabensteigerungen. Als Alternativen werden deshalb seit vielen Jahren Modelle der Differenzierung des Leistungskatalogs, von Selbsthalten und von Wahltarifen diskutiert. Sie finden in Teilen auch im Leistungs- und Beitragsrecht der gesetzlichen Krankenversicherung Anwendung (vgl. Pkt. 5.3.1 dieses Kapitels) Selbstbeteiligungs- und Zuzahlungsregelungen Als ein wesentlicher Schritt der Ausgabenbegrenzung gelten vielen die Ausweitung und Verallgemeinerung von Selbstbeteiligungs- und Zuzahlungsregelungen. Zu unterscheiden ist dabei zwischen: •

einer absoluten Selbstbeteiligung: Bis zu einer bestimmten Euro-Grenze müssen die Kosten selbst bezahlt werden; erst darüber hinaus übernimmt die Versicherung die Kosten,

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Gesundheit und Krankheit

einer prozentualen Selbstbeteiligung: Ein bestimmter Prozentsatz der Kosten muss von den Versicherten selbst getragen werden – womöglich begrenzt auf einen maximalen Absolutbetrag und abgefedert durch eine Überforderungsklausel, einer festen, in Euro-Beträgen gemessenen Gebühr. Bei dem Erstkontakt mit einem Arzt/einer Ärztin beispielsweise ist eine Praxisgebühr zu entrichten.

Diese Regelungen machen – so die Begründung – den Zusammenhang zwischen individueller Nachfrage und den dadurch verursachten Kosten unmittelbar finanziell fühlbar. Die Inanspruchnahme z. B. von ärztlichen Leistungen, Medikamenten und Krankenhausleistungen sinke auf ein vernünftiges Maß, missbräuchliche Inanspruchnahme werde eingeschränkt und die Ausgaben verringerten sich. Dieser unterstellte Wirkungsmechanismus setzt jedoch voraus, dass die Nachfrage nach medizinischen Leistungen preiselastisch ist und persönlich zu zahlende Preise tatsächlich zu einer sinkenden Nachfrage führen. Analysen zeigen, dass genau diese Annahmen weder empirisch noch theoretisch haltbar sind: Nicht in erster Linie die Patient:innen entscheiden bei der stationären, ambulanten oder pharmazeutischen Versorgung über die Inanspruchnahme von gesundheitlichen Diensten und Leistungen. Es sind vielmehr die behandelnden, verschreibenden und überweisenden Ärzt:innen, die im Wesentlichen die Nachfrage auslösen. • Die Patienten sind nicht wirklich in der Lage, Mengen und Preise zu bestimmen. Wesentliche Teile der Gesundheitsgüter und -leistungen, man denke nur an Operationen und an die Notfallmedizin, werden völlig preisunelastisch nachgefragt. Niemand geht freiwillig in ein Krankenhaus oder bleibt dort möglichst lange, um aus seiner Versicherung Leistungen „herauszuholen“. • Wenn allerdings die Inanspruchnahme weitgehend preisunelastisch ist, dann bedeutet Selbstbeteiligung nichts anderes als eine Kostenverschiebung von der solidarischen Krankenkassenfinanzierung zu den Privatzahlungen. Eine reale Ausgabensenkung findet bei dieser Kostenverschiebung nicht statt. Gesenkt werden lediglich Ausgaben der Krankenversicherung, nicht aber die des Gesundheitswesens. • Auch internationale Erfahrungen bestätigen, dass Selbstbeteiligung und Marktsteuerung keinen wirklichen Ausgabendämpfungseffekt haben. Länder mit weitgehenden Zuzahlungsregelungen sind von Ausgabensteigerungen gleichermaßen betroffen. Und auch die Privaten Krankenversicherungen, deren Tarife in der Regel mit Selbstbeteiligung verbunden sind, weisen ähnliche oder höhere Kostensteigerungen auf wie die GKV (vgl. Pkt. 5.2.4 dieses Kapitels). •

Wie fehlerhaft die Einschätzung ist, dass die Inanspruchnahme von ärztlichen Leistungen durch Gebühren gesteuert und gebremst werden könnte, zeigt die im Jahr 2004 eingeführte Praxisgebühr, eine Art Eintrittsgebühr in die medizinische Versor-

Finanzierungsprobleme der gesetzlichen Krankenversicherung

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gung in Höhe von 10 Euro je Quartal. Da keine Steuerungswirkungen erkennbar waren und zudem ein hoher bürokratischer Aufwand entstand, wurde die Praxisgebühr zehn Jahre später ersatzlos abgeschafft. Wenn allerdings Selbstbeteiligungen, Selbstbehalte oder Gebühren in ihrer Höhe so drastisch ausfallen würden, dass sie tatsächlich die Nachfrage begrenzen, dann wäre eine sozial selektive Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen die Folge. Denn sie wirken bei einkommensschwachen Patienten stärker als bei Patienten in guten Einkommensverhältnissen. Der Grundsatz gleicher Versorgungschancen würde verletzt. Überdies bleibt offen, ob ein wegen der Selbstbeteiligung unterlassener Arztbesuch nicht langfristig sehr kostspielig werden kann, weil womöglich eine ernsthafte Erkrankung zu spät erkannt wird. Grund- und Zusatzleistungen Der Vorschlag, die Leistungen der GKV in Grund- und Zusatzleistungen aufzuteilen, zielt darauf ab, nur noch die Grundleistungen, die sich auf das medizinisch unbedingt Notwendige beschränken, als Pflichtleistungen vorzusehen. Wer sich darüber hinaus absichern will und dazu finanziell auch in der Lage ist, ist auf Zusatztarife angewiesen. Die, dies nicht können, erhalten also weniger. Dieses Modell von Basis- und Zusatztarifen (Wahltarife) kann auch so aussehen, dass diejenigen, die bereit sind, eine (prozentuale) Selbstbeteiligung an den Krankheitskosten zu tragen, niedrige Tarife zahlen, während für eine Vollversicherung ohne Selbstbeteiligung Höchsttarife anfallen. Die Beschränkung auf eine Grundversorgung erscheint nur auf den ersten Blick nachvollziehbar. Denn bereits bei näherem Hinsehen wird deutlich, dass bereits jetzt nur Leistungen zu Lasten der GKV erbracht werden dürfen, die ausreichend, zweckmäßig sowie wirtschaftlich sind. Vor allem dürfen sie das Maß des medizinisch Notwendigen – konkretisiert durch den GBA – nicht überschreiten. Deswegen bleibt unklar, welche Leistungen nur noch als Basisleistungen definiert und erstattet werden. Wer anderes soll diese Definition vornehmen als das Expertengremium des GBA ? Und wenn die notwendigen Leistungen gegenüber dem jetzigen Leistungsspektrum verengt werden, würde dies zu Lasten der einkommensschwachen und chronisch kranken Versicherten gehen. Wahltarife mit Selbstbehalten oder Beitragsrückerstattung Tarife mit Selbstbehalten oder mit Beitragsrückerstattung setzen auf ein rationales Verhalten der Versicherten: Versicherte, die im Kalenderjahr keine Leistungen in Anspruch genommen haben, zahlen auch keinen Selbstbehalt oder erhalten eine Teil-Rückerstattung ihrer Beiträge. Damit soll die Vermeidung risikoreicher Verhaltensweisen sowie der eigenverantwortliche Umgang mit der eigenen Gesundheit belohnt werden. Dieses auch als „Bonus-Regelung“ bekannte Instrument begünstigt jedoch eindeutig Gesunde und Mitglieder ohne Kinder. Ältere, während chronisch kranke oder ältere Mitglieder, die auf jeden Fall Leistungen in Anspruch nehmen

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müssen, nicht in die Vorteile der Beitragsrückerstattung kommen. Im Ergebnis findet eine Einschränkung des Risikoausgleichs zwischen Gesunden und Kranken statt. Beitragsrückerstattungen führen zu Mindereinnahmen, aber nicht zu Minderausgaben. Untersuchungen haben ergeben, dass von diesem Instrument kaum Steuerungswirkungen in Richtung gesünderen Verhaltens ausgehen. Hinzu kommt ein hoher Verwaltungsaufwand, so dass Beitragssatzanhebungen absehbar sind, die dann vermehrt bei den (chronisch) Kranken anfallen, da diese keine Ausweichmöglichkeiten haben. 12.5 Phasen der Gesundheitspolitik: Kostendämpfung, Strukturveränderungen und Leistungsausweitungen Über viele Jahre hinweg ist versucht worden ist, mit Kostendämpfungsmaßnahmen die Ausgabenzuwächse der GKV zu begrenzen. Zur Leitlinie der Gesundheitspolitik wurde der Grundsatz der „einnahmeorientierten Ausgabenpolitik“: die Ausgaben sollen nicht stärker steigen als die Einnahmen, um den Beitragssatz stabil zu halten und die Lohnnebenkosten zu begrenzen. Auf der Seite der Versicherten waren damit Maßnahmen wie Ausgrenzung von Versicherungsleistungen aus dem Leistungskatalog, Eigenleistungen und Ausweitung von Zuzahlungsregelungen verbunden. Bei den Leistungsanbietern wurden Preismoratorien, Arzneimittelbudget, Globalbudgets, Sektoralbudgets und Vergütungsbegrenzungen eingeführt (und auch wieder zurückgenommen). Nicht zu übersehen ist allerdings auch, dass es neben den Leistungseinschränkungen in einer langen Reihe von Reformgesetzen auch Regelungen getroffen worden sind, die zu kleineren und größeren Strukturveränderungen im Gesundheitssystem geführt haben. Diese lassen sich an dieser Stelle nicht im Einzelnen, sondern – begrenzt auf die Jahre ab 1998 – nur in Stichworten darstellen (vgl. Übersicht VIII.5). Die Gesundheitspolitik der Jahre ab etwa 2015 hat im Zuge der günstigen gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, der kontinuierlichen Steigerung der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisse und damit der Konsolidierung der Haushalte der Sozialversicherungsträger andere Schwerpunkte gesetzt. Seitdem wurden eine ganze Reihe von Gesetzen verabschiedet, die nicht nur die Strukturreformen fortführen, sondern auf mehreren Ebenen auch zu Leistungsausweitungen geführt haben und auch die Leistungsanbieter (Vertragsärzte, Krankenhäuser, Apotheken) begünstigen (vgl. Übersicht VIII.6). Die Krankenkassen müssen Mehrausgaben verkraften. Ob dies in Zukunft zu höheren Zusatzbeiträgen führt, hängt entscheidend davon ab, ob sich die günstige Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt fortsetzt oder ob Beschäftigungseinbußen zu erwarten sind.

Finanzierungsprobleme der gesetzlichen Krankenversicherung

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Übersicht VIII.5 Ausgewählte Gesundheitsreformgesetze 1998 bis 2014 1988 Gesundheitsreformgesetz: Festbeträge für Arznei- und Heilmittel 1992 Gesundheitsstrukturgesetz: freie Kassenwahl, Risikostrukturausgleich 1998 Psychotherapeutengesetz: psychologische Psychotherapeuten als Mitglieder der kassenärztlichen Vereinigungen 1999 GKV-Gesundheitsreform 2000: Hausarztzentrierte Versorgung; Einführung von Fallpauschalen 2001 Gesetz zur Reform des Risikostrukturausgleichs: Ergänzung des RSA um einen Morbiditätsbezug; Einführung strukturierter Behandlungsprogramme 2003 GKV-Modernisierungsgesetz: evidenzbasierte Medizin, erweiterte Kompetenzen des Gemeinsamen Bundesausschusses 2007 GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz: Einführung des Gesundheitsfonds, freie Fusionen von Krankenkassen, Flexibilisierung der Versorgungsstrukturen, Zulassung von Medizinischen Versorgungszentren 2010 Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz: Preisverhandlungen zwischen Kassen und Herstellern bei neuen Präparaten 2010 GKV-Finanzierungsgesetz: Einfrieren des Arbeitgeberanteils, Wahltarife 2011 Versorgungsstrukturgesetz: Neuordnung der Bedarfsplanung in der ambulanten Versorgung, spezialfachärztliche Versorgung 2014 GKV-Finanzstruktur- und Qualitätsweiterentwicklungsgesetz: Festschreibung des allgemeinen Beitragssatzes auf 14,6 % und prozentualer Zusatzbeitrag nur der Mitglieder

Übersicht VIII.6 Ausgewählte Gesundheitsreformgesetze 2015 bis 2019 2015 Gesetz zur Stärkung der Versorgung in der GKV: Verbesserung der ambulanten Versorgung in unterversorgten oder strukturschwachen Gebieten, Weiterentwicklung der Gründungsmöglichkeiten für MVZ, Einrichtung von Terminservicestellen, Einrichtung eines Innovationsfonds, Anspruch auf Zweitmeinung, Ausweitung strukturierter Behandlungsprogramme 2015 Gesetz zur Stärkung der Gesundheitsförderung und der Prävention: Bessere Finanzierung und Förderung von Verhaltens- und Verhältnisprävention, Aufbau einer nationalen Präventionskonferenz und Präventionsstrategie 2015 Gesetz zur Verbesserung der Hospiz- und Palliativversorgung: Ausbau und finanzielle Stärkung der ambulanten und stationären Hospiz- und Palliativversorgung 2015 Krankenhausstrukturgesetz: Pflegestellenförderprogramm, Pflegezuschlag, Einrichtung eines Strukturfonds, Stärkung der Qualitätsorientierung 2017 Gesetz zur Stärkung der Heil- und Hilfsmittelversorgung: Bessere Versorgung mit Heil- und Hilfsmitteln und Weiterentwicklung dieser Leistungsbereiche 2017 Gesetz zur Stärkung der der Arzneimittelversorgung: Anhebung der Apothekervergütung 2018 Gesetz zur Stärkung des Pflegepersonals: Herausnahme der Pflegepersonalkosten aus den Fallpauschalen, Einführung eines Pflegebudgets 2019 MDK Reformgesetz: Medizinischer Dienst der Krankenkassen als eigenständige Körperschaft öffentlichen Rechts 2019 Gesetz für schnellere Termine und bessere Versorgung: Verbesserung der Leistungen und des Zugangs zur ambulanten haus- und fachärztlichen Versorgung

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13

Gesundheit und Krankheit

Reformbedarfe und Reformalternativen

13.1 Normative Grundlagen Die Ausgestaltung der Gesundheitspolitik wird durch Leitbilder und Prinzipien bestimmt. Sozialpolitik beruht immer auf normativen Grundlagen, die nicht nur in die praktische Politik einfließen, sondern auch bei einer wissenschaftlichen Analyse der Politik zur Geltung kommen und explizit formuliert werden sollten, um nicht den Eindruck einer bei der Diskussion von Grundpositionen vermeintlich objektiven Wissenschaft entstehen zu lassen. Wie sich ein Gesundheitsversorgungssystem entwickeln soll, ist deshalb nicht nur auf der Instrumenten- bzw. Steuerungsebene zu diskutieren. Gesellschaftspolitische Zielvorstellungen bestimmen letztlich, welche volkswirtschaftlichen Ressourcen für die Gesundheitsversorgung bereitgestellt werden sollen, welches Maß an Gleichheit realisiert werden soll, wo die Schwerpunkte (Prävention, Rehabilitation, Primärversorgung, Hochleistungsmedizin, soziale Dienste) liegen sollen und aus welchen Finanzierungsquellen die zu erbringenden Mittel gespeist werden sollen. Insgesamt kann festgestellt werden, dass das Gesundheitssystem in Deutschland ein hohes medizinisches und soziales Versorgungsniveau für fast alle Gruppen der Bevölkerung garantiert und zu einer raschen sowie gleichmäßigen Verbreitung des medizinischen Fortschritts beigetragen hat. Auch im internationalen Vergleich schneidet das deutsche System gut ab. Dieses positive Ergebnis ist vor allem bedingt durch das Sachleistungs- und Solidarprinzip der Krankenversicherung. Das Vorhandensein stark divergierender Gesundheitsrisiken geht weniger vom Versorgungssystem aus als von Unterschieden der Bevölkerung in der sozial-ökonomischen Lage und ihrer Stellung im Erwerbsleben. Als grundlegende Prinzipien im Rahmen eines am Sozialstaatspostulat orientierten Gesundheitssystems werden deshalb folgende Punkte genannt: •

Die Gesundheitsversorgung darf nicht von ihren finanziellen Möglichkeiten, ihrem sozialen Status sowie von Geschlecht, Alter und Herkunft abhängen, was direkte Markt-Preis-Beziehungen zwischen Kranken und den Leistungserbringern ausschließt. Bedarfsdeckungs- und Sachleistungsprinzip sind Ausdruck dieser Wertorientierung. Sie sorgen dafür, dass allen Versicherten die im Bedarfsfall erforderlichen medizinischen Dienste und Leistungen uneingeschränkt zur Verfügung stehen. • Die Gesundheitsversorgung hat sich am medizinischen Bedarf der Menschen zu orientieren und darf nicht allein durch ökonomische Kennziffern bestimmt werden. Der Anteil der Gesundheitsausgaben am Sozialprodukt oder die Höhe eines bestimmten Beitragssatzes sind keine aussagekräftigen Größen für die Qualität der Gesundheitsversorgung. Das heißt aber nicht, dass ökonomische Maßstäbe zu vernachlässigen sind. Soweit der Wettbewerb zwischen den Kassen und vor al-

Reformbedarfe und Reformalternativen

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lem der Wettbewerb zwischen den Leistungserbringern zu einer höheren Qualität sowie mehr Effektivität und Effizienz in der Gesundheitsversorgung führt und zu bedarfsgerechten Leistungsangeboten führt, handelt sich um ein wichtiges Steuerungsinstrument. • Die soziale Krankenversicherung mit Pflichtmitgliedschaft verbindet besser als andere Formen, wie z. B. eine freiwillige private Versicherung oder ein staatliches Versorgungssystem, das Ziel eines umfassenden Gesundheitsschutzes mit dem Ziel individueller Freiheit. • Die Finanzierung des Gesundheitssystems erfolgt im Wesentlichen über Versicherungsbeiträge, die paritätisch von Arbeitnehmer:innen und Arbeitgebern aufgebracht werden und sich allein an der Höhe des Einkommens, nicht jedoch am Gesundheitszustand, Alter, Familienstand oder Geschlecht orientieren. Zugleich ist der Anspruch auf die Leistungen unabhängig von der Höhe der gezahlten Beiträge (Solidarprinzip). 13.2 Prävention und integrierte Versorgung Ausgehend von der Einschätzung, dass chronische Krankheiten, Behinderungen, psychische Erkrankungen und Pflegebedürftigkeit heute das Krankheitsgeschehen bestimmen, wird klar, dass sich diese Probleme nicht allein mit dem Einsatz immer anspruchsvollerer Medizintechnik, mit steigenden Ärztezahlen und mit immer mehr Arzneimitteln bewältigen lassen. Immer wichtiger werden demgegenüber Aufgaben wie individuelle und gesellschaftliche Prävention, evidenzbasierte, strukturierte Behandlung in Zusammenarbeit von ärztlichen und nichtärztlichen Gesundheitsberufen und Rehabilitation. Im Vordergrund zukünftiger Gesundheitspolitik sollte deshalb die Integration der vorhandenen Versorgungsangebote stehen. Das betrifft zum einen die Überwindung der Sektorgrenzen zwischen ambulanter und stationärer Versorgung. Verschiedene Ansätze sind erkennbar, sie müssen ausgebaut werden, um eine bedarfsangemessene regionale Versorgung sicherzustellen. Dies setzt auch voraus, die zweigeteilte politische Verantwortlichkeit für den ambulanten Bereich (Bund) und den stationären Bereich (Bundesländer) zusammenzuführen. Integration ist aber auch eine Aufgabe bei der ambulanten Versorgung durch Vertragsärzt:innen. Es gilt die Hausärzt:innen in ihrer Rolle als „gate keeper“ zu stärken. Entsprechende Selektivverträge der Krankenkassen sind auszubauen. Auf die Dauer sind auch die traditionellen Einzelpraxen nur begrenzt überlebensfähig, Die Zusammenarbeit verschiedener Haus- und Fachärzt:innen sowie Krankenhäusern in MVZ zeigt einen Weg auf. Das Krankenhaus ist zwar die medizinisch-technisch am höchsten entwickelte Institution der gesundheitlichen Versorgung, in seinen Aufgaben und Möglichkeiten aber von den vor- und nachgelagerten ambulanten Versorgungsbereichen abhängig.

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Die Trennung zwischen ambulantem und stationärem Sektor führt zu kostentreibenden und gesundheitlich nicht unbedenklichen Mehrfachuntersuchungen. Die fehlende Verknüpfung des Krankenhauses mit den vor- und nachgelagerten Versorgungsbereichen zeigt, dass es keine über das Krankenhauswesen hinausreichende, integrierte Bedarfsplanung von der ambulanten medizinischen bis hin zur pflegerischen und rehabilitativen stationären Versorgung gibt und dass diese Versorgungsbereiche unterschiedlich gesteuert werden. Viele Erfolge der klinischen Hochleistungsmedizin sind wegweisend. Aber entscheidend für die Qualität der Versorgung ist nicht, dass alle Krankenhäuser erhalten bleiben und die jeweils höchsten medizinisch-technischen Standards erreichen, sondern ob Behandlung und Pflege dem dominanten Krankheitsspektrum und den sozialen Bedürfnissen der Patient:innen entsprechen. Erforderlich ist deshalb die Konzentration und stärkere Spezialisierung der Kliniken (z. B. Mindestmengen bei bestimmten Operationen), ohne dass jedoch das Ziel einer ausreichenden Versorgungsstruktur in ländlichen Gebieten aufgegeben wird. Eine hohe Qualität der stationären Versorgung setzt eine ausreichende Personalausstattung in der Pflege voraus. Ausbildung, Gewinnung und Einsatz von Pflegepersonal – dies sind Aufgaben, die die Gesundheitspolitik in den nächsten Jahren zentral bestimmen werden. 13.3 Bürgerversicherung oder Kopfpauschalen Die Debatte über Reformnotwendigkeiten des Gesundheitswesens konzentriert sich seit Jahren auf die Frage nach einer alternativen Finanzierung der Ausgaben. Kritisiert wird zum einen das Nebeneinander von gesetzlicher und privater Krankenversicherung, zum anderen werden aber auch die Finanzierungsprinzipien der GKV als nicht mehr zeitgemäß angesehen. Die Belastung des Arbeitseinkommens mit Arbeitnehmer- und Arbeitgeberbeiträgen führe zu überhöhten Lohn(neben)kosten und wirke von daher beschäftigungsfeindlich. Da bei der Beitragsfinanzierung nur die Löhne, nicht aber weitere Einkommen belastet werden, sei diese Finanzierung nicht nur ungerecht, sondern auch äußerst abhängig von der Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt, von der Zahl der Beschäftigten und der Höhe ihres Einkommens. Kopfpauschalen Der lohnbezogenen Beitragsfinanzierung wird das Modell der Kopfpauschale bzw. der Gesundheitsprämie gegenübergestellt: Jeder erwachsene Versicherte zahlt ohne Berücksichtigung seines Einkommens und seiner finanziellen Leistungsfähigkeit eine gleich hohe Prämie an seine Krankenkasse. Die Höhe der Prämie orientiert sich dabei an den Durchschnittsausgaben pro Versicherten und wird im Zeitverlauf entsprechend der Ausgabenentwicklung stetig angepasst. Die Prämien für Kinder werden vom Staat finanziert. Diejenigen, die aufgrund ihres niedrigen Einkommens finan-

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ziell überfordert sind, die Prämie zu zahlen und eine Belastungsgrenze überschreiten, erhalten vom Bund einen steuerfinanzierten Ausgleich. Das für die GKV maßgebende Solidarprinzip mit seinen systeminternen Umverteilungsprozessen wird danach aufgegeben, der Solidarausgleich obliegt dem Steuersystem. Der Arbeitgeberbeitrag wird abgeschafft und in seiner bisherigen Höhe dem Bruttoeinkommen zuzuschlagen. Die Kosten und Kostensteigerungen des Gesundheitswesens werden damit von den Lohn(neben)kosten abgekoppelt. Die sozialpolitische Bewertung dieses Konzeptes hängt entscheidend von den tatsächlichen Ausgleichszahlungen des Bundes für einkommensschwache Personengruppen ab. Da die erforderlichen Transfers außerordentlich hoch ausfallen (je nach Modell werden (für 2017) Mehrausgaben von bis zu 40 Mrd. Euro geschätzt), dürfte an Steuererhöhungen oder Leistungskürzungen an anderer Stelle kein Weg vorbeigehen. Insofern ist es keineswegs sicher, dass die Ausgleichszahlungen stets verlässlich und in ausreichender Höhe überwiesen werden. Denn auch die These, die Finanzierung über eine Kopfpauschale sei unabhängig von der Konjunktur- und Beschäftigungsentwicklung, ist nicht zu halten, da natürlich auch die Steuereinnahmen und damit die Gesamthöhe des Bundeshaushaltes von der wirtschaftlichen Lage abhängen (vgl. dazu ausführlich Kapitel „Ökonomische Grundlagen und Finanzierung“, Pkt. 4.2). Schließlich ist zu bezweifeln, ob dieser Weg wirklich dem Postulat der Verteilungsgerechtigkeit entspricht. Denn ein Pauschalbetrag führt dazu, dass die prozentuale Belastung des Gesamteinkommens umso geringer wird, je höher das Gesamteinkommen ausfällt. Je nach Höhe der Kopfprämie setzt diese Entlastung bereits vor Erreichen der aktuellen Beitragsbemessungsgrenze ein. Bürgerversicherung Allerdings lässt sich auch das gegenwärtige Finanzierungssystem der GKV aus gleich mehreren Gründen kritisieren. Denn von Verteilungsgerechtigkeit kann auch hier nicht gesprochen werden. Die Beitragsbemessungsgrenze fällt deutlich niedriger aus als in der Renten- und Arbeitslosenversicherung und begünstigt ebenfalls die Besserverdienenden. Und im Unterschied zu den anderen Zweigen der Sozialversicherung gibt es eine Versicherungspflichtgrenze, die es den Arbeitnehmer:innen mit „guten Risiken“ ermöglicht, in die PKV zu wechseln und sich damit dem Solidarausgleich zu entziehen. Es spricht deshalb viel dafür, die Beitragsbemessungsgrenze anzuheben. Das würde auch zu einem positiven Finanzergebnis führen, da lediglich das Krankengeld einkommensabhängig ist und die höheren Einkommensbezieher die Sachleistungen nur durchschnittlich in Anspruch nehmen. Nachteilig könnte es sich auswirken, wenn bislang freiwillig Versicherte wegen der höheren Beitragsbelastung in die PKV abwanderten. Eine parallele Anhebung der Versicherungspflichtgrenze wäre deshalb unverzichtbar. Verteilungspolitisch problematisch ist es auch, dass sich die Beiträge allein auf die Arbeitseinkommen beziehen. Dies begünstigt Personen, die aufgrund von weite-

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ren Einkommen (Kapitalerträge, Einkünfte aus selbstständiger Arbeit, Mieteinnahmen) zwar finanziell leistungsfähig sind, aber deren Zusatzeinkommen belastungsfrei bleibt. Angesichts der Umbrüche in den Beschäftigungsformen (Nebeneinander von abhängiger und selbstständiger Beschäftigung, Ausdehnung der auch grenzüberschreitenden Plattformökonomie) besteht hier ein großer Handlungsbedarf. Zu einer grundlegenden Reform käme es, wenn die Versicherungspflichtgrenze nicht nur angehoben, sondern gänzlich aufgehoben würde. Dies wäre ein Schritt in Richtung einer Bürgerversicherung, die die Dualität von gesetzlicher und privater Krankenversicherung begrenzt und beendet. Von einer Bürgerversicherung kann dann gesprochen werden, wenn der Kreis der sozialversicherungspflichtigen Personen auf alle Gruppen der Bevölkerung, also auch auf Beamt:innen und Selbstständige, erweitert würde. Die privaten Krankenversicherungsunternehmen müssen sich dann auf das Angebot von Zusatzversicherungen beschränken. So konsequent eine Bürgerversicherung im Sinne des Solidarprinzips auch ist, eine Umsetzung könnte realistischer Weise nur schrittweise und wohl auch nur für neue Beamt:innen und Selbstständige erfolgen. Zu entscheiden ist unter anderem: • wie mit den Altersrückstellungen der privat Versicherten umgegangen werden soll, • ob die Beihilfe bei den Beamt:innen entfällt und die Nettoeinkommen durch die dann fälligen Arbeitnehmerbeiträge sinken oder durch höhere Bruttoentgelte ausgeglichen werden, • ob bei der Beitragsbemessung nicht nur wie bislang Löhne und Renten Berücksichtigung finden sollen oder auch Mieten, Kapitaleinkommen und sonstige Einkommen, • über welche Instanz die Beitragserhebung auf der Basis des Gesamteinkommens erfolgen soll. Die Krankenkassen wären dazu kaum in der Lage. Die Beitragserhebung und -berechnung würde in die Nähe einer Einkommensbesteuerung durch die Finanzämter rücken. 13.4 Digitalisierung Im Vergleich zu anderen europäischen Staaten steckt in Deutschland die Digitalisierung auf den unterschiedlichen Feldern des Gesundheitssystems noch in den Kinderschuhen, dürfte in den nächsten Jahren aber rasch voranschreiten. Darin liegt eine Chance, die Gesundheitsversorgung effektiver und effizienter zu gestalten, Kosten einzusparen und die Qualität von Behandlung und Betreuung zu verbessern (zur Pflege vgl. Kapitel „Pflegebedürftigkeit und Pflege“, Pkt. 11.3). Grundvoraussetzung dafür ist, eine einheitliche und verlässliche Telematikinfrastruktur zu errichten, die einrichtungs- und sektorübergreifend alle Leistungsanbieter, die Kassen und die Versicherten bzw. Patient:innen vernetzt, gleichzeitig aber den höchsten Sicherheitsstan-

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dards entspricht und davor schützt, dass sensible Daten gegen den Willen der Versicherten weitgeleitet und womöglich missbraucht werden. Die Anwendung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien bezieht sich auf unterschiedliche Bereiche: • • • •



Bereits praktiziert wird das elektronische Austausch- und Abrechnungsverfahren zwischen Krankenkassen und Leistungserbringern. Die Krankenkassen bieten ihren Versicherten digitale Gesundheitsanwendungen (Apps) an; stehen damit in Konkurrenz zu privaten Betreibern, die dieses Feld schon seit langem besetzt haben. Elektronische Bescheinigungen, Verordnungen und Dokumente (AU-Bescheinigungen, E-Rezepte, Arztbriefe, Medikationspläne) werden die hergebrachte „Zettelwirtschaft“ ergänzen und auf Dauer ablösen. Ganz neue Möglichkeiten bietet die Telemedizin. Durch audiovisuelle Diagnostik, Behandlung und Beratung (Video-Sprechstunde, konsiliarische Befundbeurteilung, Notfalldienst) kann die räumliche Trennung zwischen Arzt und Patient überbrückt werden – mit einem hohen Nutzen für die Versorgung vor allem im ländlichen Raum. Ab Anfang 2021 müssen die Krankenkassen ihren Versicherten eine Elektronische Patientenakte (ePA) anbieten: Anders als die aktuelle elektronische Gesundheitskarte, die als Versicherungsnachweis dient und die im Wesentlichen die Versichertenstammdaten enthält, ist die ePA eine Datenbank, in der die (Vor)Erkrankungen, Behandlungsdaten, Medikamente, Allergien, Diagnosen, Laborwerte, Röntgenaufnahmen usw. sektor- und fallübergreifend gespeichert sind. Ärzte, Krankenhäuser, Notfalldienste, Apotheken, Pflegedienste und -heime können diese gesundheitsbezogenen Informationen bei Bedarf überall und ohne Zeitverlust abrufen. Dies ist nicht nur in Notfällen von hoher Bedeutung, sondern kann auch dazu beitragen, dass Doppeluntersuchungen, Mehrfachdiagnostik (z. B. Röntgen) und Medikationsfehler vermieden werden und Behandlungspläne auf besseren Informationen aufbauen. Entscheidend für die Akzeptanz und Verbreitung der ePA wird sein, dass die Datensicherheit und -schutz gewährleistet ist und dass die Versicherten absolut freiwillig darüber entscheiden können, ob sie sich überhaupt beteiligen, welche Informationen gespeichert werden, welche Leistungserbringer Zugang zu den Informationen erhalten und dass Zugriffsrechte jederzeit widerrufen werden können. Auch muss gewährleistet sein, dass die Leistungserbringer verpflichtet sind, ihren Patienten – wenn erwünscht – die über sie erhobenen Daten in deren ePA bereitzustellen.

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759

Lüngen, M., Büscher, G., Gesundheitsökonomie, Stuttgart 2015. Manzei, A., Schmiede, R. (Hrsg.), 20 Jahre Wettbewerb im Gesundheitswesen – Theoretische und empirische Analysen zur Ökonomisierung von Medizin und Pflege, Wiesbaden 2014. Mielck, A., Soziale Ungleichheit und Gesundheit. Einführung in die aktuelle Diskussion, Bern 2005. Mohan, R. Die Ökonomisierung des Krankenhauses. Eine Studie über den Wandel pflegerischer Arbeit, Bielefeld 2018. Müller, K., Alternde Bevölkerung und gesundheitliche Versorgung, Bern 2013. Oberender, P., Hebborn, A., Zerth, J., Wachstumsmarkt Gesundheit, 2. Auflage, Stuttgart 2006. Preusker, U. K. (Hrsg.), Das deutsche Gesundheitswesen in 100 Stichworten, 2. Auflage, Heidelberg 2015. Reiners, H., Mythen der Gesundheitspolitik, 3. Auflage, Bern 2019. Reiners, H., Privat oder Kasse ? Politische Ökonomie des Gesundheitswesens, Hamburg 2017. Rosenbrock, R., Gerlinger, Th., Gesundheitspolitik – eine systematische Einführung, 3. Auflage, Bern 2014 Schölkopf, M., Pressel, H., Das Gesundheitswesen im internationalen Vergleich, 3. Auflage, Berlin 2017. Schwarz, F. W. u. a. (Hrsg.) Public Health: Gesundheit und Gesundheitswesen, 2. Auflage, München 2013. Siegrist, J., Marmot, M., Soziale Ungleichheit und Gesundheit: Erklärungsansätze und gesundheitspolitische Forderungen, Bern 2008. Simon, M., Das Gesundheitswesen in Deutschland, 6. Auflage, Bern 2017. Simon, M., Von der Unterbesetzung in der Krankenhauspflege zur bedarfsgerechten Personalausstattung, Hans-Böckler-Stiftung, Working Paper 96, Düsseldorf 2018 Specke, H. K., Der Gesundheitsmarkt in Deutschland. Daten – Fakten – Akteure, 3. Auflage, Bern 2005. Strünck, Ch., Spier, T. (Hrsg.), Ärzteverbände und ihre Mitglieder, Wiesbaden 2018. Trabert, G., Waller, H., Sozialmedizin – Grundlagen und Praxis, 7. Auflage, Stuttgart 2013. Wendt, C., Wolf, C., Soziologie der Gesundheit, Wiesbaden 2006.

Regelmäßige Veröffentlichungen Institut Arbeit und Qualifikation, Dauerbaustelle Sozialstaat – Chronologie gesetzlicher Neuregelungen in der Sozialpolitik seit 1998 Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen, darunter • Bedarfsgerechte Steuerung der Gesundheitsversorgung, Gutachten 2018

760

Gesundheit und Krankheit

• Krankengeld – Entwicklung, Ursachen und Steuerungsmöglichkeiten, Sondergutachten 2015 • Bedarfsgerechte Versorgung – Perspektiven für ländliche Regionen und ausgewählte Leistungsbereiche, Gutachten 2014 • Wettbewerb an der Schnittstelle zwischen ambulanter und stationärer Gesundheitsversorgung, Sondergutachten 2012 • Koordination und Integration – Gesundheitsversorgung in einer Gesellschaft des längeren Lebens, Sondergutachten 2009 GKV-Spitzenverband: • Präventionsbericht Wissenschaftliches Institut der AOK: • Arzneiverordnungsreport • Krankenhausreport • Fehlzeitenreport • Versorgungsreport • Qualitätsmonitor • Heilmittelbericht Barmer: • Arztreport • Zahnreport • Arzneimittelreport • Heil- und Hilfsmittelreport • Krankenhausreport • Gesundheitswesen aktuell Techniker: • TK-Gesundheitsreport Gemeinsamer Bundesausschuss/IQTIG: Qualitätsbericht

Zeitschriften Das Krankenhaus Ersatzkassenmagazin Gesundheit und Gesellschaft Gesundheit und Gesellschaft Wissenschaft Gesundheits- und Sozialpolitik

Literaturhinweise

Soziale Sicherheit Sozialer Fortschritt Welt der Krankenversicherung Wirtschaft und Statistik WSI-Mitteilungen Zeitschrift für Sozialreform

761

IX

Pflegebedürftigkeit und Pflege

1

Pflegebedürftigkeit – Abgrenzungen und Dimensionen

1.1

Pflegebedürftigkeit als allgemeines Lebensrisiko

Die Fähigkeit, die Anforderungen des Alltags eigenständig erledigen zu können, d. h. sich um sich selbst zu kümmern, einen Haushalt zu führen, mobil zu sein und soziale Kontakte zu pflegen, ist eine Grundvoraussetzung für ein selbstständiges Leben. Allerdings sind auch im Erwachsenenalter längst nicht alle Menschen dazu in der Lage. Denn infolge von Behinderungen, physischen und psychischen Erkrankungen oder von Unfällen können im Lebensverlauf Situationen auftreten, in denen eine Unterstützung durch andere Menschen erforderlich ist. Das Ausmaß der dabei geleisteten Unterstützung, sei es durch Familienmitglieder, Freunde, Nachbarn oder auch durch professionelle Dienste, weist ein breites Spektrum auf. Es kann sich sowohl um kleinere Hilfen handeln, wie Unterstützung beim Einkauf, Erledigungen von amtlichen Angelegenheiten oder Reinigen der Wohnung, als auch um eine umfassende Versorgung von Bettlägerigen infolge einer Erkrankung. Von dieser Art des Hilfebedarfs ist die Pflegebedürftigkeit zu unterscheiden. Ganz allgemein sind unter Pflegebedürftigkeit dauerhafte körperliche, kognitive oder psychische Beeinträchtigungen der Selbstständigkeit oder der Fähigkeiten zur Selbstversorgung zu verstehen. Die Beeinträchtigungen beziehen sich sowohl auf die Verrichtungen des täglichen Lebens als auch um kognitive Fähigkeiten der kompetenten und selbstverantwortlichen Alltagsgestaltung (eingeschränkte Alltagskompetenz). Häufig treten sie kumulativ auf. Diese dauerhafte Abhängigkeit von personeller Hilfe, im internationalen Sprachgebrauch als Long-Term-Care bezeichnet, lässt sich als das zentrale Merkmal von Pflegebedürftigkeit bezeichnen. Die Belastungen treffen nicht nur die Pflegebedürftigen selbst. Bei einer häuslichen Versorgung und Betreuung berührt der mit dauerhaftem Pflegebedarf verbundene Aufwand (nicht selten rund um die Uhr) das gesamte soziale und insbesondere familiäre Umfeld und kann zu Überforderungen bis hin zur vollständigen Aufgabe der häuslichen Versorgungsfähigkeit und -bereitschaft führen. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 G. Bäcker et al., Sozialpolitik und soziale Lage in Deutschland, https://doi.org/10.1007/978-3-658-06249-1_9

763

764

Pflegebedürftigkeit und Pflege

Pflegebedürftig zu werden und damit auf pflegebedingte Hilfen und Unterstützung angewiesen zu sein, gilt als allgemeines Lebensrisiko, das vor allem sehr alte Menschen betrifft. Angesichts der in mehrfacher Hinsicht schwierigen Lebenslage der Betroffenen zählt deren Unterstützung durch die Bereitstellung ambulanter, teilstationärer und stationärer Dienste und Einrichtungen zu einer zentralen Aufgabe der Sozialpolitik. Gleichermaßen stellt sich die Aufgabe, die pflegenden (nahen) Angehörigen – gleichsam als „zweite Zielgruppe“ – zu begleiten und zu entlasten. Pflegebedürftigkeit beruht auf multifaktoriell verursachten chronischen Erkrankungen oder Behinderungen und gilt dabei als ein Zustand höchster sozialer, psychischer und körperlicher Vulnerabilität, dem meist langjährige Krankheitsprozesse vorausgehen oder durch ein Ereignis, wie z. B. Schlaganfall, ausgelöst werden kann. Die häufigsten Anlässe bzw. Erkrankungen, die zur Pflegebedürftigkeit führen, sind neben Frakturen (häufig nach Unfällen) und Amputationen insbesondere Hirngefäßerkrankungen (Schlaganfälle) und psychische Erkrankungen (Demenzen). Hinzu kommen andere chronische Erkrankungen der inneren Organe und des Bewegungsapparats, schwere rheumatische Erkrankungen sowie Beeinträchtigungen der Sinnesorgane. Dabei handelt es sich nicht um statische Zustände, sondern häufig kommt es zu fließenden Übergängen: In Abhängigkeit von der sich verändernden physischen und psychischen Konstitution der Betroffenen kann aus der Hilfebedürftigkeit eine Pflegebedürftigkeit werden und aus einer leichten eine schwere Pflegebedürftigkeit. Pflegebedürftigkeit ist zu unterscheiden von Krankheit und Behinderung. Nicht jede/r Kranke und Behinderte ist auch zugleich pflegebedürftig aber jede/r Pflegebedürftige ist entweder krank oder behindert. Diese Unterscheidung ist im Einzelfall schwierig und führt zu Abgrenzungsproblemen bei der Kostenträgerschaft zwischen Kranken- und Pflegekassen. Dies macht deutlich, dass sich der Zustand der Pflegebedürftigkeit nicht objektiv bestimmen lässt. Entscheidend ist, welche Kriterien und Maßstäbe angelegt werden. Orientierung bieten in Deutschland die Legaldefinition der im Jahr 1995 eingeführten gesetzlichen Pflegeversicherung (SGB XI) und die daraus abgeleiteten Ansprüche auf Leistungen dieser Versicherung. Pflegebedürftig und anspruchsberechtigt sind danach jene Personen, die die Kriterien der Legaldefinition erfüllen. Je enger die Kriterien gefasst sich – z. B. allein begrenzt auf körperliche Beeinträchtigungen –, desto kleiner die Zahl der Leistungsberechtigten und der statistisch erfassten Pflegebedürftigen. Werden hingegen auch psychische, dementielle Erkrankungen berücksichtigt, vergrößert sich die Zahl. Eine Leistungsberechtigung ist allerdings nicht gleichbedeutend mit einer tatsächlichen Antragstellung. Wie bei anderen Sozialleistungen auch, so ist auch hier von einer Dunkelziffer der Nicht-Inanspruchnahme auszugehen, deren genaues Ausmaß jedoch unbekannt ist. Mit Wirkung von Januar 2017 gilt nach dem SGB XI ein umfassender sozialrechtlich definierter Pflegebedürftigkeitsbegriff. § 14 lautet wie folgt: „Pflegebedürftig (…) sind Personen, die gesundheitlich bedingte Beeinträchtigungen der Selbständigkeit oder der Fähigkeiten aufweisen und deshalb der Hilfe durch andere bedürfen. Es muss sich um Personen handeln, die körperliche, kognitive oder psychische

Pflegebedürftigkeit – Abgrenzungen und Dimensionen

765

Beeinträchtigungen oder gesundheitlich bedingte Belastungen oder Anforderungen nicht selbständig kompensieren oder bewältigen können. Die Pflegebedürftigkeit muss auf Dauer, voraussichtlich für mindestens sechs Monate, und mit mindestens der in § 15 SGB XI festgelegten Schwere bestehen“. (Absatz 1). Der gesetzliche Pflegebedürftigkeitsbegriff ist somit nur partiell kompatibel mit unserem Alltagsverständnis von Pflegebedürftigkeit, denn Menschen können durchaus Hilfe und Unterstützung benötigen, ohne dass ihnen ihre Pflegekasse einen der fünf Pflegegrade (vgl. Pkt. 6.1 dieses Kapitels) zuspricht. Nach jüngeren Schätzungen gilt für mindestens weitere fünf Millionen Menschen, dass sie – zumindest zeitweise – in ihren Aktivitäten des täglichen Lebens eingeschränkt sind. Dies betrifft beispielsweise Menschen, die nur in begrenztem Umfang Hilfe benötigen. Auch Kranke, die z. B. nach einer Krankenhausbehandlung oder wegen eines Unfalls noch für eine gewisse Zeit auf professionelle Pflege angewiesen sind, gelten nicht als pflegebedürftig im Sinne des SGB XI, weil der Pflegebedarf voraussichtlich nicht länger als sechs Monate andauert. Dies trifft auch für Menschen in der Sterbephase zu, wenn sie vorher nicht pflegebedürftig waren. In der Praxis erfolgt die offizielle Feststellung von leistungsauslösender Pflegebedürftigkeit im Rahmen einer Bewertung durch Gutachter:innen des Medizinischen Dienstes bei gesetzlich Versicherten (MdK) und eines privaten Begutachtungsdienstes bei privat Versicherten (vgl. Pkt. 8.1 dieses Kapitels). Damit ist die Leistungsvoraussetzung an die Kostenträger gebunden und nicht – wie in der gesetzlichen Krankenversicherung – an die Leistungsanbieter, d. h. an die behandelnden Ärzte (vgl. Kapitel „Gesundheit und Gesundheitssystem“, Pkt. 6.1). Zu möglichen sozialen Determinanten der Pflegebedürftigkeit liegen nur wenige belastbare Erkenntnisse vor. Zu vermuten ist eine protektive Wirkung von Partnerschaften auf die Vermeidung oder Verzögerung von Pflegebedürftigkeit; auch, dass sich soziale Unterstützungsressourcen positiv auf die Förderung kognitiver Leistungsfähigkeit oder der körperlichen Aktivität bei von Pflegebedürftigkeit bedrohten älteren Menschen auswirken. Soziale Ungleichheiten im Sinne von sozio-ökonomischen Unterschieden, wie dies die sozialepidemiologische Forschung wiederholt für Morbidität und Mortalität nachgewiesen hat (vgl. Kapitel „Gesundheit und Gesundheitssystem“, Pkt. 2.4), lassen zwar Fernwirkungen für das Pflegebedürftigkeitsrisiko vermuten, sind aber bislang nicht hinreichend nachgewiesen. Wohl aber prägen soziale Ungleichheiten die Versorgungsqualität bei eingetretener Pflegebedürftigkeit insbesondere in einkommensschwächeren Haushalten. Letztere sind auch benachteiligt beim Zugang zu Leistungen der Pflegeversicherung, insbesondere wenn diese häufiger beantragt werden müssen. Auch die Chancen für eine Vereinbarkeit von Pflege und Erwerbstätigkeit sind sozial ungleich verteilt. So ist in Familien mit geringerem Einkommen die Wahrscheinlichkeit höher, die eigene Erwerbsarbeit zu verringern oder ganz aufzugeben. Zudem haben es Pflegepersonen in niedrigen beruflichen Statuspositionen schwerer, betriebliche Unterstützungsmöglichkeiten (z. B. hinsichtlich einer Arbeitszeitflexibilisierung) durchzusetzen (vgl. Pkt. 3.1. dieses Kapitels).

766

1.2

Pflegebedürftigkeit und Pflege

Pflegebedürftigkeit und Demenz

Der Pflegebedürftigkeitsbegriff von 2017 hat das seit 1995 geltende, ausschließlich verrichtungsbezogene Pflegebedürftigkeitskonzept abgelöst, das mittels der sog. ADLSkala (Activities of Daily Living) den Grad der individuellen Pflegebedürftigkeit ermittelt hat. Bezugsgröße war die Schwere der Hilfebedürftigkeit bei „gewöhnlich und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen des täglichen Lebens“ (wie hinsichtlich An- und Auskleiden, Körperpflege, Benutzung der Toilette, Essen und Trinken oder Fortbewegung). Gemessen wurde in drei Stufen (erheblich, schwer- und schwerstpflegebedürftig). Diese Verrichtungsorientierung hat dazu geführt, dass die Belange von Menschen mit kognitiven Einschränkungen, wie vor allem Demenzen, nicht angemessen berücksichtigt wurden. So können Demenzkranke beispielsweise noch sehr lange Verrichtungen des täglichen Lebens selbst durchführen, aber sich und andere durch unachtsamen Umgang oder Vergesslichkeit gefährden oder Weglauftendenzen zeigen. Pflegebedürftig heißt nicht dement, aber Demenz führt fast zwangsläufig zu Pflegebedürftigkeit. 2017 hatten ca. 45 % aller Pflegebedürftigen eine eingeschränkte Alltagskompentenz, zumeist in Form von Demenzerkrankungen. Geschätzt wird, dass ein Drittel der Männer und die Hälfte der Frauen im Laufe ihres Lebens dement werden. Von den aktuell verstorbenen Dementen waren nur etwa 10 % nicht pflegebedürftig. Demenz ist ein auf neurodegenerativen Prozessen basierendes Syndrom. Man unterscheidet primäre (90 %) und sekundäre Demenzen (10 %). Zu den ersten zählen als häufigste Form die Alzheimer-Demenz mit geschätzten 60 bis 70 %, des Weiteren die vaskuläre/gefäßbedingte Demenz mit geschätzten 15 % bis 20 %. Insgesamt steigt ihre Prävalenz jeweils mit dem Schweregrad von Pflegebedürftigkeit. Das Auftreten von Demenz ist eindeutig an ein hohes Alter gebunden. Ihr Leitsymptom sind kognitive Veränderungen, vor allem Gedächtnisverlust, verbunden mit weiteren Symptomen wie Stimmungsschwankungen, Desorientierung, herausfordernde Verhaltensweisen und Sprachprobleme. Demenzen verursachen längere und intensivere Pflegeverläufe, die Pflege selbst ist gegenüber der Normalpflege deutlich zeitaufwändiger. Zudem ist eine höhere Inanspruchnahme von professionell erbrachten Pflegeleistungen erforderlich, was insgesamt zu deutlich höheren Pflegekosten führt. Die genaue Zahl der an Demenz Erkrankten kann nur geschätzt werden, für 2019 ist von 1,5 bis 1,7 Mio. auszugehen. Unter Status-quo-Bedingungen werden für 2030 1,8 Mio. und für 2060 2,5 Mio. erwartet. Der Anteil der Demenzerkrankten an der Gesamtbevölkerung würde sich damit innerhalb von 50 Jahren etwa um das Zweieinhalbfache von heute 1,5 % auf dann 3,8 % erhöhen. Der weitaus größte Teil von ihnen wird derzeit zu Hause versorgt, aber der Anteil der Heimbewohner:innen fällt überproportional hoch aus.

Pflegebedürftigkeit – Abgrenzungen und Dimensionen

1.3

767

Prävalenzen und Strukturdaten

Seit Einführung der Pflegeversicherung hat sich die Zahl der Leistungsempfänger:innen mehr als verdoppelt: Sie stieg von 1,55 Mio. in 1996 auf rund 3,7 Mio. Ende 2018 (vgl. Abbildung IX.1). Auffällig ist der starke Anstieg in den Jahren 2017 und 2018 gegenüber 2016. Dies ist wesentlich Folge der Neufassung des Pflegebedürftigkeitsbegriffs. Die Zahl der Pflegebedürftigen hängt somit im hohen Maße auch davon ab, welche Personen als leistungsberechtigt gemäß SGB XI anerkannt werden. Jenseits der Ausweitung des Pflegebedürftigkeitsbegriffs spiegelt die Entwicklung aber auch wider, dass die Zahl der älteren Menschen in den zurückliegenden Jahren zugenommen hat. Von Bedeutung ist hierbei vor allem die Entwicklung der Zahl der sehr alten Menschen (vgl. Kapitel „Alter“, Pkt. 2.1). Zu fragen ist deshalb nach der Häufigkeit des Auftretens (Prävalenzen). Diese können als individuelles Risiko von Pflegebedürftigkeit im Sinne einer Pflegewahrscheinlichkeit und damit unabhängig von der altersstrukturellen Entwicklung interpretiert werden (Pflegewahrscheinlichkeit). Die so ermittelte Pflegequote, das ist der Anteil der Pflegebedürftigen an der Bevölkerung insgesamt, liegt 2017 bei etwa über 4 % – gegenüber etwa 3,0 % in 2010 bzw. 2,5 % in 2000.

3.339.179

3.500.000

2.749.201

2.665.109

2.479.590

2.396.654

2.315.436

2.287.799

2.235.221

2.113.485

1.969.392

1.951.953

1.925.703

1.895.417

1.888.969

1.839.602

1.826.362

1.822.169

1.738.118

1.061.418

1.000.000

1.546.746

1.500.000

1.659.948

2.000.000

2.029.285

2.500.000

2.568.936

3.000.000

3.685.389

Abbildung IX.1 Leistungsempfänger:innen in der sozialen Pflegeversicherung 1995 – 2018 (ohne private Pflegeversicherung)

500.000

0

1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018

Quelle: Bundesministerium für Gesundheit (2019), Zahlen und Fakten zur Pflegeversicherung.

768

Pflegebedürftigkeit und Pflege

Die Mehrheit (63 %) der Pflegebedürftigen sind Frauen (vgl. Abbildung IX.2). Dass Pflegebedürftigkeit zu einem hohen Ausmaß weiblich ist, heißt nicht, dass Frauen es häufiger sind, sie sind es aber länger. Vor allem nach dem 80. Lebensjahr steigt die Prävalenzrate bei Frauen deutlich an. Dies hängt insbesondere mit ihrer längeren ferneren Lebenserwartung und der starken Bindung von Pflegebedürftigkeit an sehr hohes Alter zusammen. Zudem ist ihre Pflegeschwere geringer. Der überdurchschnittlich hohe Frauenanteil in der stationären Versorgung (vgl. Pkt. 2.2 dieses Kapitels) erklärt sich u. a. damit, dass viele ältere Frauen ihren (Ehe-)Partner überlebt haben und Alleinleben bei Pflegebedürftigkeit nur mit sehr großem Aufwand zu realisieren ist. (Sehr) hohes Alter ist die zentrale Determinante von Pflegebedürftigkeit. Insofern spiegelt das Ausmaß von Pflegebedürftigkeit stets auch die Altersverteilung einer Gesellschaft wider. Allerdings gibt es keinen altersabhängigen Automatismus. Altwerden bedeutet nicht zwangsläufig pflegebedürftig zu werden bzw. zu sein. Dennoch zeigt Abbildung IX.3, dass bei einem durchschnittlichen Eintrittsalter von etwa 79 Jahren die Pflegewahrscheinlichkeit bei den 15 bis unter 60jährigen nur bei 0,8 % liegt (betroffen sind knapp 400 000), sie aber in der Altersgruppe zwischen 80 und

Abbildung IX.2 Pflegebedürftige und Pflegequote* 1999 – 2017, insgesamt und nach Geschlecht 4,1

Pflegequote

3.414.378

Insgesamt

4.000.000 3,5

3.500.000

3,3 3,1 2,9

3.000.000

2.500.000

2,5

2.016.0…

2,5

2.039.7…

2,5 2.076.9…

2,6

2.128.5…

2.000.000 631.822

641.881

662.893

690.272

2.860.2…

2,7 2.501.4… 2.246.8…

728.946

2.338.2…

771.770

1.267.918

2.626.2…

1.028.434 863.163

Männer

928.869

1.500.000

1.000.000

500.000

0

1.384.269 = 68,7%

1.397.899

1.414.042

1.438.278

1.517.883

1.566.482

1.638.278

1.697.337

1999

2001

2003

2005

2007

2009

2011

2013

1.831.859

2.146.460 = 62,8%

Frauen

* Pflegebedürftige gemäß SGB XI in Prozent der Bevölkerung/Jahresende. Quelle: Statistisches Bundesamt (2018), Pflegestatistik 2017.

2015

2017

Pflegebedürftigkeit – Abgrenzungen und Dimensionen

769

85 Jahren bereits auf 23,3 % und bis auf 44,5 % bei den 85 und 90jährigen steigt. Für die 90jährigen und Älteren liegt sie dann sogar bei knapp 71 %. Diese Altersabhängigkeit von Pflegebedürftigkeit erklärt sich zweifach: einmal über die alterstypisch höhere Krankheitslast (u. a. Multimorbidität) (vgl. Kapitel „Gesundheit und Gesundheitssystem“, Pkt. 2.2), zum anderen aber auch über weitere, ebenfalls stark altersassoziierte Faktoren wie problematische soziale Lebenslage, geringeres psychisches Wohlbefinden und subjektive Gesundheit sowie Geschlecht oder zunehmend über die Einflüsse ungesteuerter (Mehrfach-)Medikation. Wesentliches Merkmal ist weiterhin die alterstypische häufige Überlagerung von chronischdegenerativen und psychischen Erkrankungen (vor allem Demenzen), womit kognitive Einschränkungen verbunden sind. Pflegebedürftigkeit ist somit alles andere als ein Einzelschicksal, sondern ein allgemeines Lebensrisiko vor allem für sehr alte Menschen, dem in einer alternden Gesellschaft bzw. in einer Gesellschaft des langen Lebens besondere Bedeutung zukommt. Allerdings muss Pflegebedürftigkeit nicht zwangsläufig dauerhaft (Einbahnstraße) bleiben. Vor allem jüngere Pflegebedürftige haben eine – wenn auch geringe – Chance wieder aus dem Leistungsbezug auszuscheiden. Die Dauer der Pfle-

Abbildung IX.3 Pflegebedürftige* und Pflegequoten nach Altersgruppen 2017 am Jahresende, in Tsd. und in % der jeweiligen Bevölkerung

Pflegequote (rechte Achse)

Pflegebedürftige in Tsd.:

161,3

in Heimen versorgt 600

194,5

70,7

zu Hause versorgt

500

510,3

In Tsd.

104,9

469,9 45

44,5

400 37,7

380,1

355,6

328,3

300

30 23,3 46,1

200 33,9 24,1

100

0

185,1

15

11,5

145,3 6,4

106,6 3,8

0,2 1,0 37,4

0,8

unter 15

15 - 60

2,4 60 - 65

65 - 70

70 - 75

75 - 80

Im Alter von ... bis unter ... Jahren

Quelle: Statistisches Bundesamt (2019), Pflegestatistik 2017.

80 - 85

85 - 90

90 und mehr

0

In % der Bevölkerung des jeweiligen Alters

60 215,8

770

Pflegebedürftigkeit und Pflege

gebedürftigkeit selbst ist stark an die Art der sie begleitenden Erkrankungen gebunden. Pflegebedürftige mit Schlaganfällen und hüftgelenknahen Frakturen haben längere Überlebenschancen als Personen mit Demenzerkrankungen, Herzinsuffizienz, Herzinfarkt oder mit Krebs. Trotz der Bindung von Pflegebedürftigkeit an ein sehr hohes Alter gilt das Risiko – wenn auch nur sehr begrenzt – auch für jüngere Altersgruppen. In Deutschland waren 2013/2014 ca. 75 000 Kinder unter 15 Jahren pflegebedürftig im Sinne des SGB XI. Das entsprach einem Anteil von knapp 3 % an allen Pflegebedürftigen. Des Weiteren galten zum gleichen Zeitpunkt 130 000 Kinder als schwerbehindert im Sinne des SGB IX. Die Betroffenen werden fast ausnahmslos (99,5 %) in ihrer Häuslichkeit betreut, versorgt und gepflegt, in aller Regel durch ihre Mütter. Aufgrund des höheren Komplexitätsgrades gilt die Pflegebedürftigkeit von Kindern aber als nicht vergleichbar mit der von Älteren oder Hochbetagten, zumal auch die typischen Krankheitsanlässe für sie andere sind als bei den Älteren. Alterstypische Demenzen und Schlaganfälle sind deutlich seltener, dafür sind Lähmungen, Intelligenzminderungen, Epilepsie, allgemeine Entwicklungsstörungen und Downsyndrome häufiger. Aus den divergierenden Krankheitsprofilen resultiert auch ein anderes Anforderungsprofil an das jeweilige Versorgungssetting. Prävention, Rehabilitation und sozio-emotionale Unterstützung sind zwar auch für Ältere zentral, jedoch für Kinder in ganz besonderer Weise bedeutsam. Die Zahl der Pflegebedürftigen mit Migrationshintergrund ist in den letzten Jahren deutlich angestiegen. Wie bei den Älteren wirkt auch hier die demografische Alterung der Bevölkerung ein. Verlässliche Zahlen liegen zwar nicht vor, da die Pflegestatistiken nicht den Migrationshintergrund erfassen. Nach Praxisberichten ähnelt aber der Anteil der Pflegebedürftigen mit Migrationshintergrund dem in der Gesamtbevölkerung. Allerdings liegt das Durchschnittsalter für Pflegebedürftigkeit in dieser Gruppe mit geschätzten 62 Jahren deutlich niedriger. Auch mit Blick auf die Versorgungsorte sind die Unterschiede auffällig: Heimpflege gibt es nahezu kaum, die Betroffenen werden fast ausschließlich zu Hause von ihren Angehörigen gepflegt. Es besteht allerdings weitgehend Einigkeit, dass die Grenzen der ausschließlichen häuslichen Versorgung bald erreicht sind und dass künftig ein wachsender Bedarf vor allem an ambulanter professioneller Unterstützung besteht, der auf eine kultursensible Pflege innerhalb wie jenseits der für die einheimische Bevölkerung bestehenden Angebote zielt. Demgegenüber ist die Nachfrage nach Plätzen in ethnisch-kulturell ausgerichteter stationärer Pflege ausschließlich für Migrant:innen aktuell noch sehr gering.

Art und Orte der pflegerischen Versorgung

2

771

Art und Orte der pflegerischen Versorgung

Mehr als drei Viertel der Pflegebedürftigen gemäß SGB XI (76 % bzw. 2,6 Mio.) wurden Ende 2017 zu Hause versorgt, in Pflegeheimen lebten zum gleichen Zeitpunkt nur 24 % aller Pflegedürftigen (0,82 Mio.) (vgl. Abbildung IX.4). Diese Verteilung zugunsten der häuslichen Pflege hat sich mit der Neufassung des Pflegebedürftigkeitsbegriffs noch stark zugunsten der häuslichen Pflege ausgeweitet, und zwar von etwa 68 % in 2015 auf 76 % Anfang 2018, zugleich hat sich der Anteil der stationär Gepflegten von 32 % auf 24 % verringert. Von den zu Hause Versorgten waren zu rund 60 % Frauen, knapp ein Drittel war 85 Jahre und älter. Zu etwa einem Drittel (32 % bzw. 0,83 Mio.) wurden häusliche Gepflegte durch professionelle ambulante Pflegedienste unterstützt. In Pflegeheimen lebten mit 70 % deutlich mehr Frauen und mit einem Anteil von etwa 50 % (85+) deutlich mehr sehr alte Menschen. Auch steigt die Wahrscheinlichkeit, stationär versorgt zu werden, erwartungsgemäß mit dem Pflegegrad, also der Schwere der Pflegebedürftigkeit.

Abbildung IX.4 Pflegebedürftige 2017 nach Art der pflegerischen Versorgung und nach Pflegegraden 3,4 Mio. Pflegebedürftige insgesamt zu Hause versorgt: 2,6 Mio. Personen = 76,0%

ausschließlich durch Angehörige: 1,77 Mio. Pflegebedürftige 56,4%

in Heimen versorgt: 0,82 Mio. Personen = 24,0%

Zusammen mit/durch am bulante Pflegedienste: 0,83 Mio. Pflegebedürftige 47,7%

29,5%

39,6% 31,5%

29,5% 11,3%

I

II

III

IV

29,4% 29,4%

21,3% 21,3%

16,2%

13,2%

3,0%

4,5%

V

I

5,0% II

III

IV

V

0.9% 0,9 % I

II

III

IV

V

Pflegegrade

Pflegegrade

14.100 Pflegedienste mit 390.000 Beschäftigten

14.500 Pflegeheime mit 730.000 Beschäftigten

Pflegegrade

Quelle: Statistisches Bundesamt (2019), Pflegestatistik 2017.

772

2.1

Pflegebedürftigkeit und Pflege

Häusliche Pflege

In der häuslichen Pflege dominiert die informelle Pflege zumeist durch engste Angehörige, darunter meist (Ehe-)Frauen, Töchter oder Schwiegertöchter. Nachbar:innen, Freunde oder Bekannte sind demgegenüber nur selten beteiligt. Damit wird der überwiegende Teil der privaten Pflegeleistung durch die Kernfamilie erbracht, darunter weit überwiegend von Frauen. Pflegende Angehörige gelten als „der größte Pflegedienst Deutschlands“. Allerdings wird häufig übersehen, dass jede siebte private Pflegeperson dies vollständig allein tut. Die lange Zeit sehr seltene Pflege durch Männer scheint sich zumindest im Rentenalter allmählich auszuweiten, wenn auch gegenüber den Frauen auf einem deutlich niedrigen Niveau (mit niedriger Pflegeintensität, eine Stunde täglich). In der Regel sind Männer hauptsächlich am Management und der Organisation der Pflege beteiligt. Häusliche Pflege wird häufig zuerst vom Partner/der Partnerin übernommen. Mit zunehmendem Alter des/r Pflegebedürftigen fühlen sich dann mehr und mehr die Kinder, meistens die Töchter, im Sinne einer lebenslangen Solidarität zuständig. Schwiegerelternpflege ist demgegenüber deutlich seltener verbreitet. In der Mehrheit der Fälle lebt die Hauptpflegeperson in einem gemeinsamen Haushalt mit dem/r Pflegebedürftigen, dies gilt für Fälle mit hohen Pflegegraden fast ausschließlich. Angehörige der niedrigeren Bildungsgruppen und/oder Milieus sind aufgrund der bei ihnen noch stärker verbreiteten familiären pflegekulturellen Orientierung in der unmittelbaren häuslichen Pflege überrepräsentiert; aber auch, weil sie sich professionelle Unterstützung seltener finanziell leisten können. Entsprechend der Altersstruktur der Pflegebedürftigen wird häusliche Angehörigenpflege mehrheitlich von selbst bereits älteren Frauen für (z. T. noch) ältere Angehörige erbracht. Dem entspricht ein Durchschnittsalter der pflegenden Angehörigen von etwa 60 Jahren. Aufgrund der steigenden Erwerbsquote auch in den Altersgruppen ab 45/50 gewinnt das neue Vereinbarkeitsproblem von Pflege und Beruf eine bis dahin ungeahnte Dynamik und hat sich zu einem der drängendsten sozialen Probleme in der Altenpflege entwickelt, das zunehmend auch die Arbeitswelt herausfordert (vgl. Pkt. 3.1 dieses Kapitels). Die häusliche Pflege älterer Menschen ist seit Jahren mit immer anspruchsvolleren Voraussetzungen konfrontiert, die wesentlich mit dem demografischen und sozialen Wandel erklärt werden können. Neben dem Rückgang des familiären Pflegepotenzials aufgrund der niedrigen Geburtenraten, wachsender Kinderlosigkeit Älterer, der Zunahme von Ein-Personenhaushalten älterer Menschen und Instabilität von Ehen und Partnerschaften schränkt auch die steigende Frauenerwerbsarbeit die familiären Unterstützungs- und Pflegebereitschaftspotenziale ein, zumal Männerpflege noch sehr selten ist. Hinzu kommt, dass infolge der gestiegenen beruflichen und räumlichen Mobilität die Wohnorte von Familienmitgliedern weit auseinanderliegen können.

Art und Orte der pflegerischen Versorgung

773

Übersicht IX.1 Wer sind die Pflegebedürftigen und die Hauptpflegepersonen in privaten Haushalten ? Pflegebedürftige • weiblich: 60 % (ab 80 Jahre 71 %), • älter als 80 Jahre: 48 % (Durchschnittsalter 71,3 Jahre), • verwitwet: 38 % (allerdings starke geschlechtsspezifische Unterschiede), • leben mit Partner*in: 38 % (allein 34 %), • mit Pflegegrad 2: 52 %, • Pflege erfolgt durch eigene Kinder: 37 %, durch Partner*in 32 %). Hauptpflegepersonen • weiblich: 68 %, • älter als 55 Jahre: 68 % (älter als 80 Jahre 10 %), • verheiratet: 73 %, • leben im gleichen Haushalt wie die pflegebedürftige Person: 61 %, • nicht erwerbstätig: 65 %, • im erwerbsfähigen Alter: (16 – 64 Jahre), • Teil- bzw. Vollzeitbeschäftigung: 56 %, • pflegen allein: 32 %, mit einer weiteren Person: 28 %, mit mehr als 2 Personen: 31 %. Quelle: TNS Infratest Sozialforschung, 2017.

Übersicht IX.2 Häusliche Pflege Pflegeaufwand und Bedarfslagen • 85 % kümmern sich täglich um die pflegebedürftige Person, davon die Hälfte mehr als 12 Stunden, 77 % pflegen mehr als 2 Jahre. • Hauptpflegepersonen übernehmen in der Regel mehrere Aufgaben (z. B. Körperpflege, Unterstützung bei der Mobilität, emotionale Unterstützung und Betreuung, Hilfe im Haushalt). • 60 % wünschen sich in mindestens einem Aufgabenbereich weitere Hilfen. • 55 % der Hauptpflegepersonen haben niemanden, der/die sich eine oder mehrere Wochen um die pflegebedürftige Person kümmert. 25 % können nur mit Schwierigkeiten eine Vertretung organisieren. • 39 % haben keine Möglichkeit, sich jederzeit mit eigenem seelischem Leid an jemanden zu wenden. Pflegebedingte Belastungen • 85,7 % kommen nach eigenen Angaben „meistens“ oder „immer“ gut mit der Pflege zurecht. Dennoch: • 49 % der Pflegenden klagen über psychische Leiden bzw. Belastungen. • 22 % finden, dass die Pflege ihre körperliche Gesundheit „meistens“ oder „immer“ beeinträchtigt. • 40 % schätzen ihre Gesundheit allgemein als „weniger gut“ oder sogar „schlecht“ ein. • 37 % geben an, keine Zeit für Erholung und Freizeit zu haben. • 50 % geben an, nur „manchmal“ oder „nie“ Zeit für Kontakte zur Familie, Freunden und Nachbarn zu haben. • 28 % beklagen fehlende Unterstützung durch die Familie, 28 % durch Freunde und 16 % durch Pflegedienste. • Häufig kommt es zur Kumulation unterschiedlicher Belastungsarten. Quelle: Barmer Versichertenbefragung 2018.

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Pflegebedürftigkeit und Pflege

Die empirisch in vielen Studien belegte Bandbreite der physischen wie psychischen Belastungen einer dauerhaften häuslichen Pflege lässt erahnen, welchen hohen Anforderungen sich familiäre Pflegebereitschaft heute stellen muss und warum diese immer stärker an effektive und nachhaltige materielle, professionelle wie zivilbürgerschaftliche Unterstützung gebunden ist. Der Pflegeaufwand steigt dabei erwartungsgemäß mit dem Pflegegrad. Berichtet werden u. a. ein z. T. hoher Zeitaufwand, Verantwortungsübernahme häufig rund um die Uhr, psychosoziale Belastungen wie Schuld-, Scham- oder Ekelgefühle, pflegebedingte Kontaktverluste nach außen, emotional stark beanspruchende Pflege bei kognitiven Beeinträchtigungen, zahlreiche Stressoren für übrige Angehörige sowie kaum Zeit für das eigene Privatleben. Der durchschnittlich für die tägliche Pflege erbrachte Zeitaufwand der Hauptpflegeperson entspricht dem eines Vollzeit-Arbeitstags. „Sich in die eigene Pflegebedürftigkeit hinein zu pflegen“, ist eine weit verbreitete Umschreibung der Belastungsdimensionen zumeist selbst bereits älterer und alter privater Hauptpflegepersonen. Dem entspricht, dass nach Schätzungen knapp 200 000 Pflegepersonen, die heute Angehörige pflegen, kurz davorstehen, damit aufhören zu wollen und/oder müssen. Andererseits kann häusliche Pflege auch mit positiven Konsequenzen verbunden sein. Viele Beziehungen wandeln sich zum Guten. Beispiele dafür sind das Gefühl, gebraucht zu werden, die Erkenntnis, neue Fähigkeiten erworben zu haben oder die aus einer starken lebenslangen emotionalen Zuwendung resultierende moralische Verpflichtung, jetzt die Mutter/den Vater nicht allein lassen zu wollen. Es ist bemerkenswert, dass die familiärePflege trotz aller Probleme in den zurückliegenden Jahren ständig an Bedeutung gewonnen hat. Ein Grund dafür liegt in der Ausrichtung der Leistungen der Pflegeversicherung. Durch die Zahlung von Pflegegeld, die Bereitstellung von ambulanten Pflegediensten, die Finanzierung einer häuslichen Verhinderungspflege (Urlaubs-/Krankheitsvertretung) sowie durch die Möglichkeit, Einrichtungen der teilstationären Pflege (Tages- und Nachtpflege sowie Kurzzeitpflege) in Anspruch zu nehmen, wurde und wird gezielt auf eine Stärkung der häuslichen Pflege abgestellt. Hinzu kommt, dass für nicht erwerbsmäßig tätige Pflegepersonen Rentenversicherungsbeiträge gezahlt werden (vgl. Pkt. 6.2 dieses Kapitels). Zwischen 1999 und 2017 hat sich der Anteil der häuslich Gepflegten leicht, aber kontinuierlich erhöht (vgl. Abbildung IX.5). Trotz des wachsenden Bedarfs an professioneller Unterstützung erhält aber nur rund jeder dritte Pflegehaushalt eine ergänzende Hilfe durch einen der insgesamt zugelassenen rund 14 200 professionellen Pflegedienste (Anfang 2018). Dabei handelt es sich überwiegend um ambulante sowie um Verhinderungspflege (vgl. Pkt. 6.2 dieses Kapitels). Die Nachfrage steigt laufend, allein gegenüber 2015 um fast 20 %, was als ein Indiz für eine wachsende Überlastung der privaten Pflegepersonen insbesondere im Falle gleichzeitiger Berufstätigkeit gelten kann. Es ist vor allem die Generation der jüngeren Hauptpflegepersonen, die professionelle Unterstützung nachfragen, weniger dagegen die Generation der pflegenden (Ehe-)Partner:innen.

Art und Orte der pflegerischen Versorgung

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Abbildung IX.5 Pflegebedürftige nach Art der Versorgung 1999 – 2017 3.414.378

3.500.000

3.000.000

2.860.293 2.626.206 2.501.441

2.500.000

2.000.000

2.016.091

2.039.780

2.076.935

562.762 = 27,9%

591.901 = 29,0%

623.182 = 30,0%

2.128.550 657.516 = 30,9%

1.500.000

1.000.000

415.289 = 20,6%

434.679 = 21,3%

450.126 = 21,7%

471.543 = 22,2%

1.027.591 = 51,0%

1.000.736 = 49,1%

986.520 = 47,5%

980.425 = 46,1%

2.246.829 686.082 = 30,5%

504.232 = 22,4% 1.033.286 = 46,0%

2.338.252 717.490 = 30,7%

555.198 = 23,7%

1.065.564 = 45,6%

743.120 = 29,7%

576.264 = 23,0%

1.182.057 = 47,3%

764.431 = 29,1%

615.846 = 23,5%

1.245.929 = 47,4%

783.416 = 27,4%

692.273 = 24,2%

Heimversorgung 829.958 = 24,3% Häusliche Versorgung ergänzt durch Pflegedienste 1.764.904 = 51,7%

1.384.604 = 48,4%

500.000

0

Insgesamt

818.289 = 24,0%

Häusliche Versorgung ausschließlich durch Angehörige 1999

2001

2003

2005

2007

2009

2011

2013

2015

2017

Quelle: Statistisches Bundesamt (2019), Pflegestatistik 2017.

Allerdings ist das Ausmaß professioneller Unterstützung gering: 90 % des für die Versorgung aufgebrachten Zeitaufwandes wird von der Hauptpflegeperson und nur etwa 10 % von professionellen Diensten abgedeckt, hier sind es meist weniger als 30 Minuten täglich. 24-Stunden-Pflege Ein erst in jüngster Zeit zunehmend bedeutsam gewordenes Pflegearrangement betrifft die Beschäftigung von im Pflegehaushalt lebenden Hilfskräften (sog. Live-inArrangements). Bei dieser sog. 24-Stunden-Pflege ist durch die Anwesenheit rund um die Uhr auch in der Nacht eine Versorgung sichergestellt. Die Pflegeversicherung bezahlt das aber nicht. Anspruch besteht allein auf das Pflegegeld, das je nach Pflegegrad gestaffelt ist (vgl. Pkt. 6.1 dieses Kapitels). Erfolgt eine reguläre Beschäftigung – hier wird der private Haushalt gleichsam zum Arbeitgeber – fallen erhebliche höhere Kosten an, die bis zu 8 000 Euro und mehr im Monat reichen können, da mehrere Kräfte sich diese Arbeit teilen müssen und die sozial- und arbeitsrechtlichen Regelungen zu beachtet sind (Mindestlohn, Arbeitszeitgesetz, Entgeltfortzahlung, Urlaubsansprüche usw.). Das kann sich kaum jemand leisten. Deshalb besteht ein hoher Anreiz, eine Betreuungskraft oder mehrere Betreuungskräfte illegal zu beschäftigen (Schwarzarbeit, Scheinselbstständigkeit), was aber mit erheblichen strafrechtlichen und finanziellen Risiken verbunden ist.

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Pflegebedürftigkeit und Pflege

Als Alternative gewinnt die Beschäftigung von Kräften aus dem EU-Ausland im Rahmen des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes zunehmend an Bedeutung. Weit überwiegend handelt es sich um Frauen aus Osteuropa (vor allem aus Polen), die hier für eine begrenzte Zeit und abwechselnd zum Einsatz kommen. In der Praxis wird Kontakt zu einer der vielen deutschen Vermittlungsagenturen (private Anbieter wie auch einige Wohlfahrtsverbände) aufgenommen, die sich wiederum an eine Agentur in Polen wendet. Zwischen der polnischen Agentur und dem/r Pflegebedürftigen (bzw. den Angehörigen) wird ein Dienstleistungsvertrag geschlossen. Da die Betreuungskraft nicht die Vertragspartnerin ist, richtet sich die Bezahlung an die polnische Agentur. Wie hoch dann der ausgezahlte Lohn ausfällt, bleibt offen. Allerdings gilt für die Beschäftigung das deutsche Arbeitsrecht, hier insbesondere das Arbeitszeitgesetz und der Mindestlohn. Schon die Bezeichnung der Arbeitskräfte als 24-Stunden-Pflegekräfte belegt aber, dass dies mit den geltenden Arbeitszeitvorschriften unvereinbar ist. Zudem handelt es sich nicht um ausgebildete Pflegekräfte. Unkontrolliert bleibt auch, ob tatsächlich der deutsche Mindestlohn bezahlt wird. Obwohl genauere Zahlen nicht vorliegen, gehen Schätzungen für 2017 von mindestens 300 000 bis 400 000 solcher Care-Migrant:innen aus, eher vorsichtigere Schätzungen von mindestens jedem zwölften Pflegehaushalt. Diese Form der CareMigration ist auch nicht nur auf Deutschland begrenzt, sondern hat bereits europaweit grenzüberschreitende Wanderungsbewegungen in Gang gesetzt (z. B. aus der Ukraine nach Polen, vor allem um dort die Lücken der in Deutschland beschäftigten polnischen Betreuungskräfte zu füllen). Dies gilt auch für südeuropäische Länder mit einem gering ausgebauten professionellen Pflegesystem (z. B. Pflegemigrant:innen aus Rumänien in italienischen oder aus dem Spanisch sprechenden Südamerika in privaten Pflegehaushalten in Spanien). 2.2

Stationäre Pflege

Anfang 2018 lebten rund 24 % der Pflegebedürftigen in einem der rund 14 500 Pflegeheime (vgl. Pkt. 7.1 dieses Kapitels). Es handelt sich weitüberwiegend um Schwerund Schwerstpflegebedürftige durchweg sehr hohen Alters, in stark wachsendem Ausmaß unter ihnen Menschen mit demenziellem Pflegebedarf. 70 % der Heimbewohner:innen waren Frauen, darunter zumeist Alleinstehende (verwitwet, ledig und geschieden). Nicht überraschend ist der ebenfalls hohe Anteil von Älteren, die keine Kinder (mehr) haben, d. h. diese Bewohner:innen können nicht auf häusliche Pflege durch engste Angehörige zurückgreifen. In der Konsequenz sind Singularisierung und Feminisierung des Alters (vgl. Kapitel „Alter“, Pkt. 2.2) heute wichtige Determinanten auch für die stationäre Pflege geworden. Migrant:innen bilden (immer noch) eine seltene Ausnahme unter den Bewohner:innen. Ein hoher Anteil der Heimbewohner:innen wird aus den Akutkrankenhäusern übernommen. Im Unterschied zum Krankenhaus ist die Wohndauer in den Pflegeheimen recht hoch. Durch die Er-

Vereinbarkeit von Erwerbstätigkeit und Pflege

777

höhung des Durchschnittsalters der Bewohner:innen hat sich in den letzten Jahren aber auch hier die Wohndauer verkürzt. Die Wahrscheinlichkeit, dass Pflegebedürftige in einer stationären Pflegeeinrichtung versorgt werden, hängt im hohen Maße vom Lebensalter ab. In der Altersgruppe 75 – 80 Jahren lag 2018 der Anteil der Heimbewohner:innen bei rund 22 %, und in der Altersgruppe 90 Jahre bei 39,7 % (vgl. Abbildung IX.3). Dies zeigt aber auch, dass der überwiegende Teil der Pflegebedürftigen selbst im sehr hohen Alter häuslich versorgt wird. Es kann also keine Rede davon sein, pflegebedürftige Angehörige würden ins Heim abgeschoben. Klagen über eine rückläufige Pflegebereitschaft der Familien und eine unzureichende Motivation zur häuslichen Pflege sind nicht begründet. Die Übersiedlung in eine stationäre Einrichtung erfolgt heute in aller Regel erst dann, wenn auf Grund des hohen Grades der Pflegebedürftigkeit und/oder aufgrund fehlender häuslicher Versorgungsmöglichkeiten keine andere Wahl mehr bleibt. Dies kommt fast immer einer Einbahnstraße gleich: Eine Rückkehr in eine Form selbstständigen Wohnens findet so gut wie nie statt. Für die weitaus meisten wird das Pflegeheim somit zur letzten Station vor dem Tod. Demgegenüber ziehen rüstige ältere Menschen schon seit langem nicht mehr in ein Heim – es sei denn, sie können und wollen sich ein privates, sehr teures Altenwohnstift mit hohem Prestigewert leisten. Andererseits gilt es aber auch zu bedenken, dass nicht selten bei bestimmten Lebensverhältnissen und bei besonders beeinträchtigenden gesundheitlichen Umständen der Umzug in ein Heim eine sozialpolitisch sinnvolle Alternative sein kann. Hier professionell gepflegt zu werden, kann auch dazu dienen, mehr Eigenständigkeit zu bewahren und die nicht mehr zumutbaren isolierten Lebensbedingungen (sehr häufig allein) zu Hause durch neue anregungsintensivere und bedarfsgerechte Lebensund Versorgungsbedingungen zu tauschen. Das klassische Pflegeheim kann in solchen Fällen eine wichtige Funktion übernehmen und den neuen Lebensmittelpunkt des/r Bewohners/in stellen. Die medizinische Versorgung von Heimbewohner:innen unterscheidet sich nicht von der für Pflegebedürftige, die zu Hause wohnen. Der Sicherstellungsauftrag der kassenärztlichen Vereinigungen gilt uneingeschränkt; auch für die Bewohner:innen von Pflegeheimen gilt die freie (Zahn-)Arztwahl. Andererseits gibt es bereits Heime mit einem eigenen Heimarzt. Mit dem Pflege-Personalstärkungsgesetz (2019) wird diese Soll-Bestimmung nunmehr in eine Muss-Bestimmung überführt, d. h. die stationären Pflegeeinrichtungen sind seither verpflichtet, Kooperationsverträge mit geeigneten vertrags(zahn-)ärztlichen Leistungserbringern zu schließen.

3

Vereinbarkeit von Erwerbstätigkeit und Pflege

Immer mehr private Pflegepersonen müssen die häusliche Pflege eines Angehörigen mit gleichzeitiger Erwerbstätigkeit vereinbaren. Betroffen sind vor allem Frauen. Es geht hier um eine Dreifachbelastung durch Familie, Beruf und Pflege. Auf wie viele

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Pflegebedürftigkeit und Pflege

Personen dies zutrifft, ist nicht genau bekannt. Schätzungen gehen von mindestens 10 % aller Hauptpflegepersonen aus. In der Altersgruppe 45 bis 65 gelten 60 % von ihnen als berufstätig, darunter die meisten (häufig notgedrungen) in Teilzeit. Unbekannt ist auch die Zahl der „Long-distance-Carer“ unter ihnen. Mit der Notwendigkeit der beruflich-regionalen Mobilität der Kindergeneration steigt die Unterstützung naher Angehöriger aus der Ferne. Allerdings sind Unterscheidungen zu treffen: zunächst zwischen Branchen und Betrieben, dann mit Blick auf innerfamiliäre Verantwortlichkeiten. Erwerbstätige Pflegepersonen sind weit überwiegend weiblich, verheiratet, zwischen 45 und 65 Jahren alt sowie beruflich höher qualifiziert. 3.1

Anforderungen von Arbeitswelt und Pflege im Konflikt

Die Vereinbarkeit von Berufstätigkeit und Pflege ist extrem voraussetzungsvoll. Vergleiche zur Betreuung und Versorgung von Kindern sind kaum möglich, denn Kinderbetreuung, z. B. im Krankheitsfall, ist in der Regel zeitlich begrenzt, zudem gibt es hier die gesetzliche Möglichkeit der Freistellung von der Arbeit (vgl. Kapitel „Familie und Kinder“, Pkt. 9.2). Demgegenüber lassen sich kaum generelle Aussagen über die zeitliche, physische und psychische Beanspruchung durch familiäre Dauerpflegetätigkeit und auch nicht über die jeweilige Situation der Betroffenen an ihrem Arbeitsplatz treffen. Studien belegen aber, dass eine nicht nur leichte instrumentelle Hilfe im Haushalt des/r Angehörigen, sondern eine regelmäßige, tägliche Pflege im Umfang mehrerer Stunden unter den Bedingungen des traditionellen Normalarbeitsverhältnisses (Vollzeitarbeit) sehr schnell zur Überforderung und Überlastung der Hauptpflegeperson führt. Dies gilt auch dann, wenn ambulante, professionelle Dienste die häusliche Pflege unterstützen. Rund drei Viertel der Betroffenen schätzen derzeit ihre Situation als „eher“ bzw. „sehr schlecht“ ein, bleiben aber dennoch vor allem aus finanziellen Gründen weiter berufstätig. Der Grad der Beanspruchung und Belastung hängt zunächst von Art, Intensität, Entwicklungsverlauf und Dauer der Hilfs- und Pflegebedürftigkeit des/r Angehörigen ab. Zudem haben die persönlichen, familiären, finanziellen und gesundheitlichen Bedingungen der Hauptpflegepersonen sowie die Qualität der Unterstützung durch weitere Personen eine entscheidende Bedeutung für das Pflegearrangement. Unterstützung durch die Männer ist zwar häufiger, bezieht sich aber auch hier eher auf Management- und Organisationsaufgaben. Zwischen den beiden Bereichen Pflege und Beruf besteht eine Wechselwirkung, d. h. die Berufstätigkeit selbst wiederum wirkt auf die objektive wie subjektive Beanspruchung durch die Pflege zurück, d. h. auf Art und Intensität der Pflege, auf die Belastung bzw. das Belastungsempfinden sowie auf die familiären und finanziellen Rahmenbedingungen. Diese müssen allerdings nicht zwangsläufig nur als zusätzlich belastend empfunden werden, sondern wird in vielen Fällen sogar als entlastend im Sinne von Abwechslung („Man kann mal abschal-

Vereinbarkeit von Erwerbstätigkeit und Pflege

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ten“, „man kommt mal auf andere Gedanken“) oder wegen emotionaler Unterstützung durch Kolleg:innen etc. erlebt. Nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Alterung des Erwerbspersonenpotenzials und des Fachkräftebedarfs gilt eine vollzeitnahe Beschäftigung möglichst vieler als zunehmend wichtiges gesellschaftliches und arbeitsmarktpolitisches Ziel. Andererseits gilt häusliche Dauerpflege – im Gegensatz zur Kindererziehung – immer noch vielfach als ein Tabu-Thema, das möglichst privat zu regeln ist. Entsprechend gering ist auch das betriebliche Lösungspotenzial. Angebote richten sich – wenn überhaupt – auf eine flexiblere Gestaltung von Arbeitszeit, -organisation und -ort (Teilzeit, Job-Sharing, Tele- und Heimarbeit sowie auf z. T. gesetzlich und/oder tarifvertraglich abgesicherte Freistellungsregelungen). Seltener ist die Bereitstellung von betrieblichen Serviceleistungen (z. B. entlastende Hilfen bei der Haushaltsführung), anderer Vermittlungs- und Beratungsangebote oder die Schulung von Vorgesetzten und Mitarbeiter:innen. Derartige betriebliche Unterstützungsangebote werden aber zumeist nur von qualifizierten Beschäftigten genutzt, deren Einforderungs- und Durchsetzungspotenzial zudem größer ist. Studien belegen einen hohen Grad von Nicht-Inanspruchnahme auch bei gesetzlich und/oder tarifvertraglich zugesichertem Anspruch, vor allem aus Furcht vor negativen Folgen am und für den Arbeitsplatz, vor allem bei Angehörigen niedriger betrieblicher/beruflicher Statusgruppen. Die Möglichkeit zur Verkürzung und Flexibilisierung der Arbeitszeit ist eine wichtige Maßnahme zur Bewältigung des Alltags von berufstätigen Pflegepersonen. Sie gilt vielen als naheliegende Option, setzt aber ein positives Arbeitsklima unter Kolleg:innen und vor allem Vorgesetztenunterstützung voraus. Dabei sind Lage und Verteilung der Arbeitszeit entscheidend. Denn die Zeitrhythmen und Anforderungsstrukturen der Pflege sind durch zwei Elemente charakterisiert: Durch Konstanz und Berechenbarkeit zum einen sowie durch die Notwendigkeit zur Flexibilität zum anderen. Spontane, bei Zwischenfällen oder Krisen auftretende Nachfrage nach privaten Hilfeleistungen zu Hause kann im Rahmen eines Arbeitsverhältnisses oftmals nur schwer befriedigt werden. Andererseits müssen Dauer und Lage der Arbeitszeit verlässlich sein, um die Abstimmung mit den familiären und pflegerischen Erfordernissen und den Zeitstrukturen der pflegerischen Dienste erst möglich zu machen und um den/ die pflegebedürftige/n Angehörige/n human und verantwortlich betreuen zu können. Bei unvorhersehbaren Ereignissen (akuter Krankheitsfall, Arztbesuche, Ausfall sozialer Dienste oder anderer familiärer Pflegepersonen usw.) muss die Chance bestehen, die Arbeitszeit diesen Veränderungen auch kurzfristig anzupassen. Die häufig bis auf die Minute geplante Organisation der Vereinbarkeit kann schnell ins Wanken geraten. Absentismus, d. h. verspätetes Eintreffen am Arbeitsplatz bzw. früheres Verlassen oder Arbeitsunterbrechungen sind häufige Folgen; ebenfalls geringe Teilnahmemöglichkeit an berufsnahen Veranstaltungen wie Fort- und Weiterbildung oder die Mitwirkung in der betrieblichen und gewerkschaftlichen Interessenvertretung. Ein Blick auf die Konsequenzen einer unzureichend gelösten Vereinbarkeitsproblematik zeigt, wie schwierig es in der Praxis ist, diese dreifachen Anforderungen zu

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Pflegebedürftigkeit und Pflege

realisieren. Viele Frauen geben ihren angestammten Arbeitsplatz auf, wechseln auf eine flexible, aber unterwertige Teilzeitarbeit und hier insbesondere auf einen Minijob oder geben dann doch ihre Berufstätigkeit vorzeitig auf, wobei das Pflegegeld gerade bei Erwerbstätigkeiten im niedrigen Einkommensbereich dazu noch Anreize gibt. Negative Folgen für die eigene Alterssicherung sind die Regel. Die Konsequenzen betreffen auch das kollegiale Umfeld und insgesamt den Betrieb. Wird das neue Vereinbarkeitsthema nicht betriebsoffiziell angegangen, sind nicht nur Konflikte zwischen Kolleg:innen, sondern auch betriebliche Folgekosten z. B. durch Ausfallzeiten, geringere Leistungen, Motivationsverluste und dgl. sehr wahrscheinlich. Diese Befunde deuten an, dass die traditionelle Lösung der Pflegeproblematik – Frauen unterbrechen ihre Erwerbstätigkeit oder geben sie ganz auf bzw. verzichten auf eine Wiederaufnahme der Erwerbstätigkeit – einerseits zwar noch weit verbreitet ist, aber an Selbstverständlichkeit verliert. Der Fachkräftebedarf könnte hier ein weiterer wichtiger Katalysator für bessere Alternativen sein. Die Notwendigkeit steigt, die Arbeitswelt nicht nur kinderfreundlich, sondern auch pflegefreundlich zu gestalten. 3.2

Gesetzliche Regelungen zur leichteren Vereinbarkeit

Wenn es darum geht, die häuslich-familiäre Versorgung pflegebedürftiger Menschen auch in Zukunft zu sichern und eine frühzeitige stationäre Unterbringung zu begrenzen, muss nach Wegen gesucht werden, die es den Angehörigen ermöglichen, nachteilsfrei berufstätig zu sein und auch zu bleiben. Dazu sind in den letzten Jahren unterschiedliche arbeitsrechtliche Regelungen in Kraft getreten, die aber insgesamt ohne große Wirkung geblieben sind: • Arbeitnehmer:innen haben nach dem Pflegezeitgesetz einen Anspruch auf Volloder Teilfreistellung von bis zu sechs Monaten mit vollem Rückkehrrecht, wenn sie eine pflegebedürftige oder einen pflegebedürftigen nahen Angehörige/n in häuslicher Umgebung pflegen. Dieser Anspruch auf vollständige oder teilweise Freistellung besteht auch für die Begleitung von nahen Angehörigen in der letzten Lebensphase. Einen Anspruch auf Pflegezeit haben aber Beschäftigte gegenüber Arbeitgebern nur mit mehr als 15 Beschäftigten. Für 2017 liegt eine Schätzung des Statistischen Bundesamtes vor, die von 72 000 Nutzer:innen ausgeht. • Die Familienpflegezeit sieht einen Anspruch auf eine Teilfreistellung mit einem garantierten Rückkehrrecht auf die vorherige Vollzeittätigkeit von bis zu 24 Monaten vor, wobei die verbleibende wöchentliche Arbeitszeit mindestens 15 Stunden betragen muss. Dieser Anspruch besteht gegenüber Arbeitgebern mit mindestens 25 Beschäftigten. • Alle Beschäftigte, unabhängig von der Betriebsgröße, haben einen Anspruch auf eine kurzfristige Arbeitsverhinderung mit einer Auszeit von bis zu zehn Arbeits-

Alternative und innovative Wohn- und Versorgungsformen

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tagen, wenn dies erforderlich ist, um eine bedarfsgerechte Pflege für eine nahe Angehörige oder einen nahen Angehörigen zu organisieren oder eine pflegerische Versorgung in dieser Zeit sicherzustellen. Für diese Auszeit wird ein auf bis zu zehn Arbeitstage begrenztes Pflegeunterstützungsgeld gezahlt, das (analog zum Kinderkrankengeld) 90 % des wegfallenden Nettoentgelts abdeckt. Dabei handelt es sich um eine Entgeltersatzleistung der Pflegekassen. Die Ansprüche auf eine Pflegezeit und eine Familienpflegezeit können miteinander kombiniert werden. Es ist auch möglich, dass sich mehrere Angehörige die Pflege teilen – nacheinander oder parallel. Die maximale Dauer ist jedoch auf 24 Monate begrenzt. Als nahe Angehörige gelten vor allem Großeltern und Eltern, Schwiegereltern, Ehegatten, Geschwister und Kinder. Obgleich die Möglichkeit zu einer Pflegezeit schon seit 2008 existiert und die zu einer Familienpflegezeit seit 2012, fehlen exakte Informationen über ihre Nutzung. Ein Meldeverfahren ist nicht vorgesehen, und repräsentative Studien liegen (noch) nicht vor. Alle Anzeichen deuten aber darauf hin, dass die Nutzung äußerst gering ist. So rechnete die Bundesregierung für das Jahr 2018 mit lediglich 6 750 Personen. Ein entscheidender Grund für diese Bedeutungslosigkeit ist, dass es bei den Freistellungs- bzw. Teilzeitansprüchen keine Einkommensleistungen analog zum Elterngeld gibt. Zwar kann ein zinsloses Darlehen des Bundes aufgenommen (Pflegedarlehen) werden, aber die Rückzahlungsverpflichtung nach dem Ende der Pflegezeit/Familienpflegezeit wirkt eher abschreckend. Seit 2015 wurde diese Möglichkeit von noch nicht einmal 1 000 Personen genutzt (bei anfangs knapp 10 000 erwarteten Anträgen). Dafür gibt es noch einen weiteren Grund: Die Begrenzung des Rechtsanspruchs auf Personen in Betrieben mit mehr als 15 bzw. 25 Beschäftigten ist gleichbeutend mit einem Anschluss eines Großteils der Frauen. Denn etwa 17 % aller Arbeitnehmer:innen arbeiten in Betrieben mit weniger als 20 Beschäftigten und 44 % in Betrieben mit weniger als 20 Beschäftigten. Bekanntlich sind Frauen in den Kleinbetrieben besonders stark vertreten.

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Alternative und innovative Wohn- und Versorgungsformen

Die häusliche Pflege in den eigenen vier Wänden gilt unter älteren Menschen als die am häufigsten präferierte Wohnform selbst bei Pflegebedürftigkeit und entspricht auch ganz generell den Wohnwünschen und -bedürfnissen der weitaus meisten älteren Menschen. Erst im sehr hohen Alter nehmen die Präferenzen für die Option „Wohnen und Leben im Heim“ zu, was auch als Ausdruck einer realistischeren Selbsteinschätzung der Grenzen, weiter selbstständig zu Hause wohnen zu können, interpretiert werden kann. Dennoch wird ein Umzug in ein Heim im Regelfall immer nur als äußerste Notlösung in Betracht gezogen.

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Pflegebedürftigkeit und Pflege

Um diese Option präventiv zu vermeiden, werden häufig – in der Regel noch im vorpflegerischen Bereich – altersgerechte, d. h. barrierefreie Wohn- und Wohnumfeldanpassungen vorgenommen, die dank einer alterskompatiblen baulichen wie technischen Ausstattung eine überwiegend selbständige Haushalts- und Lebensführung auch bei leichteren Graden von Hilfe- und Pflegebedürftigkeit ermöglichen. „Altersgerechtes barrierefreies Wohnen“ ist nicht klar definiert, das Kuratorium Deutsche Altershilfe (KDA) versteht darunter eine Wohnung, die nicht nur „weitgehend barrierefrei/-reduziert ist, sondern auch ein barrierefreies/-reduziertes Wohnumfeld“ umfasst, d. h. die „ortsnahe Verfügbarkeit wesentlicher Infrastruktureinrichtungen sowie soziale und pflegerische Unterstützungsangebote“. Von einer barrierefreien/ -reduzierten Wohnung wird ausgegangen, wenn bestimmte Mindeststandards eingehalten werden. Allerdings erfüllen nur weniger als 2 % des gesamten privaten Wohnungsbestandes diese Voraussetzungen. Die Zahl explizit die Anforderungen als altengerecht und barrierefrei erfüllender Wohnungen wird aktuell bundesweit auf etwa 700 000 geschätzt, in denen nur etwas mehr als 5 % der älteren Menschen leben. Einer stationären Wohnform noch am nächsten kommt das betreute Wohnen, auch Service Wohnen genannt. Dabei handelt es sich um einen Sammelbegriff für unterschiedlich organisierte Kombinationen von Wohnen, Betreuung und Pflege. Im Regelfall wird eine derartige Wohnform gemietet, manchmal auch als Wohneigentum erworben. Betreute Wohnungen befinden sich üblicherweise in einer eigenständigen Wohnanlage, aber häufig angeschlossen an ein nahes rein stationäres Wohnangebot. Das Wohnen ist hier auf eine professionelle Betreuung ausgelegt, allerdings ohne ständige Anwesenheit des Betreuungs- und Pflegepersonals. Im Regelfall gibt es vertragliche Vereinbarungen mit einem Pflegedienst. Betreutes Wohnen hat insbesondere in den 1990er Jahren einen enormen Aufschwung erlebt und sich seither zu einer quantitativ bedeutenden Wohnalternative für ältere Menschen im vorpflegerischen Bereich entwickelt. Allerdings liegen genaue Zahlen aktuell nicht vor. Auch wohngemeinschaftliche Lösungen zielen auf selbstständiges Wohnen zumeist noch vor der Pflegebedürftigkeit. Dazu zählen insbesondere Mehrgenerationenhäuser sowie meist selbst organisierte Wohngemeinschaften mit anderen älteren Menschen. In ihnen leben in der Regel mehrere Generationen, d. h. Junge und Alte, unter einem Dach und unterstützen sich gegenseitig. Seniorenwohngemeinschaften umfassen das gemeinschaftliche Wohnen von in der Regel nicht miteinander verwandten Älteren ebenfalls unter einem Dach. Dabei werden notwendige Hilfen bei Betreuungs- und Pflegebedarf gemeinschaftlich organisiert. Auch hierzu ist die Datenlage ungenau, bundesweit ist aktuell jedoch von weniger als 1000 von derartigen Wohnprojekten auszugehen. Seit 2015 stärkt das Pflegestärkungsgesetz I (PSG I) die Senioren-Wohngemeinschaften auch offiziell als alternative Wohnformen im Alter. Unmittelbar auf pflegedürftige ältere Menschen zielen demgegenüber die in jüngster Zeit zahlenmäßig stark zunehmenden ambulant betreuten Wohngemeinschaften (abWG), die zwischen der Versorgung in der eigenen Häuslichkeit und einer vollstationären Versorgung angesiedelt sind und als sinnvolle Ergänzungen zur statio-

Alternative und innovative Wohn- und Versorgungsformen

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nären Versorgung gelten. Sie richten sich vor allem auf gemeinschaftliches Wohnen von Menschen mit Demenz oder von Behinderten und gelten als erfolgreiche und zudem kostengünstige Modelle für alternative Versorgungsformen in der Langzeitpflege, vor allem dort, wo keine stationären Einrichtungen in der Nähe sind, wie vielfach in ländlichen Regionen. Neben den Stadtstaaten werden sie insbesondere im Osten Deutschlands verstärkt angeboten. Bundesweit können sie sich auf breit getragene Präferenzen unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen stützen, zunehmend auch der älteren Bevölkerung selbst. Sie genießen hohe Sympathiewerte vor allem wegen ihrer Wohnortnähe, dem Bezug zu bekannten Sozialräumen, ihrer Familienund Alltagsnähe sowie nicht zuletzt der kleinen Gruppengrößen. Häufig sind sie selbst organisiert, in der Regel – als Bestandteileil des Konzeptes – arbeiten auch Angehörige und nahe Bekannte ehrenamtlich mit. Es bestehen aber stets Kooperationsverträge mit örtlich nahen Pflegediensten, die häufig sogar ihre Träger sind. In den meisten Fällen beteiligen sich die Pflegekassen mit Zuschüssen (vgl. Pkt. 6.2 dieses Kapitels). Die Trägerschaften sind privat organisiert, kommunal oder freigemeinnützig, manchmal auch privat-gewerblich. Obwohl sie sich besonders für genossenschaftliche Organisationsformen eignen würden, ist diese Lösung eher selten. Ursprünglich stark auf die neuen Länder und auf die Stadtstaaten konzentriert, haben sie sich mittlerweile auch in der Fläche etabliert. Im Durchschnitt lebten bis zu 12 Personen in einer von geschätzt über 2 000 abWG mit etwa 12 000 Plätzen (2016). Neuere alternative pflegerische Versorgungskonzepte zielen auf eine umfassende Neuorganisation im Sinne eines Pflege- und Versorgungsmixes vor allem auf kommunaler Ebene. Da sich der komplexe Hilfe- und Versorgungsbedarf bei Pflegebedürftigkeit nicht ausschließlich auf eine medizinisch-pflegerisch-therapeutische Versorgung beschränken lässt, sondern eine breit gefächerte Hilfe und Pflege auch in allen übrigen betroffenen Lebensbereichen erfordert, werden Gesamtversorgungskonzepte im Rahmen von „caring communities“ vorgeschlagen, die auch unter dem Begriff der sorgende Gemeinschaften firmieren. Sie sollten idealerweise im Rahmen von Quartiersansätzen und -arbeit organisiert sein und sich durch die gelungene Kombination von professionellen Hilfen, institutionellen Angeboten, bürgerschaftlicher Unterstützung und nachbarschaftlicher wie familiärer Unterstützung auszeichnen. Sorgende Gemeinschaften entstehen aber nicht im Selbstlauf, sondern müssen als Alternativentwürfe professionell organisiert und stabilisiert werden. Im Kern handelt es sich dabei um traditionelle gemeinwesenbezogene Arbeitsansätze aus der sozialen Arbeit, angewendet auf die Bewältigung des steigenden Pflegebedarfs. Vorausgesetzt wird eine sorgende Grundhaltung innerhalb und außerhalb des Quartiers, die erst einmal hergestellt werden muss. Der 7. Bundesaltenbericht von 2017 sieht darin eine primäre Aufgabe der Kommunen im Rahmen ihres Daseinsvorsorgeauftrags. Angesichts wachsender sozialer Differenzierungen auch des Alters, zunehmender sozialer Segregation in den Kommunen, der vielerorts immer noch bestehenden kommunalen Finanzknappheit und der grundsätzlichen Schwierigkeit, bei sog. harten sozialen

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Pflegebedürftigkeit und Pflege

Problemlagen auch praktische Solidarität dauerhaft und nachhaltig umzusetzen, ist damit aber ein hochvoraussetzungsvoller Zukunftsentwurf skizziert, der den flächendeckenden Praxistest erst noch bestehen muss (vgl. auch Kapitel „Soziale Dienste“, Pkt. 8.3).

5

Absicherung des Pflegerisikos durch die Pflegeversicherung

Pflegebedürftigkeit ist kein neues Phänomen, sie war schon seit 1961 im damaligen Bundessozialhilfegesetz (heute SGB XII) als „besondere Lebenslage“ geregelt und fiel damit auch finanziell mit in den Zuständigkeitsbereich kommunaler Haushalte (Sozialhilfe als Ausfallbürge). Doch die sozialstaatliche Absicherung als allgemeines Lebensrisiko ist erst sehr spät erfolgt. Die gesetzliche Pflegeversicherung trat 1995 als neuer Zweig der Sozialversicherung stufenweise in Kraft und beendete damit eine mehr als zwanzigjährige Auseinandersetzung um das Für und Wider seiner Einführung. Neben der Frage des „Ob überhaupt“ konzentrierte sich die Diskussion vor allem auf das „Wie“ und die damit verbundenen unterschiedlichen Ausgestaltungsund Steuerungsfunktionen. Von den vorrangig diskutierten Optionen konnte sich schließlich die eigenständige Sozialversicherungslösung (außerhalb der GKV) gegenüber dem Leistungsgesetz und einer privaten Sicherungslösung durchsetzen. Die Einführung der Pflegeversicherung in wirtschaftlich wie politisch schwierigen Zeiten war ein sozialpolitischer Erfolg. Denn damit gelang – auf Basis eines breiten gesellschaftlichen Konsenses – eine substanzielle Erweiterung des bestehenden Sozialversicherungssystems zur sozialen Absicherung eines zunehmend bedeutsamen sozialen (Alters-)Risikos. 5.1

Ziele, Prinzipien und Konstruktionsmerkmale

Die Absicherung des Pflegerisikos erfolgt durch die gesetzliche Pflegeversicherung, die im Buch XI des Sozialgesetzbuches geregelt ist. § 8 SGB XI postuliert sie als eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe und sieht die pflegerische Versorgung der Bevölkerung in gemeinsamer Verantwortung von Ländern, Kommunen, Pflegeinrichtungen und Pflegekassen darin, eine „leistungsfähige, regional gegliederte, ortsnahe und aufeinander abgestimmte ambulante und stationäre Versorgung der Bevölkerung zu gewährleisten“. Dabei haben die Bundesländer die Infrastrukturverantwortung (allerdings de facto nur begrenzt; vgl. Pkt. 6.3 dieses Kapitels) und die Pflegekassen den Sicherstellungsauftrag (vgl. Pkt. 8.1 dieses Kapitels), während die Rolle der Kommunen u. a. aufgrund unterschiedlicher Kompetenzen in den einzelnen Bundesländern nicht einheitlich definiert ist und immer wieder in Konkurrenz mit dem Sicherstellungsauftrag der Kassen gerät (vgl. Pkt. 8.1 dieses Kapitels; Kapitel „Soziale Dienste“, Pkt. 5.1.1).

Absicherung des Pflegerisikos durch die Pflegeversicherung

785

Pflegebedürftigen ist Hilfe zu leisten, wenn diese wegen der Schwere der Pflegebedürftigkeit auf die solidarische Unterstützung der Versichertengemeinschaft angewiesen sind. Ziel ist es, ihnen trotz Hilfebedarfs ein selbstständiges und selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen, d. h. Pflegebedürftige sollen möglichst lange in der gewohnten häuslichen Umgebung verbleiben können. Als Grundvoraussetzung dafür gilt ein örtlich vorzuhaltendes umfassendes Unterstützungs- und Versorgungsangebot in der höchstmöglichen Qualität, Transparenz und Erreichbarkeit unter Beachtung des Prinzips der Trägervielfalt. Zugleich sollen die Wunsch- und Wahlrechte der Pflegebedüftigen möglichst berücksichtigt und spezifische Bedürfnisse aufgrund von Geschlecht, Religionszugehörigkeit, sexueller Identität und ethnisch-kulturellem Hintergrund beachtet werden. Mit ihren Leistungen zielt die Pflegeversicherung vorrangig auf die häusliche Pflege und die Förderung und Stützung der Pflegebereitschaft. Ehepartner:innen, Familienmitglieder und ehrenamtliche Pflegepersonen sollen mit in die Pflege einbezogen werden. Diesem Ziel dient auch die Einführung eines sozialen Schutzes für pflegende Angehörige (Renten- und Unfall- und seit 2017 auch der Arbeitslosenversicherung bei pflegebedingter Berufsaufgabe). Ein hoher Stellenwert kommt ferner der Prävention und Rehabilitation zu. Darüber hinaus sollten durch die beitragsfinanzierten Leistungen der Versicherung die Kommunen von pflegebedingten Sozialhilfeausgaben entlastet und die Pflegebedürftigen vom Rückgriff auf die Sozialhilfe befreit werden. Vor Einführung der Pflegeversicherung waren ca. 80 % der stationär, d. h. in Heimen und dgl. untergebrachten Pflegebedürftigen auf Leistungen aus der Sozialhilfe (Hilfe zur Pflege) angewiesen. Die hohen Kosten für die Heimunterbringung konnten aus den Alterseinkommen nur noch teilweise aufgebracht werden. In dem Maße, wie die Sozialhilfe für immer mehr pflegebedürftige Menschen de facto zur Regelsicherung wurde, stieg auch die Belastung der kommunalen Haushalte. Zudem war nicht länger zu begründen, warum im Unterschied zur sozialversicherungsrechtlichen Absicherung von Krankheit das Risiko der Pflegebedürftigkeit als Folge von Krankheit und Behinderung privat zu finanzieren sei und Leistungen der Sozialhilfe nur bei Bedürftigkeit, d. h. nach vollem Einsatz des eigenen Einkommens und Vermögens sowie unter Berücksichtigung der Unterhaltsverpflichtungen von Eltern bzw. Kindern, erfolgten (vgl. Kapitel „Einkommen“, Pkt. 6.4). Die gesetzliche Pflegeversicherung umfasst die gesamte Bevölkerung und zwar nach dem Grundsatz: „Die Pflegeversicherung folgt der gesetzlichen Krankenversicherung“. Alle krankenversicherungspflichtigen Personen, Arbeitnehmer:innen, Bezieher:innen von Arbeitslosengeld I und Arbeitslosengeld II, selbstständige Künstler:innen und Publizist:innen, Teilnehmer:innen an berufsfördernden Maßnahmen zur Rehabilitation, Behinderte, die in anerkannten Werkstätten tätig sind, Studierende an Hochschulen sowie Rentner:innen sind pflichtversichert. Das gilt auch für freiwillig Versicherte in der GKV. Die Pflegeversicherung heißt laut Gesetz „soziale Pflegeversicherung“. Kinder und Ehepartner:innen sind hier beitragsfrei mitversichert, wenn ihr monatliches Einkommen die Geringfügigkeitsgrenze nicht überschreitet.

786

Pflegebedürftigkeit und Pflege

Die Beitragshöhe richtet sich wie bei der GKV allein nach dem versicherungspflichtigen Einkommen, Faktoren wie besonderes Risiko oder hohes Lebensalter werden nicht berücksichtigt. Versicherungspflichtgrenze und Beitragsbemessungsgrenze der GKV gelten auch für die Pflegeversicherung (vgl. Kapitel „Gesundheit und Gesundheitssystem“, Pkt. 5.1.1). Wer in einer privaten Krankenkasse (PKV) versichert ist, muss eine private Pflegeversicherung abschließen (vgl. Pkt. 5.3 dieses Kapitels). 5.2

Soziale Pflegeversicherung

Träger der sozialen Pflegeversicherung sind die Pflegekassen, die organisatorisch den gesetzlichen Krankenkassen zugeordnet sind. Jede gesetzliche Krankenkasse errichtet eine Pflegekasse. Die Selbstverwaltungsorgane der Krankenkassen nehmen zugleich die Aufgaben der Pflegekassen wahr. Beide haben ein gemeinsames Verwaltungspersonal und einen gemeinsamen medizinischen Dienst. Allerdings besitzen die Pflegekassen eine eigene Finanzhoheit, die Haushalte der Krankenkassen und der Pflegekassen sind streng voneinander getrennt. Finanziert wird die Pflegeversicherung ausschließlich über Beiträge der Versicherten und der Arbeitgeber. Zuschüsse des Bundes oder eine Defizitdeckung kennt die Pflegeversicherung nicht, werden allerdings immer wieder eingefordert (vgl. Pkt. 11.4 dieses Kapitels). Der Beitragssatz selbst wird jeweils per Gesetz festgelegt, unterliegt also keinem Regelmechanismus. Er betrug am 1. 1. 2020 3,05 % und für Kinderlose (23 Jahre und älter) 3,3 % (vgl. Pkt. 9.1 dieses Kapitels). Die deutliche Steigerung gegenüber 2018 um 0,5 Prozentpunkte ist Folge der Mehrkosten, die durch die Einführung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs und die Ausweitung des Empfängerkreises entstanden sind (vgl. Pkt. 6.1 dieses Kapitels). Der Sicherstellungsauftrag liegt bei den Pflegekassen, die Versorgungsverträge mit den Leistungserbringern (ambulante Dienste und stationäre Einrichtungen) schließen und dabei Trägervielfalt beachten sollen. Der Versorgungsbedarf (Art und Umfang der Pflegebedürftigkeit) wird von der Pflegeversicherung unter Einschaltung des medizinischen Dienstes selbst festgestellt und nicht – wie bei der Krankenversicherung – über Ärzte definiert. Im Unterschied zur Krankenversicherung gilt bei der Pflegeversicherung auch nicht das Bedarfsdeckungsprinzip. Abgesichert wird lediglich die pflegerische Grundversorgung. So müssen die Kosten für Unterkunft und Verpflegung (Hotelkosten) selbst getragen werden. Zugleich sind die pflegerischen Leistungen in ihrer Höhe durch Pauschalbeträge gedeckelt. Die Geld- und/oder Sachleistungen werden also nur bis zu einem gesetzlich definierten Betrag übernommen, der im Normalfall nicht zur Deckung der notwendigen Pflegekosten ausreicht (Teilkasko- bzw. Teilkostenversicherung). Das unterscheidet die Pflegeversicherung grundlegend von der gesetzlichen Krankenversicherung, die im Grundsatz für jede Versorgung aufzukommen hat, sei sie noch so teuer (vgl. Kapitel „Gesundheit und Gesundheitssystem“, Pkt. 5.1.1).

Absicherung des Pflegerisikos durch die Pflegeversicherung

787

Dem entspricht, dass die Pflegeversicherung als eine prinzipiell nur ergänzende Sicherung angelegt ist: Pflege soll nicht vollständig professionalisiert werden, sondern gemäß Subsidiaritätsprinzip sind nur diejenigen zu unterstützen, deren Betreuung familiär oder in vergleichbaren Strukturen nicht mehr gewährleistet werden kann und die deshalb auf professionelle Versorgung angewiesen sind, sei es ambulant oder stationär. Im Resultat führt dies dazu, dass hohe Eigenleistungen anfallen bzw. die Sozialhilfe in Anspruch genommen werden muss, wenn die volle Finanzierung über eigenes Einkommen und Vermögen oder über unterhaltsverpflichtete Angehörige nicht möglich ist (vgl. Pkt. 10.1 dieses Kapitels). Gleichwohl hat die Pflegeversicherung maßgeblich zum Auf- und Ausbau einer qualitativ hochwertigen professionellen Pflegeinfrastruktur beigetragen. So gab es 1999, also kurz nach der Einführung der Pflegeversicherung bundesweit nur 8 850 Pflegeheime mit 441 000 Beschäftigten bzw. 10 820 zugelassene ambulante Pflegedienste mit 184 000 Beschäftigten. Bis heute hat sich durch die Finanzierung der Pflegeversicherung ihre Zahl deutlich erhöht (vgl. Pkt. 7.1 dieses Kapitels). Es bestätigt sich, dass sich immer dort, wo soziale Dienste eine sichere Finanzierungszusage erhalten, auch rasch ein entsprechendes Angebot entwickelt (vgl. Kapitel „Soziale Dienste“, Pkt. 2.4). Im Unterschied zur Krankenhausplanung oder zur ärztlichen Bedarfsplanung gibt es für die Pflegeinfrastruktur keine Bedarfs- oder gar Zulassungsplanung. Vor diesem Hintergrund ist auch der lange Diskurs um das Sach- und Geldleistungsprimat bei Einführung der Pflegeversicherung zu sehen: Viele haben deshalb für Sachleistungen votiert, weil die damit verbundene Nachfrage unmittelbar bestandsreagibel wirkt, während Geldleistungen in vielen Fällen zu Mitnahmeeffekten führen und geführt haben, zumal angesichts schwieriger Qualitätskontrollen bei reinen Geldleistungen (vgl. Pkt. 8.4 dieses Kapitels). Obwohl die die Pflegeversicherung im Unterschied zu den anderen vier Zweigen der Sozialversicherung noch sehr jung ist, wurde sie bereits mehrfach in Richtung einer Ausweitung und Ausdifferenzierung des Leistungsspektrums reformiert. Das Pflegeweiterentwicklungsgesetz (2008/9) sowie die Pflegestärkungsgesetze (PSG I, II, III) (2015 – 2017) haben wirksame Strukturreformen gebracht. Allerdings ist es erst ab 2008, also 13 Jahre nach ihrer Einführung, zu einer schrittweisen Erhöhung der Sachleistungsbeträge (ambulante und stationäre Versorgung) und der Geldleistungen gekommen. Bis dahin waren die Pauschalbeträge eingefroren, was angesichts der Preisentwicklung zu einer laufenden realen Minderung führte. Seit 2015 ist die Bundesregierung gesetzlich verpflichtet, alle drei Jahre Notwendigkeit und Höhe einer Anpassung der Leistungen der Pflegeversicherung in Orientierung an der Preisentwicklung zu überprüfen.

788

5.3

Pflegebedürftigkeit und Pflege

Private Pflegeversicherung

Die private Pflegeversicherung unterscheidet sich in mehrfacher Hinsicht von der sozialen Pflegeversicherung, ist aber in ihren Konstruktionsmerkmalen auch nicht mit der privaten Krankenversicherung vergleichbar. So muss jeder Anbieter die gleichen Leistungen wie die der gesetzlichen Pflegekassen gewährleisten, Leistungsausschlüsse oder Vertragskündigungen sind nicht erlaubt. Ferner ist die PPV zum Vertragsabschluss (Kontrahierungszwang) und zur beitragsfreien Mitversicherung der Kinder verpflichtet. Insofern finden sich in der privaten Pflegeversicherung äquivalenzuntypische Umverteilungselemente. Im Unterschied zur sozialen Pflegeversicherung werden keine Sachleistungen gewährt, vielmehr findet wie in der privaten Krankenversicherung das Prinzip der Kostenerstattung Anwendung. Zudem werden die Prämien nicht nach dem Einkommen bemessen, sondern am individuellen Risiko beim Eintritt in die Versicherung. Maßgeblich für die Prämienhöhe sind insofern der Gesundheitszustand und das Lebensalter bei Vertragsabschluss. Je älter man bei Versicherungsbeginn ist, umso höher fallen die Prämien aus. Die Versicherer können die Prämien für die private Pflegepflichtversicherung jedoch nicht beliebig festlegen und erhöhen. Für Bestandsversicherte (Wartezeit von fünf Jahren nach Vertragsabschluss) sind Höchstbeiträge vorgeschrieben, die sich an der gesetzlichen Pflegeversicherung orientieren. Altersrückstellungen dienen dazu, den altersbedingten Beitragsanstieg zu verhindern. Dabei handelt es sich um ein modifiziertes Verfahren der Kapitaldeckung (Anwartschaftsdeckung), bei dem die zu erwartende altersbedingte Zunahme der Leistungsbeanspruchung durch die Bildung von Rückstellungen berücksichtigt wird.

Tabelle IX.1 Soziale Pflegeversicherung und private Pflegepflichtversicherung im Vergleich 2018 Soziale Pflegeversicherung

Private Pflegepflichtversicherung

Versicherte

72,75 Mio.

9,28 Mio.

Leistungsempfänger:innen in der ambulanten Versorgung

2 905 325

158 406

Leistungsempfänger:innen in der stationären Versorgung

780 064

53 176

Leistungsempfänger:innen insgesamt

3 685 389

211 582

Leistungsempfänger:innen zu Versicherten in %

5,1 %

2,3 %

Quelle: Bundesministerium für Gesundheit (2019), Zahlen und Fakten zur Pflegeversicherung.

Leistungen der Pflegeversicherung

789

Privatversicherte Beschäftigte haben wie gesetzlich Versicherte Anspruch auf einen Beitragszuschuss des Arbeitgebers. Dieser Zuschuss entspricht dem Arbeitgeberanteil in der sozialen Pflegeversicherung, Die Konstruktion ist damit vergleichbar wie in der PKV. Beamt:innen zahlen einen ermäßigten Tarif, der die nicht durch die Beihilfe abgedeckten Kosten umfasst. Freiberufler und Selbstständige tragen die Beiträge dagegen vollständig selbst. Das EU-weit einmalige Nebeneinander von sozialer und privater Pflegeversicherung, führt wegen der günstigeren Risikostruktur der Privatversicherten zu relativen Besserstellungen in der finanziellen Belastung gegenüber der sozialen Pflegeversicherung. Die Versicherten der privaten Pflegeversicherung verdienen im Durchschnitt mehr als doppelt so viel wie Versicherten in der sozialen Pflegeversicherten. Zugleich ist das Risiko, pflegebedürftig zu werden, deutlich geringer. Im Ergebnis fallen deshalb die privaten Versicherungsprämien günstiger aus als die Beiträge zur sozialen Pflegeversicherung. Dennoch gibt es keinen Finanzausgleich zwischen den beiden Bereichen. Von der privaten Pflegepflichtversicherung sind Pflegezusatzversicherungen (Pflegetagegeldversicherung, Pflegekostenversicherung, Pflegerentenversicherung) zu unterscheiden, die unabhängig vom sozialrechtlichen Status abgeschlossen werden können und für die es einen (geringen) staatlichen Zuschuss gibt.

6

Leistungen der Pflegeversicherung

Die Leistungen der Pflegeversicherung unterscheiden sich in Leistungen bei häuslicher, teilstationärer und stationärer Pflege einerseits sowie in Sach- und Geldleistungen andererseits. In ihrer Höhe staffeln sie sich jeweils nach dem Grad der Pflegebedürftigkeit (siehe Abbildung IX.6 und Übersicht IX.3).

Abbildung IX.6 Leistungen der Pflegeversicherung Häusliche Pflege

• Pflegegeld • Pflegesachleistung • Verhinderungspflege • Pflegehilfsmittel • Maßnahmen zur Verbesserung des Wohnumfelds • Pflegeberatung • Pflegekurse

Teilstationäre Pflege

Stationäre Pflege

• Tagespflege

• Vollstationäre Pflege

• Nachtpflege

• Pflege in Einrichtungen für behinderte Menschen

• Kurzzeitpflege

790

6.1

Pflegebedürftigkeit und Pflege

Leistungsbeträge und Pflegegrad

Voraussetzung für die Bewilligung von Leistungen durch die Pflegekasse ist die Feststellung von Pflegebedürftigkeit im Sinne des Gesetzes. Erforderlich ist dafür eine Antragstellung. Die durch einen Leistungsbescheid anerkannte Schwere der Pflegebedürftigkeit ist zugleich maßgeblich für die Höhe der Leistung. Der ab 2017 geltende Pflegebedürftigkeitsbegriff überwindet die zuvor gültige verrichtungsbezogene Perspektive zugunsten einer umfassenderen Sicht von Pflegebedürftigkeit, die an den Bedürfnissen jedes einzelnen Menschen, an seiner individuellen Lebenssituation und an seinen individuellen Beeinträchtigungen und Fähigkeiten ausgerichtet ist. Sie orientiert sich anhand eines umfassenden und differenzierten Kriterienkatalogs in sechs Lebensbereichen am Ausmaß der Selbstständigkeit der Pflegebedürftigen und bezieht körperliche, kognitive und psychische Beeinträchtigungen anhand einer pflegewissenschaftlich begründeten Gewichtung ein: • • • • • •

Mobilität (z. B. Fortbewegen innerhalb des Wohnbereichs, Treppensteigen etc.): 10 %, Kognitive und kommunikative Fähigkeiten (z. B. örtliche und zeitliche Orientierung etc.): 15 %, Verhaltensweisen und psychischen Problemlagen (z. B. nächtliche Unruhe, selbstschädigendes und autoaggressives Verhalten): 15 %, Selbstversorgung (z. B. Körperpflege, Ernährung etc.; hierunter wurde zuvor die Grundpflege verstanden): 40 %, Bewältigung von und selbstständiger Umgang mit krankheits- oder therapiebedingten Anforderungen und Belastungen (z. B. Medikation, Wundversorgung, Arztbesuche, Therapieeinhaltung): 20 %, Gestaltung des Alltagslebens und sozialer Kontakte: 15 %.

Zur Ermittlung eines Pflegegrades werden die bei der Begutachtung festgestellten Einzelpunkte in fünf Modulen addiert und – unterschiedlich gewichtet – in Form einer Gesamtpunktzahl abgebildet. Aufgrund dieser wird der/die Pflegebedürftige in einen von fünf Pflegegraden eingestuft: •

Pflegegrad 1: geringe Beeinträchtigung der Selbstständigkeit (ab 12,5 bis 27 Gesamtpunkte), • Pflegegrad 2: erhebliche Beeinträchtigung der Selbstständigkeit (ab 27 bis 47,5 Gesamtpunkte), • Pflegegrad 3: schwere Beeinträchtigung der Selbstständigkeit (ab 47,5 bis 70 Gesamtpunkte), • Pflegegrad 4: schwerste Beeinträchtigung der Selbstständigkeit (ab 70 bis 90 Gesamtpunkte),

unter unter unter unter

Leistungen der Pflegeversicherung



791

Pflegegrad 5: schwerste Beeinträchtigung der Selbstständigkeit mit besonderen Anforderungen an die pflegerische Versorgung (ab 90 bis 100 Gesamtpunkte).

Wie aus Übersicht IX.3 ersichtlich, entscheidet der Pflegegrad über die Höhe der Leistungen.

Übersicht IX.3 Sach- und Geldleistungen in der Pflegeversicherung 2020 in Euro Pflegegrad I

Pflegegrad II

Pflegegrad III

Pflegegrad IV

Pflegegrad V

545

728

901

125

125

125

1 298

1 612

1 995

1 995

Pflegegeld für häusliche Pflege (pro Monat) bis zu 316 Entlastungsbetrag bei häuslicher Pflege (pro Monat) bis zu 125

125

Pflegesachleistungen für häusliche Pflege (pro Monat) bis zu 689

Teilstationäre Pflege (Tagespflege und Nachtpflege) (pro Monat) bis zu 689

1 298

1 612

40

40

40

770

1 262

1 775

Pflegehilfsmittel (pro Monat) bis zu

Vollstationäre Pflege (pro Monat) bis zu 125

2 005

Häusliche Verhinderungspflege (bis zu 6 Wochen pro Kalenderjahr) bis zu Durch nahe Angehörige

Bis zum 1,5fachen Betrag des Pflegegeldes des festgestellten Pflegegrads

Durch Personen, die keine nahen Angehörigen sind

1 612

1 612

1 612

1 612

1 612

1 612

1 612

Kurzzeitpflege (bis zu acht Wochen pro Kalenderjahr) 125

1 612

792

6.2

Pflegebedürftigkeit und Pflege

Leistungen bei häuslicher Pflege

Ambulant Pflegebedürftige haben grundsätzlich ein Wahlrecht zwischen Geldleistungen (Pflegegeld), Sachleistungen (durch einen ambulanten Pflegedienst) und sog. Kombinationsleistungen. Des Weiteren bestehen Ansprüche auf Verhinderungs- sowie Tages- und Nachtpflege. Für alle Leistungen ist mindestens Pflegegrad 2 erforderlich. Daneben gibt es zusätzliche Leistungen für Sonderbedarfe. Zu den wichtigsten Leistungen zählen (Stand 2019): Pflegegeld Die Zahlung von Pflegegeld für selbst beschaffte Pflegehilfen soll zur Verbesserung der häuslichen Versorgung beitragen. Voraussetzung ist, dass diese selbst sichergestellt ist, zum Beispiel durch Angehörige oder andere (z. B. ehrenamtlich tätige) private Pflegepersonen. Das Pflegegeld wird der pflegebedürftigen Person von der Pflegekasse überwiesen. Dabei steht es den Empfänger:innen vollkommen frei, wie sie das Pflegegeld verwenden. In der Regel geben sie es aber an die sie versorgenden und betreuenden Personen weiter. Um die sachgerechte Verwendung der Mittel zu garantieren, führt der Medizinische Dienst regelmäßig Überprüfungen durch. Mitnahmeeffekte werden vermutet, sind aber im Rahmen der Kontrollbesuche kaum erfassbar (vgl. Pkt. 8.4 dieses Kapitels). Das Pflegegeld wird beim Bezug bedürftigkeitsgeprüfter Sozialleistungen, z. B. von Arbeitslosengeld II oder Sozialhilfe, nicht auf den Leistungsbezug angerechnet. Das Pflegegeld gilt auch nicht als Entgelt für erbrachte Pflegeleistungen. Wenn die Pflegeperson vom Pflegebedürftigen das Pflegegeld erhält, verliert sie deshalb nicht den Anspruch auf die beitragsfreie Familienversicherung. Nur wenn das Pflegegeld im Rahmen eines Beschäftigungsverhältnisses zwischen Pflegebedürftigem und Pflegeperson gezahlt wird, stellt es Einkommen dar, das entsprechend versichert und versteuert werden muss. Soziale Absicherung der Pflegeperson Wer häusliche Pflege leistet, ist in die gesetzliche Unfallversicherung einbezogen. Pflegepersonen, die aus dem Beruf aussteigen, sind für die gesamte Dauer der Pflegetätigkeit von der Arbeitslosenversicherung erfasst. Zudem zahlen die Pflegekassen für Pflegepersonen, die nicht erwerbsmäßig einen Pflegebedürftigen wenigstens 10 Stunden wöchentlich, verteilt auf wenigstens zwei Tage pro Woche, pflegen, Beiträge zur Rentenversicherung. Auch für Pflegepersonen, die anderweitig versicherungspflichtig erwerbstätig sind (bis zu 30 Wochenstunden), werden Beiträge entrichtet (vgl. Kapitel „Alter“, Pkt. 6.5.2). 2017 waren rund 560 000 Pflegepersonen begünstigt. Die Höhe der Beiträge richtet sich nach dem Pflegegrad und dem Umfang der Pflegetätigkeit. 2019 erhöhte sich die monatliche Rente – je nach Pflegegrad des Gepflegten – zwischen 6 Euro und knapp 32 Euro im Westen und zwischen 5,80 Euro und 30,60 Euro im Osten.

Leistungen der Pflegeversicherung

793

Sachleistungen Ambulante Pflegesachleistungen zielen auf die Inanspruchnahme einer selbstständigen Pflegekraft oder eines Pflegedienstes für körperbezogene Pflegemaßnahmen, pflegerische Betreuungsmaßnahmen sowie Hilfen bei der Haushaltsführung bis zu einem gesetzlich vorgeschriebenen monatlichen Höchstbetrag. Ihre kostenlose Inanspruchnahme setzt u. a. voraus, dass die Pflegekraft in einem Vertragsverhältnis zur Pflegekasse steht bzw. einer Einrichtung (z. B. Sozialstation, privater Pflegedienst) angehört, die mit der Pflegekasse einen Versorgungsvertrag mit entsprechenden Vergütungsvereinbarungen getroffen hat. Die im Rahmen einer ärztlichen Behandlungspflege von häuslich versorgten Pflegebedürftigen (z. B. Wundversorgung, Medikamentengabe, Verbandswechsel, Injektionen etc.) anfallenden Pflegekosten werden nicht von der Pflegeversicherung getragen, sie verbleiben als häusliche Krankenpflege gemäß SGB V bei den Krankenkassen. Dies gilt nicht für die stationäre Pflege, hier sind sie in den Pflegekosten enthalten und müssen anteilsmäßig von den Bewohner:innen getragen werden (vgl. Pkt. 6.3 dieses Kapitels). Pflegegeld kann mit ambulanten Pflegesachleistungen kombiniert werden (Kombinationsleistungen). Das Pflegegeld vermindert sich in diesem Fall anteilig im Verhältnis zum Wert der in Anspruch genommenen ambulanten Sachleistungen. Bei der Verhinderungspflege wird eine notwendige Ersatzpflege für maximal sechs Wochen im Jahr übernommen (durch andere Personen, aber zumeist in vollstationären Einrichtungen), wenn die Pflegeperson wegen Urlaub oder Krankheit den Angehörigen nicht pflegen kann. Anspruch auf teilstationäre Pflege in Einrichtungen der Tages- oder Nachtpflege besteht, wenn häusliche Pflege nicht in ausreichendem Umfang sichergestellt werden kann oder wenn dies zur Ergänzung oder Stärkung der häuslichen Pflege erforderlich ist. Einbezogen sind auch die jeweiligen Beförderungskosten. Eine Kurzzeitpflege wird dann finanziert, wenn eine pflegebedürftige Person für eine begrenzte Zeit einer stationären Pflege bedarf. Häufig ist das nach einem Krankenhausaufenthalt der Fall oder wenn die häusliche Pflege für eine bestimmte Zeit ausgesetzt werden muss oder soll. Die Zusammenlegung („Poolen“) von Leistungen unterschiedlicher Berechtigter ist möglich und dient dazu, gruppenbezogenen Pflegeaufwand (z. B. in ambulante Wohngemeinschaften) zu finanzieren. Dies gilt auch für die Finanzierung von Wohnungsanpassungsmaßnahmen (wenn z. B. mehrere Berechtigte zusammenwohnen). Zusätzliche Leistungen • Zusätzliche Leistungen für Wohngemeinschaften mit Pflegebedarf und ambulant betreute Wohngruppen (vgl. Pkt. 4. dieses Kapitels). • Entlastungsbetrag (bis max. 1500 Euro/Jahr, der auch bei Pflegegrad 1 gezahlt wird). Er ist zweckgebunden und dient u. a. der Absicherung besonderer Selbstversorgungs- und Betreuungsmaßnahmen sowie von Hilfen der Haushaltsführung.

794

Pflegebedürftigkeit und Pflege

• Angebote zur Unterstützung im Alltag dienen vor allem der Entlastung und Qualifizierung von Pflegepersonen (z. B. Einsatz ehrenamtlicher Helfer:innen, Pflegekurse etc.). • Technische Pflegehilfsmittel und sonstige Hilfsmittel, wie technische Geräte und andere Sachmittel, die zur häuslichen Pflege notwendig sind (z. B. Pflegebett, Hausnotrufsysteme, bestimmte pflegebedingte Verbrauchsprodukte) (Kostenübernahme in der Regel zu 100 %) (vgl. Pkt. 11.3 dieses Kapitels). • Zuschüsse zur barrierefreien Wohnungsanpassung sowie für wohnumfeldverbessernde Maßnahmen im Umfang von max. 4 000 Euro/Jahr. • Pflegeberatung einschließlich Pflegekurse für Angehörige und ehrenamtliche Pflegepersonen (Pkt. 8.3 dieses Kapitels). • Förderung ehrenamtlicher Strukturen und der Selbsthilfe. 6.3

Leistungen bei und Kosten der stationären Pflege

Pflegebedürftige können im Grundsatz frei entscheiden, ob sie häusliche Pflege in Anspruch nehmen oder besser in ein Heim übersiedeln. Dies wird allerdings von der Pflegekasse im Hinblick auf die Bedarfsberechtigung überprüft. De facto steht diese Entscheidungsfreiheit allerdings oftmals nur auf dem Papier. Zum einen erfolgt die Entscheidung stets in einem sozialen Kontext. Heimübersiedlungen sind heute fast nur noch Notlösungen, weil es zu Hause „absolut nicht mehr geht“ bzw. weil eine qualitativ ausreichende häusliche Pflege nicht sichergestellt werden kann. Zum anderen dürfte auch die zentrale Norm des SGB XI „Vorrang für die häusliche Pflege“ so manche Entscheidung bzw. die ihr vorausgehende Beratung mit beeinflussen. Ob auch die gegenüber der häuslichen Pflege höheren Kosten der Heimpflege indirekt die Entscheidung beeinflussen, ist eine offene Frage. Die Heimkosten lagen im Bundesdurchschnitt 2019 bei rund 3 400 Euro und. Sie setzen sich wie folgt zusammen: • Unmittelbare Kosten für die Pflege (nach Pflegegrad gestaffelte Pflegesätze), • Kosten für Unterkunft und Verpflegung (Hotelkosten), • Investititionskosten. Bundesweit schwanken die Heimkosten erheblich. Insgesamt machen die Personalkosten ein Anteil von 70 bis zu 80 % an den gesamten Heimkosten aus, was auch zum Teil die Länderunterschiede erklärt. Für die unmittelbaren Kosten für die Pflege sind die Pflegekassen zuständig. Im Gegensatz zur Krankenversicherung gilt bei der Pflegeversicherung aber nicht das Bedarfsdeckungsprinzip. Die Versicherungsleistungen stellen lediglich Zuschüsse zu den Pflegekosten dar und sind nur teilweise kostendeckend. Zu beachten ist weiterhin, dass in den Pflegesätzen auch – im Grundsatz systemwidrig – die Kosten für die in den Heimen erbrachte medizinische Behandlungspflege enthalten sind, obwohl

Leistungen der Pflegeversicherung

795

diese wie in der häuslichen Versorgung von der gesetzlichen Krankenversicherung zu tragen wären. Erst seit dem Pflegepersonal-Stärkungsgesetz von 2019 beteiligen sich (aber auch nur teilweise) die Krankenkassen daran. Die Leistungen der Pflegeversicherung bei vollstationärer Pflege bewegen sich zwischen 770 Euro (Pflegegrad II) bis zu 2 005 Euro (Pflegegrad V) (vgl. Übersicht IX.3). Die bei einer Unterbringung von den Heimen tatsächlich erhobenen Pflegekosten liegen aber deutlich höher, sie werden in Pflegesatzverhandlungen zwischen den Einrichtungen und den Kostenträgern (Pflegekassen und Sozialhilfeträger) festgelegt. Die Differenz muss dann von den Heimbewohner:innen als Eigenanteil selbst getragen werden. Im Bundesdurchschschnitt lag dieser Eigenanteil 2019 bei rund 780 Euro/Monat/Bewohner*in. Zu den Eigenanteilen bei den Pflegekosten sind die Hotelkosten und die Investitions- und ggf. Ausbildungskosten zu addieren. Zu den Hotelkosten, die der/die Pflegebedürftige, wie in der häuslichen Pflege auch, selbst tragen muss, gehören die vom Heim erbrachten Leistungen, wie zum Beispiel Mahlzeiten, Zimmerreinigung und sonstiger Service. Diese Kosten sind mit wenigen Ausnahmen für alle Bewohner:innen einer Einrichtung gleich, Unterschiede nach Pflegegraden gibt es nicht. 2019 lagen sie im Bundesdurchsnitt bei knapp über 750 Euro; mit z. T. erheblichen Schwankungen zwischen den Ländern (NRW mit gut 1 000 Euro am höchsten und Mecklenburg-Vorpommern mit etwa 570 Euro am niedrigsten).

Übersicht IX.4 Beispiel: Pflegekostenrechnung 2019 für die stationäre Pflege, Pflegegrad III, Einzelzimmer, Arbeiterwohlfahrt Essen, Kurt-Schumacher-Zentrum Euro pro Tag Pflegesatz

Euro pro Monat

70,07

2 131,53

4,32

131,41

Unterkunft

19,76

601,10

Verpflegung

15,21

462,69

Investitionskosten

11,26

342,53

119,62

3 669,26

Altenpflegeausbildungsumlage

Gesamt Leistungen der Pflegekasse Einrichtungseinheitlicher Pflegeanteil Persönlich zu tragendes Entgelt

1 262,00 689,48 2 407,26

Quelle: https://www.awo-essen.de/senioren/stationaere-pflege/kurt-schumacher-zentrum/

796

Pflegebedürftigkeit und Pflege

Auch an den Investitionskosten müssen sich die Bewohner:innen beteiligen, obwohl sie grundsätzlich in den Zuständigkeitsbereich der Länder fallen, da diese für die Pflegeinfrastruktur zuständig sind. Vergleichbar mit den Mietkosten im Wohnungsmarkt refinanzieren die Heimbewohner:innen somit teilweise die Einrichtungskosten. Diese umfassen u. a. Kosten für Umbau- oder Ausbaumaßnahmen des Heimes, Modernisierungsarbeiten oder Instandhaltung. Sie werden auf einen monatlichen Betrag umgerechnet und dem/r Bewohner:in unmittelbar in Rechnung gestellt. Im Bundesdurchschnitt 2019 waren dies etwa 430 Euro/Monat; mit jeweils erheblichen Abweichungen zwischen den Ländern (je nach Finanzierungspraxis), aber auch zwischen Regionen je nach Urbanisierungsgrad. An der Spitze lagen Niedersachsen (539 Euro) und NRW (512 Euro). Reichen die eigenen Finanzmittel dafür nicht aus, beteiligen sich in einigen Bundesländern die Sozialhilfeträger mit dem so genannten Pflegewohngeld daran. Bei bundesdurchschnittlichen Gesamtkosten für einen Heimplatz von etwa 3 400 Euro bezifferten sich für 2019 die privat zu tragenden Kosten auf rund 1 960 Euro/ Monat je Heimbewohner/in (vgl. Abbildung IX.7). Ist er/sie dazu nicht (vollständig) in der Lage, müssen sich ggf. die Angehörigen (Elternunterhalt) beteiligen – seit 2020 allerdings nur noch im Falle ganz hoher Einkommen (vgl. Pkt. 10.1 dieses Kapitels) –, oder die Sozialhilfe springt ein. In der vollstationären Pflege kommt es für die Betroffenen somit de facto nicht auf die Höhe des Pflegesatzes an, sondern auf die Höhe der Gesamtkosten abzüglich der Leistungen der Pflegeversicherung. Mit der Einführung eines einrichtungseinheitlichen pflegebedingten Eigenanteils (EEE) durch das Pflegestärkungsgesetz II sind seit 2017 die zuvor in den einzelnen Einrichtungen bestehenden unterschiedlichen Zuzahlbeträge zu den pflegebedingten Heimkosten vereinheitlicht worden und seither in den einzelnen Einrichtungen ab Pflegegrad 2 gleich. Damit wurden die vorherigen Unterschiede in den Belastungen zwischen den Heimbewohner:innen einer Einrichtung aufgrund der Zuordnung zu unterschiedlichen Pflegestufen/-graden abgeschafft und. Eine Höherstufung in einen höheren Pflegegrad hat insofern keine finanziellen Auswirkungen mehr auf den pflegebedingten Eigenanteil den/die betroffene/n Bewohner/in. Für die Ermittlung des EEE werden pro Fall die Pflegekosten um die jeweilige Leistung der Pflegeversicherung vermindert und die Gesamtsumme der so ermittelten Eigenanteile durch die Anzahl der Heimbewohner:innen geteilt. Ausgenommen ist der Pflegegrad 1, was als Anreiz gelten soll, in weniger pflegeintensiven Bedarfslagen so lange wie möglich eine ambulante Versorgung zu organisieren. Der EEE ist allerdings von Heim zu Heim unterschiedlich. Die einrichtungseinheitlichen Eigenanteile variieren von Bundesland zu Bundesland sehr stark (vgl. Abbildung IX.7). Am höchsten lagen sie 2018 in den alten Bundesländern, mit Baden-Württemberg (1 069 Euro) und dem Saarland (1 078 Euro) deutlich an der Spitze, und in den neuen Ländern jeweils am Ende (z. B. Thüringen mit 424 Euro). Auch gab es erhebliche Unterschiede zwischen den jeweiligen Trägergruppen: Die niedrigsten Eigenanteile haben die privat-gewerblichen Träger, während die

Leistungen der Pflegeversicherung

797

Abbildung IX.7 Eigenanteile bei einer Heimunterbringung nach Bundesländern 2019 Unterkunft und Verpflegung

pflegebedingte Kosten Nordrhein-Westfalen

903

Saarland

1.078

Baden-Württemberg 797

Rheinland-Pfalz

786

Bayern Bundesdurchschnitt

779

Hessen

772

Berlin

825

Schleswig-Holstein Niedersachsen

752

599

Thüringen Sachsen

483

Sachsen-Anhalt

510

Mecklenburg-Vorpommern

443 0

1.630 1.440

319 342 284

572 500

1.685

316

697

571

337 1000

1.913

1.647

539 614

569

1.923

342

485

594

424

1.956

570

725

700

1.962

431 495

757

513

Brandenburg

2.042 1.980

356

689

474

2.078

400

671

585

2.433 2.384 2.297

402 489

856

982

Bremen

435

792

953

Gesamtbelastung

512 872

1.069

Hamburg

Investitionskosten

1.018

1.394 1.364 1.352 1500

2000

2500

Quelle: AOK-Pflegenavigator.

freigemeinnützigen und die kommunalen Träger etwa gleich hohe Eigenanteile berechnen. Allerdings verbergen sich hinter den scheinbar günstigeren Bedingungen bei den Privat-Gewerblichen zumeist nicht über Tarifverträge abgesicherte niedrigere Löhne (vgl. Pkt. 7.2 dieses Kapitels). Hierin spiegeln sich die bestehenden WestOst-Unterschiede in den Personal-, Unterkunfts- und Investitionskosten wider, aber auch die jeweiligen Länderunterschiede bei den Personalschlüsseln und der Praxis der Investitionskostenmitfinanzierung. Vergleicht man die Leistungsbeträge zwischen häuslicher und stationärer Versorgung, so sind durch die verschiedenen Pflegereformen der vergangenen Jahre die Leistungen bei häuslicher Versorgung, ergänzt um Pflegesachleistungen (ambulante und teilstationäre Dienste bzw. Einrichtungen, Verhinderungspflege usw.) deutlich stärker angehoben worden als die Leistungsbeträge bei einer Heimunterbringung. Der Umzug in ein Heim ist mit erheblich höheren Kosten für die Pflegebedürftigen verbunden und alles andere als finanziell attraktiv.

798

6.4

Pflegebedürftigkeit und Pflege

Leistungsvergütungen

Bei der Vergütung der ambulanten Pflege werden im Rahmen des Vereinbarungsprinzips Leistungskomplexe zu Grunde gelegt, in denen typischerweise zusammenfallende pflegerische Verrichtungen in ein Punktsystem eingeordnet werden, in das auch der angenommene Zeitaufwand eingeht. Vergütet werden dann die Leistungspakete, die ein/e Pflegebedürftige/r entsprechend seiner individuellen Bedarfslage abruft. 2019 gab es, je nach Bundesland, mehr als 30 Leistungskomplexe mit unterschiedlichen Punktzahlen und entsprechend unterschiedlichen Vergütungssätzen. Die Bewertung der Punktzahlen wird in Vergütungsverhandlungen zwischen den Landesverbänden der Kassen, stellvertretend für ihre Versicherten, die selbst keinen Einfluss auf die Preisgestaltung haben, festgelegt. So wird z. B. in NRW (Stand 1. 1. 2019) die Leistungsart „Ganzwaschung“ mit den Leistungsinhalten Waschen, Duschen, Baden mit 227 Punkten und mit einem Punktwert von 0,05419 Euro (Gesamt also 23,08 Euro) abgerechnet. Die Vergütung der stationären Pflege erfolgt ebenfalls nach dem Vereinbarungsprinzip über Pflegesätze, die prospektiv zwischen den Trägern des einzelnen Pflegeheims und den Pflegekassen festgelegt werden und nach Pflegegraden differenziert sind. Darin enthalten sind auch die Kosten für die in den Heimen geleistete medizinische Behandlungspflege. Hierauf haben die Versicherten keinen Einfluss. Die Hotelkosten und Investitionskosten sind nicht enthalten. Sie werden von den Bewohner:innen (teilweise) direkt gezahlt. Die Vereinbarungen sind zwar für jedes zugelassene Pflegeheim gesondert abzuschließen, allerdings bilden die Landesverbände der Pflegekassen, der Verband der privaten Krankenversicherung e. V., die überörtlichen oder ein nach Landesrecht bestimmter Träger der Sozialhilfe und die Vereinigungen der Pflegeheimträger im Land regional oder landesweit tätige Pflegesatzkommissionen, die für die Heime die Pflegesätze mit Zustimmung der betroffenen Pflegeheimträger vereinbaren können. In der Praxis bestehen Rahmenvereinbarungen, die insbesondere die Rechte und Pflichten der Vertragsparteien, die Vorbereitung, Beginn und Verfahren der Pflegesatzverhandlungen sowie Art, Umfang und Zeitpunkt der von den Heimen dazu vorzulegenden Leistungsnachweise und sonstigen Verhandlungsunterlagen näher bestimmen. 6.5

Verteilung auf Leistungsarten und Empfänger:innen

Ambulant dominiert vor stationär, Dominanz von Pflegegrad 2 Von den Leistungsempfänger:innen der sozialen Pflegeversicherung wurden 2018 rd. 2,952 Mio. (76 %) zu Hause und rd. 779 000 (24 %) stationär versorgt. Damit spiegelt diese Verteilung die Bedeutung der zentralen Leistungsnorm des SGB XI „ambulant vor stationär“ wider.

Leistungen der Pflegeversicherung

799

Abbildung IX.8 Leistungsempfänger:innen nach Pflegegraden, häusliche und stationäre Pflege, absolut und in %, 2018 50,3

1.400.000

1.269.170

1.200.000 1.000.000

50

40

Häuslich Pflege

695.620

600.000 400.000 200.000

30

27,6

800.000

In % der häuslich Gepflegten (rechte Achse) 20 11,3

6,5

285.356

163.031

108.889

0

Stationäre Pflege

31

250.000 23,9

200.000

20

0

123.865 4.125 0,5 PG 1

PG 2

30

15,9

100.000 50.000

In % der stationär 28,7 Gepflegten (rechte Achse)

0

240.933

186.850

150.000

10 4,3

PG 3

PG 4

108.889

PG 5

10 0

Quelle: Bundesministerium für Gesundheit (2019), Zahlen und Fakten zur Pflegeversicherung.

Seit 1995 hat sich nicht nur die Zahl der Pflegebedürftigen insgesamt deutlich erhöht – nämlich von 1,55 Mio. im Jahr 1996 auf 3,7 Mio. im Jahr 2018. Auch das Gewicht der Pflegestufen bzw. -grade hat sich verschoben, so hat sich der Anteil (aber nicht die Anzahl !) der Schwerst- und Schwerpflegebedürftigen (bis 2016 Pflegestufe II und III) verringert. Anfang 2018 war nur etwa ein Fünftel der Leistungsempfänger:innen den Pflegegraden 4 und 5, dagegen aber knapp drei Viertel den Pflegegraden 2 und 3 zugeordnet. Offen ist, ob diese Verteilung auch der aktuellen pflegetypischen Morbiditätsstruktur entspricht oder Folge der neuen Einstufungspraxis ist. Erwartungsgemäß dominieren in der häuslichen Pflege die niedrigen Pflegegrade, vor allem PG 2, und hier wiederum die Geldleistungen. Demgegenüber verläuft in der stationären Pflege die Verteilung auf die Pflegegrade 2 – 4 ziemlich gleichmäßig (vgl. Abbildung IX.8). Leistungsempfänger:innen nach Leistungsarten Abbildung IX.9 belegt, dass der Anteil der vollstationär Gepflegten mit 21,3 % vergleichsweise niedrig ausfällt. Es dominieren bei den Leistungsarten mit knapp 47 % ganz eindeutig ausschließliche Geldleistungen, gefolgt von Kombinationsleistungen mit 14 %, die seit Jahren kontinuierlich stärker nachgefragt werden, was als Ausdruck

800

Pflegebedürftigkeit und Pflege

Abbildung IX.9 Leistungsempfänger:innen der sozialen Pflegeversicherung nach Leistungsarten 2017

Pflegesachleistung: 155.182 = 4,6 %

Pflegegeld: 1.566.469 = 46,9 %

LeistungsempfängerInnen insgesamt 3.341.403

Kombinationsleistung: 469.168 = 14 %

Verhinderungspflege: 192.949 = 5,8 %

Vollstationäre Pflege: 711.926 = 21,3 % Pflege in Behindertenheimen: 126.552 = 3,8%

Tages- und Nachtpflege: 93.183 = 2,8 % Kurzzeitpflege: 25.974 = 0,8 %

Quelle: Bundesministerium für Gesundheit (2018), Zahlen u. Fakten zur Pflegeversicherung.

einer wachsenden Belastung in der häuslichen Pflege und als zunehmender Bedarf an professioneller Unterstützung interpretiert werden kann. Ausschließlich Pflegesachleistungen bezogen lediglich knapp 5 %. Tages- und Nachpflege wurden von knapp 3 %, Verhinderungs- und Kurzzeitpflege von etwas mehr als 7 % in Anspruch genommen. Im Vergleich zum Pflegegeld ist demnach die Nutzung jener Leistungen gering, die die häusliche Pflege ergänzen und unterstützen sollen. Dies mag auch damit zusammenhängen, dass die Kenntnis über das Leistungsspektrum der Pflegeversicherung und die Kombinationsmöglichkeiten von unterschiedlichen Leistungsarten immer noch sehr gering ist. Die Verteilung der Leistungsarten variiert deutlich mit den Pflegegraden. In Pflegegraden 2 und 3 dominiert das Pflegegeld. Insgesamt hat sich in allen Pflegegraden der Anteil der stationären Leistungsempfänger:innen zu Gunsten der ambulanten Leistungen verschoben. Von einem „Sog in die Heime“ kann auch nach Einführung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs keine Rede sein. Obgleich die Sachleistungen deutlich höher als das Pflegegeld bewertet werden, bleibt es bei der bereits bei der Einführung der Pflegeversicherung von vielen erwarteten hohen Inanspruchnahme der Geldleistungen. Verglichen damit wird eher selten auf professionelle pflegerische Dienste zurückgegriffen (vgl. Abbildung IX.10).

Leistungen der Pflegeversicherung

Abbildung IX.10 arten 1996 – 2017

801

Leistungsempfänger:innen der sozialen Pflegeversicherung nach Leistungs-

3.084,7

3.200

2.908,8 2.782,1

2.800 2.348,4 2.400 1.794,7

2.000 1.562,1 1.600

16,2 355,1

1.200

56,5 17,0 452,8

1.882,1 55,6 24,3 494,8

1.971,6

1.983,4

2.020,2

60,4 30,6

65,1 37,2

66,9 48,3

532,3

548,7

542,4

2.175,6

81,5

74,0 65,5

99,8

600,4

244,4

621,4

2.449,4 81,2 140,4

85,0 194,0

679,8

88,0

421,0 380,2

171,8 133,9

193,0

205,3

203,5

208,7

135,3 105,9

159,7

165,7

169,4

178,1

182,2

183,0

129,5

943,9

962,7

954,7

977,3

959,6

976,4

1.009,1

1.050,9

1.075,8

1996

1998

2000

2002

2004

2006

2008

2010

2012

148,7

0

Pflege in Behindertenheimen

312,1

Verhinderung/Tages/ Nacht/KurzzeitPflege

249,7 711,9

676,6

408,4 180,8

800

400

Insgesamt

126,5

225,4

642,3

311,7

91,4

3.341,4

1.254,0

1.329,5

2014

2015

vollstationäre Pflege

706,0

414,0 185,1

1.438,4

469,2

Kombinationseistung

155,2

Pflegesachleistung

1566,5

Pflegegeld 2016

2017

Quelle: Bundesministerium für Gesundheit (2018), Zahlen und Fakten zur Pflegeversicherung.

Dies hat mehrere Gründe: Zunächst dürften finanzielle Motive überwiegen, denn das Pflegegeld steht als anrechnungs- und steuerfreies Einkommen zur individuellen Verfügung und kann das Haushaltsbudget nicht unerheblich aufbessern. Beträchtliche Mitnahmeeffekte sind somit wahrscheinlich, zumal eine echte zweckgebundene Überprüfung nur schwer möglich ist (vgl. Pkt. 8.4 dieses Kapitels). Hinzu kommt die soziale Absicherung. Das spielt insbesondere bei jenen Angehörigen eine Rolle, die nicht (mehr) erwerbstätig sind oder wegen der Pflegeverpflichtungen ihre Erwerbstätigkeit aufgegeben haben. Dabei handelte es sich 2018 um 560 000 Fälle, für die die Pflegekassen rund 1.5 Mrd. Euro an Beiträgen an die Rentenkassen überwiesen haben. Zum anderen ist zu berücksichtigen, dass die von der Pflegeversicherung finanzierten Sachleistungen begrenzt sind, da die festgeschriebenen Leistungshöchstsätze – selbst in den obersten Pflegegraden – nur eine geringe Zahl täglicher Pflegeeinsätze ermöglichen und immer nur eine Ergänzung zur familiären Pflege darstellen. Dies kann ebenfalls ein Grund für die Angehörigen sein, die Pflege lieber vollständig zu übernehmen und dafür ein ungeschmälertes Pflegegeld zu erhalten.

802

Pflegebedürftigkeit und Pflege

7

Angebotsstrukturen und Personalausstattung

7.1

Ambulante Dienste und Pflegeheime

Die Angebotsstrukturen im Bereich der ambulanten Dienste sind durch das starke Gewicht (kleinerer) privater Pflegedienste gekennzeichnet, ihr Anteil an den Pflegediensten lag Anfang 2018 bei rd. 66 % (9 200). 33 % (4 700) befanden sich in freigemeinnütziger und nur etwa 1 % (200) in öffentlicher Trägerschaft. Letzteres ist nicht nur Ausdruck des Vorrangprinzips im SGB XI – dieses wurde auf die privatgewerblichen Träger ausgeweitet (vgl. Kapitel „Soziale Dienste“ Pkt. 3.2.3) –, sondern auch des freiwillig erfolgten Rückzugs vieler Kommunen aus ihrer Versorgungsverantwortung (vgl. Pkt. 8.1 dieses Kapitels). Im Durchschnitt betreute ein Dienst etwa 59 Pflegebedürftige, allerdings wird damit bei einem Einsatz von meist weniger als 30 Minuten/täglich insgesamt nur etwa 10 % des gesamten häuslichen Pflegeaufwands abgedeckt. Anfang 2018 waren in allen zugelassenen Pflegediensten knapp 390.00 Beschäftigte tätig. Das entspricht 266 000 Vollzeitäquivalenten. Von diesen waren mit 69 % die Mehrheit in Teilzeit gegenüber nur 28 % in Vollzeit, und zudem viele in prekären Beschäftigungsverhältnissen tätig (z. B. Leiharbeit, Befristung). 86 % der Beschäftigten waren Frauen, 40 % 50 Jahre und älter (vgl. Abbildung IX.11).

Abbildung IX.11

Ambulante und stationäre Pflegedienste nach Trägern 2017

Ambulant

Stationär

privat: 9.243 = 65,8%

privat: 6.167 = 42,6%

ambulante Pflegedienste insgesamt:

freigemeinnützig: 4.615 = 32,8%

14.050

öffentlich: 192 = 1,4%

Quelle: Statistisches Bundesamt (2019), Pflegestatistik 2017.

Pflegeheime/ stationäre Pflegedienste insgesamt: 14.480

öffentlich: 682 = 4,7 %

freigemeinnützig: 7.631 = 52,7 %

Angebotsstrukturen und Personalausstattung

803

Zum Jahresbeginn 2018 gab es rund 14 500 zugelassene voll- bzw. teilstationäre Pflegeheime, die weit überwiegend (94 %) aussschließlich ältere Menschen versorgen. Im Gegensatz zu den ambulanten Diensten befand sich mit 53 % die Mehrheit in freigemeinnütziger Trägerschaft (7 600). Der Anteil der Privaten betrug 43 % (6 200), er lag somit niedriger als im ambulanten Bereich. Allerdings gibt es unter ihnen zunehmend konzernartige Strukturen (Pflegeketten), basierend auf großen Portfoliokäufen von Investoren, die in der stationären Pflege ein hoch attraktives, weil hohe Renditen von bis zu 10 % erwirtschaftendes Kapitalanlagefeld sehen. Privat-gewerbliche Träger haben in den vergangenen Jahren auch den stärksten Anstieg bei den Pflegeheimbetten zu verzeichnen, mit überdies ständig steigenden Marktanteilen; darunter als größte die aus Frankreich stammende Korian Gruppe (Curano AG). Inwieweit dies die geleistete Pflegequalität tangiert, wird zunehmend kritisch angefragt, was bei Personalkostenanteilen von rund 80 % an den Heimkosten naheliegt. Auch dass in vielen Fällen Renditeerwartungen der Investoren über die Interessen der Pflegebedürftigen dominieren dürften, gilt als wahrscheinlich. Öffentliche Träger hatten mit 5 % (700) auch hier den geringsten Anteil; auch hier im hohen Maße Ausdruck des Vorrangprinzips im SGB XI. Im Schnitt betreute ein Pflegeheim 64 Pflegebedürftige. Die meisten Plätze bei der Dauerpflege (581 000) befanden sich in 1-Bett-Zimmern, 294 000 Plätze in 2-Bett-Zimmern. In den Heimen waren 765 000 Personen (entspricht etwa 552 000 Vollzeitäquivalenten) beschäftigt, darunter zu 84 % Frauen und zu knapp zwei Drittel (63 %) in Teilzeit (vgl. Abbildung IX.12). 42 % waren 50 Jahre und älter. Insgesamt kennzeichnen auffällige regionale Unterschiede die jeweiligen Versorgungskapazitäten und damit mittelbar auch die Inanspruchnahmequoten. Sie betreffen vor allem den stationären Bereich. Es zeigt sich, dass freie Kapazitäten in stationären Einrichtungen zu einer häufigeren Inanspruchnahme gegenüber der ambulanten Pflege führen. Darüber hinaus gibt es z. T. erhebliche Versorgungsunterschiede zwischen Kommunen, häufig sogar innerhalb eines (Land-)Kreises. Es stellt sich somit für die Heimpflege die Frage, ob hier eine angebotsorientierte Nachfragesteuerung stattfindet, denn es gibt auch bundesweit Beispiele von Unterauslastung und leerstehenden Kapazitäten. Besonders eklatant sind regionale Unterschiede bei Tagespflegeplätzen. Rückblickend gilt, dass insbesondere zwischen 1999 und 2013 die Kapazitäten in der ambulanten und stationären Versorgung stark gestiegen sind, sogar deutlich schneller als die Zahl der Pflegebedürftigen in gleichen Zeitraum. Insgesamt hat dieser Kapazitätsausbau hat dazu geführt, dass Versorgungsdefizite im ambulanten Bereich und Wartelisten im stationären Bereich zwar reduziert, aber nicht beseitigt werden konnten. Über die konkrete Versorgung auf regionaler und lokaler Ebene ist mit diesen Durchschnittswerten noch nichts ausgesagt.

804

7.2

Pflegebedürftigkeit und Pflege

Personalausstattung und -situation

Auch die Zahl der Beschäftigten in der Altenpflege hat sich deutlich erhöht. Der Personalzuwachs seit 1999 konzentriert sich allerdings auf Teilzeitbeschäftigte, während die Zahl der Vollzeitbeschäftigten nur schwach zugenommen hat. Rechnet man die Teilzeitbeschäftigungsverhältnisse in Vollzeitstellen um (sog. Vollzeitäquivalente), so weist das Statistische Bundesamt für das Jahr 2017 etwa 819 000 Vollzeitäquivalente aus (im ambulanten Sektor: 266 000; im stationären Sektor: 553 000). Da sich im gleichen Zeitraum die Zahl der Pflegebedürftigen, die stationär oder ambulant versorgt werden, um rund 45 % erhöht hat, kann keineswegs von einer Verbesserung der Personalausstattung ausgegangen werden. Allerdings geben diese groben Anhaltszahlen noch keine Auskünfte über den tatsächlichen Personalschlüssel, da bei den Pflegebedürftigen nach dem Grad der Pflegebedürftigkeit und der Art der Pflege zu unterscheiden ist. Und beim Pflegepersonal kommt es u. a. auf die Einsatzbereiche (Grundpflege, hauswirtschaftliche Versorgung, Verwaltung) an. So fällt der Anstieg der Beschäftigtenzahl in den stationären Einrichtungen leicht höher aus als bei den ambulanten Pflegediensten. Zwar hat sich der Anteil der Heimbewohner an allen Pflegebedürftigen kaum erhöht. Aber zu berücksichtigen ist, dass die Pflege in Heimen besonders personalintensiv ist, da hier die Pflegebedürftigen mehrheitlich unter die höheren Pflegegrade fallen. Die Personalsituation in der professionellen Pflege steht seit längerem im Zentrum der Diskussionen um die Qualität in der professionellen Pflege. Dabei geht es um Dimensionen wie Personalausstattung und Arbeitsbedingungen einschließlich Entlohnung. Während die Personalausstattung in den ambulanten Pflegediensten nicht vorgeschrieben ist (Ausnahme: die Leitung), ist sie für die Heime – je nach Bundesland – unterschiedlich geregelt. Mindestgröße und -zusammensetzung des Personals bestimmen die jeweiligen Heimpersonalverordnungen. Sie werden über Verträge zwischen Heimen, Landesregierungen und Pflegekassen festgelegt. Der dabei jeweils vorgegebene (Mindest-)Mitarbeiterschlüssel hängt davon ab, wie viele Bewohner:innen in welchem Pflegegrad in der Unterkunft leben. Allerdings werden diese Mindestvorgaben mangels ausreichend qualifizierter Pflegekräfte auf dem Arbeitsmarkt keinesfalls durchgängig realisiert und häufig umgangen. Das vom neu eingerichteten Qualitätspflegeausschuss in Auftrag gegebene, für Juni 2020 angekündigte wissenschaftlich basierte Personalbemessungsinstrument lässt hoffentlich mehr Klarheit erwarten (vgl. Pkt. 8.4 dieses Kapitels). Arbeitsbedingungen Die Arbeitsbedingungen sind eine ganz entscheidende Stellgröße, wenn es darum geht, Pflegepersonal zu rekrutieren und insbesondere zu halten (vgl. Pkt. 11.2 dieses Kapitels). Sie stehen seit langem massiv in der Kritik. Die psycho-physischen Belastungen bei gleichzeitiger Unterbezahlung sind im Vergleich mit übrigen personenbezoge-

Angebotsstrukturen und Personalausstattung

805

Abbildung IX.12 Personal in der stationären und ambulanten Pflege 1999 – 2017 nach Beschäftigungsverhältnissen 1.154.970

1.000.000

951.893

800.000

624.722 600.000

40.754

49.816 124.042

819.707

52.033

760.704

49.067

121.185

117.764

711.754 664.935

48.903

40.877

38.923

91.744

103.195

71.686

Sonstige*

1.005.524

70.864

68.428

130.548

131.027 = 11,3%

Teilzeit, Minijobs

577.764

621.642 = 53,8%

129.918

81.697

81.921 = 13,1% 400.000

890.301

387.707

437.993

485.864

517.597

305.113

344.051

276.422

274.020

264.555

265.169

279.090

292.171

289.581

306.582

330.615 = 28,6%

2001

2003

2005

2007

2009

2011

2013

2015

2017

233.589 = 37,4%

267.893

268.458 = 43,0%

1999

Teilzeit, sozialversicherungspflichtig

200.000

0

Insgesamt

1.085.758

Vollzeit

* Praktikanten, Schüler, Auszubildende, Helfer im freiwilligen sozialen Jahr, Zivildienstleistende, Helfer:innen im Bundesfreiwilligendienst. Quelle: Statistisches Bundesamt (2019), Pflegestatistik 2017.

nen sozialen Dienstleistungsbranchen überdurchschnittlich hoch. Als wichtiger Auslöser gilt die verbreitete „Verbetriebswirtschaftlichung“ der Pflege. Insbesondere in konfessionellen und gemeinnützigen Betrieben gerät dies in einen wachsenden Widerspruch zu den hier vertretenen Leitbildern und Selbstverpflichtungen (vgl. Kapitel „Soziale Dienste“, Pkt. 3.2). Die Rede ist von Produktdenken und Minutenpflege als Folge von Rationalisierungsbemühungen nunmehr auch in der professionellen Altenpflege – bedingt u. a. durch zu geringe Pflegesätze und zu wenig Personal. So bemängelt z. B. das Kuratorium Deutsche Altenhilfe (KDA) eine „wachsende Kommerzialisierung der Pflege, deren schädliche Auswirkungen in der gehetzten Minutenpflege, Fehlen der Beziehungspflege und hoch belastetem Personal sichtbar werden. Wettbewerbs- und Konkurrenzfähigkeitskriterien, die Orientierung auf den niedrigsten Preis in den Vergütungsverhandlungen und die lange ausgebliebene Dynamisierung der Leistungsbeträge befördern den Rationalisierungsdruck im Pflegemarkt“. Auch ist in der professionellen Altenpflege der Anteil von atypischen bis hin zu prekären Beschäftigungsverhältnissen besonders hoch; Lohndumping durch Ausgliederung und Tarif flucht sind nicht untypisch für diesen Teilmarkt. Indizien für zunehmend als schlechter wahrgenommene Arbeitsbedingungen sind überdurchschnittlich hohe Krankenstände, gesundheitsbedingte vorzeitige Ver-

806

Pflegebedürftigkeit und Pflege

rentungen sowie ein häufigerer Berufsaustritt über Erwerbsminderungsrenten. In der Konsequenz sind auch die Berufsverweildauern im Altenpflegeberuf kürzer. Neuere Studien belegen, dass im Branchenvergleich ältere Pflegekräfte deutlich früher in Rente gehen wollen, sich dies aber wegen zu hoher Rentenabschläge wahrscheinlich nicht leisten können. Auch der von vielen deswegen favorisierte Wechsel von der unmittelbaren Pflege in eine (höherwertige) administrative Tätigkeit ist nur selten realisierbar und wäre auch nicht bedarfsgerecht. Ob es gelingen kann, über eine wirksamere Interessenvertretung des Pflegeberufs, etwa über die Einrichtung von Pflegekammern (vgl. Kapitel „Arbeitsbeziehungen“, Pkt. 2.5), zu Verbesserungen zu gelangen, ist Gegenstand kontroverser berufspolitischer Diskurse. Hinsichtlich der Entlohnung gibt es seit langem eine auffallende und viel beklagte Diskrepanz zwischen der steigenden Nachfrage nach Pflegekräften und deren zu geringer Entlohnung. In Deutschland verdienen examinierte Altenpflegekräfte etwa ein Fünftel weniger als Fachkräfte in der Krankenpflege, was sich dann später in niedrigeren Altersrenten niederschlägt. Zudem gibt es ganz erheblich Entgeltunterschiede zwischen den Bundesländern, aber auch zwischen den Einrichtungsträgern. Während z. B. kommunale Träger im Rahmen der Tarifbindung des öffentlichen Dienstes entlohnen und die meisten Wohlfahrtsverbände über Haustarifverträge bzw. Dienstvereinbarungen verfügen, kann man dies bei den privat-gewerblichen, die Ende 2017 immerhin rund 42 % der stationären und rund 65 % der ambulanten Einrichtungen betrieben, mit der sprichwörtlichen Lupe suchen. Bisher gibt es keinen bundesweiten Tarifvertrag in der Pflege – nur einen allgemeinen Pflegemindestlohn in Höhe von 12,55 € für Pflegehilfskräfte ab Juli 2020 (vgl. Kapitel „Einkommen“, Pkt. 2.3.4). Das Fehlen eines bundesweiten Tarifvertrages ist auf die heterogene Struktur der Branche mit privaten, kommunalen, freigemeinnützigen und kirchlichen Arbeitgebern und ihren unterschiedlichen Interessen zurückzuführen. Offen ist, ob es den Tarifparteien unter den Rahmenbedingungen des ab 2020 geltenden „Gesetzes für bessere Löhne in der Pflege“ gelingt, einen flächendeckenden Tarifvertrag abschließen, den das Bundesarbeitsministerium auf der Grundlage des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes dann auf alle Arbeitgeber und Arbeitnehmer:innen in der Pflege zu erstrecken plant. Der Widerstand der kirchlichen und vor allem der privat-gewerblichen Träger ist groß, sodass das Gesetz als zweite Möglichkeit vorsieht, über höhere Lohnuntergrenzen die Bezahlung in der Pflege insgesamt anzuheben. Dazu soll eine ständige, paritätisch besetzte Pflegekommission Vorschläge für unterschiedliche Mindestlöhne für Hilfs- und Fachkräfte erarbeiten. Die Altersstruktur der Beschäftigten in der professionellen Pflege belegt einen gegenüber anderen Branchen hohen Anteil älterer Arbeitnehmer:innen. In Anbetracht vergleichsweise kurzer Berufsverweildauern in der professionellen Pflege und einem hohen Grad an gesundheitsbedingten Frühverrentungen hier gilt die ungünstige Altersstruktur in dieser Branche als ein wichtiger Treiber des bereits jetzt bestehenden Personalnotstandes in der Pflege. Vor diesem Hintergrund sind Maßnahmen zur Hu-

Steuerung, Beratung, Vernetzung und Qualitätssicherung

807

manisierung des Arbeitslebens und zu einem längeren Verbleib im Beruf unerlässliche Optionen zur Bewältigung des Versorgungsmangels. Pflegenotstand Pflegenotstand kann man als multiplen Mangel an Zeit, Personal und Fachkräften bezeichnen. Betrachtet man die Gesamtsituation in der stationären wie in der ambulanten Altenpflege, so hat er sich in den zurückliegenden Jahren kontinuierlich verschärft. Die Personalausstattung (Personalschlüssel) ist zu gering, um tatsächlich fachlich angemessene pflegerische Maßnahmen sowie Hilfen bei der Haushaltsführung leisten zu können. Es fehlt ein verbindliches Personalbemessungsverfahren, das das Verständnis von Pflege und Betreuung auf der Grundlage des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs wie auch die Qualifikationsanforderungen berücksichtigt. Die von der Bundesregierung eingeleiteten Sofortmaßnahmen (Finanzierung von 13 000 zusätzlichen Pflegekräften) wie auch die von der Pflegeversicherung seit 2017 finanzierten zusätzlichen Betreuungskräfte können das Problem lediglich lindern aber nicht lösen. Es bleibt abzuwarten, was das für 2020 angekündigte, vom neu eingerichteten Qualitätspflegeausschuss in Auftrag gegebene, wissenschaftlich basierte Personalbemessungsinstrument bringt (vgl. Pkt. 8.4 dieses Kapitels). Verschärft wird die Situation dadurch, dass schon derzeit offene Stellen nicht besetzt werden können, weil Fachkräfte fehlen. Nach der Engpassanalyse der Bundesagentur für Arbeit finden sich für viele Stellenangebote (examinierte Altenpflegekräfte) keine Bewerber:innen. Zwischen gemeldeten Stellen und Arbeitslosen besteht ein Missverhältnis. Zugleich kommt es zu einer Personalverschiebung von der Altenpflege hin zu der attraktiveren und besser bezahlten Krankenpflege. Ursächlich für diese Lage ist auch, dass in der Vergangenheit bei Weitem zu wenig Altenpflegekräfte ausgebildet worden sind und die Förderung durch Umschulungsmaßnahmen zu spät eingesetzt hat. Kaum zu begreifen ist auch, dass bis vor noch wenigen Jahren in einigen Bundesländern für die Ausbildung Schulgeld bezahlt werden musste und keinerlei Anspruch auf eine Ausbildungsvergütung bestand.

8

Steuerung, Beratung, Vernetzung und Qualitätssicherung

8.1

Sicherstellungsauftrag der Pflegekassen

Den Pflegekassen obliegt gemäß § 69 SGB XI der Sicherstellungsauftrag, d. h. sie müssen das Angebot und die Qualität an erforderlichen Diensten und Einrichten in den einzelnen Gebietskörperschaften garantieren. Eine staatliche Planung der stationären Pflegeeinrichtungen analog zum Krankenhaussektor gibt es nicht. Da die Kassen über keine eigenen Einrichtungen verfügen, mit denen sie den Sicherstellungsauftrag erfüllen können, schließen die Landesverbände der Pflegekassen Versorgungsverträge

808

Pflegebedürftigkeit und Pflege

und Vergütungsvereinbarungen mit den einzelnen Trägern von Pflegeeinrichtungen und ambulanten Pflegediensten ab, wobei auf Trägervielfalt geachtet werden muss. Unter diesen dominierten lange Zeit die Wohlfahrtsverbände und kirchliche Träger, neuerdings aber zunehmend bedrängt durch privat-gewerbliche Anbieter. Letztere sind vor allem als Träger ambulanter Pflegedienste oder neuerdings als Heimbetreiber auf dem Markt. Deutlich niedriger und in einigen Segmenten sogar gegen Null tendierend sind die Anteile der Kommunen an den Einrichtungsträgern, obwohl sie dies prinzipiell könnten. SGB XI-Einrichtungen und Dienste müssen offiziell zugelassen sein. Bedingung dafür ist die Erfüllung von qualitativen Mindestvoraussetzungen, die aber in der Regel lediglich auf Dimensionen der Strukturqualität abheben (vgl. Pkt. 8.4 dieses Kapitels). Der pflegerische Versorgungsbedarf wird nicht (wie der medizinische Versorgungsbedarf in der GKV) über Ärzte definiert, sondern von den Pflegekassen, also von den Kostenträgern selbst, unter Einschaltung des medizinischen Dienstes der Krankenkassen (MDK) festgestellt. Im Gegensatz zur Krankenversicherung gilt bei der Pflegeversicherung auch nicht das Bedarfsdeckungsprinzip. Ziel ist es, einen Teil der pflegerischen Grundversorgung abzusichern (Teilkostenversicherung). Die Kosten nicht nur für Unterkunft und Verpflegung, sondern auch für jene Pflegeleistungen (einschließlich der medizinischen Behandlungspflege), die nicht durch die Leistungen der Pflegeversicherung abgedeckt sind, müssen selbst getragen werden. Dies führt dazu, dass in der Heimkostenfinanzierung die Sozialhilfe immer noch und seit Jahren sogar wieder zunehmend eine wichtige Rolle spielt (vgl. Pkt. 10.1 dieses Kapitels). Die Pflegekassen sind somit die Hauptakteure in der pflegerischen Versorgungsverantwortung vor Ort, ohne sie geht de facto nichts. Auch hier folgt das SGB XI nicht dem SGB V (GKV), wo die Kassenärztlichen Vereinigungen als Organisation der Vertragsärzte für die Sicherstellung der ambulanten ärztlichen Versorgung und die Länder für die Krankenhausplanung zuständig sind (vgl. Kapitel „Gesundheit und Gesundheitssystem“, Pkt. 6.1). Rolle der Kommunen Der Sicherstellungsauftrag der Pflegekassen ist allerdings nicht unumstritten, zumal noch in ihrer Doppelrolle als Kostenträger. Vor allem aber gegen die unzureichende Verantwortungszuweisung an die Kommunen richtet sich seit Jahren die Kritik insbesondere der kommunalen Spitzenverbände. Allerdings trifft auch zu, dass sich die Kommunen im Zuge der Einführung des SGB XI unter Hinweis auf den Sicherstellungsauftrag der Kassen teilweise selbst freiwillig aus ihrer Mitverantwortung für die pflegerische Versorgung der Bevölkerung (dabei besonders offensichtlich als Anbieter eigener Einrichtungen; vgl. Pkt. 7.1 dieses Kapitels) zurückgezogen haben. Gleichwohl sind Pflegekassen und Kommunen gemäß dem im SGB XI postulierten Grundsatz der gemeinsamen Verantwortung (vgl. Pkt. 5.1 dieses Kapitels) zu einer stärkeren Zusammenarbeit verpflichtet. Dazu haben die Kommunen verschiedene Mitwirkungsrechte, von denen aber bundesweit und noch einmal in den Ländern un-

Steuerung, Beratung, Vernetzung und Qualitätssicherung

809

terschiedlich Gebrauch gemacht wird. Unbestritten ist ihre Rolle auf der individuellen Ebene, d. h. bei der konkreten Unterstützung der Pflegebedürftigen und ihren Familien. Seit 2016 (PSG III) sind sie eigenständige Träger der Pflegeberatung, die sonst nur den Pflegekassen zugeordnet ist, wenn auch nur in rund 60 Modellkommunen, hier sogar mit dem expliziten Auftrag zur integrierten Beratung (vgl. Pkt. 8.3 dieses Kapitels). Auf der strukturellen Ebene sind Kommunen zunächst für die Pflege als örtlicher Sozialhilfeträger und somit als Restkostenfinanzierer zuständig, des Weiteren als Heimaufsichtsbehörde (vgl. Pkt. 8.3 dieses Kapitels). Eine begrenzte pflegerische Infrastrukturverantwortung können sie im Rahmen ihres ihnen grundgesetzlich aufgegebenen Daseinsvorsorgeauftrags übernehmen (s. u.), z. B. für die Entwicklung und Förderung einer örtlichen Sorgekultur („sorgende Gemeinschaften“) (vgl. Pkt. 4 dieses Kapitels), im Rahmen örtlich wirksamer Steuerungs- und Vernetzungsaufgaben und Abstimmungsprozesse (z. B. in Pflegekonferenzen wie in NRW, deren Beschlüsse aber nicht bindend sind) sowie für die Umsetzung des Grundsatzes „ambulant vor stationär“. Wegen der Abgrenzungsprobleme zum Sicherstellungsauftrag der Pflegekassen und deren Widerstände gegen Kompetenzverluste gibt es bundesweit keine wirkliche Beteiligung der Kommunen an Planung und Steuerung der örtlichen Versorgungsstruktur; obwohl dies im Grundsatz nichts Neues wäre, denn sie gab es bereits – sogar verpflichtend – in den 1990er Jahren in NRW, fiel dann allerdings EU-wettbewerbsrechtlichen Bestimmungen zum Opfer. 2013 war dann auf Bundesebene im Koalitionsvertrag von CDU/CSU und SPD vereinbart worden, die Steuerungs- und Planungskompetenz der Kommunen zu stärken und die kommunale Ebene insgesamt stärker in die örtliche Pflegepolitik einzubinden. Der dann im PSG III dazu gefundene Kompromiss blieb aber wegen der Widerstände der Pflegekassen deutlich hinter den Erwartungen der kommunalen Spitzenverbände zurück. Den Ländern wurde lediglich eine Möglichkeit zur kommunalen Pflegestrukturplanung eingeräumt. Auch hier ist NRW an der „Spitze der Bewegung“: Seit 2014 delegiert das neu gefasste Alten- und Pflegegesetz (§ 7 APG-NRW) die Pflegeinfrastrukturplanung auf die Kommunen als eigenständige Aufgabe mit den Komponenten Bestandsaufnahme, Bedarfsfeststellung und Maßnahmenabklärung. Trotz einzelner Länderinitiativen bleibt es somit auf der strukturellen Ebene bei der faktischen Monopolstellung der Pflegekassen in der pflegerischen Versorgungsverantwortung vor Ort. Dies gilt vielen als Funktionssperre der Kommunen insbesondere im Rahmen der ihnen verfassungsrechtlich zugewiesenen Daseinsfürsorge gemäß Art. 28 II GG, der sie für die sozialen Anliegen der örtlichen Gemeinschaft als hauptzuständig benennt (vgl. Kapitel „Soziale Dienste“, Pkt. 3.1.2). Auch fachlich lässt sich für eine stärkere Versorgungsverantwortung der Kommunen im Bereich Pflege argumentieren: Pflegebedürftigkeit reicht als komplexe und mehrdimensionale Lebens- und Bedarfslage weit über die enge Definition von pflegerischen Versorgungsbedarfen im SGB XI hinaus und adressiert dabei traditionell so unterschiedliche kommunale Sozialpolitikfelder im Umfeld der Daseinsvorsorge wie

810

Pflegebedürftigkeit und Pflege

Altenhilfe, Grundsicherung, Wohnraumversorgung oder Verkehrspolitik. Auch wird betont, dass die Kommunen aufgrund ihrer besonderen Nähe zu den Betroffenen und ihren Familien sowie ihrer regional wie bedarfsbezogen deutlich detaillierteren Sicht der Dinge besser in der Lage sind, die unmittelbare pflegerische Versorgungsgesamtverantwortung und -steuerung in gleichberechtigter Funktion mitzugestalten (vgl. Pkt. 11.4 dieses Kapitels). 8.2

Steuerung des Versorgungsgeschehens

Über die Vertragsgestaltung können die Pflegekassen Art, Menge, Kosten und Qualität der Versorgung steuern. Als Vertragspartner für Versorgungsverträge sieht das Pflegeversicherungsgesetz in einer deutlich ausgeweiteten Interpretation des Subsidiaritätsprinzips (vgl. Kapitel „Soziale Dienste“, Pkt. 3.2.2) ausdrücklich auch privat-erwerbswirtschaftliche Anbieter vor. Bei einer notwendigen Auswahl zwischen mehreren Versorgungseinrichtungen sollen die Versorgungsverträge vorrangig mit freigemeinnützigen und privaten Trägern abgeschlossen werden.

Leistungs- und Vertragsbeziehungen in der pflegerischen Versorgung

Vergütungsvereinbarungen Versorgungsverträge

Sachleistung

Eigenleistung

Pflegevertrag

Leistungserbringer: Pflegeheime Pflegedienste

Pflegegeld

Pflege

Pflegegeld

Pflegebedürftige

Pflegekassen

Beiträge

Abbildung IX.13

Beitragszahler

Hilfe zur Pflege

Sozialhilfe

Private Pflegepersonen Absicherung in der Renten-, Arbeitslosen- und Unfallversicherung

Steuerung, Beratung, Vernetzung und Qualitätssicherung

811

Leistungsvernetzung und -koordination Die Praxis der pflegerischen Versorgung zeichnet sich in ganz besonderer Weise durch ein hohes Maß an Schnittstellenproblemen und entsprechendem Koordinationsbedarf aus, die sich insbesondere auf der kommunalen Ebene manifestieren. Örtliche Über- und Unterversorgungen sind häufige Folgen. Auch deswegen wird für ein stärkeres, politisch wie rechtlich abgesichertes Engagement der Kommunen plädiert. Schnittstellenprobleme gibt es insbesondere zwischen den Versorgungsbereichen Pflege und Gesundheit, so insbesondere bei Krankenhausbehandlung und -entlassung oder bei der medizinischen Versorgung von demenziell Pflegebedürftigen. Auch die Bedarfsdeckung bei pflegtypisch multikomplexen Versorgungsarrangements im häuslichen Bereich leidet am unkoordinierten Nebeneinander von Zuständigkeiten, Trägern, Anbietern und nicht zuletzt von berufsgruppentypischen Betreuungs- und Pflegeformen. Besonders negativ sind die Auswirkungen in den Handlungsfeldern Prävention und Rehabilitation. Die Ursachen werden insbesondere in den unterschiedlichen Ausgestaltungsprinzipien von Kranken- und Pflegeversicherung einerseits und den wettbewerblichen Strukturen der GKV und der faktischen Einheitsversicherung SPV andererseits gesehen. Bisherige Bemühungen, auf gesetzlicher Grundlage zur Überwindung der institutionell bedingten Schnittstellenprobleme zu gelangen (z. B. integrierte Versorgung), sind nicht weit gekommen. Die im Rahmen der individuellen Pflegeberatung (z. B. durch Pflegestützpunkte) vorgeschriebenen, am umfänglichen Einzelfall-Pflegebedarf ausgerichteten Versorgungspläne und deren sozialräumliche Umsetzung sind längst überfällige Reaktionen. Sie setzen aber auf Seiten der Berater:innen neue Qualifikationen (z. B. Care-Management) voraus, die bundesweit fehlen, und auf Seiten der Anbieter Kooperationsbereitschaft, die nicht im Selbstlauf entsteht. Hier ist die kommunale Politik in ihrer Letztverantwortung gefordert (vgl. Kapitel „Soziale Dienste“, Pkt. 4). Die Bündelung der Sicherstellungsverantwortung in einem Kooperationsverbund, bei dem die Kommunen in verpflichtender Zusammenarbeit mit den Pflege- und Krankenkassen agieren, gilt als übergeordnete Rahmenempfehlung. Örtliche Pflegekonferenzen mit klaren und verbindlichen Koordinierungs- und Steuerungsaufträgen sind dafür gut geeignete Instrumente, die in einigen Landespflegegesetzen auch enthalten sind (z. B. NRW), es fehlt ihnen jedoch die letztendliche Bindungskraft ihrer Beschlüsse. Auch vor diesem Hintergrund ist die Realisierbarkeit der Zukunftsvision der „sorgenden Gemeinschaft“ (vgl. Pkt. 4 dieses Kapitels) mit weiteren Fragen konfrontiert. 8.3

Pflegeberatung

Ein zunehmend wichtiges Steuerungsinstrument, das unmittelbar auf die Betroffenennachfrage vor allem in der ambulanten Pflege zielt, ist die Pflegeberatung. Für alle Empfänger:innen von Leistungen nach dem SGB XI besteht ein kostenfreier

812

Pflegebedürftigkeit und Pflege

Rechtsanspruch auf professionell geleistete individuelle Beratung und Hilfestellung bei der Auswahl und Inanspruchnahme von Sozialleistungen sowie sonstigen pflege- und unterstützungsrelevanten Hilfsangeboten ausgerichtet sind, der sich auch an die privaten Pflegepersonen richtet. Die Pflegekassen weisen bei Antragstellung Anspruchsberechtigten unverzüglich eine:n Pflegeberater:in zu, die/der fester Ansprechpartner:in ist und Hilfe bei der Auswahl und Inanspruchnahme von Unterstützungsangeboten im Sinne des Fallmanagements leistet. Aufgabe der gesetzlich geregelten Pflegeberatung ist es insbesondere: • •



den Hilfebedarf unter Berücksichtigung der Ergebnisse der Begutachtung durch den MDK systematisch zu erfassen und hinsichtlich der Realisierung zu analysieren, einen individuellen Versorgungsplan mit den im Einzelfall erforderlichen Sozialleistungen und gesundheitsfördernden, präventiven, kurativen, rehabilitativen oder sonstigen medizinischen sowie pflegerischen und sozialen Hilfen zu erstellen und für deren Überwachung und Umsetzung zu sorgen; dabei ist Einvernehmen mit dem Hilfesuchenden und allen an der Pflege, Versorgung und Betreuung Beteiligten anzustreben, über Leistungen zur Entlastung der Pflegepersonen zu informieren.

Pflegeberatung soll von fachlich qualifizierten Personen erbracht werden und wird von verschiedenen Anbietern geleistet. Neben den Pflegekassen können es die Verbände der Einrichtungsträger, zugelassene Einzelpersonen, die Kommunen oder andere freigemeinnützige Träger, Verbraucherberatungsstellen, Selbsthilfeorganisationen, ehrenamtliche und sonstige zum bürgerschaftlichen Engagement bereite Personen und Organisationen sein. In rund 60 ausgewiesenen Modellkommunen sind mit dem PSG III auch die Kreise, Städte und Gemeinden mit alleiniger Verantwortung beteiligt worden (vgl. Pkt. 8.2 dieses Kapitels). In mehreren Bundesländern wird die Pflegeberatung durch sog. Pflegestützpunkte durchgeführt, die erstmals 2008 eingeführt wurden. Sie sind zentrale Anlaufstellen für versicherte Pflegebedürftige und ihre Angehörigen bei Fragen, Planung und Hilfestellungen rund um das Thema Pflege. Sie koordinieren und vermitteln trägerneutral und für den Ratsuchenden kostenlos Hilfeleistungen und örtliche Angebote. Die Stützpunkte sind regional unterschiedlich verfügbar, aber die Pflegekasse muss in jedem Fall eine Beratung zugänglich machen. Um den Bedarf an pflegerischer Unterstützung genauer und zielgruppengerechter erfassen zu können, hat sich das Instrument des präventiven Hausbesuches bewährt. Dabei handelt es sich um einen international anerkannten Ansatz bedarfsgerechter und vernetzter Beratung meistens (aber nicht nur) im Vorfeldbereich von Pflegebedürftigkeit mit dem Ziel, vorzeitig absehbare Versorgungslücken zu erkennen und präventiv zu decken.

Steuerung, Beratung, Vernetzung und Qualitätssicherung

8.4

813

Pflegequalität und Qualitätssicherung

Schon bei Einführung der Pflegeversicherung gab es Kritik an der zu geringen Verrechtlichung einschließlich Institutionalisierung der Qualitätssicherung. Dies hat wesentlich auch mit der Vorläuferregelung zu tun, denn für die Sozialhilfe als zuvor zuständigem Träger war die Qualität in der Pflege de facto ein Fremdwort – sowohl im Gesetzestext wie in der von ihr wesentlich mitfinanzierten Pflegepraxis. Entsprechend startete die Pflegeversicherung ohne erkennbare Vorbilder, was zwangsläufig dazu führen musste, dass die wenigen gesetzlichen Vorgaben zur Qualitätssicherung lange und hinter denen in der GKV zurückgeblieben sind. Pflegequalität umfasst im Allgemeinen die drei Dimensionen Struktur-, Prozessund Ergebnisqualität (vgl. auch Kapitel „Soziale Dienste“, Pkt. 7). Dabei bezieht sich Strukturqualität auf die strukturellen Voraussetzungen, die für die pflegerische Versorgung notwendig sind. Hierunter werden sämtliche personenbezogenen Voraussetzungen (z. B. Qualifikation, Fähigkeiten des Personals), materielle Elemente (z. B. bauliche, räumliche und apparative Ausstattung), aber auch organisatorische Elemente (z. B. Aufbauorganisation) der jeweils zu betrachtenden Leistungseinheit gefasst. • Prozessqualität betrachtet demgegenüber alle Aktivitäten, Tätigkeiten und Handlungen der versorgungsrelevanten Leistung (z. B. pflegerische Versorgung), d. h. die dazugehörigen Teilprozesse (z. B. Pflegeplanung, Pflegedokumentation, Pflegevisite) und Unterstützungsprozesse (z. B. Beschaffung, Reinigung). Prozessqualität bezieht sich somit auf die Art und Weise der Leistungserbringung. • Ergebnisqualität wiederum fokussiert die Resultate hinsichtlich ihrer pflegerischen Zielerreichung (z. B. Veränderung des Gesundheitszustands). Sie bezieht sich auf Versorgungsendpunkte (z. B. Lebensqualität, Teilhabe) oder auf sog. Surrogatparameter (z. B. Verbesserung einer Körperfunktion, Vermeidung von Schäden) und kann objektivierbare Veränderungen (z. B. Mobilitätsverbesserung) oder subjektive Bewertungen (z. B. Zufriedenheit) umfassen. •

Insgesamt gilt die Definition, Messung, Verbesserung und Sicherstellung von Ergebnisqualität als eine besondere fachliche Herausforderung („Was ist gute Pflege“ ?). Nicht zuletzt sind unterschiedliche Qualitätsvorstellungen – z. B. zwischen Nutzer:innen, Leistungsträgern und Pflegekassen als Kostenträger („Kostenträger als Qualitätshüter“ ?) – zu beachten, die oftmals nur schwer konfliktfrei im Interesse der Betroffenen zusammengeführt werden können. In der Praxis erfolgt die Qualitätsfestlegung zunächst beim Abschluss von Qualitäts- und Leistungsvereinbarungen im Rahmen der Pflegesatzverhandlungen (vgl. Pkt. 6.4 dieses Kapitels). Pflegekassen dürfen nur noch Verträge mit solchen Einrichtungen abschließen, in denen eine leitende Pflegefachkraft vorhanden ist. Die Qualitätsüberprüfung der Heime erfolgt regelmäßig zum einen durch den MDK im Auf-

814

Pflegebedürftigkeit und Pflege

trag der Pflegekassen und zum anderen durch die Heimaufsicht als Länderaufgabe, die z. T. an die Kommunen delegiert ist. Während erstere auf die Einhaltung der Vorgaben in den Versorgungsverträgen und damit auf alle Dimensionen der Pflegequalität in zugelassenen Heimen und ambulanten Diensten fokussieren, sind dies in der Heimaufsicht nur die Heime und hier vor allem die Dimensionen der Strukturqualität sowie die Einhaltung ordnungsrechtlicher Vorgaben gemäß den früheren Bestimmungen des ehemaligen Bundesheimgesetzes, dessen ordnungsrechtlicher Regelungsbereich mit der Föderalismusreform 2007 auf die Länder übergegangen ist. Zur Verbesserung der Zusammenarbeit bilden Heimaufsicht, Medizinischer Dienst der Krankenversicherung (MDK), Pflegekassen und Sozialhilfeträger Arbeitsgemeinschaften, in denen sie ihre Arbeit so weit wie möglich miteinander abstimmen. Mit dem Pflegestärkungsgesetz II wurde 2016 ein Qualitätsausschuss Pflege eingerichtet, zu dessen Aufgaben u. a. gehört, durch wissenschaftliche Projekte neue Prüfverfahren sowie eine Alternative zur bisherigen Pflegenotendarstellung zu entwickeln. Zu seinen Kompetenzen gehört auch die Entscheidung über die bisherigen normvertraglichen Regelungen und Beschlüsse durch die Vertragsparteien sowie – mit hoher Aktualität – die Arbeit an dem für Juni 2020 angekündigten neuen Personalbemessungsinstrument (vgl. Pkt. 7.2 dieses Kapitels). Obwohl in der Pflegeversicherung keine gemeinsame Selbstverwaltung von Kassen und Leistungsanbietern wie in der gesetzlichen Krankenversicherung existiert, gilt die Einrichtung des Qualitätsausschusses als ein Versuch, eine stärkere Institutionalisierung der gemeinsamen Selbstverwaltung auch in der Langzeitpflege – vergleichbar dem Gemeinsamen Bundesausschuss nach dem SGB V (GKV) (vgl. Kapitel „Gesundheit und Gesundheitssystem“, Pkt. 4.3.2) – zu erreichen. Seit Oktober 2019 gibt es bundesweit neue verpflichtende Qualitätssicherungsinstrumente für die stationäre Pflege. Der neue „Pflege-TÜV“ beendet damit die vorherige Praxis der Bestnotenselbstzuweisung. Seither muss der MDK die Versorgungsqualität der Heime überprüfen. Dies basiert wie bisher auf der Inaugenscheinnahme von stichprobenhaft ausgewählten Bewohner:innen sowie einem persönlichen Gespräch mit ihnen, um die Versorgungsqualität zu untersuchen. Darüber hinaus prüft der MDK künftig die Plausibilität der Qualitätsdaten, die die Pflegeeinrichtung selbst über diese Bewohner:innen ermittelt und an eine Datenauswertungsstelle weitergeleitet hat (Ergebnisindikatoren). Ein weiterer wichtiger Baustein ist das Fachgespräch mit den Pflegekräften vor Ort. Die bisherige Pflegedokumentation spielt in Zukunft eine nachgeordnete Rolle, wodurch eine deutliche Entlastung des Pflegepersonals von bürokratischen Aufgaben erreicht werden soll. Wichtige Grundlage ist ein auf wissenschaftlicher Grundlage entwickeltes, bundesweit einsetzbares, indikatorengestütztes Verfahren zur vergleichenden Messung und Darstellung von Ergebnisqualität im stationären Bereich, das – auf der Grundlage einer strukturierten Datenerhebung im Rahmen des internen Qualitätsmanagements – eine Qualitätsberichterstattung und somit auch die externe Qualitätsprüfung erleichtert. Die Qualitätsdarstellung wird zukünftig auf drei Säulen stehen und insgesamt in einer für

Finanzierung und Finanzentwicklung der Pflegeversicherung

815

die Nutzer:innen verständlicheren Form präsentiert sein: auf ausgewählten MDKQualitätsprüfergebnissen nach neuem Prüfverfahren, auf Qualitätsdaten (Ergebnisindikatoren), die die Heime selbst erheben, und auf allgemeinen Informationen zur Einrichtung. Eingeleitet wurden des Weiteren Maßnahmen zur Qualitätssicherung in neuen Wohnformen, z. B. ambulant betreuten Wohngruppen. Auch die Entwicklung und Aktualisierung wissenschaftlich fundierter und fachlich abgestimmter Expertenstandards zur Sicherung und Weiterentwicklung der Qualität in der Pflege soll weiter vorangetrieben werden. Aktuell geht es vor allem um den Expertenstandard Mobilität. Weitgehend abgeschlossen sind die Vorarbeiten für eine Reform der Qualitätssicherung in der ambulanten Pflege, die analog den MDK-Prüfungen im stationären Bereich erfolgen sollen. Nach Pilotierung der entsprechenden Vorschläge 2020 entscheidet der Qualitätsausschuss Pflege über das weitere Verfahren. Die Überprüfung der Pflegequalität in der häuslichen Pflege, insbesondere bei ausschließlichem Pflegegeldbezug, galt von jeher als besondere Herausforderung für die Qualitätssicherung. Bislang prüft der MDK im Rahmen seiner Begutachtung (Erst- und Wiederholungsgutachten), ob die erforderliche Grundpflege und hauswirtschaftliche Versorgung sichergestellt ist. Darüber hinaus müssen Pflegebedürftige, die Pflegegeld beziehen, in regelmäßigen Abständen (einmal halbjährlich bei Pflegegrad 2 und 3, einmal vierteljährlich bei Pflegegrad 3 und 4) eine Beratung in der eigenen Häuslichkeit durch eine zugelassene Pflegeinrichtung oder eine von der Pflegekasse beauftragte Pflegeperson abrufen. Bei Nicht-Inanspruchnahme drohen Leistungskürzungen bis hin zum Leistungsentzug. Es geht um die Frage, wie bei der Pflegegeldzahlung das Risiko einer inadäquaten Pflege und damit einer falschen Verwendung der Mittel ausgeschaltet werden und Mitnahmeeffekte möglichst vermieden werden können. Über die Auswirkungen dieser Kontrollbesuche ist wenig bekannt. Zudem fehlt es an Qualitätsstandards für die häusliche Pflege, die einer Überprüfung zu Grunde liegen müssten. Auch war und ist es für die mit der Prüfung beauftragten Pflegefachkräfte kaum möglich, einen verlässlichen Einblick in die Intimsphäre von familiären Pflegebeziehungen zu bekommen.

9

Finanzierung und Finanzentwicklung der Pflegeversicherung

9.1

Beitragsfinanzierung und -anpassung

Die Einnahmen der sozialen Pflegeversicherung beruhen fast ausschließlich auf Beitragseinnahmen, die im Umlageverfahren erhoben werden. Die gesetzlich vorgeschriebene Rücklage muss dabei 50 % der Monatsausgaben abdecken, liegt aber seit 2017, nach Einführung der kosten- und ausgabeintensiven Pflegereform deutlich darunter. Einen Bundeszuschuss oder eine Defizithaftung des Bundes gibt es nicht, obwohl angesichts der Finanzlage der Pflegeversicherung zunehmend gefordert (vgl.

816

Pflegebedürftigkeit und Pflege

Pkt. 11.4 dieses Kapitels). Der Beitragssatz wird gesetzlich durch Parlamentsbeschluss festgelegt. Seit 2015 werden über einen Zeitraum von 19 Jahren hinweg jeweils 0,1 % der vorjährigen Beitragseinnahmen einem Pflegevorsorgefonds zugeführt, der als Sondervermögen von der Bundesbank verwaltet wird. Insofern werden der Umlagefinanzierung aktuell (notwendige) Mittel entzogen Die Größenordnung der Kapitaldeckung (einschließlich Verzinsung) ist allerdings sehr begrenzt und kann in der Entnahmephase allenfalls dazu dienen, den zu erwartenden Beitragssatzanstieg leicht zu dämpfen. Zwar findet de facto eine vollständige paritätische Finanzierung statt, allerdings hat der Gesetzgeber den Arbeitgebern eine Kompensation für die Belastung durch die zusätzliche Beitragszahlung ermöglicht. Seither ist (bis auf Sachsen) ein gesetzlicher Feiertag, der stets auf einen Werktag fällt, nämlich der Buß- und Bettag, gestrichen. Seit 2019 beträgt der Beitragssatz in der gesetzlichen Pflegeversicherung 3,05 % des Bruttoeinkommens der versicherungspflichtig Beschäftigten und für Kinderlose (ab 23 Jahren) 3,3 %. Rentner:innen zahlen den vollen Beitragssatz von 3,05 %. Die relevante Beitragsbemessungsgrenze liegt 2020 – wie in der GKV – bei 4 687,50 Euro monatlich. In Reaktion auf ein Urteil des Bundesverfassungsgerichtes, das eine Besserstellung von Familien im Beitragsrecht der Pflegeversicherung verlangt hatte, müssen gesetzlich Versicherte zwischen 23 und 65 Jahren ohne Kinder seit 2005 einen Zuschlag von 0,25 Prozentpunkten zur Pflegeversicherung bezahlen. Empfänger:innen vom Arbeitslosengeld II sind vom Sonderbeitrag ausgenommen. An diesem Zuschlag werden die Arbeitgeber nicht beteiligt, so dass der Arbeitnehmerbeitrag um 0,25 % auf 1,1 % gestiegen ist. 9.2

Entwicklung von Einnahmen und Ausgaben

2018 betrugen die beitragsfinanzierten Einnahmen der sozialen Pflegeversicherung 37,72 Mrd. Euro und die Gesamtausgaben 41,27 Mrd. Euro. Ihre Finanzreserve lag bei 3,4 Mrd. Euro. Nimmt man das Jahr 1997 als Bezugsgröße, so haben sich die Ausgaben der sozialen Pflegeversicherung insgesamt von 15,1 Mrd. Euro in 1997 auf über 41 Mrd. Euro in 2018 erhöht und damit fast verdreifacht (vgl. Abbildung IX.15). Allerdings verläuft diese Entwicklung keineswegs geradlinig. Besonders starke Ausgabenzuwächse sind in den Jahren 2017 und 2018 (und ein Rückgang der Finanzreserve) zu verzeichnen. Dies erklärt sich durch die Mehrkosten im Zuge der Ausweitung des Pflegebedürftigkeitsbegriffs. Damit sind die öffentlichen Gesamtausgaben für Pflegebedürftigkeit aber noch nicht abgedeckt. Diese betrugen 2016 33,7 Mrd. Euro, von denen die soziale Pflegeversicherung mit etwa 84 % den Löwenanteil übernahm. Zu deutlich geringeren Anteilen beteiligen sich auch die private Pflegeversicherung mit 1,0 Mrd. Euro, die Be-

Finanzierung und Finanzentwicklung der Pflegeversicherung

817

amtenbeihilfe mit 0,5 Mrd. Euro, die Sozialhilfe und damit die dafür zuständigen Kommunen mit rd. 3,8 Mio. Euro (vgl. Pkt. 10.1 dieses Kapitels) an den Gesamtausgaben für die Pflege. Bei dieser Kostenträgerbetrachtung wird häufig übersehen, dass auch die Betroffenen selbst im Zusammenhang mit ihrer Pflegebedürftigkeit hohe Eigenanteile tragen, die nicht öffentlich refinanziert werden. Allein für die häusliche Pflege ergab sich Ende 2015 dafür ein kumulierter Betrag von rund 5,7 Mrd. Euro, in denen die Opportunitätskosten für Einkommensausfälle aufgrund reduzierter oder aufgegebener Erwerbstätigkeit der Hauptpflegepersonen noch gar nicht enthalten sind. Für die Heimbewohner:innen ergab sich ein entsprechender Betrag von real rund 2,7 Mrd. Euro; somit ein gesamter Eigenanteil von 8,4 Mrd. Euro. Addiert man diese Summe zu den gesamten öffentlichen Ausgaben für die Pflege von 42,2 Mrd. Euro in 2015 (also inklusive Kriegsopferfürsorge, Beamtenbeihilfe und private Pflegeversicherung), so ergibt sich ein öffentlicher Finanzierungsanteil von etwa 80 % (33,7 Mrd. Euro) gegenüber einem privaten Finanzierungsanteil von immerhin etwa 20 % (8,4 Mrd. Euro; ohne berufsaufgabe- oder -reduktionsbedingte Opportunitätskosten). Mit anderen Worten: Etwa rein Fünftel der gesamten Pflegeausgaben werden privat finanziert. Bezogen auf die soziale Pflegeversicherung zeigt sich, dass im Verlauf der Jahre insbesondere die Ausgaben für die stationäre Pflege stark gestiegen sind, wohingegen sich die anderen Ausgabensektoren nur schwach erhöht haben. Diese Entwicklung hat sich mit der Einführung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs und des starken Zuwachses von demenziell Pflegebedürftigen, die zu über 90 % zu Hause versorgt

Abbildung IX.14

Ausgaben der sozialen Pflegeversicherung nach Leistungsarten 2017 sonstige Leistungsausgaben: 2,8 Mrd. € = 8,0% Geldleistungen: 10 Mrd. € = 28,1% Verhinderungspflege, Tages- u. Nachtpflege, Kurzzeipflege: 2,4 Mrd. € = 6,8%

Soziale Sicherung der Pflegepersonen: 1,5 Mrd. € = 4,3%

Leistungsausgaben insgesamt 35,54 Mrd. €

Pflegemittel: 0,9 Mrd. € = 2,5% Pflegesachleistungen: 4,5 Mrd. € = 12,7%

Vollstationäre Pflege: 13,0 Mrd. € = 36,6% Vollstationäre Pflege in Behindertenheimen: 0,4 Mrd. € = 1,1%

Quelle: Bundesministerium für Gesundheit (2018), Statistiken zur Pflegeversicherung.

818

Pflegebedürftigkeit und Pflege

werden, aber verändert. Seither nehmen die Geld- und Sachleistungen wieder zu (vgl. Abbildung IX.15). Im Detail entfielen auf die stationäre Pflege 2017 etwa 37 %, auf das Pflegegeld 23 % und auf die Pflegesachleistungen 14,0 % der Gesamtausgaben der sozialen Pflegeversicherung (vgl. Abbildung IX.14). Da in der Pflegeversicherung die Leistungssätze – differenziert nach Leistungsarten und Pflegegrad – in ihrer Höhe nominal festgeschrieben sind, wird die Ausgabenentwicklung anders als bei der Krankenversicherung nicht durch Preis- und Mengeneffekte (je Fall) bestimmt. Bei fixierten Leistungssätzen sind für die Ausgaben die Zahl der Pflegebedürftigen, der Schweregrad ihrer Pflegebedürftigkeit und die Art ihrer Versorgung bzw. die in Anspruch genommene Leistungsart entscheidend. Eine Gegenüberstellung der Gesamteinnahmen und -ausgaben zeigt zwischen 1999 bis 2007 einen Ausgabenüberschuss, der zu einem Abschmelzen der Rücklagen geführt hat (vgl. Abbildung IX.16). Ursache für diese defizitäre Lage war aber nicht der insgesamt moderat verlaufende Ausgabenanstieg, sondern das Zurückbleiben der beitragsbezogenen Einnahmen in Folge der Arbeitslosigkeit, des Rückgangs versicherungspflichtiger Beschäftigungsverhältnisse und der schwachen Lohnentwicklung in Referenzzeitraum (vgl. Kapitel „Einkommen“, Pkt. 2.2.2). Die Rede ist von einer strukturellen Einnahmeschwäche der sozialen Pflegeversicherung – wie auch der gesetzlichen Krankenversicherung, da bei der Finanzierung allein auf die ArAbbildung IX.15

Ausgabenentwicklung der sozialen Pflegeversicherung 1997 – 2017

35,5

Leistungsausgaben insgesamt

6 = 16,9%

30

Weitere Leistungen

28,3 26,6

in Mrd. Euro

21,9

20 17,1 17,5 16,6 16,8 17,0 16,0 16,5 1,3 15,6 15,9 15,1 1,0 1,0 1,1 1,2 1,0 14,3 0,9 0,9 0,8 0,9 0,7

10

0

6,4 6,8 = 44,7%

7,2

7,5

7,8

8,0

8,2

8,4

8,5

8,7

8,8

18,2 1,4

9,1

19,3 1,9

9,3

20,4 20,9 2,4

2,6

9,6

9,7

1,2

1,1

1,1

1,0

1,0

0,9

0,9

0,9

0,9

0,9

0,9

0,9

1,2

1,0

0,9

1,8

2,0

2,1

2,2

2,3

2,4

2,4

2,4

2,4

2,4

2,5

2,6

2,8

2,9

3,0

4,3 = 4,3 30,1%

4,2

4,2

4,1

4,2

4,1

4,1

4,1

4,0

4,0

4,2

4,5

4,7

4,7

21,9 2,9

10,0

0,9

3,1

5,1

3

10,1

0,9

3,4

5,7

24,2

4,7

5,8 13 = 36,6%

3,5

10,3

0,9

3,6

5,9

10,7

Vollstationäre Pflege

10,9 1,5

1

1

3,7

3,8

6,5

6,8

10 = 28,1%

1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017

Quelle: Bundesministerium für Gesundheit (2018), Statistiken zur Pflegeversicherung.

Soziale Sicherung

4,5 = 12,7% Pflegesachleistung

Geldleistungen

Finanzierung und Finanzentwicklung der Pflegeversicherung

819

beitnehmereinkommen (bis zur Beitragsbemessungsgrenze) zurückgegriffen wird. Diese aber bleiben seit Jahren hinter der Entwicklung von Sozialprodukt und Volkseinkommen zurück, während die Einkommen aus selbstständiger Arbeit, Kapitalerträgen sowie aus Vermietung und Verpachtung einen immer größeren Anteil des Volkseinkommens auf sich vereinigen (vgl. Kapitel „Gesundheit und Gesundheitssystem“, Pkt. 12.3). Allerdings kam es beginnend mit 2008 infolge der günstigen Entwicklung in der Wirtschaft und auf dem Arbeitsmarkt zu einer Wende, denn es stiegen die Einnahmenüberschüsse, und auch die Reserven wuchsen wieder an. Seit 2017 wiederum übersteigen aber die Ausgaben die Einnahmen deutlich; dies ist die Konsequenz der starken Ausgabenzuwächse durch die Pflegereform 2017, die sich inzwischen auf rd. 5 Mrd. Euro addiert haben (vgl. Pkt. 1.1 und 6.1. dieses Kapitels). Offen bleibt, ob die Finanzlage durch die im Jahr 2019 erfolgte erneute Anhebung des Beitragssatzes auf 3,05 % zumindest für die nächsten Jahre konsolidiert werden kann. Das Finanzierungsdefizit der sozialen Pflegeversicherung erweist sich als strukturell, da es keine Regeldynamisierung der Beitragssätze gibt, sondern diese jeweils per Bundestagsbeschluss festgelegt werden. Damit aber laufen diese de facto der Ausgabenentwicklung hinterher. So hat die soziale Pflegeversicherung im Verlauf ihrer 25-jährigen Geschichte z. T. erhebliche Kaufkraftverluste in ihren Leistungen hinnehmen müssen, die auch nicht durch die verschiedenen Anpassungen kompensiert

38,5 36,1 25,9 25,5

25 24,3

23,1 23,0

22,2 21,9

21,8 21,5

21,3 20,3

19,8 19,1

18,0 18,3

18,5 18,0

17,5 17,9

16,9 17,7

16,9 17,6

17,0 17,4

16,8 16,9

16,5 16,7

16,3 16,4

16,0 15,9

15,9 15,1

32 31

Ausgaben 30,7 29,0

Einnahmen

37,7

41,3

Abbildung IX.16 Finanzentwicklung der sozialen Pflegeversicherung: Einnahmen, Ausgaben und Mittelbestand in Mrd. Euro, 1997 – 2018

Mittelbestand am Jahresende in Mrd. €

8,3 4,9

5,0

5,0

4,8

4,8

4,9

4,2

3,4

3,1

3,5

3,2

3,8

4,8

5,1

5,5

5,6

6,2

6,6

9,3 6,9 3,4

1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018

Quelle: Bundesministerium für Gesundheit (2019), Statistiken zur Pflegeversicherung.

820

Pflegebedürftigkeit und Pflege

worden sind. Zudem ist zu beachten, dass Pflegeleistungen extrem personalintensiv sind und kaum – wie Industrieprodukte – rationalisierungsfähig sind (vgl. Pkt. 6.3 dieses Kapitels und Kapitel „Soziale Dienste“, Pkt. 2.1). Folglich müssten Beitragssatzanhebungen – um kostendeckend zu sein – eigentlich stärker ausfallen als der Anstieg des allgemeinen Preisniveaus. Dies ist aber schon in der Vergangenheit nicht erfolgt, und ist auch für die Zukunft nicht zu erwarten. Erschwerend kommt für die soziale Pflegeversicherung noch hinzu, dass die Abwanderung von überdurchschnittlich verdienenden Arbeitnehmer:innen in die private Pflegeversicherung (jenseits der Beitragsbemessungsgrenze) nicht nur die Zahl der („guten“) Beitragszahler:innen reduziert, sondern auch das durchschnittliche beitragspflichtige Einkommen dämpft. Im Gegenzug wachsen der privaten Pflegeversicherung nicht nur eine mit Blick auf das Pflegerisiko günstigere Versichertenstruktur zu (jünger und damit tendenziell gesünder), sondern auch höhere Beitragseinnahmen. In der Konsequenz verfügt die private Pflegevesicherung nicht nur über ganz erhebliche Einnahmeüberschüsse sondern auch über hohe Altersrückstellungen (rd. 32.5 Mrd. Euro in 2016). De facto kennt die private Pflegeversicherung daher keine strukturelle Finanzierungsschwäche, während genau dies maßgeblich ist für die Finanzklemme der sozialen Pflegeversicherung.

10

Stellung der Pflegeversicherung im System der sozialen Sicherung

Die Folge unzureichender Zuschüsse zu den Pflegekosten und nicht kostendeckender Dynamisierung der Pflegesätze ist eine allmähliche Aushöhlung des dualistischen Finanzierungsprinzips. Die Rede ist von einer „Pseudo-Dualität“. Dem entspricht ein steigender Sozialhilfeanteil unter den Heimbewohner:innen, der 2018 rund 37 % betrug. Die Sozialhilfe muss immer dann in Anspruch genommen werden, wenn die private Finanzierung nicht möglich ist. Allerdings holen sich viele Sozialhilfeträger Teile der Kosten durch Rückgriff auf Unterhaltsverpflichtete (überwiegend Kinder) zurück (Elternunterhalt), wobei hier allerdings seit 2020 deutliche Einschränkungen bestehen. Dennoch lagen die entsprechenden Ausgaben der Sozialhilfe und der Kriegsopferfürsorge zum gleichen Zeitpunkt bei rund 4 Mrd. Euro. 10.1 Pflegeversicherung und Sozialhilfe Durch die Einführung der Pflegeversicherung haben sich die öffentlichen Finanzmittel zur Absicherung des Pflegerisikos, die zuvor im Wesentlichen von der Sozialhilfe und der Krankenversicherung aufgebracht worden sind, deutlich erhöht. Das angestrebte Ziel, die kommunalen Sozialhilfeträger finanziell zu entlasten, ist im Zeitverlauf aber nur bedingt erreicht worden. Zwar sind von 1994 bis 2001 die Ausgaben der

Stellung der Pflegeversicherung im System der sozialen Sicherung

821

Hilfe zur Pflege im BSHG von 9,06 Mrd. Euro um ca. 6 Mrd. Euro auf 2,9 Mrd. Euro gesunken. Inzwischen sind sie aber wieder – bedingt durch die wachsende Zahl der Hilfeempfänger:innen – auf 4,3 Mrd. Euro angestiegen. Dabei entfallen allein 3,2 Mrd. Euro, d. h. knapp 75 %, auf die stationäre Pflege in Einrichtungen. Der Grund dafür liegt darin, dass die Leistungssätze der Pflegeversicherung weitgehend festgeschrieben sind, die Kosten in der Pflege, die in Heimen zu rund 80 % aus Personalkosten bestehen, aber steigen. Auch das zweite wichtige Ziel der Pflegeversicherung ist nur bedingt erreicht worden, nämlich die Zahl der auf Sozialhilfe angewiesenen Pflegebedürftigen deutlich abzusenken. Zwar hat sich die Zahl der Hilfeempfänger:innen mit (zusätzlichem) Sozialhilfebezug von 674 000 in 1992 auf knapp 290 000 im Jahr 1998 erheblich reduziert, ist aber seither wieder kontinuierlich angestiegen (vgl. Abbildung IX.17). Für 2016 wurden rund 440 000 Empfänger:innen von Hilfe zur Pflege gemäß SGB XI gemeldet, darunter zu etwa 80 % Heimbewohner:innen. Der in der Statistik ausgewiesene Rückgang in den Jahren 2017 und 2018 beruht auf einer statistischen Untererfassung. Bezieht man die Empfänger von Hilfe zur Pflege auf die Gesamtzahl von etwa 3 Millionen Personen, die 2017 Leistungen der sozialen Pflegeversicherung erhalten

Abbildung IX.17

Empfänger:innen von Hilfe zur Pflege 1992 – 2018 in Tausend

674

600

563

insgesamt

500 426 397

95

400

360 324

674 289

300

563

80

313 86

328

110

411 115

423 121

439

444

128

130

453

451

131

129

440 128 379 77

außerhalb von Einrichtungen

87

89

85

200 333

205

100

246

229

241

276

291

301

308

317

320

327

327

317

302

2015

2016

2017*

in Einrichtungen 0

1992

1994

1996

1998

2000

2002

2004

2006

2008

2010

2011

2012

2013

2014

*) Ohne Empfänger von (ausschließlich) Hilfe zur Pflege nach dem 7. Kapitel SGB XII, für die kein abgeschlossenes Verfahren zur Ermittlung und Feststellung des Pflegegrades vorliegt Quelle: Statistisches Bundesamt (zuletzt 2019), Genesis online.

822

Pflegebedürftigkeit und Pflege

haben (vgl. Abbildung IX.8), dann liegt der Anteil derjenigen, die aufstockend Hilfe zur Pflege in Anspruch nehmen müssen, bei etwa 15 %. Schaut man nur auf die stationär versorgten Pflegedürftigen (2017: 818 000), erhöht sich der Anteil der Sozialhilfeempfänger:innen auf rund 37 %. Der noch immer hohe und schon wieder gestiegene Anteil der Sozialhilfe an der Finanzierung der stationären Pflege ist Folge der Konstruktion der Pflegeversicherung, da die Pflegebedürftigen einen erheblichen Restbetrag selbst tragen müssen. Da die Einkommen der Pflegebedürftigen dazu vielfach nicht ausreichen, muss die Sozialhilfe ergänzend einspringen, und die ist von den Kommunen zu tragen. Dabei ist noch zu beachten, dass mit der Zuständigkeit der Sozialhilfe bzw. mit der Überführung dahin der/die einzelne Pflegebedürftige sein/ihr sonst zwingend gebotenes Wahlrecht verliert. Andererseits gibt es kaum empirisch abgestützte Belege für eine unterschiedliche Behandlung der Heimbewohn:innen zwischen Selbstzahler:innen und Sozialhilfeabhängigen. Grundprinzip bei der Sozialhilfe ist der Rückgriff auf unterhaltsverpflichtete Angehörige (Ehepartner und/oder Kinder). Während allerdings der Rückgriff bei der Grundsicherung im Alter nur erfolgt, sofern die Einkommen der Unterhaltsverpflichteten einen Jahresbruttobetrag von 100 000 Euro überschreiten, war dies bis Ende 2019 bei der Hilfe zur Pflege nicht der Fall. Seit Januar 2020 gilt hier eine Gleichstellung. Das Angehörigen-Entlastungsgesetz regelt, dass der Elternunterhalt nur noch von Personen gezahlt werden muss, die über ein Bruttoeinkommen von 100 000 Euro oder mehr pro Jahr verfügen. Wieviele Angehörige davon profitieren, ist offen, es besteht jedoch Einigkeit, dass der Verzicht auf die Unterhaltsüberprüfung und -zahlung die weitaus meisten Betroffenen erreicht und damit eine deutliche Verbesserung sonst vielfach gestörter Familienbeziehungen im Pflegefall bedeutet. Andererseits werden die Kosten der Kommunen steigen. Schätzungen belaufen sich auf Mehrkosten zwischen 300 Mio. bis zu 1 Mrd. Euro/Jahr. 10.2 Pflegeversicherung und Krankenversicherung Die Gesetzliche Pflegeversicherung ist organisatorisch zwar unter dem Dach der Gesetzlichen Krankenversicherung untergebracht, ihre Konstruktionsprinzipien weichen jedoch erheblich von denen der GKV ab. So sind Sachleistungs- und Bedarfsdeckungsprinzip für die Krankenversicherung grundlegend, für die Pflegeversicherung gilt dies nur sehr begrenzt: •

Der Pflegebedürftigkeitsbegriff und die darauf aufbauenden Leistungstatbestände der Pflegeversicherung sind im Gesetz exakt definiert und auch nicht durch Rechtsprechung entwicklungsfähig. Demgegenüber findet sich im Krankenversicherungsrecht keine abschließende Konkretisierung des Krankheitsbegriffs.

Stellung der Pflegeversicherung im System der sozialen Sicherung











823

Bei der Pflegeversicherung besteht eine Wahlmöglichkeit zwischen pauschalierten Geldleistungen mit nicht kostendeckendem Charakter im Bereich der häuslichen Pflege und zwischen pauschalen Sachleistungen mit begrenztem Kostenrahmen in der stationären und ambulanten Pflege. Eine Differenzierung der Leistungshöhe findet lediglich durch die Pflegegrade statt. Demgegenüber ist die Krankenversicherung eine Vollkostenversicherung, d. h. jeder Versicherte erhält die Leistungen, die dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse zu entsprechen und den medizinischen Fortschritt zu berücksichtigen haben. Auch aufwändige medizinische Leistungen werden voll abgegolten. Da die Leistungen in ihrer Höhe festgeschrieben sind und der Beitragssatz gesetzlich fixiert ist, fehlt der Pflegeversicherung jeder Handlungsspielraum für Leistungsanpassungen oder -verbesserungen. In der Krankenversicherung hingegen können die Kassen (bislang) Ausgabensteigerungen durch Anhebungen der Beitragssätze finanzieren. Die Deckelung der Leistungen führt in der Pflegeversicherung angesichts steigender Kosten für die arbeits- und damit lohnintensiven Dienstleistungen (vgl. Kapitel „Soziale Dienste“, Pkt. 2.1) zwangsläufig zu realen Leistungsverschlechterungen. In der Krankenversicherung hingegen kommt es durch den Anspruch jedes Versicherten auf alle notwendigen Leistungen zu einer automatischen Leistungsdynamisierung. Ein Systembruch ist die Kompensation der Arbeitgeberbelastungen durch die Abschaffung eines bezahlten Feiertages. Damit wird von dem Prinzip abgewichen, soziale Standardrisiken wie Krankheit, Invalidität und Alter, Arbeitslosigkeit sowie Unfall gemeinsam durch Arbeitgeber und Arbeitnehmer:innen zu finanzieren. Da die Finanzierung der medizinischen Behandlungspflege bei einer stationären Unterbringung nicht von der Krankenversicherung, sondern von der Pflegeversicherung übernommen wird, müssen die Pflegebedürftigen aufgrund des Teilleistungssystems auch die Behandlungspflege über einen Eigenbeitrag finanzieren. Bei der ambulanten Pflege gilt dies nicht.

In einigen Punkten bedeutet die Pflegeversicherung eine Weiterentwicklung und Verbesserung gegenüber den entsprechenden Regelungen in der Krankenversicherung. So hat die Pflegeversicherung den alleinigen Sicherstellungsauftrag, den die Krankenversicherung an die Kassenärztlichen Vereinigungen abgegeben hat. Weiter erlaubt der medizinische Dienst die Festlegung der Pflegegrade ohne Rückgriff auf das ärztliche System, was allerdings auch die Gefahr einer primär finanziell bestimmten, durch die Kasse gesteuerten Einstufungspraxis beinhaltet. Positiv sind die Ansätze, die Qualität der Pflege einer ständigen Überprüfung zu unterziehen und entsprechende Standards auszuarbeiten. In der Diskussion um die Zukunft der Sozialsysteme wurde lange Zeit häufig empfohlen, die Eigenständigkeit der Pflegeversicherung aufzugeben und sie vollständig

824

Pflegebedürftigkeit und Pflege

in die GKV zu integrieren. Erhofft wird davon eine Lösung der Schnittstellenproblematik zwischen GKV und Pflegeversicherung. Hingewiesen wird auch auf Systemwidrigkeiten, denn Pflegebedürftigkeit ist weit überwiegend Folge von Krankheiten. Gegner einer Integration verweisen allerdings darauf, dass die Pflegeversicherung als Teilkostenversicherung konzipiert ist, die GKV aber als Vollkostenversicherung. Beide Prinzipien unter einem gemeinsamen Dach zu vereinen, würde nicht nur zu weiteren Schnittstellen, sondern auch zu Legitimationsproblemen beider Prinzipien führen. Darüber hinaus decken die beiden Versicherungen Risiken in unterschiedlichem Umfang ab. So ist das Pflegerisiko wesentlich stärker altersabhängig als das Krankheitsrisiko.

11

Herausforderungen und Reformbedarfe

11.1 Folgewirkungen des demografischen und sozialen Wandels Für die Zukunft wird ein weiterer, zudem stärker als bisher erwarteter Anstieg der Zahl der Pflegebedürftigen prognostiziert. Das Bundesministerium für Gesundheit berechnete 2018 für das Jahr 2050 für die soziale Pflegeversicherung einen Anstieg auf rund 5,9 Mio. Pflegebedürftige (2030: 4,6 Mio. und 2040: 5,2 Mio.). Die wichtigsten Begründungen dafür sind die weiter zunehmende Alterung und Langlebigkeit in der Bevölkerung. Überlagert wird diese Entwicklung durch die geburtenstarken Jahrgänge der zwischen Mitte der 1950er und Mitte der 1960er Geborenen (sog. Babyboomer), die in absehbarer Zeit in die pflegenahen Jahrgänge kommen. Allerdings sind solche exakt bezifferten Langfrist-Prognosen, die häufig für demografische Bedrohungsszenarien herhalten müssen (vgl. Kapitel „Ökonomische Grundlagen und Finanzierung“, Pkt. 5), mit Vorsicht zu interpretieren. Sie sind reine Vorausberechnungen und beruhen auf der Fortschreibung von Status-quo-Annahmen, in diesem Falle einer dauerhaft altersspezifischen Pflegewahrscheinlichkeit. Von daher werden weder potenzielle Veränderungen in der Morbiditätsstruktur der künftigen Altenbevölkerung noch potenzielle Erfolge verstärkter Präventions- und/ oder Rehabilitationsbemühungen (vgl. Kapitel „Gesundheit und Gesundheitssystem“, Pkt. 2.2) berücksichtigt. Eine solche Konstantsetzung der Prävalenzraten von Pflegebedürftigkeit wie von Krankheit lässt sich nicht begründen. Es ist nicht zwingend vorgegeben, dass mit der Verschiebung der Mortalität in höhere Altersgruppen auch eine entsprechende Verlängerung der Morbiditäts- und Pflegephase verbunden ist. Auch das Gegenteil kann der Fall sein, dass sich nämlich bei steigender Lebenserwartung die Phase, in der mit erhöhten Prävalenzen zu rechnen ist, in höhere Altersgruppen verschiebt. Auch ist zu beachten, dass mögliche Präventions- und Rehabilitationspotenziale auch bei bereits eingetretener Pflegebedürftigkeit keineswegs ausgeschöpft sind. Studien bestätigen die Notwendigkeit, nach entsprechenden Potenzialen zu suchen und strukturell derartige Angebote vorzuhalten. Die Pflege-

Herausforderungen und Reformbedarfe

825

begutachtung gilt dabei ebenso als wichtiger Anknüpfungspunkt (vgl. Pkt. 6.1 dieses Kapitels) wie die Suche nach geeigneten Kontextbedingungen z. B. im Rahmen präventiver Hausbesuche (vgl. Pkt. 8.3 dieses Kapitels). Es gibt also in der Entwicklung von Pflegebedürftigkeit keinen demografischen Determinismus. Dennoch ändert dies nichts am Grundsatz eines demografisch bedingten steigenden Pflegebedarfs, der Vorkehrungen auf vielen Ebenen der Politik und der Gesellschaft erforderlich macht. Ebenso schwierig ist es, den Entwicklungstrend der Art der Versorgung – ambulant, teilstationär oder stationär – die Inanspruchnahme der Leistungsvarianten der Pflegeversicherung (Pflegegeld, Pflegesachleistung, Kombinationsleistung, Tagesund Nachtpflege, Kurzzeitpflege, vollstationäre Pflege) und die Verteilung auf die Pflegestufen einzuschätzen. Hier lassen sich vielfältige Bestimmungsfaktoren identifizieren, die vom ökonomischen, sozialstrukturellen und sozial-kulturellen Wandel geprägt sind: •

Durch die niedrige Geburtenhäufigkeit wird sich das familiäre Pflegepotenzial ausdünnen; mit der Folge, dass im Umfeld der Abstammungsfamilie immer häufiger Personen fehlen, die eine häusliche Pflege übernehmen könnten. Vor allem steigt die Zahl der kinderlosen (älteren) Menschen. • Und wenn Kinder vorhanden sind, dann verteilt sich die Belastung infolge der niedrigen Geburtenziffern auf immer weniger Geschwister. Private Pflegepersonen sind vielfach Töchter bzw. Schwiegertöchter, die aber, wenn sie noch keine Rente beziehen, vermehrt erwerbstätig sind und ihren Beruf dann mit der Pflegeaufgabe vereinbaren müssen (vgl. Pkt. 3.1 dieses Kapitels). • Dieser Prozess eines rückläufigen familiären Pflegepotenzials überlagert sich mit den Auswirkungen der steigenden Frauenerwerbstätigkeit, veränderter Lebens- und Familienformen und wachsender beruflicher und räumlicher Mobilität. Insgesamt deutet vieles darauf hin, dass sich die wenn auch langsam stattfindende Verschiebung weg von den ambulanten hin zu teil- und vollstationären Versorgungsformen nicht aufhalten lässt. Allerdings besteht für wohngemeinschaftliche Lösungen noch ein großer Spielraum, zumal die Nachfrage danach steigt (vgl. Pkt. 4. dieses Kapitels). Die Frage, in welchem Maße sich diese Trends ausprägen werden, ist allerdings nicht losgelöst von den jeweiligen politischen Gestaltungsmaßnahmen zur Stärkung des familiären, nachbarschaftlichen und ehrenamtlichen Pflegepotenzials zu sehen. Wenn es gelingt, mehr ehrenamtliches Potenzial zu rekrutieren (z. B. im Rahmen von „sorgenden Gemeinschaften“; vgl. Pkt. 4. dieses Kapitels), dann kann über diesen Weg der steigende Bedarf an professionellen Pflegeleistungen zwar nicht gestoppt, aber doch begrenzt werden. Zu Entlastungen würde es auch führen, wenn sich familiäre Pflege und Berufstätigkeit besser als bislang zu vereinbaren ließen und der Einkommensausfall von erwerbstätigen Pflegenden durch eine Lohnersatzleis-

826

Pflegebedürftigkeit und Pflege

tung analog zum Elterngeld ausgeglichen würde. Gleichwohl bleibt angesichts der Ausdünnung des familiären Leistungspotenzials auch der Ausbau der Heimversorgung unverzichtbar. 11.2 Personalbedarf und Personalgewinnung Die ausreichende, bedarfsgerechte Ausstattung der ambulanten wie der stationären Pflege mit qualifiziertem Fachpersonal dürfte die zentrale Herausforderung der Zukunft sein (zur Krankenpflege vgl. Kapitel „Gesundheit und Gesundheitssystem“ Pkt. 8.5). Zwei Problemfelder überlagern sich: •



Schon aktuell ist der Personalmangel in der Pflege allgegenwärtig. Viele der offenen Stellen können nicht besetzt werden können, da auf dem Arbeitsmarkt kaum Pflegekräfte zu finden sind. Versorgungsengpässe und erhebliche Qualitätsmängel sind die Folge (vgl. Pkt. 7.2 dieses Kapitels). Wenn nun aufgrund der demografischen Entwicklung die Zahl der Pflegebedürftigen steigt, wird sich die Nachfrage nach Pflegekräften noch einmal deutlich erhöhen. Die Situation spitzt sich zu, wenn, wie für 2020 angekündigt, ein bundeseinheitliches Personalbemessungsverfahren sowohl für die stationäre als auch ambulante Pflege eingeführt wird, das eine fachgerechte und humane Pflege ohne permanente Überforderung der Pflegekräfte ermöglicht. Dies bedeutet, dass die Zahl der Pflegekräfte pro Pflegebedürftigen erhöht werden muss.

Es erweist sich als äußerst schwierige Aufgabe, diesen steigenden Bedarf an Pflegekräften zu decken. Das lässt sich nur erreichen, wenn verschiedene Maßnahmen ineinandergreifen: • Verbesserung der Arbeitsbedingungen (vgl. Pkt. 7.2 dieses Kapitels), • Förderung eines längeren Verbleibs im Beruf (z. B. durch einrichtungsbezogenes „age management“), • Ausweitung von Vollzeitbeschäftigung, Zurückdrängung von Arbeitsverhältnissen mit einer kurzen Teilzeit oder von Minijobs, • Erstreckung von (guten) Tarifentgelten auf die gesamte Branche durch eine Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen (vgl. Pkt. 7.2 dieses Kapitels), • Ausbildungsoffensive, d. h. Erhöhung der Ausbildungskapazitäten und der Zahl der Auszubildenden; z. B. als Anreizfolge im Rahmen der neuen im Pflegeberufegesetz zusammengeführten Ausbildung von Krankenpflege, Kinderkrankenpflege und Altenpflege, • Ausbau der beruflichen Bildungsmaßnahmen der Bundesagentur für Arbeit durch Umschulungen und Förderung von Weitbildung, • Erleichterungen für den Wiedereinstieg von Berufsrückkehrer:innen,

Herausforderungen und Reformbedarfe

827

• Ausweitung der Motivationsarbeit unter den hier lebenden Menschen mit Migrations- und Flüchtlingshintergrund für die Pflegeberufe, • Anwerbung von Pflegepersonal aus der EU und aus Nicht-EU-Ländern, Insgesamt ist ein sich verstärkendes Wechselverhältnis zwischen den Maßnahmen zu berücksichtigen: Je schlechter die Personalausstattung ist, umso höher sind die Arbeitsbelastungen, umso geringer wird die Attraktivität des Berufes und umso schwieriger wird es, Personal zu gewinnen. Die Durchsetzung dieser Maßnahmen ist voraussetzungsvoll und weder im Selbstlauf noch kurzfristig zu erreichen. Immer wichtiger werden Differenzierungen für die Anforderungsprofile künftiger Pflegeprofessioneller entsprechend der jeweiligen betriebs-, arbeitsort-, -platz- und zielgruppenspezifisch erforderlichen Bedarfe sowie jeweiliger besondere Kompetenzen für spezielle Aufgaben je nach Versorgungstyp. Vorgeschlagen wird, beruflich Pflegende durch den Einsatz von Personen mit anderen Qualifikationen zu entlasten. Besonderer Bedarf besteht an eher niederschwelligen Qualifikationen im Bereich der hauswirtschaftlichen Versorgung, etwa nach dem Berufsbild des/der Hauswirtschaftlers/in. Derartige, an realen, auch unternehmens- und branchenbezogenen unterschiedlichen Nachfragebedingungen ausgerichtete Bedarfsanalysen liegen flächendeckend nicht vor, schon gar nicht in regionalisierter Tiefe. Allgemein gehaltene altenpflegerische Kompetenzen allein sind in einer komplexer gewordenen Pflegeversorgungslandschaft längst nicht mehr der primäre Maßstab für die konkrete Personalnachfrage der Anbieter. Andererseits gibt die professionelle Pflegepraxis selbst auch Hinweise, wie es anders gehen könnte. Es trifft zu, dass sich durch gute Heimkonzepte nicht nur die Attraktivität des Berufs verbessern, sondern auch die pflegetypischen Belastungen verringern lassen. Letzteres gilt auch für hohe Fluktuationsraten und vorzeitiges Ausscheiden; und das sogar bei tariflicher Entlohnung. Kurze Berufsverweilsdauern muss es nicht zwangsläufig geben, innovative Modelle der Arbeitszeitgestaltung und Arbeitsorganisation sind möglich und finanzierbar; über Attraktivitätssteigerungen der Tätigkeit im angestammten Betrieb zu bleiben, machbar, ebenso wie innerbetriebliche Fachkräfteförderung, -entwicklung und Laufbahngestaltung im Sinne einer lebenszyklusorientierten Personalpolitik. Personalengpässe sind immer auch Ausdruck einer mangelhaften Führungs- und Organisationskultur des jeweiligen Betriebes. Die Empirie zeigt, dass good practice möglich ist. Es fehlt aber an ihrer Verbreitung in die Fläche. Gängige Vorschläge, den Personalaufbau durch eine vermehrte Zuwanderung ausländischer Pflegekräfte abzusichern, stoßen auf zahlreiche Barrieren. „Gute Pflege“ kann nur dann geleistet werden, wenn die Personen ausreichend qualifiziert sind bzw. wenn deren vorhandenen Qualifikationen als gleichwertig anerkannt werden. Das Fachkräfteeinwanderungsgesetz soll hier die Anwerbung von Fachkräften aus Drittstaaten erleichtern (vgl. Kapitel „Qualifikation“, Pkt. 9.2). Zudem muss sichergestellt sein, dass die sprachlichen und kulturellen Barrieren zwischen Pflegebedürftigen und

828

Pflegebedürftigkeit und Pflege

Pflegekräften möglichst gering sind. Fachliche, betriebliche wie soziale Integrationsbemühungen und Schaffung einer Willkommens- und Anerkennungskultur gelten als wichtige Voraussetzungen für einen nachhaltigen Erfolg. Auch wäre es nicht zu verantworten, wenn infolge der Anwerbung Lücken in der pflegerischen Versorgung in den Herkunftsländern aufgerissen werden. Studien belegen, dass auch in den Entsendeländern „win-Situationen“ gegeben sein müssen, um eine ausreichend große Zahl zu garantieren. Zudem gibt es mittlerweile deutlich mehr nachfragende als entsendebereite Länder mit der Folge wachsender Konkurrenz um die begehrte „Mangelware Pflegefachkraft“, wie der international aufgestellte Run auf Pflegekräfte etwa aus den Philippinen zeigt. 11.3 Entlastung der Pflege durch Technikeinsatz und Digitalisierung Ein zunehmend wichtiger Beitrag zur Lösung des Personalproblems besteht darin, auch in der Pflege mehr Technik einzusetzen und vor allem die Chancen der Digitalisierung (vgl. dazu auch Kapitel „Gesundheit und Gesundheitssystem“, Pkt. 13.4) zu nutzen. Zu nennen sind als Anwendungsfelder u. a. elektronische Pflegedokumentationen (u. a. zur Digitalisierung von Verwaltungsaufgaben im stationären Bereich), technische Assistenzsysteme (sowohl in der häuslichen wie in der stationären Pflege (z. B. Sensor- und Kommunikationssysteme, Hebehilfen etc.) und Robotik in der Pflege (die aber bislang, mit Ausnahme der Demenzversorgung (z. B. Pflegerobben); kaum verbreitet ist. Insgesamt sollen nicht nur die Pflegekräfte entlastet und damit ein Beitrag zur Personalerhaltung geleistet werden, sondern auch Pflegequalität sowie Autonomie der Pflegebedürftigen selbst erhöht werden. Zudem könnten sich die Risiken für die Gepflegten reduzieren, z. B. zu stark von einer Unterstützungsquelle abhängig zu sein, und damit die Chancen erhöhen, von einer auf mehrere Schultern verteilten Spezialisierung zu profitieren. Auch die häusliche Pflege gilt als wichtiges Einsatzfeld der Digitalisierung. In der ambulanten und teilstationären Diensteerbringung lassen sich Dienste- und Tourenplanung optimieren und unnötiger Leerlauf verringern. Zur Überwindung räumlicher wie professioneller Distanzen (z. B. zwischen Ärzten, Pflegepersonal und Betroffenen) gewinnen Telepflege-Arrangements an Bedeutung. In dem Maße, in dem die kommunale Versorgungsverantwortung für die Pflege zunimmt und damit vermehrt Steuerungs- und Koordinierungsaufgaben erforderlich werden, steigen auch die Einsatzmöglichkeiten für digitalisierte Vernetzungssysteme. Auch die Idee der „sorgenden Gemeinschaften“ wird nicht ohne digitalisierte Unterstützung (digitale Nachbarschaften) auskommen können. Auch wenn es zur Implementierung von Digitalisierung (allerdings zeitlich begrenzte) Zuschüsse für Heime seitens der Pflegekassen gibt, ist der Verbreitungsgrad bislang gering. Von einem starken Trend zur Digitalisierung kann noch keine Rede sein, weder in der ambulanten noch in der stationären Pflege. Speziell im privaten

Herausforderungen und Reformbedarfe

829

Bereich gibt es zudem hohe soziale und berufsgruppentypische Selektionseffekte bei Information, Akzeptanz und Nutzung. Die digitale Spaltung der Gesellschaft trifft in ganz besonderer Weise auf die Pflegebedürftigen zu, wenn nämlich altersgruppen-, bildungsmäßige und typologische (z. B. bei Demenz, Migrant:innenpflege) Unterschiede Zugang, Akzeptanz und Nutzung eingrenzen und somit neue Ungleichheiten in einer sich technologisch modernisierenden Versorgungsqualität drohen. In der professionellen Pflege fehlt es insbesondere an „good practice“ über betriebliche Implementierungspfade oder über fördernde oder hemmende Rahmenbedingungen. Technikeinsatz und Digitalisierung werden von den Beschäftigten in der Pflege begrüßt, wenn es zu physischen und psychischen Entlastungen und zu mehr Freiräumen durch Verringerung und Wegfall von Routinetätigkeiten kommt (Dokumentalisierung der Pflege). Bedenken sind jedoch immer dann zu erwarten, wenn eine Entwertung der eigentlichen Tätigkeit befürchtet wird oder professionelle Widerstände bestehen, weil die eigentliche personenbezogene Pflege „überdigitalisiert“ zu werden droht und zunehmender Technikeinsatz zu einem Verlust von menschlicher Wärme führt („kalte Pflege“). Nicht zuletzt steigt die Furcht vor wachsender Kontrolle in der Arbeit. Barrieren bestehen schließlich durch das bislang kaum praktizierte Zusammenspiel von Versorgungseinrichtungen und entsprechend spezialisierten Technologieunternehmen im Anbietermarkt. Die hier zu beobachtende faktische Sprachlosigkeit ist auch Folge der traditionellen Abschottung von Pflegepraxis einerseits und Zukunftstechnologien andererseits mit ihren bislang kaum ausgelotetem Unterstützungspotential wie künstliche Intelligenz (KI), virtuelle und augmentierte Realität oder Robotik. Eine wichtige Voraussetzung zur Verbreiterung in der Praxis liegt deshalb darin, die Pflege in die bestehende Kommunikations- und Telematikstrukturen einzubinden und entsprechende Fördertatbestände im SGB XI-Leistungsrecht zu implementieren (vgl. auch Kapitel „Soziale Dienste“, Pkt. 6.3). 11.4 Stärkung der Finanzierungsbasis der Pflegeversicherung Die Weiterentwicklung der Pflegeversicherung ist eine Daueraufgabe, getreu dem Motto „nach der Reform ist vor der Reform“. Dafür stehen u. a. die Reformpakete seit Einführung der Pflegeversicherung, wovon die Pflegestärkungsgesetze I – III zweifellos den Namen Strukturreformen verdienen (u. a. Neuordnung des Pflegebedürftigkeitsbegriffs) (vgl. Pkt. 1 und 6.1 dieses Kapitels). Das kann auch nicht verwundern, denn kaum ein Zweig der Sozialversicherung ist so stark von demografischen wie sozialen Wandlungsprozessen einerseits und ökonomischen Herausforderungen andererseits betroffen wie das SGB XI. Dabei handelt es sich sowohl um punktuelle Reformerfordernisse, die einzelne Leistungsbereiche und -dimensionen betreffen als auch um strukturelle Anpassungserfordernisse („große Pflegestrukturreform“).

830

Pflegebedürftigkeit und Pflege

Mehr und besser finanziertes und qualifiziertes Personal führt zwangsläufig zu steigenden Kosten in der ambulanten wie stationären Pflege. Die Pflegesätze werden sich erhöhen. Werden die Leistungen der Pflegeversicherung nicht entsprechend angehoben und laufend angepasst, ist es unvermeidlich, dass auch die Eigenanteile weiter steigen. Ein wachsender Kreis der Pflegebedürftigen muss dann auf die Sozialhilfe zurückgreifen, die kommunalen Belastungen werden steigen, zumal noch bei sinkenden Rückgriffsmöglichkeiten auf die Kinder (vgl. Pkt. 10.1. dieses Kapitels). Da sich zugleich die Ausgaben der Pflegeversicherung wegen der steigenden Zahl an Pflegebedürftigen einerseits und steigender Personalkosten erhöhen, ist damit zu rechnen, dass die Rücklagen schon in einigen Jahren nicht ausreichen, um die Ausgaben zu decken. Dieses Szenario macht deutlich, dass die Pflegeversicherung vor einem ganz erheblichen Reformbedarf steht. Zusammenfassend lassen sich auf der Finanzierungsseite mehrere Erfordernisse erkennen: •

Die Grundorientierung der Pflegeversicherung als Teilkostenversicherung ohne verlässliche Dynamisierung der Leistungshöhen stößt an ihre Grenzen. Das individualisierte Kostenrisiko führt durch die Beschränkung der Pflegeversicherung auf pauschalierte, nicht bedarfsdeckende Leistungen und die dadurch implizierte 100-prozentige Selbstbeteiligung für die über diese Pauschalen hinausgehenden Leistungen zu erheblichen privaten Zuzahlungen der Pflegebedürftigen. Die Folge ist ein unkalkulierbares Kostenrisiko bei Pflegebedürftigkeit bis hin zum Verarmungsrisiko. Das aber widerspricht fundamental dem Anspruch der Pflegeversicherung und gefährdet die Legitimation einer Sozialversicherung. Vor diesem Hintergrund hat die Forderung nach einer Vollversicherung der Pflegekosten (aber nicht der Hotelkosten) an Gewicht gewonnen. • Allerdings ist das Ziel einer Vollversicherung äußerst weitgesteckt. Zu erwarten sind nicht nur erhebliche Kostensteigerungen, sondern auch grundsätzliche Probleme bei der Bestimmung des Leistungsumfangs. So muss vor allem in der ambulanten Versorgung festgelegt werden, was unter Berücksichtigung des Wirtschaftlichkeitsgebots pflegerisch notwendige Leistungen sind – analog zur gesetzlichen Krankenversicherung. Leichter durchsetzbar sind Zwischenschritte. Erforderlich ist eine Erhöhung und verlässliche Dynamisierung der Leistungen. Zu einer vergleichbaren Wirkung kommt es, wenn die Eigenleistungen in ihrer Höhe gedeckelt werden. Bei einer solchen Deckelung gäbe es einen nach Pflegegraden gestaffelten festen Betrag, den die Pflegebedürftigen selbst zahlen müssen. Alles, was diesen Sockel übersteigt, trägt die Pflegeversicherung (Sockel-Spitze-Tausch). Derzeit ist es umgekehrt: Die Pflegeversicherung übernimmt einen festen Betrag und alle weiteren Kosten tragen die Betroffenen. • Kurzfristig gilt es, die Heimbewohner:innen von ihnen systemwidrig aufgebürdeten Kosten zu entlasten. Dies betrifft ihre Beteiligung zum einen an den In-

Herausforderungen und Reformbedarfe

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vestitionskosten in den Heimentgelten und zum anderen an den nicht gedeckten Kosten der Behandlungspflege als genuine SGB V-Leistung. • Zweifellos sind mittel- und längerfristig weitere Beitragssatzsteigerungen unumgänglich, auf der anderen Seite muss aber eine finanzielle Überforderung der Versicherten vermieden werden. Deshalb ist nach Wegen zu suchen, durch die die Finanzierungsbasis der Pflegeversicherung erweitert und das Prinzip der Finanzierungsgerechtigkeit hergestellt wird. In diese Richtung weist die Forderung, die Kranken- wie auch die Pflegeversicherung in eine Bürgerversicherung umzugestalten. Die private Pflegeversicherung würde danach in der Bürgerversicherung aufgehen. In die Beitragspflicht einbezogen würden Beamt:innen, Selbstständige und gutverdienende Angestellte, was zu höheren Einnahmen führen würde. Zu einer weiteren Erhöhung des Beitragsaufkommens käme es, wenn neben den Arbeitseinkommen auch alle anderen Einkommensarten erfasst und die Beitragsbemessungsgrenzen angehoben würden (vgl. Kapitel „Gesundheit und Gesundheitssystem“, Pkt. 13.3). • Wenn es richtig ist, dass die pflegerische Versorgung als gesamtgesellschaftliche Aufgabe zu verstehen ist, wäre alternativ daran zu denken, dass die Pflegeversicherung steuerfinanzierte Zuschüsse aus dem Bundeshaushalt erhält. Zweifelhaft hingegen bleibt, ob ein Übergang zur Teilkapitaldeckung der Pflegeversicherung hilfreich sein kann. Denn auf mittlere Sicht ist der Aufbau eines Kapitalstocks mit einer deutlichen Mehrbelastung verbunden, denn zusätzlich zu den regulären Beiträgen müssten dann noch Beiträge in einen Sonderfonds oder in eine private Pflegeversicherung gezahlt werden. 11.5 Leistungsrechtliche Reformbedarfe Reformen in der Pflegeversicherung können sich nicht auf die Forderung beschränken, mehr Geld in das System zu geben. Es geht auch darum, die Qualität der Versorgung und die Steuerung des Leistungsangebots zu verbessern: • Aufhebung der Fragmentierung der Versorgung in einen stationären und ambulanten Sektor Die Trennung zwischen den ambulanten und stationären Sektor im Leistungsrecht (und damit auch im Vergütungsrecht) und im Leistungserbringungsrecht ist zu überprüfen Die Folgen dieser Trennung sind, dass die professionelle Pflege abhängig vom Ort der Pflege zu unterschiedlichen Regeln erfolgt und dass notwendige Versorgungsinnovationen im Umfeld von Pflegen und Wohnen unterbleiben bzw. verhindert werden. Vor allem ist zu problematisieren, ob das Pflegegeld tatsächlich zielgerichtet wirkt. Ziel könnte sein, die bisherige Abgrenzung durch eine Unterscheidung entlang der Trennlinie „Pflege“ und „Wohnen“ zu ersetzen und mehr Freiräume für innovative Formen der Leistungserbringung zu schaffen.

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Pflegebedürftigkeit und Pflege

Stärkung der häuslichen Pflege Schon immer waren pflegende Angehörigen (als zweite Zielgruppe) außerhalb des Fokus der Pflegepolitik. Dies betrifft insbesondere die Vereinbarkeit von Erwerbstätigkeit und Pflege. Zentrale Voraussetzung für eine wirksame Verbesserung ist die gesellschaftliche wie sozialrechtlich gleiche Wahrnehmung und Behandlung von Kindererziehung und (Alten-)Pflege. Zu den dringenden Handlungserfordernissen gehört auch, die Qualitätssicherungsdiskussion stärker auf die häusliche Pflege zu fokussieren; nicht etwa im Sinne von Kontrollbesuchen (vgl. Pkt. 8.4 dieses Kapitels), sondern von wirksamer faktischer Unterstützung entsprechend der ganzheitlichen Wünsche und Bedarfe der Betroffenen im gemeinsamen Zusammenwirken von Professionalität, Eigenverantwortung, familiärer Unterstützung und bürgerschaftlichem Engagement im Kontext kommunaler Gesamtverantwortung. „Sorgende Gemeinschaften“ zu schaffen und aufrecht zu erhalten, ist eine sehr anspruchsvolle Aufgabe. Der Stärkung der häuslichen Versorgung dient auch ein verschiedentlich geforderter steuerfinanzierter Pflegeunterstützungsbetrag (analog zum Kindergeld). • Stärkung informeller und (wohn-)gemeinschaftlicher Pflegearrangements Obwohl der Bedarf – gemessen an der Nachfrage – als begrenzt gilt, könnten derartige Wohnformen einer bestimmten Zahl von Pflegebedürftigen, vor allem solchen mit geringer Familienanbindung, künftig innovative Wohn- und Versorgungsoptionen bieten. Allerdings müssten dazu mehr und differenziertere Leistungsanreize der Pflegeversicherung bestehen. Denkbar sind auch genossenschaftlich organisierte Wohnformen. • Steuerung der Entwicklung auf den Pflegemärkten Dass der deutsche Pflegemarkt vor allem für ausländische Investoren wegen stabiler Nachfrage und Rahmenbedingungen immer attraktiver wird, kann nicht einfach als ein notwendiger Beitrag zur Bedarfsdeckung akzeptiert werden. Es muss auch Aufgabe der Steuerung des Leistungsgeschehens sein zu verhindern, dass Rendite- und Anlegerinteressen über die Wünsche und Bedarfe der Betroffenen dominieren. Wenn Pflege eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe ist, dann ist Interessenabwägung gefragt. • Stärkung der kommunalen Kompetenz in der Pflegeversorgungsverantwortung Dazu gehört zunächst die Ausweitung eigener Angebote, was durch das Vorrangprinzip für freigemeinnützige und privat-gewerbliche Träger behindert wird. Daneben geht es vor allem um eine Beteiligung der kommunalen Seite am Leistungsgeschehen der Pflegeversicherung und ihrer Steuerung. Diese Forderung entspricht einer weit verbreiteten Einschätzung, die pflegerische Versorgung sei genuiner Teil der sozialen Daseinsvorsorge, die den Kommunen verfassungsrechtlich aufgegeben ist. Hier reichen die Vorschläge weit über die im PSG III eingeräumten Mitwirkungsregelungen in der Pflegeberatung (vgl. Pkt. 8.3 dieses Kapitels) hinaus. Sie beziehen sich u. a. auf ein über die Pflegekassen zu finanzierendes System kommunaler Case-Manager und reichen über eine bedarfsorien-

Literaturhinweise

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tierte räumliche Steuerung von Pflegediensten und Pflegeheimen (z. B. nach dem

NRW-Modell) (vgl. Pkt. 8.1 dieses Kapitels) bis hin dazu, die Mittelverwendung

der Pflegeversicherung ganz den Kommunen anzuvertrauen. Dabei wird aber übersehen, dass viele, vor allem kleinere Kommunen gar nicht an einer derartigen Kompetenzausweitung interessiert sind (u. a. aus finanziellen Gründen) und wohl auch überfordert sind, schon allein, weil die Personalausstattung fehlt. Auch setzt eine derartige Verschränkung von Sozialversicherungssystem und kommunaler Leistungssteurung (die in anderen sozialen Sicherungszweigen auch nicht gegegeben ist) eine entsprechende Grundgesetzänderung voraus, wie sie bereits mit der Schaffung einer (weiteren) Gemeinschaftsaufgabe für den Bereich Pflege diskutiert wird.

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Literaturhinweise

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Pflegebedürftigkeit und Pflege

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Literaturhinweise

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Zeitschriften Altenheim DIW-Wochenbericht Gesundheit und Gesellschaft Wissenschaft Gesundheits- und Sozialpolitik Pflege und Gesellschaft Pflegewissenschaft Soziale Sicherheit Sozialer Fortschritt WSI-Mitteilungen Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie Zeitschrift für Gesundheitswissenschaft Zeitschrift für Sozialreform

Aktuelle Gutachten, Berichte, Analysen zum Themenfeld Pflege finden sich auf http:// www.sozialpolitik-aktuell.de/berichte-dokumente.html zum Download.

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Familie und Kinder

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Familien und Familienpolitik

1.1

Familien und Familienfunktionen

Für die überwiegende Mehrzahl der Bevölkerung zählt das Zusammenleben in Partnerschaften oder Ehen sowie die Geburt von Kindern zur Normalität des Lebenslaufs. In modernen Gesellschaften unterliegt die Form des familiären Zusammenlebens allerdings einem Wandel, und es macht Schwierigkeiten, die Vielfalt bestehender Familienformen definitorisch in den Griff zu bekommen. Heute zählen neben dem sog. Normalfall von dauerhaft verheirateten Ehepaaren mit ihren leiblichen Kindern auch Ehepaare mit nicht leiblichen Kindern (Stiefeltern mit Stiefkindern, Adoptivkinder), Einelternfamilien (alleinerziehende Mütter oder Väter mit ihren Kindern) sowie Gemeinschaften unverheirateter Paare mit Kindern zu den Familien. Allgemein gefasst lässt sich „Familie“ damit als eine Eltern-Kind-Gemeinschaft definieren, die gewöhnlich, aber keineswegs immer, auf einer Ehe beruht oder daraus abgeleitet ist. Dieser auf die Lebensgemeinschaft mit Kindern bezogene Familienbegriff orientiert auf die Kernfamilie, die in einem gemeinsamen Haushalt lebt und mit dem Auszug der erwachsenen Kinder auseinandergeht. Alleinlebende aber auch Ehepaare oder eheähnliche Gemeinschaften ohne Kinder bilden insofern keine familiären Lebensformen. Bei einer erweiterten Betrachtung von Familie muss allerdings berücksichtigt werden, dass Kinder auch dann ihrer Herkunftsfamilie noch verbunden bleiben, wenn sie einen eigenen Haushalt führen oder eine eigene Familie gründen. Austausch- und Hilfsbeziehungen zwischen den Generationen sowie Zugehörigkeitsgefühle begrenzen sich weder aus der Sicht der Eltern noch ihrer Kinder auf die gemeinsame Wohnung, sondern übergreifen räumliche Distanzen. „Familie“ im weiteren Sinne zeigt sich damit als ein dynamischer Prozess, der nicht auf eine bestimmte Form festgelegt ist, sondern als Folge von Generationen verstanden werden kann, die unabhängig von räumlicher Zusammengehörigkeit biologisch und/oder sozial miteinander verbunden sind. So gesehen sind fast alle Menschen mehr oder weniger stark in familiäre Zusammenhänge eingebunden, haben also irgendwo eine Familie. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 G. Bäcker et al., Sozialpolitik und soziale Lage in Deutschland, https://doi.org/10.1007/978-3-658-06249-1_10

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Familie und Kinder

Der Prozesscharakter von Familie prägt auch die Kernfamilie, die mehrere Phasen durchläuft: Der Gründungs- und Kleinkinderphase folgt das Zusammenleben mit Schulkindern und Jugendlichen. Verlassen die Kinder das Elternhaus, löst sich die ursprüngliche Kernfamilie auf. Die Kinder gründen womöglich eine eigene Familie, und für die Eltern beginnt die nachelterliche Phase („leeres Nest“). Stirbt ein (Ehe)Partner (in der Regel zunächst der Mann), bleibt die Witwe zurück und bildet zumindest vorübergehend einen Einpersonenhaushalt. In modernen Gesellschaften sind das Eingehen von Partnerschaften und Ehen sowie die Geburt von Kindern freie und eigenverantwortete Entscheidungen der einzelnen Paare. Gleichwohl berührt die Bereitschaft von Eltern, Kinder zu bekommen, sie zu betreuen und zu versorgen und ihren Lebensweg zu begleiten, Staat und Gesellschaft. Familien erfüllen gesellschaftlich unverzichtbare Funktionen und Aufgaben. Im Vergleich zu früheren Zeiten haben sich diese Funktionen gewandelt: Einige Aufgaben sind im Zuge der gesellschaftlichen Arbeitsteilung und Spezialisierung auf- und abgegeben worden (so vor allem die Produktion von Nahrungsmitteln) oder werden durch die Leistungen anderer gesellschaftlicher Teilsysteme und Institutionen ergänzt, so vor allem durch die verschiedenen Bildungs- und Ausbildungsträger, die Institutionen der sozialen Sicherung oder durch soziale Dienste. Allerdings bleibt ein wichtiger, nicht ersetz- und übertragbarer Kernbestand. Zugleich stehen den Funktionsverlusten auch der Zuwachs von Aufgaben gegenüber, insbesondere wenn man an die Pflege der älteren Generation denkt. Es sind die Familien, die die (Haupt-)Verantwortung tragen für • • • • • •

die Nachwuchssicherung (generative Funktion), die Betreuung, Erziehung und Zuweisung sozialer Positionen der Kinder (Erziehungs- und Platzierungsfunktion), die Übermittlung von Werten, Kultur, Einstellungen und Verhaltensmustern (Sozialisationsfunktion), Haushaltsführung und Versorgung (Reproduktionsfunktion), die emotionale Unterstützung, d. h. Zuwendung, Anerkennung, Trost, Ermunterung und Geborgenheit (psychische Regenerationsfunktion), wechselseitige Hilfe-, Pflege- und Unterstützungsleistungen zwischen den Generationen (intergenerationelle Solidarfunktion).

1.2

Aufgaben von Familienpolitik

Wegen der Bedeutung dieser Funktionen ist die Förderung und Unterstützung von Familien zu einer wichtigen Aufgabe des Sozialstaats geworden. Mit der Familienpolitik hat sich ein eigenständiger Teil von Sozialpolitik entwickelt. Ziel von Familienpolitik ist es, die wirtschaftlichen und sozialen Lebensbedingungen von Familien zu sichern und zu verbessern, die Familien in ihren Aufgaben und Funktionen zu un-

Familien und Familienpolitik

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terstützen und zu fördern und damit die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass sich der Wunsch nach Kindern auch realisieren lässt. Damit untrennbar verbunden ist die Aufgabe, die Lebensbedingungen von Kindern und jungen Menschen zu sichern und zu verbessern, sie in ihren Entwicklungs- und Bildungschancen zu fördern sowie eine kinderfreundliche Umwelt zu erhalten oder zu schaffen. Ausgangspunkt dafür ist die Feststellung, dass Betreuung, Versorgung und Erziehung von Kindern für die Eltern mit Freude und Erfüllung, aber auch mit einem hohen Maß an Verantwortung, vielfältigen Einschränkungen, zeitlichen Belastungen und nicht zuletzt mit Kosten verbunden sind. Auch ist die Integration der Kinder in eine komplexer werdende Gesellschaft nicht einfach, wie es die wachsenden Anforderungen an eine gute Ausbildung verdeutlichen. Da die Lebens- und Entwicklungsbedingungen der Familien und ihrer Mitglieder von den unterschiedlichsten politischen, gesellschaftlichen und ökonomischen Faktoren geprägt und beeinflusst werden, kann Familienpolitik nur dann wirksam und erfolgreich sein, wenn sie sich als Teil einer umfassenden Gesellschaftspolitik versteht. Die Maßnahmen der Familienpolitik konzentrieren sich dabei auf folgende Ebenen und Bereiche: •

Festlegung und Umsetzung der rechtlichen Rahmenbedingungen für den Schutz der Familie und für das Zusammenleben in Familien Maßgeblich sind die grundgesetzlichen Normen (hier insbesondere Artikel 6 GG, Satz 1 und 2: „Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutz der staatlichen Ordnung“, „Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft“) und die sie konkretisierenden Regelungen des gesamten Familienrechts. Beim Familienrecht ist zu unterscheiden zwischen Eherecht (allgemeines Eherecht, Scheidungs- und Scheidungsfolgenrecht), Kindschaftsrecht (Sorge-, Umgangs-, Adoptions- und Vormundschaftsrecht) sowie Unterhaltsrecht (Kindesunterhalt, Ehegattenunterhalt). • Wirtschaftliche Hilfen für Familien Durch Einkommensübertragungen und/oder Steuererleichterungen sollen die materiell-finanziellen Bedingungen in den Familien verbessert werden, da bei der Entlohnung auf dem Arbeitsmarkt die besonderen familiären Bedarfe unberücksichtigt bleiben. Im Konkreten handelt es sich hier um die vielfältigen Leistungen im Rahmen des Familienleistungsausgleichs. • Verbesserung der Wohnungsversorgung und Wohnumfeldgestaltung Durch Wohnungsbaupolitik (sozialer Wohnungsbau, Wohnungsbauförderung), Wohngeldzahlungen, Städtebaupolitik und Wohnumfeldverbesserung soll familiengerechter Wohnraum preisgünstig zur Verfügung gestellt und für ein den Lebensbedürfnissen von Kindern entsprechendes Wohnumfeld Sorge getragen werden.

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Familie und Kinder

• Verbesserung der Vereinbarkeit von Berufstätigkeit und Familienaufgaben Wenn Eltern nach der Geburt ihrer Kinder nicht ihre Berufstätigkeit aufgeben möchten, sondern die Erziehung der Kinder mit der Berufstätigkeit verknüpfen wollen, so bedarf es sowohl Anpassungen in der Arbeitswelt (Arbeitsorganisation, Verkürzung und Flexibilisierung von Arbeitszeiten, Freistellungsmöglichkeiten, Arbeit zu Hause) und der Gewährleistung von Einkommensersatzleistungen als auch eines bedarfsdeckenden Angebotes an Tagesstätten für Kinder. • Hilfen zur Unterstützung der Eltern in ihren Erziehungsleistungen Familienbildungsmaßnahmen sowie Beratungsangebote (so Erziehungs-, Ernährungs- und Wohnungsberatung) sollen Hilfestellung in Erziehungsfragen geben und die Eltern in ihrem Erziehungsauftrag unterstützen. • Pädagogische und soziale Hilfen für Kinder und Jugendliche Adressaten dieser Hilfen sind Kinder und Jugendliche. Ihre individuelle und soziale Entwicklung soll gefördert und ihr Wohl geschützt werden, insbesondere dann, wenn Probleme in der Person des jungen Menschen oder Schwierigkeiten in seiner Familie auftreten. Es handelt sich hier um das breite Spektrum der Angebote an familienergänzenden, im Bedarfsfall auch familienersetzenden Hilfen, das im SGB VIII (Kinder- und Jugendhilfe) geregelt ist. • Hilfen für Familien in besonderen Lebenslagen Familien weisen unterschiedliche Lebenslagen und Problemsituationen auf: So stellt das Leben mit behinderten oder kranken Kindern besondere Anforderungen. Auch Alleinerziehende haben mit besonderen, nicht nur finanziellen Schwierigkeiten zu kämpfen. Wiederum andere Probleme haben Familien von Migranten. Familienpolitik muss durch differenzierte Hilfen auf diese jeweiligen Lebenslagen eingehen. • Hilfen für ältere Familienmitglieder Im Zuge des demografischen Wandels ist die Unterstützung und Versorgung hilfeund pflegebedürftiger älterer Familienmitglieder zu einer zunehmend wichtigen Aufgabe von Familien geworden. Familien- wie Altenpolitik müssen die betroffenen Familien dabei wirkungsvoll unterstützen. Die hier skizzierte Breite der familienpolitischen Aufgabenstellungen macht deutlich, dass Familienpolitik kein inhaltlich, instrumentell und institutionell abgegrenztes Politikfeld ist. Die Entscheidungen in vielen anderen Politikfeldern, so u. a. in der Steuerpolitik, Arbeitsmarktpolitik, Wohnungspolitik, Bildungspolitik, haben unmittelbare Rückwirkungen auf die Situation von Familien. Familienpolitik lässt sich auch nicht nur auf die bundesstaatliche Ebene und hier auf ein Ressort reduzieren; sie ist vielmehr eine umfassende Querschnittsaufgabe und berührt eine Vielzahl politischer Akteure und Institutionen. Angesprochen sind alle Gebietskörperschaften, d. h. Bund, Länder und Gemeinden gleichermaßen, aber auch die Sozialversicherungsträger und die Tarifvertrags- und Arbeitsmarktparteien. Da Familienpolitik ganz maßgeblich auf dem Einsatz sozialer Dienste beruht, zählen auch frei-gemeinnützige Ein-

Familien und Familienpolitik

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richtungen, Wohlfahrtsverbände, Kirchen und Selbsthilfeinitiativen zu den Trägern familienpolitischer Maßnahmen (vgl. Kapitel „Soziale Dienste“). 1.3

Politik für Kinder

Die Kernfamilie ist nicht nur eine Lebensgemeinschaft als solche. Sie setzt sich aus den einzelnen Familienmitgliedern zusammen, die gemeinsame, aber auch jeweils besondere, womöglich konkurrierende Lebensbedingungen und -interessen haben. Ins Blickfeld gehören zunächst die Kinder, deren Lebensraum durch das Dreieck zwischen Familie, Kindertagesstätte/Schule und Wohnumfeld/städtische Infrastruktur geprägt ist. Lebensräume für Kinder zu gestalten und zu verbessern, ist Aufgabe einer spezifischen Kinderpolitik, die sich erst in jüngerer Zeit entwickelt hat und Kinder nicht nur aus der Perspektive von Eltern und Erziehungsberechtigten sieht, sondern als eigenständige Subjekte mit eigenen Bedürfnissen und Meinungen ernst nimmt. Das Grundgesetz sieht ein explizites Recht der Kinder auf Förderung ihrer Entwicklung (noch) nicht vor. Allerdings sind Kinder uneingeschränkt Träger aller Grundrechte. Die Erziehungsverantwortung der Eltern („Elternrecht“) muss deshalb an den Interessen des Kindes („Kindeswohl“) orientiert sein. Zugleich hat der Staat über die Betätigung der elterlichen Verantwortung zu wachen („staatliches Wächteramt“ gemäß Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG) und die Pflicht einzugreifen, wenn das Kindeswohl gefährdet ist. Aus diesem Wächteramt folgt aber auch eine strukturelle staatliche Verantwortung für die Schaffung kindgerechter Lebensbedingungen. Zu berücksichtigen ist zudem internationales Recht, hier vor allem die UN-Kinderrechtskonvention, die auch für Deutschland gilt. Kinderpolitik ist zum einen Politik für Kinder. Auf lokaler und regionaler Ebene gewinnt die Durchführung von Kinderfreundlichkeitsprüfungen an Bedeutung (so in der kommunalen Infrastruktur- und Bauplanung). Es geht aber auch um Politik mit Kindern (Einrichtung von Kinderforen, Kinderbüros, Kinder- und Jugendparlamenten). Angesichts des demografischen Wandels mit der Folge eines rückläufigen Anteils von Kindern und Jugendlichen und wachsenden Anteils älterer Menschen an der Bevölkerung gewinnen beide Aufgaben an Bedeutung. Nach der traditionellen geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung werden Familienarbeit, Kindererziehung und familiäre Pflegeverpflichtungen vorrangig Frauen zugewiesen bzw. von ihnen wahrgenommen. Diese Rollen- und Aufgabenzuschreibung ist Ursache und Folge zugleich der vielfältigen Benachteiligungen, denen Frauen in der Gesellschaft im Allgemeinen und in der Arbeitswelt im Besonderen unterliegen. Frauenpolitik und Gleichstellungs- bzw. Genderpolitik zielen auf die Überwindung dieser Benachteiligungen und eine gleichberechtigte Partnerschaft zwischen den Geschlechtern. Der Blick der Frauen- und Gleichstellungspolitik auf die Frage der Gleichberechtigung von Männern und Frauen auch in der Familie kann dabei in Konflikt geraten mit einer traditionellen Familienpolitik, die die Förderung der

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Familie und Kinder

Familie durch Festschreibung der geschlechtsspezifischen Rollenzuschreibung erreichen möchte und die Frauen auf Haushalt und Kindererziehung verweist. Familienpolitik und Frauenpolitik greifen jedoch dann ineinander und ergänzen sich, wenn es beispielsweise um die Verbesserung der Vereinbarkeit von Beruf und Familie geht.

2

Wandel der familiären Lebensformen und der Geschlechterrollen

Über lange Zeit war das Familienleben durch weithin anerkannte gesellschaftliche Normen strukturiert. So war es selbstverständlich, dass junge Menschen heiraten, eine Familie mit mehreren Kindern gründen und lebenslang mit dem/der Ehepartner/in zusammenleben. Für Frauen war die Rolle als Hausfrau und Mutter vorgesehen: Sie übernehmen mit der Heirat und der Geburt der Kinder die alleinige Verantwortung für die Haus- und Erziehungsarbeit sowie für die private Lebenssphäre, während der Mann einer kontinuierlichen Erwerbsarbeit nachgeht und das für den Familienunterhalt notwendige Einkommen erzielt. Dieses Bild der nicht berufstätigen, für die Familie zuständigen Hausfrau und Mutter beruht auf einer streng geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung und Trennung der Lebensbereiche. Die materielle und soziale Sicherung der Frau wird durch den Ehemann gewährleistet. Der Mann übernimmt die „Ernährerrolle“ und sorgt für den Unterhalt der Frau und der Kinder. Die unentgeltliche Pflege-, Haus- und Erziehungsarbeit der Frau in der Familie und für den Mann begründet ihren Anspruch auf Unterhalt. Die Ehe ist damit eine Versorgungs- und Sicherungsinstitution. Das Sozialversicherungssystem knüpft an dieses Leitbild an. Es ist zugleich erwerbszentriert (für den Mann) und ehezentriert (für die Frau): Einen eigenständigen, vom Ehemann und vom Fortbestand der Ehe unabhängigen sozialversicherungsrechtlichen Schutz hat die nichterwerbstätige Frau nicht: Sie ist in der gesetzlichen Krankenversicherung mitversichert. Und entfallen beim Tod des Mannes die Unterhaltsleistungen, zahlt die Rentenversicherung mit der Witwenrente eine Unterhaltsersatzleistung. Die Existenzsicherung der Frau ist also jeweils abgeleitet und abhängig vom Arbeits- und Lohnersatzeinkommen des Mannes (vgl. Kapitel „Einkommen“, Pkt. 5.8). Dieses Modell der bürgerlichen Familie hatte zwar über viele Jahre hinweg einen hohen, nahezu allgemeingültigen normativen Stellenwert, ist allerdings nie durchgehend praktiziert worden. So war in Arbeiterfamilien und in der Landbevölkerung die Erwerbstätigkeit von Müttern an der Tagesordnung, dies vor allem aus dem Zwang der ökonomischen Verhältnisse heraus. Auch die Familien- und Lebensformen waren vielfältiger als es dem Bild der Kleinfamilie entspricht. Unter dem Einfluss ökonomischer, sozialer, kultureller und politischer Umbrüche haben sich seitdem die familiären Lebensformen und Geschlechterrollen verändert. In der Folge hat die normative Verbindlichkeit des bürgerlichen Familienmusters an

Wandel der familiären Lebensformen und der Geschlechterrollen

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Kraft verloren. Von einer fraglosen Selbstverständlichkeit, zu heiraten und eine Familie zu gründen, kann keine Rede mehr sein. Ehe und Elternschaft werden nicht mehr als gewissermaßen unausweichlich vorgegebene Lebensperspektiven verstanden, sondern als Gegenstand bewusster Lebensentwürfe und verantworteter Entscheidung: •

• •



• •

Die Ehe verliert ihren Leitbildcharakter und ihr „Quasi-Monopol“ als – möglichst unauflösliche – Lebensform des Zusammenlebens und als alleiniger legitimer Ort für Sexualität. Eine wachsende Zahl von Menschen wohnt über längere Phasen allein oder mit einem/r Partner/in in nicht-ehelichen Lebensgemeinschaften zusammen. Ehepartner sehen sich in ihrem Selbstverständnis mehr und mehr frei, sich aus einer Ehe auch wieder trennen zu können. Steigende Frauenerwerbstätigkeit und die Verfügung über eigenes Erwerbseinkommen sowie die Veränderungen im Scheidungs- und Scheidungsfolgenrecht haben Frauen aus dem Zwang befreit, aus materiellen und sozialen Motiven in einer unerträglich gewordenen Beziehung verharren zu müssen. Kinder zu haben und zu erziehen, ist nicht mehr der, sondern ein möglicher Lebensinhalt. Die Geburtenziffer sinkt und verharrt auf einem niedrigen Niveau, das Erstgeburtsalter der Frauen steigt. Eine größer werdende Zahl verheirateter (und nichtverheirateter) Paare bleibt zeitlebens kinderlos. Weder hat Eheschließung automatisch Mutterschaft zur Folge, noch ist Mutterschaft notwendigerweise an eine Ehe gekoppelt. Es wird später und seltener geheiratet. Heirats- und Wiederverheiratungshäufigkeit sind gesunken, die Eheschließung erfolgt zunehmend im Zusammenhang mit dem Wunsch nach einem Kind oder einem bereits erwarteten bzw. geborenen Kind. Vor allem infolge der hohen Scheidungshäufigkeit nehmen Anzahl und Anteil der Kinder zu, die nur mit einem Elternteil, in aller Regel mit den Müttern, zusammenleben. Gleichgeschlechtliche Partnerschaften werden nicht länger offen diskriminiert und finden zunehmend gesellschaftliche Akzeptanz. Im Falle einer Heirat sind sie mittlerweile rechtlich mit der traditionellen Ehe gleichgestellt („Ehe für alle“).

Diese Veränderungen der privaten Lebensformen und des generativen Verhaltens sind Ausdruck und Folge der rechtlichen und kulturellen Liberalisierung, des kontinuierlichen Wohlstandsanstiegs, des Ausbaus des Sozialstaates, der Bildungsexpansion und vor allem der sich wandelnden Lebensorientierung von Frauen. Die traditionelle Beschränkung allein auf die Rolle der Familienhausfrau, des Daseins für andere und die Benachteiligung in den außerfamiliären Lebensbereichen wird heute nicht länger fraglos akzeptiert. Frauen fordern auch für sich die Vorteile einer freien, selbstbestimmten Lebensgestaltung, die lange Zeit den Männern vorbehalten war,

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Familie und Kinder

und sie erwarten eine eigenständige Existenzsicherung, unabhängig von der Existenz und dem Bestand einer Ehe und von der Einkommensposition des Mannes. Die Umbrüche in den Geschlechterrollen dokumentieren sich insbesondere im Bildungs- und Erwerbsverhalten junger Frauen, das weitgehend dem junger Männer angeglichen ist. Auch verheiratete Frauen und Mütter sind in wachsendem Maße erwerbstätig; mit der Eheschließung allein wird nur noch in seltenen Fällen der Beruf aufgegeben. Und immer mehr Mütter bleiben auch dann erwerbstätig, wenn Kinder zu versorgen und zu erziehen sind, oder sie nehmen nach einer kürzer werdenden Erziehungspause/Elternzeit wieder ihre Berufstätigkeit auf. Demgegenüber sinkt der Anteil der Frauen, die nach der Erziehungsphase nicht mehr in den Beruf zurückkehren oder zurückkehren möchten und ihr Leben dauerhaft als Hausfrau führen. Berufstätigkeit ist für Frauen zu einem festen Bestandteil ihrer biografischen Grundorientierung geworden. Die Neubestimmung der weiblichen Geschlechterrolle sowie der ökonomische, kulturelle und soziale Umbruch führen dazu, dass Familien einem Wandel unterliegen und ihr Gesicht ändern. Das Leben mit Kindern ist schwieriger und voraussetzungsvoller geworden und steht in wachsender Konkurrenz zu anderen, kinderlosen Lebensformen. Für den Lebensalltag der Kinder ergeben sich neue personelle Konstellationen im erweiterten Familienzusammenhang: Geburtenrückgang und verlängerte Lebenserwartung bedeuten aus Sicht der Kinder, dass die Chancen sinken, mit Geschwistern, Onkeln und Tanten, Cousins und Cousinen zusammenzutreffen. Auf der anderen Seite wächst die Wahrscheinlichkeit, neben den Groß- auch die Urgroßeltern zu erleben. Kinder in Stiefelternfamilien kommen zudem in die Situation, neben den leiblichen Eltern und Großeltern auch mit den neuen sozialen Eltern und Großeltern Beziehungen aufzunehmen. Es entstehen Patchworkfamilien bzw. binukleare Familien. Von einer Auflösung oder einem Zerfall der Institution Familie kann gleichwohl nicht die Rede sein. Die Veränderungen sind weniger spektakulär als dies auf den ersten Blick erscheint. So ist immer noch die weit überwiegende Mehrheit der Menschen im Laufe ihres Lebens verheiratet und hat Kinder. Der größte Teil der Ehen wird nach wie vor nicht geschieden, sondern endet durch den Tod eines Partners/ einer Partnerin. Die große Mehrzahl der minderjährigen Kinder wächst bei ihren leiblichen und in erster Ehe verheirateten Eltern auf. Und alle Befragungsergebnisse lassen erkennen, dass in den Lebensvorstellungen der Menschen, auch und gerade junger Menschen, Kinder und Elternschaft, Partnerschaft und auch die Ehe, vor allem wenn Kinder zu versorgen sind, einen hervorgehobenen Platz einnehmen. Die Familie gilt neben der Gesundheit als das wichtigste Grundelement eines erfüllten Lebens. Die Ansprüche und Anforderungen an Familie und eine glückliche, liebesorientierte Partnerschaft nehmen zu; was womöglich einer der Faktoren zur Erklärung des häufigeren Scheiterns von Beziehungen ist. Das dauerhafte Alleinwohnen als Single ohne stabile Partnerschaft und ohne Kinder entspricht nicht den Lebenswünschen der meisten Menschen.

Wandel der familiären Lebensformen und der Geschlechterrollen

845

Der Anteil der Menschen, die angeben, auf jeden Fall auf Kinder zu verzichten und ein dauerhaftes Leben ohne Kinder zu führen, ist gering. Insgesamt gilt, dass die Entscheidung für Kinder und über die Kinderzahl in der Regel bewusst und überlegt getroffen wird. Der Zeitpunkt von Familiengründung und Heirat wird dabei zunehmend abhängig gemacht vom Abschluss der Ausbildung, der gelungenen Einmündung in den Arbeitsmarkt und von einer zumindest einigermaßen gesicherten Einkommensposition. Eine frühe Elternschaft ist eher bei Frauen ohne eine qualifizierte Schul- und Berufsausbildung anzutreffen. Das Hinausschieben des Kinderwunsches kann allerdings dazu führen, dass es für eine Geburt dann biologisch und biografisch zu spät ist. Das Familienleben unterscheidet sich nach unterschiedlichen Phasen und Konstellationen, die von den Menschen als durchaus vereinbar angesehen werden: So münden viele der nicht-ehelichen Lebensgemeinschaften, die in der Phase der Postadoleszenz eingegangen werden, vor oder nach der Geburt von Kindern in eine Ehe. Diese neue Lebensform lässt sich somit eher als Vorstufe oder Übergangsform zur späten Ehe bzw. als Alternative zur Frühehe interpretieren, aber weniger als grundsätzliche Alternative zur Ehe überhaupt. Auch viele Geschiedene heiraten wieder und gründen zum Teil neue Familien. Die in der amtlichen Statistik als „alleinerziehend“ Definierten können – zunächst in getrennten Wohnungen – neue Lebenspartner:innen finden. Wenn sie mit diesen zusammenziehen, werden sie in der Statistik als nicht-eheliche Lebensgemeinschaft erfasst. Zugleich wächst die Zahl der ledigen oder geschiedenen bzw. getrennten Paare, die trotz getrennter Wohnungen und womöglich neuer Partnerbindungen ihren leiblichen Kindern gegenüber gemeinsam eine aktive und verantwortliche Elternschaft (gemeinsame Sorge) praktizieren. Die hohe und wachsende Zahl von Einpersonenhaushalten sowie von kinderlosen Zweipersonenhaushalten signalisiert nicht, dass die Lebensform der Kernfamilie in eine gesellschaftliche Minderheitsposition gerät. Die in eine solche Richtung weisenden empirischen Befunde sind häufig nur das Ergebnis von Stichtags- bzw. Querschnittsbetrachtungen. Verfolgt man nämlich die Lebensformen der Menschen im Verlauf der gesamten Lebensbiographie, dann zeigt sich, dass der Anteil der dauerhaft Kinderlosen sehr viel geringer ist. Viele Jüngere werden noch Kinder bekommen, und viele Ältere haben Kinder gehabt. Infolge der Verringerung der durchschnittlichen Kinderzahl je Paar verkürzt sich die Phase der Kernfamilie auf einen begrenzten, überschaubaren Zeitraum. Und angesichts der gleichzeitigen Verlängerung der Lebenserwartung dehnt sich die Phase des Zusammenlebens ohne Kinder deutlich aus. Diese Nachkinderphase fällt oftmals, zumindest zeitweise, mit der Sorge- und Pflegephase für die eigene Elterngeneration zusammen. Der Großteil der Alleinstehenden setzt sich aus allein lebenden älteren, meist verwitweten Frauen zusammen. Die Gruppe der jüngeren „Singles“ hat sich zwar – parallel zum steigenden Heiratsalter und zur sinkenden Heiratshäufigkeit – deutlich ausgedehnt, ist aber für die Alleinstehenden nicht typisch. Für die jüngeren, unverheirateten und kinderlosen Menschen ist eher der verlängerte Verbleib im elterli-

846

Familie und Kinder

chen Haushalt charakteristisch. Infolge vor allem der verlängerten Ausbildung und des späteren Berufseinstiegs verschiebt sich die Jugendphase in höhere Altersgruppen. Alleinstehend oder alleinwohnend ist zudem nicht mit Vereinzelung oder gar Isolation gleichzusetzen. In der amtlichen Statistik gelten als Alleinstehende nicht nur die Alleinlebenden (in einem Einpersonenhaushalt), sondern alle Personen, die im befragten Haushalt ohne (Ehe)Partner und ohne ledige Kinder leben. Hierbei kann es sich auch um einen Mehrpersonenhaushalt handeln, z. B. das Wohnen in einer studentischen Wohngemeinschaft oder das Zusammenleben von Geschwistern. Und bei den Alleinlebenden wird lediglich erfasst, dass die entsprechenden Personen allein wohnen, unabhängig davon, ob bzw. welche sozialen Beziehungen sie unterhalten, ob sie z. B. in einer dauerhaften Partnerschaft leben oder ob sie als geschiedener Elternteil eine aktive Elternrolle für das außerhalb ihres Haushalts wohnende Kind einnehmen. Unberücksichtigt bleibt auch, dass die räumliche Trennung der Generationen noch lange nicht bedeutet, dass auch die sozialen Kontakte und wechselseitigen Hilfeleistungen abgebrochen werden. Denn auch getrennt von der Kernfamilie lebende Kinder und Großeltern werden in aller Regel immer noch als fester Bestandteil der Familie angesehen. Familienmitglieder helfen einander auch über die Kernfamilien hinaus und über Entfernungen hinweg. Das betrifft zum einen finanzielle Hilfen – überwiegend von den Eltern zu ihren Kindern (in Ausbildung) und von den Großeltern zu ihren Enkelkindern, sehr viel seltener von den Kindern zu den Eltern und Großeltern. Umfangreicher und selbstverständlicher als finanzielle Hilfen sind aber immaterielle persönliche Hilfen zwischen den Generationen bei Krankheit, Enkelkinderbetreuung, Pflegebedürftigkeit und bei Arbeiten im Haushalt (vgl. Kapitel „Pflegebedürftigkeit und Pflege“, Pkt. 3., und „Alter“, Pkt. 2.3). Auch der Wandel der Geschlechterrollen darf nicht überzeichnet werden. Bei genauerer Betrachtung der Berufstätigkeit von Frauen zeigt sich sehr schnell, dass die steigende Frauenerwerbsbeteiligung keineswegs dazu geführt hat, dass sich die Berufsverläufe an die der Männer angeglichen haben. Die weibliche Erwerbsbeteiligung sinkt immer noch dann, wenn ein Kind geboren ist. Die überwiegende Zahl der Mütter reduziert ihre Berufstätigkeit, um zu Hause für die Kinder zu sorgen. Angesichts der wenig familienfreundlichen Anforderungen in der Arbeitswelt, eines immer noch unzureichenden Angebotes an öffentlichen Kinderbetreuungseinrichtungen und der Weigerung vieler Männer, sich partnerschaftlich an der Familien- und Erziehungsarbeit zu beteiligen, sind Frauen weder in der Lage noch dazu bereit, sich an das männliche, auf kontinuierliche Vollzeitarbeit orientierte Erwerbsmuster, das heißt an das sog. Normalarbeitsverhältnis, anzupassen. Das für Mütter typische Erwerbsmuster ist mehrheitlich durch phasenweise Berufsunterbrechung und vor allem durch Teilzeitarbeit charakterisiert (vgl. Pkt. 7.2 dieses Kapitels sowie Kapitel „Arbeit und Arbeitsmarkt“, Pkt. 3.2). Das heißt aber auch, dass das (oftmals niedrige) Teilzeit-Erwerbseinkommen von Frauen weder zum eigenständigen Lebensunterhalt ausreicht noch geeignet ist, eine eigenständige

Lebensformen und Familienstrukturen im Überblick

847

und ausreichende soziale Sicherung aufzubauen. Dies gilt insbesondere dann, wenn es sich um eine geringfügige Teilzeitarbeit (Minijob) handelt. Es bleibt die (zumindest partielle) Angewiesenheit auf das Einkommen des Mannes. Versorgerehe und männliche Ernährerrolle haben sich modifiziert und teilweise auch verringert, nicht aber aufgelöst.

3

Lebensformen und Familienstrukturen im Überblick

Familienstrukturen und Lebensformen in Deutschland und deren Entwicklungstrends lassen sich anhand der nachstehenden Daten illustrieren. Die Vergleiche beruhen dabei weitgehend auf Querschnittserhebungen. 3.1

Lebensformen und Haushaltstypen

Im Jahre 2018 lebten die knapp 83 Mio. Einwohner Deutschlands in rund 41 Mio. Haushalten (vgl. Tabelle X.1). In den Jahren seit der Wiedervereinigung ist die Bevölkerung um drei Millionen Personen bzw. 3,8 % angestiegen. Die steigende Lebenswartung und vor allem die Zuwanderung haben die niedrige Geburtenzahl bislang mehr als ausgeglichen. Sehr viel stärker als die Zahl der Einwohner ist jedoch die Zahl der Haushalte angestiegen, nämlich um über 40 %. Die Zahl der Haushalte wächst, gleichzeitig sinkt aber die Zahl der in ihnen lebenden Menschen. Unterscheidet man zwischen der Größe der Haushalte, zeigt sich, dass sich diese zu • 42 % aus Einpersonenhaushalten und zu • 58 % aus Mehrpersonenhaushalten zusammensetzen. Einpersonenhaushalte Fast die Hälfte aller Haushalte in Deutschland sind damit Einpersonenhaushalte. Hinter diesem wachsenden Haushaltstyp verbergen sich verschiedene Lebensformen. Eine große Gruppe wird von älteren Menschen gebildet: Die Hälfte der Alleinlebenden ist 55 Jahre und älter, darunter zu 35 % Verwitwete. Dies trifft vor allem für Frauen zu: Unter den alleinlebenden Frauen ist fast die Hälfte 55jährig und älter und zugleich verwitwet. Mit zunehmendem Alter verstärkt sich diese Entwicklung noch: Im Alter von 75 Jahren und mehr leben knapp zwei Drittel der Frauen allein („Feminisierung“ und „Singularisierung“ des Alters; vgl. Kapitel „Alter“, Pkt. 2.2 und Abbildung X.1). Einpersonenhaushalte entstehen auch durch Scheidungen. Sind noch Kinder zu versorgen, bleiben in der Regel das Kind/die Kinder bei der Mutter, während der Va-

848

Familie und Kinder

Tabelle X.1 Haushalte und Lebensformen 2018, in Tsd. und in % aller Haushalte Haushaltstyp

in Tsd.

in %

Haushalte insgesamt

41 378

100

Einpersonenhaushalte

17 333

41,9

Mehrpersonenhaushalte

24 045

58,1

12 057

29,1

9 815

23,7

2 242

5,4

11 575

28,0

darunter: Ehepaare mit Kindern

7 816

18,9

Lebensgemeinschaften mit Kindern

1 040

2,5

Alleinerziehende

2 580

6,2

2 174

5,2

407

1,0

Unter den Haushalten insgesamt: Lebensformen mit mehreren Personen in % aller Haushalte1): • Paargemeinschaften ohne Kinder2) darunter: Ehepaare Lebensgemeinschaften • Lebensformen mit Kindern2)

darunter: Mütter Väter

1) Haushalte und Lebensformen sind nicht deckungsgleich. Z. B. können in einem Haushalt mehrere Lebensformen vorzufinden sein, etwa alleinstehende Studenten in einer Wohngemeinschaft. 2) Kinder: Ledige Kinder ohne Altersbegrenzung im Haushalt mit mindestens einem Elternteil Quelle: Eigene Zusammenstellung nach Statistisches Bundesamt (2019), Fachserie 1 Reihe 3, Bevölkerung und Erwerbstätigkeit: Haushalte und Familien, Wiesbaden.

ter auszieht. Aus einem gemeinsamen Mehrpersonenhaushalt werden nunmehr ein neuer Einpersonenhaushalt und ein neuer Mehrpersonenhaushalt. Auch in den Einpersonenhaushalten von ledigen Menschen findet sich eine große Vielfalt. Die Lebensform reicht vom wirklichen Alleinleben über die faktische alltäglichen Einbindung in familiäre Netzwerke bei separater Wohnung (z. B. Kinder wohnen in einer Einliegerwohnung im Haus der Eltern) bis hin zu festen Lebenspartnerschaften, bei denen eine gemeinsame Wohnung nicht gewünscht wird oder nicht möglich ist, z. B. wegen der beruflichen Tätigkeit beider Partner in entfernt liegenden Städten. Bei studierenden Kindern wiederum ist es üblich, dass sie im Nebenwohnsitz alleine wohnen, im Hauptwohnsitz gemeinsam mit ihren Eltern. Insgesamt nimmt der Anteil der Einpersonenhaushalte an allen Haushalten mit steigender Einwohnerzahl des Wohnortes zu. In Großstädten mit 500 000 und mehr Einwohnern sind über 60 % aller Haushalte Einpersonenhaushalte.

Lebensformen und Familienstrukturen im Überblick

849

Mehrpersonenhaushalte und Familienhaushalte Unter den 24,1 Mio. Mehrpersonenhaushalten (2018) dominieren die kleinen, d. h. die Zwei- und Dreipersonenhaushalte. Sie machen fast die Hälfte der Haushalte insgesamt aus. Haushalte mit 5 und mehr Personen bilden demgegenüber nur noch etwa 3 % aller Haushalte. Entsprechend entwickelt sich die durchschnittliche Haushaltsgröße rückläufig und liegt 2018 nur noch bei 2,0 Personen. Bei den Mehrpersonenhaushalten ist zu unterscheiden, ob diese (noch) kinderlos sind bzw. die Kinder bereits den Haushalt verlassen haben, oder ob hier Kinder leben. Im letzteren Fall kann, wenn es sich um ledige Kinder handelt, von Familienhaushalten gesprochen werden. Familienhaushalte machen in Deutschland (2018) knapp die Hälfte aller Mehrpersonenhaushalte aus. Die Statistik (Mikrozensus) definiert diese Haushalte als solche, in denen ledige Kindern ohne Altersbegrenzung mit ihren leiblichen Eltern, Stief-, Pflege- oder Adoptiveltern zusammen leben. Sie setzen sich zusammen aus: • • •

Haushalten von Ehepaaren mit Kindern (18,9 % der Haushalte insgesamt und 67,5 % aller Familienhaushalte), Haushalten von Alleinerziehenden (6,2 % der Haushalte insgesamt und 22,3 % aller Familienhaushalte) nicht-ehelichen Lebensgemeinschaften mit Kindern (2,5 % der Haushalte insgesamt und 9,0 % aller Familienhaushalte).

Vergleicht man die Zusammensetzung im Zeitverlauf, so wird deutlich, dass sich seither der Anteil der Familienhaushalte erheblich verringert, dagegen der Anteil der kinderlosen Haushalte, darunter vor allem der der Einpersonenhaushalte, stark erhöht hat. So betrug in den alten Bundesländern der Anteil der Einpersonenhaushalte an allen Haushalten 1972 erst 26,2 % gegenüber noch 44,5 % bei den Familienhaushalten. 2018 haben sich die entsprechenden Vergleichswerte auf 41,9 % bzw. auf 28,0 % verschoben. Der Anstieg von Haushalten ohne Kinder ist allerdings nicht mit einer entsprechenden Zunahme von dauerhafter Kinderlosigkeit gleichzusetzen. Bei den kinderlosen Haushalten handelt es sich auch um Haushalte, in denen noch keine Kinder geboren sind, aus denen die Kinder bereits ausgezogen sind oder in denen die Kinder nicht mehr ledig sind. Verändert hat sich zugleich der Typ der Familienhaushalte bzw. der Lebensform mit Kindern (vgl. Abbildung X.1): Waren 1996 noch über 80 % aller Familienhaushalte Ehepaare mit ihren Kindern, so hat sich dieser Anteil bis 2018 auf 70 % verringert. Stark an Bedeutung zugenommen haben dagegen Lebensgemeinschaften mit Kindern und Alleinerziehende mit ihren Kindern. Alleinerziehende sind mit einem Anteil von 18,5 % zu einer zunehmend verbreiteten familiären Lebensform geworden. Sie sind dabei weit überwiegend Resultat gescheiterter Ehen (Scheidung oder dauerhaftes Getrenntleben), ledige und verwitwete Alleinerziehende haben eine geringere

850

Familie und Kinder

Abbildung X.1 Familien nach Familientyp 1996 – 2018, in % der Lebensformen mit Kindern 90

80

70

81,4

78,6 74,8

72,0

69,0 70,1

1996

2000

2005

2010

2015

2018

in Prozent

60

50

40

30

20

10

0

4,8 Ehepaare

6,0

7,7

8,6

12,1

10,5 11,4

Lebensgemeinschaften

1,8

1,8

1,7

1,9

2,3

Alleinerziehende Väter

13,5

15,8

17,5 18,2

16,3

2,2 Alleinerziehende Mütter

1) Die Vergleichbarkeit der Zeitreihe ist auf Grund der methodischen Veränderung des Mikrozensus eingeschränkt. 2) Ledige Kinder, die im Haushalt ihrer Eltern leben. Quelle: Statistisches Bundesamt (2019), Fachserie 1 Reihe 3, Haushalte und Familie.

Bedeutung. Es dominieren die alleinerziehenden Mütter, alleinerziehende Väter finden sich nach wie vor recht selten (vgl. Pkt. 5.6 dieses Kapitels). Generationenstruktur der Haushalte Unter den 11,6 Mio. Familienhaushalten (2018) finden sich in gut 50 % Haushalte mit einem Kind. Haushalte mit zwei Kindern machen gut ein Drittel aller Familienhaushalte aus, Haushalte mit drei und mehr Kindern knapp 11 %. Von großer Bedeutung für das Aufwachsen von Kindern ist die Generationenstruktur der Haushalte. Der überwiegende Teil aller Haushalte setzt sich (2018) aus Eingenerationenhaushalten zusammen: • • • •

In gut 41 % aller Haushalte lebt ausschließlich eine Person. In knapp 29 % der Haushalte leben (Ehe)Paare ohne Kinder. In 29 % der Haushalte leben zwei Generationen, nämlich Eltern und Kinder oder Enkel. Drei und mehr Generationen, das heißt Eltern und ihre Kinder, deren Groß- und ggf. Urgroßeltern, finden sich nur noch in etwa 1 % aller Haushalte.

Lebensformen und Familienstrukturen im Überblick

851

Bei dieser geringen Bedeutung von Drei-Generationenhaushalten ist allerdings zu berücksichtigen, dass eine abgeschlossene und eigenständige Wohnung der Eltern in dem Haus der Kinder als eigener Haushalt zählt. Bevölkerung in Haushalten In den skizzierten Daten über die Haushalts- und Lebensformen und ihre Trends wird die Zahl der Haushalte als Referenz genommen. Das sagt allerdings noch wenig aus über die Zahl der Personen, die in diesen Haushalten leben. Da in Mehrpersonenhaushalten mindestens zwei Menschen leben, wird bei einer rein haushaltsbezogenen Betrachtung die Bedeutung der Mehrpersonenhaushalte unter- und die Bedeutung der Einpersonenhaushalte überschätzt. Bezieht man sich hingegen bei der Berechnung auf die in den Haushalten lebenden Personen (Abbildung X.2), dann zeigen sich andere Relationen: Das gemeinsame Leben von Elternpaaren bzw. Elternteilen und Kindern in einem Haushalt trifft (2018) auf fast die Hälfte der Bevölkerung (47,8 %) zu. Darunter befinden sich 18,8 Mio. Kinder und 20,3 Mio. Eltern. Etwas mehr als die Hälfte der Bevölkerung (52,1 %) lebt – allein oder als Paar – ohne Kinder im Haushalt. Zu wiederholen ist dabei, dass sich diese auf den Befragungsergebnissen des Mikrozensus basierende Betrachtung lediglich auf einen Zeit-

Abbildung X.2 Lebensformen der Bevölkerung 1998 und 2018, in % der Bevölkerung 81,70 Mio

81,5 Mio 100%

90%

20,8% = 16,9 Mio.

Alleinstehende

22,6% = 18,5 Mio.

80%

70%

60%

28,5% = 23,2 Mio.

Paare ohne Kinder1)

29,5% = 24,1 Mio.

50% Eltern und Elternteile 40%

26,5% = 21,6 Mio.

24,8% = 20,3 Mio.

30% und ihre Kinder 1)

20%

10%

0%

24,3% = 19,8 Mio.

23,0% = 18,8 Mio.

2008

2018

1) Ledige Kinder im Haushalt ohne Altersbegrenzung Quelle: Statistisches Bundesamt (2019), Fachserie 1 Reihe 3, Bevölkerung und Erwerbstätigkeit: Haushalte und Familien.

852

Familie und Kinder

punkt bezieht; damit ist insofern noch nicht gesagt, dass die in der Querschnittsbetrachtung „Kinderlosen“ auch zeitlebens kinderlos geblieben sind oder bleiben. Lebensformen nach Lebensalter Um den Verlauf von Lebens- und Familienformen zu berücksichtigen, ist es sinnvoll, nach dem Lebensalter zu unterscheiden. Hier zeigt sich folgendes Bild: Von der gesamten Bevölkerung leben (2018) • • • • •

21,6 % mit einem (Ehe)Partner und ledigen Kindern zusammen, 29,5 % mit einem (Ehe)Partner ohne Kinder zusammen, 22,6 % allein, 23,0 % bei ihren Eltern (als ledige Kinder), 3,2 % als Alleinerziehende.

Wie Abbildung X.3 erkennen lässt, variieren diese Lebensformen mit dem Lebensalter: • Von den unter 25jährigen leben noch fast 90 % bei ihren Eltern. • In der Altersgruppe 25 – 35 erreicht die Lebensform des ledigen „Singles“ mit 31,7 % den höchsten Anteilswert. Der Anteil derer, die in einer Paarbeziehung leben liegt 28,7 % (mit Kindern) bzw. 24,2 % (ohne Kinder). • In der Altersgruppe 35 – 45 leben dann bereits 70,6 % aller Männer und Frauen in einer Paarbeziehung, davon 57,5 % mit Kindern und 13,1 % ohne Kinder. • Der Anteil der Alleinerziehenden erreicht mit 6,7 % seinen Höhepunkt in der Altersgruppe 45 – 55. • In den nachfolgenden Altersgruppen verliert das Zusammenleben mit Kindern an Bedeutung und oberhalb von 65 Jahren wächst dann der Anteil derer, die (als Ledige, Verwitwete oder Geschiedene) alleinstehend sind, steil an Dies sind bei den über 85jährigen mehr als die Hälfte (65 %) dieser Gruppe. Aber auch in den jüngeren Altersgruppen bewegt sich der Anteil der Alleinstehenden auf einem recht hohen Niveau; er sinkt nicht unter 20 % ab. Diese Altersspezifik signalisiert, dass Menschen im Verlauf ihrer Gesamtbiografie verschiedene Lebens- und Familienformen „durchlaufen“. Als ein typischer Fall kann gelten, dass ein junger Mensch aus dem Elternhaus auszieht, zunächst alleine wohnt und dann mit dem Partner/der Partnerin eine nicht-eheliche Lebensgemeinschaft aufbaut. Vor oder auch erst nach der Geburt eines Kindes wird geheiratet. Nachdem das Kind bzw. die Kinder die Ausbildung abgeschlossen bzw. einen eigenen Haushalt gegründet hat/haben, wird die Familien- und Erziehungsphase durch die nachelterliche Phase (Partnerschaft ohne Kind im Haushalt) abgelöst. Im höheren Lebensalter schließlich wächst die Wahrscheinlichkeit, dass ein Ehepartner stirbt und eine Situation des Alleinlebens wegen Verwitwung beginnt. Infolge der höheren Lebenserwar-

Lebensformen und Familienstrukturen im Überblick

853

Abbildung X.3 Lebensformen der Bevölkerung nach Lebensalter 2018 in % 100%

90%

3,0 13,4

8,3 24,9

87,6

24,9 57,2

31,9

80%

28,3

70%

46,4

53,2

Mit Partner ohne Kinder

56,7 65,7

3,2

Alleinerziehend

60%

Mit Partner und Kindern 50%

3,2

19,4 2,2 1,8

40%

31,3

6,4

6,8

3,2

1,5

20%

39,3

10%

12,4 Ledig bei Eltern

0%

64,0

5,6

30%

unter 25

25 - 35

20,1

20,3

23,6

45 - 55

55 - 65

27,2

Alleinstehend

3,0 35 - 45

65 - 75

75 - 85

85 und äter

Quelle: Statistisches Bundesamt (2019), Fachserie 1 Reihe 3.

tung von Frauen und der Unterschiede im Heiratsalter zwischen Mann und Frau konzentriert sich dieses Lebensrisiko auf Frauen. In einem anderen Fall wird die Ehe während der Phase der Kindererziehung geschieden. Dann folgt der Trennung vom Partner die Gründung von zwei neuen Haushalten, wobei ein Elternteil – in der Regel immer noch die Mutter – gemeinsam mit dem Kind lebt und als Alleinerziehende erfasst wird. Tritt ein neuer Partner hinzu, womöglich mit eigenen Kindern, und bezieht das neue (Ehe)Paar eine gemeinsame Wohnung, entsteht eine neue Paar-Konstellation des Zusammenlebens mit Kindern. 3.2

Geburtenrate, Heirats- und Scheidungshäufigkeit

Die Gründe für den in allen europäischen Ländern erkennbaren Trend zum Rückgang der Zahl der Menschen, die gemeinsam mit Kindern leben, sind vielfältig. Die Geburtenrate hat sich verringert und liegt seit Jahren auf einem niedrigen Niveau. Da die durchschnittliche Zahl der Kinder gesunken ist, wird in Familienhaushalten die Lebensphase mit Kindern kürzer und die nachelterliche Phase länger. Auch der Anstieg der ferneren Lebenserwartung führt zur Ausdehnung der nachelterlichen Phase. Durch dieses Zusammenwirken von demografischen und verhaltensbedingten Faktoren kommt es dazu, dass Lebensformen wie „mit Partner ohne Kinder“ oder „ge-

854

Familie und Kinder

schieden oder verwitwet allein lebend“ an Bedeutung gewonnen haben. Im Einzelnen lassen sich folgende Entwicklungstrends erkennen: •









Die Geburtenziffer liegt (2018) bei knapp 1,6 Kindern je Frau im gebärfähigen Alter (vgl. dazu Kapitel „Ökonomische Grundlagen und Finanzierung“, Pkt. 5.1 und Abbildung II.14). 1970 (alte Bundesländer) lag der Wert noch bei 2,0, in der DDR bei 2,2. Die Eltern von Neugeborenen sind zu 35 % nicht verheiratet, was aber eine spätere Heirat nicht ausschließt. Parallel dazu ist ein signifikanter Anstieg im Durchschnittsalter der Frauen bei der Geburt des ersten Kindes zu beobachten. Das Durchschnittsalter liegt 2018 bei fast 30 Jahren, hingegen 1975 noch bei 24,8 Jahren (alte Länder) bzw. 21,8 Jahren (DDR). Die Erstheiratsquote von Männern und Frauen im Alter zwischen 15 und 49 Jahren liegt (2016) bei rund 60 %. Diese Ziffer zeigt an, wie viel Prozent der Ledigen – unter der Annahme einer Fortgeltung der aktuellen Heiratshäufigkeiten – heiraten werden. 1970 lag die Ziffer noch bei über 90 %. Andererseits sind heute immer mehr Eheschließungen Folgeehen nach einer Scheidung. Es wird aber nicht nur seltener, sondern auch später geheiratet, denn zugleich ist das Durchschnittsalter bei der Erstheirat signifikant angestiegen von 25,6 Jahre/ Männer bzw. 23,0 Jahre/Frauen im Jahr 1970 (alte Bundesländer) auf 34 Jahre/ Männer bzw. 31,5 Jahre/Frauen im Jahr 2016 (Deutschland). Nicht verschoben hat sich demgegenüber der Altersabstand im Heiratsalter von Mann und Frau. Er schwankt zwischen 2,8 und 2,5 Jahren. Deutlich gestiegen ist auch die Scheidungswahrscheinlichkeit. Die Scheidungsziffer beträgt 32,8 (2017). Das heißt, dass von 100 Ehen desselben Jahrgangs 32,8 durch eine Scheidung enden, unterstellt dass die derzeitigen ehedauerspezifischen Scheidungsraten fortgelten. Von rund der Hälfte der Scheidungen sind minderjährige Kinder betroffen. Die andere Hälfte der Scheidungen bezieht sich auf kinderlose Ehepaare oder auf Ehepaare im höheren Lebensalter, bei denen die Kinder bereits das Elternhaus verlassen haben. Die durchschnittliche Ehedauer bis zur Scheidung ist angestiegen und liegt (2017) bei 15 Jahren. Auch Scheidungen nach langer Ehedauer und im höheren Lebensalter sind nicht unüblich. Nicht zuletzt die gestiegene Lebenserwartung ist dafür verantwortlich. Denn wer heute mit 30 Jahren heiratet, kann damit rechnen, über eine Dauer von im Schnitt mehr als 50 Jahren (Restlebenserwartung von Frauen in diesem Alter) mit dem Partner ein gemeinsames Leben zu führen.

Insgesamt zeigt sich, dass hinsichtlich der Lebens- und Familienformen zwischen den alten und neuen Bundesländern immer noch Unterschiede bestehen, die aus den spezifischen historischen Bedingungen abgeleitet werden können. Allgemein lassen sich für die DDR folgende Trendaussagen treffen: Heirats-, Geburten- und Scheidungsziffern lagen höher, Erstgeburts- und Heiratsalter niedriger. Der Anteil der

Lebensformen und Familienstrukturen im Überblick

855

dauerhaft Kinderlosen war geringer, der Anteil der allein Erziehenden und nichtehelich Zusammenlebenden war größer. Durchgängige (Vollzeit)Berufstätigkeit von Müttern – nahezu identisch mit der männlichen Erwerbsquote – zählte zur Normalität. In den neuen Bundesländern hat jedoch seit 1989 eine schnelle Anpassung an die westdeutschen Verhältnisse eingesetzt. Besonders drastisch hat sich die Geburtenziffer entwickelt. Während sie 1989 in der DDR noch bei 1,5 Kindern je Frau lag, war sie im Zuge der mit Wiedervereinigung verbundenen ökonomischen, gesellschaftlichen und sozialen Verwerfungen bis 1995 auf 0,8 gesunken. Seitdem steigt die Geburtenziffer langsam wieder an und hat zwischenzeitlich das westdeutsche Niveau erreicht. 3.3

Kinder

Die Frage nach den Lebensformen der Bevölkerung lässt sich auch aus der Perspektive der Kinder beantworten: 2018 leben knapp 19 Mio. ledige Kinder bei Ehepaaren, in Lebensgemeinschaften oder bei allein erziehenden Elternteilen. Von diesen Kindern sind 70 % minderjährig und 30 % bereits volljährig. Im Folgenden beziehen wir uns auf die unter 18jährigen Kinder und unterscheiden nach Altersgruppen sowie nach den Familienformen, in denen sie (in der Querschnittsbetrachtung) aufwachsen. Die minderjährigen Kinder leben zu • 70,1 % in den Haushalten von Ehepaaren, • 11,4 % in Lebensgemeinschaften, • 18,5 % bei alleinerziehenden Elternteilen. Insgesamt wachsen also die weitaus meisten aller ledigen Kinder unter 18 Jahren mit beiden (ebenfalls weit überwiegend verheirateten) Elternteilen auf. Das können auch Adoptiv-, Stief- oder Pflegeeltern sein. Im mittel- und längerfristigen Vergleich wird sichtbar, dass ein immer größerer Teil der Kinder bei alleinerziehenden Müttern oder Vätern lebt: Dies betraf im Jahr 1972 (in den alte Bundesländern) erst 5,9 % der Kinder unter 18 Jahren; im Jahr 2018 sind es (in Gesamtdeutschland) 18,5 %. Auch die Kinderhäufigkeit lässt sich aus der Sicht der zu Hause lebenden Kinder betrachten. Nimmt man die Kinder als Basis, zeigt sich (vgl. Abbildung X.4) für 2018, dass •

25,2 % der im elterlichen Haushalt lebenden Kinder unter 18 Jahren (noch) Einzelkinder waren, • weitere 47,0 % mit einem Bruder oder einer Schwester aufwuchsen und • 19,3 % mit zwei Geschwistern sowie 8,6 % mit drei und mehr Geschwistern gemeinsam groß wurden.

856

Familie und Kinder

Tabelle X.2 Minderjährige Kinder nach Alter und Familienform 2018 Alter des jüngsten Kindes

Kinder insgesamt

bei Ehepaaren

Lebensgemeinschaften

Alleinerziehende

Mio.

%

%

%

unter 3

2,023

72,3

18,1

9,6

3–6

1,324

77,2

13,7

16,9

6 – 10

1,530

69,6

9,6

20,8

10 – 15

1,853

68,9

7,6

23,5

15 – 18

1,216

67,3

6,5

26,3

unter 18

8,049

70,1

11,4

18,5

Kinder: ledige Kinder Quelle: Statistisches Bundesamt (2019), Fachserie 1 Reihe 3.

Abbildung X.4 Kinder nach Zahl der ledigen Geschwister 1998 und 2018, in % aller Kinder unter 18 Jahren 100% 7,1

3 und mehr Geschwisterkinder

8,6

90% 16,8 80%

2 Geschwisterkinder

19,3

1 Geschwisterkind

47,0

70%

60%

50%

45,5

40%

30%

20% 30,6 10%

keine Geschwister = Einzelkinder

25,2

0%

1998

1) Ledige Kinder, die im Haushalt ihrer Eltern leben Quelle: Statistisches Bundesamt (2019), Fachserie 1 Reihe 3.

2018

Lebensformen und Familienstrukturen im Überblick

857

Es stimmt also nicht, dass die Mehrheit der Kinder heute ohne Bruder oder Schwester aufwächst. Zudem ist zu berücksichtigen, dass von den Querschnittsdaten nicht umstandslos auf endgültige Kinderzahlen geschlossen werden kann. Die statistisch zu einem Zeitpunkt erfassten Einzelkinder sind womöglich keine, da die Geschwister noch nicht geboren sind oder bereits den elterlichen Haushalt verlassen haben. Dieser Effekt lässt sich minimieren, wenn man die Kinder in der Altersgruppe zwischen 6 und 9 Jahren betrachtet: Hier sind jüngere Geschwister zumeist bereits geboren sind und ältere Geschwister wohnen überwiegend noch zu Hause: Von diesen Kindern haben gut 80 % Geschwister. Das können Voll- oder Halbgeschwister sein. Überraschend ist auch, dass sich die Geschwisterverteilung gegenüber 1991 so gut wie nicht verändert hat. Es gilt die Feststellung: Wenn eine Entscheidung für Kinder getroffen wird, dann werden in der Regel mehrere Kinder gewünscht und geboren. 3.4

Familien und Kinder der ausländischen Bevölkerung

Fast zwei Drittel aller Ausländer:innen in Deutschland leben in Familienhaushalten gegenüber knapp die Hälfte bei der deutschen Bevölkerung. Diese deutlich stärkere Verbreitung des gemeinsamen Lebens mit Kindern ist zum einen Folge der Altersstruktur: Die ausländische Bevölkerung ist im Schnitt jünger als die deutsche Bevölkerung; Menschen im mittleren und höheren Lebensalter, die die Familienphase bereits hinter sich haben, sind schwächer vertreten. Hinzu kommt aber auch, dass ausländische Frauen eine höhere Geburtenhäufigkeit aufweisen: Wenngleich eine Angleichung in den Geburtenraten von Migrantinnen an die Geburtenzahlen der deutschen Frauen unübersehbar ist, liegt die Geburtenziffer ausländischer Frauen immer noch über der der deutschen Frauen. Unter den Flüchtlingen bzw. Asylbewerber:innen dominieren die jüngeren alleinstehenden oder verheirateten jüngeren Männer und deren Kinder. Rund 40 % der Antragstellenden sind Kinder unter 18 Jahren. Darunter befinden sich auch unbegleitete Minderjährige. 2018 haben rund 13 % der Kinder und Jugendlichen in einem Alter von bis zu 20 Jahren keine deutsche Staatsangehörigkeit. Berücksichtigt man zusätzlich noch die Kinder und Jugendlichen in diesem Alter, die einen Migrationshintergrund haben, steigt der Anteil auf über 36 %. Zugleich hatte fast jedes vierte in Deutschland geborene Kind Eltern mit ausländischer Staatsangehörigkeit. Nach dem Staatsangehörigkeitsrecht erhalten Kinder ausländischer Eltern die deutsche Staatsangehörigkeit bei Geburt (jus soli – Recht des Bodens), sofern ein Elternteil seit mindestens acht Jahren seinen Aufenthalt in Deutschland hat und ein unbefristetes Aufenthaltsrecht besitzt.

858

Familie und Kinder

4

Geburtenziffern und Kinderlosigkeit

4.1

Geburtenhäufigkeit und demografischer Wandel

Die dauerhaft niedrige Geburtenhäufigkeit in der Größenordnung von 1,4 – 1,6 Kindern je Frau im gebärfähigen Alter, wie sie sich seit Mitte der 1970er Jahre zeigt, hat vielfältige (und in der wissenschaftlichen Diskussion durchaus strittige) soziale, ökonomische, kulturelle und gesellschaftliche Ursachen, die an dieser Stelle nicht skizziert und bewertet werden können. Um ein mit Schlagwort vom „Pillenknick“ häufig verbundenes Missverständnis zu vermeiden, muss aber darauf verwiesen werden, dass der Rückgang der Geburtenhäufigkeit in Deutschland (und in den vergleichbaren Ländern Europas) bereits gegen Ende des 19. Jahrhunderts eingesetzt hat. Im Übergang von der Agrar- zur Industriegesellschaft haben sich die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen und damit auch – mit einem gewissen time-lag – das generative Verhalten der Bevölkerung grundlegend verändert. Dieser Verhaltenswandel ist zugleich durch den Rückgang der Kindersterblichkeit und die Steigerung der Lebenserwartung beeinflusst worden. Die Zeit nach dem 2. Weltkrieg mit der wieder ansteigenden Geburtenhäufigkeit in den Jahren zwischen 1950 und 1970 (Phase der sog. „baby-boomer“ Generation mit der höchsten Geburtenziffer im Jahr 1965 mit einem Wert von 2,51) ist insofern nur als Zwischenphase anzusehen. Danach hat sich dann der „Normalzustand“ fortgesetzt, dass nämlich die Geburtenrate nicht ausreicht, um die Elterngeneration zu ersetzen. Diese Entwicklung ist durch die Verfügbarkeit effektiver Verhütungsmittel unterstützt, aber nicht ausgelöst worden. Eine solche Konstellation führt dazu, dass die Bevölkerungszahl sinkt; abgebremst allerdings durch die verlängerte Lebenserwartung und durch die Zuwanderung. Wenn man davon ausgeht, dass sich die Geburtenziffer in den Jahren bis 2060 kaum verändert, aber zugleich die Lebenserwartung weiter steigt und die Nettozuwanderung anhält, dann wird sich nach der 14. Bevölkerungsvorausberechnung des Statistischen Bundesamtes die Einwohnerzahl in Deutschland schrittweise verringern, allerdings keineswegs dramatisch. Im Jahr 2060 wird die Bevölkerung dann bei etwa 75 Mio. liegen, deutlich weniger als 2018 (83 Mio.) – aber immer noch höher als im Jahr 1960 (BRD und DDR: 73,2 Mio.). Viel wichtiger und folgenreicher sind hingegen die Umbrüche in der Altersstruktur der Bevölkerung: Der Anteil älterer Menschen (65 Jahre und älter) an der Gesamtbevölkerung wird sich laufend erhöhen, von 21,1 % (2015) auf bis zu 29,4 % im Jahr 2060; entgegengesetzt dazu wird der Anteil der jüngeren Menschen (bis zu 20 Jahren) sinken, von 18,3 % auf 17,2 %. Es handelt sich hierbei um sehr langfristige Vorausberechnungen, bei denen die Annahmen eine entscheidende Bedeutung haben, dies betrifft vor allem die erwartete Größenordnung der Nettozuwanderung. Gleichwohl kann auch eine hohe Zuwanderungsrate die Verschiebung der Altersstruktur der Bevölkerung nur abbremsen, nicht aber aufhalten (vgl. zur demografischen Entwicklung ausführlich Kapitel „Ökonomische Grundlagen und Finanzierung“, Pkt. 5.1 und Tabelle II.10).

Geburtenziffern und Kinderlosigkeit

859

Sozialpolitisch hat dieser Umbruch zur Konsequenz, dass sich die finanziellen Belastungen vor allem in den Systemen der Alterssicherung sowie in der Pflegeversicherung erhöhen werden. Allerdings hängt die Finanzierungsfähigkeit nicht ausschließlich von den demografischen Relationen ab, so vom steigenden Altenquotienten, entscheidend ist auch, was die Entwicklung von Beschäftigungsverhältnissen und Arbeitslosen sowie von Wachstum, Produktivität und Einkommensverteilung betrifft (vgl. Kapitel „Ökonomische Grundlagen und Finanzierung“, Pkt. 5.3). Schaut man sich die demografischen Verschiebungen differenzierter an, wird sichtbar, dass sie sich mit Prozessen der Binnenwanderung überlagern und regional und lokal unterschiedlich ausprägen. Zu erkennen sind anhaltende Fortzüge aus den neuen Bundesländern in die alten Bundesländer sowie Abwanderungen aus den alten Industrieregionen (so aus dem Ruhrgebiet) vor allem nach Süddeutschland und in die dortigen Metropolen. Im Ergebnis wird es durch diesen Doppeleffekt dazu kommen, dass in einzelnen Regionen und Stadtteilen Familienhaushalte und damit Kinder nur noch selten zu finden sind. In diesen Gebieten kann es dazu kommen, dass die Mehrheit der Bevölkerung dann 65 Jahre und älter sein wird. Kindheit und Jugend als Lebensbereiche verengen sich. 4.2

Entscheidungen für oder gegen Kinder

Nun sind Entscheidungen für oder gegen Kinder allein die private und selbstverantwortete Angelegenheit von Männern und Frauen. Niedrige Geburtenziffern können insofern nicht als ein soziales bzw. gesellschaftliches Problem angesehen werden, das aus bevölkerungspolitischen Motiven heraus „gelöst“ werden muss. Dies gilt auch deshalb, weil die aus dem demografischen Umbruch resultierenden Herausforderungen in wohlhabenden Ländern durchaus zu bewältigen sind. Zum Problem werden niedrige Geburtenziffern aber immer dann, wenn die gesellschaftlichen Verhältnisse es den Menschen erschweren oder sie gar daran hindern, Wünsche nach einem Leben mit Kindern auch realisieren zu können. Entscheidungen für Kinder beruhen in der Regel nicht mehr auf Traditionen, religiösen Motiven oder ökonomischen Gründen (soziale Absicherung durch Kinder), sondern sind ein Teil von Sinnerfüllung und Lebensverwirklichung. Die empirische Familienforschung lässt erkennen, dass die Lebensvorstellungen von Männern und Frauen einerseits und die Realisierung dieser Lebenspläne in Ehe, Partnerschaft und Familie andererseits häufig auseinander laufen. Ob sich die Vorstellungen realisieren lassen, ob Eltern den Wunsch nach einem Leben mit Kindern mit einer gleichberechtigten beruflichen und gesellschaftlichen Teilhabe verbinden können und welche Entwicklungschancen sich für die Kinder bieten, dies hängt entscheidend von den ökonomischen, sozialen und politischen Voraussetzungen ab, unter denen Familien leben bzw. leben müssen. Die realen Lebensbedingungen von Familien wirken zugleich auf die Wünsche und Orientierungen jüngerer Menschen zurück.

860

Familie und Kinder

In Deutschland sind die Voraussetzungen für eine Familiengründung und ein Leben mit Kindern offensichtlich nicht besonders günstig. Dies zeigt auch ein Blick über die Grenzen: Zwar handelt es sich bei der säkular gesunkenen und anhaltend niedrigen Geburtenrate um ein Phänomen, das nicht allein auf Deutschland begrenzt ist, sondern durchgängig alle Länder in Europa erfasst. Dennoch gibt es durchaus bemerkenswerte Unterschiede in den Geburtenziffern. So weisen die skandinavischen Staaten durchgängig höhere Geburtenziffern auf, das gleiche gilt für Frankreich. Am unteren Ende der Skala liegen die südeuropäischen Länder. Bei der (schwierigen) Frage nach den Hintergründen für diese Abweichungen ist es hilfreich zu unterscheiden, ob die niedrige Geburtenziffer in Deutschland vorrangig resultiert • •

aus dem Rückgang der Mehrkindergeburten oder aus der Zunahme der Kinderlosigkeit.

Die empirischen Befunde zeigen, dass für Deutschland zwar beide Faktoren von Bedeutung sind, dass sich aber in den letzten Jahren die lebenslange Kinderlosigkeit stärker ausgeprägt hat. Der säkulare Rückgang der Mehrkindergeburten hat sich demgegenüber eher abgeschwächt. Diejenigen Paare, die heute Kinder bekommen, entscheiden sich mehrheitlich für mehrere Kinder; nicht mehr für vier oder fünf, aber für zwei oder drei Kinder. Frauen im Alter zwischen 45 und 49 Jahren hatten 2018 zu 23 % ein Kind, zu 38 % zwei Kinder, zu 12 % drei Kinder, zu 5 % vier und mehr Kinder. Der Anteil der Kinderlosen ist in den zurückliegenden Jahren deutlich angestiegen. Von den Frauen, die 2018 zwischen 45 und 49 Jahren alt waren (also in den Jahren danach keine Kinder mehr geboren haben), sind im Durchschnitt 21,3 % kinderlos (vgl. Abbildung X.5). Schwächer ausgeprägt (mit 15,4 %) ist die Kinderlosigkeit bei Frauen aus den neuen Bundesländern. Im Vergleich mit den älteren Jahrgängen werden die Unterschiede deutlich: Frauen des Jahrgangs 1943 – 1948 hatten in den alten Ländern zu 13,1 % keine Kinder und in den neuen Ländern nur zu 7,1 %. Besonders hoch fällt die dauerhafte Kinderlosigkeit bei Frauen mit einem Universitäts- oder Fachhochschulabschluss aus. Diese nach dem Lebensalter gestaffelten Querschnittsdaten werden allerdings durch Kohorteneffekte überlagert; deshalb ist es möglich, dass infolge später einsetzender Erstgeburten bei den jüngeren Jahrgängen die Kinderlosigkeit der Qualifizierten etwas niedriger ausfällt. Problem ist auch, dass allein auf die Frauen abgestellt wird und damit aus dem Blick gerät, dass Kinderlosigkeit gleichermaßen die Männer betrifft. Differenzierte Befunde zeigen, dass sogar mehr Männer als Frauen zeitlebens kinderlos bleiben.

Geburtenziffern und Kinderlosigkeit

861

Abbildung X.5 Anteil der Frauen ohne Kinder 2018 nach Geburtsjahrgängen in % Deutschland

Alte Bundesländer

Neue Bundesländer 21,4

20,8

20

22,0

20,1

19,1

18,3 16,7

16,4

15

21,3

15,4

15,1

12,4

13,1 11,8

10 9,4 7,1

7,7

7,7

5

0

1943-1948 (70-75 Jahre)

1949-1953 (65-69 Jahre)

1954-1958 (60-64 Jahre)

1959-1963 (55-59 Jahre)

1964-1968 (50-54 Jahre)

1969-1973 (45-49 Jahre)

Geburtsjahrgang (Alter)

Quelle: Statistisches Bundesamt (2019), Kinderlosigkeit, Geburten und Familien, Ergebnisse des Mikrozensus 2016.

4.3

Leben mit Kindern in einer Markt- und Konkurrenzgesellschaft

Die ökonomischen und sozialen Verhältnisse in einer modernen Markt- und Konkurrenzgesellschaft sind wenig förderlich, sich für ein Leben mit Kindern zu entscheiden. Familien und Kinder finden zwar große moralische, aber unzureichend real spürbare Anerkennung in der Gesellschaft allgemein und im Berufsleben insbesondere. Eltern werden gegenüber Kinderlosen in vielfältiger Hinsicht benachteiligt. So spielen in einem marktwirtschaftlichen Wirtschaftssystem Kinder und die daraus resultierenden finanziellen Bedarfe der Familie bei der Entlohnung keine Rolle, denn diese richtet sich nach Markt- und Leistungskriterien und nicht nach Bedarfskriterien. Insofern sind jene Personen automatisch finanziell besser gestellt, die kinderlos bleiben und keine Unterhaltspflichten zu erfüllen haben. Im Vergleich zu den Kinderlosen wiegen die finanziellen Belastungen derjenigen besonders schwer, die aus einem vergleichsweise niedrigen Einkommen (mehrere) Kinder zu versorgen haben. Für die Kinderlosigkeit der Frauen mit einem hohen Bildungsabschluss haben vor allem die indirekten Kosten oder Opportunitätskosten, die durch eine kinderbedingte Arbeitsunterbrechung oder -reduzierung und ein entsprechend entgangenes Einkommen entstehen, eine entscheidende Bedeutung. Denn je höher das Arbeitseinkommen, desto stärker fallen die Einkommensverluste aus. Es deutet viel darauf hin,

862

Familie und Kinder

dass dieser Effekt einen großen Stellenwert hat, da die infrastrukturellen Rahmenbedingungen zur besseren Vereinbarkeit von Beruf und Familie (vgl. dazu Pkt. 7 dieses Kapitels) immer noch ungünstig sind und gerade qualifizierte Frauen faktisch vor die Alternative gestellt werden, entweder im Beruf erfolgreich zu sein und auf Kinder zu verzichten oder aber auf eine Teilzeitstelle zu wechseln. Der internationale Vergleich zeigt, dass in den skandinavischen Ländern mit ihren höheren Geburtenraten zugleich auch die Erwerbsbeteiligung der Frauen deutlich höher ausfällt. Ursache dafür dürften vor allem die besseren Angebote im Bereich der Kleinkinderbetreuung sein. Vor allem die Verhältnisse auf dem Arbeitsmarkt geben Auskunft über die fehlende Familien- und Kinderfreundlichkeit einer Gesellschaft. Denn gerade im Bereich qualifizierter Tätigkeiten geht die Organisation der Arbeitswelt implizit von der Voraussetzung aus, dass sich der berufliche Einsatz der Beschäftigten nach den betrieblichen Anforderungen, und dies heißt vor allem nach den betrieblichen Arbeitszeitanforderungen, zu richten hat. Erfolgreich im Wettlauf um eine berufliche Karriere ist das hochmobile, von Familienpflichten unbelastete Individuum, das seine ganze Kraft in den Beruf steckt. Menschen, die ihre Zeit auch für die Betreuung von Kindern einsetzen müssen und wollen, und damit nicht dem herkömmlichen männlichen Berufsrollenmuster entsprechen, laufen Gefahr, in der Konkurrenz um qualifizierte Positionen zu unterliegen. Eine „strukturelle Rücksichtslosigkeit“ gegenüber einem Leben mit Kindern erzeugt der Arbeitsmarkt zudem durch die unsicheren Beschäftigungs- und Zukunftsperspektiven für große Gruppen der jungen Generation: Durch die langen Ausbildungszeiten erfolgen der Einstieg in den Arbeitsmarkt und die Überwindung der finanziellen Abhängigkeit von den Eltern immer später. Eine sichere ökonomische Basis, die eine Voraussetzung für eine verantwortete Elternschaft ist, erlangen junge Paare jedoch erst dann, wenn die in der Regel durch befristete Arbeitsverträge und prekäre Beschäftigungsverhältnisse (Praktikum, Werk- und Honorarverträge usw.) geprägte berufliche Einstiegsphase überwunden und ein Mindestmaß an Planungssicherheit vorhanden ist. Dies kann so lang dauern, bis junge Menschen ihren Kinderwunsch ganz aufgeben. Keineswegs selbstverständlich ist auch, ob in jenem enger werdenden Zeitrahmen, in denen der Kinderwunsch realisiert werden soll, auch ein Partner/eine Partnerin vorhanden bzw. bereit ist, den Kinderwunsch aktiv mitzutragen. Da die Lasten der Erziehung und Sorge für Kinder von den Eltern weitgehend allein getragen werden müssen, aber der Nutzen der Kinder auch von der Allgemeinheit in Anspruch genommen wird, zählen Kinder im Ergebnis zu einem „öffentlichen“, d. h. kostenlosen Gut; jeder andere hat die Möglichkeit, sich der erforderlichen Aufwendungen für die Kinder zu entziehen. Das soll nicht heißen, dass sich die Entscheidung der Menschen, Kinder zu haben, nach Kosten-Nutzen Kalkülen richtet. Aber zu beachten ist doch, dass es rein ökonomisch gesehen wenig attraktiv ist, Elternverantwortung zu übernehmen, da Kinder in vielfacher Hinsicht eine finanzielle und berufliche Belastung darstellen. In der Folge droht sich die Gesellschaft in einen Fa-

Geburtenziffern und Kinderlosigkeit

863

milien- und Nicht-Familiensektor aufzuspalten, wobei der zweite Sektor ökonomisch und sozial bessergestellt ist, sowohl hinsichtlich des Lebensstandards (verfügbares Pro-Kopf-Einkommen) als auch hinsichtlich der beruflichen Karriere und der sozialen Absicherung. Die Entscheidung über Kinder und deren Zahl wird damit zu einem wichtigen Element sozialer Ungleichheit. Die Belastungen und Benachteiligungen treffen allerdings nicht „die“ Familien pauschal und gleichverteilt. Die Schichtzugehörigkeit (soziale Herkunft, Bildung, Migrationshintergrund, Berufsposition und Einkommen) kommt als weiterer Faktor der Ungleichheit hinzu und verbindet sich mit dem Faktor „Kinder“. Die Familienforschung hat gezeigt, dass sich Angehörige unterer Schichten und Milieus eher am traditionellen, ehe- und familienorientierten Lebensstil orientieren. Träger der neuen Lebensformen ohne Kinder sind demgegenüber eher die Bevölkerungsgruppen mit hohem Einkommens- und Bildungsgrad, konzentriert auf die großstädtischen Regionen. Eine auf die konkrete Lebenslage der Menschen gerichtete, von starren Leitbildern befreite Familienpolitik muss von daher sowohl die Vielfältigkeit von familiären Lebensformen als auch deren Phasenverläufe respektieren und stützen. Da Ehe und Elternschaft nicht mehr gleichgesetzt werden können, viele Ehen kinderlos bleiben und eine wachsende Zahl von Kindern außerhalb einer Ehe aufwächst, muss sich Familienpolitik auf Elternschaft und Kinder und nicht auf die Ehe orientieren, wenn sie möglichst effektiv wirken soll. Die mit der Familiengründung verbundenen Probleme belasten einseitig die Frauen. Denn nach wie vor sind es vorrangig die Mütter, die die Arbeiten in der Familie zu bewältigen haben. Die Veränderung weiblicher Lebensorientierung hin zur Integration in das Erwerbsleben hat bislang nicht dazu geführt, dass die Männer häufiger bereit wären, ihre Berufsorientierung zu lockern und sich stärker auf die Familienarbeit einzulassen. Zwar haben sich die männlichen Einstellungen zur Haus- und Erziehungsarbeit verändert, aber kaum das tatsächliche Verhalten im Alltag. Zeitbudgetstudien zeigen, dass sich Männer nach wie vor nur wenig an den familiären Aufgaben beteiligen; ihr Zeitanteil an der Haus- und Erziehungsarbeit geht sogar zurück, wenn Kinder geboren werden und die Frauen ihre Erwerbsarbeit unterbrechen oder auf eine Teilzeitstelle wechseln. Da die Familienphase weitgehend parallel zur beruflichen Aufbau- und Karrierephase läuft, gibt es für Männer Anreize, sich in dieser Phase voll auf die Berufstätigkeit zu konzentrieren. Solange die Sorge um Kinder wie auch die Pflege von älteren Angehörigen vorrangig als eine reine Frauenangelegenheit begriffen wird, gerät das Zusammenleben mit Kindern unter Druck. Veränderungsbedürftig sind deshalb die Rollen beider Geschlechter, und das heißt dann auch die Überwindung der geschlechtshierarchischen Arbeitsteilung sowohl in der Erwerbs- als auch in der Familienarbeit.

864

4.4

Familie und Kinder

Kinderlose: Ein Leben auf Kosten der „Kinder der anderen“ ?

In der sozialpolitischen Diskussion sorgt die These für Aufmerksamkeit, dass Eltern gegenüber Kinderlosen neben allen kinderbedingten direkten und indirekten Kosten noch zusätzlich dadurch benachteiligt werden, dass aufgrund der Finanzierungsund Leistungsprinzipien des sozialen Sicherungssystems die Personen, die keine Kinder haben, bei der Inanspruchnahme ihrer Renten auf Kosten derjenigen leben, die Kinder geboren und unterhalten haben. Denn wenn keine eigenen Kinder in die Welt gesetzt worden seien, so die Argumentation, müsse im Alter auf die „Kinder der anderen“ zurückgegriffen werden, sei es bei der Beitragsfinanzierung von Renten im Umlageverfahren oder bei der Inanspruchnahme von pflegerischen Diensten. Werden also durch das System der sozialen Sicherung die Kinderlosen begünstigt und die Eltern diskriminiert ? Werden die Renten der kinderlosen Doppelverdiener durch die erwachsen gewordenen Kinder „fremder“ Leute finanziert mit der Folge, dass sich die Eltern die Renten mit den Kinderlosen teilen müssen ? Zutreffend ist die Analyse, dass die jetzt mittlere Generation, dann wenn sie alt geworden ist, von der erwachsen gewordenen Kindergeneration versorgt und alimentiert werden muss. Das Güter- und Dienstleistungsvolumen, d. h. die im Sozialprodukt zum Ausdruck kommende volkswirtschaftliche Wertschöpfung, ist die einzige Quelle, die zur Einkommensumverteilung und -verwendung genutzt werden kann. Auch die Konsumansprüche der Älteren, die nicht mehr am Erwerbsleben teilnehmen und kein Erwerbseinkommen erhalten, können nur aus den Ergebnissen der jeweils aktuellen Produktion, die von der mittleren, erwerbstätigen Generation erwirtschaftet wird, befriedigt werden. Es sind immer die jetzigen Kinder und späteren Erwerbstätigen, die über Beiträge und Steuern und/oder über private Unterhaltsleistungen die Einkommensübertragungen an die dann Älteren finanzieren, haben die Älteren nun selbst Kinder gehabt oder nicht. Das betriff nicht nur die umlagefinanzierten Sozialsysteme sondern gleichermaßen die kapitalgedeckten Vorsorgesysteme (vgl. Kapitel „Finanzierung und ökonomische Grundlagen“, Pkt. 3.2). Das gilt aber auch für alle öffentlich finanzierten personenbezogenen Dienstleistungen: Wer als älterer, kinderloser Mensch Leistungen von Pflegekräften, Polizist:innen, Sozialarbeiter:innen usw. in Anspruch nimmt, kann dies nur, weil die „Kinder“ der anderen in diesen Berufsfeldern tätig sind. Der Übertragungsprozess von Einkommen und von Ansprüchen auf das Sozialprodukt bezieht sich nicht nur auf die Älteren, sondern auf alle Personen, die kein eigenes Erwerbseinkommen beziehen, das sind auch die noch nicht erwerbstätigen Kinder und Jugendlichen, Hausfrauen, Arbeitslosen, Erwerbsgeminderten und Älteren. Eingeschlossen sind sämtliche private und öffentliche Ausgaben, für Renten, Pflege- und Gesundheitsleistungen, für soziale Dienste, für innere und äußere Sicherheit, für Infrastruktur und für die allgemeine öffentliche Verwaltung. Zu verteilungspolitischen Fehlschlüssen kommt es, wenn die Wirtschaftsleistungen der jetzigen Kinder- und späteren Erwerbstätigengeneration ihren Eltern

Einkommens- und Lebenslagen von Familien

865

zugerechnet werden. Auf die Leistungen der Kinder einschließlich der von ihnen abgeführten Steuern und Beiträge haben die Eltern keinen Anspruch oder gar ein „Eigentumsrecht“. Verteilungszusammenhänge lassen sich nicht über Generationen hinweg konstruieren. Den Eltern wird daher nichts „weggenommen“ und von den Kinderlosen ungerechtfertigter Weise angeeignet. Kinder sind auch kein „Deckungskapital“ für die Zukunft; durch die Geburt und Betreuung von Kindern leisten die Eltern keinen „generativen Beitrag“. Selbstverständlich gilt, dass das Sozialprodukt in der nächsten Periode durch Menschen erwirtschaftet werden muss. Aber die Leistungsfähigkeit der Volkswirtschaft, der materielle Reichtum der Gesellschaft und damit die Finanzierbarkeit der öffentlichen Aufgaben auch in der Zukunft hängen weder allein noch hauptsächlich von der Zahl der nachwachsenden Bevölkerung ab, sondern vorrangig von ökonomischen Größen, ausdrückbar in den Kennziffern „Produktivitätsentwicklung“, „Realkapitalbildung“, „Produktions- und Einkommensniveau“. So zeigen Berechnungen, dass die Erhöhung des Bruttoinlandsprodukts vor allem auf die Realkapitalbildung und die Steigerung der Arbeitsproduktivität zurückzuführen ist. Eine der Methode des „Köpfezählens“ verhaftete Betrachtungsweise vernachlässigt folglich, dass auch bei einer rückläufigen Bevölkerungszahl die finanzielle Leistungsfähigkeit der Volkswirtschaft steigen kann, wenn die ökonomischen Voraussetzungen dafür geschaffen werden. Dazu tragen aber auch Kinderlose bei. Die sozial- und verteilungspolitische Frage lautet deshalb allein, wie in der aktuellen Phase Lohneinbußen und die finanziellen Belastungen der Eltern infolge der Kindererziehung durch den Familienleistungsausgleich ausgeglichen werden, welche Sozialversicherungsansprüche auch denjenigen zuerkannt werden, die wegen der Kindererziehung ein nur niedriges oder kein Erwerbseinkommen hatten, und wer, ebenfalls in der aktuellen Periode, die Finanzierungslasten für diese Ausgleichsleistungen trägt.

5

Einkommens- und Lebenslagen von Familien

5.1

Steigende Ausgaben und sinkende Einkommen

Mit der Geburt von Kindern entsteht für Familien ein doppeltes Einkommensproblem: • Zum einen fallen Kosten für den Lebensunterhalt der Kinder an sowie für deren Betreuung und Erziehung. Die Aufwendungen variieren nach dem Lebensalter der Kinder und der Familienphase und ziehen sich heute vielfach über mehr als zwei Jahrzehnte hinweg. Denn je länger die Ausbildung dauert, umso größer der Aufwand. So absolvieren aufgrund der Bildungsexpansion immer mehr Kinder eine (sich zugleich verlängernde) weiterführende schulische und/oder berufliche

866

Familie und Kinder

und universitäre Ausbildung, z. T. bis über das 25. Lebensjahr hinaus. Schwierige Bedingungen auf dem Arbeitsmarkt können zudem dazu beitragen, dass der Zugang zu einer existenzsichernden Berufstätigkeit später erfolgt. In der Folge wohnen junge Menschen, vor allem junge Männer, immer länger im Haushalt ihrer Eltern („Hotel Mama“). Die Aufwendungen für die Kinder sind allerdings nicht auf das Zusammenleben im gemeinsamen Haushalt beschränkt, wenn man an die Unterhaltsleistungen der Eltern an auswärts studierende Kinder denkt. • Zum anderen sinkt das Haushaltseinkommen, wenn ein Partner, in der Regel die Frau, die Berufstätigkeit unterbricht oder zeitlich reduziert, was bei Kindern im jüngeren Alter und mit steigender Kinderzahl wahrscheinlicher ist (vgl. Pkt. 7.2 dieses Kapitels). Diese Einkommensverluste fallen für die Lebensbedingungen von Familien insofern stark ins Gewicht, weil der Referenzmaßstab für den Einkommens- und Lebensstandard von Haushalten heute nicht mehr das alleinige Erwerbseinkommen des Mannes (der sog. Familienlohn) ist, sondern das Einkommen zweier (voll)erwerbstätiger, kinderloser Partner. Wenn Mütter ihre Berufstätigkeit einschränken oder unterbrechen, dann verlieren sie ihre ökonomische Unabhängigkeit. Sie sind auf die Teilhabe am Einkommen ihres Mannes angewiesen, das Prinzip der Versorgerehe wird wieder wirksam. Der Einkommensverlust setzt sich auch dann fort, wenn die Frauen nach der Familienphase ins Erwerbsleben zurückkehren. Die Gefahr ist groß, den beruflichen Anschluss zu verpassen und dauerhafte Einbußen im Lebenseinkommen hinnehmen zu müssen, wenn die berufliche Wiedereingliederung nur noch auf einem schlechter bezahlten, nicht qualifikationsadäquaten Arbeitsplatz gelingt (vgl. Kapitel „Qualifikation“, Pkt. 9.3). Unterbrochene und durch Teilzeitarbeit geprägte weibliche Berufsverläufe spiegeln sich zudem in den Anwartschaften und späteren Leistungen der sozialen Sicherung, insbesondere der Alterssicherung, wider, was für viele Frauen bedeutet, über keine ausreichenden eigenständigen Sicherungsansprüche zu verfügen. Die Gefahr von Armut im Alter ist nur dadurch begrenzt, dass verheiratete Frauen auf die privatrechtlichen Unterhaltsleistungen des Mannes und die Unterhaltsersatzleistungen der Sozialversicherung (Witwenrenten) zurückgreifen können (vgl. Kapitel „Alter“, Pkt. 6.6.5). Um die ökonomische „Leistung“ von Familien zu bewerten, lassen sich neben den direkten Kosten (Aufwendungen für Kinder) und den Opportunitätskosten (entgangenes Einkommen) auch noch die zeitaufwändigen Betreuungs- und Erziehungsleistungen der Eltern monetär berechnen. Wenn man die durchschnittlichen familiären Betreuungs- und Erziehungsstunden mit den Lohnsätzen von Erzieherinnen bewerten würde, errechnen sich gesamtgesellschaftlich schnell Summen in Milliardenhöhe. Da diese familiären Leistungen aber unentgeltlich erbracht werden (und auch keine Situation absehbar ist, in der Kinderbetreuung und -erziehung rund um die Uhr auf marktförmiger, bezahlter Grundlage erfolgen), ist es ökonomisch eher von theoretischer Bedeutung, sie exakt in Euro zu beziffern.

Einkommens- und Lebenslagen von Familien

5.2

867

Determinanten von Einkommen und Unterhaltskosten

Das Zusammentreffen von steigenden Bedarfen und stagnierenden bis rückläufigen finanziellen Ressourcen führt dazu, dass mit wachsender Haushaltsgröße die ProKopf-Einkommen in der Familie sinken. Aus sozialpolitischer Sicht ist die Frage entscheidend, ob ein Unterschreiten des Existenzminimums vermieden wird, was in Sozialschichten mit höherem Einkommen zu erwarten ist, oder aber, ob Eltern wie Kinder unter Einkommens- und Versorgungsdefiziten zu leiden haben. Ein ausreichendes Familieneinkommen ist zwar nicht die einzige, aber sicherlich eine zentrale Voraussetzung für gute Entfaltungs- und Lebenschancen von Kindern. Da der Zutritt zu nahezu sämtlichen Lebensbereichen durch die Verfügung über Geld bestimmt wird, angefangen von der Wohnung, über den Kauf von Konsumgütern bis hin zum Urlaub und zur Freizeitgestaltung, kann ein unzureichendes Haushaltseinkommen zu gravierenden Beschränkungen in der Lebenslage führen. Der Anregungsund Entfaltungsspielraum wird begrenzt, Wohnung und Wohnumfeld bieten einen unzureichenden Lebensraum, soziale Kontakte verengen sich, die Beteiligung an kulturellen und Freizeitangeboten wird erschwert, Bildungsentscheidungen werden beeinträchtigt. Nicht zuletzt können familiäre Konflikte und Krisen erzeugt oder verstärkt werden. Inwieweit es durch den Unterhalt von Kindern zu einer schwierigen Lage von Haushalts- und Pro-Kopf-Einkommen in den Familien kommt – bis hin zum Erreichen oder Unterschreiten der Armutsgrenze, hängt von mehreren Faktoren ab: Die finanziellen Belastungen wachsen mit der Zahl der Kinder. Zwar tritt bei bestimmten Ausgaben eine Kostendegression ein (so bei den Fixkosten der Haushaltsführung), auf der anderen Seite hat die Entscheidung für zwei oder drei Kinder auf kurz oder lang zur Konsequenz, eine größere Wohnung suchen zu müssen. Auf dem Wohnungsmarkt ist es aber für größere Familien ausgesprochen schwer, eine angemessene und bezahlbare Wohnung zu finden. Auch der Weg, Wohneigentum zu erwerben, ist mit erheblichen finanziellen Belastungen verbunden und von daher nur einer begrenzten Zahl von jungen Eltern möglich. • Die Ausgaben je Kind nehmen mit steigendem Alter zu und erreichen bei der Finanzierung eines Studiums ihr Maximum (Unterhaltskosten einschließlich Wohnung). Andererseits werden die Kinder selbstständiger, so dass der Betreuungsund Erziehungsaufwand sinkt und Betreuungskosten entfallen (Kitagebühren, Kosten für Tagesmütter usw.). Zugleich wird es für die Frau leichter, erwerbstätig zu sein. Jugendliche in der Berufsausbildung erhalten Ausbildungsvergütungen, die in das Haushaltseinkommen einfließen. Das gleiche gilt für Einkünfte aus Nebenerwerbstätigkeiten, die Schüler:innen und Studierende erzielen. • Die kindbedingten Mehraufwendungen lassen sich umso eher bewältigen, je höher die der Familie zufließenden Erwerbseinkommen sind. Entscheidend ist, ob beide Eltern erwerbstätig sind und zum Haushaltseinkommen beitragen oder •

868









Familie und Kinder

nicht. Möglichkeit und Bereitschaft der Frauen, ihre Erwerbstätigkeit nicht längerfristig zu unterbrechen und zumindest eine Teilzeitarbeit zu realisieren, hängen maßgeblich von Anzahl und Alter der Kinder, den Bedingungen des Arbeitsmarktes und den Angeboten zur außerhäuslichen Kinderbetreuung ab. Müssen die Kinderbetreuungsangebote für kleinere Kinder privat finanziert werden (Tagesmütter, Kinderfrauen), weil öffentliche Angebote fehlen, dann rechnet sich bei einem niedrigen Einkommen der Mutter dieser Weg oft nicht oder nur kaum. Das zusätzliche Nettoeinkommen wird durch die Kinderbetreuungskosten aufgezehrt. Die Erwerbseinkommen variieren in ihrer Höhe sowohl nach beruflicher Stellung und Qualifikation als auch nach dem Lebensalter. Je jünger die Beschäftigten sind und je kürzer ihre Betriebszugehörigkeit, desto niedriger liegen im Regelfall auch die Einkommen. Das hängt einerseits vom erreichten Qualifikations-, Erfahrungs- und Leistungsgrad ab, der in der Tendenz mit höherem Alter steigt, und andererseits von der in vielen Wirtschaftsbereichen immer noch praktizierten Entlohnung nach dem Senioritätsprinzip. Aus familienpolitischer Sicht hat die Senioritätsentlohnung problematische Folgen. Die relative Einkommensposition ist am Ende der Berufstätigkeit am höchsten, dann aber muss für die Kinder in aller Regel kein Unterhalt mehr geleistet werden, während in der beruflichen Einstiegsphase, die mit der Geburt von Kindern zusammenfällt, nicht nur höhere Ausgaben für den Lebensunterhalt der Kinder anfallen, sondern auch die Grundausstattung des Haushalts finanziert werden muss. Die Einkommenslage gestaltet sich vor allem dann problematisch, wenn junge Eltern eine Familie gründen. Ein frühes Heirats- und Erstgeburtsalter konzentriert sich auf die Gruppe der eher gering qualifizierten Beschäftigten. Um das Lebensstandardniveau zu sichern, sehen sich gerade hier viele Väter gezwungen, Überstunden und ungünstige Arbeitszeiten anzunehmen (Schicht-, Nacht-, Wochenendarbeit), was wiederum ihre Verfügbarkeit für die Familie begrenzt und die alten Rollenmuster verfestigt. Insbesondere Arbeitslosigkeit wirkt sich prekär auf das Familieneinkommen aus, da die Transferleistungen (Arbeitslosengeld und Arbeitslosengeld II) deutlich unterhalb des letzten Nettoeinkommens liegen (vgl. Kapitel „Arbeit und Arbeitsmarkt“, Pkt. 6). Lebt die Familie von nur einem Erwerbseinkommen und entfällt dieses durch Arbeitslosigkeit, so ist ein tiefer Absturz im Lebensstandard unausweichlich. Da sich Arbeitslosigkeit insbesondere im Segment der Beschäftigten mit niedrigen Qualifikationen und niedrigen Einkommen konzentriert, ist das Risiko des sozialen Abstiegs hier besonders hoch. Hinzu kommt, dass im Zuge des Strukturwandels von Arbeitsmarkt und Arbeitsverhältnissen das „Normalarbeitsverhältnis“, das die Grundlage der klassischen Ernährerrolle darstellt, auch für Männer unsicher geworden ist (vgl. Kapitel „Arbeit und Arbeitsmarkt“, Pkt. 3). Die finanziellen Mehrbelastungen durch den Unterhalt von Kindern werden zum einen durch die allgemeinen und spezifischen Transferleistungen im Rahmen des

Einkommens- und Lebenslagen von Familien

869

Familienleistungsausgleichs gemindert (vgl. dazu weiter unten). Zum anderen treten zu den öffentlichen Transfers häufig private Übertragungen hinzu, sei es auf freiwilliger Grundlage (Großeltern und/oder kinderlose Onkel und Tanten unterstützen ihre Enkelkinder bzw. Neffen und Nichten) oder aufgrund rechtlicher Verpflichtungen. Unterhaltszahlungen spielen in erster Linie bei getrennten oder geschiedenen Paaren und bei ledigen Müttern eine Rolle (vgl. Pkt. 5.6 dieses Kapitels) • Ausschlaggebend für die Einkommens- und Versorgungslage von Familien sind aber nicht nur die direkten monetären öffentlichen und privaten Transferleistungen. Entlastend wirken zusätzlich auch die kostenfrei oder kostenreduziert angebotenen Einrichtungen und Dienste des Sozial- und Bildungswesens, die Maßnahmen des sozialen Wohnungsbaus sowie familienbezogene Preisvergünstigungen (bei Nahverkehr, Bahn, öffentlichen Einrichtungen usw.). Ob und inwieweit auf die Erhebung von Schul- und Studiengebühren verzichtet wird, Lehrund Lernmittelfreiheit sowie die unentgeltliche Inanspruchnahme von Sport- und Freizeitangeboten garantiert werden, hat unmittelbare Auswirkungen auf die Einkommenslage von Familien und die Entwicklungschancen der Kinder. 5.3

Einkommenslagen im Vergleich

Der Wissensstand über die Einkommensverhältnisse von Familien ist begrenzt. Die amtliche Statistik (Mikrozensus, Einkommens- und Verbrauchsstichprobe) bietet keine hinreichend aktuellen und differenzierten Informationen über Höhe und Struktur der Haushaltseinkommen, strukturiert nach der Zahl der Kinder, deren Alter und nach der Zahl der Erwerbstätigen und Einkommensbezieher:innen. Erst recht fehlen Informationen über familiäre Einkommensverläufe im Längsschnitt (vgl. Kapitel „Einkommen“, Pkt. 2.3.5). Um die materielle Situation der unterschiedlichen Haushaltsformen mit jeweils unterschiedlichen Personenzahlen vergleichen zu können, muss die absolute Höhe des verfügbaren Haushaltseinkommens in Pro-Kopf-Einkommen umgerechnet werden. Dabei bleibt zu berücksichtigen, dass mit wachsender Haushaltsgröße der durchschnittliche Kostenaufwand je Person (Vorteile der gemeinsamen Haushaltsführung) sinkt und dass Kinder einen geringeren Bedarf als Erwachsene haben. Dem wird dadurch Rechnung getragen, dass bei der Division des Haushaltseinkommens durch die Personenzahl der Divisor nach Haushaltsgröße und Bedarf gewichtet wird und über dieses Verfahren bedarfsbezogene Äquivalenzziffern ermittelt werden (vgl. Kapitel „Einkommen“, Pkt. 2.5.2). Die nach diesem Verfahren errechneten Durchschnittswerte sagen aber noch wenig aus. Sie verdecken, dass sich innerhalb der Haushaltstypen, auch innerhalb der Familienhaushalte, die Einkommen stark spreizen. Ein ausschließlich an den Durchschnittseinkommen festgemachter Vergleich der Einkommensposition von Familien-

870

Familie und Kinder

haushalten und Nicht-Familienhaushalten kann zu ungenauen, verteilungspolitisch womöglich irreführenden Ergebnissen führen, wenn die Einkommensschichtung übersehen wird. So finden sich in Paarhaushalten mit Kindern im Ganzen gut, ja sogar sehr gut versorgte Familien mit einem Pro-Kopf-Einkommen, welches das von vielen Alleinstehenden oder kinderlosen Paarhaushalten deutlich übertrifft. Vor allem in Selbstständigen- sowie höher qualifizierten Angestellten- und Beamtentätigkeiten realisieren viele Familien ein hohes Wohlstands- und Konsumniveau. Dem entspricht der Lebensstandard der Kinder aus diesem Milieu. Der ausgeprägte Markt für kinder- und jugendorientierte Produkte und Dienste (Kleidung, Medien, Freizeit) ist ein Ausdruck für die wachsende Kaufkraft dieser Zielgruppe. 5.4

Familien und Kinder in Armut

Die andere Seite der sozialen Wirklichkeit repräsentieren jene Familien, deren Einkommens- und Versorgungsniveau die Grenze des sozial-kulturellen Existenzminimums erreicht oder unterschreitet und die als einkommensarm bezeichnet werden können. Die vorliegenden Verteilungsdaten lassen erkennen, dass zwischen materieller Unterversorgung bis hin zur Einkommensarmut und dem Unterhalt von Kindern ein enger Zusammenhang besteht. Der Familienleistungsausgleich (dessen Leistungen im verfügbaren Einkommen bereits enthalten sind) lockert diesen Zusammenhang, hebt ihn aber nicht auf. Man spricht von einer „Infantilisierung der Armut“. Dabei ist zu unterscheiden zwischen jenen Haushalten, deren Einkommen sich bereits vor der Geburt von Kindern an oder unterhalb der Armutsschwelle befindet – hier verschlechtert sich die Situation noch weiter –, und jenen Haushalten, die erst durch den Unterhalt von Kindern in ihrer Einkommenslage abfallen. Hier kann man davon sprechen, dass die Versorgung von Kindern zu einem eigenständigen Verarmungsrisiko wird, da die öffentlichen Transfers die zusätzlichen Kosten und das reduzierte Erwerbseinkommen nicht ausreichend auffangen. Die Berechnungsmethode des relativen Armutsrisikos beruht auf der Erfassung des verfügbaren Haushaltseinkommens, das auf die Haushaltsmitglieder nach Bedarfsgewichten verteilt wird. Als einkommensarm gelten danach alle Mitglieder eines Haushalts, wenn der Schwellenwert von 60 % des mittleren Einkommens (Median) unterschritten wird (vgl. dazu Kapitel „Einkommen“, Pkt. 7.2). Armut von Kindern ist damit immer Armut der Eltern und umgekehrt. Ob in der Realität das Haushaltseinkommen genau nach den angenommenen Bedarfsziffern (Äquivalenzgewichte) verteilt wird, ist natürlich zu hinterfragen. So ist es durchaus vorstellbar, und qualitative Studien weisen darauf hin, dass die Kinder mehr erhalten und die Eltern entsprechend weniger, um die Versorgungslage der Kinder zu verbessern. Und im umgekehrten Fall kann es sein, dass das knappe Haushaltseinkommen für andere Ausgaben eingesetzt wird; dies um den Preis einer schlechteren Versorgungslage des Kindes.

Einkommens- und Lebenslagen von Familien

871

Abbildung X.6 Armutsrisikoquoten von Kindern und in Haushalten mit Kindern 2018 in % Haushalte mit Kindern 41,6

40

35

Kinder und Jugendliche

30

30

25

25,8

20

15

25,6

20,1

15,5

10

10,7 8,4

9,1

5

0

Insgesamt

Alleinlebende

unter 18

18 bis unter 25

zwei Erwachsene, zwei Erwachsene zwei Erwachsene zwei Erwachsene ohne Kind mit einem Kind mit zwei Kindern mit drei und mehr Kindern

Alleinerziehende

Quelle: Statistische Ämter (2019), Sozialberichterstattung, Datenbasis Mikrozensus.

Unabhängig von dieser Frage signalisieren die empirischen Befunde ein differenziertes Bild (vgl. Abbildung X.6): Deutlich unter dem Armutsniveau der Gesamtbevölkerung (15,4 %) liegen nicht nur Paarhaushalte ohne Kinder (8,4 %), sondern auch Paarhaushalte mit einem Kind (9,1 %) und mit zwei Kindern (10,7 %). Kinder zu haben ist insofern keinesfalls automatisch mit Armut verbunden. Sind aber in Paarhaushalten drei und mehr Kinder zu versorgen oder leben die Kinder nur bei einem Elternteil, ändert sich die Lage dramatisch: Das Armutsrisiko steigt auf 30 % bzw. 41,6 %. Kinder im Alter von unter 18 Jahren insgesamt – unabhängig von der Lebensform ihrer Eltern – weisen eine Armutsrisikoquote von 20,1 % auf. Bei Jugendlichen (18 bis unter 25 Jahren) erhöht sich die Quote auf 25,6 %. Verfolgt man die Entwicklung seit 2005, so lässt sich mehrheitlich ein Anstieg der entsprechenden Quoten erkennen (vgl. Abbildung X.7): Auffällig ist, dass die extrem hohe Betroffenheit von Alleinerziehenden weitgehend konstant geblieben ist und dass die Betroffenheit von Paarhaushalten mit 3 und mehr Kindern einen stetigen Anstieg aufweist. Die anhaltende Debatte in der Politik über Maßnahmen zur Vermeidung und Bekämpfung von Kinderarmut hat an dem Problem offensichtlich wenig geändert. Prekäre Einkommenslagen von Eltern und ihren Kindern können gravierende soziale Konsequenzen haben. Das Risiko ist groß, dass materielle Unterversorgung die

872

Familie und Kinder

Abbildung X.7 Armutsrisikoquoten familiärer Lebensformen 2005 – 2018 50

45

39,3

43,8

43,0

42,2 40

42,8

41,5

Alleinerziehende mit Kinder/Kindern

30,0

Paar mit 3 + mehr Kindern

20,4

20,1

unter 18

15,8

15,5

40,1

39,0

35

30

25

20

15

29,1 26,3

19,5

14,7 12,0

10

11,6

25,2

24,3

23,8

24,1

18,4

18,7

18,7

19,2

19,7

14,3

14,6

15,0

15,5

15,7

11,1 10,7

10,6

10,9

10,8

10,8

10,2

9,8

9,5

22,4

9,8

11,3

10,7

9,4

9,1

Insgesamt Paar mit 2 Kindern

Paar mit 1 Kind

5

0

2005

2006

2007

2008

2009

2010

2011

2012

2013

2014

2015

2016

2017

2018

Quelle: Statistische Ämter (2019), Sozialberichterstattung.

Entwicklungschancen und Lebensperspektiven von Kindern nachhaltig beeinträchtigt. Denn mit Einkommensarmut sind nicht nur Einschränkungen in der Versorgung mit den erforderlichen Gütern des täglichen Bedarfs verbunden, sondern auch Defizite in der Wohnungsversorgung und -qualität, in der sozialen Kontakt- und Bewegungsfähigkeit, in der Bildungsbeteiligung und der gesellschaftlichen Partizipation. Den betroffenen Familien fällt es insbesondere schwer, eine ausreichend große Wohnung mit angemessener Miete zu finden. Sie sind an den zurückliegenden Statusverbesserungen im Wohnbereich (Fläche je Person, bessere Ausstattung) nicht oder nur kaum beteiligt gewesen. Ein weiterer kritischer Punkt bezieht sich auf die eingeschränkte Beteiligung an der Freizeit-, Erlebnis- und Modekultur. In einer Gesellschaft, in der über Teilnahme an kommerzieller Freizeitgestaltung und durch warenförmige Ausstattungssymbole sozialer Status vermittelt wird, bedeutet für Kinder das Nicht-Mithalten-Können, angefangen bei bestimmten Kleidungstypen bis hin zu Spielsachen, oftmals so etwas wie sozialer Ausschluss. Kinder und Jugendliche sind Objekt und Adressat von Produktwerbung geworden. Diesem Sog sind auch jene ausgesetzt, die aufgrund ihrer begrenzten Einkommenslage nicht dem Leitbild der kaufkräftigen Kinder- und Jugendgeneration entsprechen können. Die Aussage, dass sich Einkommensarmut von Familien nachteilig auf die Gesundheit, die Sozialentwicklung sowie auf die kognitiven und Schulleistungen der Kinder auswirken kann, darf allerdings nicht als Determinismus verstanden werden.

Einkommens- und Lebenslagen von Familien

873

Entscheidend bleibt, welche Dauer die Armutsphase aufweist, ob es sich also um eine eher kurzfristige Zwischenphase im Lebenslauf oder um eine langfristig prekäre Lebenssituation handelt (vgl. Kapitel „Einkommen“, Pkt. 7.5). Wichtig ist ebenfalls, wie die Eltern, aber auch die Umwelt, d. h. Familienmitglieder, Freundeskreis und Nachbarschaft, Kindergärten, Schulen, mit dieser Situation umgehen. Zu unterscheiden ist, ob Einkommensarmut zur Stigmatisierung sowie zur gesellschaftlichen und sozialen Ausgrenzung führt oder ob den Kindern trotz der schwierigen Bedingungen Teilhabe- und Entwicklungschancen gegeben werden. 5.5

Familien und Kinder in der Grundsicherung

Nimmt man den Grundsicherungsbezug als Armutsindikator, so zeigt die Statistik, dass sich ein hoher Teil der Empfänger von Arbeitslosengeld II und Sozialgeld aus kinderreichen Haushalten und Alleinerziehenden bzw. aus Kindern und Jugendlichen zusammensetzt (vgl. ausführlich Kapitel „Einkommen“, Pkt. 7.4): Zu erkennen sind folgende Strukturen: •

Der Anteil von Haushalten mit Kindern an allen Empfängerhaushalten von Leistungen nach dem SGB II betrug 2018 34,6 (davon Paare zu 16,6 % und Alleinerziehende zu 18,0 %; vgl. Abbildung X.8). • Bezogen auf die Gesamtzahl der Kinder und Jugendlichen im Alter bis zu 15 Jahren liegt die Grundsicherungsquote (2018) bei 14,3 %. Dies bedeutet, dass jedes siebte Kind von Leistungen der Grundsicherung leben muss. Zwar hat sich in den Jahren zwischen 2006 und 2011 die Quote von 16,6 % auf 13,2 % verringert. Seitdem zeigt sich aber wieder ein Anstieg – trotz der Verringerung der Arbeitslosigkeit und trotz der guten konjunkturellen Lage in Deutschland (vgl. Abbildung X.9). Zwischen den und innerhalb der einzelnen Bundesländer/n gibt es massive Abweichungen von den bundesdurchschnittlichen Werten. Vor allem in den wirtschaftlichen Krisengebieten erreichen nicht nur die Armutsrisikoquoten insgesamt hohe Werte, sondern auch die Armutsquoten von Kindern. Beispielhaft können bezogen auf das Bundesland Nordrhein-Westfalen ausgewählte Städte und Landkreise nach den Grundsicherungsquoten für Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren unterschieden werden (vgl. Abbildung X.10). Die extremen Abweichungen sind unübersehbar: Die Quoten schwanken in diesem Bundesland zwischen 7,4 % im Kreis Borken und 40,7 % in der Stadt Gelsenkirchen. Das heißt, dass in Gelsenkirchen mehr als jedes dritte Kind von Leistungen der Grundsicherung lebt. Auf den Bezug von Leistungen nach dem SGB II sind im besonderen Maße ausländische Familien und ihre Kinder angewiesen, und hier in erster Linie Flüchtlinge und Asylbewerber:innen. Ursächlich für die hohe Betroffenheit ist neben der im Schnitt höheren Kinderzahl bei diesen Haushalten vor allem die überproportio-

874

Familie und Kinder

Abbildung X.8 Struktur der Bedarfsgemeinschaften mit Leistungen nach dem SGB II 2018 in %

Sonstige: 1,4%

Alleinerziehende:18,0% Bedarfsgemeinschaften insgesamt

Singles: 55,3%

3,093 Mio. Mit Kindern: 34,6% Paare mit Kindern: 16,6%

Paare ohne Kinder: 8,7%

Quelle: Bundesagentur für Arbeit (2019), Analyse der Grundsicherung für Arbeitsuchende.

Abbildung X.9 Empfängerquoten der Grundsicherung für Arbeitsuchende 2005 – 2018

16,6

16 15,9

15,7

Kinder unter 15 Jahren

15,3

14

14,4

in % der jeweiligen Bevölkerung

15,8 12 10,7

11,0

10,8

10,3

10,1

10

9,9

13,2

13,4

9,5

9,3

13,8

9,4

14,1

9,3

14,4

14,3

14,8

9,3

9,3

9,3

2015

2016

2017

14,3

8,9

Bevölkerung bis zur Regelaltersgrenze

8

6

4

2

0

2005

2006

2007

2008

2009

2010

2011

2012

2013

2014

Leistungsberechtigte bezogen auf die jeweilige Bevölkerung Quelle: Bundesagentur für Arbeit (zuletzt 2019), Analyse der Grundsicherung für Arbeitsuchende.

2018

Einkommens- und Lebenslagen von Familien

875

Abbildung X.10 Empfängerquoten der Grundsicherung für Arbeitsuchende unter 18 Jahren 09/2019, ausgewählte Städte und Kreise in Nordrhein-Westfalen Kreis Borken

7,4

Kreis Olpe

7,6

Kreis Coesfeld

7,7

Kreis Höxter

8,3

Hochsauerland Kreis

9,6

Kreis Kleve

9,7

Münster

15,0

Düsseldorf

18,6

Bonn

19,8

Köln

21,1

Bielefeld

21,2

Kreis Recklinghausen

24,2

Bochum

26,4

Oberhausen

27,4

Wuppertal

29,2

Dortmund

29,9

Duisburg

30,0

Essen

33,4

Gelsenkirchen

40,7 0

5

10

15

20

25

30

35

40

Quelle: Bundesagentur für Arbeit (2020), Analyse der Grundsicherung für Arbeitsuchende.

nal hohe Arbeitslosigkeit, aber auch die niedrigen Arbeitsverdienste jener, die den Sprung in die Beschäftigung geschafft haben. 5.6

Einkommens- und Lebenslage von Alleinerziehenden

Alleinerziehende und ihre Kinder sind im besonderen Maße von Einkommensproblemen betroffen. Charakteristisch für diese Familienform ist der Tatbestand, dass die Betreuung und Erziehung des Kindes/der Kinder und gleichzeitig die Unterhaltssicherung durch Erwerbsarbeit im Wesentlichen durch eine Person geleistet werden müssen. Im Unterschied zu Verheirateten können sich Alleinerziehende nicht auf die laufende Teilhabe am Partnereinkommen und die abgeleiteten sozialen Sicherungsansprüche verlassen. Sie können zwar für ihre Kinder und u. U. auch für sich Unterhaltsansprüche geltend machen, sind aber ansonsten weitgehend auf sich alleine gestellt. Diese generelle Problematik darf allerdings nicht in dem Sinne missverstanden werden, dass Alleinerziehende eine homogene Gruppe seien. Differenzierungen sind geboten: Die Lebens- und Einkommensverhältnisse von alleinstehenden Eltern(tei-

876

Familie und Kinder

len) und ihren Kindern unterscheiden sich u. a. nach dem Grund des Alleinerziehens, dem Alter der Kinder, den individuellen Bewältigungsstrategien, den Neuorientierungen und Partnerschaftsentscheidungen im Zeitablauf, der Verfügung über privatrechtliche Unterhaltszahlungen bzw. über sozialrechtliche Unterhaltsersatzleistungen und nach den Möglichkeiten der eigenständigen Existenzsicherung durch Erwerbstätigkeit. Der überwiegende Teil dieser Kinder wohnt bei geschiedenen/getrennt lebenden Müttern, ein wachsender Teil der minderjährigen Kinder bei ihren ledigen Müttern (vgl. Abbildung X.11). Der Familientyp „verwitwete Mütter“ betrifft demgegenüber nur Minderheiten. Dies gilt im Grundsatz auch für die minderjährigen Kinder, die gemeinsam mit ihren alleinstehenden, weit überwiegend geschiedenen Vätern aufwachsen. Allerdings sind im Verlauf der letzten Jahre die Anteile leicht gestiegen. Berücksichtigt man das Lebensalter der Kinder, dann fällt auf, dass bei den jüngeren Kindern der Familientyp „ledige Mütter“ dominiert. Mit steigendem Lebensalter der Kinder hat hingegen ein Großteil der ledigen Mütter geheiratet. Die nicht-ehelich geborenen Kinder werden durch eine spätere Heirat, oft mit dem Vater der Kinder, zu ehelichen Kindern. In der Entwicklung der letzten Jahre zeigt sich für Deutschland, dass ledige Mutterschaften bei jungen Frauen („Teenager-Mütter“) stark rückläufig sind. Bei den Kindern in den höheren Altersgruppen gewinnen die Familien-

Abbildung X.11 Struktur der Alleinerziehenden 2018 in %

Mütter - geschieden: 862 Tsd.= 33,4%

Väter - ledig: 69 Tsd= 2,7% Väter - verheiratet getrennt lebend: 76 Tsd.= 2,9%

Insgesamt: Mütter - verwitwet: 364 Tsd.= 14,1%

Mütter - getrennt lebend: 265 Tsd.= 10,3%

Väter - verwitwet: 88 Tsd.= 3,4%

2,6 Mio. Väter - geschieden: 174 Tsd.= 6,7%

Mütter - ledig: 682 Tsd.= 26,4%

Quelle: Statistisches Bundesamt (2019), Fachserie 1 Reihe 3.

Einkommens- und Lebenslagen von Familien

877

typen „verwitwete Mütter“ und vor allem „getrennt lebende/geschiedene Mütter“ an Gewicht. Mit den unterschiedlichen Typen von Alleinerziehenden sind jeweils besondere Bedingungen bei den Einkommens- und Lebensverhältnissen verbunden: • Alleinerziehende Väter leben vorwiegend mit älteren Kindern zusammen, geben normalerweise ihre Berufstätigkeit nicht auf und üben überdurchschnittlich oft einen qualifizierten, gut bezahlten Beruf aus. • Verwitwete Mütter und ihre Kinder sind im Schnitt älter. Witwen und Waisen haben dabei in der Regel Ansprüche auf sozialrechtliche Unterhaltsersatzleistungen, d. h. auf Hinterbliebenenrenten aus den Alterssicherungssystemen, und zählen insofern zu der Gruppe der Ein-Eltern-Familien mit dem noch besten und stabilsten Versorgungsniveau. Gleichwohl reichen die Witwenrenten in den meisten Fällen nicht aus, um ein ausreichendes Einkommens- und Alterssicherungsniveau sicherzustellen. Schon allein deswegen sind bislang nichterwerbstätige Mütter gehalten, eine Berufstätigkeit (wieder) aufzunehmen. Jedoch ist zu berücksichtigen, dass die in der Hinterbliebenensicherung geltende Regelung der Anrechnung des eigenen Einkommens (vgl. Kapitel „Alter“, Pkt. 6.4.3) Erwerbstätigkeit eher bestraft. • Ledige Mütter sind im besonderen Maße von finanziellen Problemen betroffen, dies vor allem dann, wenn es sich um junge Frauen handelt, die noch nicht im Erwerbsleben Fuß gefasst und/oder (noch) keine Ausbildung haben. Die Kinder haben zwar Unterhaltsansprüche gegenüber ihren Vätern, aber die Mutter kann – da nicht verheiratet – dem Mann gegenüber keinen nachehelichen oder Betreuungsunterhalt geltend machen. Allerdings hat eine nichteheliche Mutter für die ersten drei Jahre nach der Geburt des Kindes einen ähnlichen Unterhaltsanspruch wie eine geschiedene Frau. Die Einkommenslage geschiedener bzw. getrennt lebender Mütter hängt davon ab, ob und in welcher Höhe sie für sich und ihre Kinder mit Unterhaltszahlungen rechnen können und ob sie erwerbstätig sind bzw. zur Berufsrückkehr in der Lage und bereit sind. Anspruch auf (aufstockenden) Ehegattenunterhalt besteht, wenn der unterhaltspflichtige Mann leistungs-, d. h. zahlungsfähig ist und die Frau wegen der Betreuung eines Kindes bzw. wegen Alters, Krankheit, Ausbildung oder Erwerbslosigkeit nicht oder nur eingeschränkt erwerbstätig sein kann oder ihr Lebensstandard nach der Scheidung ungebührlich absinken würde. Die Höhe des späteren Rentenanspruchs der geschiedenen Frau wird maßgeblich durch die Ergebnisse des Versorgungsausgleichs bestimmt: Die während der Ehe gemeinsam erworbenen Rentenanwartschaften werden unter den Ehegatten gleichmäßig aufgeteilt. Dies führt dann zu einem finanziellen Problem, wenn im Wesentlichen nur ein Ehepartner – in der Regel der Mann – erwerbstätig war und nur wenig verdient hat. Die gesplitteten Anwartschaften haben dann für beide Ehegatten un-

878

Familie und Kinder

zureichende Rentenansprüche zur Folge. Ein Ausgleich kann nur durch zusätzliche vor- und/oder nachehelich erworbene Anwartschaften erfolgen. Die Höhe des Kindesunterhalts orientiert sich am Alter der Kinder, am Nettoeinkommen des Unterhaltspflichtigen (abzüglich berufsbedingter Aufwendungen und berücksichtigungsfähiger Schulden) und dem notwendigen bzw. angemessenen Eigenbedarf (Selbstbehalt). In der Praxis orientieren sich die Gerichte an Tabellenwerten. Maßgebend für die alten Bundesländer ist die vom Oberlandesgericht Düsseldorf erstellte „Düsseldorfer Tabelle“. Das Hauptproblem bei den Unterhaltszahlungen liegt darin, dass viele Väter den Kindes- wie Ehegattenunterhalt in nur geringer Höhe oder gar nicht oder nur schleppend leisten. Auf der einen Seite mangelt es häufig an der finanziellen Leistungsfähigkeit; auf der anderen Seite versuchen aber auch viele Väter, sich der Zahlungspflicht zu entziehen bzw. ihr tatsächliches Einkommen zu verbergen. Schwierig für alle Seiten wird es, wenn der Unterhaltspflichtige eine neue Familie gründet. Alleinerziehende Mütter mit ihren Kindern unterliegen einem besonders hohen Risiko, ihr fehlendes oder unzureichendes Einkommen durch Leistungen nach dem SGB II aufstocken zu müssen. Sie sind überwiegend nicht arbeitslos, da ihnen trotz der Erwerbsfähigkeit eine Erwerbstätigkeit nicht zugemutet wird, dies insbesondere dann nicht, wenn ein Kind nicht älter als drei Jahre ist. Die Erwerbsbeteiligung alleinerziehender Mütter liegt höher als die verheirateter Mütter. Vor allem ist die Vollzeiterwerbstätigkeit stärker ausgeprägt. Erwerbstätigkeit ist auch deshalb unverzichtbar, um im Alter ausreichende Rentenansprüche zu erreichen, die durch den Versorgungsausgleich (bei geschiedenen Frauen) in aller Regel nicht garantiert werden. Zugleich sind aber die Schwierigkeiten, die Berufstätigkeit mit der Betreuung und Erziehung der Kinder zu vereinbaren, besonders groß. Die Analyse des Arbeitsmarktes lässt erkennen, dass alleinerziehende Frauen, die nach einer Unterbrechung wieder in den Arbeitsmarkt einsteigen möchten, im Durchschnitt schlechtere Vermittlungschancen haben. In vielen Fällen muss eine ausbildungsinadäquate, unterwertige Beschäftigung angenommen werden. Der Wiedereinstieg wird dabei umso schwieriger, je älter die Frau ist und je länger sie ihren Beruf unterbrochen hat. Die für Ein-Eltern-Familien charakteristischen finanziellen Probleme verleiten in der öffentlichen Diskussion dazu, die Gruppe der Alleinerziehenden pauschal als „Problemgruppe“ zu bezeichnen und zugleich die Leistungsfähigkeit dieses Familientyps als defizitär zu beschreiben. Eine solche Defizitbetrachtung führt jedoch dazu, dass die gerade erst überwundene Diskriminierung und Stigmatisierung der „unvollständigen“ Familien (wie es früher in Abgrenzung zu den als normal unterstellten „vollständigen“ Familien hieß) durch eine neue, eher „sozialarbeiterische Klientelisierung“ abgelöst würde. Die Lebens- und Entwicklungschancen der Kinder aus Ein-Eltern-Familien sind aber nicht automatisch schlechter, weil sie nur bei einem Elternteil, in der Regel bei der Mutter, aufwachsen. Etwa auftretende Probleme von Trennungs- und Scheidungskindern bei der Schulleistung und der sozialen Anpas-

Geldleistungen der Familienpolitik und Familienleistungsausgleich

879

sung sind immer auch im Zusammenhang mit der häufig schwierigen wirtschaftlichen Situation und dem in vielen Fällen notwendig werdenden Wechsel von Wohnung, Wohnumgebung, Schule und Freundeskreis zu sehen. Zweifelsohne leiden Kinder unter der Trennung ihrer Eltern, und zwar je nach dem Lebensalter der Kinder mit unterschiedlichen Ausprägungen und Folgen. Auf der anderen Seite kann ein endgültiger Bruch in den Beziehungen zwischen den Eltern auch eine Befreiung von einer spannungsgeladenen und zerrütteten Partnerschaft sein, die nicht zuletzt auch die Kinder belastet hat. Die Auswirkungen von Trennung und Scheidung dürfen also weder verharmlost, noch darf die „Ehepaar-Familie“ idealisiert werden. Auch der Familientyp „Zusammenleben beider Elternteile mit den Kindern“ sagt noch nichts aus über das Maß der tatsächlichen Anwesenheit des Vaters in der Familie und über seine Beziehungen zu den Kindern. Die (Ehe) Paarkonstellation lässt nicht erkennen, welche Beziehungen zwischen den (Ehe)Partnern bestehen und wie sich diese – bei problematischen Fällen – auf die Erziehung und Entwicklung der Kinder auswirken. Die Beziehung des Kindes zum (leiblichen) Vater muss durch die Auflösung der Familie nicht notwendigerweise abbrechen. Für die Kinder kommt es nach der Trennung entscheidend darauf an, wie die Eltern miteinander umgehen, und ob es ihnen gelingt, ihrer gemeinsamen Verantwortung gegenüber den Kindern gerecht zu werden. Auch das Kindschaftsrecht ist durch den Grundsatz der Verantwortung beider Eltern für ihre Kinder auch nach der Trennung geprägt: Die gemeinsame Sorge um das Kind gilt als Leitbild, das alleinige Sorgerecht als der abweichende Fall, der allerdings auch weiterhin sehr häufig von einem/r Partner/in als erwünscht angesehen wird bzw. unumgänglich ist.

6

Geldleistungen der Familienpolitik und Familienleistungsausgleich

Die klassische Funktion der Familienpolitik besteht darin, die finanziellen Aufwendungen, die durch die Betreuung, Erziehung und Ausbildung der Kinder entstehen, durch die Zahlung von Geldleistungen wenigstens teilweise zu kompensieren. Grundlegende Fragen sind dabei, welche Belastungen in welcher Höhe die Eltern tragen müssen und in welchem Maße der Sozialstaat finanzielle Unterstützung leistet. Die monetären Transfers umfassen nicht allein das Kindergeld. Denn viele andere sozialpolitische Leistungen weisen sog. Kinder- und Familienkomponenten auf. Der Versuch, einen Überblick über diese Leistungen zu geben, ist deshalb schwierig. Von einem überschaubaren System kann nicht gesprochen werden. Vielmehr bestimmt eine Vielzahl von Leistungen, Trägern, Finanzierungsverfahren, Zuständigkeiten und Ämtern das Bild. Einen Eindruck über die Vielgestaltigkeit familienpolitischer Transfers, die auch als Familienleistungsausgleich im weiteren Sinne bezeichnet werden können, bietet Übersicht X.1 in Pkt. 6.6 dieses Kapitels.

880

Familie und Kinder

Gleichwohl ist es möglich, eine Systematisierung der familienpolitischen Geldleistungen vorzunehmen. Im Folgenden ist zu unterscheiden zwischen • • • •

kinder(kosten)bezogenen Leistungen, erziehungsbezogenen Leistungen, ausbildungsbezogenen Leistungen und ehebezogenen Leistungen.

Gesondert zu betrachten sind die Leistungen, die auf die Gruppe der Alleinerziehenden zielen. Quer dazu, also innerhalb der jeweiligen Leistungsgruppen, ist zu unterscheiden, ob es sich um direkte monetäre Übertragungen, um indirekt wirkende steuerliche Vergünstigungen oder um Sachleistungen handelt. 6.1

Kinderbezogene Leistungen

Nach dem Unterhaltsrecht des BGB sind die Eltern für ihre Kinder unterhaltspflichtig, und zwar bis zum Abschluss einer Berufs- bzw. Hochschulausbildung (gesteigerte Unterhaltspflicht). Darüber hinaus besteht eine wechselseitige Unterhaltspflicht zwischen den Eltern und ihren volljährigen Kindern („Generationensubsidiarität“). Die kinderbezogenen Leistungen der Familienpolitik zielen ganz allgemein darauf ab, die Eltern durch Steuerermäßigungen und direkte Zahlungen in die Lage zu versetzen, diesen Unterhalt auch tatsächlich und ohne unzumutbare Einbußen in ihrem Lebensstandard zu leisten, d. h. die Aufwendungen für die Betreuung, Erziehung und Ausbildung ihrer Kinder finanzieren zu können. Der Familienleistungsausgleich im engeren Sinne mit seinen Elementen Kindergeld und steuerlichem Kinderfreibetrag ist das Kernstück dieser Transfers. Daneben findet sich eine Reihe spezifischer, d. h. an bestimmte Lebenslagen und Zweckbindungen gekoppelte Leistungen, die hier nur aufgelistet, aber nicht weiter erläutert werden sollen. Zu nennen sind: • • • • •

kostenfreie Mitversicherung der Kinder in der Kranken- und Pflegeversicherung (Familienhilfe) (vgl. Kapitel „Gesundheit und Gesundheitssystem“, Pkt. 5.1.1), Waisenrenten in der Renten- und Unfallversicherung (vgl. Kapitel „Alter“, Pkt. 6.4.3), gesetzlicher Unfallschutz für Kitakinder, Schüler und Studierende (vgl. Kapitel „Arbeit und Gesundheit“, Pkt. 4.1), Differenzierung des Leistungssatzes des Arbeitslosengelds nach dem Familienstand der Arbeitslosen (vgl. Kapitel „Arbeit und Arbeitsmarkt“, Pkt. 6.2.2), Berücksichtigung von Kindern bei den Leistungen nach dem SGB II (Sozialgeld) (vgl. Kapitel „Einkommen“, Pkt. 6.2.1),

Geldleistungen der Familienpolitik und Familienleistungsausgleich

• •

881

Berücksichtigung von Kindern beim Wohngeld und beim sozialen Wohnungsbau (vgl. Kapitel „Einkommen“, Pkt. 6.6), Berücksichtigung von Kindern bei der Förderung der privaten Altersvorsorge („Riester-Rente“) (vgl. Kapitel „Alter“, Pkt. 8.2.2).

6.1.1 Zielsetzungen des Familienleistungsausgleichs

Zum Familienleistungsausgleich im engeren Sinne zählen Kindergeld und steuerliche Kinderfreibeträge. Diese als „duales System“ beschriebene Doppelgleisigkeit ist Folge der unterschiedlichen Zielsetzungen, die mit dem Familienleistungsausgleich verbunden werden. Im Wesentlichen lassen sich zwei gegenläufige Gedankengänge bzw. Zielvorstellungen unterscheiden: • •

der horizontale Lastenausgleich („Steuergerechtigkeit“) und der vertikale Lastenausgleich („Bedarfsgerechtigkeit“).

Horizontaler Lastenausgleich und Steuergerechtigkeit Beim horizontalen Lastenausgleich geht es darum, den Rückgang des Lebensstandards von Eltern mit Kindern gegenüber kinderlosen Paaren bzw. gegenüber Eltern mit weniger Kindern innerhalb gleicher Einkommensgruppen insofern zu beschränken, als die geringere wirtschaftliche Leistungsfähigkeit von Eltern mit Kindern steuerlich berücksichtigt wird. Ein Beispiel: So ist zu berücksichtigen, dass ein Ehepaar mit zwei Kindern und einem Jahreseinkommen von 70 000 Euro steuerlich nicht so leistungsfähig ist wie ein gleich gut verdienendes kinderloses Ehepaar. Das Einkommen, das für den Unterhalt der Kinder (zumindest für den existentiellen Sachbedarf sowie für den Erziehungs- und Betreuungsaufwand) eingesetzt werden muss, soll nicht noch durch Steuerabzüge vermindert, sondern durch Berücksichtigung eines Freibetrags von der Besteuerung freigestellt werden. Im Ergebnis bedeutet dieses Prinzip der Steuergerechtigkeit durch Einführung eines Steuerfreibetrages, dass sich die Entlastungen der Familien mit steigendem Einkommen erhöhen: Denn entsprechend des progressinven Verlaufs des Einkommensteuertarifs wirkt sich die durch einen Kinderfreibetrag bewirkte Verminderung der steuerlichen Bemessungsgrundlage bei einem Ehepaar mit einem Spitzenverdienst sehr viel stärker aus als bei einem Ehepaar mit mittlerem Einkommen. Völlig leer gehen jene Familien aus, die überhaupt keine direkten Steuern zahlen. Hier handelt es sich zumeist um niedrigverdienende (junge) Familien, die mit ihrem Einkommen den steuerlichen Grundfreibetrag nicht übersteigen, sowie um nichterwerbstätige Arbeitslose, Grundsicherungsempfänger:innen und Alleinerziehende. Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Rechtsprechung zur Steuerfreiheit des Existenzminimums ausdrücklich den Grundsatz der horizontalen Steuergerechtigkeit betont. Freigestellt wird allerdings, wie die steuerliche Gleichbehandlung erreicht werden soll, ob durch Abzug eines Betrages von der steuerlichen Bemes-

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Familie und Kinder

sungsgrundlage (steuerlicher Kinderfreibetrag), durch einen Kindergrundfreibetrag, durch die Zahlung von Kindergeld oder durch eine Kombination dieser Maßnahmen. Wenn die Freistellung des Existenzminimums sowie des Erziehungs- und Betreuungsbedarfs von der Besteuerung durch die Zahlung von Kindergeld erreicht werden soll, dann muss das Kindergeld so hoch sein, dass es in allen Einkommensgruppen, also auch in der höchsten Einkommensgruppe, der steuerlichen Entlastungswirkung eines Freibetrages entspricht. Den Steuerpflichtigen muss nach Erfüllung ihrer Einkommenssteuerschuld von ihren Einkommen zumindest so viel verbleiben, wie sie zur Bestreitung ihres notwendigen Lebensunterhalts und – unter Berücksichtigung von Artikel 6 Abs. 1 GG – desjenigen ihrer Familie bedürfen (Existenzminimum). Die Höhe des dabei steuerlich zu verschonenden Existenzminimums hängt von den allgemeinen wirtschaftlichen Verhältnissen und dem anerkannten Mindestbedarf ab. Die entsprechende Einschätzung erfolgt alle zwei Jahre neu im Existenzminimumbericht der Bundesregierung. Danach darf das von der Einkommenssteuer zu verschonende Existenzminimum nicht den Mindestbedarf nach dem Sozialhilferecht unterschreiten. Dieser fungiert somit als Maßgröße für das einkommenssteuerrechtliche Existenzminimum, was auch sinngemäß für die Ermittlung des Existenzminimums eines Kindes gilt. Da die Leistungsfähigkeit von Eltern über den existenziellen Sachbedarf und den erwerbsbedingten Betreuungsbedarf hinaus generell durch den Betreuungs-, Erziehungs- oder Ausbildungsbedarf eines Kindes gemindert wird, ist auch dieser Bedarf im Steuerrecht – zusätzlich zum sächlichen Existenzminimum – von der Einkommensteuer zu verschonen. Unter Zugrundelegung der Regelbedarfe der Grundsicherung (SGB II) und der Hilfe zum Lebensunterhalt in der Sozialhilfe gemäß SGB XII, der Kosten der Unterkunft und der Heizkosten ergibt sich dabei für das Jahr 2020 für ein Kind ein steuerlicher Freibetrag von 7 812 Euro einschließlich des Betreuungs- und Erziehungs- oder Ausbildungsbedarfs. Dies entspricht einem monatlichen Freibetrag von 651 Euro. Für Erwachsene errechnet sich ein sächliches Existenzminimum von 9 408 Euro, das entspricht dem Grundfreibetrag in der Einkommensteuer. Vertikaler Lastenausgleich Der vertikale Familienlastenausgleich zielt darauf, Familien mit geringem bis mittlerem Einkommen und mehreren Kindern durch direkte Zahlungen finanziell gezielt zu unterstützen, d. h. einen Anteil an den Kinderkosten zu übernehmen, um die Entwicklung der Kinder und die Lebensbedingungen der Eltern sicherzustellen. Durch die erwähnte Freistellung des Existenzminimums von der Einkommensbesteuerung lässt sich dieses Ziel nicht erreichen, da die Steuerentlastung nur dann wirkt, wenn überhaupt Steuern zu zahlen sind. Beim vertikalen Ausgleich richtet sich die Beteiligung des Staates an den Kosten des Kindesunterhalts nach dem Kriterium der Bedarfsgerechtigkeit. Diesem Maßstab entspräche ein Kindergeldsystem, dessen Leistungen umso höher ausfallen, je

Geldleistungen der Familienpolitik und Familienleistungsausgleich

883

weniger die Familien aufgrund niedriger Einkommen aus eigener Kraft ihren Kindern einen angemessenen sozio-kulturellen Standard sichern können. In den oberen Einkommensgruppen können diese Leistungen entfallen, da hier das Einkommen ausreicht, um die Kinderkosten abzudecken, während es in den unteren Einkommensgruppen bis hin zu einer völligen Übernahme des Mindestaufwands für Kinder kommen kann. Durch die Einkommensabhängigkeit des Kindergeldes würde demnach ein Ausgleich von den oberen zu den unteren Einkommen erreicht. Die Gegensätzlichkeit dieser beiden Ziele hat seit Einführung des Familienleistungsausgleichs für kontroverse Diskussionen über die Prioritäten der finanziellen Förderung von Familien gesorgt und je nach den parlamentarisch-politischen Machtverhältnissen zu unterschiedlichen Ausgestaltungen des Familienleistungsausgleichs geführt. Denn angesichts knapper öffentlicher Kassen ist der Weg des „sowohl als auch“ kaum realisierbar. Die Gefahr ist nicht von der Hand zu weisen, dass hohe Kinderfreibeträge zwar dem Postulat der horizontalen Steuergerechtigkeit entsprechen, aber nur den besser gestellten Familien zu Gute kommen und den finanziellen Spielraum zur Erhöhung des Kindergelds einengen. Um beurteilen zu können, wie hoch Steuerfreibeträge und Kindergeld liegen müssen, um die Ziele von Steuer- und/oder Bedarfsgerechtigkeit erfüllen zu können, muss entschieden werden, welche Kosten, die durch den Unterhalt der Kinder entstehen, in welchem Umfang als anerkennungswürdig und ausgleichsbedürftig angesehen werden. Bislang ist in Deutschland der Grundsatz vertreten worden, dass der Familienleistungsausgleich die Kosten, die für den Unterhalt (existentieller Sachbedarf) sowie für die Betreuung und Erziehung von Kindern anfallen, weder für alle Familien noch in voller Höhe berücksichtigen kann und soll. Den Eltern werden Eigenleistungen zugemutet. Strittig ist die Frage, wie hoch je nach der Einkommenslage der Eltern der Eigenanteil sein soll. Kontrovers diskutiert wird ebenfalls, wie die Kosten bzw. Bedarfe von Kindern zu bestimmen sind. Denn deren Höhe lässt sich nicht einfach ermitteln, sondern hängt von einer Reihe von Variablen ab. Zu unterscheiden ist zunächst zwischen den tatsächlich entstandenen Kosten bzw. getätigten Aufwendungen und den normativ gesetzten, sozio-kulturellen Mindestkosten. In beiden Fällen variieren die Kosten mit der Zahl und dem Alter der Kinder und möglichen besonderen Bedarfssituationen (Ausbildung, Wohnung etc.): •

Die tatsächlich getätigten durchschnittlichen Aufwendungen der Eltern für ihre Kinder lassen sich aus der Einkommens- und Verbrauchstichprobe des Statistischen Bundesamtes ableiten. Aktuell verfügbar sind Daten aus dem Jahr 2013. Danach beliefen sich die reinen Konsumausgaben für ein Kind bis zu 18 Jahren (also ohne Kosten der Unterkunft) auf 660 Euro (Ehepaar mit einem Kind) und 1 165 Euro/Monat (Ehepaar mit zwei Kindern). Zu berücksichtigen bleibt, dass es sich hier um Durchschnittswerte handelt; die Aufwendungen differieren stark nach Zahl und Alter der Kinder und vor allem nach dem Einkommen der Eltern.

884



Familie und Kinder

Für die auf die Sicherstellung des sozio-kulturellen Existenzminimums abzielenden Mindestkosten von Kindern sind die Regelbedarfe für Kinder im SGB II und SGB XII die entscheidende Maßgröße. Da diese Bedarfssätze nach drei Altersstufen der Kinder variieren, findet sich hier für 2020 eine Spannweite zwischen 240 Euro und 316 Euro/Monat (vgl. Kapitel „Einkommen“, Pkt. 6.1.2). Hinzuzurechnen sind noch jeweils die anteiligen Kosten für Miete und Heizung.

6.1.2 Kindergeld und Kinderfreibeträge,

Die langjährige Kontroverse um die „gerechte“ Ausgestaltung des Kinderleistungsausgleichs im Spannungsfeld der Ziele von Steuer- und Bedarfsgerechtigkeit hat seit Anfang 2002 ein vorläufiges Ende gefunden. Seitdem sind Kindergeld und Steuerfreibeträge miteinander verknüpft und können nur noch alternativ genutzt werden; die eine Leistungsform schließt also die andere aus. Kindergeld und Kinderfreibeträge sind im Steuerrecht geregelt. Kindergeld Allen Eltern steht für ihre Kinder unabhängig von ihrem Einkommen Kindergeld zu. Das gilt auch für EU-Bürger:innen, deren Kinder im Heimatland leben. Die monatliche Höhe des Kindergeldes in Abhängigkeit von der Ordnungszahl der Kinder ist Tabelle X.3 zu entnehmen. Kindergeld wird monatlich als Steuervergütung durch die Finanzämter gezahlt. Es wird grundsätzlich nicht an das Kind, sondern für ein Kind an den/die so genannten Kindergeldberechtigte/n gezahlt (in der Regel ein Elternteil). Zahlstelle sind die bei den Arbeitsämtern residierenden, aber der Finanzverwaltung unterstehenden Familienkassen. Die allgemeine Altersgrenze der Kinder für den Bezug von Kindergeld bzw. für die Inanspruchnahme von Kinderfreibeträgen liegt beim 18. Lebensjahr. Der Bezugszeitraum verlängert sich bei arbeitslosen Kindern bis zum 21. und bei Kindern in Ausbildung/Studium bis zum vollendeten 25. Lebensjahr. Im Jahr 2018 wurde Kindergeld für etwa 17,8 Mio. Kinder gezahlt Davon war der weit überwiegende Teil erste Kinder (60,2 %) und zweite Kinder (29,5 %). Der erhöhte Anspruch auf Kindergeld für drei und mehr Kinder traf nur für etwa 10 % der Fälle zu. Verfolgt man die Entwicklung seit 2005 ist die Zahl der Kinder, für die Kindergeld gezahlt wird, leicht rückläufig (2003: 18,6 Mio.; 2014: 17,3 Mio.). Die sinkende Kinderzahl in Folge der anhaltend niedrigen Geburtenziffer macht sich bemerkbar. Abgeschwächt wird dieser demografische Effekt durch die mit ihren Eltern zugewanderten Kinder. Kinderfreibetrag Der Kinderfreibetrag liegt im Jahr 2020 bei 7 812 Euro. Zwischen dem Bezug von Kindergeld und der Inanspruchnahme des Kinderfreibetrags besteht ein Wahlrecht

Geldleistungen der Familienpolitik und Familienleistungsausgleich

885

Tabelle X.3 Höhe von Kindergeld und Kinderfreibeträgen 2000 – 2020 Jährlicher Kinderfreibetrag (je Kind in €)

Monatliches Kindergeld in €

insgesamt

Kinderfreibetrag

Freibetrag für Betreuung/Erziehung/ Ausbildung

1. Kind

2. Kind

3. Kind

4. u. weitere Kinder

2000

5 080

3 534

1 546

138

138

153

179

2002

5 808

3 648

2 160

154

154

154

179

2009

6 024

3 864

2 160

164

164

170

195

2010

7 008

4 368

2 640

184

184

190

215

2015

7 152

4 512

2 640

188

188

194

219

2016

7 248

4 608

2 640

190

190

196

221

2017

7 356

4 716

2 640

192

192

198

223

2018

7 428

4 788

2 640

194

194

200

225

2019

7 620

4 980

2 640

204

204

210

235

2020

7 812

5 172

2 640

204

204

210

235

Quelle: Bundesministerium der Finanzen (2020), Datensammlung zur Steuerpolitik.

nach Maßgabe des Günstigkeitsprinzips: Danach werden die Steuerentlastungen mit dem Kindergeld verrechnet. Wirkt sich der Freibetrag für die Familie günstiger als das Kindergeld aus, liegen also die steuerlichen Entlastungen höher als die Kindergeldzahlungen, werden die zu viel gezahlten Steuern im Rahmen des Steuerjahresausgleichs zurückerstattet. Tatsächlich erhält die weit überwiegende Zahl der Eltern (ungefähr 90 %) nur das Kindergeld, weil sich der Freibetrag ausschließlich in den höheren Einkommensgruppen günstiger auswirkt. Der die Steuerentlastung überschießende Teil des Kindergelds ist insofern eine bedarfsbezogene Leistung (Bedarfsgerechtigkeit). Dieser Förderanteil des Kindergeldes liegt umso höher, je geringer das Einkommen der Eltern ist. Das Kindergeld, das Eltern zufließt, die überhaupt keine Einkommensteuer zahlen, ist eine ausschließliche Förderleistung. Kindergeld und die Entlastungen durch die Freibeträge mindern das Aufkommen aus der Einkommensteuer. Insofern gehen diese Minderungen zu Lasten des Bundes, der Länder und der Gemeinden und zwar im Verhältnis 42,5 % : 42,5 % : 15 %. Angemessenheit der Leistungen Zu fragen bleibt, ob die Höhe des Kindergelds ausreichend ist. Denn ausgeglichen wird nur ein Teil der Mindestunterhaltskosten. Nimmt man die Regelbedarfe für Kin-

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Familie und Kinder

der als Vergleich, so liegt selbst das Kindergeld für das vierte und weitere Kind noch unterhalb dieses Niveaus (vgl. Kapitel „Einkommen“, Pkt. 6.1.2). Die Abweichung wird umso größer, je älter die Kinder werden. Durch die Staffelung des Kindergeldes nach der Ordnungszahl der Kinder wird lediglich erreicht, dass mit zunehmender Kinderzahl der Deckungsanteil der Leistungen an den Kinderkosten relativ steigt. Kritisch zu sehen ist des Weiteren, dass die Höhe des Kindergelds keiner festen Dynamisierung nach Maßgabe der Einkommensentwicklung unterliegt, so wie dies bei den Leistungen der Sozialversicherung üblich ist, Allerdings sind durch die verfassungsrechtlich vorgegebene Anbindung des Kinderfreibetrags an das sozialhilferechtliche Existenzminimum und durch die Verknüpfung von Freibeträgen und Kindergeld (aber nicht umgekehrt) einer willkürlichen Entwicklung Grenzen gesetzt. Wie Tabelle X.3 erkennen lässt, ist seit 2000 das Kindergeld mehrmals angehoben worden; die Erhöhung für das erste und zweite Kind um etwa 48 % liegt deutlich oberhalb der allgemeinen Einkommens- und Preisentwicklung in diesem Zeitraum. Im internationalen Vergleich liegt Deutschland mit seinen familienpolitischen Geldleistungen vorne. Gleichwohl summiert sich der privat zu finanzierende Kostenanteil bei mehreren Kindern auf sehr hohe Beträge, die im unteren Einkommensbereich nicht mehr getragen werden können. Wenn – wegen der Kinder – das Haushaltseinkommen das sozial-kulturelle Existenzminimum unterschreitet, muss auf ergänzende Hilfe der Grundsicherung zurückgegriffen werden. Betroffen davon sind nicht zuletzt Arbeitnehmerhaushalte mit niedrigen Arbeitseinkommen. Wenn sich hier das Grundsicherungsniveau mit den verfügbaren Einkommen einschließlich von Transferleistungen überschneidet, so liegt dies nicht an vermeintlich überhöhten Leistungssätzen, sondern am unzureichenden Familienleistungsausgleich. Da das Kindergeld nach dem Grundsatz der Subsidiarität eine vorrangige Leistung ist, wird es voll auf die Grundsicherung angerechnet. Eine Anhebung des Kindergelds wirkt sich insofern auf die Bezieher von Grundsicherungsleistungen nicht aus, denn entsprechend sinkt die Aufstockungsbetrag der Grundsicherung. 6.1.3 Kinderzuschlag und Leistungen zur Bildung und Teilhabe

Die Zahlung eines Kinderzuschlags, der als einkommensabhängige Leistung der Grundsicherung vorgelagert ist und das einkommensunabhängige Kindergeld aufstockt, soll vermeiden, dass Eltern allein wegen des Unterhaltsbedarfs für ihre Kinder Anspruch auf Arbeitslosengeld II und/oder Sozialgeld haben. Den Kinderzuschlag erhalten also Familien, in denen der Bedarf der Eltern aus eigenen Mitteln gedeckt werden kann. Der Höchstbetrag liegt bei 185 Euro im Monat pro Kind. Damit soll erreicht werden, dass das eigene Einkommen zusammen mit dem Kinderzuschlag so hoch ist, dass keine Hilfebedürftigkeit (Arbeitslosengeld II oder Sozialgeld) mehr besteht. Das Einkommen der Eltern wird zu 45 % auf den Kinderzuschlag angerechnet. Der Kinderzuschlag wird längstens bis zum Ende des 25. Lebensjahres gezahlt. Die

Geldleistungen der Familienpolitik und Familienleistungsausgleich

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Bewilligung setzt einen Anspruch auf Arbeitslosengeld II und Kindergeld voraus. Besteht dieser nicht, besteht auch kein Anspruch auf einen Kinderzuschlag. Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene (bis zur Vollendung des 25. Lebensjahres), die Leistungen der Grundsicherung (SGB II) oder der Sozialhilfe (SGB XII) beziehen, können neben dem Regelbedarf auch Leistungen zur Bildung und Teilhabe erhalten. Anspruchsberechtigt sind zudem Kinder im Bezug von Wohngeld und Kinderzuschlag. Die Leistungen werden nicht als Geld- sondern als Sach- und Dienstleistungen erbracht, insbesondere in Form von personalisierten Gutscheinen oder Direktzahlungen an Anbieter von Leistungen. Mit dieser Zweckbindung soll sichergestellt werden, dass die Leistungen bei den Kindern und Jugendlichen auch tatsächlich ankommen. Zu den Leistungen zählen vor allem • • • • • •

Schulausflüge und Klassenfahrten (Übernahme der tatsächlichen Kosten), persönlicher Schulbedarf (Geldleistungen: Pauschalen in Höhe von 150 Euro pro Schuljahr), Schülerbeförderung (Übernahme der tatsächlichen Kosten für die Beförderung zu der nächstgelegenen Schule), Lernförderung (wenn die Schule den Bedarf bestätigt), Mittagsverpflegung in der Schule und Kita, Mitgliedsbeiträge in Sport- und Kulturvereinen, Musikunterricht, Teilnahme an Freizeiten (für Minderjährige, in Höhe von 15 Euro im Monat).

Die bisherigen Erfahrungen mit dem sog. „Bildungs- und Teilhabepaket“ lassen erkennen, dass die Leistungen regional in einem sehr unterschiedlichen Maße beantragt und bewilligt werden. Die Inanspruchnahme ist insgesamt sehr gering, was vor allem an den restriktiven Anspruchsvoraussetzungen und dem bürokratischen Verfahren liegt. 6.2

Elterngeld und ElterngeldPlus

Das Elterngeld ist befristete Einkommensersatzleistung, es fängt fehlendes Einkommen auf, wenn Eltern nach der Geburt für ihr Kind da sein wollen und wegen der Betreuung eines Kindes nicht oder nicht voll erwerbstätig sind. Den Eltern stehen gemeinsam insgesamt 14 Monate zu, wenn sich beide an der Betreuung beteiligen und dadurch Einkommen wegfällt. Sie können die Monate frei untereinander aufteilen. Ein Elternteil kann dabei mindestens zwei und höchstens zwölf Monate für sich in Anspruch nehmen. Die Elterngeldmonate können auch gleichzeitig in Anspruch genommen werden (beispielsweise je sieben Monate für beide Elternteile). Der Bezugszeitraum des Elterngeldes kann auf die doppelte Zeit gestreckt werden, wenn es monatlich nur hälftig in Anspruch genommen wird. Elterngeld wird auch für die Zeit

888

Familie und Kinder

gezahlt, in der ein Elternteil die Erwerbstätigkeit zwar nicht unterbricht, aber nicht mehr als 30 Stunden pro Woche arbeitet. Wer mehr arbeitet, gilt als vollerwerbstätig und hat keinen Anspruch. Die Höhe des Elterngeldes orientiert sich am monatlich verfügbaren Nettoeinkommen, das der betreuende Elternteil vor der Geburt des Kindes hatte und das nach der Geburt wegfällt. Eltern mit höheren Einkommen erhalten 65 %, Eltern mit niedrigeren Einkommen bis zu 100 % dieses Voreinkommens. Das Elterngeld beträgt mindestens 300 Euro und höchstens 1 800 Euro im Monat. Ein Mindestelterngeld von 300 Euro erhalten alle, die nach der Geburt ihr Kind selbst betreuen und höchstens 30 Stunden in der Woche arbeiten, so auch Studierende, Hausfrauen oder Hausmänner und Eltern, die wegen der Betreuung älterer Kinder nicht gearbeitet haben. Mehrkindfamilien mit kleinen Kindern profitieren vom sogenannten Geschwisterbonus: Sie erhalten einen Zuschlag von 10 % des sonst zustehenden Elterngelds, mindestens aber 75 Euro. Das Elterngeld wird beim Arbeitslosengeld II, bei der Sozialhilfe und beim Kinderzuschlag vollständig als Einkommen angerechnet – dies betrifft auch den Mindestbetrag. Auch getrennt lebenden Elternteilen steht das Elterngeld zu. Alleinerziehende, die das Elterngeld zum Ausgleich des wegfallenden Erwerbseinkommens beziehen, können die vollen 14 Monate Elterngeld in Anspruch nehmen. Das Elterngeld Plus kann bei gleichzeitiger Teilzeitarbeit doppelt so lang und halb so hoch wie das Vollelterngeld bezogen werden. Zudem wird ein Partnerschaftsbonus, z. B. in Höhe von 10 % des Elterngelds, gezahlt, wenn die Eltern parallel zum Elterngeldbezug beide 25 bis 30 Stunden in der Woche arbeiten. Es handelt sich dabei um vier aufeinanderfolgende, zusätzliche Elterngeldmonate für Eltern, die gleichzeitig mit 25 bis 30 Wochenstunden erwerbstätig sind. Das Elterngeld Plus richtet sich an Eltern, die bereits kurz nach der Geburt wieder arbeiten möchten. Hierbei wird ein Monat Basiselterngeld in zwei Monate Elterngeld Plus umgewandelt. Dies bedeutet, dass sich der erhaltene Betrag halbiert, die Bezugsdauer aber verdoppelt. Das Elterngeld wird aus allgemeinen Steuermitteln des Bundes finanziert. 2017 beliefen sich die Aufwendungen auf 6,8 Mrd. Euro. Die vorliegenden Daten über den Bezug von Elterngeld zeigen, dass die Leistungen zu drei Viertel ausschließlich von Müttern und zu einem Viertel auch von Vätern in Anspruch genommen werden, jedoch weit überwiegend begrenzt auf die kurze Dauer der zwei Vätermonate. Seit 2008 erhöht sich aber der Väteranteil kontinuierlich – von 17,7 % (Geburtsjahr des Kindes 2008) bis auf 26,2 % (Geburtsjahr des Kindes 2014). Die Beteiligungsquote der Väter erhöht sich, wenn der Elterngeldbezug aus der Perspektive der Kinder betrachtet wird. Demnach haben etwa ein Drittel aller Väter, deren Kinder im Jahr 2014 geboren wurden, Elterngeld bezogen.

Geldleistungen der Familienpolitik und Familienleistungsausgleich

6.3

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Ausbildungsfinanzierung und Ausbildungsförderung

Für die Eltern bzw. für die Schüler:innen und Studierenden selber treten gesteigerte finanzielle Belastungen auf, wenn weiterführende Bildungseinrichtungen besucht werden. Wenn es aber gesellschaftspolitisches Ziel ist, es jedem Kind unabhängig von der eigenen und der finanziellen Lage des Elternhauses zu ermöglichen, entsprechend seiner Neigung, Eignung und Leistung eine qualifizierte Ausbildung aufzunehmen und erfolgreich zu beenden, bedarf es spezifischer Transfers, die über das allgemeine Kindergeld hinausreichen und zur Abdeckung des Lebensunterhalts (Verpflegung, Unterkunft u. a.) sowie der Ausbildungskosten (Lehr- und Lernmaterial) dienen (vgl. dazu ausführlich Kapitel „Qualifikation“, Pkt. 8.3). 6.4

Ehebezogene Leistungen

6.4.1 Abgeleitete soziale Sicherung in der Sozialversicherung

Obgleich Familie und Ehe nicht gleichgesetzt werden können, geht die Sozial- und Familienpolitik bei einer Reihe von Leistungen aber immer noch von dieser Gleichsetzung aus. Insbesondere die Sozialversicherung baut in ihren Grundstrukturen auf dem traditionellen, durch die Hausfrauenehe bestimmten Familienmodell auf und regelt die soziale Sicherung der Ehefrau als eine vom Mann abgeleitete Sicherung. Die wichtigsten Regelungen von abgeleiteten Sozialversicherungsansprüchen finden sich im Bereich der Rentenversicherung (Witwenrente) und der Krankenversicherung (beitragsfreie Mitversicherung der Frau im Rahmen der Familienhilfe). Einen Anspruch haben auch die Ehemänner, wenn ihre Frau versichert ist. Witwenrente/Witwerrente Stirbt der Mann und hat die Witwe ein bestimmtes Alter erreicht, so zahlt die Rentenversicherung der Witwe eine Hinterbliebenenrente als Unterhaltsersatzleistung in Höhe von in der Regel 55 % der gesamten Rentenanwartschaften des Ehemannes. Dieser Anspruch auf eine Hinterbliebenenrente steht grundsätzlich auch dem Witwer zu. Auf die Hinterbliebenenrente werden eigenes Erwerbs- und Erwerbsersatzeinkommen oberhalb eines Freibetrages zu 40 % angerechnet (vgl. Kapitel „Alter“, Pkt. 6.4.3). Familienhilfe in der Krankenversicherung Nicht erwerbstätige oder nur geringfügig beschäftigte Ehefrauen/Ehemänner sind in der gesetzlichen Krankenversicherung und in der sozialen Pflegeversicherung ihres Mannes/ihrer Frau kostenfrei mitversichert und erhalten im Rahmen der Familienhilfe bis auf das Krankengeld alle Leistungen. Witwenrente und kostenfreie Mitversicherung der nicht erwerbstätigen Ehefrauen in der Krankenversicherung sind hinsichtlich ihrer finanziellen Dimensionen we-

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Familie und Kinder

sentliche Elemente der Familienpolitik. In dem Maße allerdings, in dem die Zahl der Alleinerziehenden steigt, ein wachsender Teil verheirateter Frauen kinderlos bleibt und sich auch für die verheirateten Mütter die Phase der Kindererziehung verkürzt, stellt sich die Frage nach der Sinnhaftigkeit einer rein eheorientierten und nicht kinderorientierten Förderung. Die Ausgaben für die Witwenrente und für die Familienhilfe in der Krankenversicherung werden weit überwiegend durch die Beitragszahlungen der Beschäftigten finanziert, nicht zuletzt durch die Zahlungen erwerbstätiger Frauen und Mütter. Wenn sich ein Paar entscheidet, dass ein Partner – in der Regel die Frau – nicht erwerbstätig ist, so ist schwerlich zu begründen, warum die Kosten der abgeleiteten sozialen Sicherung der Ehefrau auch dann von allen Beitragszahlern übernommen werden müssen, wenn keine Kinder (mehr) zu versorgen sind. Eine alleinerziehend erwerbstätige Mutter muss hingegen von ihrem Arbeitseinkommen volle Sozialversicherungsbeiträge bezahlen und im Alter mit einer Rente auskommen, die u. U. niedriger liegt als eine Witwenrente, die aus dem hohen Einkommen eines Mannes abgeleitet ist. Reformdebatten in der Rentenversicherung zielen insofern auf die Frage nach einer Einschränkung abgeleiteter und einem Ausbau eigenständiger Sicherungsansprüche von Frauen (vgl. Kapitel „Alter“, Pkt. 13.3). 6.4.2 Ehegattensplitting im Steuerrecht

Die Probleme einer eheorientierten Familienförderung zeigen sich am deutlichsten im Steuerrecht: Bei der Besteuerung werden die Ehepartner nicht individuell, sondern gemeinsam veranlagt. Jeder Partner wird so behandelt, als habe er vom Gesamteinkommen genau die Hälfte verdient. Das so gesplittete Einkommen wird jeweils nach dem Steuersatz für Ledige versteuert; der Steuerbetrag wird dann verdoppelt, so dass sich die Gesamtsteuerschuld ergibt. Progressionsbedingt (aber auch als Folge des doppelt berechneten Grundfreibetrages) ergeben sich dadurch erhebliche finanzielle Vorteile, denn die Steuerschuld von zwei halben Einkommen ist geringer als die eines Gesamteinkommens in der gleichen Höhe. Die Vorteile werden dabei umso größer, •

je größer der Unterschied zwischen den Einkommen der beiden Ehepartner ist. Besonders günstig wirkt es sich aus, wenn die Ehefrau überhaupt nicht arbeitet und kein eigenes Einkommen bezieht, während sich die Vorteile umso mehr begrenzen, je mehr die Frau verdient. • je höher das Einkommen des Alleinverdieners ist. Im Jahr 2018 betrug der maximale Splittingvorteil, aufgrund der „Reichensteuer“, 17 710 Euro im Jahr und wurde ab einem zu versteuernden Jahreseinkommen von 508 894 Euro erzielt. Da die Entlastung allein am juristischen Tatbestand „Ehe“ anknüpft, tritt sie auch dann ein, wenn keine Kinder zu versorgen sind oder die Kinder bereits das Haus ver-

Geldleistungen der Familienpolitik und Familienleistungsausgleich

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lassen haben. Ziel des Splittings ist es, das Einkommen von Ehepaaren gleich zu besteuern – unabhängig von der Verteilung der Einkommen auf die Partner. Alle Ehepaare mit gleichen Einkommen unterliegen der gleichen steuerlichen Belastung. Ausgeschlossen vom Splittingvorteil werden demgegenüber alleinstehende Mütter sowie alle Familien mit Niedrigeinkommen, die keine oder nur sehr wenig Steuern bezahlen müssen und insofern nicht von Steuerentlastungen profitieren können. Aber gerade in der Familiengründungsphase liegen die Erwerbseinkommen sowie die pro-Kopf-Haushaltseinkommen besonders niedrig. 6.5

Unterhaltsvorschuss

Dem Problem, dass Alleinerziehende den ihnen zustehenden Kindesunterhalt häufig nicht, nicht ausreichend oder nicht regelmäßig erhalten, soll durch Unterhaltsvorschussleistungen begegnet werden. Unterhaltsvorschuss nach dem Unterhaltsvorschussgesetz steht Kindern unter 18 Jahren zu, die mit ihrem alleinstehenden Elternteil zusammenleben und keinen oder keinen regelmäßigen Unterhalt von dem anderen Elternteil erhalten. Hierbei gibt es keine Einkommensgrenze für den alleinerziehenden Elternteil. Ein gerichtliches Unterhaltsurteil gegen den anderen Elternteil ist nicht erforderlich. Ist der andere Elternteil ganz oder teilweise leistungsfähig, wird er vom Staat in Höhe des gezahlten Unterhaltsvorschusses in Anspruch genommen. Die Leistungen werden als vorrangige Leistungen auf die Grundsicherung angerechnet. Bei der Gestaltung der Unterhaltsvorschussleistungen hat der Gesetzgeber dabei eindeutig zum Ausdruck gebracht, dass die Leistung nicht als Unterhaltsausfallgarantie für Kinder bis zu deren wirtschaftlicher Selbstständigkeit konzipiert ist, sondern lediglich in besonders schwierigen Lebens- und Erziehungssituationen helfen will. Der monatliche Unterhaltsvorschuss beträgt (2020) • • •

für Kinder unter 6 Jahren bis zu 165 Euro, für Kinder zwischen 7 und 11 Jahren bis zu 220 Euro, für Kinder zwischen 12 und 17 Jahren bis zu 293 Euro.

Die Zahl der Kinder, die Unterhaltsvorschuss beziehen, ist in den letzten Jahren kontinuierlich angestiegen. 2018 waren es rund 714 000, über 90 % wohnten bei ihren Müttern. Die Finanzierung erfolgt zu 60 % durch die Länder und die Kommunen und zu 40 % durch den Bund. Die Gesamtausgaben beliefen sich 2018 auf rund 1,1 Mrd. Euro. Das Unterhaltsvorschussgesetz wird im Auftrag des Bundes von den Ländern ausgeführt, sie haben die Unterhaltsvorschusskassen den kommunalen Jugendämtern zugeordnet. Der Anspruch auf Unterhalt gegenüber dem nicht zahlungswilligen Unterhaltspflichtigen geht auf das Land über. Gelingt der Rückgriff, ist es durch die Klärung der Rechtslage leichter, auch dann regelmäßig Unterhalt vom Zahlungs-

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Familie und Kinder

pflichtigen zu bekommen, wenn der Staat nicht mehr eintritt. Tatsächlich treiben die Länder und die Kommunen jedoch nur einen kleinen Teil der Leistungen von den Unterhaltspflichtigen ein, sei es, weil die Unterhaltspflichtigen zahlungsunfähig sind oder weil sie sich der Zahlungspflicht entziehen oder weil die Jugendämter wenig energisch auftreten. Schätzungen gehen von einer Rückholquote von lediglich 15 bis 20 % aus. 6.6

Die familienpolitischen Leistungen im Überblick

Versucht man die finanziellen Volumina aller einzelnen Leistungen zu beziffern, die der Familienpolitik zugerechnet werden können, ergeben sich statistische Probleme. Die Datenlage ist nicht immer ausreichend, da viele Positionen im Sozialbudget überhaupt nicht oder nicht gesondert ausgewiesen werden (vgl. Kapitel „Ökonomische Grundlagen und Finanzierung“, Pkt. 2). Dies trifft insbesondere auf die steuerlichen Entlastungen zu sowie auf die spezifischen Kinderkomponenten innerhalb der einzelnen Sozial- und Sozialversicherungsleistungen. Aufgrund dieser Unklarheit lassen sich in Übersicht X.1 die einzelnen Leistungen nicht in Euro-Beträge beziffern. Im Sozialbudget machten im Jahre 2018 die dem Funktionsbereich „Kinder“ zugeordneten Leistungen einen Betrag von 105 Mrd. Euro aus. Dies entspricht einem Anteil am gesamten Sozialbudget von 11 % und einem Anteil am Bruttoinlandsprodukt von 3,1 %. Nicht enthalten sind in diesen Beträgen u. a. die Ausgaben für die Witwen-/Witwerrenten, für die rentenrechtliche Anerkennung von Kindererziehungszeiten sowie die Steuermindereinnahmen durch das Ehegattensplitting. Die größten ausgewiesenen Ausgabenposten beziehen sich auf folgende Bereiche (Sozialbudget für 2018): • • • •

Kindergeld/steuerlicher Familienleistungsausgleich Elterngeld Ausbildungsförderung Kinder- und Jugendhilfe/Tageseinrichtungen für Kinder

46 Mrd. Euro, 7,3 Mrd. Euro, 2,2 Mrd. Euro, 46,2 Mrd. Euro.

Die Steuermindereinnahmen durch das Ehegattensplitting summieren sich auf 22,6 Mrd. Euro. Vom Splitting profitieren nur 59 % Ehepaare, die steuerlich zu berücksichtigende Kinder haben. Sollen die öffentlichen Aufwendungen für Kinder bzw. die Entlastungen der Eltern umfassend eingeschätzt werden, dürfen auch die Realtransfers nicht unberücksichtigt bleiben, die im weitgehend öffentlich finanzierten und kostenfrei bereitgestellten Bildungswesen anfallen. Das betrifft die Ausgaben für Schulen und Hochschulen, die hauptsächlich von den Ländern, aber ergänzend auch vom Bund aufgebracht werden müssen.

Geldleistungen der Familienpolitik und Familienleistungsausgleich

Übersicht X.1 Ausgewählte familienpolitische Leistungen Direkte Transfers aus öffentlichen Haushalten: • • • • • • • • • • •

Ausbildungsförderung (ohne Darlehen) Elterngeld und ElterngeldPlus Kinder in der Grundsicherung/Sozialgeld und anteilige Kosten der Unterkunft Mehrbedarfszuschläge für Alleinerziehende bei der Grundsicherung Kinderzuschlag Beiträge des Bundes für Kindererziehungszeiten an die GRV Familienzuschläge im öffentlichen Dienst Berücksichtigung von Kindern beim Anspruch auf Wohngeld Familienkomponente beim sozialen Wohnungsbau Unterhaltsvorschuss Geldleistungen der Kinder- und Jugendhilfe

Steuerliche Förderung: • • • • • • • •

Familienleistungsausgleich: Kindergeld/Kinderfreibeträge Ausbildungsfreibetrag Absetzbarkeit von Unterhaltsaufwendungen Absetzbarkeit von Kinderbetreuungskosten/Sonderausgaben Entlastungsfreibetrag für Alleinerziehende Absetzbarkeit der Aufwendungen für haushaltsnahe Dienstleistungen Kinderzulage beim Aufbau einer privaten Altersvorsorge (Riester-Rente) Ehegattensplitting

Leistungen im Rahmen der Sozialversicherung: • • • • • • • • •

Familienhilfe in der Kranken- und Pflegeversicherung Sachleistungen der GKV bei Schwangerschaft Waisenrenten in der Renten- und Unfallversicherung Mutterschaftsgeld Kinderkomponente beim Arbeitslosengeld Berufsausbildungsbeihilfen SGB IIII Krankengeld bei Erkrankung eines Kindes Beitragsreduzierung für Versicherte mit Kindern in der Pflegeversicherung Gesetzlicher Unfallschutz für Kitakinder, Schüler und Studenten

Sachleistungen: • Tageseinrichtungen für Kinder • Leistungen für Bildung und Teilhabe

893

894

Familie und Kinder

7

Vereinbarkeit von Beruf und Familie

7.1

Phasenerwerbstätigkeit oder Parallelität von Beruf und Familie ?

Während über viele Jahre hinweg in den alten Bundesländern die mehrjährige Berufsunterbrechung von Frauen nach der Geburt ihrer Kinder als Leitbild vertreten worden ist, setzt seit etwa der Jahrtausendwende ein Paradigmenwechsel in der Familienpolitik ein: Vor dem Hintergrund des demografischen Wandels und des zu erwartenden rückläufigen Erwerbspersonenpotenzials ist die Aufgabe der Vereinbarkeit von Beruf und Familie in den Mittelpunkt der Familienpolitik gerückt. Auf eine Erwerbsbeteiligung von Frauen auch während der Erziehungsphase soll nicht länger verzichtet werden. Zugleich wurde offensichtlich, dass die traditionelle Alternative „Kinder oder Beruf “ eine zentrale Ursache für niedrige Geburtenrate darstellte. Als Vorbild dienten hingegen die Verhältnisse in den skandinavischen Ländern, denn hier zeigte sich, dass eine gelingende Vereinbarkeit die Entscheidung für ein Leben mit Kindern positiv beeinflusst und dass die zwei Lebensbereiche, nämlich Kinder und Familie einerseits und Teilhabe an der Erwerbsarbeit und Anspruch auf beruflichen Erfolg andererseits, nicht alternativ zueinander stehen, sondern in Übereinstimmung gebracht werden müssen. Dieser Paradigmenwechsel orientierte sich allerdings einseitig auf die Lebensund Erwerbsmuster von Frauen. Die Aufgabe, auch Männer gleichberechtigt oder zumindest stärker an der Haus- und Erziehungsarbeit zu beteiligen, erweist sich bis heute als sehr viel schwieriger. Hinzu kommt, dass die Frage der Vereinbarkeit nahezu ausschließlich auf die Betreuung von Kindern bezogen wurde. Erst seit einigen Jahren ist angesichts der Zunahme von Pflegebedürftigkeit von älteren Angehörigen die Vereinbarkeit von Beruf und häuslichen Pflegeverpflichtungen zu einem wichtigen sozialpolitischen Thema geworden (vgl. Kapitel „Pflegebedürftigkeit und Pflege“, Pkt. 3). Wenn nach Maßnahmen gefragt wird, um Berufstätigkeit und Familienaufgaben in Einklang bringen zu können, muss verdeutlicht werden, was unter „Vereinbarkeit“ konkret verstanden wird. Idealtypisch lassen sich zwei Konzepte unterscheiden: • Vereinbarkeit kann als das zeitliche Nacheinander von Beruf und Familie verstanden werden (sukzessive Vereinbarkeit). Werden Kinder geboren, dann unterbricht die Mutter zunächst ihre Berufstätigkeit, um sich ganz den Kindern widmen zu können. Nach diesem Modell der Phasenerwerbstätigkeit erfolgt der berufliche Wiedereinstieg dann, wenn die Kinder älter sind. • Vereinbarkeit im eigentlichen Sinne bezieht sich auf das zeitliche Nebeneinander von Beruf und Familie (parallele Vereinbarkeit): Danach nimmt die Mutter schon bald nach der Geburt des Kindes ihre Berufstätigkeit wieder auf, berufliche und familiäre Aufgaben und Zeitanforderungen müssen laufend abgestimmt werden. Dieses Muster gilt analog für erwerbstätige Frauen, die neben ihrer beruflichen Verpflichtung mit häuslichen Pflegeaufgaben betraut sind.

Vereinbarkeit von Beruf und Familie

895

Die Unterschiede zwischen diesen beiden Modellen sind fließend, maßgebliches Kriterium ist, wie lange die berufliche Unterbrechungsphase andauert bzw. ab welchem Alter des Kindes die Berufstätigkeit wieder aufgenommen wird. Dies hängt nicht zuletzt von der Zahl der Kinder ab, die zu versorgen und zu betreuen sind. Von einer Phasenerwerbstätigkeit ist dann auszugehen, wenn die Kinder das Kindergartenalter (3 Jahre) oder Schulalter (6 Jahre) erreicht haben; von einer parallelen Vereinbarkeit kann gesprochen werden, wenn die Unterbrechung deutlich kürzer ausfällt. Bei beiden Modellen können folgende Konstellationen unterschieden werden: • • •

Für die Versorgung und Erziehung der Kinder ist die Mutter zuständig, ihre Berufstätigkeit basiert auf Teilzeitarbeit oder geringfügiger Beschäftigung. Der Vater hingegen ist und bleibt vollzeitig berufstätig. Beide Elternteile sind vollzeitig erwerbstätig, die Kinderbetreuung wird in einem hohen Maße von anderen Personen und Institutionen übernommen. Die Mutter wie auch der Vater reduzieren beide (oder auch abwechselnd) ihre Erwerbsarbeitszeit und beteiligen sich gleichberechtigt an der Betreuungs-, Erziehungs- und Hausarbeit.

Aus diesen idealtypischen Konzepten, die sich in der Realität überlagern und vermischen können, ergeben sich unterschiedliche Konsequenzen für die Ausgestaltung von Sozial-, Familien- und Arbeitspolitik: Das Phasenmodell basiert auf der geschlechtsspezifischen Arbeits- und Rollenteilung. Während die Frau die Haus- und Erziehungsarbeit übernimmt, kann sich der Mann weiterhin voll auf die Berufstätigkeit und den Einkommenserwerb konzentrieren. Da die Berufsrückkehr der Frau erst dann erfolgt, wenn die Kinder älter sind und sich auch für das letzte Kind der Betreuungs- und Versorgungsaufwand reduziert hat, wird das Erwerbssystem von den besonderen Schwierigkeiten und Zeitbedarfen, die mit der Pflege und Betreuung gerade jüngerer Kinder verbunden sind, nicht berührt. Auch der Bedarf an Diensten und Einrichtungen zur familienergänzenden Betreuung von Kleinkindern bleibt begrenzt. Dieses Modell funktioniert allerdings nur dann, wenn der Lebensunterhalt der Frau und ihre Versorgung im Alter durch die Ehe abgesichert ist, der Verdienst des die Ernährerfunktion übernehmenden Ehemannes ausreichend hoch ist und das Haushaltseinkommen zusätzlich durch familienpolitische Transfers und/oder steuerliche Entlastungen aufgestockt wird. Diese Voraussetzungen sind jedoch nicht automatisch gegeben, für ledige Mütter und für Mütter nach Trennung und Scheidung treffen sie ohnehin nicht zu. Je länger die Unterbrechungsphase andauert, umso mehr kommt es zu Problemen beim beruflichen Wiedereinstieg, da Gefahr besteht, dass sich die erworbenen Qualifikationen entwerten und Arbeitslosigkeit oder unterwertige Beschäftigung drohen. Wenn aus der Phasenunterbrechung keine dauerhafte Ausgrenzung vom Arbeitsmarkt werden soll, werden besondere Wiedereingliederungs- und Qualifizierungsmaßnahmen im Rahmen der Arbeitsmarktpolitik erforderlich.

896

Familie und Kinder

Der Ansatz, Erwerbstätigkeit und Kindererziehung weitgehend zeitlich parallel zu praktizieren, vergrößert die Chancen einer gleichberechtigten Teilhabe der Frauen auf dem Arbeitsmarkt und entlastet die Männer von ihrer Ernährerrolle. Auch sind die materiellen und sozialen Voraussetzungen für den Familienhaushalt insgesamt, aber auch für die Frau selbst entschieden besser. Dazu bedarf es eines verlässlichen Angebotes an Diensten und Einrichtungen zur Betreuung und Erziehung der Kinder Aber solange die Berufstätigkeit der Mütter auf Teilzeitbasis beruht und ihr Erwerbseinkommen nur den Charakter eines Zuverdienstes hat, bleibt die Abhängigkeit vom Einkommen des Mannes; die Versorgerehe wird modifiziert, aber nicht überwunden. Auch bleiben die beruflichen Entwicklungsperspektiven für die Mütter begrenzt. Wenn beide Elternteile die Pflege-, Erziehungs- und Hausarbeit weitgehend gleichmäßig untereinander aufteilen und ihre beruflichen Arbeitszeiten an die familiären Anforderungen anpassen, ist ein umfassendes und zeitlich flexibles Angebot an Kinderbetreuungseinrichtungen ebenfalls unabdingbar. Zugleich wird die Arbeitswelt mit den familiären Zeitstrukturen und Verpflichtungen von Müttern und Vätern, d. h. mit den Zeitbedarfen von Kindern und den Eventualitäten des Familienalltags, konfrontiert. Das auf männliche Lebensmuster und Biographien zugeschnittene Normalarbeitsverhältnis steht unter diesen Bedingungen unter einem erheblichen Anpassungs- und Veränderungsdruck. 7.2

Erwerbstätigkeit von Müttern und Vätern

Fragt man nach den tatsächlich praktizierten Vereinbarkeitsmustern in Deutschland, so ist zu berücksichtigen, dass in der DDR schon immer das Parallelitätsmodell maßgebend war. Demgegenüber war es in den alten Bundesländern normal, dass Frauen nach der Geburt des Kindes ihre Erwerbstätigkeit für einen längeren Zeitraum unterbrechen oder gar gänzlich aufgeben. Auch begrenzte sich die vorschulische, außerhäusliche Betreuung der Kinder auf die Altersspanne zwischen 3 und 6 Jahren. Die dreijährige Elternzeit und die rentenrechtliche Anerkennung von Kindererziehungszeiten von drei Jahren je Kind, steckten die zeitlichen Vorgaben ab. Erst spät setzte sich die Erkenntnis durch, dass gerade kleinere Kinder durch den Besuch einer Kindertagesstätte in ihrer Entwicklung gefördert werden. Durch die Flexibilisierung der Elternzeit und die Ausweitung des Rechtsanspruchs auf einen Kita-Platz auch für Kinder unter drei Jahren deutet sich aber an, dass die Möglichkeiten für eine deutlich frühere Berufsrückkehr verbessert werden sollen. In dem Maße, wie sich Erziehungsphase und Erwerbsunterbrechung verkürzen, verwischen sich auch die Trennlinien zwischen dem Phasen- und Parallelitätsmodell. Denn auch Kinder, die das dritte Lebensjahr vollendet haben, benötigen noch ein hohes Maß an Betreuung, was Tageseinrichtungen für Kinder ebenso erforderlich macht wie eine Familienorientierung der Arbeitswelt, wenn ab diesem Alter die Arbeit wieder aufgenommen werden soll.

Vereinbarkeit von Beruf und Familie

897

Erwerbsbeteiligung nach Alter und Zahl der Kinder Die empirischen Befunde bestätigen die Aussage, dass die Erwerbsbeteiligung von Müttern in hohem Maße vom Alter ihrer Kinder abhängig ist. Mütter von Kindern unter drei Jahren waren 2018 zu knapp einem Drittel erwerbstätig, wobei von dieser Gruppe wiederum mehr als zwei Drittel in Teilzeit arbeiteten (vgl. Abbildung X.12). Sobald das jüngste Kind im Kindergartenalter zwischen 3 und 6 Jahren ist, steigt die Erwerbstätigenquote auf über 50 % an, allerdings arbeiten lediglich ca.18 % in Vollzeit. Während die Teilzeitquote bis zur Volljährigkeit des jüngsten Kindes zwischen 44 % und 51 % variiert, wächst mit zunehmendem Alter des Kindes die Vollzeitquote der Mütter zwar kontinuierlich an, erreicht aber lediglich einen Höchstwert von rund 30 % (Kinder zwischen 15 bis unter 18 Jahre). Die Bedeutung von Teilzeitarbeit dürfte in der Realität noch größer als hier ausgewiesen sein, da die amtliche Statistik (hier der Mikrozensus) die Zahl der geringfügig Teilzeitbeschäftigten nur teilweise erfasst. Dass Vollzeitarbeit für Väter nach wie vor die Regel darstellt, zeigt die Betrachtung von deren Erwerbsbeteiligung, die so gut wie keine Abhängigkeit vom Lebensalter der Kinder aufweist.

Abbildung X.12 Erwerbstätigenquoten von Müttern und Vätern nach Alter des jüngsten Kindes 2018, Voll-/Teilzeittätigkeit

3,8

79,7

4,4

80,3

4,8

79,8

5,2

79,6

5,1

44,4

30,1

48,8

25,3

50,5

20,1

47,1

18,2

75,1

Teilzeittätige2)

Jüngstes Kind im Alter von ... bis unter ... Jahre

Mütter

Väter

9,6

Vollzeittätige2)

10–15 J.

6–10 J.

3–6 J.

unter 3 J.

22,7

Vollzeittätige2)

15–18 J.

Teilzeittätige2)

1) Mütter, Väter: Elternteile im erwerbsfähigen Alter mit im Haushalt lebendem jüngstem Kind unter 18 Jahren, auch Stief-, Pflege- und Adoptivkind. 2) Vollzeit-, Teilzeittätige: Selbsteinstufung der Befragten; ohne vorübergehend Beurlaubte (z. B. wg. Mutterschutz, Elternzeit) Quelle: Statistisches Bundesamt (2019), Destatis Datenbank, Ergebnisse des Mikrozensus, eigene Berechnungen

898

Familie und Kinder

Ausmaß der Müttererwerbstätigkeit wie auch Arbeitszeitwahl hängen neben dem Alter des Kindes auch von der Zahl der Kinder ab. Bei einem Kind (unter 18 Jahren) erreicht im Jahr 2018 die Erwerbstätigenquote einen Wert von gut 63 % in den alten und von 70 % in den neuen Bundesländern. Bei drei und mehr Kindern sinken die Quoten auf unter 50 % (vgl. Abbildung X.13). Insgesamt ergeben sich für die Müttererwerbstätigkeit in Deutschland folgende Trendaussagen (2018): • •

Die Beteiligung am Erwerbsleben sinkt mit der Zahl der zu versorgenden Kinder. Bei Kindern unter 3 Jahren dominiert die Unterbrechung der Berufstätigkeit bzw. die Inanspruchnahme der Elternzeit. • Mit dem Alter der Kinder steigt dann der Anteil der erwerbstätigen Mütter. • Weit überwiegend handelt es sich um Teilzeitarbeit, Vollzeitarbeit ist die Ausnahme. • Verändert sich mit der Geburt eines Kindes der Erwerbsverlauf von Frauen grundlegend, so ist dies für das Erwerbsverhalten der Väter nicht von Bedeutung.

Abbildung X.13 Erwerbstätigenquoten von Müttern nach Zahl der Kinder 2018, Voll-/Teilzeittätigkeit

mit 3 und mehr Kindern

27,6

18,2

mit 2 Kindern

Neue Bundesländer

34,9

34,6

mit 1 Kind

29,0

40,9

Vollzeitquoten1)

mit 3 und mehr Kindern

Teilzeitquoten1)

mit 2 Kindern

48,7

16,8

mit 1 Kind

Alte Bundesländer

37,2

11,3

39,7

23,6

0

10

20

30

40

50

60

Quelle: Statistisches Bundesamt (2019), Mikrozensus - Arbeitstabellen, eigene Berechnungen.

70

80

Kinderbetreuung

899

Familiäre Unterstützung Untersuchungen kommen immer wieder zu dem Ergebnis, dass der zunehmenden Erwerbsintegration von Frauen keine dem entsprechende Familienintegration der Männer folgt und dass der größte Teil der Hausarbeit und der Zeit für Kinderbetreuung auf Frauen entfällt. Zwar sind bei jüngeren Männern Verhaltensänderungen nicht zu übersehen, aber wenn Kinder geboren werden und die Frauen ihre Arbeitszeiten den Anforderungen der Kinderbetreuung anpassen, kommt es doch wieder zu einer deutlichen Belebung der traditionellen familiären Aufgabenverteilung und zu einer Verringerung der Mithilfe der Männer bei der Hausarbeit. Der Rückgriff auf das Hilfs- und Unterstützungspotential der Herkunftsfamilie, d. h. vor allem auf die Hilfe der Großeltern, ist nach wie vor ein unverzichtbares Element der alltäglichen Bewältigung eines Lebens mit Kindern. Großmütter stellen gerade in Notsituationen (Krankheiten, Ausfall der öffentlichen Versorgungseinrichtung) oftmals den letzten Rettungsanker dar. Auch entwickeln sich durch die Einbindung der Familien in das soziale und nachbarschaftliche Umfeld informelle Netzwerke und Unterstützungsstrukturen, die wechselseitige Hilfeleistungen bei der Betreuung von Kindern möglich machen. Pflege von Angehörigen Auch im Falle der häuslichen Altenpflege durch jene Frauen (zumeist Töchter und Schwiegertöchter) im noch erwerbsfähigen Alter lassen sich zwei idealtypische Verhaltensmuster unterscheiden: entweder (auch zeitlich eingeschränkte) parallele Berufstätigkeit oder Nichterwerbstätigkeit. Ersteres trifft insbesondere auf höher qualifizierte und/oder besser verdienende Frauen zu. Vor allem in der Anfangsphase wird – oftmals auch unter Zuhilfenahme von professioneller Hilfe – versucht, entweder die Erwerbsarbeit ganz aufrecht zu erhalten oder – wenn dies nicht (mehr) möglich ist – auf Teilzeit oder andere Kurzarbeitszeitformen auszuweichen oder sonst wie die Arbeitszeit zu flexibilisieren (vgl. Kapitel „Pflege“, Pkt. 3).

8

Kinderbetreuung

8.1

Tageseinrichtungen für Kinder

Familienpolitik muss die unterschiedlichen Wünsche und Vorstellungen von Eltern hinsichtlich der Vereinbarkeit von Beruf und Familie respektieren. Sie bietet aber nur dann die Voraussetzungen für eine wirkliche Wahlfreiheit, wenn sie die parallele Vereinbarkeit fördert und lebbar macht. Die Zielsetzung, auch nach der Geburt von Kindern erwerbstätig sein und bleiben zu können und sich beruflich fortzuentwickeln, setzt voraus, für alle Altersgruppen der Kinder ein bedarfsgerechtes Angebot an Tageseinrichtungen mit arbeitszeitangepassten Öffnungszeiten bereitzustellen. Insbesondere alleinerziehende Mütter, die ein eigenes Erwerbseinkommen erzielen und

900

Familie und Kinder

nicht langfristig auf den Grundsicherungsbezug verwiesen sein wollen, sind zwingend auf ein solches Angebot angewiesen. Einrichtungen der Betreuung von Kindern sind jedoch mehr als ein Entlastungsangebot für berufstätige Eltern. Sie haben einen expliziten Erziehungs- und Bildungsauftrag und sind angesichts des Wandels familiärer Lebensformen, geänderter Lebenswelten von Kindern und steigender Bildungsanforderungen Ausdruck der gesellschaftlichen Verantwortung für die Gewährleistung angemessener Sozialisationsbedingungen für Kinder. Räume für Kinder stellen sich nicht mehr automatisch her. Kindertageseinrichtungen können den Kindern Lebenserfahrungen ermöglichen, die sie früher außerhalb der Aufsicht von Erwachsenen mit Geschwistern, in der Nachbarschaft machen konnten. Kinder brauchen nicht nur Erfahrungsräume außerhalb der (Klein-)Familie, d. h. den Lern- und Spielzusammenhang mit anderen Kindern, sondern auch in familiären Krisensituationen stützende und verlässliche Gruppen. Insofern ist die öffentlich geförderte Kinderbetreuung nicht lediglich ein Ersatz für familiäre Erziehungsleistungen. Vielmehr kommt ihnen neben einem expliziten Bildungsauftrag auch die Funktion zu, ein Instrument zur Herstellung von mehr Chancengleichheit zu sein. Wenn es aufgrund der demografischen Entwicklung und der Binnenwanderung der Bevölkerung dazu kommt, dass in ländlichen Regionen, aber auch in einzelnen Bezirken und Quartieren von Städten, Familienhaushalte und damit Kinder nur noch selten zu finden sind (vgl. Pkt. 4.1 dieses Kapitels), besteht Gefahr einer „Verinselung“ von Kindheit und Jugend. Auch deshalb bedarf es des Ausbaus und der Gestaltung organisierter Begegnungsorte für Kinder. Insofern sind Tageseinrichtungen für Kinder und Ganztagsschulen nicht nur ein Angebot zur besseren Vereinbarkeit von Beruf und Familie und zur Bildungsförderung, sondern aus der Perspektive der Kinder auch ein zentrales Element zur Schaffung und Sicherung einer Lebenswelt, die die Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen berücksichtigt. Das in der Bundesrepublik realisierte Angebot an öffentlichen Kinderbetreuungseinrichtungen für Kinder aller Altersstufen wird durch das Kinder- und Jugendhilfegesetz normiert und ist in der Durchführung und Finanzierung Aufgabe der Länder und Gemeinden. Das Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG/SGB VIII) setzt die bundeseinheitlichen Rahmenbedingungen, in den landesrechtlichen Ausführungsgesetzen werden die konkreten Bestimmungen festgelegt. Träger der Einrichtungen sind erst nachrangig die Kommunen. Dem Subsidiaritätsprinzip entsprechend kommt dabei den Angeboten der Kirchen und Wohlfahrtsverbände der Vorrang zu (vgl. Kapitel „Soziale Dienste“, Pkt. 3.2.2). Knapp zwei Drittel der Plätze werden von freien Trägern bereitgestellt (vgl. Abbildung X.14). Dazu zählen auch privatwirtschaftliche Einrichtungen von Betrieben oder gewerblichen Anbietern. Die Planungsaufgaben für die Versorgungsangebote liegen bei den kommunalen Jugendämtern. Finanziert werden die Bau- und Betriebskosten der Einrichtungen durch die Kommunen, die jeweiligen Länder und auch der Bund gewähren Zuschüsse. Von den freien Trägern werden Eigenleistungen erwartet.

Kinderbetreuung

901

Abbildung X.14 Trägerschaft der Tageseinrichtungen für Kinder 2019 32.278 Tageseinrichtungen

mit 3.499.206 Kindern/Plätzen

100%

90%

80%

32,7%

36,8%

70%

60%

50%

40%

30%

67,2%

63,2%

20%

10%

0%

Tageseinrichtungen

Kinder/Plätze

Quelle: Statistisches Bundesamt (2019), Statistiken der Kinder- und Jugendhilfe.

Der Begriff „Tageseinrichtungen für Kinder“ gilt als Oberbegriff für verschiedene Arten und Formen von Einrichtungen, die allesamt die Familien ergänzende Betreuung, Bildung und Erziehung der Kinder zur Aufgabe haben. Je nach Bundesland ergibt sich ein sehr unterschiedliches Bild der Versorgungsstruktur, erschwert wird ein Überblick durch abweichende Begriffe, die die jeweiligen Einrichtungen tragen. Rechtsansprüche auf einen Kita-Platz Das SGB XIII sieht einen uneingeschränkten Rechtsanspruch auf einen Platz in einer Tageseinrichtung für Kinder vor. Jedes Kind hat vom vollendeten dritten Lebensjahr an bis zum Schuleintritt Anspruch auf den Besuch eines Kindergartens. Das Gesetz definiert allerdings nicht, welchen Umfang und welche Qualität das Angebot haben muss; auch durch die Bereitstellung eines Halbtagsplatzes ohne Mittagsbetreuung wird der Rechtsanspruch erfüllt. Dieser richtet sich an den Träger der öffentlichen Jugendhilfe, also vor allem an die Kommunen. Die Daten zeigen, dass es in Gesamtdeutschland mittlerweile eine Vollversorgung mit Kindergartenplätzen gibt. Die Besuchsquote von Kindern zwischen drei und sechs Jahren liegt bei etwa 95 %. Allerdings trifft dies nicht für Ganztagsplätze zu. Seit 2013 haben auch Kinder ab Vollendung des ersten Lebensjahres einen Anspruch auf einen Krippenplatz bzw. auf die Betreuung durch eine Tagesmutter. Auch

902

Familie und Kinder

für Kinder, die das erste Lebensjahr noch nicht vollendet haben, können Ansprüche auf einen Krippenplatz geltend gemacht werden, wenn die Eltern berufstätig bzw. arbeitssuchend sind. Die Betreuungsquote für die sog. U3-Kinder lag in den alten Bundesländern für lange Jahre auf einem äußerst niedrigen Niveau und erreichte im Jahr 2002 gerade einmal 2,7 %. In Ostdeutschland waren es demgegenüber 37,0 %. Vor allem in den Jahren nach 2013 ist es in den alten Bundesländern – unterstützt durch Mittel aus dem Bundeshaushalt – zu einem kräftigen Ausbau gekommen. Die Betreuungsquote hat sich zwischen 2007 und 2019 von 9,8 % auf 30,3 % erhöht (vgl. Abbildung X.15). Nicht berücksichtigt sind bei diesen Werten die teilweise erheblichen Abweichungen zwischen einzelnen Bundesländern, Regionen, Städten und Landkreisen. Sowohl die Bedarfslagen unterscheiden sich – im großstädtischen Raum suchen mehr Eltern einen Platz für ihre U3-Kinder, als dies im ländlichen Raum der Fall ist – als auch die Angebote an Einrichtungen und Betreuungsplätzen. In vielen westdeutschen Städten und Gemeinden kann der Rechtsanspruch nicht eingelöst werden. Um Extreme zu benennen: Im Jahr 2017 lag die Betreuungsquote in Duisburg bei nur 16,5 % und

Abbildung X.15 Betreuungsquoten* von Kindern unter 3 Jahren 2007 – 2019, Deutschland, alte und neue Bundesländer in %

52,1

51,8 34,3 29,7

30,3

33,6 28,8

33,1 28,1

32,7

32,9 27,4

2016

2018

2019

24,2

22,3

27,6

28,2

17,3

2015

14,4

12,1 2008

19,8

25,4

23 20,2 17,6

15,5 9,8 2007

29,3

32,3

42

42,4

45,9

51,3

51,8

51,9

51,1

51,8

52,0

Ost

48

West

49

Deutschland

2009

2010

2011

2012

2013

2014

2017

*) Anteil der Kinder, die in einer Tageseinrichtung und in einer öffentlich geförderten Tagespflege betreut werden, an der Gesamtzahl der Kinder des entsprechenden Alters am 01.03. eines Jahres. Quelle: Statistisches Bundesamt (2019), Statistik der Kinder- und Jugendhilfe.

Kinderbetreuung

903

in Wilhelmshaven bei nur 18,9 %. Nicht zufällig sind dies Städte, die unter hoher Arbeitslosigkeit und hohen Haushaltsdefiziten zu leiden haben. Es besteht deshalb unverändert die Notwendigkeit eines weiteren quantitativen wie qualitativen Ausbaus an Einrichtungen und Plätzen, dies betrifft insbesondere die unzureichende Versorgung im Bereich von Ganztagsangeboten (vgl. Abbildung X.16). Fragt man nach der Verbreitung von Ganztagseinrichtungen (mindestens sieben Stunden am Tag, in der Regel von Montag bis Freitag), sieht die Bilanz – vor allem in den alten Bundesländern – wenig positiv aus. Dies gilt für die Betreuung sowohl der Kinder zwischen 3 und 6 Jahren als auch der Kinder unter 3 Jahren. Für die Altersgruppe 3 – 6 Jahre zeigen die Daten für 2018, dass die Ganztagsbetreuungsquoten in Westdeutschland bei knapp 40 % liegen. Kindergärten sind also immer noch zu großen Teilen Halbtagskindergärten. Besonders selten sind Ganztagseinrichtungen in Baden-Württemberg (24,6 %) und Niedersachsen (31,9 %). In den neuen Bundesländern hingegen fällt die Versorgungsquote mit Ganztagskindergärten (mit etwa 74 % im Schnitt) mehr als doppelt so hoch aus. In Thüringen kann mit 91,8 % von einer Vollversorgung gesprochen werden.

80,6

3-6 Jahre

19,0

16,6

50,9

46,8

43,3

24,6

22,5

31,1

43,0

38,7

47,6

52,1

38,3

35,4 16,2

15,1

13,5

10,6

13,0

11,0

24,6

31,9

35,7

46,4

51,4

52,5

60,9

63,0

68,2

0-3 Jahre

82,4

91,8

Abbildung X.16 Ganztagsbetreuungsquoten* von Kindern 2018, Kinder unter 3 Jahren und 3 – 6 Jahre, nach Bundesländern in %

*) Anteil der Kinder, die in einer Ganztageseinrichtung und in einer öffentlich geförderten Ganztagespflege betreut werden, an der Gesamtzahl der Kinder des entsprechenden Alters am 01.03. Quelle: Statistisches Bundesamt (2019), Statistik der Kinder- und Jugendhilfe.

904

Familie und Kinder

Noch bescheidener ist die Versorgung in Krippen mit Ganztagsbetreuungen für die Altersgruppe 0 bis 3 Jahre. In den Flächenländern Westdeutschlands schwanken hier die Betreuungsquoten zwischen 11,0 % (Baden-Württemberg) und 22,5 % (Saarland). Wiederum besser sieht es in den ostdeutschen Ländern aus: Die Betreuungsquoten erreichen Werte zwischen 38,7 % (Brandenburg) und 50,9 % (Thüringen). Die hohe Unterversorgung ist indes nicht allein Folge unzureichender Investitionen für den Bau und die Einrichtung von Kindertagesstätten. Hinzu kommt das Problem, entsprechendes Fachpersonal (Erzieher:innen) zu finden. Zwar ist die Zahl der Beschäftigten erheblich gestiegen und erreicht mit über 752 000 im Jahr 2019 einen Höchstwert, gleichwohl besteht unverändert ein ausgesprochener Fachkräftemangel (vgl. Kapitel „Arbeit und Arbeitsmarkt“, Pkt. 5.5). Allerdings liegt der Bedarf an Betreuungsplätzen für Kinder unter 3 Jahren auch nicht bei 100 %, denn viele Eltern, in aller Regel die Mütter, entscheiden sich für eine ausschließlich familiäre Betreuung ihres Kindes/ihrer Kinder in dieser Altersgruppe. Hinter dieser Entscheidung stehen ganz unterschiedliche Gründe, die eng mit den normativen Vorstellungen in der Gesellschaft über Geschlechterrollen, Müttererwerbstätigkeit und Kleinkinderbetreuung verbunden sind. So gab es zwischen 2013 und 2015 ein Betreuungsgeld für jene Familien, die ihre Kinder im zweiten und dritten Lebensjahr ohne Inanspruchnahme von Kindertagesstätten betreuen. Dadurch sollten Anreize gesetzt werden, Kleinkinder zu Hause und nicht in einer Tagesstätte betreuen zu lassen. Das Betreuungsgeld wurde aufgrund eines Urteils des Bundesverfassungsgerichtes wieder abgeschafft. Jedoch gibt es Nachfolgeregelungen in einzelnen konservativ regierten Bundesländern, so vor allem in Bayern mit dem sog. Familiengeld. Zu berücksichtigen bleibt, dass nicht nur die Nachfrage an Krippenplätzen zu einer Ausweitung des Versorgungsangebots führt, sondern dass auch umgekehrt ein nur geringes Angebot vor Ort an Krippenplätzen die Nachfrage begrenzt bzw. dass ein steigendes Angebot zu einer wachsenden Nachfrage führt. Kita-Gebühren Während ein Schulbesuch prinzipiell kostenfrei ist und auch für ein Hochschulstudium nur noch in einzelnen Fällen Gebühren zu zahlen sind, war und ist die Inanspruchnahme eines Kita-Platzes grundsätzlich kostenpflichtig. Den Eltern werden Gebühren abverlangt, durch die ein Teil der Betriebskosten gedeckt werden soll. Angesichts dieses Widerspruchs des nun auch den Kitas zugewiesenen Erziehungs- und Bildungsauftrags und der Erfahrungen mit der abschreckenden Wirkung von Gebühren gerade bei einkommens- und bildungsschwachen Familien (darunter viele Ausländer:innen), ist es aber auch hier zu einem Umbruch gekommen. Unterstützt durch Mittel aus dem Bundeshaushalt werden die Gebühren abgesenkt oder ganz aufgehoben. Als erstes Bundesland erhebt Berlin seit 2018 überhaupt keine Gebühren mehr. In anderen Bundesländern ist die Situation uneinheitlich, weil die Kommunen über die Gebührenerhebung entscheiden. In Nordrhein-Westfalen etwa gibt es Gemeinden, die keine Gebühren mehr verlangen, die gleiche Gebühren für alle vor-

Kinderbetreuung

905

sehen, die einkommensschwache Eltern freistellen und/oder die die Gebühren nach der Geschwisterzahl staffeln. 8.2

Ergänzende Versorgungsangebote

Kindertagespflege durch Tagesmütter Die Versorgung und Betreuung von Kleinkindern kann auch durch eine Kindertagespflege erfolgen. Sie wird von einer Tagespflegeperson (Tagesmutter) im eigenen Haushalt, im Haushalt der Eltern oder in angemieteten Räumen geleistet. Das Jugendamt oder ein vom Jugendamt beauftragter Fachdienst vermittelt die Kindertagespflege, und unter bestimmten Voraussetzungen trägt das Jugendamt auch die Kosten; dies vor allem dann, wenn das Jugendamt den Rechtsanspruch auf einen Kita-Platz nicht erfüllen kann. Da die anerkannten Pflegegeldsätze niedrig liegen und zudem keine Investitionskosten für den Bau von Einrichtungen anfallen, ist die Tagespflege für die Kommunen kostengünstiger als die Krippenbetreuung. Als vorteilhaft wird auch die familienähnliche und flexibel ausgestaltbare Betreuungskonstellation gesehen. Aber die Nachteile der Tagespflege wiegen schwer: Qualität und Verlässlichkeit der Betreuung sind nicht immer sichergestellt, denn die erforderlichen Qualitätsstandards weichen von denen ab, die bei Tageseinrichtungen vorausgesetzt werden; und bei Krankheit oder Urlaub der Tagesmutter gibt es keinen Ersatz. Noch problematischer – vor allem für das Kind – ist es, wenn Tagesmütter wegen einer Kündigung gewechselt werden müssen. Da es sich bei der Tagespflege häufig um ein eher prekäres Beschäftigungsverhältnis in Form einer selbstständigen Arbeit handelt, ist die Wahrscheinlichkeit nicht gering, dass sich die Tagesmütter nach besseren Alternativen umsehen. Im Übrigen ist zu vermuten, dass der überwiegende Teil der Tagespflegestellen nicht über das Jugendamt vermittelt, sondern über den „grauen Markt“ geregelt wird. Privater Betreuungsmarkt für Kinder Die Defizite bei der öffentlichen Kinderbetreuung können für Eltern, die auf Berufstätigkeit nicht verzichten können bzw. wollen, den Rückgriff auf private Hilfeleistungen oder privatwirtschaftliche Dienstleistungen erforderlich machen. Ein hohes Maß an Unterstützung wird in der familiären und nachbarschaftlichen Umgebung gefunden. Zu den wichtigsten Garanten der Kinderbetreuung zählen nach wie vor die Großeltern. Hinzu kommen Elternselbsthilfegruppen wie Babygruppen, Spielkreise oder Müttergruppen. Zu erkennen ist aber auch, dass in den letzten Jahren ein privater „Betreuungsmarkt“ für Kinder entstanden und gewachsen ist. Eltern aus mittleren und höheren Einkommensgruppen greifen vermehrt auf die Hilfe durch bezahlte Kräfte (Kinderfrauen, Tagesmütter, Babysitter, private Hausaufgabenhilfen) zurück. Die private Finanzierung und Anstellung von Haushalts- und Betreuungshilfen rechnet sich allerdings nur dann, wenn die Frau einen qualifizierten Beruf ausübt

906

Familie und Kinder

und damit gut verdient. Bei einem niedrigen bis mittleren Einkommen ist dieser Weg rein ökonomisch gesehen nicht sinnvoll, da der eigene Nettoverdienst nahezu vollständig für die Mehrausgaben eingesetzt werden müsste. Hier überwiegen die Anreize für eine Erwerbsunterbrechung oder die Aufnahme einer lediglich geringfügigen Beschäftigung. Denn mit steigendem Einkommen der Frau mindern sich sowohl die Entlastungseffekte durch das Ehegattensplitting als auch einkommensabhängige Sozialleistungen (z. B. Wohngeld), während auf der anderen Seite die einkommensabhängigen Kitabeiträge steigen. Ganztagsschulen Eine gleichermaßen unbefriedigende Betreuungssituation liegt vor, wenn die Kinder das Schulalter erreicht haben. Traditionell waren Schulen in Deutschland, in deutlichem Unterschied zur Situation in den meisten Ländern der EU, reine Vormittagseinrichtungen, die nach ihrem Selbstverständnis einen Bildungs-, aber keinen Betreuungsauftrag haben. Ganztagsschulen oder Schulen mit Mittagsverpflegung gab es selten. Aber auch sie sind in den letzten Jahren deutlich ausgebaut worden. Danach handelt es sich in der Regel um offene Ganztagsschulen im Primar- oder Sekundarbereich (ohne Teilnahmepflicht), die über den Unterricht hinaus ein ganztägiges Betreuungs- und Freizeitangebot haben und auch ein Mittagessen bereitstellen. Einen Rechtsanspruch auf einen Ganztagsschulplatz gibt es nicht. Völlig ungesichert ist zudem die Betreuung von Schülern und Schülerinnen an freien Tagen und in den Ferien. Diese Strukturen setzen voraus, dass ein Elternteil, in der Regel die Mutter, nicht vollzeitig arbeitet, sondern für eine korrespondierende Betreuung zu Hause sorgt sowie bei den Hausaufgaben mithilft.

9

Familiengerechte Gestaltung der Arbeitswelt

9.1

Anforderungen von Arbeitswelt und Kindererziehung

Die Anforderungen in der Arbeitswelt und in der Familie unterscheiden sich in mehrfacher Hinsicht und konkurrieren gegeneinander. Zu Konflikten zwischen beiden Bereichen kommt es vor allem deswegen, weil Erwerbsarbeit und Erziehungsarbeit unterschiedliche Zeitbedarfe und -strukturen aufweisen. Zunächst gilt, dass die Versorgung und Erziehung von Kindern immer als zusätzliche (Zeit-)Anforderungen stellt. Sie setzen auf der alltäglichen Lebens- und Haushaltsführung, d. h. auf der ohnehin anfallenden Hausarbeit, auf. Trotz der Technisierung des Haushalts und der Verlagerung von Hausarbeiten auf externe Dienstleister (z. B. Reinigung, Restaurant, Fertig- und Tiefkühlkost, Essenslieferdienste) ist es insgesamt zu keiner wesentlichen Reduktion der Zeitaufwandes für die Hausarbeit gekommen, weil sich auf der anderen Seite die Ansprüche und Erwartungen hinsichtlich Größe der Wohnung, Komfort, Sauberkeit, Freizeitgestaltung erhöht haben. Zwar sind Zeitbedarf und Zeit-

Familiengerechte Gestaltung der Arbeitswelt

907

rhythmus der allgemeinen Hausarbeit variabel, doch durch die (häufig zersplitterten, nicht aufeinander abgestimmten) Zeitvorgaben der externen Ämter und Dienstleistungseinrichtungen wie Behördenzeiten, Ladenöffnungszeiten, Sprechstunden von Ärzten sind die Freiheitsgrade begrenzt. Schon hier kann es schwierig werden, die verschiedenen Zeitstrukturen zusammenzuführen. Sind Kinder zu versorgen, vergrößert sich der Zeitbedarf schlagartig. Entsprechend größer wird der Aufwand für die Koordination von Zeitabläufen und -strukturen der unterschiedlichen externen und internen Zeitgeber (Kita- und Schulzeiten, außerhäusliche Freizeitaktivitäten, Verkehrszeiten öffentlicher Verkehrsmittel, Ferien, Krankheiten, außerschulische Bildungsangebote usw.). Der Familienalltag wird zum aufwändigen Puzzle; die Lebensbereiche der einzelnen Familienmitglieder mit ihren unterschiedlichen Rhythmen, Aufenthaltsorten und Anforderungsstrukturen passen nicht automatisch zusammen, sie müssen geplant und organisiert werden. Die zeitlichen Anforderungen durch die Kindererziehung hängen entscheidend davon ab, bis zu welchem Alter der Kinder deren ausschließliche Betreuung durch die Eltern/einen Elternteil als notwendig bzw. erwünscht angesehen wird und ab wann und in welchem Stundenumfang die familiäre Betreuung durch andere Personen und Einrichtungen ergänzt wird. Bei einer außerfamiliären Betreuung bestimmen im Wesentlichen die Öffnungszeiten der Einrichtungen Dauer und Lage der möglichen außerhäuslichen Abwesenheit der Eltern. Die täglichen Zeitstrukturen sind damit fest vorgegeben und müssen regelmäßig eingehalten werden. Andererseits können immer unvorhergesehene Ereignisse auftreten (akuter Krankheitsfall, Besuch des Arztes, Ausfall der Kita oder der Schule oder anderer familiärer Bezugspersonen usw.), die dann eine spontane Anpassung und Ausdehnung der häuslichen Anwesenheit erforderlich machen. Die familiären Anforderungen lassen sich konfrontieren mit den Zeitstrukturen der Erwerbsarbeit. Zu unterscheiden ist auch hier zwischen der Dauer sowie der Lage und Verteilung der Arbeitszeit: •

Bei der Dauer der Arbeitszeit zeigt sich, dass die tarifliche Normalarbeitszeit trotz der Arbeitszeitverkürzungen der letzten Jahre immer noch zu einem langen Arbeitstag führt. Bei einer Arbeitszeit von 8 Stunden am Tag errechnet sich einschließlich Pausen, Rüst- und Wegezeiten eine arbeitsgebundene Zeit von durchschnittlich 9,5 Stunden. Eine kontinuierliche außerhäusliche Abwesenheit in dieser Länge lässt sich mit der Betreuung jüngerer Kinder kaum vereinbaren. Dies ist nur dann möglich, wenn ergänzend zur Kita oder Schule andere Personen die Betreuung übernehmen. Erschwerend kommt hinzu, dass in vielen Arbeitsstellen die Bereitschaft zu Überstunden erwartet wird. Angesichts dieser Bedingungen bildet Teilzeitarbeit, d. h. die individuell reduzierte Arbeitszeit mit einem entsprechend geminderten Verdienst die einzige Chance, um die Berufstätigkeit mit den familiären Aufgaben in Einklang bringen zu können.

908

Familie und Kinder



Hinsichtlich der Lage des individuellen Arbeitseinsatzes ist in den Betrieben und Verwaltungen der Trend festzustellen, vermehrt Schichtarbeit, Nachtarbeit und Wochenendarbeit zu praktizieren. Diese Arbeitszeiten konkurrieren aber nicht nur mit persönlichen Zeitverwendungswünschen, sondern stehen auch im Gegensatz zu den Zeitstrukturen der außerhäuslichen Kinderbetreuungseinrichtungen. Da die Tageseinrichtungen für Kinder wie auch die Schulen mehrheitlich auf den frühen Nachmittag orientieren, ist bei derartigen Arbeitszeiten eine Synchronisierung mit den außerbetrieblichen Zeitstrukturen kaum möglich. • Gleichermaßen schwierig für berufstätige Eltern, die Kinder zu versorgen haben, wird es, wenn die Verteilung der individuell vereinbarten Arbeitszeit im Verlauf des Tages, der Woche, des Monats nicht feststeht, sondern nach Maßgabe konjunktureller, saisonaler und branchentypischer Produktions- und Nachfrageschwankungen variiert. Hinzu kommt, dass junge Menschen gerade im Familiengründungsalter zunehmend öfter befristete Verträge angeboten bekommen. In allen Bereichen der Wirtschaft setzen sich solche variablen Arbeitszeiten durch, auf der Grundlage von Teilzeit- wie von Vollzeitarbeit. Die vertragliche Arbeitszeit muss dann nur im Durchschnitt eines bestimmten Zeitraums (Woche, Monats, mehrere Monate) erreicht werden, was erhebliche Schwankungen innerhalb dieses Zeitraums zulässt. Das wird für die meisten Eltern zum Problem, da sich die Betreuung von Kindern nicht auf „später“, auf den Abend, auf das Wochenende oder freie Tage verschieben lässt und regelmäßige und berechenbare häusliche Anwesenheitszeiten unumgänglich sind. Auf der anderen Seite verlangen die im Familienalltag üblichen unvorhergesehenen Ereignisse auf Seiten der Eltern aber auch die Möglichkeit, den Einsatz der individuellen Arbeitszeiten bzw. die Lage der arbeitsfreien Zeiten variieren zu können (Gleitzeitarbeit, Freistellungen, Sonderurlaub, Urlaubstage, Freischichten usw.). In der betrieblichen Praxis ist längst nicht immer sichergestellt, dass berufstätige Eltern ihre spezifischen Zeitinteressen realisieren können. Zwischen den betrieblichen Zeitvorgaben und den persönlichen Zeitbedürfnissen der Beschäftigten gibt es kein harmonisches Verhältnis, sondern vielmehr ein strukturelles Konfliktfeld, das durch Interessensüberschneidungen und -schnittmengen gemildert, aber nicht grundsätzlich überbrückt wird. Angesichts der Machtasymmetrie auf dem Arbeitsmarkt verfügen nur leistungsstarke Beschäftigte mit einer wichtigen betrieblichen Position und Qualifikation über „Zeitsouveränität“, d. h. über die (Verhandlungs-)Stärke, ihre Interessen individuell auszuhandeln und auch gegen den Betrieb durchzusetzen. Hingegen muss sich, wenn die Entscheidung über Dauer, Lage und Verteilung der Arbeitszeit auf einzelvertraglicher Grundlage beruht, die Mehrzahl der Beschäftigten den betrieblichen Vorgaben unterordnen. Wenn es aber ein sozial- und familienpolitisches Ziel ist, die Vereinbarkeit von Beruf und Familie zu erleichtern, bedarf es formalisierter Arbeitszeitregelungen auf gesetzlicher und/oder kollektivvertraglicher Basis. Ohne Regelungen, die Ansprü-

Familiengerechte Gestaltung der Arbeitswelt

909

che und Rechte normieren, kann eine familienorientierte Strukturierung von Dauer, Lage und Verteilung der Arbeitszeit sowohl unter Schutz- als auch unter Gestaltungsaspekten nicht allgemeingültig und im Konfliktfall auch nicht gegen das Kalkül betrieblicher Personalpolitik und/oder nicht gegen die Interessen von anderen Beschäftigten(-gruppen) durchgesetzt werden (vgl. Kapitel „Arbeitsbeziehungen“, Pkt. 4.3). Die Zeitanforderungen bei der Pflege von Familienangehörigen weisen große Unterschiede zur Betreuung und Versorgung von Kindern auf. Denn es lassen sich kaum generelle Aussagen über die zeitliche, physische und psychische Beanspruchung durch familiäre Hilfs- und Pflegetätigkeiten und damit über die Situation der Betroffenen an ihrem Arbeitsplatz treffen (vgl. Kapitel „Pflegebedürftigkeit und Pflege“, Pkt. 3). 9.2

Elternzeit

Die Möglichkeit, die Arbeit nach der Geburt von Kindern zu unterbrechen und danach nachteilsfrei wieder zurückkehren zu können, wird durch die gesetzliche Elternzeit geregelt. Die Elternzeit eröffnet den Eltern, die in einem Arbeitsverhältnis stehen, den Anspruch nach dem Ende der Mutterschutzfrist ihre Berufstätigkeit längstens bis zur Vollendung des 36. Lebensmonats des Kindes zu unterbrechen. Wenn Vater und Mutter erwerbstätig sind, können sie entscheiden, wer von beiden Elternzeit nimmt, wobei sich die Eltern abwechseln können. Zur Gewährung von Elternzeit auf Verlangen des Berechtigten ist jeder Arbeitgeber, unabhängig von der Größe oder Art seines Betriebes, verpflichtet. Erwartet die Mutter ein weiteres Kind, so entsteht nach der Geburt ein neuer Anspruch auf Elternzeit. Das Arbeitsverhältnis bleibt während der Elternzeit bestehen; es gilt ein Kündigungsschutz. Für eine Kündigung nach dem Ende der Elternzeit gelten die Vorschriften des Kündigungsschutzgesetzes. Befristete Verträge verlängern sich durch die Elternzeit nicht. Während der Elternzeit kann eine Teilzeitarbeit bis zu 19 Stunden beim bisherigen Arbeitgeber oder mit dessen Zustimmung bei einem anderen Arbeitgeber ausgeübt werden, hierauf besteht im Unterschied zur vollen Freistellung aber kein Rechtsanspruch. Die Beschäftigungsgarantie beinhaltet einen Anspruch auf Rückkehr auf den alten oder einen gleichwertigen Arbeitsplatz. Eine Umsetzung, die mit einer Schlechterstellung, insbesondere mit einem geringeren Entgelt, verbunden wäre, ist nicht zulässig. Die Elternzeit erfolgt ohne Einkommensausgleich. Soweit Anspruch auf Elterngeld besteht, erfolgt allerdings ein Einkommensersatz für maximal 14 Monate bzw. beim Elterngeld Plus auf bis zu 28 Monate (vgl. Pkt. 6.2 dieses Kapitels). In der gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung wird die Pflichtmitgliedschaft beitragsfrei aufrechterhalten. Die Elternzeit ist in der Arbeitslosenversicherung den Zeiten einer beitragspflichtigen Beschäftigung gleichgestellt. Die Elternzeit wird von über 95 % aller anspruchsberechtigten Arbeitnehmer:innen in Anspruch genommen. Nicht bekannt ist, wie hoch der Anteil jener ist, die die

910

Familie und Kinder

Elternzeit im vollen zeitlichen Umfang nehmen. Ebenfalls fehlen Informationen darüber, wie viele Beschäftigte nach Ablauf der Frist dauerhaft in ihren Beruf zurückkehren und wie viele ihre Berufstätigkeit über die Elternzeit hinaus länger unterbrechen. Männer machen von der Elternzeit nur einen sehr geringen Gebrauch, in der Regel nur für die Zeit der zwei Vätermonate, die durch das Elterngeld abgesichert sind (vgl. Pkt. 6.2 dieses Kapitels). Eine amtliche Statistik über die Nutzung der Elternzeit und ihrer Varianten gibt es nicht. Die Elternzeit ist als ein Zeitkonto von 3 Jahren ausgestaltet. Bis zu 24 Monate können bis zum 8. Lebensjahr des Kindes nach den individuellen Wünschen der Eltern genutzt werden, durch Arbeitsunterbrechung oder wahlweise Arbeitszeitverkürzung. Beide Elternteile können auch gleichzeitig ihre Arbeitszeit reduzieren. Die Elternzeit kann flexibel in Anspruch genommen werden. In Betrieben mit mehr als 15 Beschäftigten besteht ein Anspruch auf Arbeitszeitreduzierung für beide Eltern während der maximal dreijährigen Elternzeit. Personen, die mindestens sechs Monate in einem Beschäftigungsverhältnis stehen, haben unter bestimmten Voraussetzungen die Möglichkeit, ihre Arbeitszeit in einem Korridor zwischen 15 und 30 Stunden pro Woche zu verringern, verbunden mit einem Rückkehrrecht auf den gleichen Arbeitsplatz. Die Inanspruchnahme des Zeitkontos ist ebenfalls in Teilzeit möglich, ein Rechtsanspruch besteht jedoch nicht. Auch gibt es die Option zur gleichzeitigen Nutzung der Elternzeit durch beide Eltern, sowohl als Vollfreistellung als auch als Teilfreistellung. Nehmen beide Eltern das Recht auf Arbeitszeitreduzierung in Anspruch, können sie jeweils bis zu 30 Stunden wöchentlich arbeiten. Ist die Elternzeit beendet, müssen die Arbeitnehmer:innen dem Arbeitgeber wieder in Vollzeit zur Verfügung stehen. Ein Anspruch auf Verlängerung besteht nicht. Die gesetzliche Elternzeit wird in einzelnen Tarifverträgen und Betriebsvereinbarungen auf bis zu sechs Jahre verlängert. Allerdings ist die Beschäftigungsgarantie – mit Ausnahme des Beamtenrechts und der tarifrechtlichen Regelungen für die Arbeiter:innen und Angestellten des öffentlichen Dienstes – in aller Regel vage gehalten. Pflegezeit Arbeitnehmer:innen in Pflegezeit haben nach dem Pflegezeitgesetz einen Anspruch auf Voll- oder Teilfreistellung von bis zu sechs Monaten – begrenzt auf Arbeitgeber mit mehr als 15 Beschäftigten. Auch auf die Familienpflegezeit besteht ein Anspruch auf eine Teilfreistellung von bis zu 24 Monaten. Die verbleibende wöchentliche Arbeitszeit muss mindestens 15 Stunden betragen. Der Rechtsanspruch auf Familienpflegezeit besteht aber nur gegenüber Arbeitgebern mit mindestens 25 Beschäftigten. Einen direkten, mit dem Elterngeld vergleichbaren Lohnausgleich gibt es nicht, die Betroffenen können aber zinsloses Darlehen erhalten (vgl. dazu ausführlich Kapitel „Pflegebedürftigkeit und Pflege“, Pkt. 3.2).

Familiengerechte Gestaltung der Arbeitswelt

9.3

911

Gestaltung von Teilzeitarbeit

Nach Beendigung der Elternzeit wird es für viele Mütter nur unter Schwierigkeiten möglich sein, die Berufstätigkeit auf Vollzeitbasis wieder aufzunehmen. Und dies ist häufig auch nicht gewollt. Aber die Regelungen der Elternzeit eröffnen keinen Anspruch auf eine individuelle Verkürzung der Arbeitszeit am angestammten oder einem gleichwertigen Arbeitsplatz. Da die Betriebe gerade im Bereich qualifizierter Arbeitsplätze Teilzeitarbeit eher ablehnend gegenüberstehen und hier einen „vollen“ Einsatz der Arbeitskraft erwarten, ist der Übergang zur Teilzeitarbeit oft mit einem Betriebs- und Berufswechsel und nicht selten mit einer Dequalifizierung verbunden. Noch schwieriger ist es für die Frauen, aus der Nichterwerbstätigkeit heraus (etwa nach einer längeren Familienphase) einen qualifikationsgerechten Teilzeitarbeitsplatz zu erhalten. Geringfügige Teilzeitarbeit wird überwiegend von (verheirateten) Frauen mit Familienaufgaben geleistet (zur Struktur von Teilzeitarbeit vgl. Kapitel „Arbeit und Arbeitsmarkt“, Pkt. 3.2). Als ein Problem erweist sich für die Betriebe, dass die Frauen wegen der bereits skizzierten Zeitstrukturen von Kindergärten und Schulen überwiegend Teilzeitarbeit am Vormittag nachfragen. Die von den Betrieben präferierten neuen Formen von variabler Teilzeitarbeit entsprechen aber kaum den Bedürfnissen von Frauen mit Familienaufgaben, wenn man an die regelmäßigen Zeitbedarf von Kindern denkt. Nach dem Teilzeit- und Befristungsgesetz besteht bei Vorlage bestimmter persönlicher Voraussetzungen ein grundsätzlicher Anspruch auf Teilzeit, den auch Arbeitnehmer:innen nach der Elternzeit stellen können. Allerdings gilt der Anspruch nicht für Unternehmen mit weniger als 16 Beschäftigten. Auch kann der Arbeitgeber den Wunsch auf Teilzeit aus betrieblichen Gründen ablehnen. Hierzu gehören eine wesentliche Beeinträchtigung der Organisation, des Arbeitsablaufs oder der Sicherheit im Betrieb sowie unverhältnismäßig hohe Kosten. Im Gegensatz zur Elternzeit ist dieser Anspruch auf Reduzierung der Arbeitszeit nicht mit einer Rückkehroption auf die vorherige, vertraglich vereinbare Arbeitszeit verbunden. Beschäftigte, die ihre Arbeitszeit wieder ausdehnen wollen, sollen lediglich bei der Besetzung von Arbeitsplätzen gegenüber Neueinstellungen vorrangig berücksichtigt werden. Seit 2019 verbessert die Brückenteilzeit die Zeitoptionen der Beschäftigten: Beschäftigt ein Arbeitgeber in der Regel insgesamt mehr als 45 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, können diese, sofern ihr Arbeitsverhältnis länger als sechs Monate bestanden hat, verlangen, dass ihre vertraglich vereinbarte Arbeitszeit (Vollzeit- oder Teilzeitarbeit) für einen im Voraus zu bestimmenden Zeitraum von einem Jahr bis fünf Jahre verringert wird. Sie kehren anschließend zur ursprünglichen Arbeitszeitdauer zurück. Besondere Gründe für die temporäre Arbeitszeitverkürzung müssen nicht angegeben werden. Allerdings kann bei Betrieben zwischen 45 und 200 Beschäftigten nur eine von 15 Mitarbeiter:innen gleichzeitig die Brückenteilzeit in Anspruch nehmen.

912

9.4

Familie und Kinder

Freistellung bei Krankheit des Kindes oder bei einem Pflegefall

Berufstätige Eltern stehen vor besonderen Problemen, wenn ihre Kinder krank werden und gepflegt werden müssen. Die arbeitsrechtlichen Regelungen bieten – unabhängig von der Zahl der Beschäftigten in einem Betrieb – eine begrenzte Lösung: Vater und Mutter haben für jedes Kind bis zu 10 Tagen im Jahr Anspruch auf Freistellung von der Arbeit, der Anspruch für Alleinerziehende beträgt längstens 20 Tage. Die Freistellungstage begrenzen sich bei mehreren Kindern auf maximal 25 Tage pro Elternteil bzw. auf maximal 50 Tage bei Alleinerziehenden. Ein Anspruch besteht jedoch nur, wenn das Kind jünger als 12 Jahre ist und eine andere im Haushalt lebende Person das Kind nicht pflegen kann. In der Zeit der Freistellung besteht zugleich Anspruch auf Krankengeld. Eine vergleichbare Regelung gilt beim unerwarteten Eintritt eines Pflegefalls in der Familie. Dann ist für bis zu 10 Arbeitstage eine Freistellung möglich, so dass die Angehörigen in einer akuten Pflegesituation die Zeit haben, eine pflegerische Versorgung zu organisieren. Als so genanntes „Pflegeunterstützungsgeld“ werden von der Pflegeversicherung im Grundsatz 90 % des wegfallenden Nettoentgelts gezahlt (analog zum Kinderkrankengeld), Abgesicherte empirische Befunde über die Inanspruchnahme dieser beiden Regelungen liegen nicht vor. Praxisberichte lassen aber erkennen, dass von der Kinderfreistellung wenig Gebrauch gemacht wird; dies trifft vor allem für die Väter zu. Und für erwerbstätige Mütter, die kranke Kinder zu versorgen haben, ist es in der Praxis oft unproblematischer, Arbeitsunfähigkeit wegen eigener Erkrankung vorzugeben. Im Rahmen der Lohnfortzahlung bedarf es hier in der 3-Tages-Frist in der Regel keines ärztlichen Attestes und im betrieblichen Alltag kommt es weniger leicht zu Diskriminierungen wegen unterstellter eingeschränkter familiärer Leistungsfähigkeit. Um kritische Nachfragen seitens des Arbeitgebers zu vermeiden, wird auch häufig Erholungsurlaub genommen.

10

Kinder- und Jugendhilfe

10.1 Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe Für Eltern ist die Erziehung ihrer Kinder eine anspruchsvolle und nicht immer leichte Aufgabe. In der Familie können Schwierigkeiten auftreten, die die Entwicklung der Kinder zu eigenverantwortlichen Persönlichkeiten beeinträchtigen. Aber auch hinsichtlich der sozialen Rahmenbedingungen kann das Hineinwachsen junger Menschen in die Gesellschaft mit vielfältigen Problemen verbunden sein. Die Kinderund Jugendhilfe nach dem Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG, SGB VIII) ist eine Antwort auf diese Herausforderungen. Kinder- und Jugendhilfe (im Folgenden Jugendhilfe) hat die Aufgabe, junge Menschen in ihrer individuellen und sozialen Ent-

Kinder- und Jugendhilfe

913

wicklung zu fördern, Benachteiligungen zu vermeiden oder abzubauen, sie vor Gefahren für ihr Wohl zu schützen und die Eltern bei der Erziehung zu beraten und zu unterstützen. Die Hilfen und Leistungen der Jugendhilfe sehen die Kinder und Jugendlichen und ihre Eltern als Adressaten und weisen in ihrer Orientierung an den verschiedenen Lebenslagen und Erziehungssituationen ein breites Spektrum auf. Sie sind präventiv ausgerichtet und sollen Kindern und Eltern nicht erst dann zur Verfügung stehen, wenn die Erziehung in der Familie ernsthaft gefährdet ist, sondern frühzeitig einsetzen, so dass sich Krisen und Konflikte nicht weiter verstärken und Möglichkeiten zur Selbsthilfe eröffnet werden. Da die Leistungen nur dann wirksam werden, wenn sich die Adressaten aktiv beteiligen, haben sie die Möglichkeit, zwischen Einrichtungen und Diensten verschiedener Träger zu wählen und Wünsche hinsichtlich der Gestaltung der Hilfe zu äußern (Wunsch- und Wahlrecht). Ausdrücklich vorgesehen ist die Beteiligung von Kindern und Jugendlichen an allen sie betreffenden Entscheidungen der Jugendhilfe. Ordnungsrechtliche Eingriffe in die Familie, die noch im Mittelpunkt des alten Jugendwohlfahrtsgesetzes standen und die das (Negativ)Image der Jugendhilfe über Jahrzehnte geprägt haben („Fürsorgeerziehung“), treten im KJHG in den Hintergrund. Zuständig für die Gewährleistung und Finanzierung der Leistungen ist die öffentliche Jugendhilfe, vertreten durch die Jugendämter der Kommunen und Kreise. Gemäß dem Subsidiaritätsprinzip erfolgt die konkrete Leistungserbringung überwiegend durch freie Träger (vgl. Kapitel „Soziale Dienste“, Pkt. 3). Die Leistungen bestehen in erster Linie aus persönlichen und erzieherischen Hilfen, wirtschaftliche Hilfen haben eine nur nachrangige Bedeutung. Nur auf einige wenige Leistungen (Hilfe zur Erziehung, Platz in einer Kindertagesstätte) kann ein individueller Rechtsanspruch geltend gemacht werden; der öffentliche Jugendhilfeträger hat jedoch die Pflicht, die für die Aufgabenerfüllung erforderlichen Leistungen, Dienste und Einrichtungen bedarfsgerecht zur Verfügung zu stellen. Hinsichtlich der Art, Qualität und Quantität der Leistungen besteht ein breiter Gestaltungsspielraum, so dass sich das Leistungsangebot zwischen den Kommunen und Regionen in Deutschland erheblich unterscheidet. Die Jugendhilfe umfasst Leistungen und andere Aufgaben zugunsten junger Menschen und Familien. Leistungen sind: • Angebote der Jugendarbeit, der Jugendsozialarbeit und des erzieherischen Kinderund Jugendschutzes, • Angebote zur Förderung der Erziehung in der Familie, • Angebote zur Förderung von Kindern in Tageseinrichtungen und in Tagespflege, • Hilfe zur Erziehung, • Hilfe für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche, • Hilfe für junge Volljährige.

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Familie und Kinder

Zu den anderen Aufgaben zählen u. a.: • • • •

die Inobhutnahme von Kindern und Jugendlichen, die Herausnahme des Kindes oder des Jugendlichen ohne Zustimmung des Personensorgeberechtigten, die Mitwirkung in Verfahren vor den Vormundschafts- und den Familiengerichten sowie in Verfahren nach dem Jugendgerichtsgesetz, die Beratung und Belehrung in Verfahren zur Annahme als Kind (Adoption).

Jugendarbeit und Jugendsozialarbeit Die Jugendarbeit hat eine wichtige präventive Wirkung für das Wohl der Jugendlichen. Zu ihren Schwerpunkten gehören die außerschulische Jugendbildung, Jugendarbeit in Sport und Spiel, arbeitswelt-, schul- und familienbezogene Jugendarbeit, Kinderund Jugenderholung, die internationale Jugendarbeit sowie die Jugendberatung. Das Feld der Jugendarbeit ist eine Domäne von freien Trägern, Jugendverbänden und Jugendgruppen. Die Jugendsozialarbeit zielt auf den Ausgleich sozialer Benachteiligungen und individueller Beeinträchtigungen von jungen Menschen. Sie bietet Beratung und sozialpädagogisch begleitete schulische und berufliche Ausbildungs- und Beschäftigungsmöglichkeiten. Der Jugendsozialarbeit kommt insbesondere bei ungelernten Jugendlichen eine hohe Bedeutung zu. Förderung der Erziehung in der Familie Zur allgemeinen Familienförderung gehören die Familienbildung, die allgemeine Beratung sowie Freizeit- und Familienerholungsangebote. Neben die Angebote, die für alle gelten, treten differenzierte Hilfen auf Beratung und Unterstützung in besonderen Lebenslagen, so in Fragen der Partnerschaft, Trennung und Scheidung. Insbesondere alleinerziehende Mütter und Väter haben Anspruch auf Unterstützung und Beratung, auf Förderung von geeigneten Wohnformen und auf Betreuung und Versorgung des Kindes in Notsituationen. 10.2 Hilfen zur Erziehung Das KJHG verpflichtet die Jugendämter, bedarfsgerecht Erziehungshilfen anzubieten, Beratungsaufgaben wahrzunehmen und Kinder, Jugendliche und Eltern in ihrem gewohnten Umfeld zu unterstützen, wenn eine dem Wohl des Kindes oder des Jugendlichen entsprechende Erziehung nicht gewährleistet und die Hilfe für seine Entwicklung geeignet und notwendig ist. Im Spannungsfeld zwischen möglichst wenig Eingriffen in die Familie und der staatlichen Verpflichtung zum Schutz und zur Hilfe für das Kind steht damit das Wohl des Kindes im Mittelpunkt. Der Schwerpunkt der Hilfen liegt bei den ambulanten und teilstationären Hilfen, die unter Aufrechterhal-

Kinder- und Jugendhilfe

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tung der familiären Lebensgemeinschaft geleistet werden. Darunter fallen die Erziehungsberatung, die soziale Gruppenarbeit, der Erziehungsbeistand, die Erziehung in einer Tagesgruppe. Die Beratungen durch Erziehungsberatungsstellen und andere Dienste liegen dabei mit Abstand an der Spitze der Hilfen. Rund 60 % der Leistungen erfolgen durch freie Träger. Auch eine familienunterstützende Jugendhilfe kann auf Hilfen zur Erziehung außerhalb des Elternhauses nicht verzichten, wenn die Eltern – auch mit fachlicher Unterstützung – nicht in der Lage sind, das Wohl des Kindes oder Jugendlichen selbst zu gewährleisten. Neben der Erziehung im Heim oder einer betreuten Wohnform (betreutes Einzelwohnen, pädagogisch betreute Wohngemeinschaften) kommt dann insbesondere die Erziehung in einer Pflegefamilie in Betracht. Am Jahresende 2018 gab es in Deutschland knapp 180 000 Kinder und Jugendliche, die Hilfen zur Erziehung außerhalb des Elternhauses (Vollzeitpflege in einer anderen Familie, Heimerziehung, sonstige betreute Wohnform) erhielten. Im Vergleich zum Jahr 2007 (102 Tsd. Hilfen) errechnet sich ein Anstieg um etwa 76 %. Die Ausgaben der Kinder- und Jugendhilfe beliefen sich im Jahr 2017 auf insgesamt 48,5 Mrd. Euro – einschließlich der Tageseinrichtungen für Kinder (vgl. Abbildung X.17).

Abbildung X.17

Ausgaben der Kinder- und Jugendhilfe 2001 – 2018 in Mrd. Euro

3,5

Insgesamt Andere Leistungen*

12,5

12,6

5,5 12,2

4,8

Hilfe zur Erziehung, Eingliederungshilfe, Hilfe für junge Volljährige, Inobhutnahme

10,3

9,3

8,7

4,3

32,4

30,1

27,4

25,4

23,7

23,0

19,7

18,5

17,4

16,2

51,0

8,2

4,2 7,8

7,5

7,1

3,9

3,8

30,5

6,4 14,2

5,7 11,6

5,9

5,7 11,5

13,1

5,6

3,6

20,9

11,4

3,7

20,9

5,6

3,6

20,7

11,3

3,7

20,6

5,5

3,7

20,2

11,0

10,4

5,1

3,7

19,2

3,6

24,6 22,8

4,0

28,9 26,9

3,8

35,5 32,2

5,1

40,7 37,8

5,8

48,5 45,1

Tageseinrichtungen für Kinder 2001

2002

2003

2004

2005

2006

2007

2008

2009

2010

2011

2012

2013

2014

2015

2016

2017

2018

*) Darunter: u. a. Jugendarbeit, Jugendsozialarbeit, erzieherischer Kinder- und Jugendschutz Quelle: Statistisches Bundesamt (2019), Genesis-Datenportal.

916

11

Familie und Kinder

Reformbedarfe und Reformoptionen

Forderungen nach Reformen in der Familienpolitik haben eine lange Tradition. Sie lassen sich nach ihrer Reichweite unterscheiden. Eher kurzfristig ausgerichtet sind Forderungen nach einem Leistungsausbau im Rahmen der jeweiligen Systeme. So wird kontrovers diskutiert, ob und in welchem Maße Kindergeld und Kinderfreibeträge angehoben werden müssen, um Familienhaushalte finanziell zu entlasten. Umstritten ist auch die Frage, ob die Leistungen der Grundsicherung (Regelbedarfe für Kinder und Eltern, Kinderzuschlag und Hilfen für Bildung und Teilhabe) ausreichend sind oder neu berechnet werden müssen. Und für besondere Aufmerksamkeit sorgt die Forderung nach der Bereitstellung ausreichender und beitragsfreier KitaPlätze. Allgemeiner ausgerichtet sind die in der politischen wie wissenschaftlichen Debatte vertretenen Überlegungen, wie Fehlsteuerungen und Widersprüche der gegebenen Systeme beseitigt und die Leistungen neu orientiert und gestaltet werden können. Im Mittelpunkt steht hier die Auseinandersetzung über Grundsätze und generelle Ziele der Familienpolitik. Vor allem folgende Fragestellungen sind von Bedeutung: • • • •

Sollen alle Familien, und das heißt alle Kinder, gleich behandelt werden oder empfiehlt sich eine Differenzierung der Leistungen nach der Einkommenslage der Haushalte ? Ist die Erziehungsleistung der Eltern pauschal zu entgelten oder soll die Vereinbarkeit von Beruf und Kindererziehung durch die Zahlung eines Lohnersatzes bei Erwerbsunterbrechungen bzw. -einschränkungen erleichtert werden ? Ist angesichts des hohen Finanzbedarfs familienpolitischer Reformen die Förderung der Institution Ehe noch zu vertreten oder sollte es um die Förderung von Kindern gehen ? Sind Geldleistungen das zentrale Instrument zur Unterstützung von Familien oder kommt es nicht eher vorrangig darauf an, die kinderbezogene Infrastruktur umfassend auszubauen und kostenfrei anzubieten ?

11.1 Neuordnung des Familienleistungsausgleichs: Kindergrundsicherung ? Wie die hohe Armutsbetroffenheit von Kindern erkennen lässt, können Eltern mit niedrigem Einkommen in vielen Fällen das sozialkulturelle Existenzminimum ihrer Kinder nicht aus eigener Kraft sicherstellen und müssen daher – trotz des Kinderzuschlags – Leistungen der Grundsicherung in Anspruch nehmen. Um dies zu vermeiden, könnte der Familienleistungsausgleich mit der Kombination von pauschalem Kindergeld und Steuerfreibeträgen so geändert werden, dass das Kindergeld im unteren Einkommensbereich der Eltern bedarfsdeckend ist und damit ein Rückgriff

Kinder- und Jugendhilfe

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auf die Grundsicherung bzw. den Kinderzuschlag nicht mehr erforderlich ist. Mit steigendem Einkommen würde das Kindergeld dann abgeschmolzen – bis auf einen Sockelbetrag, der in seiner Höhe der verfassungsrechtlichen Vorgabe entspricht, das Kinderexistenzminimum steuerfrei zu stellen. Weitreichender wäre es, eine allgemeine Kindergrundsicherung einzuführen. Dieses Konzept ist Teil der Vorstellungen eines bedingungslosen Grundeinkommens, allerdings begrenzt auf Kinder und Jugendliche bis zu einer bestimmten Altersgrenze (vgl. dazu Kapitel „Einkommen“, Pkt. 9.1). Anspruchsberechtigt wäre jedes Kind – unabhängig von der Einkommenslage des Elternhaushaltes. Auf die Vielfalt der anderen Transferleistungen wie Sozialgeld, Kindergeld, Kinderzuschlag, Leistungen zur Bildung und Teilhabe, Steuerfreibeträge, Unterhaltsvorschuss usw. könnte dann verzichtet werden. Dadurch entstünde ein transparentes System für die Betroffenen, verbunden mit einer erheblichen Verwaltungsvereinfachung. So überzeugend solche Überlegungen zunächst klingen, so überwiegen bei genauer Hinsicht allerdings die Gegenargumente: • Wenn kein Kind im Vergleich zum aktuellen Stand schlechter gestellt werden soll, muss eine bedarfsdeckende Kindergrundsicherung mindestens so hoch sein wie die Summe aus den aktuellen Kinderregelbedarfen, den anteiligen Kosten der Unterkunft, dem Kinderzuschlag und den Teilhabeleistungen. Ein altersunabhängiger Pauschalbetrag müsste damit eine Höhe von mindestens 650 Euro erreichen. • Die entstehenden Kosten wären außerordentlich hoch: Setzt man die Altersgrenze der anspruchsberechtigten Kinder auf 20 Jahre, so würden 15,5 Mio. Personen begünstigt, was einer Ausgabensumme von 121 Mrd. Euro im Jahr entspricht. Angesichts dieser Summe wird offensichtlich, wie fragwürdig es ist, die Zahlung unabhängig vom Einkommen der Eltern vorzunehmen. Das Haushaltseinkommen muss also berücksichtigt werden – und dies nicht nur, um die Ausgaben zu begrenzen, sondern weil es auch grundsätzlich zumutbar ist, dass Eltern sich an den Unterhaltskosten ihrer Kinder beteiligen. • Es wäre deshalb unabweisbar, das durch die Kindergrundsicherung aufgestockte Einkommen oberhalb eines Maximalbetrags stark zu besteuern. Aber selbst bei einem im Vergleich zum aktuellen Steuerrecht sehr hohen Eingangssteuersatz lässt sich nicht verhindern, dass der Kreis der Begünstigten weit in den mittleren Einkommensbereich hineinreicht, und Steuererhöhungen oder Leistungskürzungen an anderer Stelle erforderlich werden. 11.2 Elterngeld als Versicherungsleistung Werden Berufstätigkeit und Familie nicht als Alternativen angesehen, sondern als gleichberechtigte Lebensbereiche, die miteinander zu vereinbaren sind, reicht das gegenwärtige Elterngeld nicht aus, um den zeitweiligen erziehungsbedingten Ausfall

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Familie und Kinder

des Erwerbseinkommens ersetzen bzw. die Einkommensminderung infolge von erziehungsbedingter Teilzeitarbeit auszugleichen. Das kann aber erreicht werden, wenn das Elterngeld konsequent in Richtung einer Lohnersatzfunktion ausgebaut wird. Der weitest gehende Schritt in diese Richtung wäre die Einführung einer beitragsfinanzierten, alle Bürger:innen umfassenden Elternschaftsversicherung. Angesichts der wachsenden Problematik, Berufstätigkeit und familiäre Pflegeverpflichtungen miteinander in Einklang zu bringen, müsste eine vergleichbare versicherungsrechtliche Regelung auch für den Lohnersatz in Phasen einer pflegebedingten Erwerbsunterbrechung oder Teilzeitarbeit eingeführt werden.. Lohnersatzleistungen, die sich an der Höhe des bisherigen Einkommens orientieren, hätten dabei den Vorteil, dass es auch den Männern finanziell möglich gemacht würde, ihre Arbeit wegen der Übernahme von Erziehungs- und Pflegeaufgaben zeitweilig zu unterbrechen oder zu reduzieren. Ein solches Modell sorgt zugleich für eine kontinuierliche Erwerbstätigkeit von Frauen und wäre damit wichtiges Element für einen eigenständigen sozialen Schutz der Frauen auch im Alter. Die Möglichkeit einer nachteilsfreien Vereinbarkeit von Beruf und Kindererziehung sowie von Beruf und Pflege hängt nicht nur von der Ausgestaltung einer Lohnersatzleistung ab. Entscheidend ist auch, inwieweit es gelingt, Dauer, Lage und Verteilung der persönlichen Arbeitszeiten mit den außerberuflichen Zeitanforderungen in Einklang zu bringen. Sollen alle Beschäftigten dazu die Möglichkeit haben, reichen freiwillige betriebliche Regelungen und auch Betriebs- wie Tarifvereinbarungen nicht aus. Es bedarf gesetzlicher Rechtsansprüche. Die gegenwärtigen Elternzeiten, Pflegezeiten und auch die Ansprüche auf temporäre Arbeitszeitverkürzungen sowie auf Teilzeitarbeit mit Rückkehrrecht generell weisen in die richtige Richtung. Sie sollten nicht nur ausgeweitet werden, sondern auch für die große Zahl der Beschäftigten in kleineren Betrieben gelten. So ist die gegenwärtige Begrenzung des Rechtsanspruchs auf Pflegezeiten oder auf eine Brückenteilzeit auf Personen in Betrieben mit mehr als 25 bzw. 45 Beschäftigten gleichbedeutend mit einem Ausschluss eines Großteils der Frauen, die überproportional häufig gerade in solchen Betrieben arbeiten. 11.3 Abschaffung des Ehegattensplittings Die skizzierten Reformüberlegungen führen zu erheblichen Mehrausgaben bzw. bei einer Versicherungslösung zu zusätzlichen Beitragsbelastungen und stehen damit unter dem Vorbehalt ihrer Finanzierungsfähigkeit. Sollen zusätzliche Mittel bereitgestellt werden, ist deshalb auch immer nach Umschichtungsmöglichkeiten innerhalb der öffentlichen Ausgaben für Familien zu suchen. Im Mittelpunkt der Kritik steht vor allem die pauschale Subventionierung der Ehe durch das steuerrechtliche Ehegattensplitting, unabhängig davon, ob Kinder zu unterhalten sind oder nicht. Die dadurch entstehenden Steuermindereinnahmen summieren sich auf rund 23 Mrd.

Kinder- und Jugendhilfe

919

Euro (2018). Begünstigt werden vor allem wohlhabende Haushalte, in denen die Frauen nicht oder nur geringfügig erwerbstätig sind. Ein offensiver Schritt bestünde deshalb darin, auf das Splitting-Verfahren bei der Besteuerung von Ehegatten ganz zu verzichten und zur Individualbesteuerung überzugehen, dabei allerdings für die Unterhaltsleistungen zwischen den Ehepartnern einen Freibetrag zu berücksichtigen (Realsplitting). Um unvertretbare Härten zu vermeiden, bedarf es sicherlich Übergangsregelungen, die berücksichtigen, dass die von der Politik langjährig unterstützte Lebensform der Hausfrauenehe nicht plötzlich durch Einkommensminderungen bestraft werden kann. Ein Übergang vom Ehegatten- zum Familiensplitting würde zwar berücksichtigen, dass Kinder zu unterhalten sind, die Verteilungseffekte eines solchen Verfahrens sind jedoch problematisch. Denn nach diesem Verfahren wird das Familieneinkommen durch die Zahl der Familienmitglieder geteilt und jeweils nach dem Progressionstarif versteuert. Der Steuervorteil wird umso größer, je höher das Gesamteinkommen ist. Liegt auf der anderen Seite das Einkommen so niedrig, dass es nicht steuerpflichtig ist, entsteht überhaupt kein Vorteil. Eine nach vorne weisende Reform wäre das Familiensplitting nicht. Wenn es erforderlich wird, zur Verbesserung der Familienförderung Steuern zu erhöhen, ist auf die Belastungswirkung unterschiedlicher Steuerarten zu achten, um zu verhindern, dass familienpolitische Entlastungen nicht zum größten Teil von den Familien selbst, und hier insbesondere von den Einkommensschwächeren, zu tragen sind. Eine Anhebung von Verbrauchsteuern beispielsweise würde gerade kinderreiche Familien im unteren Einkommenssegment treffen (vgl. Kapitel „Einkommen“, Pkt. 3.1). 11.4 Vorrang für den Ausbau der familien- und kinderbezogenen Infrastruktur Auch wenn ein ausreichend hohes Einkommen eine Grundvoraussetzung für ein gutes und möglichst sorgenfreies Zusammenleben mit Kindern und für deren Entwicklungschancen ist, so ist doch offensichtlich, dass dafür Geldleistungen allein keineswegs hinreichend sind. Wird Familienpolitik als Teil einer umfassenden Gesellschaftspolitik verstanden mit dem Ziel, Kinder in ihrem Lebens- und Bildungsweg umfassend zu unterstützen und zu fördern, dann bedarf es dazu eines energischen Ausbaus einer kinderbezogenen Infrastruktur. So begründet sich das Angebot an Kitas für Kinder aller Altersstufen begründet sich nicht einer besseren Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Gleichzeitig sind Kindertagesstätten immer auch Sozialisationsund Bildungseinrichtungen, um den Kindern beste Entwicklungs- und Bildungschancen zu vermitteln. Sie bieten kindgemäße Bildungsmöglichkeiten an, leisten allgemeine und individuelle erzieherische Hilfen, fördern die Persönlichkeitsentfaltung, soziale Verhaltensweisen sowie die Sprachentwicklung (insbesondere für Kinder mit

920

Familie und Kinder

fremdsprachigen Eltern) und versuchen dabei zugleich, familiäre Ressourcen zu stärken und Entwicklungsmängel der Kinder auszugleichen. Sie sind damit ein unersetzlicher Baustein zum Ausgleich von sozialen Benachteiligungen, zur gesellschaftlichen Integration von Migranten und zur Herstellung von Chancengleichheit. Allerdings zeigen die empirischen Daten, dass vor das Angebot an Kitas für unter 3-jährige Kinder nach wie vor unzureichend ist und dass es ganz generell an Ganztagseinrichtungen mangelt. Zudem haben die Einrichtungen mit einem ausgeprägten Personalmangel zu kämpfen, der kleine Gruppengrößen und damit eine individuelle Förderung kaum zulässt. Wird als Reformperspektive ein in quantitativer wie in qualitativer Sicht bestmögliches Angebot für alle Kinder angestrebt, dann bedarf es erheblicher Finanzmittel – dies vor allem für die Anstellung von qualifizierten und gut bezahlten Erzieher:innen. Angesichts knapper Finanzmittel stellt sich deshalb die Frage nach den Prioritäten bei den Reformschritten. Es spricht viel dafür, dass eine Erhöhung des Kindergelds und erst recht die Einführung einer äußerst kostspieligen Kindergrundsicherung nachrangig sind gegenüber der Aufgabe, eine besseren Personalausstattung in den Kitas sicherzustellen und eine durchgängige Gebührenfreiheit einzuführen. Gerade für Kinder aus sozial benachteiligten Elternhäusern und Wohngebieten hat der kostenfreie Besuch einer Kita eine kaum zu überschätzende Bedeutung für deren Bildungs- und Entwicklungsweg. Das gilt gleichermaßen für Angebote in den Bereichen Freizeitgestaltung, Sport und Kultur.

12

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Regelmäßige Veröffentlichungen Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung Bundesregierung, Familienbericht Bundesregierung, Gleichstellungsbericht Bundesregierung, Kinder- und Jugendbericht Institut Arbeit und Qualifikation, Dauerbaustelle Sozialstaat – Chronologie gesetzlicher Neuregelungen in der Sozialpolitik seit 1998 Statistisches Bundesamt (Hrsg.), Datenreport

Zeitschriften DIW-Wochenbericht Journal of European Social Policy Nachrichtendienst des Deutschen Vereins für Öffentliche und Private Fürsorge Soziale Sicherheit Sozialer Fortschritt Wirtschaft und Statistik WSI-Mitteilungen Zeitschrift für Sozialreform

Aktuelle Gutachten, Berichte, Analysen zum Themenfeld Familie finden sich auf www. sozialpolitik-aktuell.de/einkommen-berichte.html zum Download.

XI

Alter

1

Lebenslagen und soziale Ungleichheiten im Alter

Infolge der steigenden Lebenserwartung erreichen immer mehr Menschen ein hohes Lebensalter. Wir befinden uns in einer „Gesellschaft des langen Lebens“, in der sich das Alter zu einer eigenständigen und langandauernden Lebensphase entwickelt hat und die der älteren Generation vielfältige Möglichkeiten der individuellen Entfaltung und Entwicklung bietet. Es eröffnen sich zeitliche Freiräume für lang geplante Aktivitäten (z. B. Reisen) oder neue, gesellschaftlich erwünschte Betätigungsmöglichkeiten (z. B. im bürgerschaftlichen Engagement, in der Politik, in der Familie). Im Alter nicht mehr arbeiten zu müssen und die Phase des Ruhestands genießen zu können, ist eine der herausragenden Leistungen des Sozialstaats überhaupt. Erst durch die allgemeine Gewährung von Altersrenten und durch die Festlegung von Altersgrenzen weit unterhalb des Sterbealters hat sich diese eigenständige Lebensphase Alter herausbilden können. Alter bedeutet also keineswegs, funktionslos, desintegriert, isoliert, finanziell unterversorgt, krank, hilfe- und pflegebedürftig zu sein. Im Gegenteil: Abgesichert durch ein ausgebautes sozialstaatliches Leistungssystem lebt die Mehrheit der älteren Menschen in Deutschland heute selbstständig, weitgehend gesund und gut versorgt. Allerdings erhöht sich mit zunehmendem Lebensalter das Risiko zu erkranken, so dass eine eigenständige und individuell befriedigende Lebensgestaltung nur noch begrenzt oder auch gar nicht mehr möglich ist. Es können typische Altersprobleme auftreten, die zu zahlreichen Einschränkungen führen und die in jüngeren Bevölkerungsgruppen unbekannt sind bzw. nur sehr selten vorkommen. Wann die Lebensphase Alter beginnt, lässt sich nicht eindeutig bestimmen, denn zwischen Altwerden und Altsein gibt es fließende Übergänge. Zwar ist es üblich, die Beendigung der Berufstätigkeit und den Bezug einer Altersrente als Kriterium zu wählen, doch diese kalendarisch-institutionelle Definition lässt biologische, medizinische und soziale Merkmale des Alter(n)s ebenso unberücksichtigt wie die Unterschiede zwischen Fremd- und Selbstbildern des Alter(n)s. Wichtiger aber noch ist, dass nicht von „den“ Älteren gesprochen werden kann. Ältere Menschen leben unter sehr unterschiedlichen Verhältnissen und sind alles andere als eine homogene Grup© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 G. Bäcker et al., Sozialpolitik und soziale Lage in Deutschland, https://doi.org/10.1007/978-3-658-06249-1_11

923

924

Alter

pe. So weicht die Lebenssituation der Hochaltrigen in vielfältiger Hinsicht von der der jungen Alten ab. Aber auch innerhalb einzelner Altersgruppen gibt es erhebliche Unterschiede in den Lebenslagen. Die Empirie verweist auf eine wachsende Binnendifferenzierung der Altersphase und unterscheidet eine Folge von Lebensabschnitten (Statuspassagen), die dem Alter zugerechnet werden und die die meisten Älteren auch durchlaufen. Ob die Phase des Alters zur Phase von Einschränkungen und Problemen wird oder einer späten Freiheit, ist maßgeblich abhängig von der sozialen Stellung, die die Betroffenen in ihrem Lebenszyklus innehatten. Die Lebenslaufforschung hat aufgezeigt, dass beeinträchtigte bzw. gefährdete Lebenslagen im Alter nicht zufällig verteilt sind, sondern in hohem Maße mit sozialstrukturellen Merkmalen verknüpft sind. Dabei wird eine enge Beziehung deutlich: Eine durch Unsicherheit, hohe Arbeitsmarktrisiken, gesundheitliche Belastungen und soziale Benachteiligungen geprägte Stellung im Erwerbsleben wirkt auch noch bis ins hohe Alter hinein. Demgegenüber behält eine zeitlebens privilegierte gesellschaftliche Stellung auch im Alter ihre Bedeutung, zumindest erleichtert sie den Umgang mit und die Bewältigung von typischen Altersproblemen. Diese Beziehung wird überlagert durch Kohorteneinflüsse, die Geschlechtszugehörigkeit und den jeweiligen ethnisch-kulturellen Hintergrund. Zu erkennen ist eine zunehmende Differenzierung des Alters in Lebenslagen unterschiedlicher Qualität und mit unterschiedlichem sozial- und altenpolitischem Handlungsbedarf. Zugespitzt kann man von einer Polarisierung des Alters in ein positives und ein negatives Alter sprechen. Das positive Alter ist gesund, aktiv, sozial integriert und verfügt über ein hohes Maß an Selbsthilfepotenzialen und Selbstorganisationsfähigkeit. Nicht zuletzt ist es durch gute bis sehr gute Einkommens- und Vermögensverhältnisse gekennzeichnet, die durch die Erbschaften noch verbessert werden können. Demgegenüber sind frühzeitige gesundheitliche Beeinträchtigungen und Hilfebedarfe, enge finanzielle Verhältnisse bis hin zur Altersarmut sowie eine niedrige Lebenserwartung Indikatoren für ein negatives Alter. Die Aussage „Wir werden immer älter“ stimmt in dieser Einfachheit nicht: Eine lange und vor allem lange und gesunde Lebenserwartung ist mehr den oberen sozialen Sichten vorbehalten. Der Satz „Wer arm ist, stirbt früher“, hat auch heute noch ungebrochen seine Berechtigung. Diese sozialen Ungleichheiten im Alter beginnen keineswegs erst in der Lebensphase Alter, sondern werden schon in früheren Phasen wirksam. Häufig ist eine kumulativ wirkende Abfolge erkennbar, die allerdings im Alter noch durch spezifische altersgebundene Ungleichheiten ergänzt bzw. überlagert, teilweise sogar verlagert werden (z. B. weg von den materiellen hin zu gesundheitlichen und sozialen Dimensionen). Dennoch gilt: einmal aus dem Lebenslauf mitgebrachte Ungleichheitserfahrungen wirken kumulativ fort und können sich im Alter noch einmal differenzieren. Ob sich diese Ungleichheiten dann noch einmal angleichen oder gar nivellieren lassen, ist zweifelhaft und zudem abhängig von der Ursachen- und Zielgenauigkeit wie der Qualität sozialpolitischer Maßnahmen. Diese können aber zumeist nur kompen-

Lebenslagen und soziale Ungleichheiten im Alter

925

satorischer Natur sein und eine sehr viel wirksamere präventive Politik in früheren Lebensphasen nicht mehr ersetzen. Dennoch würde sich in vielen Fällen Prävention auch noch im Alter (selbst im hohen Alter, nachgewiesen z. B. bei der gesundheitlichen und pflegerischen Prävention) lohnen. Von entscheidender Bedeutung für die Lebenslage Älterer sind die Einkommensverhältnisse. Sie sind dadurch charakterisiert, dass mit der Beendigung der Berufstätigkeit auch das Arbeitseinkommen und damit die Grundlage der materiellen Existenzsicherung entfallen, so dass ältere Menschen existenziell auf ein Einkommen angewiesen sind, das nicht an eine Arbeitsleistung gekoppelt ist. Ein ausreichendes und an die allgemeine Wohlstandsentwicklung angepasstes Alterseinkommen ist grundlegende Voraussetzung dafür, aktiv und gleichberechtigt am gesellschaftlichen Leben teilnehmen und teilhaben können. Um so lange wie möglich unabhängig und selbstständig zu leben, eine angemessene Wohnung zu unterhalten, soziale Kontakte zu knüpfen und aufrechtzuerhalten sowie um die viele freie Zeit aktiv zu gestalten, sich ehrenamtlich zu engagieren, ja selbst die Familienbeziehungen als wichtigste Quelle der eigenen sozialen Unterstützung positiv mitgestalten zu können – dazu bedarf es Leistungen aus den Alterssicherungssystemen. Es liegt zugleich auf der Hand, dass Aktivitätsspielräume und die Möglichkeiten zur selbstständigen Lebensführung der älteren Menschen auch ganz entscheidend durch den Gesundheitszustand geprägt sind. Er ist – neben dem Einkommen – die zweite Schlüsseldeterminante für die Lebenslage im Alter. Zwar sind Altwerden, Altsein und Krankheit nicht identisch und auch nicht notwendigerweise miteinander verbunden. Krankheit ist keine unausweichliche Begleiterscheinung des Alters. Dennoch prägt sie mit zunehmendem Alter die Lebenslage. Multimorbidität und chronisch-degenerative Erkrankungen sind typisch für das Krankheitsbild vieler älterer, vor allem sehr alter Menschen. Für die Lebenslage kommt es dabei mehr auf den subjektiv empfundenen als auf den objektiv vorhandenen Gesundheitszustand an. Mobilitätseinschränkungen werden als besonders einschneidend erlebt. Vor allem mit höherem Alter steigt das Risiko exponentiell, an Demenz zu erkranken. Allerdings verfügen die jeweils nachrückenden Kohorten Älterer zumindest in ihrer subjektiven Gesundheitsbewertung jeweils günstigere Voraussetzungen. Andererseits wiederum gewinnt auch soziale Ungleichheit bei Gesundheit im Alter zunehmend an Gewicht: Subjektive wie objektive Gesundheit sind zuungunsten der unteren sozialen Schichten ungleich verteilt. Dies gilt auch für die gesunde fernere Lebenserwartung und für die Prävalenzen von Demenzerkrankungen und Pflegebedürftigkeit (vgl. Kapitel „Pflegebedürftigkeit und Pflege“, Pkt. 1.3). Von daher sind Erreichbarkeit, Quantität und Qualität sozialer, gesundheitlicher und pflegerischer Dienste und Angebote von besonderer Bedeutung für die Lebenslage gerade älterer Menschen. Im Ergebnis konzentriert sich das „negative“ Alter auf bestimmte Gruppen älterer Menschen, vor allem auf sehr alte Menschen, darunter viele alleinstehende Frauen, auf ältere Menschen mit niedrigem sozioökonomischen Herkunftsmilieu sowie zunehmend auf solche mit Migrationshintergrund. Darüber hinaus können auch regio-

926

Alter

nale Unterschiede, z. B. in den Arbeitsmarkt- und Beschäftigungschancen oder Disparitäten in den Angebots- und Versorgungsstrukturen mit sozialen Diensten, die zudem mit sozial-selektiv wirkenden Zugangsbarrieren verbunden sind, zu sozialen Ungleichheiten im Alter führen. Direkte und indirekte Formen von Altersdiskriminierung verstärken diesen Prozess. Derzeit befindet sich nur eine – allerdings quantitativ beachtliche – Minderheit der älteren Menschen in derart sozial problematischen Lebenslagen. Die Feststellung, dass das „positive“ Alter für die Situation der Mehrheit der älteren Generation in Deutschland typisch ist, gilt allerdings nicht umstandslos auch für die Zukunft. In Anbetracht der ökonomischen und demografischen Entwicklung sowie der Ungewissheit über die künftige Richtung der Sozialpolitik ist es eine offene Frage, ob es künftig mehr oder weniger sozial problematische Lebenslagen im Alter gibt. Der Gruppe von älteren Menschen in zufriedenstellenden bis guten und sehr guten Lebenslagen könnte eine wachsende Zahl jener gegenüberstehen, die auf Grund vor allem von Langzeitarbeitslosigkeit, instabilen Erwerbsarbeitskarrieren und prekären Beschäftigungsverhältnissen auf der einen Seite und den Einschnitten in den Systemen der Alterssicherung auf der anderen Seite mit finanziellen Problemen zu rechnen hat. Wachsende soziale Probleme des Alters können darüber hinaus auch aus den Veränderungen in den Familienstrukturen sowie insbesondere aus der wachsenden kulturellen Differenzierung der Bevölkerung infolge der Migration resultieren.

2

Folgewirkungen des demografischen und sozialen Wandels

2.1

Kollektives Altern in einer Gesellschaft des langen Lebens

Wie alle modernen Gesellschaften so ist auch Deutschland von einem demografischen Umbruch mit der Folge einer Alterung der Bevölkerung gekennzeichnet. Neben Japan, Korea und (in Europa) Italien zählt Deutschland zu den weltweit am schnellsten alternden Gesellschaften. Verantwortlich dafür sind im Wesentlichen die anhaltend niedrige Geburtenhäufigkeit sowie der kontinuierliche Anstieg der Lebenserwartung. Die starken Zuwanderungen in den zurückliegenden Jahrzehnten und insbesondere seit 2015/16 haben den Alterungsprozess der Bevölkerung nur abbremsen, aber nicht aufhalten können. Zu unterscheiden ist ein dreifaches Altern der Gesellschaft. Damit gemeint ist • • •

die Zunahme der absoluten Zahl älterer Menschen, der wachsende Anteil der älteren Menschen an der Gesamtbevölkerung und der starke Anstieg der sehr alten Menschen im Alter von 80 Jahren und mehr.

Die Zahl der älteren Menschen nimmt laufend zu. So haben sich die 65 Jahre und älteren Einwohner:innen in Deutschland wie folgt entwickelt: 13,7 Mio. im Jahr 2000

Folgewirkungen des demografischen und sozialen Wandels

927

Abbildung XI.1 Entwicklung von Bevölkerung und Altersstruktur 1960 – 2060 Vorausberechnung

in Mio. 80

73,1 8,5

78,1 10,8

78,4 12,2

79,8 11,9

82,3 13,7

81,8 16,9

82,2

82,9

83,3

82,9

17,3

17,8

18,3

21,4

80,8 22,6

77,8 22,1

60

40

43,9

43,9

74,8 Insgesamt 22,0 65 u. älter

45,3

50,5

51,2

49,7

49,8

49,8

49,8

46,0

44,0

42,7

39,9

14,2

13,1

12,9

20 20,8

23,4

21,0

20 - 65 17,3

17,4

15,2

15,1

15,3

15,3

14,9

16,6

20,6

21,0

21,5

21,9

15,5

0

unter 20 ahren

in % 100%

11,6

13,8

15,5

25,9

28,0

28,4

29,4

75% 50%

60,1

56,2

57,7

63,3

62,2

60,9

60,0

60,1

59,7

55,5

54,4

54,8

53,3 20 - 65

25% 0%

65 u. älter

28,4

30,0

26,8

21,7

21,1

18,4

18,4

18,4

18,3

18,6

17,6

16,8

17,2

1960

1970

1980

1990

2000

2010

2015

2018

2020

2030

2040

2050

2060

unter 20 ahren

Annahmen der Vorausberechnung: Variante 15 – siehe Tabelle II.10 in Kapitel „Ökonomische Grundlagen und Finanzierung“. Quelle: Statistisches Bundesamt (2018), Bevölkerungsfortschreibung, Fachserie 1, Reihe 1.3; Statistisches Bundesamt (2019), 14. koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung.

und 17,8 Mio. im Jahr 2018. Der Anteil der 65 Jahre und älteren Menschen an der Gesamtbevölkerung stieg von 16,6 % im Jahre 2000 auf 21,5 % im Jahr 2018 (vgl. Abbildung XI.1). Ein besonders starker Zuwachs zeigt sich bei den 80jährigen und älteren Menschen: Sie nahmen von über 3,1 Mio. in 2000 bis auf knapp 5,4 Mio. in 2018 zu. Das entspricht einem Anstieg an der Gesamtbevölkerung von 3,8 % in 2000 auf 6,5 % in 2018 (vgl. Abbildung XI.2). Ein wesentlicher Grund für die starke Zunahme der Zahl der 65jährigen und älteren Menschen und insbesondere der 80jährigen und Älteren an der Gesamtbevölkerung liegt im Anstieg der ferneren Lebenserwartung. Betrug sie 2002/2004 für die 65jährigen Frauen noch 19,8 Jahre bzw. für die gleichaltrigen Männer noch 16,3 Jahre, so lässt sich bis 2015/17 für die Frauen ein Anstieg um 1,2 Jahre auf 21,0 Jahre bzw. für die Männer um 1,5 Jahre auf 17,8 Jahre feststellen. Für 2060 gibt es folgende Vorausberechnungen: 23,2 Jahre für die 65jährigen Frauen und 20,4 Jahre für die gleichaltrigen Männer (vgl. Kapitel „Ökonomischen Grundlagen und Finanzierung“, Pkt. 5.1 und Abbildung II. 15). Dieser auch für alle entwickelten Gesellschaften feststellbare Trend einer Verschiebung der Altersstruktur wird sich in der Zukunft fortsetzen, wie die Vorausbe-

928

Alter

Abbildung XI.2 Bevölkerung im Alter 80 Jahre und älter 1950 – 2060 Vorausberechnung

12

11,4

12

10,4 10 9,0

10 Bevölkerung 80 Jahre und älter in % der Gesamtbevölkerung rung (rechte Achse) 7,1

8

7,79

6,5 7,27

5,8

6

5,3

6

8

8,87

7,2

5,92

6,00

5,40 3,8

3,8

4

4,77

4

4,33 2,7 3,03

2,0 1,6

2 1,0

1,17 0

3,13 2

2,12

Bevölkerung 80 Jahre und älter in Millionen

1,56

0,69 1950

1960

1970

1980

1990

2000

2010

2015

2018

2020

2030

2040

2050

2060

0

Annahmen der Vorausberechnung: Variante 15 – siehe Tabelle II.10 in Kapitel „Ökonomische Grundlagen und Finanzierung“. Quelle: Statistisches Bundesamt (2018), Bevölkerungsfortschreibung, Fachserie 1, Reihe 1.3; Statistisches Bundesamt (2019), 14. koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung.

rechnungen des Statistischen Bundesamtes sowohl für die Zahl der älteren wie der sehr alten Menschen als auch für ihre jeweiligen Anteile an der Gesamtbevölkerung erkennen lassen. Danach nimmt die Zahl der der 65jährigen und älteren auf 22,0 Mio. im Jahr 2060 zu; der Anteil steigt auf 29,4 %. Mit anderen Worten: Fast jede/r Dritte wird dann zur älteren Generation zählen, wenn man auch in der Zukunft die Altersschwelle 65+ als Maßstab nimmt. Eine besonders steile Zunahme verzeichnet die sehr alte Bevölkerung: Sowohl Zahl wie Anteile der Personen im Alter von 80 Jahren und mehr an der Gesamtbevölkerung nehmen im Prognosezeitraum bis auf 10,4 % im Jahre 2060 zu; der Anteil der über 90jährigen an der Gesamtbevölkerung erhöht sich von 0,6 % auf 2,9 % und wird sich somit fast verfünffachen.

Folgewirkungen des demografischen und sozialen Wandels

2.2

929

Strukturwandel des Alter(n)s

Gegenüber früheren Zeiträumen hat sich das Alter heute strukturell verändert. Unter dem Strukturwandel des Alters versteht man insbesondere die folgenden Dimensionen: Zeitliche Ausdehnung der Altersphase Bedingt durch den Doppeleffekt des bis weit in dieses Jahrhundert hinein vorherrschendem frühen Berufsausstiegs einerseits und der Verlängerung der ferneren Lebenserwartung andererseits hat sich die Altersphase im Lebenslauf immer weiter ausgedehnt und beträgt nicht selten 30 Jahre und mehr. Nimmt man die durchschnittliche Rentenbezugsdauer zum (allerdings ungenauen) Maßstab, dann hat sie sich zwischen 1980 und 2018 von 11,0 auf 18,2 Jahre (Männer) bzw. von 13,8 auf 21,2 Jahre (Frauen) ausgeweitet (vgl. Abbildung XI.10 in Pkt. 6.3 dieses Kapitels). Selbst der ab der Jahrtausendwende beginnende, durch die Anhebung der Altersgrenzen forcierte Prozess eines späteren Berufsaustritts bzw. Renteneintritts wird diese Entwicklung zwar abbremsen, aber nicht umdrehen können. Menschen, wenn sie endgültig aus dem Erwerbsleben ausscheiden, haben heute im Durchschnitt noch rund ein Viertel ihrer Lebenszeit vor sich. Die Zeit im Alter nimmt damit eine relativ wie absolut immer größere Rolle in ihrem Leben ein. Die sog. Dreiteilung des Lebenslaufs ist im Kern erhalten geblieben, jedoch werden die Übergänge zwischen Erwerbs- und Altersphase fließender. Ein Indikator dafür ist, dass eine steigende Zahl von älteren Menschen auch nach dem Bezug einer Altersrente noch erwerbstätig ist. Diese Kombination von „Arbeit trotz Rente“ wird auch für die Zukunft als zunehmender Trend erwartet (vgl. Pkt. 4.4 dieses Kapitels). Soziale und sozialpolitische Differenzierung des Alters Die zeitliche Ausdehnung der Lebensphase Alter hat vielfältige Differenzierungsprozesse innerhalb der Altenpopulation zur Folge. Weit verbreitet ist die Einteilung in „junges“, „mittleres“, „hohes Alter“ und „Hochaltrigkeit“. Innerhalb der zeitlich ausgedehnten Altersphase lassen sich zudem unterschiedliche Statuspassagen unterscheiden, beginnend mit dem Berufsaustritt und dem aktiven Alter, über die Verwitwungsphase hin zum hilfebedürftigen Alter, gefolgt vom pflegebedürftigen Alter und schließlich die alterstypische Sterbephase. Unter sozialpolitischen Aspekten ist diese Binnendifferenzierung bedeutsam, weil mit der Verschiedenheit von Lebenslagen und -phasen auch unterschiedliche soziale Probleme und sozialpolitische Bedarfslagen verbunden sind. Infolgedessen sind einheitliche, auf die Gruppe der älteren Menschen bezogene allgemeine Konzepte und Maßnahmen nur begrenzt problemangemessen und werden zunehmend durch eine zielgruppen- und lebensphasenspezifische Alterssozialpolitik ersetzt.

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Alter

Ethnisch-kulturelle Differenzierung des Alters Auch für die Wohnbevölkerung mit ausländischer Herkunft wird ein allmählicher Alterungsprozess vorhergesagt. In dem Maße, in dem Menschen mit Migrationsgeschichte auf Dauer in Deutschland bleiben, verändert sich auch die kulturelle Zusammensetzung der Altenbevölkerung. Der Anteil der Menschen mit Migrationshintergrund in der Gruppe der über 65jährigen wird von knapp 10 % im Jahre 2018 in den folgenden Jahren deutlich ansteigen, allerdings nicht flächendeckend, sondern konzentriert auf bestimmte Regionen und einzelne Städte. Die Gründe für das Altern in der Fremde liegen insbesondere im Familienkontext (Kinder, Enkelkinder leben hier), im Festhalten an den gewohnten Lebensbedingungen und einer wachsenden kulturellen und emotionalen Entfremdung vom Herkunftsland. Für viele gibt es in ihrem Herkunftsland auch kein Zuhause mehr (z. B. bei Fluchtmigration). Die gesonderte Berücksichtigung ihrer spezifischen sozialen Probleme und Bedürfnisse in der Sozial- und Altenpolitik (z. B. kultursensible Pflegeangebote) ist längst zu einer sozialpolitischen Daueraufgabe geworden. Dennoch gibt es immer noch erhebliche Versorgungslücken. Dies gilt umso mehr, als aktuelle Studien für diese Bevölkerungsgruppe – verglichen mit den deutschen Alten – eine deutlich schlechtere sozioökonomische wie gesundheitliche Lebenslage ausweisen. Hinzu kommt, dass ältere Menschen mit Migrationsgeschichte im Schnitt stärkere Zugangsbarrieren zu den bestehenden, zumeist auf die einheimische Bevölkerung zugeschnittenen sozial-pflegerischen und gesundheitlichen Angeboten haben. Verjüngung des Alters Mit der Verjüngung des Alters sind zwei Dimensionen angesprochen: Zum einen traten und treten bestimmte typische Alter(n)sprobleme auch in frühen Stadien des Lebenslaufes auf (so insbesondere auf dem Arbeitsmarkt; vgl. Punkt 4.4 dieses Kapitels). Die Menschen wurden und werden durch den ökonomischen und technologischen Wandel alt gemacht, ohne bereits kalendarisch alt zu sein. Zum anderen gibt es eine ganz erhebliche Diskrepanz zwischen dem eigenen chronologischen Alter und der subjektiven Altersselbsteinschätzung: Vor allem die nachrückenden Kohorten Älterer fühlen sich deutlich jünger als sie tatsächlich sind, in den jüngeren Altersgruppen um bis zu 10 Jahre. Dem entspricht eine immer spätere Selbstzuordnung zur Gruppe der „Alten“. Diese beginnt heute im Durchschnitt weit nach dem 75./80. Lebensjahr und zumeist auch erst bei schweren gesundheitlichen und/oder funktionellen Einschränkungen. Dies hat Rückwirkungen auf die Diskussion um faktische wie virtuelle Altersgrenzen im Zugang zu Sozialleistungen (z. B. hinsichtlich von Altersgrenzen in den Alterssicherungssystemen und von Angeboten der medizinischen und rehabilitativen Versorgung). Feminisierung des Alters Bedingt durch die höhere Lebenserwartung der Frauen überwiegt ihr Anteil an der Altenpopulation in Deutschland. Derzeit beträgt die Geschlechterverteilung bei den

Folgewirkungen des demografischen und sozialen Wandels

931

Abbildung XI.3 Bevölkerung nach Altersgruppen und Geschlecht Jahresende 2017 50,58,21 = 0,58 Mio. =Mio. 75,2%

Frauen 2,67 Mio. = 60,9%

4,28 Mio. = 54,5%

5,21 Mio. = 51,6%

90 +Jahre

0,19 Mio. = 24,8%

80 - 90 Jahre

70 - 80 Jahre

60 - 70 Jahre

50 - 60 Jahre

6,66 Mio. = 49,8%

5,32 Mio. = 49,6%

5,12 Mio. = 49,0%

4,74 Mio. = 47,9%

3,73 Mio. = 48,1%

3,64 Mio. = 48,6%

40 - 50 Jahre

30 - 40 Jahre

20 - 30 Jahre

10 - 20 Jahre

0 - 10 Jahre

Männer

1,7 Mio. = 39,1%

3,6 Mio. = 45,5%

4,9 Mio. = 48,4%

6,7 Mio. = 50,2%

5,4 Mio. = 50,4%

5,3 Mio. = 51,0%

5,2 Mio. = 52,1%

4,0 Mio. = 51,9%

3,9 Mio. = 51,4%

Quelle: Statistisches Bundesamt (2019), Bevölkerung und Erwerbstätigkeit, Fachserie 1 Reihe 1.3.

65jährigen und älteren etwa gut drei Fünftel Frauen zu knapp zwei Fünftel Männer (vgl. Abbildung XI.3). Mit zunehmendem Alter verschiebt sich diese Relation immer weiter zu Gunsten der Frauen: bei den 80 bis 90jährigen machen die Frauen über 60 %, und bei den über 90jährigen mehr als 75 % der Bevölkerung aus. Altenpolitik ist insofern faktisch überwiegend Politik für ältere Frauen. Allerdings hat sich der Abstand zwischen der ferneren Lebenserwartung von Frauen und Männern in den zurückliegenden Jahren verringert und es spricht viel dafür, dass sich dieser Trend auch in Zukunft fortsetzt. Singularisierung des Alters Im höheren Lebensalter leben bzw. wohnen Menschen vermehrt allein. Bundesweit trifft dies auf gut 40 % der Altenbevölkerung ab 65 zu. Dabei handelt es sich zu mehr als 85 % um Frauen. Ältere Frauen leben vor allem deswegen allein, weil sie verwitwet sind. So finden sich unter den 80jährigen und älteren Frauen zu fast 70 % Witwen. Neben der höheren Mortalität der Männer sind dafür auch die für diese Kohorte noch stärkeren geschlechtstypischen Unterschiede in den Heiratsaltern verantwortlich. Zunehmend bestimmen aber auch älter werdende Singles (Ledige, Geschiedene bzw. getrennt Lebende) den Trend zur Singularisierung des Alters. Mit einem Verbreitungsgrad von knapp 50 % bildet der Zwei-Personen-Altenhaushalt (zumeist verheiratet) die wichtigste Wohnform im Alter. Der Mehrgene-

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Alter

rationenhaushalt, also das Leben mit den Kindern, ist mit weniger als 5 % für ältere Menschen dagegen schon zur Ausnahme geworden. Aber auch die neuen Formen des Gemeinschaftswohnens älterer Menschen finden sich (noch) ganz selten, allerdings haben ambulant betreute Wohngemeinschaften – zumeist für ältere Demenzkranke und Behinderte (aller Altersgruppen) – deutlich zugenommen, sind aber zumeist nur Ersatz für fehlende institutionalisierte Wohnformen und gelten als hybride Wohnformen (vgl. Kapitel „Pflegebedürftigkeit und Pflege“, Pkt. 4). Grundsätzlich bedeutet Alleinleben, im Bedarfsfall überdurchschnittlich häufig auf praktische Unterstützung durch Dritte angewiesen zu sein. Die schwindende Bedeutung des Zusammenlebens mit Kindern und Enkelkindern entspricht einem weit verbreiteten Wunsch sowohl der Kinder als auch der älteren Menschen selbst. Sie wollen – so lange dies möglich ist – eigenständig wohnen und leben. Die Formel von der Intimität auf Abstand charakterisiert die von den älteren Menschen selbst gewollte Art und Qualität der Beziehungen zur eigenen Familie, denn durch die auch räumliche Distanz zu den Kindern lassen sich am ehesten gegenseitige Abhängigkeiten, Kontrollen und Konflikte vermeiden. Hochaltrigkeit Hochaltrigkeit, d. h. ein Leben jenseits des 80./85. Geburtstages, gilt als herausragender Indikator des Strukturwandels des Alters. Im demografischen Wandel ist die zunehmende Hochaltrigkeit (vgl. Abbildung XI.2) die aus sozialpolitischer Sicht bedeutsamste Dimension alternder Gesellschaften, da es eine enge Bindung von Krankheit, Hilfe- und Pflegebedürftigkeit an ein sehr hohes Alter gibt. Hochaltrigkeit, Singularisierung und Feminisierung fallen in der Altersrealität häufig zusammen. Zwar gibt es auch hier keinen demografischen Automatismus, allerdings impliziert wachsende Hochaltrigkeit einen steigenden Bedarf an Unterstützung durch organisierte soziale Dienste, wie die Empirie bestätigt; zumal die sonstigen, vor allem familiären Systeme der Unterstützung, für diesen Personenkreis demografisch wie soziostrukturell bedingt ausdünnen bzw. schwächer werden. So sind die eigenen Kinder in der Regel bereits selbst im Rentenalter. Mit einem sehr hohen Alter sinkt auch die Zahl der Ein-Personenhaushalte Älterer und nehmen zumeist unfreiwillige Umzüge in andere Wohn- und Lebensformen zu. In den Alten- und Pflegeheimen wohnen fast ausschließlich sehr alte Menschen (vgl. Kapitel Pflegebedürftigkeit und Pflege“ Pkt. 2.2). 2.3

Generationensolidarität oder Generationenkonflikt ?

2.3.1 Familiäre Generationenbeziehungen

Der weitaus überwiegende Teil der älteren Menschen ist in familiäre Strukturen eingebunden: In Abhängigkeit von den gelebten Lebensformen und vom erreichten Lebensalter gibt es womöglich nicht nur (Ehe-)Partner:innen sondern auch Kinder,

Folgewirkungen des demografischen und sozialen Wandels

933

Schwiegerkinder, Enkelkinder, Brüder und Schwestern, Nichten und Neffen. Die bloße Existenz von Familienmitgliedern sagt allerdings noch wenig über die räumliche Nähe der Generationen aus. Und offen bleibt, wie eng und intensiv die Beziehungen untereinander sind. Es liegt zudem auf der Hand, dass der Umfang eines familiären Netzwerks bei Kinderlosigkeit sehr viel geringer ist als bei kinderreichen Familien. Die Empirie der familiären Beziehungen zeigt, dass das familiäre Engagement sowohl der jüngeren wie der älteren Generation aktuell ausgesprochen hoch ist. Trotz des häufig bemühten Bildes eines Zerfalls der Institution Familie unter dem Zeichen einer wachsenden Individualisierung und Pluralisierung von Lebensformen erweisen sich die intergenerationellen Beziehungen bis hin zu Hilfe- und Unterstützungsleistungen als erstaunlich stabil und leistungsfähig. Zwar haben sich die Formen des (Zusammen-)Lebens der Menschen im Zuge des sozialen und demografischen Wandels verändert, und auch die Ehe ist davon betroffen, denn der Anteil der Menschen, die verheiratet alt werden, ist in den letzten Jahren und Jahrzehnten gesunken. Dennoch funktioniert der gegenseitige Austausch von Hilfen und Unterstützungsleistungen und nimmt vor dem Hintergrund demografisch bedingter Ausdünnung familiärer und sozialer Netze sogar noch zu. Innerfamiliäre Austauschbeziehungen finden dabei meistens in Form eines Kaskadenmodells statt: Materielle Unterstützungsleistungen fließen häufiger von den älteren hin zu den jüngeren Generationen, während instrumentelle und emotionale Hilfen häufiger in die andere Richtung gehen. Wichtigste Voraussetzung für einen trag- und funktionsfähigen Austausch von Hilfen und Unterstützung ist eine zeitlebens zufriedenstellende Beziehung zwischen den Generationen. Auch die gestiegene Wohnentfernung zwischen Eltern und ihren erwachsenen Kindern reduziert Kontakthäufigkeit und Austauschbeziehungen nicht entscheidend. Historisch neu ist die deutlich ausgeweitete Großelternunterstützung – zumeist gegenüber den Enkelkindern. Großeltern sind vor allem dann als „Ersatzeltern“ tätig, wenn die Eltern Beruf und Familie nur schwer in Einklang bringen können. Heute ist knapp ein Drittel der Großeltern in der Enkelkinderbetreuung engagiert, nicht selten auch im Vereinbarkeitskonflikt mit eigener Erwerbsarbeit. Andererseits sind auch zunehmend Enkelkinder an der Pflege ihrer Großeltern beteiligt Besonders bedeutsam sind innerfamiliäre finanzielle Transfers. Es sind z. B. heute vor allem die Alten, die die Jungen unterstützen: Eltern, Großeltern und auch Urgroßeltern lassen ihren Kindern, Enkel- und Urenkelkindern vor allem Sach- und Geldgeschenke zukommen. Unter ihnen sind die jüngeren Alten überrepräsentiert. Auch die Übertragung von Vermögen schon zu Lebzeiten oder im Todesfall (Vererbung) ist häufig. Die früher üblichen Übertragungen in umgekehrter Richtung, d. h. die Finanzierung der Älteren durch die Jüngeren, sind hingegen kaum noch zu verzeichnen, d. h. die familiären monetären Generationentransfers laufen entgegengesetzt zu den sozialstaatlichen Transfers. Ohne die finanzielle Unterstützung durch die Eltern- und Großelterngeneration könnte eine wachsende Zahl von jüngeren Familien und vor allem von Alleinerziehenden kaum über die Runden kommen. Dies

934

Alter

gilt insbesondere für Notsituationen wie bei Arbeitslosigkeit, nach Trennungen und Scheidungen oder im Falle finanziell hoher Sonderaufwendungen (z. B. Hauskauf). Familiäre Generationenbeziehungen beschränken sich aber keineswegs auf monetäre Leistungen: Die persönlichen Kontakte zwischen Eltern und Kindern enden nicht mit der Auflösung der Ursprungsfamilie, sondern werden über Haushalts- und selbst über gestiegene Wohnentfernungsgrenzen hinweg aufrechterhalten. Dabei handelt es sich nicht nur um ein idealtypisches, zeitlich versetztes wechselseitiges von Geben und Nehmen, nach der die Eltern ihre Kinder versorgen, und im Gegenzug die Kinder im Erwachsenenalter ihre pflegebedürftig gewordenen Eltern versorgen. Der Austausch findet auch zeitlich parallel statt. Viele Menschen sind bis ins höchste Alter hinein sozial aktiv und engagieren sich im familiären oder nachbarschaftlichen Raum. Historisch gesehen sind Familien noch nie so häufig wie heute in der privaten Pflege und Betreuung von Familienmitgliedern engagiert. Es gilt der Satz: Die Familie ist der größte Pflegedienst der Nation. Die zu Hause versorgten, zumeist sehr alten Pflegebedürftigen werden weit überwiegend von Personen aus dem engen verwandtschaftlichen Umfeld versorgt, und dies trotz hoher physisch-psychischer Belastungen durch die Dauerpflege, auch von schwerwiegenden Fällen von Pflegebedürftigkeit. Allerdings stößt diese Form der häuslichen Pflege auch an Grenzen und erfordert ergänzende professionelle Unterstützung. Die Übersiedlung in ein Heim ist heute zumeist die Folge einer nicht mehr zu realisierenden und zu verantwortenden familiären Versorgung von schwer und schwerst pflegebedürftigen Angehörigen (vgl. Kapitel „Pflegebedürftigkeit und Pflege“ Pkt. 2.1). Mit intergenerationellem solidarischem Handeln im Familienverband kann vor allem dann gerechnet werden, wenn die Betroffenen selbst familiäre Solidarität praktisch erfahren haben. Es lässt sich folgendes Strukturmuster für innerfamiliäre Reziprozität über den gesamten Lebenslauf erkennen: Einmal in der Kindheit und Jugend erfahrene praktische Unterstützung wird später im Bedarfsfall zurückgegeben. Umgekehrt bleiben familiäre Unterstützungsressourcen selbst bis ins hohe Alter erhalten, vorausgesetzt, die eigene gesundheitliche und/oder ökonomische Lage lässt dies zu. Familiäre Generationenbeziehungen sind weder voraussetzungslos noch konfliktfrei. Insbesondere die mittlere Generation, die Erwerbstätigkeit, Kindererziehungen und womöglich auch Angehörigenpflege miteinander vereinbaren muss, steht unter großen Anspannungen, die bis hin zur Überforderung reichen können. Konkret geht es um die Belastung der Frauen, die immer häufiger – bis zum Erreichen der (steigenden) Altersgrenzen – erwerbstätig sein wollen und auch müssen. Auch vor diesem Hintergrund ist ein wachsender Bedarf an sozialen Diensten und Maßnahmen zur Förderung und Aufrechterhaltung der selbstständigen Lebensführung Älterer und zur besseren Vereinbarkeit von Berufstätigkeit und Pflege absehbar. Selbstverständlich kann es zu Auseinandersetzungen zwischen den Generationen um Werte, Normen, Einstellungen und Lebensstile kommen. Das ist nicht neu und auch nicht bedrohlich. Zu beachten ist dabei, dass jede Rentnergeneration mit ande-

Folgewirkungen des demografischen und sozialen Wandels

935

ren Lebenserfahrungen konfrontiert worden ist und somit auch eigene Wertvorstellungen und Ziele entwickelt hat. So gilt vor allem die in das Rentenalter vorrückende Babyboomer-Generation als stärker individualistisch, autonomieorientiert und mit klaren Vorstellungen zur eigenständigen Gestaltung ihres Lebens ausgestattet. Unterschiede in den kulturellen und sonstigen Wertvorstellungen und Weltanschauungen, wie sie beispielsweise für die 1960er und frühen 1970er Jahre durchaus verbreitet waren, sind aber heute definitiv keine Quelle mehr für ernstzunehmende Generationenkonflikte. Offensichtlich sind sich die Generationen in dieser Hinsicht nähergekommen. Obwohl alles darauf hindeutet, dass die Familie auch in Zukunft die zentrale Institution zur sozialen Integration sowie zur emotionalen und instrumentellen Unterstützung älterer Menschen bleibt, heißt dies nicht, blind auf die Belastbarkeit familiärer Hilfs- und Pflegepotenziale vertrauen zu können. Die Herausforderungen steigen und verlangen Vorkehrungen. Auch ist zu berücksichtigen, dass die künftige Kindergeneration wegen der niedrigen Geburtenrate kleiner wird. Schon jetzt haben rund 20 % der Männer und Frauen, die zwischen 1959 und 1963 Geboren sind, keine Kinder (mehr) (vgl. Kapitel „Familie und Kinder“, Pkt. 4.2) Angesichts der hohen Scheidungs- und Trennungsquoten auch in den mittleren und höheren Altersgruppen und sinkender (Wieder-)Verheiratungshäufigkeit (vgl. Kapitel „Familie und Kinder“ Pkt. 3.2) ist zudem zu erwarten, dass sich auch der Familienstand älterer Menschen hin zu einem wachsenden Anteil Geschiedener und Lediger entwickeln wird. Die Folge könnte eine Zunahme der Älteren sein, die nur über ein geringes familiäres Unterstützungspotenzial verfügen. Zwischen praktizierter innerfamiliärer Solidarität auch über die Generationen hinweg und dem umlagefinanzierten System der sozialen Sicherung besteht ein Zusammenhang: Die junge Generation akzeptiert den sozialstaatlichen Generationenverbund nicht nur deswegen, weil eigene Ansprüche erworben werden. Sie akzeptiert ihn darüber hinaus auch, weil über die gleichzeitig stattfindende Unterhaltssicherung der Elterngeneration eigene Versorgungsverpflichtungen reduziert und zugleich Chancen eröffnet werden, in prekären Situationen selbst finanziell wie praktisch von der Elterngeneration unterstützt zu werden. Umgekehrt gilt dies auch für die Älteren. Mit anderen Worten: Die zwischen den Generationen praktizierte Alltagssolidarität im Kleinen bildet gleichsam die strukturelle Grundlage für den gesellschaftlichen Generationenausgleich im Großen. Das schließt nicht aus, dass es auch zu einem ernst zu nehmenden, konträr geführten Diskurs und Konflikt zwischen den Generationen über verteilungspolitische Fragen und eine gerechtere Finanzierung der Sozialleistungen kommen kann (vgl. Pkt. 2.3.2 dieses Kapitels). Das hängt vor allem davon ab, wie sich die gesamtwirtschaftliche Lage entwickelt und wie es der Politik gelingt, dem Eindruck entgegenzuwirken, dass die Finanzierung der Leistungen an die ältere Generation einseitig die Jüngeren belastet.

936

Alter

2.3.2 Ältere Menschen als ökonomische Belastung ?

Die Diskussion um die Folgewirkungen des demografischen Wandels hat dazu geführt, dass in der öffentlichen Debatte das Älterwerden der Gesellschaft immer wieder als soziale und ökonomische Belastung dargestellt wurde und wird. Die Konsequenzen des „Ergrauens“ der Gesellschaft wurden und werden vorrangig durch die Brille steigender Kosten, z. B. für die Alterssicherung, die Versorgung im Krankheitsfall oder bei Pflegebedürftigkeit, gesehen. Befürchtet wurde und wird das Auftreten eines Generationenkonflikts bis hin zu einem Generationenkrieg, nach dem die jüngere, aktive Generation zunehmend weniger gewillt und auch nicht mehr in der Lage sei, ihren Teil des Generationenvertrags zu erfüllen. Verwiesen wird dabei zumeist auf die umlagefinanzierten sozialen Sicherungssysteme: Immer mehr ältere Leistungsbeziehende mit überdies immer längeren Bezugsdauern würden die jüngeren Beitragszahlenden überfordern, die ihrerseits weitere Verpflichtungen und Aufgaben schultern müssten (z. B. Ausgaben für die eigene private Alterssicherung, Versorgung und Erziehung der Kinder, Pflege der Eltern). Allerdings bestätigen repräsentative Studien übereinstimmend, dass von einem Generationenkrieg keine Rede sein kann. Davor schützen vor allem funktionierende familiäre Generationenbeziehungen. Die innerfamiliär erlebte Solidarität zwischen den familiären Mitgliedern einzelner Generationen scheint die Bereitschaft zu stärken, in den großen Generationenvertrag zu investieren. Dennoch gilt, dass Generationensolidarität nicht im Selbstlauf entsteht, sie ist vielmehr eine herzustellende Beziehung. Angesichts der demografischen Veränderungen ist ihre nachhaltige Förderung und Stabilisierung zu einer politischen Gestaltungsaufgabe geworden und speziell der Sozialpolitik eine neue Verantwortung zugewachsen. Die Vorstellungen von der wachsenden Belastung der Jüngeren durch die Alten und des Gegeneinanders von einer Gewinnergeneration und Verlierergeneration vermitteln ein eher verzerrtes Bild von der Wirklichkeit. Zwar trifft zu, dass der finanzielle Druck auf die öffentlichen Haushalte und die Parafisci (z. B. Sozialversicherungsträger) wegen der demografischen Entwicklung zunimmt, zu fragen ist aber, ob auch in dem Ausmaß, wie vielfach behauptet. Zweifellos stark betroffen ist die Pflegeversicherung, weil sich hier die wachsende Zahl sehr alter Menschen unmittelbar ausgabewirksam bemerkbar macht (vgl. Kapitel „Pflegebedürftigkeit und Pflege“ Pkt. 9). Unmittelbar beeinflusst sind auch die Alterssicherungssysteme, für die in Zukunft Finanzierungsprobleme erwartet werden. Dies gilt aber nicht nur für die umlagefinanzierten Systeme, sondern gleichermaßen für die Systeme der privaten und betrieblichen Vorsorge, die nach dem Kapitaldeckungsverfahren arbeiten. Die Belastungen können sich relativieren, wenn es gelingt, ein hohes Beschäftigungs- und Erwerbseinkommensniveau zu erreichen und für möglichst viele ältere Arbeitnehmer:innen die Lebensarbeitszeit auch faktisch zu verlängern (vgl. Pkt. 4.3 dieses Kapitels). Dies setzt allerdings zahlreiche Vorleistungen auf Seiten der Wirtschafts-, Bildungs-, Gesundheits- und Beschäftigungspolitik und Anstrengungen der Betriebe

Folgewirkungen des demografischen und sozialen Wandels

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voraus. Hingegen ist fraglich, ob dieser Belastungstrend auch für das Gesundheitswesen gilt, denn die durch das Altern der Gesellschaft verursachten Ausgabeneffekte werden stark überschätzt und auch falsch interpretiert (vgl. Kapitel „Gesundheit und Gesundheitssystem“, Pkt. 12.2). Der demografische Belastungsdiskurs ist aber vor allem deswegen einseitig, weil die Eigenleistungen der Älteren verkürzt dargestellt werden. Um das Verhältnis der Generationen umfassend beurteilen zu können, bedarf es einer übergreifenden Betrachtung. Zu berücksichtigen sind dabei vor allem folgende Aspekte: •

Die wirtschaftliche Leistungskraft der Volkswirtschaft ist nicht allein das Ergebnis des Arbeitseinsatzes der Jüngeren. Die Produktivität der Volkswirtschaft hängt entscheidend vom Bestand an Realkapital, öffentlicher Infrastruktur und Humankapital ab, die von der älteren Generation geschaffen worden sind. Diese Vorleistungen sind ein wichtiger Faktor für Niveau und Entwicklung des Sozialprodukts und entscheiden nicht zuletzt über den Lebensstandard der Jüngeren. • Diese wirtschaftliche Sicht des Generationenverhältnisses macht deutlich, dass die nachrückende Generation nicht einfach aus dem wechselseitigen Verbund aussteigen kann, sondern immer auch von den Vorleistungen der vorherigen Generationen profitiert. Die These von der Benachteiligung der aktiven Generation beruht somit auf einer unzulässigen Querschnittsbetrachtung. Erforderlich ist vielmehr eine Sichtweise im Längsschnitt, die die Entwicklung von Transferströmen im Lebenslauf zum Gegenstand hat und die dabei deutlich macht, dass Menschen jeweils im Zeitablauf die verschiedenen Lebensphasen durchlaufen und damit zeitweilig Nettozahler:innen und zeitweilig Nettoempfänger:innen sind. Die in der aktuellen Periode begünstigten Rentner:innen waren in der Vorperiode in der Gruppe der Nettozahler zu finden. • Auch unmittelbar sind die Älteren an der Förderung von wirtschaftlichem Wachstum und gesellschaftlichem Wohlstand beteiligt. Zum einen sind die Beschäftigungsquoten Älterer in den letzten Jahren stark gestiegen (vgl. Pkt. 4.3 dieses Kapitels). Ältere Menschen sind aber auch dann noch wirtschaftlich aktiv, wenn sie längst ihre Berufstätigkeit aufgegeben haben. Den Belastungen der Aktiven durch die Beitrags- und Steuerabzüge steht auf der anderen Seite die Einkommensverwendung der Älteren gegenüber. Z. B. stellen sie mit ihren nicht unbeträchtlichen Sparguthaben Produktivkapital zur Verfügung, mit dem in neue Technologien, Produkte und Arbeitsplätze investiert wird. • Lange Zeit unbeachtet blieb die produktive Rolle der Älteren als Konsumenten auf Märkten, die durch sie teilweise erst neu geschaffen oder weiterentwickelt worden sind. So verdankt die boomende Seniorenwirtschaft (silver economy) der Alterung der Gesellschaft einen gewichtigen Teil ihrer Existenzgrundlage. Dies gilt für so unterschiedliche Bereiche wie die Gesundheitswirtschaft, fast die gesamte Pflegebranche, den Bau- und Wohnungssektor (z. B. Wohnraumanpassung, smart homes), ebenso wie für die häusliche und pflegerische Robotik, den wach-

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Alter

senden Freizeit- und Tourismusmarkt, den Bildungssektor (z. B. Seniorenbildung, Seniorenuniversitäten), die Finanzdienstleistungen sowie neuerdings auch für die Automobilindustrie (z. B. altersgerechte oder selbstfahrende Autos). Noch weitgehend unausgeschöpfte Wachstumspotenziale werden insbesondere in den Bereichen E-Health und Telemedizin für Ältere gesehen (vgl. Kapitel „Gesundheit und Gesundheitssystem“, Pkt. 13.4). Von den knapp 5 Mio. sozialversicherungspflichtig Beschäftigten im Sozial- und Gesundheitswesen (vgl. Kapitel „Soziale Dienste“, Pkt. 2.5) befasst sich ein großer Anteil schwerpunktmäßig mit Aufgaben rund um das Alter. Wie hoch die altersabhängigen Umsatzanteile in diesen Branchen sind, kann nur erahnt werden. Vor allen bei Gesundheit und Pflege wächst die Nachfrage Älterer kontinuierlich, sie ist zugleich einer der Garanten für den laufenden Beschäftigungszuwachs im sozialen Dienstleistungssektor. Allein in der ambulanten und stationären Altenpflege sind derzeit weit über 1 Mio. Arbeitskräfte beschäftigt (vgl. Kapitel „Pflegebedürftigkeit und Pflege“ Pkt. 7). Ältere Menschen sind in der Kranken- und Pflegeversicherung auch selbst Beitragszahlende, sie finanzieren einen Teil ihrer Ausgaben also mit. Sie sind auch Steuerzahlende; dies nicht nur hinsichtlich ihrer Rolle als Verbraucher und der entsprechenden Belastungen durch die Verbrauchsteuern. Da die Renten in den nächsten Jahren schrittweise voll der Einkommensteuer unterliegen, tragen die Älteren im vermehrten Maße auch zum Aufkommen der direkten Steuern bei (vgl. Pkt. 6.5.6 dieses Kapitels). Ältere führen wichtige Arbeiten aus, auch wenn diese nicht monetär vergütet werden, folglich nicht in die Berechnung des Sozialprodukts eingehen. Beispiele dafür sind Kinderbetreuung oder die Versorgung von Familienangehörigen im Krankheits- oder Pflegefall. Würden solche Aktivitäten nicht erfolgen und würden stattdessen professionelle Dienstleistungen erforderlich, so würde das Ausmaß ökonomischer Aktivitäten der Älteren unmittelbar deutlich werden. Allerdings sind die ökonomischen Potenziale Älterer nur solange nachfrage- und damit wachstums- und beschäftigungswirksam, wie auch die Alterseinkommen regelmäßig fließen. Die in ihrer Höhe und Regelmäßigkeit verlässlichen Leistungen aus den Alterssicherungssystemen gelten als die wichtigsten Garanten nicht nur für die Erfolge der Seniorenwirtschaft. Kürzungen bei den Altersrenten hätten somit ganz erhebliche makroökonomische Dämpfungseffekte.

Das Altern der Gesellschaft als (sozial)politischer Gestaltungsauftrag

3

Das Altern der Gesellschaft als (sozial)politischer Gestaltungsauftrag

3.1

Altenpolitik und Sozialpolitik für ältere Menschen

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Die demografische Entwicklung und der Strukturwandel des Alter(n)s haben weitreichende Konsequenzen für nahezu alle gesellschaftlichen Bereiche. Im politischen System kommt es – zumindest numerisch – zu einem Machtzuwachs der Älteren, z. B. gemessen an ihren bei Wahlen abgegebenen Stimmen. Bislang jedoch sind die wenigen Versuche mit ausgewiesenen Seniorenparteien erfolglos geblieben. Auch über die faktische Wirkung der zahlreichen Seniorenvertretungen auf kommunaler Ebene gibt es widersprüchliche Beurteilungen. Es kommt immer auch auf die fachliche Qualität der hier aktiven Senior:innen an, die mit der Zuordnung, Vertreter:innen in eigener Sache zu sein, nicht per se garantiert ist. Widersprüchlich fällt auch die Beurteilung der in den 1990er Jahren begonnenen Seniorenarbeit in den Parteien aus, die jeweils zur Gründung eigener Unterorganisationen, Arbeitsgemeinschaften etc. mit zumeist beratender Funktion geführt hat. Die Kritik entzündet sich dabei vor allem an der potenziell ausgrenzenden Wirkung von Sonderinstitutionen jenseits der eigentlichen politischen Machtzentren. Insgesamt ist zu bezweifeln, ob es überhaupt eigenständige Interessen des Alters gibt, die sich derart von denen anderer Altersgruppen abgrenzen, dass sie sich (partei-)politisch bündeln und organisieren ließen. Heute kann Altenpolitik ganz allgemein verstanden werden als eine an der gesamten Lebenslage im Alter ausgerichteten Politik für das Alter und für ein Leben im Alter. Es ist somit eine klassische Querschnittspolitik, die auf die Bewältigung der mit dem Alter(n)sprozess typischerweise verbundenen sozialen Risiken, Probleme und sozialen Ungleichheiten abzielt. Darin enthalten sind die drei sozialpolitischen Kernbereiche, nämlich Alterssicherungs-, Gesundheits- und Pflegepolitik. Sie reichen aber weit darüber hinaus, da der Handlungs- und Gestaltungsauftrag weitere Dimensionen der Lebenslage über die soziale Sicherung im engeren Sinne hinaus umfasst. Dieser bezieht sich in erster Linie auf Maßnahmen • • •

zur Förderung der selbstständigen Lebensführung (hinsichtlich der Bereiche Wohnen, Wohnumfeld, Informations- und Kommunikationstechnik und Mobilität), zur Integrations-, Teilhabe- und Inklusionssicherung (inkl. Beschäftigungssicherung, Bildung, Kultur, Teilhabe, Interessenvertretung und Beratung) sowie zur Förderung nachhaltig funktionsfähiger Familien- und Generationenbeziehungen und übriger sozialer Netzwerke (mit sozialer Unterstützungsfunktion und Integrationssicherung).

Zuständig ist hier vor allem die Kommunalpolitik mit ihrem verfassungsrechtlich zugewiesenen Auftrag zur sozialen Daseinsvorsorge (vgl. Kapitel „Soziale Dienste“, Pkt. 3.1.2). Typisch sind hier Abgrenzungs- und Überschneidungsprobleme mit wich-

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Alter

tigen landes- oder bundesgesetzlich geregelten Aufgaben vor allem der Familien-, Stadtentwicklungs-, Verkehrs- oder Wohnungspolitik. Aber auch der Abstimmungsbedarf zwischen einzelnen kommunalen Politikfeldern, Verwaltungszweigen und Ämtern ist ein permanenter Anlass für Friktionen nicht selten zum Nachteil der Hilfesuchenden. Erschwerend kommt hinzu, dass kommunale Seniorenpolitik zumeist als freiwillige Aufgabe angesehen wird. Im Gegensatz zur Jugendpolitik gibt es auch keine eigenständige gesetzliche Grundlage vergleichbar zum Kinder- und Jugendhilfegesetz (SGB VIII). Ganz generell gilt als oberste Handlungsmaxime einer Politik für das Alter, so lange wie möglich die selbstständige Lebensführung und das selbstständige Wohnen aufrechtzuerhalten, und zwar auch bei stark eingeschränktem Gesundheitszustand und Pflegebedürftigkeit. Dies entspricht den Wünschen der weitaus meisten Älteren selbst. Mit fortschreitendem Alter werden die eigenen vier Wände immer mehr zum Lebensmittelpunkt. Adressiert sind so unterschiedliche Handlungsfelder wie hauswirtschaftliche Dienste zur Unterstützung des Alltagsmanagements, Hausnotrufsysteme oder IKT-gestützte Assistenzsysteme. Zentral sind Verbesserungen der Wohnung und des Wohnumfelds gerade für Menschen mit gesundheitlichem und pflegerischem Versorgungsbedarf. Der höchste Bedarf besteht hinsichtlich der Förderung des Normalwohnens im angestammten Quartier. Dabei ist zu beachten, dass immer mehr ältere Menschen heute im Wohneigentum leben (in den alten Bundesländern knapp 50 %). 3.2

Auf dem Weg zu neuen Altersrollen ?

Mit dem demografischen und strukturellen Alterswandel kommt es zu einer Differenzierung und Aufwertung typischer Altersrollen. Das über lange Jahre dominierende Defizitmodell des Alters hat sich überlebt. Die Selbst- wie Fremdbilder zielen in Richtung Selbstbestimmung und Teilhabeansprüche. Ältere sind heute in fast allen gesellschaftlichen Bereichen in wichtige Funktionen und Aufgaben eingebunden und dabei zu Objekten von Bemühungen um ihre Ressourcen und Potenziale geworden. Die traditionellen an Passivität, Versorgung, Betreuung und Freizeit ausgerichteten Angebote der klassischen Altenhilfe, wie etwa Seniorenarbeit in Altentagesstätten und -clubs und dgl. oder kirchlich organisierte Seniorenreisen, verlieren an Bedeutung. Sie werden schon seit Langem ersetzt durch Betätigungsangebote mit individuellem wie gesellschaftlichem Nützlichkeitsbezug und aktiven Beteiligungsmöglichkeiten. Angebote, die zugleich auf intergenerationelle Kommunikation, Begegnung, Mitwirkung und teilweise Selbstorganisation abzielen, wie z. B. Erzählcafes, Wissensbörsen, Bürgerbegegnungsstätten, Bildungsveranstaltungen, Seniorenstudiengänge und dgl. beherrschen heute das Bild der offenen Altenarbeit. Wegen der Ausdehnung der Altersphase richtet sich der Blick auf die viele freie Zeit im Alter.

Das Altern der Gesellschaft als (sozial)politischer Gestaltungsauftrag

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Zeit gilt als die wichtigste Ressource des Alters, deren individuelle wie öffentliche Nutzbarmachung es zu fördern gilt. „Aktives Älterwerden“ ist zu einer kaum mehr hinterfragten normativen Handlungsdirektive geworden, getragen von der Überzeugung, auch die älteren Menschen selbst sollten Eigenbeiträge zur Stabilisierung des gesellschaftlichen Generationenvertrags leisten. Es gelte, die vorhandenen Alterspotenziale, Ressourcen und insbesondere ihre Zeitreserven als gesellschaftliche Wertschöpfungsquelle zu begreifen und zu nutzen und sie stärker in den Dienst wichtiger öffentlicher Funktions- und Verantwortungsbereiche zu stellen. „Die Potentiale des Alters für Wirtschaft und Gesellschaft nutzen“ lautet die einschlägige Kernbotschaft des 5. Altenberichts der Bundesregierung. Besonders auffällig ist die Betonung eines „aktiven“ Alters im Bereich des bürgerschaftlichen Engagements und vor allem in der Arbeitswelt: •

Geworben wird für unbezahlte, freiwillige Tätigkeiten, seien sie informell, z. B. im Kontext von Familie und Nachbarschaft, oder organisiert wie in Seniorengenossenschaften, Altenselbsthilfeorganisationen, Senior-Experten-Services, Wohlfahrtsverbänden, Kirchen oder in der kommunalen Seniorenarbeit. Das Engagement bezieht sich nicht nur auf typische Alter(n)sthemen, sondern auch auf Bereiche, wie z. B. die Flüchtlingshilfe oder die Bildungsarbeit mit sozial benachteiligten Kindern, in die die beruflichen Erfahrungen eingebracht werden können (vgl. Kapitel „Soziale Dienste“, Pkt. 8.3). • Zunehmend geraten auch die häusliche Pflege und dabei insbesondere die Demenzversorgung bei Nicht-Familienangehörigen ins Blickfeld der Engagementsuche (sorgende Gemeinschaften), obwohl beide Bereiche sich nicht voraussetzungslos dafür eignen (vgl. Kapitel „Pflegebedürftigkeit und Pflege“ Pkt. 4.). • In der Arbeitswelt wurde der lange Jahre dominierende Trend eines beruflichen Frühausstiegs und dessen Förderung durch Politik durch den Paradigmenwechsel, möglichst lange im Berufsleben zu verbleiben, abgelöst (vgl. Pkt. 4.2 dieses Kapitels). Die Heraufsetzung der Regelaltersgrenze in der Rentenversicherung und die weitgehende Abschaffung eines vorgezogenen Renteneintritts forcieren diese Entwicklung (vgl. Pkt. 6.4.1 dieses Kapitels). Allerdings profitieren keineswegs alle Älteren gleichermaßen von dem eingeleiteten Paradigmenwechsel hin zur Altersaktivierung. Seine Umsetzung ist von zahlreichen sozialen Ungleichheiten begleitet: Nicht jeder ältere Mensch ist zum Einsatz von Ressourcen und Potenzialen auch in der Lage, wie die empirischen Daten zur Verteilung von Erwerbstätigkeit, der Bildungsvoraussetzungen, der gesundheitlichen Situation, des sozial-bürgerschaftlichen Engagements und zu Einkommen, Vermögen und Konsum im Alter belegen.

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Alter

4

Alterserwerbstätigkeit und Altersübergänge

4.1

Berufsaustritt und Altersgrenzen

Die Möglichkeit, im höheren Lebensalter aus dem Erwerbsleben ausscheiden und eine materiell abgesicherte Altersphase erleben zu können, steht und fällt mit der Verfügbarkeit über eine ausreichende Rente und/oder andere Alterseinkommen ab diesem Zeitpunkt. Der durch das Alterssicherungssystem gewährte Rechtsanspruch, ab einer bestimmten Altersgrenze eine Rente beziehen zu können, bedeutet zugleich, nicht mehr bis ins höchste Alter hinein arbeiten zu müssen. Die Altersgrenze ist insofern eine zentrale Orientierungsgröße für die Lebensplanung der Beschäftigten und somit fester Bestandteil der Normalitätserwartung im Lebenslauf. Das altersbedingte Ausscheiden aus dem Erwerbsleben bedeutet zugleich den Beginn des sozialen Alters und gilt als Definitions- und Abgrenzungsmerkmal der Altersphase innerhalb der Dreiteilung des Lebenslaufs. Grundsätzlich lassen sich mehrere Formen des endgültigen Berufsaustritts unterscheiden. Berufsaustritt und Renteneintritt sind dabei nicht identisch. Je nach Art und Zeitpunkt des Berufsaustritts kann es mehrere Jahre dauern, bis Anspruch auf eine Altersrente besteht: • Wechsel von der Berufstätigkeit in die Familien- und Hausarbeit, • Beendigung des Erwerbslebens wegen vollständiger Minderung der Erwerbsfähigkeit, • Langzeitarbeitslosigkeit ohne Möglichkeit und Absicht einer beruflichen Wiedereingliederung, • betriebliche Frühausgliederung über besondere Regelungen (z. B. Altersteilzeit), • Beendigung der Berufstätigkeit mit Erreichen der gesetzlichen Regelaltersgrenze oder von vorgezogenen Altersgrenzen; • Ausscheiden nach Erreichen der Regelaltersgrenze. Zu unterscheiden ist also zwischen den rein altersbedingten Formen des Ausscheidens aus dem Erwerbsleben und jenen, die nicht zwangsläufig an ein fortgeschrittenes Lebensalter gebunden sind (Erwerbsminderung, Langzeitarbeitslosigkeit, Rückzug in die Familie). Soweit es um die Erreichung von Altersgrenzen in den Alterssicherungssystemen geht, ist zudem zwischen abhängig Beschäftigten und Selbstständigen zu unterscheiden. Bei Arbeitnehmer:innen endet mit Erreichen von Altersgrenzen in aller Regel auch das Arbeitsverhältnis, während Selbstständige im Grundsatz frei entscheiden können, wie lange sie ihre Tätigkeit noch ausüben. Betrachtet man die Altersgrenzen in der gesetzlichen Rentenversicherung, so galt seit 1916 in der Arbeiterrenten- und bereits seit 1912 in der Angestelltenrentenversicherung das 65. Lebensjahr grundsätzlich als die für alle gültige Regelaltersgrenze. Das 65. Lebensjahr war faktisch eine Obergrenze, wenngleich eine Weiterarbeit da-

Alterserwerbstätigkeit und Altersübergänge

943

nach durchaus möglich war. Mit Einführung der Rente mit 67 im Jahr 2012 gilt seither das 67. Lebensjahr als die neue Regelaltersgrenze. Diese wird schrittweise umgesetzt und erreicht ihre volle Wirkung in 2029. Konkret heißt dies, dass der Altersjahrgang 1946 der letzte war, der mit der Vollendung des 65. Lebensjahres eine Regelaltersrente beziehen konnte, für die Jahrgänge ab 1964 gilt dann das neue gesetzliche Rentenalter von 67 Jahren. Allerdings besteht die Möglichkeit, unter bestimmten Voraussetzungen eine vorgezogene Altersrente zu beziehen. Dafür sind in der Regel Rentenabschläge in Kauf zu nehmen (vgl. Pkt. 6.4.1 dieses Kapitels). 4.2

Paradigmenwechsel in der Alterserwerbstätigkeit

Noch bis weit in die 1990er Jahre hinein galten ältere Arbeitnehmer:innen als eine arbeitsmarktpolitische Manövriermasse, die mittels unterschiedlicher staatlicher wie betrieblicher Frühverrentungsprogramme vorzeitig freigesetzt wurde. Aus betrieblicher Sicht bildete die Frühverrentung älterer Beschäftigter eine vergleichsweise kostengünstige und reibungslose Maßnahme des Personalabbaus, da die Kosten der betrieblichen Anpassungsstrategien teilweise externalisiert, d. h auf die Renten- und Arbeitslosenversicherung und auf die Betroffenen selber verlagert werden konnten. Nicht immer haben dabei konkrete Leistungs- und Beschäftigungsprobleme älterer Arbeitnehmer:innen eine Rolle gespielt. Vielmehr wurde die Frühverrentung aus zumeist altersneutralen Anlässen als eigenständiges Instrument betrieblicher Personal- und Beschäftigungspolitik eingesetzt, so z. B. zur qualifikatorischen und/ oder altersmäßigen Umschichtung und Verjüngung der Belegschaften. Diese sog. Entberuflichung des Alters war Ausdruck einer jahrzehntelang praktizierten Betriebspolitik und verdankt ihre Karriere einem Zusammenspiel betrieblicher Ausgliederungsstrategien mit staatlichen Ausgliederungsanreizen. Sie konnte sich lange Zeit auf ein hohes Maß an Übereinstimmung bei fast allen Beteiligten stützen (u. a. Arbeitnehmer:innen, Gewerkschaften, Betriebsräte, Arbeitgeber, Arbeitsverwaltung). Erst recht wurden nach der Wiedervereinigung und dem Zusammenbruch des ostdeutschen Arbeitsmarkts in großem Umfang Frühverrentungsprogramme eingesetzt, um – häufig mit Hinweis auf die Generationensolidarität – Arbeitnehmer:innen bereits weit vor Erreichen der gesetzlichen Altersgrenzen freizusetzen. Die im Transformationsprozess befindlichen Arbeitsmärkte sollten entlastet, die statistisch ausgewiesene Massenarbeitslosigkeit reduziert und jüngeren Arbeitsuchenden eine Chance gegeben werden. Die betroffenen älteren Arbeitnehmer:innen waren und sind dabei keineswegs nur als passive Opfer der Ausgliederungsprozesse zu sehen. Unübersehbar war und ist ein hohes Interesse auf Seiten der Beschäftigten an einem möglichst frühen Berufsaustritt, nicht selten nach dem Motto „Je früher, desto besser“. Die (Früh-)Verrentung wurde und wird teilweise auch heute noch als eine Art verdiente Gegenleistung für die oft jahrzehntelang erbrachten Verausgabungen und ertragenen

944

Alter

Entbehrungen und Belastungen in der Arbeit angesehen, auf die gleichsam ein moralischer Rechtsanspruch besteht. Entscheidend für die breite Akzeptanz war, dass der frühe Ruhestand vergleichsweise gut abgesichert war, von den weitaus meisten auch positiv erlebt wurde und dass dieses Erleben auf die Verrentungsentscheidung der jeweils nachrückenden Gruppen älterer Arbeitnehmer:innen motivierend zurückwirkt. Der seit der Jahrtausendwende einsetzende Paradigmenwechsel in der Alterserwerbstätigkeit hat entgegengesetzte Ziele: • Erhöhung der Erwerbsbeteiligung Älterer, • Verlängerung der Lebensarbeitszeit, • Erhöhung des Renteneintrittsalters. Im Wesentlichen waren dafür zwei Gründe ausschlaggebend: Der durch den Doppeleffekt von früher Verrentung und längeren Rentenlaufzeiten gestiegene Druck auf die Finanzen der Alterssicherungssysteme sollte gebremst und dem drohenden Fachkräftemangel angesichts der schwächer besetzten, in den Arbeitsmarkt nachrückenden Kohorten entgegengewirkt werden. Die sozialpolitischen Instrumente und Regelungen, mit denen die neuen Ziele erreicht werden sollten, lassen sich wie folgt systematisieren: • schrittweise Anhebung der Regelaltersgrenze (Rente mit 67), • strikte Begrenzung der Regelungen eines vorgezogenen Renteneintritts, • Verringerung des Anreizes für den noch möglichen vorgezogenen Rentenbezug durch versicherungsmathematische Abschläge, • Verkürzung der Bezugsdauer des Arbeitslosengelds, • Verweis der Langzeitarbeitslosen in den Rechtskreis des SGB II und auf das fürsorgeförmige Arbeitslosengeld II, ohne Bezug zum vormaligen Erwerbseinkommen, • Schließung der viel genutzten Frühverrentungsoptionen (z. B. geförderte Altersteilzeit und die sog. 58er Regelung) (vgl. Pkt. 6.4.1 dieses Kapitels). Demgegenüber spielten Anreize zur Förderung der Beschäftigungschancen und zur Sicherung und Stärkung der Beschäftigungsfähigkeit (employability) älterer Arbeitnehmer:innen, z. B. durch eine aktive Arbeitsmarktpolitik, Strategien der Weiterbildung oder betriebliche Gesundheitsförderung, anfangs kaum eine Rolle. Obwohl bekannt war, dass das Altern der Gesellschaft bald auch die Betriebe erreichen würde, wurde lange Zeit davon ausgegangen, dass primär sozialrechtliche Maßnahmen im Renten-, Arbeitslosen- und Grundsicherungsrecht und die damit verbundene Regulierung der Altersgrenzen ausreichen würden, um die Beschäftigung Älterer zu erhöhen. Erst mit dem Rückgang der Arbeitslosigkeit, dem Ende der Möglichkeit, beliebig unter Arbeitsplatzbewerbern auswählen zu können, und den auftretenden Fach-

Alterserwerbstätigkeit und Altersübergänge

945

kräfteengpässen sind ernsthafte Bemühungen zur Beschäftigungsförderung Älterer unternommen worden; so z. B. Einführung und Ausweitung des betrieblichen Age Managements, Abschluss von Demografietarifverträgen in ausgewählten Branchen und Betrieben oder das Auflegen von Förderprogrammen (so das von Tarifparteien und Bundesregierung gemeinsam getragene Programm „Initiative Neue Qualität der Arbeit“ (INQUA)). Dennoch gilt: Eine explizit auf die Alterung des Erwerbspersonenpotenzials und auf Erhalt und Steigerung der Beschäftigungsfähigkeit alternder Belegschaften ausgerichtete, in den Maßnahmen abgestimmte Förderpolitik hatte es viele Jahre und noch heute schwer, sich durchzusetzen. Dies zeigt sich vor allem auf betrieblicher Ebene, wo die individuelle Entscheidung für oder gegen die Alterserwerbsarbeit letztlich fällt. Hier sind keineswegs flächendeckende Erfolge nachweisbar. Bevorzugt gefördert und (weiter) beschäftigt werden höher qualifizierte ältere Arbeitnehmer:innen. Zu Neueinstellungen Älterer, z. B. aus Arbeitslosigkeit heraus, ist es dagegen kaum gekommen. 4.3

Beschäftigung im rentennahen Alter

Dennoch haben sich in den vergangenen Jahren die Erwerbstätigenquoten Älterer bemerkenswert erhöht. So weist Deutschland innerhalb der EU inzwischen mit die höchste Erwerbsbeteiligung bei den 55 – 64jährigen auf. Sie ist von 37,8 % (2001) auf 69,1 % (2018) angestiegen und umfasst alle Altersjahre dieser Altersgruppe (vgl. Abbildung XI.4). Der Zuwachs ist dabei vor allem auf den längeren Verbleib der Beschäftigten im Betrieb zurückzuführen, kaum jedoch auf die Neueinstellung arbeitsloser Älterer. Bei einer Differenzierung der Erwerbsbeteiligung nach Qualifikationen fällt auf, dass höher Qualifizierte am meisten von dem Beschäftigungsanstieg profitiert haben. Unübersehbar sind soziale Selektionsprozesse zuungunsten geringer Qualifizierter. Bemerkenswert sind weiterhin Unterschiede nach dem Geschlecht. Hier haben sich zum einen die Erwerbstätigenquoten einander angenähert. Das gilt auch für die oberen Altersgruppen zwischen 55 und 65 Jahren, in denen die Erwerbsbeteiligung der Frauen noch deutlicher als die der Männer angestiegen ist. Dem entspricht, dass die ins mittlere und höhere Erwerbsalter nachrückenden Frauenjahrgänge eine höhere Erwerbsbeteiligung aufweisen als ihre Vorgängerkohorten. Sie kehren nach familienbedingter Erwerbsunterbrechung zunehmend früher und öfter ins Erwerbsleben zurück, allerdings in stark gestiegenem Ausmaß in Teilzeitbeschäftigung. Neben der sich in den letzten Jahren insgesamt verbesserten Arbeitsmarktlage wirken sich also auch Kohorteneffekte in Verbindung mit einer Ausweitung von Teilzeitarbeit positiv auf die jüngere Entwicklung in der Erwerbsbeteiligung der mittleren und oberen Altersgruppen aus. Doch deutlich wird auch, dass die Erwerbsbeteiligung ab Erreichen des 60. Lebensjahres nach wie vor stark zurückgeht: Sie reduziert sich bei den Männern von

946

Alter

Abbildung XI.4 Erwerbstätigenquoten Älterer nach Altersjahren und Geschlecht 2012 – 2018 Männer

2014

2012

84,9 83,7 81,5 80,5 65,5 61,1 59,0 54,6

30

2018

42,4 39,3 39,0 35,6

40

2016

55,4 48,2 45,8 43,5

71,6 66,4 64,1 56,5

50

74,7 73,4 70,5 64,1

60

79,9 75,8 74,1 70,3

81,4 79,7 78,0 75,7

83,7 82,6 79,1 79,1

85,2 84,2 80,8 81,0

86,1 85,2 83,6 82,2

70

87,5 86,0 85,0 83,9

80

20 10 0

2014

76,6 74,4 72,4 69,3

0

61 - 62

62 - 63

55,6 50,6 46,0 38,7

10 63 - 64

30,5 28,2 26,7 22,9

20

2018

46,4

37,5

30

2016

37,1 33,3 28,5

60 - 61

2012

61,1 56,5 48,1

59 - 60

40

46,7

58 - 59

50

66,8 63,0 57,6

57 - 58

70,3 65,9 63,5 55,0

56 - 57

72,1 69,7 68,0 63,7

55 - 56

73,6 73,0 69,1 67,1

77,8 74,4 73,7 69,5

60

79,2 75,9 74,9 71,7

70

Frauen 80,2 78,6 75,6 74,1

80

64 - 65

55 - 60

60 - 65

von ... bis unter ... Jahren

Quelle: Statistisches Bundesamt (2019), Mikrozensus (Arbeitstabellen), eigene Berechnungen.

74,7 % (60 bis 61 Jahre) auf 42,4 % (64 bis 65 Jahre) und bei den Frauen von 70,3 % auf 30,5 %. Immer noch ist also die Mehrzahl der Menschen im rentennahen Alter nicht mehr erwerbstätig. Bezieht man sich auf die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung, so fallen die Werte noch niedriger aus, da die erwerbstätigen Selbstständigen, die Beamt:innen und auch die Minijobber:innen hierbei nicht berücksichtigt werden: So waren 2018 in der Altersgruppe 60 – 65 Jahren noch etwa 2,3 Millionen Personen versicherungspflichtig beschäftigt. Dies entspricht einer Beschäftigtenquote von rund 41 %. Auch hier handelt es sich wiederum nur um Durchschnittswerte für die gesamte Altersgruppe; in den Altersgruppen 63 und 64 Jahre, die in der Nähe der Regelaltersgrenze liegen, reduziert sich die versicherungspflichtige Beschäftigung noch weiter. Beispielhaft für diese Entwicklung stehen Befunde aus dem Jahr 2018: Noch rund 530 000 Arbeitnehmer:innen ließen sich (2018) in diesen beiden Altersgruppen zählen, davon zu 40 % Teilzeitbeschäftigte. Die Vollzeitbeschäftigungsquote sinkt auf 22,7 % (63 Jahre) und 12,1 % (64 Jahre). Gleichwohl zeigt sich auch hier – im Vergleich zur Situation im Jahr 2000 – ein merklicher Zuwachs der Beschäftigungszahlen und -quoten (vgl. Abbildung XI.5).

Alterserwerbstätigkeit und Altersübergänge

947

Abbildung XI.5 Sozialversicherungspflichtige Beschäftigung im rentennahen Alter 2000 und 2018 38,2%

2018

35,8%

12,1%

62.793

122.072

184.865

112.518

237.518

350.036

166.992

186.502

205.114

Vollzeit

22,7%

355.839

397.278

437.240

Insgesamt

Vollzeitbeschäftigungsquote, in % der jeweiligen Bevölkerung

522.831

583.780

642.354

33,2%

Teilzeit

2000 17,7%

63 Jahre

27.114

4,3%

34.274

45.097

62 Jahre

54.327

101.409

61 Jahre

9,4%

114.758

143.415

60 Jahre

163.307

218.395

255.834

12,4%

2,7%

64 Jahre

Quelle: Bundesagentur für Arbeit (2019), Beschäftigungsstatistik; Statistisches Bundesamt (2019), Fortschreibung der Bevölkerung.

4.4

Rentenzugänge und Übergangsentscheidungen

Wenn nur ein Teil der Arbeitnehmer:innen bis zur (steigenden) Regelaltersgrenze arbeitet, dann heißt dies, dass die anderen schon frühzeitig ihre versicherungspflichtige Tätigkeit beendet haben (passiv Versicherte) oder arbeitslos sind oder eine Erwerbsminderungsrente beziehen. Vor allem aber handelt es sich um jene, die über eine vorgezogene Altersrente in den Ruhestand treten. Abbildung XI.6 ist zu entnehmen, dass von den im Jahr 2018 neu zugegangenen Altersrentner:innen weniger als die Hälfte die Regelaltersrente bezogen hat, und dass mehrheitlich eine vorgezogene Altersrente in Anspruch genommen wurde. Im Unterschied zu den vorangegangenen Jahren begrenzt sich der vorzeitig Bezug allerdings auf die Altersgrenzen ab 63 Jahren – mit und ohne Abschläge. Es handelt sich um die Altersrenten für Schwerbehinderte, für langjährig Versicherte und für besonders langjährig Versicherte (vgl. dazu im Detail Pkt. 6.4.1 dieses Kapitels). Die vormaligen Möglichkeiten eines Rentenbezugs bereits ab 60 Jahren (Frauen und Arbeitslose) sind vollständig ausgelaufen. Auf die Frage, aus welchen Gründen sich die Beschäftigten dafür entscheiden, entweder bis zur Regelaltersgrenze (und womöglich darüber hinaus) arbeiten, oder aber eine vorgezogene Altersrente zu beziehen, gibt es keine einfachen Antworten. Die in-

948

Alter

Abbildung XI.6 Zugänge von Altersrenten nach Rentenarten 1996 – 2018, in % aller Altersrentenzugänge

26,0

22,8

23,9

26,8

29,7

20,6

21,9

15,0

13,7

21,7

26,3

16,4

19,1

22,5

8,9

8,9

9,6

8,9 5,8 9,7

12,9

9,0

9,8

44,7

45,4

Besonders Langjährig Versicherte

18,4

19,3

10,5

18,5

19,6

Langjährig Versicherte

10,8 10,5

12,0

32,3

9,9 9,3

7,4

6,3

31,1 28,7

10,2

10,7

Schwerbehinderte

6,9

11,4

22,5

7,0

7,1

17,3

9,3

Frauenaltersrenten

3,6

9,6

Altersrenten wg. A'losigkeit/Altersteilzeit

45,6

42,7

37,3

32,7

29,6

45,1

42,6

43,4

39,7

2018

2017

2016

2015

2014

2013

2012

2011

2010

2009

2008

2007

2006

2005

2004

2003

2002

2001

2000

1999

1998

1997

1996

Regelaltersrente

Quelle: Deutsche Rentenversicherung (zuletzt 2019), Statistikportal; Rentenversicherung in Zeitreihen.

dividuellen Verrentungsentscheidungen hängen nicht nur von den rentenrechtlichen Regelungen ab, sondern von einem Bündel unterschiedlicher Faktoren. Für einen Verbleib im Beruf können u. a. maßgebend sein: • • • •

gute Arbeitsbedingungen und hohe Wertschätzung des Arbeitgebers, Freude und Erfüllung in der Arbeit, gute Gesundheit, Bemühungen des Unternehmens, Fachkräfte zu halten.

Auf der anderen Seite kann die Präferenz für einen frühen Berufsausstieg bestimmt sein durch • • • • •

den Wunsch, den Zwängen des Erwerbslebens zu entfliehen und die Zeit des Ruhestands zu genießen, physisch und psychisch belastende Arbeitsbedingungen (Arbeitsplätze mit begrenzter Tätigkeitsdauer), einen beeinträchtigten Gesundheitszustand, außerberufliche Anforderungen (z. B. Pflege eines Angehörigen), den Druck bzw. Angebote des Arbeitgebers, angesichts von Maßnahmen eines Personalabbaus und -umbaus Arbeitsplätze frei zu machen.

Alterserwerbstätigkeit und Altersübergänge

949

Bei der jeweiligen Entscheidung spielen die Höhe des Erwerbseinkommens, die Höhe der zu erwartenden gesetzlichen sowie einer privaten und betrieblichen Rente (unter Berücksichtigung von Rentenabschlägen oder -zuschlägen) und die Einkommensbedarfe eine entscheidende Rolle. Naheliegend ist, dass eine geringe Versorgungslücke beim Altersübergang bzw. ein ausreichendes Alterseinkommens es leichter machen, vorzeitig auszuscheiden. Da hohe Renten eine langjährige Versicherung voraussetzen und der Anspruch auf eine vorgezogene Altersrente an die Voraussetzung einer langjährigen Versicherung gebunden ist, besteht hier eine Wechselbeziehung. Schließlich haben auch die individuelle Lebensform und die Lebensumstände eine Bedeutung für Verrentungsentscheidungen. So kann bei einer Paarbeziehung der Wunsch bestehen, den eigenen Altersübergang mit dem der Partnerin/des Partners zu harmonisieren. Auch ist es wahrscheinlich, dass hier das gemeinsame Einkommen als Bezugsgröße dient. Die Empirie zeigt, dass das Ziel eines längeren Verbleibs in der Erwerbstätigkeit sozial selektiv realisiert wird. Das Interesse der Betriebe gilt primär der (Weiter-) Beschäftigung höher qualifizierter und/oder gesünderer Älterer. Durch die Abschläge bei vorgezogenen Renten werden dagegen jene finanziell belastet, die aus unterschiedlichen Gründen nicht weiterarbeiten können, deren Einkommenslage dies aber nicht unbedingt zulässt. Die Arbeitsmarktstatistik weist zugleich darauf hin, dass Ältere überproportional häufig von Arbeitslosigkeit betroffen sind. Wer im rentennahen Alter seinen Arbeitsplatz verliert, hat nur sehr geringe Chancen auf eine berufliche Wiedereingliederung und muss auf die Altersrente warten. Arbeitslosigkeit Älterer heißt Langzeitarbeitslosigkeit (vgl. Kapitel „Arbeit und Arbeitsmarkt“, Pkt. 5.4.2). 4.5

Arbeit trotz Rente

Altersgrenzen bestimmen darüber, ob Versicherte Anspruch auf die Zahlung einer Altersrente haben. Dies bedeutet aber nicht, mit Erreichen der Altersgrenzen die Arbeit aufgeben zu müssen oder keine Erwerbstätigkeit mehr ausüben zu dürfen. Im Arbeits- und Sozialrecht gibt es keine Regelungen, die eine (Weiter-)Arbeit bis ins hohe Alter hinein untersagen würden. Vielmehr ist dies, unabhängig vom Bezug einer Rente und der Höhe des erzielten Einkommens, durchaus möglich. Einschränkungen in Form von Hinzuverdienstgrenzen gibt es lediglich bei vorgezogenen Altersrenten und Erwerbsminderungsrenten (vgl. Pkt. 4.4 dieses Kapitels). Allerdings wird in Arbeits- und Tarifverträgen in aller Regel festgelegt, dass mit Erreichen der Regelaltersgrenze das Arbeitsverhältnis automatisch endet – ohne Kündigung. Schaut man sich die Empirie an, so hat die Erwerbstätigkeit nach dem 65. Lebensjahr stark an Bedeutung gewonnen. Von 2000 (371 000) bis 2018 (1 285 000) hat sich die Zahl derer, die mit 65 Jahren und älter noch erwerbstätig sind, mehr als verdreifacht. Die Erwerbstätigenquote für diese Altersgruppe ist mit 7,4 % zwar noch

950

Alter

Abbildung XI.7 Erwerbstätige und Erwerbstätigenquote in der Altersgruppe 65 Jahre u. älter, 2000 – 2018 1400

14 1.285 1.182

1200

709

784 = 61%

12

1.021 1.031 Insgesamt

896 826

800

in 1.000

744 657

581

600

400

371 154 2,6

200

0

439

450

204

211

398

414

176

185

2,8

2,8

2,9

3,0 239

2004

217 = 61,5 %

222

229

235

2000

2001

2002

2003

512

529

243

249

3,3

3,4

269

280

280

653

301

488 Erwerbstätigenquote (rechte Achse) 7,0

628 338 327 318 abhängig Beschäftigte

3,8

3,9

310

319

4,9

4,0 326

369

10

595

375

4,5 3,6

440

590

544

386

5,3

408

5,6

422

5,8

431

8 7,4

6,2

436

6

473

501 = 39%

2

Selbstständige*

2005

2006

2007

2008

2009

2010

4

in % der gleichaltrigen Bevölkerung

966

1000

2011

2012

2013

2014

2015

2016

2017

2018

0

Quelle: Statistisches Bundesamt (zuletzt 2019), Mikrozensus (Destatis Datenbank).

recht niedrig, liegt aber dennoch merklich höher als im Jahr 2000 (2,6 %) (vgl. Abbildung XI.7). Der Personenkreis weist eine heterogene Struktur auf. Zu unterscheiden ist zwischen • •

abhängig Beschäftigten (61 %) und Selbstständigen (39 %).

Selbstständige Zu den Selbstständigen, die auch über das 65. Lebensjahr hinaus erwerbstätig sind, zählen u. a. Handwerker, Freiberufler, Solo-Selbstständige und Unternehmensinhaber, die allesamt ihren Beruf weiter ausführen. Da es hier im Unterschied zu einer abhängigen Beschäftigung keine individual- oder kollektivvertraglichen Regelungen hinsichtlich der Beschäftigungsdauer gibt, hängt die Art, Dauer und Umfang der Erwerbstätigkeit allein von den Entscheidungen der Betroffenen ab, beeinflusst durch den Gesundheitszustand, von Nachfolgeregelungen und nicht zuletzt von der Höhe der Altersabsicherung. Ansprüche auf eine gesetzliche Rente haben in erster Linie Handwerker und jene Selbstständigen, die am Beginn ihrer Erwerbsbiografie abhängig beschäftigt waren und dadurch über Rentenanwartschaften verfügen. Darüber

Alterserwerbstätigkeit und Altersübergänge

951

hinaus zu nennen sind Ansprüche aus den Versorgungswerken für freie Berufe, der Alterssicherung für Landwirte, einer privaten Vorsorge. Nicht zuletzt spielt die Verfügbarkeit über Vermögen eine wichtige Rolle bei der Entscheidung über die Fortführung der Tätigkeit. Als selbstständig Tätige gelten darüber hinaus aber auch jene Personen, die mit Erreichen der Regelaltersgrenze ihre abhängige Beschäftigung beenden und dann auf selbstständiger Basis eine neue Arbeit aufnehmen, so z. B. im Rahmen von Werkoder Honorarverträgen. Abhängig Beschäftigte Wenn abhängig Beschäftigte weiterarbeiten, so kann es sich auch hier um unterschiedliche Gruppen und Konstellationen handeln. Es kann sein, dass • •

der Bezug einer Altersrente hinausgeschoben oder zusätzlich zum Bezug einer Regelaltersrente noch eine Nebentätigkeit ausgeübt wird.

Kommt es zu einem Aufschub bei der Rentenbeantragung, so wird dies im Rentenrecht besonders gefördert: Für jeden Monat werden Rentenzuschläge in Höhe von 0,5 % gezahlt. Wer der Rentenantrag erst zwölf Monate nach Erreichen der jeweiligen Regelaltersgrenze stellt, erhält also eine um 6 % höhere Rente. Außerdem wirkt das zusätzliche Beitragsjahr rentensteigernd. Gleichwohl wird diese Möglichkeit nur selten in Anspruch genommen; weder die Beschäftigten noch ihre Arbeitgeber scheinen daran ein Interesse zu haben: im Rentenzugang 2018 waren dies rund 30 000 Rentner:innen bei Rentenzugängen von rund 800 000 insgesamt. Die Beschäftigung über die Regelaltersgrenze hinzu vollzieht sich deshalb in aller Regel parallel zum Rentenbezug. Das Arbeitseinkommen stockt die Altersrente auf. „Erwerbstätigkeit und Rente“ bzw. „Erwerbstätigkeit trotz Rente“ könnte das Schlagwort lauten und nicht „Erwerbstätigkeit statt Rente“. An der hohen Zahl von Minijobbern im Alter (vgl. Kapitel „Arbeit und Arbeitsmarkt“, Pkt. 3.3) lässt sich erkennen, dass es sich vielfach nur um kleine Nebentätigkeiten handelt. Es arbeiten zumeist diejenigen, die schon vorher gute Erwerbschancen und -bedingungen hatten. Deutlich überrepräsentiert sind Personen mit mittleren und höheren Qualifikationen und mit einem guten Gesundheitszustand. Aber es gibt auch jene Rentner:innen, die als Zeitungsausträger, Postzusteller, Wachleute, Aushilfskräfte usw. neben der Rente arbeiten, weil diese zu niedrig ist. Eine verlässliche und dauerhafte „vierte Säule“ der Alterssicherung sind die Einkommen aus solch einer Nebentätigkeit nicht. Die Aufstockung der Renten scheitert spätestens dann, wenn den interessierten Rentner:innen keine entsprechenden Arbeitsplätze mehr angeboten werden – weil sich womöglich die Gesamtlage auf dem Arbeitsmarkt verschlechtert – oder wenn die gesundheitliche Lage eine weitere Tätigkeit schlicht nicht mehr zulässt.

952

Alter

5

Alterssicherung: Ziele, Gestaltungsformen und Systeme

5.1

Ziele der Alterssicherung

Wenn im Alter die Berufstätigkeit aufgeben werden soll oder muss, entfällt mit dem Erwerbseinkommen auch die wesentliche Quelle zur Bestreitung des Lebensunterhalts. Deswegen ist beizeiten Vorsorge für diesen Lebensabschnitt zu treffen. Zwar können sich im Alter bestimmte Ausgaben verringern (z. B. Beendigung der Unterhaltsleistungen an die Kinder, abgeschlossene Ausstattung des Haushaltes, Wegfall berufsbedingter Aufwendungen, mietfreie Nutzung von Wohneigentum). Auf der anderen Seite aber erhöhen sich möglicherweise einzelne Ausgabenansätze, weil vermehrte Aufwendungen für soziale Kontakte, Gesundheit und insbesondere Pflege erforderlich sind. Diese Ausgaben schlagen umso stärker zu Buche, je mehr die Absicherung bei Krankheit und Pflegebedürftigkeit und die Nutzung sozialer Dienste und Einrichtungen privat finanziert werden müssen. Insgesamt nimmt deshalb der Einkommensbedarf im Verhältnis zur mittleren Lebensphase nur begrenzt ab, in einzelnen Fällen kann er sich sogar noch erhöhen. Will man, dass ältere Menschen nicht mehr dem Zwang zur Erwerbstätigkeit unterliegen, dann bedarf es eines Systems von Einkommensübertragungen an die ältere Generation. Zu entscheiden ist, wann der Zeitpunkt im Lebenslauf erreicht ist, zu dem die Berufsaufgabe erfolgt, welches Ziel mit der Einkommensübertragung angestrebt wird und wie ein solches Sicherungssystem ausgestaltet werden soll. Die Gestaltung der finanziellen Absicherung im Alter kann idealtypisch an zwei unterschiedlichen Zielen orientiert sein: Das Minimalziel besteht in der Vermeidung von Einkommensarmut. Ältere Menschen sollen unabhängig von Vorleistungen und von ihrer bisherigen Position im Erwerbsleben ein Einkommens- und Lebensstandardniveau erreichen, das zumindest dem sozial-kulturellen Existenzminimum der Gesellschaft entspricht. Dabei ist zu entscheiden, auf welchem Niveau diese Absicherung konkret angesetzt wird und welche Bedingungen für den Leistungsbezug gelten. Als weiterreichende Ziele gelten die Lebensstandardsicherung bzw. der Einkommensersatz. Denn die Einkommens- und Lebensbedingungen älterer Menschen sind nicht bereits dann als erfüllt anzusehen, wenn ausschließlich das sozial-kulturelle Existenzminimum abgedeckt ist. Es geht auch darum, den in einem langen Berufsleben erarbeiteten Lebensstandard im Alter in etwa beizubehalten. Von der Teilhabe der älteren Menschen an der Gesellschaft, von Lebensplanung und -kontinuität kann nämlich nur dann gesprochen werden, wenn der von der beruflichen Leistung abhängige Lebenszuschnitt auch nach dem Übergang in den Ruhestand fortgesetzt werden kann. Das Arbeitseinkommen kann auch sehr frühzeitig, weit vor dem regulären Berufsaustrittsalter entfallen, wenn wegen schwerwiegender gesundheitlicher Beeinträchtigungen eine Erwerbsminderung bis hin zur Erwerbsunfähigkeit (Invalidität)

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eintritt. Die Frage ist, ob und inwieweit ein System der Alterssicherung auch dieses Risiko erfasst. Ein weiteres Einkommensrisiko entsteht, wenn durch den Tod des Ernährers der wesentliche Teil des Familieneinkommens entfällt und der Lebensunterhalt der Kinder und des nicht oder nur begrenzt erwerbstätigen Ehepartners – in aller Regel sind dies die (Haus-)Frauen – nicht mehr gesichert ist. Auch hier ist zu entscheiden, ob und in welcher Weise die Absicherung von Hinterbliebenen (Witwen/Witwer/Waisen) zum Aufgabenbereich eines Alterssicherungssystems gehört. 5.2

Gestaltungsformen der Alterssicherung

5.2.1 Familiäre Unterstützung

Bis weit in das 20. Jahrhundert hinein waren es vor allem die Familien, die den Lebensunterhalt ihrer älteren und kranken Angehörigen durch Unterhaltsleistungen gesichert haben. Im Zuge der Industrialisierung und Modernisierung der Gesellschaft zeichnete es sich aber immer deutlicher ab, dass die traditionellen familiären Unterstützungssysteme brüchig wurden. Dies ist bereits erkennbar, wenn man sich die familiäre Absicherung älterer Menschen in der vorindustriellen Zeit vor Augen führt. Im Gegensatz zu manchen idealistisch verklärten Vorstellungen bot sie den älteren Menschen damals wenig mehr als ein Existenzminimum und zwängte sie in eine hohe ökonomische wie private Abhängigkeit von den anderen Familienmitgliedern. Für ausreichende familiäre Hilfen müssen die objektive Fähigkeit und die subjektive Bereitschaft gegeben sein. Die Fähigkeit zur Unterstützung hängt zentral von der Einkommensposition des Ernährers ab. Insofern bleiben Höhe und Kontinuität von familiären Unterhaltsleistungen eng an Höhe und Kontinuität der Erwerbseinkommen gebunden. Beim Ausfall des Ernährers infolge von Krankheit, Arbeitslosigkeit, Erwerbsunfähigkeit oder Tod gerät unmittelbar die gesamte Familie in Existenznöte. Dies betrifft nicht zuletzt die Situation jener nicht erwerbstätigen Frauen, die entsprechend dem traditionellen Muster der Versorgerehe kein eigenes Erwerbseinkommen beziehen und nicht nur in der mittleren Lebensphase, sondern auch im Alter vom Einkommen des Ehemannes abhängig sind. Zudem engen die demografischen Verschiebungen den Spielraum für die familiäre Unterstützung ein. Der Rückgang der Geburtenhäufigkeit bedeutet, dass ein wachsender Teil der älteren Menschen nur noch wenige oder überhaupt keine Kinder mehr hat, von denen sie im Bedarfsfall unterstützt werden könnten. Und angesichts der hohen und weiter steigenden Lebenserwartung wird es für die Jüngeren nahezu unmöglich, den älteren Angehörigen über Jahrzehnte hinweg ein ausreichendes Einkommen und Lebensniveau zu garantieren. Womöglich sind die Kinder schon selbst im Rentenalter, wenn sie ihre Eltern unterstützen sollen.

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Alter

Hinsichtlich der Bereitschaft zur familiären Unterstützung älterer Menschen ist unübersehbar, dass sich in modernen, ausdifferenzierten Gesellschaften traditionelle Wohn- und Lebensformen (Mehrgenerationenhaushalte) auflösen und sich sozial-familiäre Bindungen und Verpflichtungen lockern. Die jeweiligen Generationen wollen eigenständig und ökonomisch unabhängig voneinander leben. Generationenbeziehungen beschränken sich aber keineswegs auf monetäre Leistungen: Die persönlichen Kontakte zwischen Eltern und Kindern und die wechselseitigen Hilfeleistungen enden nicht mit der Auflösung der Ursprungsfamilie, sondern werden über Haushaltsgrenzen hinweg aufrechterhalten (vgl. Pkt. 2.3.1 dieses Kapitels). Die begrenzte Leistungsfähigkeit finanzieller Unterstützung durch die Familie war historisch ein zentraler Anlass zum Aufbau von Alterssicherungssystemen, welche die familiären Einkommensübertragungen ergänzt und schließlich weitgehend ersetzt haben. Dabei lassen sich grundsätzlich drei Gestaltungsformen unterscheiden, die private Altersvorsorge, die betriebliche Altersversorgung und die staatlich organisierte Alterssicherung. 5.2.2 Private Altersvorsorge

Vermögensbildung Eine Möglichkeit, auch nach Aufgabe der Berufstätigkeit ein ausreichendes Alterseinkommen zu erhalten, bieten die Vermögensbildung und spätere Vermögensauflösung. Im jüngeren und mittleren Lebensalter werden durch Konsumverzicht und Spartätigkeit Vermögensbestände (z. B. Wohneigentum, Immobilien, Aktien, Wertpapiere) angesammelt, die sich durch Wertzuwächse (Zinseffekte oder Kurssteigerung von Wertpapieren) in ihrer Summe kontinuierlich erhöhen (sollen). Im Alter kann dann der Lebensunterhalt durch die sukzessive Vermögensauflösung bestritten werden. Einkommen und Konsum werden also durch den Vorgang von Sparen und Entsparen im Sinne einer intertemporalen Einkommensumverteilung zeitlich verlagert. Altersvorsorge durch Vermögensbildung richtet sich nach den individuellen Entscheidungen, Präferenzen und Möglichkeiten der Menschen, vollzieht sich also freiwillig und wird über Kapital- und Versicherungsmärkte organisiert. Die Rendite des Vermögens und damit die Einkommenshöhe im Alter werden durch die Bedingungen und Ergebnisse der Finanz- und Kapitalmärkte bestimmt. Allgemein gesehen ist dies auch das Grundprinzip der Riester-Rente (vgl. dazu im Detail Pkt. 8.2.2 dieses Kapitels). Banken, Versicherungen und Finanzdienstleister – mittlerweile weltweit operierend – bieten eine breite, kaum noch überschaubare Palette von Altersvorsorgeprodukten an. Auf die reine Vermögensbildung und die Bereitstellung einer möglichst hohen Kapitalsumme konzentrieren sich Bankprodukte (Spareinlagen, Sparverträge), Wertpapiere (Aktien, festverzinsliche Anleihen) und Investment-Fonds. Auch der Erwerb von Wohneigentum (selbst genutztes Wohneigentum, vermietete Eigentumswohnung, Immobilienfonds) gilt heute zunehmend als individuelle Altersvorsorge.

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Lebensversicherung Da die Lebensdauer und damit der Zeitraum für die Auflösung des Kapitalstocks nicht kalkulierbar sind, bleibt für den Einzelnen unsicher, welche Höhe der Vermögensbestand im Alter erreichen muss. Bei einem langen Leben können sich selbst hohe Rücklagen als unzureichend erweisen. Auch bleibt das Risiko eines frühen Todes des/der Unterhalt leistenden Ehepartners/in unberücksichtigt. Diese durch die reine Vermögensbildung nicht abgedeckten sog. biometrischen Risiken (Invalidität, vorzeitiger Tod, langes Leben) lassen sich durch die Einschaltung von Versicherungen (Risikolebensversicherung, kapitalbildende Lebensversicherung, private Rentenversicherung) ausgleichen. Bei einer Risikolebensversicherung wird bei vorzeitigem Tod die vereinbarte Versicherungssumme fällig. Die mit Erreichen einer Altersgrenze einsetzende private Rente wird solange gezahlt, wie der Versicherte lebt. Die Kalkulation der Versicherungsprämien (auch als Beiträge bezeichnet) richtet sich dabei nach der versicherungsmathematisch berechneten durchschnittlichen Lebenserwartung aller Versicherten. Da private Versicherungen ihr angesammeltes Kapital, das für die späteren Leistungen eingesetzt werden muss (Kapitaldeckungsverfahren), in Wertpapieren und Immobilien anlegen, hängt die Höhe der späteren Versicherungsleistung wiederum von der Entwicklung auf den Märkten ab. Vorsorgefähigkeit und Vorsorgebereitschaft Angesichts des jahrzehntelang gestiegenen Einkommens- und Lebensstandardniveaus und der damit für viele bestehenden Möglichkeiten, Teile des laufenden Einkommens zurückzulegen und zu sparen, kommt der marktförmig organisierten individuellen Altersvorsorge über Bankprodukte oder Lebensversicherungen Plausibilität zu. Das gilt aber nur auf den ersten Blick. Soll eine private Altersvorsorge alle älteren Menschen absichern und zugleich ein ausreichendes Leistungsniveau gewährleisten, müsste die gesamte Bevölkerung umfassend und frühzeitig sparen bzw. Versicherungsprämien zahlen. Davon kann jedoch nicht ausgegangen werden. Sparfähigkeit und Sparbereitschaft sind in der Bevölkerung unterschiedlich verteilt, sie sind abhängig vom sozioökonomischen Status sowie von der jeweiligen Haushaltszusammensetzung und -größe und unterliegen Veränderungen im Lebenslauf. Bei den weitaus meisten Arbeitnehmer:innnen, insbesondere bei Niedrigeinkommensbezieher:innen, Eltern mit Kindern, Alleinerziehenden, Menschen mit Behinderungen sowie bei Arbeitslosen, kann von einer über den Lebenslauf hinweg hohen und zugleich kontinuierlichen Sparfähigkeit keine Rede sein. Ausdruck dafür sind die extremen Ungleichheiten der Vermögensverteilung in Deutschland. Dies gilt gleichermaßen für die selektive Verteilung von Erbschaften. In vielen Fällen bestimmen nicht Vermögensbildung, sondern eher Verschuldung und Überschuldung das Bild. Wenn keine Sparbeträge zurückgelegt bzw. die Versicherungsprämien nicht gezahlt werden können, wird keine Altersabsicherung aufgebaut. Einen an sozialen Maßstäben orientierten Ausgleich für fehlende Zahlungsfähigkeit infolge von Notlagen oder besonderen Lebenslagen wie Zeiten der Arbeitslosigkeit, Kindererziehung,

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Alter

Krankheit und Ausbildung gibt es bei einer marktmäßigen Altersvorsorge nicht. Es zählen allein die tatsächlich geleisteten Sparbeträge bzw. die risikoabhängigen Versicherungsprämien. Unzureichend ausgeprägt ist aber auch die Vorsorgebereitschaft. Zum einen fehlen die erforderlichen Informationen: Es lässt sich vorab für den Einzelnen nicht abschätzen, wie hoch die Kapitalsumme oder die Rentenleistung beim Berufsaustritt sein müssen, um im späteren Alter über ein Einkommen zu verfügen, das nicht nur Armut vermeidet, sondern auch den im Lebensverlauf erreichten Lebensstandard absichert. Dies ist umso schwieriger, je frühzeitiger der Sparprozess beginnt. Die Spartätigkeit muss jedoch schon im frühen Lebensalter, spätestens beim Berufseintritt, einsetzen. Denn nur wenn die Beiträge lange genug gezahlt werden und sich der Zinseszinseffekt auswirkt, bleiben – bezogen auf eine ausreichend hohe Versicherungssumme oder Rentenzahlung – die monatlichen Belastungen tragbar. Die Einsicht, bereits in der Jugend für den fernen Zeitraum des Alters vorzusorgen, kann nicht vorausgesetzt werden. Zukünftige Bedarfe, zumal für weit entfernt liegende Lebensphasen wie das Alter, werden gegenüber gegenwärtigen Bedarfen unterschätzt oder minder gewichtet. In den frühen Stadien des Lebenslaufs dominieren naturgemäß andere Einkommensverwendungspräferenzen (z. B. Ausgaben für eine berufliche Ausbildung, für die Wohnungseinrichtung, für die Gründung und den Unterhalt einer Familie). Auch zielt eine Spartätigkeit nicht nur auf die Phase des Alters. Im Lebensverlauf gibt es eine Fülle von Anlässen und Gründen für einen anderweitigen Rückgriff auf das Vermögen (Anschaffungen, Familiengründung, Existenzgründung usw.). Auch können Notlagen wie Arbeitslosigkeit, Erkrankung, Pflegebedürftigkeit oder familiäre Krisen dazu zwingen, vorhandenes Vermögen aufzulösen oder Versicherungsverträge zu kündigen. Kapitalmarktrisiken Da die Erträgnisse einer privaten Altersvorsorge durch die Entwicklungen auf den Finanz- und Kapitalmärkten bestimmt werden, besteht die Chance auf hohe Renditen und Wertzuwächse. Den Chancen stehen aber auch Risiken gegenüber, wie der Verlust vieler Vermögen in der Finanzkrise 2008/2009 gezeigt hat. Da die Absicherung im Alter verlässlich sein muss, müssen vor allem die Risiken im Auge behalten werden: •

Gesamtwirtschaftliche Risiken wie Niedrigzinsen, Einbrüche auf den Aktienmärkten, Schwankungen bei den Wechselkursen oder inflationäre Preisentwicklung können die Renditen schmälern oder gar zu massiven Vermögensverlusten führen. Da die Höhe des Wertzuwachses nicht vorhersehbar ist, schon gar nicht in einer längerfristigen Perspektive, lässt sich auch nicht verlässlich kalkulieren, wie hoch die späteren Vermögenswerte oder Renten sein werden. Vergangenheitswerte lassen keine Aussagen für die Zukunft zu. Garantien auf dauerhaft hohe Renditen gibt es ebenso wenig wie Sicherungen vor hohen Preissteigerungsraten.

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Denn es geht stets um den Realwert, d. h. entscheidend ist, welche Kaufkraft das Vermögen, die Versicherungssumme oder die Leibrenten haben, die im Alter zur Bestreitung des Lebensunterhalts dienen sollen. Auch sind kapitalfundierte Alterssicherungssysteme keineswegs weniger anfällig für demografische Risiken, d. h. sie sind wie umlagefinanzierte Formen ebenfalls durch die veränderte Relation zwischen Älteren und Jüngeren in der Gesellschaft belastet (vgl. Kapitel „Ökonomische Grundlagen und Finanzierung“, Pkt. 7.6). Nicht zu vergessen ist, dass in der deutschen Vergangenheit speziell Geldvermögen wiederholt durch Inflation und Währungszusammenbrüche entwertet oder ganz vernichtet worden sind. • Anlagespezifische Risiken beziehen sich auf unterschiedliche Altersvorsorgeprodukte. In der Regel zeichnen sich sichere Produkte bzw. Anlagen durch nur geringere Renditechancen aus, während Anlagen mit hohen Renditen auch mit hohen Risiken behaftet sind. So können Kapitalanlagen auf Aktienbasis oder fondsgebundene Lebensversicherungen renditestark, aber auch verlustreich sein, während sich festverzinsliche Staatsanleihen oder kapitalbildende Lebensversicherungen zwar niedrig verzinsen, aber vor Wertverlusten weitgehend geschützt sind. Zu berücksichtigen sind bei der Berechnung der Renditen immer auch die Kosten, die mit spezifischen Anlagen oder Versicherungsformen verbunden sind (Ausgabeaufschläge, Verwaltungskosten, Abschlusskosten usw.). Auch bei sicheren Anlagen ist die Höhe des Zinssatzes nicht vorhersehbar, schon gar nicht in einer längerfristigen Perspektive, so dass nicht absehbar ist, wie hoch die späteren Renditen bzw. Lebensversicherungsrenten sind und ob sie sich der allgemeinen Einkommensentwicklung anpassen. • Anbieterspezifische Risiken ergeben sich aus der Geschäftspolitik der jeweiligen Banken, Versicherungen oder Finanzdienstleister. Durch verfehlte Anlageentscheidungen, riskante Spekulationen oder unseriöse Praktiken bis hin zur Zahlungsunfähigkeit können Wertverluste entstehen, die die gesamte Alterssicherung gefährden. Durch Regulierungen auf den Kapital- und Versicherungsmärkten (Wettbewerbsrecht, Banken- und Versicherungsaufsicht, Verbraucher- und Anlegerschutz) lassen sich einige dieser Risiken begrenzen sowie Information und Transparenz über die Vorsorgeprodukte verbessern (vgl. Pkt. 8.2.1 dieses Kapitels). Gleichwohl beschränkt sich die Regulierung auf die Festlegung eines ordnungspolitischen Rahmens für das Agieren der privatwirtschaftlichen Unternehmen und für die Entfaltung der Marktkräfte. In den Marktprozess selber sowie in Umfang und Gestaltung der Leistungen wird nicht direkt eingegriffen, die Marktabhängigkeit der Alterssicherung bleibt. Eine indirekte Steuerung der privaten Altersvorsorge kann durch Steuererleichterungen und/oder durch die Zahlung von Zulagen erfolgen, um Anreize zur Vermögensbildung oder zum Abschluss von Lebensversicherungen zu geben. Auch ist es möglich, die öffentliche Förderung an solche Anlageformen zu binden, die bestimm-

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Alter

te Mindeststandards erfüllen, um über diesen Weg Vorsorgeprodukte zu fördern, die eine ausreichende Sicherheit bieten. Diesen Weg geht die Riester-Rente. Weitergehend wäre es, wenn der Staat bestimmte Standardprodukte empfiehlt oder vorschreibt oder sogar selbst verwaltet. 5.2.3 Betriebliche Altersvorsorge

Die betriebliche Altersvorsorge hat eine lange Tradition. Schon mit Beginn der Industrialisierung haben einzelne Unternehmer aus betriebswirtschaftlichen, aber auch aus sozialen Motiven Versorgungswerke eingerichtet, um ihre Beschäftigten bei Invalidität oder im Alter finanziell zu unterstützen. Insbesondere langjährige Mitarbeiter:innen sollten an das Unternehmen gebunden werden. Diese Versorgungswerke bestanden teilweise schon vor der Einführung gesetzlicher Sicherungssysteme, waren allerdings auf wenige Betriebe begrenzt und haben Anstoß und Anlass zu einer gesetzlichen Absicherung bei Invalidität und im Alter gegeben. Noch längere Traditionen hat die betriebliche Alterssicherung der Bergleute (Knappschaft). Auch wenn sich der Verbreitungsgrad der betrieblichen Altersversorgung im Laufe der Jahrzehnte deutlich erhöht hat, so kann sie doch aufgrund ihrer Konstruktion als eine betriebliche Sozialleistung weder die Funktion einer allgemeinen Alterssicherung übernehmen noch Armutslagen im Alter vermeiden. Durch die Bindung der Leistung an ein Arbeitsverhältnis und an einen Betrieb sind jeweils nur die Beschäftigten eines Unternehmens abgesichert, die große Gruppe der (zumindest zwischenzeitlich) Nichterwerbstätigen, bleibt grundsätzlich außen vor. Dies betrifft vor allem Arbeitslose, diskontinuierlich Beschäftigte, Personen in Ausbildung oder in einer Familienphase. Solange die betriebliche Altersversorgung auf dem Grundsatz der Freiwilligkeit beruht, kommt hinzu, dass es allein Entscheidung eines Unternehmens ist, ob den Mitarbeitern eine betriebliche Altersversorgung zugesagt wird oder nicht. Im Ergebnis hängt der Verbreitungsgrad stark von der Größe, Wirtschaftskraft und Branchenzugehörigkeit eines Unternehmens sowie von der Art des Beschäftigungsverhältnisses und der Dauer der Betriebszugehörigkeit ab. Typisch für die betriebliche Altersversorgung ist die kontinuierliche Rentenzahlung bis zum Todesfall. Hierdurch unterscheidet sie sich von einer reinen renditeorientierten Kapitalbildung. In der Leistungshöhe sind betriebliche Renten jedoch begrenzt, da die Unternehmen ihre finanziellen Belastungen im Rahmen halten wollen. Selbst nach einer langen Betriebszugehörigkeit wird deshalb eine Betriebsrente immer nur eine Ergänzung zu anderen Alterseinkommen sein. Die Vielfalt der Ausgestaltungsmöglichkeiten ist groß (vgl. dazu Pkt. 8.1.1 dieses Kapitels), so hinsichtlich der • •

erfassten Beschäftigten, abgedeckten Risiken,

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• • •

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Rentenberechnung und -anpassung, Durchführungswege (d. h. Wahl eines normierten Rechtsweges), Finanzierung.

So können alle Beschäftigten oder nur bestimmte Beschäftigtengruppen begünstigt sein. Neben Altersrenten können auch Leistungen bei Invalidität und an Hinterbliebene vereinbart werden. Bei der zu erwartenden Rentenhöhe ist zu unterscheiden zwischen Leistungszusagen („defined benefits“) und reinen Beitragszusagen („defined contributions“). Die Durchführungswege können unternehmensintern (Direktzusagen) oder -extern (kapitalfundiert, über Versicherungen oder Pensionskassen/fonds) erfolgen. Schließlich kann die Finanzierung allein durch das Unternehmen oder durch die Beschäftigten oder durch Mischformen geregelt werden. Besondere Probleme ergeben sich bei einer Beendigung des Arbeitsverhältnisses, denn es ist nicht automatisch sichergestellt, dass die erworbenen Ansprüche erhalten bleiben. So stellt sich die Frage, ob bei einem Wechsel des Arbeitgebers die Rentenansprüche mitgenommen und übertragen werden können oder verfallen (Problem der Portabilität). Sind Unverfallbarkeit und Portabilität nicht gewährleistet, geht dies zu Lasten der Beschäftigten, insbesondere dann, wenn nur kurze oder diskontinuierliche Erwerbsverläufe vorliegen. Zugleich wird die Mobilität auf dem Arbeitsmarkt behindert, was angesichts der hohen Dynamik der Wirtschaft nicht erwünscht sein kann. Zu betonen ist schließlich, dass die Sicherheit der betrieblichen Rentenleistungen eng an die Leistungskraft des Unternehmens geknüpft ist. Einige dieser Probleme können durch eine staatliche Regulierung der betrieblichen Altersversorgung begrenzt werden (vgl. dazu im Detail Pkt. 8.1.2 dieses Kapitels). So lassen sich die Unverfallbarkeit und Übertragbarkeit von Ansprüchen sowie die Pflicht zum Insolvenzschutz gesetzlich bestimmen. Der Verbreitungs- und Deckungsgrad der betrieblichen Altersversorgung kann durch eine öffentliche Förderung, so durch finanzielle Anreize (Steuer- und Beitragsbefreiung der eingezahlten Beträge) vergrößert werden. Durch die Förderung können auch Anreize für eine bestimmte Ausgestaltung der betrieblichen Altersversorgung gegeben werden, indem die Förderung davon abhängt, dass die Versorgungszusagen und -systeme Mindestbedingungen erfüllen. Weiterreichend sind obligatorische Regelungen, die die Unternehmen durch Gesetz oder Tarifvertrag zu Leistungen verpflichten. Es hängt von der Ausgestaltung der gesetzlichen oder tarifvertraglichen Regelungen ab, ob die Verpflichtung sich nur auf bestimmte Betriebe, Branchen und Gruppen von Beschäftigten begrenzt, oder die gesamte Wirtschaft erfasst. Aber auch bei einem die gesamte Wirtschaft erfassenden Obligatorium bleiben Personen, die wegen Krankheit, Kindererziehung, Hausund Familienarbeit, Arbeitslosigkeit oder Ausbildung dauerhaft oder zwischenzeitlich nicht berufstätig sind, im Alter unversorgt oder unterversorgt. Die betriebliche Altersversorgung ist ausschließlich erwerbsbezogen, sie bindet die Absicherung im Alter an die Erwerbsbeteiligung.

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Alter

Fasst man die Ergebnisse dieser systematischen Übersicht über die Möglichkeiten und Grenzen der privaten wie der betrieblichen Altersvorsorge zusammen, so zeigt sich, dass diese Absicherungsformen überfordert sind, eine flächendeckende und zugleich ausreichende Absicherung der gesamten Bevölkerung sicherzustellen. Insbesondere zur Vermeidung von Altersarmut sind sie nicht in der Lage. Dazu bedarf es eines allgemeinen öffentlichen/staatlichen Sicherungssystems mit einer gesetzlich geregelten Vorsorge- bzw. Versicherungspflicht, einem festgelegten Leistungsumfang und Leistungsniveau sowie einer öffentlichen Durchführung und Finanzierung dieser Leistungen. Private Altersvorsorge und die betriebliche Altersversorgung können ein öffentliches System aber sehr wohl ergänzen und aufstocken. Je niedriger das Leistungsniveau der öffentlichen Systeme festgelegt wird, umso größer ist die Notwendigkeit der zusätzlichen privaten oder betrieblichen Vorsorge, um in der Summe auf ein ausreichend hohes Alterseinkommen und Versorgungsniveau zu kommen. 5.2.4 Staatlich organisierte Altersvorsorge: Gesetzliche Alterssicherungssysteme

Aufgabe einer gesetzlich geregelten, öffentlich verwalteten und über Beiträge oder Steuern finanzierten Alterssicherung ist die Sicherstellung des Lebensunterhalts der älteren Generation unabhängig von familiärer Unterstützung oder privater Vorsorge. Die Erfahrung gerade in Deutschland hat gezeigt, dass diese Sicherungsaufgaben im Hinblick auf große Zeiträume und problematische Situationen (Wirtschaftskrisen, Hyperinflation, Staatsuntergang, Kriege) nur durch den Staat geleistet werden können. Der internationale Vergleich macht allerdings auch deutlich, dass es nicht nur ein staatliches Alterssicherungssystem gibt, sondern eine breite Vielfalt unterschiedlicher Ausgestaltungsformen, Leistungsziele und Finanzierungsregelungen. Auch in Deutschland existieren mehrere Systeme nebeneinander. Will man hier zu einem besseren Verständnis der staatlichen Systeme kommen, ist es hilfreich, zwischen drei Grundformen zu unterscheiden (vgl. auch Kapitel „Einkommen“, Pkt. 4.3): • • •

Fürsorgemodell, Bürgerrentenmodell und Sozialversicherungsmodell.

Dabei handelt es sich um Idealtypen, die sich in der Realität durchaus überschneiden und ergänzen können. Fürsorge Das aus der traditionellen Armenfürsorge abgeleitete Fürsorgeprinzip stellt die unterste Schwelle der sozialen Absicherung im Alter dar. Bei Bedürftigkeit werden Einkommensleistungen und/oder Sachleistungen gewährt. Die Finanzierung erfolgt aus dem allgemeinen Steueraufkommen. Die Anspruchsberechtigung bezieht sich (in der Regel) auf die gesamte Bevölkerung, nicht nur auf ältere Menschen. Es gilt das

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Nachrangprinzip, d. h. dass die Zahlungen nur dann erfolgen, wenn der Lebensunterhalt nicht durch eigenes Einkommen, Vermögen oder durch Leistungen von unterhaltsverpflichteten Angehörigen sichergestellt werden kann. Dies bedeutet auch, dass einer Leistungsgewährung eine Bedürftigkeitsprüfung vorausgeht. Das Niveau der Leistungen bemisst sich am sozial-kulturellen Existenzminimum, bezogen auf den Bedarf des Haushaltes, in dem die Bedürftigen leben. In der konkreten Ausgestaltung ist es von Land zu Land unterschiedlich, ob das Fürsorgemodell mit jeweils spezifischen Regelungen und Bedingungen auf einzelne Personen- und Altersgruppen zugeschnitten ist oder als einheitliches System universell gilt. Unterschiede zeigen sich auch bei der Frage, wie streng das Nachrangprinzip greift und wie die Bedürftigkeitsprüfung erfolgt. Entscheidend ist schließlich, wie die Höhe des Existenzminimums definiert wird und ob es eine Anpassung der Leistungen an die allgemeine Einkommens- und Preisentwicklung gibt. Da das Absicherungsniveau niedrig ist und infolge des Nachrangprinzips nur ein kleiner Teil der Älteren überhaupt Leistungen erhält, bleibt das Finanzierungsvolumen einer nach dem Fürsorgemodell ausgestalteten Alterssicherung vergleichsweise gering. Das lediglich existenzminimale Niveau hat zur Folge, dass mit dem Übergang in den Ruhestand ein tiefer Einkommenseinschnitt verbunden sein kann. Von der Zielsetzung her soll ja auch lediglich Armut vermieden werden. Das Nachrangprinzip wiederum verweist die älteren Menschen zunächst auf die Unterstützung durch ihre Familienangehörigen (Ehepartner und Kinder) und schafft Abhängigkeiten. Bedürftigkeitsprüfungen sind zudem mit sozialer Kontrolle verbunden und wirken entwürdigend; die Leistungsempfänger drohen stigmatisiert und ausgegrenzt zu werden. Bürgerrente Bei einer Altersversorgung durch eine Bürgerrente (auch als Grundrente bezeichnet) zahlt der Staat allen Bürger:innen mit Erreichen der Altersgrenze eine Einkommensleistung. Vorleistungen müssen nicht erbracht werden; allerdings kann eine bestimmte Aufenthaltsdauer im Land zur Bedingung gemacht werden. Anderweitige Einkommen und Vermögen der Leistungsempfänger oder von Haushaltsmitgliedern werden nicht angerechnet. Die Bürgerrente ist in ihrer Höhe durch einen pauschalen Betrag gekennzeichnet, der zur Bestreitung eines angemessenen Lebensniveaus ausreichen soll. Leistungsabstufungen (bzw. Zuschläge) bei mehreren Haushaltsmitgliedern sind möglich. Finanziert werden die Leistungen aus allgemeinen Steuermitteln in einer Art Umlageverfahren. Bezug und Höhe der Bürgerrente sind unabhängig vom früheren oder aktuellen Erwerbsstatus (Dauer der Erwerbstätigkeit, Höhe des Erwerbseinkommens). Frühere Phasen der Nicht-Erwerbstätigkeit, etwa wegen Ausbildung, Kindererziehung, Angehörigenpflege, Arbeitslosigkeit, Krankheit) oder von Teilzeitbeschäftigung wirken sich auf den Bürgerrentenanspruch nicht aus. Damit werden Männer und Frauen trotz ihrer unterschiedlichen Lebensverläufe und Erwerbsbiografien im Alter gleichbehandelt.

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Grundsätzlich lassen sich beim Bürgerrentenmodell zwei Varianten unterscheiden: •



Es wird ausschließlich eine Bürgerrente gezahlt. Weitere öffentliche Alterssicherungssysteme gibt es nicht. Ein besseres, dem Lebensstandard angepasstes Absicherungsniveau kann aber durch eine zusätzliche private oder betriebliche Altersvorsorge erreicht werden. Die Bürgerrente stellt als Sockelrente eine Basisversorgung dar, die durch obligatorische Zusatzsysteme ergänzt wird. Diese Zusatzsysteme sind erwerbs- und einkommensbezogen; ihnen kommt die Aufgabe der Lebensstandardsicherung zu, sie können staatlich, privat oder betrieblich organisiert sein.

Da beim Modell der Bürgerrente die gesamte Wohnbevölkerung anspruchsberechtigt ist, errechnet sich ein eher hohes Finanzierungsvolumen, das ein entsprechend hohes Steueraufkommen erfordert. Sicherheit und Verlässlichkeit der Bürgerrente hängen dabei letztlich von politischen Mehrheiten und Entscheidungen ab, für die ältere Generation Mittel aus den öffentlichen Haushalten zur Verfügung zu stellen sowie ob und ggf. welche weiteren Alterssicherungssysteme Leistungen erbringen. Sozialversicherung Beim Sozialversicherungsmodell wird die Alterssicherung nach Versicherungsprinzipien gestaltet. Im Unterschied zur Privatversicherung gibt es jedoch eine Pflichtmitgliedschaft (die unterschiedlich weite Kreise von Erwerbstätigen umfassen kann) und gesetzlich festgelegte Leistungen. Die Finanzierung erfolgt über Beiträge und (in aller Regel) im Umlageverfahren. Die Beiträge richten sich nach dem Arbeitseinkommen, Risikounterschiede werden nicht berücksichtigt. Die Rentenhöhe hängt maßgeblich von der Dauer der Beschäftigung und der Höhe des Arbeitseinkommens ab. Zwischen Beitrag und späterer Leistung besteht also ein Entsprechungsbzw. Äquivalenzverhältnis („je höher die Einzahlungen, umso höher die Leistung“). Phasen der Nicht-Erwerbstätigkeit oder Phasen eines niedrigen Erwerbseinkommens (z. B. Teilzeitarbeit) spiegeln sich in niedrigeren Renten wider. Dadurch werden Frauen mit ihrer spezifischen, durch Kindererziehung und Erwerbsreduzierung charakterisierten Biografie im Alter normalerweise schlechter als die Männer abgesichert. Durch Elemente des sozialen Ausgleichs können diese Nachteile teilweise ausgeglichen werden: So können Leistungsansprüche in Zeiten von Ausbildung, Arbeitslosigkeit, Krankheit, Kindererziehung auch ohne entsprechende eigene Beitragszahlungen entstehen oder niedrige Beitragszahlungen und -zeiten können zu Gunsten der Versicherten aufgewertet werden. Weitergehend sind Regelungen, die nach Maßgabe bestimmter Voraussetzungen (z. B. Versicherungsdauer) die Zahlung von Mindestrenten vorsehen. Hier wird im Bereich unterer Einkommen und Renten das Äquivalenzprinzip außer Kraft gesetzt.

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Wie ein Blick auf die Rentenversicherungssysteme anderer Länder (vgl. Pkt. 11 dieses Kapitels) zeigt, lässt sich das Sozialversicherungsmodell in vielen Varianten ausgestalten. Unterschiede gibt es u. a. hinsichtlich • • • • •

des versicherten Personenkreises, der erfassten Risiken, der Berechnung der individuellen Renten, des Rentenniveaus und der Rentenanpassung und der Finanzierung.

Knüpft die Sozialversicherung ausschließlich oder vornehmlich an abhängiger Erwerbstätigkeit an, lässt sich von einem kategorialen, lohnarbeitsbezogenen System sprechen. Nicht-Erwerbstätige (wie Hausfrauen) oder selbstständig Erwerbstätige zahlen keine Beiträge und erwerben auch keine Ansprüche. Erfasst hingegen die Sozialversicherung alle Erwerbstätigen oder gar die gesamte Bevölkerung handelt es sich um eine Volks- oder Bürgerversicherung. In aller Regel werden neben den Altersrenten auch Renten wegen Erwerbsminderung und Hinterbliebenenrenten gezahlt. Bei der Berechnung der individuellen Rente kann der Grundsatz der Beitrags-Leistungs-Äquivalenz eng gefasst werden oder durch die Berücksichtigung unterschiedlicher Elemente des Solidarausgleichs nur schwach ausgeprägt sein. Die Festlegung des Leistungsniveaus und die Form der Rentenanpassung entscheiden letztlich darüber, in welchem Verhältnis die Renten zum Arbeitseinkommen stehen und ob von einer Lebensstandardsicherung gesprochen werden kann. Bei der Finanzierung können die am Arbeitsentgelt bemessenen Beiträge durch die Arbeitnehmer, durch die Arbeitgeber oder von beiden (zu gleichen oder ungleichen Teilen) übernommen werden. Auch können die Beitragseinnahmen durch steuerfinanzierte Zuschüsse ergänzt werden. Abhängig vom Umfang des versicherten Personenkreises und vom realisierten Rentenniveau können die finanziellen Dimensionen des Sozialversicherungsmodells sehr groß und damit die Belastungen durch Beiträge hoch sein. Das im Umlageverfahren zu erreichende Gleichgewicht von Einnahmen und Ausgaben kann durch ökonomische Verwerfungen (Arbeitslosigkeit, Beschäftigungs- und Einkommensrückgänge) sowie durch die Folgewirkungen des demografischen Umbruchs gefährdet werden. Neben den ökonomischen wirken aber vor allem politische Entscheidungen (Leistungskürzungen oder -ausweitungen) auf die Tragfähigkeit des Systems ein. Die Frage nach der Sicherheit der im Umlageverfahren finanzierten Renten hängt zentral von der Kontinuität der politischen Entscheidungen und politischen Mehrheiten ab. Im Blick auf die Zukunft geht es in fast allen Ländern um die Bereitschaft (und Fähigkeit) der jüngeren, nachrückenden Generationen, die zur Finanzierung der Renten erforderlichen Beitragslasten zu tragen.

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Sonder- und Zusatzsysteme Quer zu den idealtypischen Grundformen stehen Sondersysteme (insbesondere für Beamte bzw. Beschäftigte im öffentlichen Dienst). Als Zusatzsysteme gelten Systeme der privaten und betrieblichen Vorsorge, die die Leistungen einer Sozialversicherung oder auch einer Grundrente aufstocken. Sie können obligatorisch oder freiwillig und öffentlich-rechtlich oder privat-rechtlich organisiert sein. Bei ihnen dominiert die reine Äquivalenz zwischen Beiträgen bzw. Sparleistungen und späteren Leistungsansprüchen. Wenn die konkrete Ausformung der Alterssicherung in Deutschland in den Blick genommen wird, so nimmt hier die Rentenversicherung als Teil der Sozialversicherung die beherrschende Stellung ein; sie wird aber durch die betriebliche und private Altersvorsorge ergänzt. Es ist von einem „3-Säulen-Modell der Alterssicherung“ die Rede. Hinzu treten Sondersysteme und die Grundsicherung im Alter. 5.3

Das deutsche Alterssicherungssystem im Überblick

Das Alterssicherungssystem in Deutschland ist historisch gewachsen, deshalb kann es nicht verwundern, dass es recht unübersichtlich strukturiert ist. Es handelt sich um ein Konglomerat unterschiedlicher Institutionen mit unterschiedlichen Leistungsprinzipien (vgl. Abbildung XI. 8). Diese (Zer-)Gliederung geht einher mit grundlegenden Unterschieden hinsichtlich der Organisation, des erfassten Personenkreises, der jeweils angestrebten Sicherungsziele, der Leistungsvoraussetzungen und -niveaus sowie der Finanzierungsmodalitäten. Trotz gleicher persönlicher Voraussetzungen werden je nach System unterschiedliche Leistungen gewährt. Zur besseren Übersicht ist es hilfreich, das Gesamtsystem nach unterschiedlichen Schichten oder Ebenen aufzugliedern. Zwar zählt der Begriff der „Säulen“ zum üblichen Sprachgebrauch, doch ist das Bild der Säulen, die ja nach der Berechnung der Baustatik gleich groß sein müssen, eher irreführend. Denn die gesetzliche Rentenversicherung ist das mit weitem Abstand größte System der Alterssicherung, dies hinsichtlich des erfassten Personenkreises sowie der finanziellen Dimension. Die betriebliche wie die private Altersvorsorge stehen dahinter weit zurück. Das gilt auch für einzelne gesetzliche Sondersysteme. •

Der ersten Schicht sind die gesetzlichen Regelsysteme zuzuordnen, sie setzen sich zusammen aus: • der gesetzlichen Rentenversicherung, • der Beamtenversorgung und • Sondersystemen für bestimmte Gruppen von Selbstständigen und Versorgungswerken für Freiberufler. • Zur zweiten Schicht zählt die betriebliche Altersversorgung, die sich unterscheiden lässt in die

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• betriebliche Altersversorgung für die Beschäftigten in der Privatwirtschaft und die • Zusatzversorgung für die Arbeiter und Angestellten im öffentlichen Dienst. • Die dritte Schicht wird durch die private Altersvorsorge gebildet. Zu unterscheiden ist hier zwischen einer altersbezogenen Vermögensbildung und einer Lebensversicherung bzw. privaten Rentenversicherung. Vorsorgeformen wie allgemeines Ansparen/Vermögensbildung (inklusive des Erwerbs von Immobilien) bleiben hier außerhalb der Betrachtung, da sie nicht in purer Form Altersvorsorge sind. • Berücksichtigt man schließlich noch die nach dem Fürsorgeprinzip ausgestaltete Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung, so kann diese als vierte Schicht angesehen werden. Nur dieses System garantiert – nach Prüfung der Bedürftigkeit – Mindest- bzw. Grundleistungen für ältere Menschen. Auch das Wohngeld ist eine Mindestsicherungsleistung für ältere Menschen, denn rund die Hälfte der Wohngeldempfänger sind Rentner:innen (vgl. Kapitel „Einkommen“ Pkt. 6.6). Es handelt sich um eine einkommensabhängige Zuschussleistung für den Fall, dass Menschen mit einem niedrigen Einkommen durch die Mieten übermäßig belastet werden. Die Empirie zeigt, dass die Angewiesenheit auf Leis-

Abbildung XI.8 Schichten der Alterssicherung in Deutschland

Abhängig Beschäftigte Beamte

Selbstständige

Arbeiter und Angestellte

Pflichtversicherte Sondereinrichtungen und -regelungen für Selbstständige in der GRV

1. Schicht: Gesetzliche Systeme

2. Schicht: Betriebl. Zusatzsysteme

3.Schicht: Individ. Altersvorsorge

4. Schicht: Grundsichrg.

Beamtenversorgung

Gesetzliche Rentenversicherung

(u.a. Handwerker, Künstler, Versicherungspflichtige auf Antrag)

Knapp-

Betriebliche Altersversorgung in unterschiedlichen Durchführungswegen

schaft Öffentlich gefördert (steuer- und beitragsfreie Entgeltumwandlung)

freiwillig Vers.

Freiwillig Versicherte

Alterssicherung der Landwirte

Zusatzversorgung im öffentlichen Dienst

Private Altersvorsorge, als „Riester-Rente“ öffentlich gefördert (Freibeträge, Zulagen), darunter: Lebensversicherung

Sparen (Banksparpläne, Wertpapiere, Fonds etc.)

Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung/ Vorrangiges Wohngeld

Berufsständ. Versorgungssysteme

966

Alter

tungen der Grundsicherung sinkt, wenn die Tabellenwerte und Miethöchstbeträge des Wohngelds angehoben werden. Für die verschiedenen Gruppen der Bevölkerung setzen sich die Alterseinkünfte in unterschiedlicher Weise aus diesen Schichten zusammen. Von ganz überragender Bedeutung ist die gesetzliche Rentenversicherung. Nahezu die gesamte Bevölkerung ist durch die GRV erfasst: Anfang 2018 zählten gut 38 Mio. Personen zu den aktiv Versicherten (Versicherte, die im Berichtsjahr durch Beiträge oder Anrechnungszeiten Rentenanwartschaften aufbauen). Bezieht man diese Zahl auf die Wohnbevölkerung im Alter von 15 bis unter 65 Jahren, dann errechnet sich eine Versichertenquote von nahezu 80 % der Bevölkerung. (vgl. Tabelle XI.1). Noch nicht mitgerechnet sind dabei die nahezu 17 Mio. passiv Versicherten, die zwar aktuell keine Beiträge zahlen, aber bereits Rentenanwartschaften aufgebaut haben. Auch in Bezug auf die Zusammensetzung der Alterseinkommen zeigt sich die überragende Bedeutung der GRV. Im Durchschnitt aller Rentnerhaushalte wurden (im Jahr 2017) 88 % (alte Bundesländer) bzw. 99 % (neue Bundesländer) der AltersTabelle XI.1 Eckdaten der gesetzlichen Rentenversicherung 2018 Versicherte (ohne Rentenbezug) (Jahresende 2017) Insgesamt

55,11 Mio.

aktiv Versicherte

38,17 Mio.

passiv Versicherte

16,93 Mio.

Anteil der aktiv Versicherten an der Bevölkerung zwischen 15 – 65 Jahren

69,4 %

Renten insgesamt

25,69 Mio.

• Versichertenrenten

20,07 Mio.

• Hinterbliebenenrenten

5,62 Mio.

Rentner:innen insgesamt

21,04 Mio.

• Einzelrentner:innen

16,92 Mio.

• Mehrfachrentner:innen

4,12 Mio.

Einnahmen (RV insgesamt)

312,28 Mrd. €

Ausgaben (RV insgesamt)

307,85 Mrd. €

Ausgaben in % des BIP

9,4 %

Quelle: Deutsche Rentenversicherung (2019), Rentenversicherung in Zahlen.

Rentenversicherung

967

einkommen aus Leistungen der Rentenversicherung gespeist, 5 % aus Leistungen der betrieblichen Altersversorgung und 10 % aus den Erträgnissen der privaten Altersvorsorge. Es gibt in Deutschland keine die gesamte Bevölkerung umfassende Bürgerversicherung, ebenso wenig gibt es eine Bürgerrente oder eine, einen bestimmten EuroBetrag garantierende, Mindestrente. Die Regelsysteme aus der ersten Schicht sowie die Systeme der zweiten und dritten Schicht sind vielmehr ausgeprägt vorleistungsund erwerbsabhängig ausgestaltet. Die Hierarchisierung von Einkommens- und Berufspositionen auf dem Arbeitsmarkt spiegelt sich in der Hierarchie der Alterseinkommen wider. Die Schichten der Alterssicherung lassen sich auch nach ihren Finanzierungsverfahren unterscheiden: Den im Umlageverfahren finanzierten Systemen (Rentenversicherung, Beamtenversorgung, Alterssicherung der Landwirte, Zusatzversorgung im öffentlichen Dienst und die Grundsicherung) stehen die kapitalgedeckten Systeme (betriebliche Altersversorgung, berufsständische Versorgungswerke, Lebensversicherung) gegenüber. Über die vorgenannten Leistungen hinaus existieren verschiedene weitere Einkommensquellen, die meist neben den Leistungen aus den drei Schichten bezogen werden und diese ergänzen. Nur in Ausnahmefällen dienen sie als Haupteinkommensquelle im Alter. Hierzu zählen vor allem Einnahmen aus einer (Neben-)Erwerbstätigkeit (vgl. Pkt. 4.4 dieses Kapitels), Einnahmen aus Unternehmertätigkeit und Vermögen sowie Vermietung und Verpachtung sowie Renten aus der gesetzlichen Unfallversicherung, die allerdings teilweise mit den GRV-Renten verrechnet werden. Insgesamt lässt sich in den letzten Jahren eine Gewichtsverschiebung in Richtung der individuellen Vorsorge und der betrieblichen Altersversorgung erkennen. Beginnend mit der Einführung der „Riester-Rente“ im Jahr 2001 ist parallel dazu eine Absenkung des Versorgungsniveaus der Rentenversicherung eingeleitet worden; die auftretenden Versorgungslücken sollen – gefördert durch staatliche Zuschüsse und Steuererleichterungen – durch den Ausbau der privaten Vorsorge und der betrieblichen Altersversorgung geschlossen werden (vgl. Pkt. 8.2.2 dieses Kapitels).

6

Rentenversicherung

6.1

Versicherungsprinzip und Solidarausgleich

Die gesetzliche Rentenversicherung (GRV) wurde 1889 mit dem „Gesetz betreffend die Invaliditäts- und Alterssicherung“ eingeführt und ist heute im SGB VI geregelt. Der Kreis der Pflichtversicherten war zunächst auf die Arbeiter:innen beschränkt, später erfolgte dann die Ausweitung auf Angestellte, Empfänger:innen von Lohnersatzleistungen, kleinere Gruppen von Selbstständigen sowie Personen, die Kinder erziehen oder Angehörige pflegen. Während ursprünglich das Leistungsziel der Ren-

968

Alter

tenversicherung nur darin bestand, einen Zuschuss zum Lebensunterhalt zu leisten und Armutslagen zu vermeiden, ist der GRV mit der Einführung der dynamischen Rente im Jahr 1957 die Aufgabe zuerkannt worden, im Anschluss an das Arbeitsleben den erreichten Lebensstandard zu sichern. Diese umfassende Zielsetzung ist jedoch im Zuge der Ende der 1990er Jahre einsetzenden Rentenreformen schrittweise zurückgenommen worden. Die gesetzliche Rente ist nur noch ein zwar wesentlicher, aber kleiner werdender Teil der Lebensstandardsicherung. Die dadurch entstehenden Versorgungslücken sollen durch Leistungen der privaten und betrieblichen Altersvorsorge ausgeglichen werden. Grundsätzlich bezieht sich das Ziel der Lebensstandardsicherung in der GRV auf die durch Erwerbsarbeit erzielte lebensdurchschnittliche Einkommensposition und nicht auf den Standard unmittelbar vor dem Austritt aus dem Erwerbsleben. Allerdings ist weder genau definiert, wie lange das Arbeitsleben zum Erreichen des Ziels der Lebensstandardsicherung gedauert haben muss, noch besteht Einigkeit über das angemessene Niveau der Renten in Relation zum früheren Erwerbseinkommen. Letztlich handelt es sich um Bewertungsfragen. Üblicherweise gelten 45 Versicherungsjahre als Norm für ein „erfülltes“ Arbeitsleben, und von Lebensstandardsicherung wurde bislang dann gesprochen, wenn die Rente 70 % des vergleichbaren NettoArbeitnehmereinkommens ausmacht (Netto-Rentenniveau nach Steuern). Diese 70 %-Marge wird in Zukunft infolge der mehrfachen Änderungen im Rentenanpassungsverfahren jedoch deutlich absinken. Veränderungen ergeben sich zusätzlich dadurch, dass die Renten schrittweise besteuert werden, die Beiträge aber steuerfrei bleiben (vgl. Pkt. 6.5.6 dieses Kapitels). Die Wirkungsweise der GRV ist durch das Versicherungsprinzip geprägt: Die Mitglieder sind gegen das Risiko versichert, bei Erwerbsminderung oder im Alter ihr Arbeitseinkommen zu verlieren. Bei Eintritt des Versicherungsfalls erfolgt die Leistung in Form einer Versichertenrente (Kausalprinzip), auf die ein unbedingter Rechtsanspruch besteht. Die persönlichen Verhältnisse spielen bei dem Anspruch keine Rolle, Bedürftigkeitsprüfungen finden nicht statt. Das Berechnungsverfahren zur Ermittlung der Höhe der individuellen Rente ist gesetzlich festgelegt. Es gibt keine Ermessensentscheidungen. Die durch Beitragszahlung erworbenen Rentenanwartschaften haben Eigentumscharakter und sind verfassungsrechtlich geschützt. Die Finanzierung erfolgt über Beiträge, die sich mit einem einheitlichen Prozentsatz an der Höhe des Bruttoarbeitseinkommens bemessen. Hinzu kommt als zweite, zunehmend bedeutsame Finanzierungsquelle ein steuerfinanzierter Bundeszuschuss. Die Finanzierungsart ist das Umlageverfahren (vgl. Kapitel „Ökonomische Grundlagen und Finanzierung “, Pkt. 3.2 und Pkt. 6.7.4 dieses Kapitels). Die individuelle Rentenhöhe errechnet sich nach dem Grundsatz der Teilhabeäquivalenz: Höhe und Dauer des durch Beitragszahlungen belegten Arbeitseinkommens sind die dafür bestimmenden Faktoren. Zwischen Vorleistung (Beitrag) und Gegenleistung (Rente) besteht somit eine direkte Beziehung (Grundsatz der Lohnund Beitragsbezogenheit der Renten). Die absolute Höhe der jeweiligen Renten wird

Rentenversicherung

969

dabei durch die Höhe des aktuellen Rentenwerts bestimmt (Multiplikation der persönlichen Entgeltpunkte mit dem aktuellen Rentenwert, vgl. Pkt. 6.5 dieses Kapitels). Dieser Berechnungsmodus der Rente hat zwangsläufig zur Folge, dass Erwerbsverläufe, die durch eine nur geringe bzw. durchbrochene Beschäftigungs- und Versicherungsdauer geprägt sind und/oder in denen nur eine niedrige individuelle Einkommensposition erreicht werden konnte, auch nur zu niedrigen Renten führen. Dabei spielt ausschließlich die Höhe des versicherten Einkommens eine Rolle. Nicht erfasst und damit auch nicht berücksichtigt wird, ob dieses Einkommen Folge niedriger Stundenentgelte bei einer Vollzeitarbeit oder Folge von wenigen Arbeitsstunden bei Stundenentgelten im mittleren und höheren Segment ist. Der Lohn- und Beitragsbezug der Rentenberechnung zielt auf einen begrenzten Lohnersatz nach einem langjährigen Arbeitsleben; es ist also keinesfalls ausgeschlossen, dass Renten die Armutsschwelle, gemessen am Niveau der Grundsicherung, unterschreiten. Folgt man dieser Konstruktion der Rentenberechnung, lässt sich eine niedrige Rente nicht per se als Problem einstufen. Wenn der Lohn kaum das individuelle Existenzminimum sichert oder wegen Teilzeitarbeit der Lebensunterhalt nur im Partnerkontext gewährleistet werden kann, lässt sich keine Rente erwarten, die höher ist als die Grundsicherung. Das Leistungsziel der Rentenversicherung besteht insofern nicht darin, im Alter in jedem Fall eine Rente oberhalb des Grundsicherungsniveaus zu garantieren, zumal es bei der Armutsvermeidung auf das Gesamteinkommen im Alter ankommt (vgl. Pkt. 10.2 dieses Kapitels). Kriterium für die Leistungsfähigkeit der Rente ist jedoch ihre strukturelle Armutsfestigkeit: Das Leistungsniveau der Rentenversicherung sollte so bemessen sein, dass nach einer langjährigen Vollzeitbeschäftigung und einer entsprechenden Beitragsleistung die Nettorenten auf jeden Fall oberhalb der vorleistungsunabhängigen Grundsicherung liegen. Nur so kann gewährleistet werden, dass sich die Beitragszahlung auch lohnt. Ist das nicht der Fall, droht ein Legitimationsund Akzeptanzverlust der Rentenversicherung: Warum viele Jahre hinweg Beiträge zahlen, wenn die Grundsicherung im Alter auch ohne Vorleistungen dasselbe Sicherungsniveau garantiert ? Das Äquivalenzprinzip gilt nicht uneingeschränkt. Denn die gesetzliche Rentenversicherung ist Teil der Sozialversicherung, deren Charakteristikum die Verbindung des Versicherungs- und Äquivalenzprinzips mit dem Prinzip des sozialen Ausgleichs ist. Die Elemente des sozialen Ausgleichs in der Rentenversicherung führen insofern zur einer Aufweichung und Modifikation der engen Koppelung zwischen der Höhe des versicherungspflichtigen Arbeitsentgelts und Dauer der Beschäftigung einerseits und der Höhe der individuellen Rente bzw. Rentenanwartschaft andererseits. Von besonderer Bedeutung sind folgende Elemente des sozialen Ausgleichs (vgl. im Detail Pkt. 6.5.2 dieses Kapitels): •

Lebensphasen außerhalb der Erwerbstätigkeit oder bestimmte Lebensereignisse werden als rentenbegründend und -steigernd berücksichtigt. Dies gilt insbeson-

970



Alter

dere für Zeiten der Kindererziehung, der familiären Pflege sowie von Krankheit und Arbeitslosigkeit. Die Beiträge werden durch den Bund oder die jeweils zuständigen Sozialversicherungsträger bezahlt. In bestimmten Fällen werden Versicherungszeiten verlängert (Zurechnungszeiten bei Erwerbsminderungsrenten) oder Zeiten, in denen aus schutzwürdigen Gründen nur gering verdient werden konnte, höher bewertet (so vor allem Zeiten der Berufsausbildung, Anwartschaften bei erziehungsbedingter Teilzeitarbeit sowie Niedrigverdienste vor 1992/Rente nach Mindestentgeltpunkten).

All diese Ausgleichsleistungen garantieren allerdings keine bestimmte Rentenhöhe und sind insofern keine Mindestsicherung, sondern sie verbessern die persönlichen Entgeltpunkte. Die Rentenversicherung unterscheidet sich noch auch aus weiteren Gründen von einer privaten Rentenversicherung bzw. Lebensversicherung: •

Die Beiträge richten sich nicht nach dem individuellen Risiko, sondern sind als feste Prozentsätze, bezogen auf das Bruttoeinkommen, berechnet. • Unabhängig von der Höhe des Beitrags zählen die Absicherung des Risikos der Erwerbsminderung, Renten im Hinterbliebenenfall und Leistungen der Rehabilitation zum Leistungsspektrum. • Die Finanzierung über Beiträge wird durch einen steuerfinanzierten Bundeszuschuss ergänzt, der zur Abdeckung der allgemeinen gesellschaftspolitischen Aufgaben der Rentenversicherung dient. Eine ausschließliche Finanzierung allein durch den Kreis der Beitragszahler wäre verteilungspolitisch nicht zu rechtfertigen (vgl. Pkt. 6.7.2 dieses Kapitels). 6.2

Versicherte Personen

Die GRV ist eine Pflichtversicherung für alle Arbeitnehmer:innen ohne Rücksicht auf die Höhe ihres Einkommens. Pflichtversichert sind weiterhin u. a. Auszubildende, Personen im Bundesfreiwilligendienst, Empfänger:innen von Lohnersatzleistungen der Bundesagentur für Arbeit, Bezieher:innen von Krankengeld, Mütter oder Väter während der Zeiten der Kindererziehung/Elternzeit, private Pflegepersonen sowie bestimmte Gruppen von Selbstständigen wie Künstler:innen, Publizisten:innen, Heimarbeiter:innen, Hausgewerbetreibende und Handwerker:innen (vgl. Tabelle XI.2). Auch sog. arbeitnehmerähnliche Selbstständige unterliegen der Rentenversicherungspflicht (für die übrigen Zweige der sozialen Sicherung besteht jedoch keine Versicherungspflicht). Hierbei handelt es sich um solche Personen, die – mit Ausnahme von Familienangehörigen – keine weiteren versicherungspflichtigen Arbeitnehmer:innen beschäftigen und regelmäßig und im Wesentlichen nur für einen Auftraggeber tätig sind. Im Gegensatz zu den scheinselbstständigen Arbeitnehmer:innen

Rentenversicherung

971

Tabelle XI.2 Die Versicherten in der gesetzlichen Rentenversicherung Jahresende 2017 Aktiv Versicherte

38,17

darunter: Pflichtversicherte

32,87

und zwar:1) • versicherungspflichtig Beschäftigte

31,11

• Altersteilzeitbeschäftigte

0,24

• Geringfügig Beschäftigte, pflichtversichert

1,16

• Leistungsempfänger nach dem SGB III (Arbeitslosengeld I)

0,67

• sonstige Leistungsempfänger

0,62

• Pflegepersonen

0,53

• Selbstständige

0,31

Freiwillig Versicherte

0,22

Geringfügig Beschäftigte, versicherungsfrei

4,22

Anrechnungszeitversicherte

2,94

Passiv Versicherte

16,94

Versicherte insgesamt

55,11

1) Mehrfachnennungen möglich Quelle: Deutsche Rentenversicherung Bund (2018), Versichertenbericht.

gelten sie als unzweifelhaft selbstständig. Folglich müssen sie auch die Rentenversicherungsbeiträge allein bezahlen, ohne dass der Auftraggeber mit herangezogen wird. Die Entscheidung über die Rentenversicherungspflicht trifft der zuständige Rentenversicherungsträger. Eine Versicherungspflicht ist notwendig, weil •

nur so garantiert werden kann, dass jede/r Arbeitnehmer/in ausreichende Rentenanwartschaften aufbaut, • der Solidarausgleich nur dann sozial akzeptabel ist, wenn alle Arbeitnehmer:innen ohne Rücksicht auf Einkommen und Gesundheitszustand einbezogen werden, • eine dynamische Rente im Umlageverfahren nur dann verlässlich finanzierbar ist, wenn die (zukünftige) Zahl der Beitragszahler kalkuliert werden kann. Unter bestimmten Bedingungen besteht die Möglichkeit, sich nachzuversichern bzw. sich freiwillig zu versichern. Der Charakter der gesetzlichen Rentenversicherung als

972

Alter

Pflichtversicherung für alle Arbeitnehmer:innen ist aber verschiedentlich durchbrochen. So gibt es die Versicherungsfreiheit kraft Gesetzes. Diese gilt für Beamt:innen und beamtenähnliche Personen mit Ansprüchen aus der Beamtenversorgung sowie für die geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse mit der Möglichkeit des „optingout“ (vgl. Kapitel „Einkommen“, Pkt. 5.1). 6.3

Leistungsbereiche

Das gesetzlich vorgeschriebene Leistungsspektrum der Rentenversicherung umfasst die • • • • •

Zahlung von Altersrenten (Voll- und Teilrenten), Zahlung von Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit, Zahlung von Hinterbliebenenrenten (Witwen-, Witwer- und Waisenrenten), Zahlung von Zuschüssen an die Krankenversicherung der Rentner (KVdR), Durchführung von Rehabilitationsmaßnahmen (vgl. Kap. „Gesundheit und Gesundheitssystem“, Pkt. 10).

Im Jahr 2018 zahlte die GRV knapp 26 Mio. Renten, zu 78 % Versichertenrenten und zu 22 % Hinterbliebenenrenten (vgl. Abbildung XI.9). Da eine Person sowohl eine Abbildung XI.9 Rentenbestand nach Rentenarten 2018

Renten wg. verminderter Erwerwerbsfähigkeit, Männer 0,870Mio.: 3,4%

Altersrenten Männer 8,100 Mio.: 31,5%

Witwenrenten 4,624 Mio.: 18,0% Renten insgesamt: 25,662 Mio.

Witwerrenten 0,688 Mio.: 27% Waisenrenten 0,304 Mio.: 1,2% Renten wg. verminderter Erwerwerbsfähigkeit, Frauen 0,954 Mio.: 3,7%

Altersrenten Frauen 10,137 Mio.: 39,5%

Quelle: Deutsche Rentenversicherung Bund (2019), Rentenversicherung in Zahlen.

Rentenversicherung

973

Versichertenrente als auch eine Hinterbliebenenrente beziehen kann, ist die Zahl der Rentner:innen mit 21 Mio. deutlich geringer als die der gezahlten Renten. Gut 4 Mio. Personen, d. h. knapp ein Fünftel aller Rentner:innen, bezogen 2018 zugleich diese zwei Renten. Dies betrifft weit überwiegend Frauen (vgl. Pkt. 6.4.3 dieses Kapitels). Durch die Doppelwirkung von niedrigem Rentenzugangsalter und steigender Lebenserwartung erhöhte sich von 1980 bis 2018 die durchschnittliche Rentenbezugsdauer in den alten Bundesländern von 11,0 Jahren (Männer) bzw. 13,8 Jahre (Frauen) auf 18,2 Jahre (Männer) bzw. 21,2 Jahre (Frauen) (vgl. Abbildung XI.10). Zu den Leistungsbereichen der GRV gehört auch ihre Beteiligung an der Krankenversicherung der Rentner (KVdR). Rentner:innen haben in der gesetzlichen Krankenversicherung die gleichen Ansprüche auf die Sachleistungen wie aktiv versicherte Krankenkassenmitglieder. Der Beitragssatz entspricht dem gesetzlich festgelegten Beitragssatz zum Gesundheitsfonds. Die eine Hälfte wird von der GRV getragen (KVdR-Zuschuss), die andere ist von den Rentner:innen selbst aufzubringen und wird von der GRV automatisch an den Gesundheitsfonds abgeführt. Auch die Rentner:innen müssen den Zusatzbeitrag zahlen, dieser wird seit 2019 wieder zur Hälfte von der Rentenversicherung getragen. Die Beiträge zur Pflegeversicherung sind seit 2004 von den Rentner:innen alleine aufzubringen. Ausgezahlt werden lediglich Nettorenten nach Abzug der individuellen KVdRund Pflegeversicherungsbeiträge. Sonstige neben den GRV-Renten bezogene Zusatzeinkommen, wie z. B. Einkommen aus abhängiger Beschäftigung oberhalb der

Abbildung XI.10

Durchschnittliches Rentenzugangsalter und Rentenbezugsdauer 1980 – 2018 durchschnittl. Rentenzugangsalter, Frauen (rechte Achse) 64,3 64,1 64 durchschnittl. Rentenzugangsalter, Männer (rechte Achse)

25

63

62,5 21,2

15

10

5

18,2

62 61

Rentenzugangsalter

Rentenbezugsdauer in Jahren

20 61,9

60

13,8

59 11,0

58 durchschnittl. Rentenbezugsdauer, Frauen (linke Achse) 57

durchschnittl. Rentenbezugsdauer, Männer (linke Achse)

56

2018

2016

2014

Quelle: Deutsche Rentenversicherung Bund (zuletzt 2019), Rentenversicherung in Zahlen.

2012

2010

2008

2006

2004

2002

2000

1998

1996

1994

1992

1990

1988

1986

1984

1982

1980

0

55

974

Alter

Geringfügigkeitsgrenze und Betriebsrenten, werden ebenfalls mit Beiträgen zur Kranken- und Pflegeversicherung belegt. 6.4

Rentenarten

Grundsätzlich werden Versichertenrenten gewährt, wenn der Versicherungsfall (Erwerbsminderung, Erreichen der Altersgrenzen) eingetreten ist, die Rente beantragt wird und die erforderliche Wartezeit von fünf Jahren erfüllt ist. Unter Wartezeit versteht man die Zeit, der man der GRV mindestens angehört haben muss, um Leistungen zu beanspruchen (Mindestversicherungszeit). 6.4.1 Altersrenten, Altersgrenzen, Teilrenten und Abschläge

Die Zahlung von Altersrenten ist an das Erreichen bestimmter Altersgrenzen geknüpft. Der Eintritt des Versicherungsfalls ist also unabhängig von der tatsächlichen Erwerbsfähigkeit der betreffenden Versicherten. Vielmehr wird eine Weiterarbeit zwar nicht ausgeschlossen, aber auch nicht mehr zugemutet. Sind die jeweiligen Altersgrenzen und Wartezeiten erreicht, so heißt dies andererseits aber auch nicht, zu diesem Zeitpunkt die Rente beantragen und aus dem Erwerbsleben ausscheiden zu müssen. Seit 2012 erfolgt eine schrittweise Anhebung der Regelaltersgrenze von 65 auf 67 Jahre: Wer 1947 und später geboren wurde, für den steigt das reguläre Renteneintrittsalter seither von Jahrgang zu Jahrgang um einen Monat. Für die nach 1958 Geborenen steigt die Altersgrenze um jeweils zwei Monate pro Jahrgang, so dass die 1964 und später Geborenen künftig erst ab 67 Jahren die Regelaltersrente erhalten können (Übersicht XI.1). Es besteht die Möglichkeit, unter bestimmten Voraussetzungen bereits vorzeitig eine Rente zu beziehen. Dies betrifft Schwerbehinderte, langjährig Versicherte und die besonders langjährig Versicherten (vgl. Übersicht XI.2). Abschläge und Zuschläge Wenn bei einem vorzeitigen Rentenbeginn die Renten durch Abschläge gekürzt werden, so sind diese Abschläge für die gesamte Rentenlaufzeit, und nicht nur für die Zeit bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze wirksam und vermindern auch die Hinterbliebenenrenten. Es war und ist Ziel der Politik, einen vorgezogenen Rentenbeginn durch die Rentenabschläge finanziell unattraktiv zu machen (vgl. Pkt. 4.2 dieses Kapitels). Sie sind in ihrer Höhe so bemessen, dass die mit einem vorgezogenen Rentenbeginn einhergehende Verlängerung der Rentenbezugsdauer nicht zu einer finanziellen Mehrbelastung der Rentenversicherung führt. Dies gilt auf lange Sicht. Denn zunächst entstehen durch die früher einsetzenden Rentenzahlungen Mehrausgaben. Im Laufe der Jahre führt die Kürzung der Renten dann zu Minderausgaben, die – bei

Rentenversicherung

975

Übersicht XI.1 Heraufsetzung der Regelaltersgrenze Geburtsjahr

Regelaltersgrenze ab Jahr

Erreichen der Regelaltersgrenze

bis 1946

65

bis 1947

65 + 1 Monat

02.2012 bis 01.2013

bis 1948

65 + 2 Monate

03.2013 bis 02.2014

bis 1949

65 + 3 Monate

04.2014 bis 03.2015

bis 1950

65 + 4 Monate

05.2015 bis 04.2016

bis 1951

65 + 5 Monate

06.2016 bis 05.2017

bis 1952

65 + 6 Monate

07.2017 bis 06.2018

bis 1953

65 + 7 Monate

08.2018 bis 07.2019

bis 1954

65 + 8 Monate

09.2019 bis 08.2020

bis 1955

65 + 9 Monate

10.2020 bis 09.2021

bis 1956

65 + 10 Monate

11.2021 bis 10.2022

bis 1957

65 + 11 Monate

12.2022 bis 11.2023

bis 1958

66

01.2024 bis 12.2024

bis 1959

66 + 2 Monate

03.2025 bis 02.2026

bis 1960

66 + 4 Monate

05.2026 bis 04.2027

bis 1961

66 + 6 Monate

07.2027 bis 06.2028

bis 1962

66 + 8 Monate

09.2028 bis 08.2029

bis 1963

66 + 10 Monate

11.2029 bis 10.2030

bis 1964

67

01.2031 bis 12.2031

einer exakten versicherungsmathematischen Berechnung – am Ende des Rentenbezugs die Mehrausgaben genau ausgleichen. Die Abschläge betragen 0,3 % pro Monat. Für einen um ein Jahr vorgezogenen Rentenbeginn bedeutet dies somit eine Rentengesamtminderung von 3,6 %. Die Minderung erhöht sich auf 10,8 %, wenn z. B. langjährig Versicherte bereits mit 63 Jahren, d. h. 3 Jahre vor der Regelaltersgrenze, ihre Rente beziehen. Die Versicherten können, beginnend mit einem Lebensalter von 50 Jahren, zusätzliche Beiträge zahlen, um die Abschläge auszugleichen oder in ihrer Höhe zu begrenzen. Aber im Zweifel können sich diejenigen Arbeitnehmer:innen, die gesundheitlich am stärksten belastet sind und vorzeitig aus dem Arbeitsleben ausscheiden

976

Alter

Übersicht XI.2 Vorgezogene Altersrenten Altersrente für langjährige Versicherte ab 63 Jahren Voraussetzung ist, dass eine Wartezeit von 35 Jahren erfüllt worden ist. Die Inanspruchnahme dieser Rente ist mit Abschlägen in Höhe von 0,3 % je Monat verbunden, gemessen an der jeweils maßgeblichen Regelaltersgrenze. Liegt die Regelaltersgrenze (im Jahr 2018) bei 65 Jahren und sieben Monaten, so entspricht dies bei einem Rentenbeginn mit 63 Jahren einer Rentenkürzung von 9,3 %. Ende 2029, wenn die Regelaltersgrenze von 67 Jahren erreicht worden ist, hat sich dann der Kürzungsbetrag auf 14,4 % erhöht. Altersrente für besonders langjährig Versicherte ab 65 Jahren Wer eine Wartezeit von 45 Jahren erfüllt hat, kann mit 65 Jahren in Rente gehen – und zwar ohne Abschläge. Auf die Wartezeit von 45 Jahren („besonders langjährige Versicherte“) werden Pflichtbeiträge aus Zeiten einer Beschäftigung, Pflege sowie Zeiten der Erziehung eines Kindes bis zum 10. Lebensjahr angerechnet. Nicht berücksichtigt werden hingegen Zeiten aufgrund des Bezuges von Arbeitslosengeld und Arbeitslosengeld II (Hartz IV). Altersrente für besonders langjährig Versicherte ab 63 Jahren Besonders langjährig Versicherte haben seit 2014 die Möglichkeit, eine abschlagsfreie Rente bereits vor Erreichen des 65. Lebensjahres, frühestens ab 63 Jahren, zu erhalten. Die Regelung ist zeitlich befristet, sie gilt nur für Versicherte, die zwischen Juli 1951 und Dezember 1952 geboren sind. Für die später geborenen Jahrgänge zwischen 1953 und 1963 wird im Zuge der Anhebung der Regelaltersgrenze das Zugangsalter schrittweise wieder auf 65 Jahre angehoben. Für Jahrgänge ab 1964 gilt dann die Regelung der Altersgrenze für besonders langjährig Versicherte. Altersrente für schwerbehinderte Menschen Seit 2012 – beginnend mit dem Geburtsjahrgang 1952 – wird die Altersgrenze für schwerbehinderte Menschen für die frühestmögliche Inanspruchnahme dieser Rente schrittweise von 60 auf 62 Jahre heraufgesetzt. Gleichzeitig wird die Altersgrenze für einen abschlagsfreien Bezug dieser Rente stufenweise von 63 auf 65 Jahre angehoben Damit verbleibt es bei einem maximalen Abschlag in Höhe von 10,8 % bei der frühestmöglichen Inanspruchnahme.

wollen bzw. müssen, die Abschläge bzw. den Abkauf von Abschlägen am wenigsten leisten. Zu weiteren Renteneinbußen kommt es zusätzlich noch dadurch, dass sich bei vorzeitigem Rentenbeginn zugleich die anrechnungsfähigen Versicherungsjahre vermindern und auch von daher die Rente niedriger ausfällt. Im Rentenzugang 2018 wurde bei der Hälfte der Rentner:innen die Rente (Versichertenrente) um Abschläge gekürzt. Besonders ausgeprägt ist der Rentenzugang mit Abschlägen in den neuen Bundesländern, nämlich bei etwa drei Viertel aller Zugänge. Die Höhe der Abschläge bewegt sich zwischen 10 und 15 % der ungekürzten Rente. Es ist möglich, neben dem Bezug einer Rente auch noch zu arbeiten und ein Erwerbseinkommen in unbegrenzter Höhe zu erzielen (vgl. Pkt. 4.4 dieses Kapitels). Wird die Altersrente allerdings vorzeitig, vor dem Erreichen der Regelaltersgrenze bezogen, gelten enge Hinzuverdienstgrenzen (in Höhe von 450 Euro im Monat).

Rentenversicherung

977

Teilrenten Es besteht die Möglichkeit, zwischen einer Vollrente einerseits sowie einer Teilrente – verknüpft mit einer teilweisen Weiterarbeit andererseits – zu wählen. Mit dem noch geleisteten Arbeitsanteil bleibt ein/e Teilrentner/in versicherungspflichtig und erwirbt dadurch auch weitere Rentenansprüche. Es gilt folgende Regelung: Vor Erreichen der Regelaltersgrenze können bis zu 6 300 Euro im Jahr ohne Kürzung der Altersrente hinzuverdient werden. Ein über diesen Betrag hinausgehender Verdienst wird zu 40 % auf die Monatsrente angerechnet. Erst wenn die Summe aus gekürzter Rente und dem Hinzuverdienst über dem bisherigen Einkommen (bestes Einkommen der letzten 15 Kalenderjahre) liegt, wird der darüber liegende Hinzuverdienst zu 100 % auf die verbliebene Teilrente angerechnet und die Altersrente entfällt völlig. Der in Anspruch genommene Rententeil wird um Abschläge gemindert. Der Verdienst unterliegt in voller Höhe der Beitragspflicht. Die Möglichkeit zur Teilrente gilt für alle Altersrentenarten. Wichtigstes Ziel dieser Regelung ist die Förderung eines gleitenden Übergangs von der Vollerwerbstätigkeit in den Ruhestand – allerdings mit sehr begrenzter Wirkung. Der Anteil der Teilrenten betrug nie mehr als 0,5 % der Rentenzugänge. 6.4.2 Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit

Trotz verbesserter Arbeitsstandards, moderner Medizin und gesünderer Lebensweise besteht auch heute noch das Risiko, dass Beschäftigte aus gesundheitlichen Gründen bereits vor dem Erreichen der Altersgrenzen nicht mehr in der Lage sind, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen. Im Jahr 2018 haben rund 168 000 Personen erstmalig eine Erwerbsminderungsrente erhalten, das entsprach knapp 18 % aller Zugänge an Versichertenrenten in diesem Jahr. Der Anteil der Erwerbsminderungsrenten an den Rentenzugängen, d. h. an den in einem Jahr neu bewilligten Renten insgesamt, hat deutlich abgenommen, wie die Abbildung XI.11 für den Zeitraum seit 1996 zeigt – das gilt noch mehr in langfristiger Betrachtung. So weist die Statistik der Rentenversicherung für 1965 sogar noch einen Anteil der Erwerbsminderungsrenten an den Rentenzugängen von 64,5 % aus (Männer: 60,8; Frauen: 66,0 %). Renten wegen Erwerbsminderung – bzw. vor 2001, Renten wegen Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit – gehören seit Beginn der gesetzlichen Alterssicherungspolitik zum Kern des Aufgabenkatalogs der GRV. Die gesetzliche Invaliditäts- und Altersversicherung von 1889/91 war vor allem eine Versicherung gegen das Risiko der Invalidität. Denn die Regelaltersgrenze lag damals bei 70 Jahren. Angesichts der niedrigen Lebenserwartung gegen Ende des 19. Jahrhunderts war die Zahl der Fälle, in denen jemand mit dem 70. Lebensjahr in eine Altersrente ging, sehr gering. Ziel ist es, das Einkommen zu ersetzen, wenn die Erwerbsfähigkeit des Versicherten in einem bestimmten Maß eingeschränkt oder ganz weggefallen ist. Bei der Beurteilung der Erwerbsfähigkeit kommt es auf die Feststellung an, ob und in welchem

978

Alter

Abbildung XI.11

Zugänge von Alters- und Erwerbsminderungsrenten 1996 – 2018 25

24,7 Anteil der Erwerbsminderungsrenten am Rentenzugang insgesamt in % rechte Achse

22,6

21,5

21,3

20,5

19,7

20 18,2

784,4

783,7

849,5 759,2

15

648,3

698,8

650,8

696,8

673,5

710,3

Altersrenten

17,6

17,0

704,4

773,1

757,3

831,6

808,1

771,6

876,7

18,4

17,4

17,3

817,9

878,0

810,8

851,4

836,6

18,7

783,7

19,9

168,0

165,6

174,0

174,3

170,8

176,7

178,7

180,2

182,7

173,0

162,8

161,5

159,7

164,0

169,5

174,4

Erwerbsminderungsrenten

176,1

200,6

214,1

218,2

5

237,1

264,2

279,7

10

1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014* 2015* 2016 2017 2018

0

Quelle: Deutsche Rentenversicherung Bund (zuletzt 2019), Rentenversicherung in Zahlen.

Maße einer Erwerbstätigkeit nachgegangen bzw. ein Einkommen erzielt werden kann. Maßstab ist dabei die Erwerbsfähigkeit des Versicherten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt, d. h. in jeder nur denkbaren Tätigkeit, die es auf dem Arbeitsmarkt gibt. Allerdings kommen dabei nur Tätigkeiten in Betracht, die auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt üblich sind. Die subjektive Zumutbarkeit unter dem Gesichtspunkt der Ausbildung und des Status der bisherigen bzw. zuletzt ausgeübten beruflichen Tätigkeit ist hingegen ohne Bedeutung: Das Risiko der Berufsunfähigkeit wird für nach 1961 geborene Versicherte nicht mehr durch die GRV abgedeckt. In Abhängigkeit vom gesundheitlichen Restleistungsvermögen kann die Rente wegen Erwerbsminderung in voller oder in halber Höhe geleistet werden: •

Ein/e Versicherte/r ist voll erwerbsgemindert, wenn er/sie aus gesundheitlichen Gründen auf nicht absehbare Zeit nur noch weniger als drei Stunden pro Tag arbeiten kann. Diese Grenze von drei Stunden findet ihre Parallele im SGB II: Als erwerbsfähig gelten all jene, die für mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig sein können. Nur dann können auch Ansprüche aus der Grundsicherung für Arbeitsuchende geltend gemacht werden. • Die Rente wegen voller Erwerbsminderung soll einen vollen Lohnersatz bieten und wird deshalb wie eine Altersrente berechnet. • Eine halbe Erwerbsminderungsrente erhalten Erwerbsgeminderte bei einem Restleistungsvermögen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt von 3 bis unter 6 Stunden

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täglich. Die Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung ist nur halb so hoch wie eine Rente wegen voller Erwerbsminderung, weil die Betroffenen mit dem ihnen verbliebenen Restleistungsvermögen grundsätzlich noch das zur Ergänzung der Rente notwendige Einkommen erarbeiten können. • Wer unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens 6 Stunden pro Tag arbeiten kann, ist nicht erwerbsgemindert und erhält auch keine Rente. Anspruchsvoraussetzung für den Bezug einer Erwerbsminderungsrente ist normalerweise zunächst die Erfüllung der allgemeinen Wartezeit von fünf Jahren mit Versicherungszeiten, Beitrags- oder Ersatzzeiten. Bei Erwerbsminderungsrenten tritt hinzu, dass in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung mindestens drei Jahre mit Pflichtbeiträgen belegt sein müssen. Die Erwerbsminderung wird im Allgemeinen zunächst durch eine/n Arzt/Ärztin festgestellt, danach durch den medizinischen Dienst des Versicherungsträgers oder eines/r eigens beauftragten Arztes/Ärztin erneut geprüft. Der Versicherungsträger entscheidet anschließend, ob die medizinischen oder versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für den Rentenbezug gegeben sind. Seit dem Urteil des Bundessozialgerichtes (BSG) von 1976 zur „konkreten Betrachtungsweise“ beruht die Zuerkennung von Erwerbsminderung nicht allein auf der Anerkennung von gesundheitlichen Schäden, sondern gleichrangig auch auf dem Fehlen eines geeigneten (Teilzeit-)Arbeitsplatzes. Eine volle Erwerbsminderungsrente erhalten deswegen auch teilweise Erwerbsgeminderte, die ihr Restleistungsvermögen wegen Arbeitslosigkeit nicht in Erwerbseinkommen umsetzen können. Dies ist angesichts der realen Beschäftigungslage auf dem Arbeitsmarkt seit Jahren die Regel. Insofern wird die GRV nicht unerheblich mit den Folgen der Arbeitslosigkeit belastet. Erwerbsminderungsrenten werden in der Regel als Zeitrenten für längstens drei Jahre nach Rentenbeginn geleistet – die Befristung kann wiederholt werden. Eine unbefristete Bewilligung erfolgt nur dann, wenn es unwahrscheinlich ist, dass sich der Gesundheitszustand bessert oder wenn die Befristungen bereits neun Jahre andauern. Das zweistufige Verfahren bei der Feststellung einer Erwerbsminderung und die entsprechende Aufteilung in volle und teilweise Erwerbsminderungsrenten spielen in der Praxis keine bedeutende Rolle. Gerade einmal 12 % der Zugänge an Erwerbsminderungsrenten (2018) beruhen auf einer teilweisen Erwerbsminderung. Bedeutsam für die Beurteilung der Praxis der Erwerbsminderungsabsicherung ist die Information, dass seit Jahren etwa die Hälfte Neuanträge auf eine Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit abgelehnt wird – wegen fehlender versicherungsrechtlicher oder medizinischer Voraussetzungen. Mit dem Erreichen der Regelaltersgrenze werden Erwerbsminderungsrenten in Regelaltersrenten überführt, wobei der Rentenzahlbetrag mindestens dem vorheri-

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Alter

gen Betrag entspricht. Bei Rentner:innen, die 65 Jahre und älter sind, wird also nicht mehr zwischen dem Bezug von Altersrenten und Erwerbsminderungsrenten unterschieden. Die GRV prüft bei Anträgen auf eine Erwerbsminderungsrente zunächst, ob nicht stattdessen eine Rehabilitation möglich ist. Erwerbsminderungsrenten und Rehabilitation stehen damit in einem unmittelbaren Zusammenhang (vgl. Kapitel „Gesundheit und Gesundheitssystem“, Kap. 10). Im Grundsatz geht es darum, Heilbehandlungen für Erwerbsgeminderte bzw. von Erwerbsminderung bedrohte Versicherte zu übernehmen, um ihre Arbeitsfähigkeit wiederherzustellen oder zu erhalten. Dahinter steht der Grundsatz „Rehabilitation vor Rente“, da es für die Betroffenen sozial besser und für die Versichertengemeinschaft bzw. Volkswirtschaft günstiger ist, die Erwerbsfähigkeit wenn möglich wieder herzustellen, statt auf Dauer eine Rente zu zahlen. Für eine Rente wegen voller Erwerbsminderung sind Hinzuverdienste bis zu 450 Euro/Monat unschädlich. Wer mehr hinzuverdient, kann eine Teilrente beantragen. Entsprechend einem relativ komplizierten Berechnungsverfahren der Hinzuverdienstgrenzen werden bei höheren Erwerbseinkommen die Zahlungen reduziert. Abschläge und Zurechnungszeiten Auch bei den Erwerbsminderungsrenten fallen Abschläge an. Diese betragen (wie bei vorzeitiger Inanspruchnahme von Altersrenten) 0,3 % pro Monat der Inanspruchnahme zwei Jahre vor der jeweiligen Regelaltersgrenze und sind auf maximal 3 Jahre (= 10,8 %) begrenzt. Seit 2012 wird die Altersgrenze für eine abschlagsfreie Erwerbsminderungsrente schrittweise vom 63. auf das 65. Lebensjahr angehoben. Da nahezu alle Erwerbsminderungsrentner:innen ihre Rente bereits vor dem 63. Lebensjahr erhalten, werden de facto alle von den Abschlägen betroffen. Es wird immer wieder kritisiert, dass diese Regelung nicht systemgerecht ist. Denn Abschläge sollen das Rentenzugangsverhalten steuern und die Inanspruchnahme vorgezogener Altersrenten begrenzen und finanzneutral halten. Erwerbsgeminderte können ihren Gesundheitszustand aber nicht steuern. Der Verlust der Erwerbsfähigkeit ist nicht freiwillig gewählt und mit der Inanspruchnahme einer vorgezogenen Altersrente nicht vergleichbar. Um niedrigste Erwerbsminderungsrenten zu vermeiden, werden bei der Rentenberechnung Zurechnungszeiten anerkannt. Der Eintritt der Erwerbsminderung kann ja bereits sehr früh erfolgen, so dass bis dahin aufgrund der kurzen Versicherungszeit nur wenige Entgeltpunkte gesammelt werden konnten. Um den Betroffenen eine einigermaßen ausreichende Rente zu gewähren, werden die Versicherungszeiten bis zum Erreichen einer Altersgrenze verlängert. Die Rentenberechnung erfolgt demnach so, als hätte der/die Versicherte länger gearbeitet und Beiträge bezahlt. Für ab 2019 neu zugehende Erwerbsminderungsrenten wird die Altersgrenze für die Anrechnung von Zurechnungszeiten in mehreren Schritten von 65 Jahre auf 67 Jahre erhöht. Die Anhebung folgt der Anhebung des Referenzalters für die Abschlagsfreiheit

Rentenversicherung

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der Renten wegen Erwerbsminderung. Das gilt aber nicht für Erwerbsminderungsrenten im Bestand. 6.4.3 Hinterbliebenenrenten

Die Berufstätigkeit von Frauen, gerade von Ehefrauen und Müttern, nimmt seit Jahren zu. Das traditionelle Modell der Hausfrauen- und Versorgerehe, bei dem die Frau sich ausschließlich um den Haushalt und die Kindererziehung kümmert, sich aus dem Arbeitsmarkt zurückzieht und kein eigenes Erwerbseinkommen hat, dominiert heute nicht mehr. Gleichwohl kann von einer Gleichstellung der Geschlechter auf dem Arbeitsmarkt noch keine Rede sein. Es überwiegt das Modell der modifizierten Versorgerehe: Der Mann ist hauptzuständig für den Einkommenserwerb, die Frau verdient deutlich weniger und ergänzt – sehr häufig auf der Basis von Teilzeitarbeit – das Familieneinkommen (vgl. Kapitel „Familie und Kinder“, Pkt. 2). Dies wirkt sich automatisch nachteilig auf die Höhe der Renten von Frauen aus. Insofern hängen auch heute noch das Familieneinkommen und zugleich die Alterssicherung der Frauen mehr oder minder stark vom Einkommen des Mannes bzw. im Alter von der Rente des Mannes ab. Entfällt durch den Tod des Mannes sein Einkommen oder seine Rente, geraten die Familienangehörigen, die Ehefrau und die Kinder, in eine womöglich existenzielle Notlage. Solange diese Geschlechter- und Arbeitsmarktverhältnisse so sind, bedarf es deshalb zwingend einer Hinterbliebenenversorgung. Durch die Zahlung von Witwen- und Waisenrenten (und seit 1987 auch Witwerrenten) soll im Fall des Todes eines Versicherten für die soziale Absicherung der Hinterbliebenen gesorgt werden. Hinterbliebenenrenten (in der Gesetzessprache „Renten wegen Todes“) haben insofern eine Unterhaltsersatzfunktion. Sie werden aus der Rente bzw. den Rentenanwartschaften des/der Verstorbenen abgeleitet und sind ein unverzichtbares Element des solidarischen Ausgleichs in all jenen Alterssicherungssystemen, in denen Rentenzahlung und Rentenhöhe an eine Erwerbstätigkeit und an die Höhe und Dauer des Erwerbseinkommens gebunden sind und die keine Bürgerrente für alle Älteren oder Mindestrentenansprüche vorsehen. Die Hinterbliebenenrente wird grundsätzlich lebenslang – bei Waisen bis zur Volljährigkeit bzw. bis zum Ende der Ausbildung (maximal bis zum 27. Lebensjahr) – gezahlt. Im Fall einer neuen Eheschließung entfällt die Hinterbliebenenrente. Kleine und große Witwen/Witwerrente Witwen und Witwer haben gleichermaßen einen vom Versicherungsfall des Todes abhängigen Rentenanspruch in Höhe von 55 % der Rente wegen voller Erwerbsminderung des/der Verstorbenen. Die Rente wird gewährt, wenn eine Wartezeit von 60 Monaten vorliegt oder die Verstorbenen schon eine Renten bezogen haben, die Ehe mindestens ein Jahr angedauert hat und wenn das Alter der Hinterbliebenen nicht weniger als 20 Jahre unterhalb der Regelaltersgrenze liegt. Gleichermaßen er-

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Alter

halten Hinterbliebene die große Witwen-/Witwerrente, wenn sie noch ein minderjähriges oder behindertes Kind erziehen oder selbst erwerbsgemindert sind. Werden diese Voraussetzungen nicht erfüllt, so wird eine „kleine Witwen-/Witwerrente“ gezahlt (25 % der Rente wegen voller Erwerbsminderung des/der Verstorbenen). Der Bezug der kleinen Witwen/Witwerrente ist auf zwei Jahre begrenzt. Sofern später aber ein Grund für die Gewährung einer großen Witwenrente eintritt, wird die große Rente gezahlt. Hinterbliebene, die Kinder erziehen bzw. erzogen haben, erhalten einen Zuschlag zur Rente (zwei Entgeltpunkte je Kind). Die Witwen- bzw. Witwerrente hängt in ihrer Höhe von dem Rentenanspruch der Versicherten und vom Alter der Hinterbliebenen ab. Tritt der Tod vor dem Erreichen der Regelaltersgrenze ein, so werden Abschläge in Anrechnung gebracht (maximal 10,8 %). Hat der Ehegatte/die Ehegattin bereits eine um Abschläge gekürzte Rente bezogen, so berechnet sich die Hinterbliebenenrente aus dem gekürzten Betrag. Infolge der Anhebung der Regelaltersgrenze auf 67 Jahre (schrittweise und beginnend ab 2012) wird auch die Altersgrenze für eine große Witwen-/Witwerrente seit 2012 bis 2029 schrittweise vom 45. auf das 47. Lebensjahr angehoben. Einkommensanrechnung Im grundlegenden Unterschied zur Versichertenrente ist die Hinterbliebenenrente einkommensgeprüft. Um eine Überversorgung zu vermeiden und die Ausgaben zu begrenzen, wird sie gekürzt, wenn die anderen Einkommen des/r Empfänger:in einen bestimmten Freibetrag überschreiten. Angerechnet werden 40 % der Einkünfte. Der Freibetrag für die Einkommensanrechnung ist mit dem aktuellen Rentenwert verknüpft. So ist sichergestellt, dass er mitwächst, wenn die Renten erhöht werden. Der Freibetrag beträgt das 26,4fache des aktuellen Rentenwerts, zuzüglich eines Betrags in Höhe des 5,6fachen des aktuellen Rentenwerts für jedes waisengeldberechtigte Kind. Im Prinzip werden alle Einkommensarten angerechnet: Arbeitsentgelte, Lohnersatzleistungen, Gewinne und Vermögenseinkünfte sowie die Renten aus allen Alterssicherungssystemen. Je nach Höhe des eigenen Einkommens und der Hinterbliebenenrente vor Anrechnung sowie nach Relation der beiden Größen zueinander ergeben sich unterschiedliche Wirkungen der Anrechnung und des Gesamtversorgungsgrades. Allgemein gilt: Die volle Hinterbliebenenrente erhalten all diejenigen, deren eigenes Einkommen den Freibetrag nicht überschreitet. Oberhalb dieser Grenze sinkt der tatsächliche Hinterbliebenenrentenanspruch umso eher auf null, je niedriger der Anspruch vor Anrechnung und je höher das eigene Einkommen ist. Wegen der durchschnittlich geringeren Versichertenrenten von Frauen, die sehr häufig unterhalb oder nur knapp oberhalb der Freibeträge liegen, betrifft die Anrechnung überwiegend die Witwer.

Rentenversicherung

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Splitting und Versorgungsausgleich Alternativ zur Witwen-/Witwerrente neuen Rechts können Ehegatten gemeinsam bestimmen, dass die in der Ehezeit gemeinsam erworbenen Rentenansprüche zwischen ihnen aufgeteilt werden. Mit dieser verbindlichen Entscheidung für das Rentensplitting wird eine spätere Witwen- oder Witwerrente ausgeschlossen. Vorteile gibt es meist für Frauen, deren durch Rentensplitting erworbenen Rentenansprüche im Gegensatz zur Hinterbliebenenrente nicht der Einkommensanrechnung unterliegen. Auch bei einer möglichen Scheidung und späteren Wiederheirat mit einem/r anderen Partner/in entfallen diese erworbenen Rentenansprüche nicht. Anspruch auf Durchführung des Rentensplittings besteht, wenn beide Ehegatten Anspruch auf eine Rente wegen Alters haben oder ein Ehegatte zuvor verstirbt. Zusätzliches Erfordernis ist, dass am Ende der Splittingzeit bei beiden Ehegatten bzw. beim überlebenden Ehegatten 25 Jahre an rentenrechtlichen Zeiten vorhanden sind. Ähnlich geregelt wie das Splitting ist der Versorgungsausgleich bei Scheidung. Hier wird – entsprechend dem Leitbild einer gleichberechtigten Partnerschaft in der Ehe und dem Grundgedanken des Zugewinnausgleichs – eine gleichmäßige Aufteilung der in der Ehezeit erworbenen Versorgungsanrechte auf beide Ehegatten vorgenommen. Dies erfolgt in der Weise, dass die Werte der in der Ehezeit jeweils von den Eheleuten erworbenen Versorgungsanwartschaften einander gegenübergestellt werden und der/ die Ehegatte/in mit den höheren Anwartschaften die Hälfte des Unterschiedsbetrages an den geschiedenen Ehegatten abgeben muss. Der geschiedene Ehepartner erhält damit einen eigenständigen Versorgungsanspruch. Diese Regelung gilt grundsätzlich für alle Renten und Pensionen der GRV, der Beamtenversorgung oder anderer öffentlich-rechtlicher Versorgungsträger. Für Leistungen aus der betrieblichen Altersversorgung und anderer privater Sicherungsformen gelten Sonderregelungen. Waisenrente Kinder von verstorbenen Versicherten, die das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet haben oder sich noch – bis zum vollendeten 27. Lebensjahr – in einer Schul- oder Berufsausbildung befinden oder behindert sind, erhalten eine Waisenrente. Lebt noch ein unterhaltspflichtiger Elternteil, so wird eine Halbwaisenrente bezahlt. Waisenrenten betragen 10 bzw. 20 % (Vollwaisen) der Versichertenrente, ergänzt um beitragsunabhängige Zuschläge, die in einer komplexen Berechnung von der Versicherungsdauer des/der Verstorbenen abhängen. Größenordnung und Entwicklung der Hinterbliebenenrenten Betrachtet man die Entwicklung der Hinterbliebenenrenten im Zeitverlauf, so zeigt sich seit 1990 in den alten Bundesländern ein leichter Rückgang und in den neuen Bundesländern eine weitgehende Konstanz der Empfängerzahlen. Da die Zahl der Altersrenten aber gleichzeitig zunimmt, sinkt die relative Bedeutung der Hinterbliebenenrenten kontinuierlich. Der weit überwiegende Teil der Hinterbliebenenrenten (2018: 83 %) setzt sich aus den Witwenrenten zusammen, Witwerrenten hingegen

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Alter

haben mit 12 % nur eine recht geringe Bedeutung. Dies liegt daran, dass aufgrund der längeren Lebenserwartung von Frauen und der Unterschiede im Heiratsalter (Ehefrauen sind im Schnitt fünf Jahre jünger als ihre Männer) die Männer vor ihren Frauen sterben. Bemerkbar machen sich aber auch die Auswirkungen der Einkommensanrechnung. Da die eigenen Renten der Männer sehr viel höher als die der Frauen liegen, kommt es auch häufiger dazu, dass überhaupt kein Anspruch auf eine Witwerrente besteht. 6.5

Rentenberechnung

6.5.1 Rentenformel

Grundsätzlich sind zwei Faktoren für die Höhe einer individuellen Rente entscheidend: • •

das beitragspflichtige Arbeitseinkommen, das die/der Versicherte im Verlauf des gesamten Arbeitslebens erzielt hat und die Dauer der versicherungspflichtigen Erwerbstätigkeit.

Dabei kommt es nicht auf die absolute Höhe der in den zurückliegenden Jahren erzielten Arbeitseinkommen an. Ausschlaggebend ist vielmehr, in welchem Verhältnis das Bruttoeinkommen des Versicherten zum Bruttoeinkommen aller Versicherten gestanden hat, und zwar über die gesamte Zeit zwischen Eintritt ins Arbeitsleben und Rentenbezug hinweg. Diese lebensdurchschnittliche Einkommensposition des Versicherten während seiner gesamten Erwerbsbiographie bestimmt die Position in der Rentenhierarchie. Die Äquivalenz zwischen Beitrag und Leistung ist also nicht im Sinne einer betragsmäßigen, in Euro-Werten bemessenen Beziehung, sondern im Sinne einer Teilhabeäquivalenz zu verstehen: Wer während des Erwerbslebens überbzw. unterdurchschnittlich verdient hat, dessen spätere Rente wird – im Vergleich zu anderen Renten – über bzw. unter dem Durchschnitt liegen. Daraus folgt, dass das Verhältnis zwischen der späteren Rente und dem im Durchschnitt der Erwerbsbiografie erzielten Arbeitsentgelt für Versicherte mit gleicher Anzahl von Beitragsjahren gleich ist – unabhängig davon, wann die Anwartschaften erzielt worden sind und wie hoch der Beitragssatz war. Die Höhe der Beitragssätze und ihre Schwankungen spielen für die Berechnung der Rente keine Rolle. Versicherungszeiten mit niedrigen Beitragssätzen, wie sie in Phasen günstiger ökonomischer und demografischer Verhältnisse üblich waren, bedeuten aber, dass die „Rendite“ der Rente, d. h. das Verhältnis zwischen eingezahlten und später erhaltenen Leistungen, günstig ist (vgl. Pkt. 12.3 dieses Kapitels). Fußend auf diesen Grundsätzen erweist sich die Berechnung einer je individuellen Rente keineswegs als ein Zauberwerk, sondern ist durchaus nachvollziehbar und

Rentenversicherung

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kalkulierbar. Maßgebend ist die sog. Rentenformel, die für jede neu bewilligte Rente zur Anwendung kommt. Die monatliche Bruttorente errechnet sich aus Multiplikation von Entgeltpunkten (EP) mit einem Zugangsfaktor (ZF), einem Rentenartfaktor (RaF) und dem in Euro bezifferten aktuellen Rentenwert (aRW): Monatliche Bruttorente: EP × ZF × RaF × aRw Zugangsfaktor und Rentenartfaktor haben für Regelaltersrenten keine Bedeutung, hier haben beide Faktoren den Wert von 1,0 und verändern damit die Summe der Entgeltpunkte nicht. •

Ein geminderter Zugangsfaktor kommt aber bei vorgezogenen Altersrenten zur Anwendung. Er vermindert die Entgeltpunkte um 0,003 pro Monat – dies entspricht Rentenabschlag von 0,3 %. Andererseits erhöht sich der Zugangsfaktor um 0,005 für jeden Monat – dies entspricht einer Rentenerhöhung um 0,5 % pro Monat –, in dem die Rente auch nach Erreichen der Regelaltersgrenze noch nicht in Anspruch genommen wird. • Der Rentenartenfaktor (RaF) beeinflusst die Höhe jener Renten, die ein gemindertes Sicherungsziel aufweisen. Er beträgt bei Altersrenten und vollen Erwerbsminderungsrenten 1,0, jedoch bei Renten wegen teilweiser Erwerbsminderung nur 0,5 und bei großen Hinterbliebenenrenten 0,6. 6.5.2 Entgeltpunkte und Elemente des sozialen Ausgleichs

Die Entgeltpunkte spiegeln das Verhältnis (Prozentsatz) wider, in dem das persönliche rentenversicherungspflichtige Bruttoarbeitsentgelt zum rentenversicherungspflichtigen Durchschnittsbruttoeinkommen aller Versicherten gestanden hat. Dieses Verhältnis wird für jedes Jahr der Erwerbsbiografie gesondert berechnet. Daraus lassen sich dann jeweils die Jahresentgeltpunkte ermitteln, die anschließend – um die lebensdurchschnittliche Einkommensposition zu erhalten – addiert werden. Entgeltpunkte entstehen vor allem aus Zeiten, in denen Pflichtbeiträge aufgrund eines Beschäftigungsverhältnisses (inkl. Berufsausbildung) gezahlt wurden. Ein Entgeltpunkt von 1 im Referenzjahr bedeutet, dass die/der Versicherte in diesem Jahr genau das Durchschnittseinkommen aller Versicherten verdient hat. Liegt der Entgeltpunkt unter 1, dann hat sie/er weniger, liegt er über 1, dann hat sie/er in dem Referenzjahr mehr als der Durchschnitt aller Versicherten verdient. Die Renten können allerdings nicht beliebig hoch sein, denn der lebensdurchschnittliche Bruttoverdienst geht nicht in jedem Fall voll in die Rentenberechnung ein. Vielmehr wird er durch die jeweils gültige Beitragsbemessungsgrenze begrenzt, d. h. in den persönlichen Prozentsatz geht nur das darunterliegende Bruttoeinkommen ein. Die Beitragsbemessungsgrenze ist an die allgemeine Einkommensentwicklung gekoppelt (dynamisiert) und liegt 2018 bei 6 700 Euro im Monat (alte Bun-

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Alter

desländer) bzw. bei 6 150 Euro (neue Bundesländer) (vgl. Kapitel „Ökonomische Grundlagen und Finanzierung“, Tabelle II.4). Einkommensbestandteile, die über die Beitragsbemessungsgrenze hinausgehen, sind somit nicht beitragspflichtig. Die betreffenden Versicherten brauchen somit nur einen geringeren Prozentsatz ihres Gesamteinkommens an die GRV abzuführen, erwerben dafür aber auch nur geringere Rentenansprüche. Davon profitieren weit überwiegend männliche Beschäftigte in den alten Bundesländern. Betroffen sind etwa 12 % aller männlichen und weniger als 2 % aller weiblichen Versicherten. Die Beitragsbemessungsgrenze fungiert somit zugleich als Leistungsbemessungsgrenze. Die daraus resultierende Versorgungslücke veranlasst viele Besserverdienende zur privaten Altersvorsorge. Darüber hinaus ist dies auch oft ein Anlass für betriebliche Alterssicherungsangebote. Im fiktiven Fall, dass ein Versicherter immer (also bereits ab dem 1. Berufsjahr) ein Einkommen oberhalb der Beitragsbemessungsgrenze bezogen hat – und dies über 50 Jahre hinweg – würde sich bei einem Renteneintritt mit Erreichen der Regelaltersgrenze in den alten Bundesländern eine maximale Bruttorente von knapp 3 400 Euro errechnen (Berechnungswerte 2018). Insgesamt streuen in der GRV die addierten Entgeltpunkte stark. Dies ist zum einen Ausdruck unterschiedlicher Erwerbsbiografien (z. B. kurze und unterbrochene Beschäftigungszeiten typischerweise bei Frauen bzw. lange und durchgehende Beschäftigungszeiten vor allem bei Männern). Zum anderen drücken sich darin auch unterschiedliche Verdienstmöglichkeiten und -chancen während des Erwerbslebens aus (z. B. Teilzeitbeschäftigung, Phasen geringer Verdienste am Anfang der Berufskarriere, unterschiedliche Lohn- und Gehaltsniveaus in einzelnen Branchen und Qualifikationsniveaus, Unterschiede zwischen Frauen- und Männerentlohnung). Die Berechnung von Entgeltpunkten beschränkt sich aber nicht auf die reine Bezugnahme auf die der Beitragspflicht unterliegenden Bruttoarbeitsentgelte. Hinzu kommen mehrere Elemente des sozialen Ausgleichs. Anerkennung von Kindererziehungszeiten und Aufstockung von Anwartschaften bei erziehungsbedingter Teilzeitarbeit Durch die rentenrechtliche Anerkennung von Kindererziehungszeiten wird berücksichtigt, dass Mütter (oder wahlweise Väter) keiner oder nur im eingeschränkten Umfang einer Erwerbsarbeit nachgehen und aus diesem Grunde keine oder nur unzureichende eigene Rentenanwartschaften aufbauen können bzw. konnten. Für Geburten ab 1992 belaufen sich die anrechenbaren Kindererziehungszeiten auf 3 Jahre je Kind, für Geburten vor 1992 auf 2,5 Jahre. Überschneiden sich die Zeiten der Kinderziehung, wird die Kindererziehungszeit so verlängert, so dass für jedes Kind 36 Monate angerechnet werden. Die Anrechnung erfolgt additiv, d. h. Kindererziehungszeiten werden auch in den Fällen zusätzlich gewährt, in denen bereits Beiträge aus einer zeitgleichen Erwerbstätigkeit an die GRV entrichtet worden sind. Kindererziehungszeiten wirken rentensteigernd wie -begründend zugleich. Bewertet werden sie mit

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dem Durchschnittsentgelt aller Versicherten im jeweiligen Erziehungsjahr. Für die Kindererziehungszeiten führt der Bund Beiträge direkt an die GRV ab. Die Erziehung von zwei Kindern reicht aus, um auch ohne Beiträge aus Erwerbstätigkeit einen kleinen eigenständigen Rentenanspruch zu erhalten, da ja damit die Wartezeit von fünf Jahren erfüllt ist. Die Erziehung von Kindern wird zusätzlich dadurch berücksichtigt, dass Mütter – auch Väter, wenn sie es sind, die die Kindererziehung übernommen haben – höhere Rentenanwartschaften für ihre Pflichtbeitragszeiten während der Erziehung eines Kindes bis zu dessen 10. Lebensjahr erhalten. Voraussetzung ist, dass der Verdienst in dieser Zeit unterhalb des Durchschnitts liegt. Das kann infolge von Teilzeitarbeit aber auch infolge einer Niedriglohntätigkeit der Fall sein. Die Verdienste werden rückwirkend für Beitragszeiten ab 1992 um maximal 50 %, jedoch höchstens auf das jeweilige Durchschnittseinkommen des betreffenden Jahres aufgewertet, sofern mindestens 25 Jahre an rentenrechtlichen Zeiten erreicht werden. Von dieser an versicherungspflichtige Erwerbstätigkeit gebundenen Höherbewertung wird abgegangen, wenn zwei oder mehr Kinder unter 10 Jahren gleichzeitig zu betreuen sind. In diesem Fall erfolgen Leistungen auch bei Nicht-Erwerbstätigkeit: Mütter oder Väter, die wegen der Erziehung von zwei oder mehr Kindern unter 10 Jahren nicht erwerbstätig sind, erhalten eine Gutschrift von Entgeltpunkten von einem Drittel des Durchschnittsverdienstes pro Jahr. Anerkennung von Pflegezeiten Seit der Einführung der Pflegeversicherung entrichtet die Pflegeversicherung für Pflegepersonen Beiträge an die Rentenversicherung. Pflegepersonen sind solche Personen, die einen Pflegebedürftigen (mindestens Pflegegrad 2) in seiner häuslichen Umgebung nicht erwerbsmäßig pflegen, also zumeist Angehörige oder Nachbarn. Die Pflege muss wenigstens 10 Stunden wöchentlich umfassen, und die Pflegeperson darf dabei höchstens 30 Stunden wöchentlich erwerbstätig sein. Zudem muss die/der Pflegebedürftige selbst einen Anspruch auf Leistungen aus der gesetzlichen oder einer privaten Pflegeversicherung haben. Bei der Beitragszahlung wird ein fiktives Monatsentgelt zu Grunde gelegt, dessen Höhe sich nach dem Schweregrad der Pflegebedürftigkeit, d. h. nach den fünf Pflegegraden und dem zeitlichen Pflegeaufwand richtet. Die abgesicherten Einkommen liegen jeweils im unteren Bereich, d. h. es können nur unterdurchschnittliche Rentenansprüche erworben werden. 2019 erhöhte sich die monatliche Rente – je nach Pflegegrad des Gepflegten – zwischen 6 Euro und knapp 32 Euro im Westen und zwischen 5,80 Euro und 30,60 Euro im Osten. Berufsausbildungszeiten Pflichtbeitragszeiten für eine Berufsausbildung gelten rentenrechtlich als beitragsgeminderte Zeiten. Anerkannt werden bei abgeschlossener Berufsausbildung 3 Jahre. Der sozialpolitische Sinn dieser Regelung liegt darin, die Betroffenen wegen des

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Alter

im Allgemeinen während der Berufsausbildung unterdurchschnittlichen Verdienstes rentenrechtlich nicht zu benachteiligen. Rente nach Mindestentgeltpunkten Auch Versicherte, die langjährig Beiträge gezahlt haben, können niedrige Renten erhalten, wenn ihre Verdienste immer niedrig ausgefallen sind. Um dies auszugleichen erfolgt eine Mindestbewertung von Pflichtbeiträgen, denen Niedriglöhne zugrunde liegen. Dies sind Arbeitsverdienste, die im Durchschnitt unter 75 % des Durchschnittsentgelts aller Versicherten liegen und mehrheitlich bei Frauen anfallen. Voraussetzung ist, dass insgesamt 35 Jahre mit rentenrechtlichen Zeiten vorhanden sind und dass der Durchschnittswert aus allen Pflichtbeiträgen bis zum Rentenbeginn unter 0,75 Entgeltpunkten liegt. Ist dies der Fall, wird der monatliche Durchschnittswert aus den Pflichtbeiträgen vor 1992 auf das 1,5-fache erhöht, jedoch auf höchstens 75 % des Durchschnittsentgelts aller Versicherten monatlich. Dies gilt jedoch nur für Versicherungszeiten vor 1992. Zurechnungszeiten Zurechnungszeiten sind rentenrechtliche Zeiten, die bei der Berechnung der Renten wegen Erwerbsminderung und den Hinterbliebenenrenten berücksichtigt werden (vgl. Pkt. 6.4.2 dieses Kapitels). Rentenanwartschaften für Menschen mit Behinderungen Behinderten in anerkannten Werkstätten und in Einrichtungen, die mit gewisser Regelmäßigkeit eine Leistung von mindestens einem Fünftel eines voll erwerbstätigen Beschäftigten erbringen, werden auf Antrag ebenfalls Mindestbewertungen in Höhe eines Entgeltpunktes von 0,75 pro Jahr zuerkannt. Sozialpolitisches Ziel dieser Regelung ist der Aufbau einer eigenständigen Alterssicherung wenigstens von Teilen der Behinderten und damit die Vermeidung der sonst für sie zwangsläufigen Sozialhilfebedürftigkeit und damit von Armut im Alter. Anrechnungszeiten Anrechnungszeiten sind insbesondere Zeiten der krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit oder Teilnahme an einer Rehabilitationsmaßnahme, der Schwangerschaft oder Mutterschaft während der Schutzfristen, bestimmte Zeiten registrierter Arbeitslosigkeit und der Ausbildung. Insbesondere Zeiten von Arbeitslosigkeit und Ausbildung waren in der Vergangenheit wiederholt Objekt rentenpolitischer Sparbeschlüsse. Die anzuerkennenden Ausbildungszeiten wurden 1997 auf 3 Jahre reduziert. Ab 2009 gelten diese Zeiten dann auch nur noch für eine Fachschulausbildung oder für eine Teilnahme an berufsvorbereitenden Bildungsmaßnahmen, nicht mehr für eine Schul- oder Hochschulausbildung. Für Zeiten des Bezugs von Arbeitslosengeld II werden seit 2012 keine Beiträge mehr gezahlt.

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989

Übersicht XI.3 Beispiele für die Berechnung einer Altersrente (vereinfacht) Höhere Rente, typisch für Männer Ein Mann weist 44 anrechnungsfähige Versicherungsjahre auf und bezieht im Oktober 2019 eine Regelaltersrente. Für jedes Jahr seines Erwerbslebens wird das individuelle Einkommen dem Durchschnittseinkommen aller Versicherten gegenübergestellt. Im Schnitt dieser Jahre hat er 110 % des jeweiligen Durchschnittseinkommens verdient. In der Summe errechnen sich daraus 44 × 1,1 = 48,4 Entgeltpunkte. Der Rentenartfaktor bei der Altersrente beträgt 1,0 − die Summe der persönlichen Entgeltpunkte (48,4 × 1 = 48,4) bleibt unverändert. Die Entgeltpunkte werden mit dem aktuellen Rentenwert multipliziert. Im 2. Halbjahr 2019 betrug der aktuelle Rentenwert in den alten Ländern 33,05 Euro und in den neuen Ländern 31,89 Euro. Dies führt zu einer Bruttomonatsrente von • 48,4 EP × 33,05 Euro = 1 599,62 Euro (alte Länder) • 48,4 EP × 31,89 Euro = 1 543,48 Euro (neue Länder) Niedrige Rente, typisch für Frauen Eine Frau weist 28 Versicherungsjahren (einschließlich 3 Jahre Kindererziehungszeiten) auf und bezieht im Oktober eine Altersrente. Aufgrund einer schlecht bezahlten Tätigkeit in der Altenpflege und wegen jahrelanger Teilzeitarbeit erreicht sie nur 16,2 Entgeltpunkte. Die beitragsfreien Minijob-Phasen erhöhen die Entgeltpunkte nicht. Werden die 16 Entgeltpunkte mit dem aktuellen Rentenwert multipliziert, führt dies zu einer Bruttomonatsrente von • 16,2 EP × 33,05 Euro = 535,41 Euro (alte Länder) • 16,2 EP × 31,89 Euro = 516,62 Euro (neue Länder)

6.5.3 Der aktuelle Rentenwert

Über die absolute, in Euro gemessene Rentenhöhe, ist durch die Multiplikation der persönlichen Entgeltpunkte mit dem Zugangs- und Rentenartenfaktor noch nichts ausgesagt. Es handelt sich noch immer um eine relative Größe. Um einen Zahlbetrag zu erhalten, muss diese deshalb mit einer absoluten, in Euro bezifferten Größe verknüpft werden. Und es muss sich dabei um einen jeweils aktuellen Euro-Betrag handeln, wenn die Rentenanwartschaft auf die Gegenwart bezogen wird und die Rentner:innen an der Entwicklung des allgemeinen Lebensstandards teilhaben sollen. In die Rentenberechnung wird deshalb ein Euro-Betrag eingeführt, der die aktuelle Lohn- und Gehaltssituation aller versicherungspflichtig Beschäftigten wiedergeben soll. Er wird im Prinzip jährlich neu ermittelt, so dass stets ein bestimmtes Verhältnis zwischen den Renten und den Einkommen der Erwerbstätigen garantiert ist. Dadurch soll sichergestellt werden, dass die Rentenanwartschaften aus den zurückliegenden Jahren nicht ständig an Wert verlieren. Dieser Betrag ist der aktuelle Rentenwert (aR). Er gibt an, wie viel ein Entgeltpunkt in Euro pro Monat wert ist. Er wird jährlich zum 01. 07. per Rechtsverordnung

990

Alter

neu festgestellt und bewirkt damit die Dynamisierung der Renten und Rentenanwartschaften entsprechend der allgemeinen Lohn- und Gehaltsentwicklung (vgl. Pkt. 6.5.5 dieses Kapitels). Der aktuelle Rentenwert für den Zeitraum 2. Halbjahr 2019/1. Halbjahr 2020 betrug 33,05 Euro in den alten und 31,89 Euro in den neuen Bundesländern. Der geringere aktuelle Rentenwert in den neuen Bundesländern hat seine Ursache in dem dort nach wie vor niedrigeren Lohn- und Gehaltsniveau. 6.5.4 Rentenberechnung in den neuen Bundesländern

Seit 1992 gilt in den neuen Bundesländern das westdeutsche Rentenrecht, dies aber nur mit Einschränkungen. Denn bei der Überleitung des DDR-Systems mussten nicht nur die individuellen Erwerbsbiografien der ostdeutschen Bevölkerung berücksichtigt werden, sondern vor allem auch die volkswirtschaftlichen Rahmenbedingungen in den neuen Ländern. Zu Beginn der Wiedervereinigung lagen die Wirtschaftskraft und die Löhne weit unterhalb des westdeutschen Niveaus. Eine 1 : 1-Überleitung war unmöglich. Deshalb gibt es im Rentenrecht spezifische, für die neuen Bundesländer geltende Bestimmungen. Dies betrifft insbesondere • •

die unterschiedliche Berechnung der persönlichen Entgeltpunkte, die unterschiedliche Höhe des aktuellen Rentenwerts.

Hochwertung der Arbeitsentgelte Würden die ostdeutschen Arbeitsentgelte ins Verhältnis zu den westdeutschen Durchschnittsentgelten gesetzt, würden sich für die Versicherten in den neuen Bundesländern nur sehr geringe Entgeltpunkte ergeben. Deshalb gilt die Regelung, dass die individuellen Arbeitsentgelte im Osten auf das Westniveau hochgewertet werden. Dabei zeigt sich, dass die durchschnittliche Lohndiskrepanz zwischen Ost- und Westdeutschland im Zeitverlauf deutlich geringer geworden ist und sich die Hochrechnung entsprechend abschwächt. Aktueller Rentenwert Ost Das niedrige Einkommensniveau im Osten musste auch bei der Berechnung des aktuellen Rentenwerts berücksichtigt werden. Deshalb lag zu Anfang des Anpassungsprozesses der aktuelle Rentenwert Ost deutlich niedriger als im Westen – mit der entsprechenden Auswirkung auf die Höhe der Renten. Infolge der kräftigen Lohnzuwächse in den neuen Ländern haben sich aber auch der aktuelle Rentenwert Ost zügig erhöht und die Abstände zum Westniveau entsprechend verringert. Der Anpassungsprozess wird im Jahr 2025 beendet sein. Dann wird es keine rechtlichen Unterschiede mehr zwischen West und Ost geben. Der aktuelle Rentenwert (Ost) wird bis dahin in mehreren Schritten an den aktuellen Rentenwert (West) angeglichen, Zugleich erfolgt eine schrittweise Abschmelzung des Umrechnungsfaktors für die Hochwertung.

Rentenversicherung

991

Umlagefinanzierung Die Überleitung der Rentner:innen aus den neuen Bundesländern in das neue Recht war nur möglich, da die Rentenfinanzierung auf dem Umlageverfahren basiert. Wenn statt diesem Verfahren, in dem die Renten aus den laufenden Beitragseinnahmen der Versicherten bezahlt werden, ein Kapitaldeckungsverfahren – Privatversicherung – bestanden hätte, wäre es zu kaum überwindbaren Problemen gekommen. Für eine lange Übergangszeit hätten dann bis zum Aufbau eines eigenen Kapitalstocks durch die Rentner:innen des Ostens diese Renten allein vom Staat gezahlt werden müssen. Das hätte wohl zu sehr viel niedrigeren Renten geführt und den Bundeshaushalt zusätzlich stark belastet. 6.5.5 Rentenanpassung

Eine einmal festgestellte und ausgezahlte Rente verliert im Lauf der Jahre infolge des kontinuierlichen Anstiegs des Preisniveaus schnell an Wert. Unveränderte Renten bedeuten aber auch, dass sich die Einkommensposition der Rentner:innen gegenüber der aktiven Erwerbsbevölkerung verschlechtert. Denn wenn im Zuge der wirtschaftlichen Entwicklung die Erwerbseinkommen steigen, die Renten aber nicht, dann wird die ältere Generation von der allgemeinen Wohlstandsentwicklung abgekoppelt. Ein Rentner, der 45 Entgeltpunkte aufweist (der sog. Standardrentner oder „Eckrentner“), bezog im Jahr 1980 eine Jahresrente von 7 562 Euro bzw. eine Monatsrente von 630,16 Euro (DM in Euro umgerechnet). 40 Jahre später, im Jahr 2010, wäre dieser Betrag noch nicht einmal hoch genug gewesen, um ein Leben oberhalb des Grundsicherungsniveaus führen zu können. Es reicht also nicht, die individuelle Rente nur bei ihrer Erstberechnung am allgemeinen Einkommensniveau (aktueller Rentenwert) auszurichten; die Renten müssen über ihre langjährige Laufzeit hinweg immer wieder an die wirtschaftliche Entwicklung angepasst werden. Erfolgt die Anpassung der Renten nach einem regelförmigen und jährlichen Verfahren, lässt sich von einer Dynamisierung der Renten reden. Die Rentendynamisierung soll den älteren Menschen garantieren, dass ihre einmal festgestellte Rente mit der allgemeinen Entwicklung des Lebensstandards Schritt hält. Wenn die Rentenanpassung nach einem gesetzlich festgelegten und nachprüfbaren Regelverfahren erfolgt und nicht unberechenbar von Fall zu Fall (durch politische Entscheidungen), führt dies zu einem hohen Maß an (Rechts-)Sicherheit. Verlässlichkeit und Sicherheit sind besonders dann wichtig, wenn die Menschen ihre Lebensplanung neu strukturieren, so beim Altersübergang, und womöglich langfristig wirksame finanzielle Dispositionen für die Gestaltung der neuen Lebensphase treffen. Die Rentendynamik zählt nicht zum Kernbestand der Bismarck’schen Sozialversicherungsgesetzgebung, sondern ist erst mit der großen Rentenreform von 1957 zum Durchbruch gekommen. Jährlich – üblicherweise zur Jahresmitte – wird der aktuelle Rentenwert nach einer Rentenanpassungsformel neu berechnet. Da jede einzelne

992

Alter

Rente durch die Multiplikation der Entgeltpunkte mit dem aktuellen Rentenwert ermittelt wird, führt die Erhöhung des aktuellen Rentenwerts zu einer entsprechenden Erhöhung aller Renten. Nicht nur die neu zugehenden Renten, sondern auch die sog. Bestandsrenten werden von der Erhöhung des aktuellen Rentenwerts erfasst: Die Multiplikation des bisherigen aktuellen Rentenwerts mit der Anpassungsrate ergibt den neuen aktuellen Rentenwert. Die Ausgestaltung der jährlichen Rentenanpassungen an die allgemeine Lohnentwicklung hat in den zurückliegenden Jahren mehrfache, kaum noch überschaubare Veränderungen erfahren. Stets ging es dabei um die Frage, welche konkrete Maßgröße bei der Lohnentwicklung als Maßstab für die Anpassung dienen soll. Zu entscheiden ist u. a., ob von Bruttolöhnen oder von Nettolöhnen ausgegangen wird, ob auch die Steuerbelastungen zu berücksichtigen sind, welche Zeitperiode maßgebend ist und welche Datenquelle herangezogen wird. Da sich der aktuelle Rentenwert auf alle Renten bezieht, hat die Höhe seiner Anhebung eine elementare Bedeutung für das gesamte Leistungs- und Ausgabevolumen der Rentenversicherung. So führt eine Rentenerhöhung um 1 % zu andauernden jährlichen Mehrausgaben von etwa 3,1 Mrd. Euro (Stand 2019). Diese finanziellen Folgewirkungen haben immer wieder Anlass gegeben, in einzelnen Jahren die Dynamisierung ganz auszusetzen und auf eine Anpassung zu verzichten bzw. diese zu verschieben, oder aber die Rentenanpassungsformel mit dem Ziel einer Absenkung des Erhöhungssatzes zu verändern, um über diesen Weg Finanzierungsproblemen in der Rentenversicherung zu begegnen und um Beitragssatzanhebungen zu vermeiden. Von grundlegender Bedeutung sind dabei vor allem die Modifikationen der Rentenanpassungsformel, die im Zuge der Einführung der Riester-Rente im Jahr 2001 und durch das RV-Nachhaltigkeitsgesetz von 2004 erfolgt sind (vgl. Übersicht XI.4). Diese Veränderungen haben zu einer hoch komplizierten Anpassungsregelung geführt, die kaum noch verständlich ist. Das wird allein deutlich, wenn man sich die Rentenanpassungsformel im SGB IV ansieht. Sie wird in eher illustrativer Absicht wiedergegeben (vgl. Übersicht XI.5). Für das Verständnis der Rentenanpassungsformel sind jedoch nicht die Details entscheidend, wichtig ist das Ergebnis: Die Rentenerhöhungen werden abgebremst und von den Einkommenszuwächsen der Aktiven abkoppelt. Grundlegendes Ziel ist es, die Beitragsbelastungen für die Versicherten und die Arbeitgeber zu begrenzen. Als Eckpfeiler gilt die gesetzlich vorgegebene Maßgabe, den Beitragssatz – trotz der demografischen Belastungen – bis zum Jahr 2025 unter 20 % und bis 2030 unter 22 % zu halten. Abbildung XI.12 gibt einen Überblick über die Rentenanpassungssätze seit 1991. Charakteristisch für die Entwicklung in den 90er Jahren sind die beachtlichen Rentenerhöhungen in den neuen Bundesländern. Die verglichen mit den alten Bundesländern häufigeren Anpassungstermine und höheren Anpassungsraten hängen mit den stärker steigenden Löhnen zusammen. Die Relation der Bruttostandardrente Ost/West hat sich von 62,3 % im Jahr 1992 auf 96,5 % im Jahr 2018 erhöht. In den alten

Rentenversicherung

993

Übersicht XI.4 Begrenzung der Rentenanpassung Riester-Faktor Die Rentenreform von 2001 (Riester-Rente) legte fest, dass die Rentenanpassung der Nettoentwicklung ab 2002 nur noch abgebremst folgt: • Veränderungen der Abgabenbelastung, die nicht die Alterssicherung betreffen (wie direkte Steuern, Beiträge zur Kranken-, Pflege- und Arbeitslosenversicherung), finden keine Berücksichtigung mehr. Anpassungsmindernd angerechnet werden Veränderungen des Beitragssatzes zur Rentenversicherung (in voller Höhe, also einschließlich des Arbeitgeberanteils). Zusätzlich angerechnet wird der private Beitrag für die staatlich geförderte zusätzliche Altersvorsorge. Unabhängig davon, ob er tatsächlich geleistet wird, wird ein Vorsorgebeitrag von 4 % des Bruttoeinkommens unterstellt. Dieser anpassungsdämpfende Vorsorgefaktor wird als „Riester-Faktor“ bezeichnet. Nachhaltigkeitsfaktor Mit der Rentenreform 2005 wurde zusätzlich ein „Nachhaltigkeitsfaktor“ in die Rentenanpassungsformel eingebaut. • Dadurch wird auch die Entwicklung des zahlenmäßigen Verhältnisses von Rentenbeziehern (sog. Äquivalenzrentner) und versicherungspflichtig Beschäftigten (Äquivalenzbeitragszahler) anpassungsmindernd berücksichtigt. • Steigt – wie aus demografischen Gründen zu erwarten – der Rentnerquotient (Äquivalenzrentner zu Äquivalenzbeitragszahlern), fallen die Rentenerhöhungen niedriger aus. Die jährliche Veränderung wird zu einem Viertel (α = 0,25) bei der Rentenanpassung berücksichtigt.

Abbildung XI.12 2019

Anpassung der Bruttorenten in den alten und neuen Bundesländern 1991 –

5,8 5,6

4,7

4,4

alte Länder1)

3,8

4,3

4,0 4,0 3,4 3,0

3,0

2,9

3,0

3,4

3,1

2,9

1,9

1,7

2,2

1,0

1,7

0,5 0,0 0,0 0,0

2,1

1,9

1,0

0

0,3

2019

2018

2017

2016

2015

2014

2013

2012

2011

2010

2009

2008

2007

2006

2005

2004

2003

2002

2001

2000

1999

1998

1997

1996

1995

1994

1993

1992

1991

1990

1989

1988

11,7

1987

15,0

1986

1985

1984

1983

1982

1981

1980 15,0

0,6

0,4

2,2

1,1

1,0 0,5

3,2 3,2

2,4

1,3

14,1 12,7

neue Länder2)

6,1 3,6 3,5

6,0

5,6

4,4

2,8

2,8 2,5

1,2

0,9

2,1

3,4

2,9 1,2

0,6

0,0 0,0 0,0

0,5

1,1

0,0

2,3

2,5

3,6 3,4 3,9

2,5

2019

2018

2017

2016

2015

2014

2013

2012

Quelle: Deutsche Rentenversicherung Bund (zuletzt 2019), Rentenversicherung in Zahlen.

2011

2010

2009

2008

2007

2006

2005

2004

2003

2002

2001

2000

1999

1998

1996 (Juli)

1997

1995 (Juli)

1996 (Jan.)

1995 (Jan.)

1994 (Juli)

1994 (Jan.)

1993 (Juli)

1992 (Juli)

1993 (Jan.)

1991 (Juli)

1992 (Jan.)

1991 (Jan.)

Von 1991 bis 1996 in den neuen Ländern Anpassung zweimal im Jahr

1,0

3,3

994

Alter

Übersicht XI.5 Rentenanpassungsformel, Stand 2017 SGB VI,§ 68 Absatz (5) Der nach den Absätzen 1 bis 4 anstelle des bisherigen aktuellen Rentenwerts zu bestimmende neue aktuelle Rentenwert wird nach folgender Formel ermittelt: ARt = ARt−1 ×

BEt-1 BEt−2

×

100 − AVA2012 − RVBt−1 100 − AVA2012 − RVBt−2

×

((

1−

RQt−1 RQt−2

) ) ×α+1

Dabei gilt: ARt

= zu bestimmender aktueller Rentenwert ab dem 1. Juli

ARt−1 = bisheriger aktueller Rentenwert BEt−1 = Bruttolöhne und -gehälter je Arbeitnehmer im vergangenen Kalenderjahr BEt−2 = Bruttolöhne und -gehälter je Arbeitnehmer im vorvergangenen Kalenderjahr unter Berücksichtigung der Veränderung der beitragspflichtigen Bruttolöhne und -gehälter je Arbeitnehmer ohne Beamte einschließlich der Bezieher von Arbeitslosengeld AVAt−1 = Altersvorsorgeanteil für das Jahr 2012 in Höhe von 4 vom Hundert RVBt−1 = durchschnittlicher Beitragssatz in der allgemeinen Rentenversicherung im vergangenen Kalenderjahr RVBt−2 = durchschnittlicher Beitragssatz in der allgemeinen Rentenversicherung im vorvergangenen Kalenderjahr RQt−1 = Rentnerquotient im vergangenen Kalenderjahr RQt−2 = Rentnerquotient im vorvergangenen Kalenderjahr

Ländern verläuft die Entwicklung wesentlich langsamer, unterbrochen durch mehrere Nullanpassungen. Langfristig betrachtet haben die lohndynamisierten Rentenanpassungen nicht nur zu nominalen, sondern auch zu realen (kaufkraftbereinigten) Rentensteigerungen geführt, da sie in aller Regel über dem Anstieg des Preisniveaus lagen. Bei nur noch niedrigen Lohnzuwächsen kann es aber auch dazu kommen, dass der Realwert der Renten sinkt oder dass es in der Folge von Lohnsenkungen sogar eine Minderung des aktuellen Rentenwerts und damit eine Kürzung der Renten geben würde. Dies ist durch eine sog Schutzklausel ausgeschlossen. Der dadurch verhinderte Effekt wird in Zeiten einer besseren Lohnentwicklung nachgeholt. 6.5.6 Bruttorenten, Nettorenten und Rentenbesteuerung

Von den Bruttorenten gehen noch die Beiträge zur Kranken- und zur Pflegeversicherung ab. Zudem unterliegen die Renten der Besteuerung. Bei der Krankenversicherung muss der Beitragssatz zur Hälfte von den Rentner:innen getragen werden, für den Zusatzbeitrag müssen sie seit 2019 – wie auch die anderen Versicherten – nicht mehr allein aufkommen, auch dieser wird wieder paritätisch finanziert. Der Zusatzbeitrag wird jährlich von den einzelnen Krankenkassen festgelegt. Im Jahr 2019 war

Rentenversicherung

995

mit einer Durchschnittshöhe von 1,1 % zu rechnen. Die Belastungen durch die Beiträge zur Pflegeversicherung von 2,55 % müssen jedoch allein von den Rentner:innen übernommen werden. In der Summe ergibt sich also (Stand 2019) für die Krankenversicherung der Rentner und für die Pflegeversicherung eine durchschnittliche Minderung von 8,3 % der Bruttorente. Nach den Regelungen des Alterseinkünftegesetzes gilt seit 2005 auch bei den Renten aus der GRV das Prinzip der nachgelagerten Besteuerung (zuvor wurde nur der sog. Ertragsanteil der Rente besteuert). Die Besteuerung wird jedoch nur schrittweise, über einen Zeitraum von 45 Jahren hinweg, eingeführt: 2005 betrug für alle Bestandsrentner:innen und für jene Rentner:innen, die in diesem Jahr erstmalig eine Rente beziehen, der Besteuerungsanteil 50 % des Rentenbetrages. Der Besteuerungsanteil bestimmt sich dabei nicht nach dem Lebensalter bei Renteneintritt, sondern ausschließlich nach dem Jahr des Renteneintritts. Der steuerpflichtige Rentenanteil wird bei jedem neu hinzukommenden Rentnerjahrgang, also seit dem Jahr 2006, bis zum Jahr 2020 jährlich um jeweils 2 % angehoben, so dass bei dem Neurentnerjahrgang des Jahres 2020 schließlich 80 % dieser Renten der Besteuerung zugrunde gelegt werden. Von 2020 bis 2040 steigt der Besteuerungsanteil langsamer, jährlich um einen Prozentpunkt. Im Jahr 2040 wird dann die volle Besteuerung erreicht sein. Im Gegenzug werden die Vorsorgeaufwendungen (Arbeitnehmerbeiträge) schrittweise (volle Wirkung im Jahr 2025) von der Besteuerung freigestellt. Der sich ergebende steuerfrei bleibende Teil der Jahresbruttorente wird auf Dauer festgeschrieben, d. h. jeder Jahrgang behält seinen absoluten Rentenfreibeitrag, der von der Besteuerung ausgeschlossen bleibt. Da dieser Freibetrag über die gesamte Rentenlaufzeit nominal konstant bleibt, also im Verlauf von Rentenerhöhungen an Wert verliert, kann es dazu kommen, dass auch Altfälle sukzessive in die Besteuerung hineinrutschen. Auch Rentner:innen haben Anspruch auf einen steuerfreien Grundfreibetrag (vgl. Kapitel „Einkommen“, Pkt. 3.1). Nur der Anteil der Rente, der über dem Freibetrag liegt, wird für die Besteuerung herangezogen. 6.6

Höhe und Verteilung der Renten

Wenn über die Höhe der Renten gesprochen wird, die nach der Beendigung der Berufstätigkeit zu erwarten sind, ist zwischen zwei sehr unterschiedlichen Messkonzepten zu unterscheiden, zwischen dem Rentenniveau auf der einen Seite und den tatsächlich ausgezahlten Renten auf der anderen Seite. Während das Rentenniveau eine statistische, auf Modellannahmen beruhende Ziffer ist, die Auskunft geben soll über das Verhältnis zwischen Löhnen und Renten, fußen die Angaben über die ausgezahlten Renten auf empirischen Befunden, konkret auf den Daten der Rentenstatistik.

996

Alter

6.6.1 Rentenniveau

Das Rentenniveau ist eine Maßgröße, die die Renten mit den Arbeitnehmereinkommen vergleicht. Üblich ist es bei diesem Vergleich, sich auf die Rente eines sog. Durchschnittsrentners und auf das durchschnittliche Arbeitnehmereinkommen eines Vergleichsjahres zu beziehen. Der Durchschnittsrentner (auch als „Standardrentner“ bezeichnet) ist definiert als ein Rentner der 45 anrechnungsfähige Versicherungsjahre aufweist und im Verlauf seines Versicherungslebens durchschnittlich verdient hat, also in der Summe 45 Entgeltpunkte aufweist. Gleichermaßen könnten statt der Gegenüberstellung von zwei Durchschnittswerten auch zwei Werte von jeweils der Hälfte des Durchschnitts verglichen werden: Die Rente eines Versicherten, der 45 anrechnungsfähige Versicherungsjahre aufweist, aber nur die Hälfte des Durchschnitts verdient hat, mit der Hälfte des aktuellen Durchschnittseinkommens der Arbeitnehmer. Die Ergebnisse sind identisch und bei beiden Rechnungen lässt sich erkennen, wie sich im Zeitverlauf das Rentenniveau verändert hat. Verglichen werden beim Rentenniveau Nettogrößen. Da aber die Besteuerung der Renten nach Zugangsjahren variiert, also von keiner für alle Rentner:innen gleichen Steuerbelastung ausgegangen werden kann, werden die Nettogrößen vor Steuern, aber nach Abzug von Sozialversicherungsbeiträgen, einander gegenübergestellt. Üblich ist es, vom Nettorentenniveau vor Steuern auszugehen, d. h. die durchschnittlichen Arbeitnehmereinkommen und Standardrenten nach Abzug der Sozialversicherungsbeiträge aber noch vor der Besteuerung miteinander zu vergleichen. Wie die Abbildung XI.13 zeigt, lässt über einen längeren Zeitraum hinweg ein Absinken des Rentenniveaus erkennen. Infolge der Modifikation der Rentenanpassungsformel durch den Riester-Faktor und den Nachhaltigkeitsfaktor wird sich in den nächsten Jahren und Jahrzehnten der Trend nach unten fortsetzen. Das Nettorentenniveau vor Steuern lag im Jahr 2018 bei 48,1 % und wird sich nach den von der Bundesregierung vorgelegten Vorausberechnungen bis 2033 auf 44,6 % verringern. 2009 lag das Niveau noch bei 52 %. Das Gesetz sieht für 2025 eine untere Haltelinie von 48 % und für 2030 von 43 % vor. Über die Zeit danach gibt es aber keine Absicherung, so dass das weitere Absinken vorprogrammiert ist. Höhe und Entwicklung des Rentenniveaus dürfen nicht fehlinterpretiert werden: • Werden – in Reaktion auf die Heraufsetzung der Altersgrenzen – bei der Modellberechnung Versicherungszeiten von mehr als 45 Jahre unterstellt, so fällt das Rentenniveau rechnerisch höher aus. Das ändert aber nichts an dem Abwärtstrend, da bei einem zeitlichen Vergleich die verlängerte Versicherungsdauer dann ebenfalls als Maßstab genommen werden muss. • Ein sinkendes Rentenniveau bedeutet nicht, dass die Renten in ihren absoluten Werten sinken. Sie können durchaus weiter steigen – allerdings verlieren sie in der Relation zu den durchschnittlichen Löhnen an Wert.

Rentenversicherung

48,0

2015

2018

2025

44,6

48,1

Vorausberechnung

47,7 2005

52,0

2000

"Haltelinie" 48%

51,6

52,6

Entwicklung des Nettorentenniveaus vor Steuern 1990 – 2033

52,9

50

53,9

55,0

Abbildung XI.13

997

40

30

20

10

0

1990

1995

2010

2030

2033

Quelle: Daten bis 2018: Deutsche Rentenversicherung Bund (zuletzt 2018), Rentenversicherung in Zeitreihen; Daten ab 2019: Bundesregierung (2019), Rentenversicherungsbericht 2019.



Das Rentenniveau gibt keine Auskunft über die Höhe einer individuellen Rente, denn diese richtet sich nicht nach den Modellannahmen, sondern ist von der jeweiligen Summe der persönlichen Entgeltpunkte abhängig. So erreichen nur ein Teil der Männer und nur eine kleine Minderheit der Frauen eine Versicherungsdauer von 45 Jahren. • Über die Differenz zwischen dem letzten Einkommen am Berufsende und Höhe der dann gezahlten Rente sagt das Rentenniveau, das sich am lebensdurchschnittlichen Einkommen orientiert, nichts aus. In der Realität der Erwerbsbiografien kann es sein, dass (immer relativ gesehen) das letzte Einkommen das höchste Einkommen ist. Aber es ist auch möglich, dass in den letzten Berufsjahren vor dem Renteneintritt die relative Einkommensposition sinkt wie bei vielen älteren Arbeiter:innen üblich (z. B. Verlust von Zuschlägen etc.) Die Einkommensersatzrate fällt also hoch unterschiedlich aus.

998

Alter

6.6.2 Durchschnittsrenten und Rentenschichtung

Die individuell gezahlten Renten weichen stark voneinander ab. Um einen Überblick zu gewinnen, kann auf die durchschnittlichen Zahlbeträge verwiesen werden. Allerdings ebnet ein Mittelwert niedrige Renten und höhere Renten statistisch ein und sagt damit nur wenig aus. Der Ausweis von Durchschnittsrenten ist deswegen nur dann sinnvoll, wenn der zeitliche Verlauf berücksichtigt wird und Unterscheidungen vorgenommen werden zwischen • • • • •

Rentenarten, so Altersrenten, Erwerbsminderungsrenten und Hinterbliebenenrenten, vorgezogenen und Regelaltersrenten, Männern und Frauen, Regionen (alte und neue Bundesländer) sowie Bestandsrenten und Zugangsrenten.

Wenn zunächst die Bestandsrenten betrachtet werden, so handelt es sich dabei um die Gesamtheit der ausgezahlten Renten. In den Rentenbestand gehen jährlich die neuen Renten zu und fallen – vor allem wegen Todes – auch weg. Die Empfänger:innen können also schon sehr alt sein. Das bedeutet, dass der Erstrentenbezug schon vor vielen Jahren stattgefunden hat und dass entsprechend die Erwerbs- und Versicherungsbiografien bis in die 1950er Jahre hineinreichen. Die Daten aus Abbildung XI.14 lassen erkennen: • Frauen erhalten drastisch niedrigere Renten als Männer. • Vorgezogene Altersrenten, die nur nach langen Versicherungszeiten bezogen werden können, sind höher als Regelaltersrenten, bei denen sich die Wartezeit auf fünf Jahre begrenzt. • Erwerbsminderungsrenten fallen deutlich geringer aus als Altersrenten. • Die Beträge der meisten Rentenarten sind in den neuen Bundesländern höher als in den alten Bundesländern, zugleich sind die Abstände zwischen Frauen und Männern geringer.

Rentenversicherung

999

Abbildung XI.14 Durchschnittliche Monatsrenten im Bestand nach Rentenart und Geschlecht 2018, alte und neue Bundesländer 1.600 1.400 1.200

1.500

alte Länder

Männer 1.226

1.000

1.087

1.068

800 600

766

868 697

Frauen

1.185

750

688

709

400

459

200 0 1.400 1.200

neue Länder 1.209

1.000

1.066

800 600

713

1.122

974

1.010

962

794

1.013 890

897

834

400 200 0

Renten wg. verminderter Altersrenten insgesamt Erwerbsfähigkeit

Altersrente für besonders langjährig Versicherte

Altersrente für schwerbehinderte Menschen

Altersrente für langjährig Versicherte

Regelaltersrente

Quelle: Deutsche Rentenversicherung Bund (2019, Rentenversicherung in Zahlen.

Frauen und Männer Die Zahl der Frauen, die überhaupt keine eigenen Versichertenrenten beziehen, ist aufgrund der rentenbegründenden Anrechnung von Kindererziehungs- und Pflegezeiten sehr gering geworden. Es bleibt aber – in den alten Bundesländern – das Problem ihrer gegenüber den Männern im Durchschnitt deutlich niedrigeren Renten. Das Ausmaß der Unterschiede lässt sich durch die Kennziffer des „Gender Pension Gap“ erfassen. Je niedriger die durchschnittlichen eigenen Alterssicherungsleistungen der Frauen im Vergleich zu denen der Männer, desto größer fällt der Gender Pension Gap aus. Betragen beispielsweise die durchschnittlichen eigenen Renten von Frauen im Monat 400 Euro und liegen die durchschnittlichen eigenen Renten von Männern pro Monat bei 1 000 Euro, würde der Gender Pension Gap 60 % betragen. Verantwortlich für eine solche Ungleichheit ist die kumulative Wirkung von geringeren lebensdurchschnittlichen Verdiensten und kürzeren Versicherungsverläufen. Die kürzeren Versicherungsverläufe lassen sich in erster Linie auf die Unterbrechung oder gar Aufgabe der Erwerbstätigkeit aufgrund familiärer Verpflichtungen (insbesondere Kindererziehung und Pflege von Angehörigen) zurückführen. So lag – in den alten Bundesländern – bis in die 1970er Jahre hinein die Erwerbstätigenquote von Frauen vor allem in den mittleren Altersgruppen, d. h. in der Phase der Familiengründung und Kindererziehung, auf einem sehr niedrigen Niveau. Aber auch

1000

Alter

die Übernahme versicherungsfreier geringfügiger Tätigkeiten führt zu Lücken in der Versicherungsbiografie. Differenzierte Auswertungen der Daten zeigen, dass die Rentenhöhe mit der Zahl der Kinder sinkt, dies vor allem in den alten Bundesländern und hier wiederum insbesondere bei den Ehefrauen. Die niedrige Entgeltposition von Frauen ist vor allem eine Folge des Tatbestands, dass die durchschnittlichen Wochenarbeitszeiten von Frauen deutlich unter denen der Männer lagen und liegen. Die Teilzeitarbeit konzentriert sich auf Frauen (vgl. Kapitel „Arbeit und Arbeitsmarkt“, Pkt. 3.2) und hat nach der Rentenformel zur Folge, dass sich die Rentenanwartschaften parallel zur reduzierten Arbeitszeit und zum reduzierten Bruttomonatslohn verringern. Je länger die Teilzeitarbeit andauert, umso stärker machen sich die Lohneinbußen auch bei der späteren Rente bemerkbar. Als besonders nachteilig erweist sich die Teilzeitarbeit im unteren Stunden- und Einkommenssegment (unter 450 Euro/Monat). Denn diese geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse sind, wenn sich die Beschäftigten dafür entscheiden, von der Versicherungs- und Beitragspflicht befreit, so dass überhaupt keine Rentenansprüche aufgebaut werden können und Lücken in der Versicherungsbiografie entstehen. Die schlechtere Einkommensposition von Frauen im Vergleich zu den Männern ist aber nicht nur eine Folge der kürzeren Arbeitszeiten, sondern auch der geringeren Bezahlung (gemessen an den Entgelten je Stunde). So haben die weitaus meisten der heute älteren Frauen im früheren Berufsleben nur niedrige Positionen erreicht – aufgrund reduzierter Aufstiegschancen und offener wie versteckter Diskriminierungen. Insgesamt lässt sich eine Minderbewertung und -bezahlung von typischen Frauenberufen und -branchen feststellen (vgl. Kapitel „Einkommen“, Pkt. 2.3.2). Einen differenzierteren Einblick über die Höhe der Renten von Männern und Frauen gewinnt man, wenn aufgeschlüsselt wird, wie sich 2018 die Zahlbeträge der Versichertenrenten in ihrer Höhe verteilen (Abbildung XI.15). Für die alten Bundesländer gilt: •

Gut die Hälfe (50,6 %) der Renten von Frauen liegen unter 600 Euro und fast ein Viertel (23,1 %) sogar unter 300 Euro. • Auf der anderen Seite erhalten nur 2,9 % der Frauen eine Rente mit Zahlbeträgen von über 1 500 Euro. • Aber auch bei den Männern wachsen die Bäume nicht in den Himmel. Nur 29,2 % der Männer in den alten Bundesländern erhalten im Jahr 2018 eine Rente mit einem Zahlbetrag von mehr als 1 500 Euro. Zu berücksichtigen ist dabei, dass es wirklich hohe Renten, die über 3 000 Euro hinausreichen, auf Grund der Beitragsbemessungsgrenze gar nicht geben kann (vgl. Pkt. 6.5.3 dieses Kapitels). • Immerhin knapp ein Viertel der Männer (22,8 %) beziehen eine Rente von weniger als 600 Euro. Hier handelt es sich weit überwiegend um jene Personen, die vor dem Eintritt in ein Beamtenverhältnis oder vor Beginn der Selbstständigkeit für kurze Zeit versicherungspflichtig beschäftigt waren, so dass ihre gesetzliche Rente niedrig ausfällt. Beamte sind dann durch die Beamtenversorgung, Selbstständige

Rentenversicherung

1001

Abbildung XI.15 Verteilung der monatlichen Altersrenten (Zahlbeträge) im Bestand 2018 35 30 alte Länder

25

27,5

20 15

16,8

15,7

10,4

9,5

5

Frauen

22 15,4

13,3

10

Männer

23,9

23,1

2,3

6,5

9,6 0,6

2,8 0,2

0,3

in %

0

35 30

34

neue Länder

36,9

Männer

32,7

Frauen

27,8

25 20 15 14,3

10 5 0

0,8

1,7

unter 300

2,8

13,5

8

300-600

13,8 4,8

600-900

900-1.200

1.200-1.500

1.500-1.800

6,4

1

1.800-2.100

1,2

0,1

2.100-2.500

0,2 >2.500

Quelle: Deutsche Rentenversicherung Bund (2019), Statistikportal, eigene Berechnungen.

durch private Vorsorge und Versorgungswerke abgesichert. Die Verfügung über eine ergänzende Absicherung, die zu einem ausreichenden Alterseinkommen führt, ist aber gerade bei den sog. kleinen Selbstständigen und Soloselbstständigen keineswegs selbstverständlich. Schaut man auf die neuen Bundesländer, zeichnen sich andere Verteilungsstrukturen ab. In der DRR und in den neuen Bundesländern haben Frauen in den zurückliegenden Jahren wesentlich häufiger und länger (auf Vollzeitbasis) gearbeitet, so dass Renten unter 600 Euro (9,7 %) oder unter 300 Euro (1,7 %) recht selten sind. Auch gegenüber den Männern sind die Abstände geringer. Die Verteilung der Renten ist insgesamt ausgeglichener. Auch der Vergleich der Versicherungsjahre zwischen Ost und West macht die Unterschiede deutlich: Während in den alten Bundesländern nur 8,3 % der Frauen aber 46,3 % der Männer 45 und mehr Versicherungsjahre aufweisen, sind es in den neuen Bundesländern 25,3 % der Frauen und 59,4 % der Männer. Hinterbliebenenrenten Bei den Hinterbliebenenrenten handelt es sich weit überwiegend um Renten an Witwen. Aufgrund ihres abgeleiteten Charakters sind Witwenrenten letztlich immer ein Spiegelbild der Verteilungsverhältnisse der originären Männerrenten, allerdings auf einem deutlich abgesenkten Niveau (in der Regel 55 % der Rente/der Rentenanwartschaften des verstorbenen Ehemannes). Zudem kann es aufgrund der Einkommens-

1002

Alter

anrechnungen zu Kürzungen kommen. Insofern fallen Hinterbliebenenrenten insgesamt deutlich niedriger aus als die Versichertenrenten der Verstorbenen. Dass Durchschnittsbeträge die Unterschiede einebnen, gilt auch für die Witwenrenten. Betrachtet man die Verteilung der Witwenrenten auf einzelne Zahlbetragsgruppen (vgl. Abbildung XI.16), so wird sichtbar, dass sie sich mit 55,8 % auf Beträge zwischen 650 und 1 200 Euro konzentrieren. Dies ist bei den Versicherungsrenten von Frauen, die auf versicherungspflichtiger Erwerbstätigkeit und Beitragszahlungen beruhen, deutlich anders: In dieser Zahlbetragsgruppe finden sich nur 39,6 % der Frauen. Je nach Höhe der Rente des Verstorbenen stellt sich insofern das Niveau der Witwensicherung in der gesetzlichen Rentenversicherung höchst unterschiedlich dar. Frauen, die auf die Ehe als Versorgungsinstanz gesetzt und „gut“ geheiratet haben, verfügen über die höchsten Ansprüche. Zwar ist absehbar, dass die eigenständigen Renten von Frauen in den nächsten Jahren an Gewicht gewinnen und die Witwenrenten an Gewicht verlieren werden. Aufgrund der steigenden Frauenerwerbstätigkeit erhöhen sich bei den nachrückenden Jahrgängen die Rentenanwartschaften, zugleich wird die Einkommensanrechnung bei der Witwenrente stärker greifen. Aber dennoch wird und muss die Witwenrente noch für viele Jahrzehnte ein ganz wesentliches Element der Einkommenssicherung älterer Frauen bleiben.

Abbildung XI.16 Verteilung der Witwenrenten und der Altersrenten von Frauen, monatliche Zahlbeträge, alte Bundesländer 2018 40

36,8

35

30

Witwenrenten

23,9

23,1

in %

Altersrenten/Frauen

27,5

25

21,8

20 19,2

19

15

15,7

10

6,5

5

0

2,6 unter 300

300-600

600-900

900-1200

1200-1500

2,3

0,4

1500-1800

0,6

0,1

1800-2100

Euro/Monat

Quelle: Deutsche Rentenversicherung Bund (2019), Statistikportal, eigene Berechnungen.

0,2

0

2100-2500

0

0

>2500

Rentenversicherung

1003

Erwerbsminderungsrenten Bei der Höhe der Erwerbsminderungsrenten ist zwischen Voll- und Teilrenten zu unterscheiden, denn naturgemäß weisen die Teilrenten in ihrer Funktion als Lohnzuschüsse nur niedrige Beträge auf. Aber auch die Vollrenten (nahezu 90 % aller EMRenten) sind nur recht gering, so dass Erwerbsminderungsrenten im Schnitt deutlich niedriger als die Altersrenten ausfallen (vgl. Abbildung XI.17). Die Ursachen dafür sind vielfältig. Zu benennen sind insbesondere •

die instabilen und prekären Erwerbsverläufe vor Eintritt der Erwerbsminderung (Phasen von Arbeitslosigkeit, Niedriglohnbeschäftigung, Teilzeitarbeit und versicherungsfreier Beschäftigung). die Abschläge, deren Auswirkungen durch die verlängerten Zurechnungszeiten nicht ausgeglichen werden.



Hinzuzufügen ist, dass Erwerbsminderungsrentner:innen nur selten Ansprüche aus anderen Systemen oder aus der betrieblichen und/oder privaten Vorsorge haben. Denn es ist – vor allem für Risikogruppen (gering Qualifizierte in hoch belastenden Berufen mit hoher Wahrscheinlichkeit des Eintritts einer Erwerbsminderung) – in Deutschland kaum möglich, sich adäquat privat oder betrieblich gegen dieses Risiko

Abbildung XI.17 Verteilung der Erwerbsminderungsrenten im Zugang 2018, monatliche Zahlbeträge 35

35,0

Männer

30

Frauen

27

25

28,1

24,7 20

in %

20,9

20,4

15 13,1 10

10,3

9,2

5

6 3

0

unter 300

300-600

600-900

900-1.200

1.200-1.500

1,1

1.500-1.800

0,9

0,2

1.800-2.100

Euro/Monat

* Renten wegen voller und teilweiser Erwerbsminderung Quelle: Deutsche Rentenversicherung Bund (2019), Statistikportal, eigene Berechnungen

0,1

0

2.100-2.500

0,0 > 2.500

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Alter

abzusichern. Die privaten Versicherer bieten entsprechende Produkte kaum an – und wenn, dann zu kaum bezahlbaren Tarifen. Rentenzugang Da in die Durchschnittsberechnung der Bestandsrenten alle laufenden Renten eingehen und diese wiederum, so bei Rentnerinnen und Rentnern im hohen Lebensalter, die Berufs- und Einkommensposition bereits lang vergangener Jahrzehnte widerspiegeln, lassen sich die Veränderungen des (geschlechtsspezifischen) Erwerbsverhaltens sowie die Umbrüche auf dem Arbeitsmarkt mit diesen Daten nicht voll erfassen. Deshalb ist es sinnvoll, auch auf die durchschnittliche Höhe der neu zugehenden Renten Bezug zu nehmen. Differenzierte Analysen zeigen, dass die im Jahr 2018 neu bewilligten Renten zum Teil deutlich niedriger ausfallen als die Bestandsrenten. Dies lässt sich erklären: •

• •





Männliche Bestandsrentner, die im Schnitt älter sind und vereinfacht gesprochen ihre Erwerbstätigkeit in der Phase des „Wirtschaftswunders“ begonnen haben, weisen längere, nicht durch Arbeitslosigkeit unterbrochene, Erwerbsbiografien auf als viele Neurentner. Ein Großteil der Rentenneuzugänge ist stark von den Verwerfungen des Arbeitsmarktes (prekäre Beschäftigungsverhältnisse, Niedriglöhne) betroffen. Dies gilt im besonderen Maße für Versicherte in den neuen Bundesländern. Bei den Frauenrenten ist zwar zu berücksichtigen, dass die Frauenerwerbsbeteiligung in den alten Ländern im Vergleich zu den 1970er, 1980er und auch noch 1990er Jahren stark angestiegen ist. Im Unterschied zu Rentenzugängen in diesen Jahren, in denen viele Frauen noch überhaupt keinen Anspruch auf eine Versichertenrente hatten, da sie zuvor nicht versicherungspflichtig erwerbstätig waren, beziehen aktuell nahezu alle Frauen, die die Altersgrenzen erreichen, eigenständige Renten. Gleichwohl sind die Frauenrenten weit überwiegend immer noch gering, da weitgehend nur auf Teilzeitbasis gearbeitet worden ist oder weil die Rentenansprüche allein bzw. zu großen Teilen durch die Kindererziehungszeiten entstanden sind. Dadurch wird bei den Frauen die durchschnittliche Rentenhöhe abgesenkt, während die früheren „Nullrenten“ erst gar nicht in die Durchschnittsberechnung eingegangen sind. Leistungseinschränkungen im Rentenrecht (die sich auf die Rentenberechnung, nicht auf die Rentenanpassung beziehen) schlagen sich bei den Zugangsrenten unmittelbarer nieder als bei den Bestandsrenten. So wurden bei einem Rentenbeginn vor 1992 noch bis zu 13 Jahre an Ausbildungszeiten (Schule und Studium) als Anrechnungszeiten nach dem 16. Lebensjahr anerkannt. Zudem wurden Zeiten der Arbeitslosigkeit höher bewertet. Und die Rentenabschläge gelten erst für vorgezogene Altersrenten, die ab 1997 in Anspruch genommen worden sind.

Rentenversicherung

1005

6.6.3 Ein Blick in die Zukunft: Zunahme von Niedrigrenten

Die Daten über die aktuelle Höhe und Verteilung der Renten sagen noch nichts über die zukünftigen Entwicklungen aus. Zum einen ist zu fragen, wie sich die Erwerbsbiografien und damit die individuellen Rentenanwartschaften der in den Rentenbezug nachrückenden Kohorten entwickeln werden. Rententechnisch gesehen kommt es dabei auf die Summe der Entgeltpunkte an, die die Versicherten beim Rentenzugang auf ihrem Konto werden verbuchen können. Zum anderen ist zu prüfen, welche Auswirkungen es hat, wenn infolge der Dämpfungsfaktoren in der Rentenanpassungsformel die Renten nur noch begrenzt der Lohnentwicklung folgen und dementsprechend das Rentenniveau kontinuierlich sinkt. Entwicklung der Entgeltpunkte Hinsichtlich der Entwicklungsrichtung der Rentenanwartschaften kommen die vorliegenden Arbeitsmarktanalysen übereinstimmend zu dem Ergebnis, dass sich in den zurückliegenden Jahren aufgrund der hohen Arbeitslosigkeit und der Umbrüche in den Beschäftigungsverhältnissen ein Risiko- und Problempotenzial aufgebaut hat, das sich negativ auf die Höhe der persönlichen Entgeltpunkte auswirkt. Für eine größere Zahl von Beschäftigten werden beim Renteneintritt Lücken in der Versicherungsbiografie und nur geringe Rentenanwartschaften zu verzeichnen sein. Zu merklichen Lücken bei den Versicherungsjahren kommt es vor allem dann, wenn es sich bei der Arbeitslosigkeit nicht nur um eine kurzfristige und einmalige Episode handelt, sondern wenn der Ausschluss aus dem Erwerbssystem für längere Zeit andauert und/oder wenn die berufliche Wiedereingliederung nicht dauerhaft oder nur unterwertig gelingt. Dies ist auch deswegen besonders nachteilig, weil rund zwei Drittel (2018) aller Arbeitslosen in den Rechtskreis des SGB II fallen (vgl. Kapitel „Arbeit und Arbeitsmarkt“, Pkt. 6.5) und beim bedürftigkeitsgeprüften Arbeitslosengeld II keine Rentenversicherungsbeiträge bezahlt werden. Betroffen sind im besonderen Maße Langzeitarbeitslose und Beschäftigte in schlecht bezahlten Tätigkeiten. An Bedeutung gewonnen haben diskontinuierlicher Erwerbsverläufe, die durch mehrfache Wechsel zwischen Erwerbstätigkeit und Arbeitslosigkeit, regulärer und prekärer Beschäftigung sowie abhängiger und selbstständiger Arbeit charakterisiert sind. Es liegt auf der Hand, dass Niedriglöhne insbesondere dann zum Risikofaktor im Hinblick auf Niedrigrenten werden, wenn sie den Versicherungsverlauf über längere Zeit prägen. Gleichermaßen problematisch ist es, wenn sie mit Arbeitszeiten einhergehen, die den Vollzeitstandard deutlich unterschreiten. Aber Teilzeitarbeit ist auch ein eigenständiger Risikofaktor. Denn eine Arbeitszeit im unteren Stundenbereich wird selbst bei Stundenlöhnen, die im mittleren Bereich liegen, nur zu einem geringen, unter dem Durchschnitt liegenden Monatseinkommen führen. Entsprechend der Rentenberechnungsformel resultieren daraus auch nur niedrige Entgeltpunkte. Dann besteht selbst bei einer langjährigen und durchgängigen Beschäftigung die Gefahr, lediglich eine Niedrigrente zu erhalten. Solche niedrigen Beträge sind immer

1006

Alter

eine Folge des Zusammenwirkens von einer niedrigen Entgeltposition und/oder nur weniger Versicherungsjahren. Viele dieser Einflussfaktoren können sich überlagern und verstärken. So lässt sich beispielsweise empirisch feststellen, dass der berufliche Wiedereinstieg nach einer Phase längerer Arbeitslosigkeit sehr häufig nur auf der Basis einer niedrigen Verdienstposition gelingt. Gleichmaßen ist die Wiederaufnahme einer Beschäftigung nach einer längeren Kindererziehungs- und Familienpause in der Regel mit Einkommensverlusten (im Vergleich zur früheren Beschäftigung) verbunden, die in den meisten Fällen auch bis zum Renteneintritt nicht ausgeglichen werden. Zwar lassen die steigende Frauenerwerbstätigkeit und die Verkürzung der erziehungsbedingten Unterbrechungszeiten erwarten, dass sich die Rentenanwartschaften von Frauen zukünftig erhöhen. Auch die rentenrechtliche Anrechnung von Pflegezeiten und Kindererziehungszeiten trägt dazu bei. Die Alterseinkommen von Ehepaaren könnten stabilisiert werden, wenn den rückläufigen Anwartschaften der Männer steigende Anwartschaften der Frauen gegenüberstehen. Dieser Kompensationseffekt wird allerdings begrenzt bleiben, solange sich die Frauenerwerbsbeteiligung immer stärker auf Teilzeitbasis im unteren Stundensegment konzentriert. Eine zentrale Rolle spielt dabei die hohe Zahl der (Ehe !)Frauen, die im Rahmen einer geringfügigen (Haupt-)Beschäftigung tätig sind. Selbst wenn sie Beiträge zur Rentenversicherung zahlen, also nicht von der Möglichkeit des opting-out Gebrauch machen (vgl. Kapitel „Einkommen“, Pkt. 5.1), entstehen aus einem Verdienst von 450 Euro nur äußerst geringe Rentenanwartschaften. Diese Beschäftigung im untersten Stunden- und Entgeltbereich wirkt sich auch deswegen nachteilig aus, weil die Geringfügigkeitsregelung verhindert, dass das Arbeitsangebot von Frauen ausgeweitet und der eigenständige Alterssicherungsanspruch über ein höheres Stundenvolumen und ein höheres Einkommen verbessert wird Es ist schwierig abzuschätzen, ob und in welchem Maße die Entspannung auf dem Arbeitsmarkt bei den Rentenneuzugängen der nächsten Jahre zu einer Abschwächung des Trends zu niedrigen Entgeltpunkten und auf längere Sicht zu dessen Umkehr führen können. Auch hat sich der Trend zum beruflichen Frühausstieg umgekehrt: Die Erwerbstätigenquoten der älteren Arbeitnehmer:innen haben sich beträchtlich erhöht. Die Beschäftigten bleiben länger berufstätig und das Renteneintrittsalter verschiebt sich nach oben – mit dem Ergebnis, dass damit mehr Entgeltpunkte erreicht werden können. Zwar betrifft dies keineswegs alle Beschäftigten, denn gerade die Niedrigqualifizierten, die im Verlauf ihres Erwerbslebens unter belastenden Bedingungen gearbeitet haben und häufig durch Arbeitslosigkeit unterbrochene Berufsverläufe aufweisen, müssen mehrheitlich vor Erreichen der Regelaltersgrenze aus dem Beruf ausscheiden (vgl. Pkt. 4.4 dieses Kapitels). Gleichwohl ist der Trend zu einem späteren Altersübergang eindeutig. Auf dem Arbeitsmarkt lassen sich weitere Veränderungen erkennen. Die Zahl der nicht obligatorisch abgesicherten Selbstständigen, insbesondere der Soloselbstständigen, dürfte vor dem Hintergrund von Digitalisierung und Dienstleistungsorientie-

Rentenversicherung

1007

rung absehbar zunehmen. Zudem verschwimmen die Grenzen zwischen abhängiger und selbstständiger Beschäftigung. Abhängige Arbeit und Selbstständigkeit werden – jeweils auf Teilzeitbasis – parallel miteinander kombiniert. Oder aber es finden im Erwerbsverlauf mehrfache Wechsel zwischen Phasen der Selbstständigkeit und Phasen abhängiger Arbeit statt. Die bis heute maßgebende, aus der Bismarck’schen Tradition stammende Trennung dieser beiden Tätigkeitsformen und die Annahme, dass sich alle selbstständigen Erwerbstätigen eigenverantwortlich absichern können und werden, trifft längst nicht mehr zu. Solange Selbstständigkeit nicht ebenfalls der Versicherungspflicht unterliegt, sind Lücken bei der Absicherung im Alter die zwangsweise Folge. Besonderen Absicherungsrisiken im Alter unterliegen schließlich all jene Zugewanderten, die in ihren Herkunftsländern keine Rentenanwartschaften erworben haben bzw. die hier nicht anerkannt werden, in Deutschland erst langsam in den Arbeitsmarkt integriert werden und eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung aufnehmen. Hinsichtlich Versicherungsdauer und Einkommensposition werden sie kaum in der Lage sein, eine ausreichende Zahl von Entgeltpunkten zu erreichen. Sinkendes Rentenniveau und Überschneidung mit der Grundsicherung Wenn es um die Abschätzung nicht nur der zukünftigen Höhe und Verteilung der Entgeltpunkte, sondern auch der zukünftigen Rentenzahlbeträge geht, dann spielt die Höhe und Dynamik des aktuellen Rentenwerts eine zentrale Rolle. Es kommt zu einem Doppeleffekt: Die Anwartschaften/Entgeltpunkte werden in vielen (aber eben auch nicht allen) Fällen zurückgehen, und zugleich verringert sich deren Wert durch das absinkende Rentenniveau. Unter diesen Bedingungen müssen die Versicherten immer mehr Versicherungsjahre aufbringen, um eine Rente zu erhalten, die das Bedarfsniveau der Grundsicherung im Alter, also das politisch festgesetzte Existenzminimum, erreicht. Oder anders herum betrachtet: Selbst eine lange Versicherungsdauer führt dann für Versicherte, deren Einkommensposition unterhalb des Durchschnitts liegt, nicht mehr dazu, dass ihre Rente die Grundsicherungsschwelle überschreitet. Das Phänomen einer Überschneidung von niedrigen Renten und Grundsicherungsniveau auch bei langjähriger Beitragszahlung bedeutet nicht, dass in jedem Fall auch Anspruch auf Grundsicherungsleistungen besteht bzw. dass von einer Armutslage ausgegangen werden muss. Eine niedrige Rente kann ein Indiz sein für ein Einkommensproblem, muss es aber nicht. Denn niedrige Renten können durch hohe Versorgungsansprüche aus anderen Systemen ergänzt werden, wenn etwa ein Freiberufler oder ein Beamter am Berufsanfang für wenige Jahre als Angestellter versicherungspflichtig beschäftigt war, dann aber seinen Status gewechselt hat, in ein anderes Alterssicherungssystem übergegangen und dort gut abgesichert ist. Anders herum muss eine vergleichsweise hohe gesetzliche Rente kein Indiz sein für eine gute Versorgungslage, wenn dies die einzige Einkommensquelle im Alter ist und keine ergänzenden Ansprüche aus anderen Systemen (betriebliche und private Vorsorge)

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Alter

vorhanden sind. Außerdem ist zu berücksichtigen, dass die Einkommenslage stets im Kontext des Haushalts zu bewerten ist. Bei älteren Menschen ist hier in erster Linie an die verbreitete Konstellation der (Ehe-)Paar-Haushalte zu denken: Die Einkommen beider Partner fließen in den gemeinsamen Haushalt ein. Die niedrige Rente der Frau und die üblicherweise höhere Rente des Mannes bilden zusammen das verfügbare Gesamteinkommen. Und im Todesfall des Ehepartners/der Ehepartnerin ergänzen Hinterbliebenenrenten die eigene womöglich niedrige Rente. Absehbar sind jedoch Legitimations- und Akzeptanzprobleme der Rentenversicherung, wenn nach jahrzehntelanger Beitragspflicht die individuelle Rente nicht oder nur kaum höher liegt als die vorleistungsunabhängige Grundsicherung im Alter und sich kein Unterschied mehr ergibt zu Personen, die keine oder keine entsprechend hohen Beiträge geleistet haben. 6.7

Finanzierung

Die gesetzliche Rentenversicherung finanziert ihre Ausgaben durch Beitragseinnahmen und durch steuerfinanzierte Bundeszuschüsse. Beiträge und Zuschüsse fließen in den Haushalt der Rentenversicherung und unterliegen dabei einer strengen Zweckbindung. Sie dienen ausschließlich zur Finanzierung der Aufgaben und Ausgaben der Rentenversicherung. Das Finanzierungsverfahren beruht auf dem Umlageprinzip: Die Einnahmen in jedem Jahr werden nahezu vollständig für die Ausgaben desselben Jahres verwendet. 6.7.1 Beitragseinnahmen

Bei den Einnahmen kommt entsprechend dem Versicherungsprinzip das Schwergewicht den Beiträgen zu. Mit rund 236 Mrd. Euro stellten die Beitragseinnahmen 2018 den weit überwiegenden Anteil (77 %) an den Gesamteinnahmen der GRV. Der Beitragssatz wird im Gesetzgebungsverfahren festgelegt und liegt 2020 bei 18,6 %. Die Höhe der Beiträge in Euro errechnet sich, indem der Beitragssatz auf das versicherungspflichtige Bruttoarbeitsentgelt bezogen wird. Im Unterschied zum System einer progressiven Einkommensteuer, bei dem der Steuersatz von der Höhe des Einkommens abhängt, bleibt bei der Beitragsfinanzierung der Beitragssatz konstant, Lohnhöhe und Beitragshöhe sind proportional miteinander verbunden. Allerdings unterliegen Einkommensbestandteile, die eine obere Grenze (Beitragsbemessungsgrenze) überschreiten, keiner Beitragspflicht. Diese Beitragsbemessungsgrenze wird jährlich an die allgemeine Einkommensentwicklung angepasst und entspricht seit 2003 in etwa dem Doppelten des durchschnittlichen Bruttoarbeitsentgelts (vgl. Kapitel „Ökonomische Grundlagen und Finanzierung“, Tabelle II.4) Darüber liegende Einkommensbestandteile bleiben somit beitragsfrei, so dass bei höheren Einkommen die Gesamtbelastung des Einkommens durch die Beiträge rela-

Rentenversicherung

1009

tiv geringer ist als bei niedrigen Einkommen (degressive statt proportionaler Belastung). Da bei der Berechnung der individuellen Rente jedoch nur die Einkommensbestandteile berücksichtigt werden, die unterhalb der Beitragsbemessungsgrenze liegen, bedeutet dies später auch eine entsprechende Begrenzung der Renten nach oben. Somit hebt sich in einer längerfristigen Betrachtung dieser Vorteil für die Besserverdienenden wieder auf. Arbeitgeber und Arbeitnehmer zahlen die Beiträge je zur Hälfte. Beschäftigte in den geringfügigen Beschäftigungsverhältnissen unterliegen zwar auch der Beitragspflicht, können sich aber befreien lassen (opting-out). Freiwillig Versicherte tragen ihren Gesamtbeitrag allein. Beitragspflichtig sind auch die Lohnersatzleistungen, wie z. B. Arbeitslosengeld I oder Krankengeld. Hier beträgt die Bemessungsgrundlage 80 % des jeweils dieser Lohnersatzleistung zugrunde liegenden Arbeitsentgelts. Die Beiträge für diese Personen werden dabei jeweils vom zuständigen Sozialversicherungsträger abgeführt. Der Beitragspflicht unterliegen ebenfalls Eltern in der Elternzeit (hier werden die Beiträge vom Bund übernommen) sowie nicht erwerbsmäßig Pflegende (die Beiträge zahlt die Pflegeversicherung). Die Beitragssatzentwicklung verläuft seit nunmehr vielen Jahren bemerkenswert stabil. Lediglich zwischen 1997 und 1998 wurde mit 20,3 % die Schwelle von 20 % überschritten. Seit 2011 sinkt der Beitragssatz: von 19,9 % auf 19,6 Prozent (2012), auf 18,6 % (2018) – und dies trotz der demografischen Belastungen und mehrfacher Leistungsverbesserungen. Auch der Anteil der GRV-Ausgaben am BIP sinkt (vgl. Abbildung XI.18). Nach dem Umlageverfahren müssen die Beitragseinnahmen und Steuerzuschüsse im laufenden Jahr ausreichen, um die Rentenausgaben dieses Jahres zu finanzieren. Reichen die Einnahmen und die Rücklagen (Nachhaltigkeitsreserve) nicht aus, um die Rentenausgaben zu decken, muss der Beitragssatz erhöht werden. Das Gesetz sieht vor, dass die Rücklagen einen Korridor von 0,2 bis 1,5 Monatsausgaben nicht unter- oder überschreiten dürfen. Danach ist der Beitragssatz für das folgende Jahr neu festzusetzen, wenn bei Beibehaltung des bisherigen Satzes die Nachhaltigkeitsrücklage zum Jahresende voraussichtlich außerhalb des Zielkorridors liegen würde. Werden 1,5 Monatsausgaben überschritten, muss der Beitragssatz gesenkt werden, werden 0,2 Monatsausgaben unterschritten, muss der Beitragssatz erhöht werden. Dabei wirkt sich jede Änderung des Beitragssatzes unmittelbar auf die Höhe des Bundeszuschusses und über die Veränderung der Nettoquote auch auf die Höhe des Anpassungssatzes bei den Renten aus. Der Beitragssatz darf bis 2030 bestimmte Maximalwerte, sog. Haltelinien, nicht überschreiten: im Jahr 2025 die Marke von 20 % und bis 2030 die Marke von 22 %.

1010

Alter

Abbildung XI.18 1990 – 2019

Beitragssätze zur gesetzlichen Rentenversicherung und GRV-Anteil am BIP

12 10,8 25

Ausgaben der GRV in % des BIP, rechte Achse

10,3

10,0

10

9,9 9,4

9,3

8,9

9,2

8,4

8

18,6

18,6

18,7

18,7

18,7

18,9

18,9

19,6

19,9

19,9

19,9

19,9

19,9

19,5

19,5

19,5

19,1

19,5

19,1

19,3

19,5

20,3

17,5

18,6

19,2

19,2

17,7

10

17,7

18,7 15

20,3

20

6

4

Beitragssätze. linke Achse

2019

2015

2010

2005

0

2000

0

1995

2

1990

5

Quelle: Deutsche Rentenversicherung Bund (zuletzt 2019), Rentenversicherung in Zahlen; Bundesministerium für Arbeit und Soziales (zuletzt 2019), Sozialbudget.

6.7.2 Bundeszuschuss

Neben den Beiträgen finanziert sich die GRV durch Zuschüsse aus dem Bundeshaushalt, die aus dem allgemeinen Steueraufkommen getragen werden. Darüber hinaus ist der Bund verpflichtet, bei kurzfristigen Liquiditätsproblemen, d. h. dann, wenn die Rücklage nicht ausreicht, mit einem unverzinslichen Darlehen einzuspringen. Die Höhe des Bundeszuschusses ist dynamisiert. Er folgt der Entwicklung der Arbeitsentgelte und der Veränderung des Beitragssatzes. Neben dem Regelbundeszuschuss gibt es seit 1998 einen (durch die Anhebung der Mehrwertsteuer finanzierten) zusätzlichen Bundeszuschuss, der jährlich prozentual mit der Veränderungsrate des Steueraufkommens für einen Mehrwertsatzsteuerpunkt fortgeschrieben wird. Darüber hinaus wird ein Erhöhungsbetrag zum zusätzlichen Bundeszuschuss gezahlt, der mit der Veränderungsrate der Bruttolöhne und -gehälter fortgeschrieben wird. Der Bund finanziert nicht nur den Bundeszuschuss an die Rentenversicherung, sondern ist u. a. auch zuständig für die Beitragszahlungen bei den Kindererziehungszeiten, für (früher) Wehrpflichtige und Zivildienstleistende sowie für Zahlungen an die Knappschaftliche Rentenversicherung. In der Summe flossen im Jahr 2018 rund

Rentenversicherung

1011

98 Mrd. Euro vom Bundeshaushalt an die Rentenversicherungsträger. Das entspricht gut 27 % des gesamten Bundeshaushaltes (vgl. Kapitel „Ökonomische Grundlagen und Finanzierung“, Tabelle II.6) und macht mehr als die Hälfte der Gesamtausgaben des Bundes für die soziale Sicherung aus. Der Bundeszuschuss – und damit die Finanzierung durch die Gesamtheit der Steuerzahler:innen – begründet sich in den allgemeinen gesellschaftspolitischen Aufgaben der Rentenversicherung und in der Verantwortung des Bundes für die Stabilität dieses wichtigsten Sozialversicherungszweiges. Zu den gesellschaftspolitischen Aufgaben der GRV zählen u. a. die Abdeckung von Folgekosten der deutschen Einheit und bestimmten Kriegsfolgelasten sowie die Zahlung von Renten an Spätaussiedler:innen. Eine Finanzierung dieser allgemeinen Staatsaufgaben, die der Rentenversicherung übertragen worden sind, allein durch die Beitragszahler wäre verteilungspolitisch nicht zu rechtfertigen. Zu berücksichtigen ist nämlich, dass die Solidargemeinschaft der Versicherten nur einen Teil der Bevölkerung erfasst, die versicherungspflichtigen Arbeitnehmer, während andere – in der Regel bzw. im Durchschnitt besser verdienende – Beschäftigtengruppen (wie Beamt:innen, Selbstständige) eigenständige Sicherungssysteme aufweisen, nicht beitragspflichtig und von daher auch nicht in den Solidarausgleich eingebunden sind. Infolge der Beitragsmessungsgrenze kommt es überdies dazu, dass Beschäftigte im höheren Einkommensbereich nicht mehr mit ihrem vollen Einkommen zum Solidarausgleich beitragen. Aus ordnungs- und verteilungspolitischen Gesichtspunkten ist es deshalb geboten, allgemeine Staatsaufgaben auch durch die Allgemeinheit zu finanzieren. Das angemessene Finanzierungsinstrument ist die Einkommensteuer, da diese alle Personen und Einkommen erfasst und die Belastung nach dem Prinzip der Leistungsfähigkeit erfolgt. Versicherungsfremde Leistungen Häufig wird auch darauf verwiesen, dass der Bundeszuschuss dazu bestimmt sei, versicherungsfremde Leistungen der Rentenversicherung abzudecken. Es muss allerdings entschieden werden, wie versicherungskonforme von versicherungsfremden Leistungen abzugrenzen sind. Hierbei kommt man nicht ohne politische Werturteile aus. Wird nämlich allein die Privatversicherung mit dem Grundsatz der reinen Beitragsäquivalenz als Maßstab genommen, gewährt die Sozialversicherung im großen Umfang versicherungsfremde Leistungen. Dann würden genuine Aufgaben der Sozialversicherung, wie u. a. die Elemente des sozialen Ausgleichs, die Zahlung von Erwerbsminderung- und Hinterbliebenenrenten, die allesamt keine Rückwirkung auf die individuelle Beitragszahlung haben, als versicherungsfremd bewertet werden. Werden hingegen der soziale Ausgleich und das Solidaritätsprinzip als Wesenselemente der Sozialversicherung angesehen, werden Leistungen, die der Privatversicherung fremd sind, geradezu konstitutiv für die Sozialversicherung. Der Aufgabe einer sachgemäßen Abgrenzung zwischen versicherungskonformen und versicherungsfremden Leistungen in der Sozialversicherung kommt man näher, wenn unterschieden wird zwischen Maßnahmen des internen sozialen Aus-

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Alter

gleichs, die sich auf die Versichertengemeinschaft beschränken, und Maßnahmen des externen sozialen Ausgleichs, die an außenstehende Personen gehen, ohne dass diese einen eigenen Beitrag bezahlt haben. In der Rentenversicherung sind für den internen Ausgleich Zurechnungs- und Anrechnungszeiten sowie Höherbewertungen charakteristisch. Für den externen Ausgleich stehen insbesondere Kindererziehungszeiten, Ansprüche nach dem Fremdrentengesetz und die Kriegsfolgelasten. Die Dimensionen dieser Leistungen werden durch den gegenwärtigen Bundeszuschuss und die Beitragszahlungen des Bundes für Kindererziehungszeiten abgedeckt. 6.7.3 Ausgaben

Die Ausgaben der GRV beliefen sich 2018 auf einen Wert von rund 304 Mrd. € (vgl. Tabelle XI.3). Im Sozialleistungssystem stellt damit die GRV den größten Leistungsträger dar. 30,3 % aller Sozialausgaben werden 2018 durch die Rentenversicherung finanziert. Im Verhältnis zum Sozialprodukt macht das einen Anteil von 9,2 % aus (vgl. Kapitel „Ökonomische Grundlagen und Finanzierung“, Tabelle II.1). Die Renten stellen mit 90 % aller Ausgaben den mit Abstand größten Ausgabeposten der GRV dar. Die Verwaltungs- und Verfahrenskosten haben bei der GRV eine nur geringe Bedeutung (1,4 %); im Unterschied zur privaten Lebens- und Rentenversicherung arbeitet die GRV also äußerst kostengünstig. Verfolgt man die Ausgabenentwicklung im Zeitverlauf, zeigt sich, dass der Anteil der Ausgaben sowohl für die Erwerbsminderungsrenten als auch für die Hinterblie-

Tabelle XI.3 Einnahmen und Ausgaben der gesetzlichen Rentenversicherung 2018 Einnahmen

Mrd. €

Beitragseinnahmen

236,4

Bundeszuschüsse Zusätzliche Bundeszuschüsse

Ausgaben

Mrd. €

75,7

Rentenausgaben

277,1

90,0

49,9

16,0

Beiträge zur KVdR

19,6

6,4

24,9

8,0

Leistungen zur Teilhabe

6,6

2,1

Erstattungen

1,0

0,3

Beitragserstattungen

0,1

0,0

Vermögenserträge

0,0

0,0

Verwaltungs- und Verfahrenskosten

3,9

1,3

Sonstige Einnahmen

0,2

0,01

Sonstige Ausgaben

0,4

0,1

307,9

100,0

Einnahmen gesamt Einnahmeüberschuss

312,3

in %

100,0

Ausgaben gesamt

0,4

Rentenversicherung insgesamt, mit Knappschaft Die Beiträge des Bundes zu den Kindererziehungszeiten fallen unter die Beitragseinnahmen. Quelle: Deutsche Rentenversicherung Bund 2019, Rentenversicherung in Zahlen.

in %

Rentenversicherung

1013

benenrenten (2018: 6,9 % und 15,8 %) kontinuierlich gesunken ist. Ursächlich dafür ist, dass sich der Anteil der Erwerbsminderungsrenten an den neu zugehenden Renten rückläufig entwickelt. Und bei den Hinterbliebenenrenten ist zu berücksichtigen, dass aufgrund der zunehmenden Frauenerwerbstätigkeit bei den nachrückenden Jahrgängen die eigenen Rentenanwartschaften steigen und dass es durch die Anrechnung des eigenen Einkommens (oberhalb der Freibeträge) vermehrt zu Leistungskürzungen kommt. 6.7.4 Finanzierung im Umlageverfahren

Was die gesetzliche Rentenversicherung im Laufe einer Periode an Renten auszahlt, muss in derselben Periode auch wieder an Einnahmen hereinkommen, um den Haushalt auszugleichen. Durch dieses Umlageverfahren trägt die jeweils aktive erwerbstätige Generation die Finanzierung der Einkommen der älteren Generation (intergenerationelle Einkommensumschichtung). Die versicherten Arbeitnehmer:innen bezahlen über ihre Beiträge, d. h. über Abzüge von ihrem Einkommen, die Renten von heute und erwerben dadurch zugleich den Anspruch, dass auch ihre eigenen Renten von der künftigen, dann im Erwerbsleben stehenden Generation finanziert werden (Generationenvertrag). Der Anspruch ist jedoch nicht im engeren juristischen Sinne zu verstehen, sondern als Norm, die im politischen Prozess eingelöst werden muss. Beim Umlageverfahren finanzieren die Beitragszahlenden also nie die eigene Rente, sie leisten immer nur einen Beitrag zur Finanzierung der laufenden Renten. Aus den Beiträgen der Versicherten wird kein Vermögen bzw. kein Kapitalbestand angesammelt. Die Beitragszahler:innen erwerben jedoch Anwartschaften, d. h. eine staatliche Zusage auf einen Rentenanspruch. Dieser Anspruch besteht allerdings nicht in einem absoluten Wert, sondern in Entgeltpunkten (vgl. Pkt. 6.5.2 dieses Kapitels). Im Umlagesystem gibt es keine Rechte hinsichtlich einer bestimmten Rentenhöhe oder eines bestimmen Rentenniveaus, sondern immer nur Ansprüche auf eine relative Beteiligung an der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der jeweiligen Erwerbsgeneration. Insofern vertraut das Umlageverfahren prinzipiell auf die langfristige Stabilität und Ergiebigkeit der Lohn- bzw. Erwerbseinkommen und der Bereitschaft der jeweiligen Erwerbsgeneration, Beiträge in der erforderlichen Höhe zu leisten. 6.8

Finanzierungsprobleme

Aus dem Umlageverfahren folgt, dass bei der Rentenversicherung Finanzierungsprobleme auftreten, wenn die Ausgaben und die Einnahmen nicht nur kurzfristig voneinander abweichen. In einer Welt steigender Einkommen geht es dabei um die Abweichung der Zuwächse: Bei der gesetzlichen Rentenversicherung, die über einen eigenständigen Haushalt abgewickelt wird, äußert sich ein Ungleichgewicht zwischen

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Alter

Einnahmen und Ausgaben unmittelbar und sichtbar im Abbau oder Zuwachs der Rücklagen. Eine Störung des Gleichgewichts von Einnahmen und Ausgaben kann mehrere Ursachen haben, denn auf die Finanzlage der GRV wirken Faktoren ein, die sowohl die Einnahmen wie die Ausgaben betreffen. Dies lässt sich vereinfachend systematisieren. Die Rentenausgaben in einem Jahr errechnen sich aus der Zahl der Renten und der durchschnittlichen Höhe der Rente: •



Die Zahl der Renten ist abhängig von den demografischen Bedingungen (Größenordnung, Altersstruktur und Lebenserwartung der Bevölkerung), dem Anteil der Rentenberechtigten an der Bevölkerung und den Altersgrenzen, dem durchschnittlichen Rentenzugangsalter und der durchschnittlichen Rentenbezugsdauer. Die durchschnittliche Höhe der Renten hängt vor allem ab von der Höhe des aktuellen Rentenwerts und vom Ausmaß seiner jährlichen Anpassung nach Maßgabe der Rentenanpassungsformel.

Die Beitragseinnahmen errechnen sich – bei gegebenem Beitragssatz und gegebener Höhe des Bundeszuschusses – aus der Zahl der versicherungs- und beitragspflichtigen Beschäftigten und der durchschnittlichen Höhe des versicherungspflichtigen Bruttoentgelts. • Auf die Größenordnung der versicherungspflichtig Beschäftigten wirken demografische Faktoren (Größenordnung der Jahrgänge im erwerbstätigen Alter), vor allem ökonomische Faktoren ein (Arbeitskräftenachfrage, Erwerbsbeteiligung von Frauen, Erwerbsbeteiligung von Älteren usw.). • Die durchschnittliche Höhe der Bruttoverdienste hängt ab von der allgemeinen Lohnentwicklung wie auch von spezifischen Faktoren (z. B. Einführung und Anhebung von gesetzlichen Mindestlöhnen). Arbeitnehmereinkommen und Rentenanpassung Das Prinzip einer Kopplung von Arbeitnehmereinkommen und Renten ist der Kern der sogenannten dynamischen Rente. Steigen etwa im Zuge des Produktivitätszuwachses die Löhne, so steigen – über den Mechanismus des jährlich neu festgesetzten aktuellen Rentenwerts – auch die Renten. Auf der anderen Seite gelten verschlechterte Einkommensperspektiven auch für die Rentner:innen. Damit ist die Rentenversicherung hinsichtlich ihrer Finanzierung weitgehend abgeschirmt gegen Einkommensschwankungen. Diese Kopplung der dynamischen Rente an die Lohnentwicklung weist jedoch immer eine Zeitverzögerung auf. Denn die Maßgrößen basieren auf den Ergebnissen der Statistik, die die konkrete Lohnentwicklung in einem Jahr naturgemäß erst zu Beginn des Folgejahres verlässlich feststellen kann. Daraus folgt, dass bei einer

Rentenversicherung

1015

schwachen Lohnentwicklung, die über Jahre hinweg niedrige oder sogar keine Zuwachsraten aufweist, die Ausgaben schneller als die Einnahmen steigen. In einer ökonomischen Krise und in Zeiten eines wirtschaftlichen wie politischen Drucks auf das Lohnniveau kommt es deshalb zu Einnahmeproblemen im Verhältnis zu den Ausgaben, da deren Zuwächse sich noch an den höheren Werten der Vorjahre orientieren. Beitragszahler und Rentenempfänger Von viel größerer Bedeutung für die Gewährleistung bzw. Gefährdung eines Gleichgewichts zwischen Einnahmen und Ausgaben ist das Verhältnis von Rentner:innen und Beitragszahlenden. Dieses Verhältnis wird als Rentnerquotient bezeichnet. Denn wenn im Zeitverlauf mehr Rentner:innen weniger Beitragszahler:innen gegenüberstehen, entsteht eine Lücke zwischen Ausgaben und Einnahmen. Dafür können längerfristig wirkende demografische Verschiebungen verantwortlich sein, aber auch die aktuellen Verhältnisse auf dem Arbeitsmarkt. Die Analyse zeigt, dass das Finanzierungsgeschehen der Rentenversicherung in den zurückliegenden Jahren im Wesentlichen durch die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt bestimmt worden ist. Aus demografischer Sicht befinden wir uns noch in einer vergleichsweisen ruhigen Phase. Die stark besetzten Jahrgänge (Baby-Boomer Generation) stehen derzeit noch in Beschäftigung und zählen zu den Beitragszahlern. Sie werden ab ca. 2025 ins Rentenalter nachrücken, dann aber stark wachsende Ausgaben nach sich ziehen (vgl. Pkt. 12.1 dieses Kapitels). Die längere Lebenserwartung hingegen macht sich schon seit Jahren bemerkbar. Sie führt zu einer längeren Rentenbezugsdauer und vergrößert damit die Zahl der Rentner:innen und der Renten (vgl. Pkt. 6.3 dieses Kapitels). Rentenfinanzen zwischen Konjunkturen und Krisen Es kommt also entscheidend auf die gesamtwirtschaftliche Entwicklung und die Lage auf dem Arbeitsmarkt an. Dabei ist nicht die Zahl der Erwerbstätigen, sondern allein die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten maßgebend. Kommt es hier im Rahmen eines konjunkturellen Abschwungs zu einem Rückgang, wirkt sich dies unmittelbar negativ auf die Höhe und Entwicklung der Beitragseinnahmen aus. Dies war insbesondere in den Jahren zwischen etwa 1995 und 2005 der Fall. In den zurückliegenden Jahren haben zudem jene Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt zu Einnahmeeinbußen geführt, die wegen einer Ausweitung von nicht der Versicherungspflicht unterliegenden Arbeitsverhältnissen zu Lasten sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung gehen. Zwar werden bei fehlender Beitragszahlung auch keine Rentenanwartschaften erworben, so dass langfristig keine entsprechenden Ausgaben anfallen. Kurz- und mittelfristig jedoch überwiegen die Einbußen auf der Einnahmenseite. Die Einnahmeausfälle durch Arbeitslosigkeit werden nur teilweise dadurch kompensiert, dass für Arbeitslose, soweit sie Leistungsempfänger sind, Beiträge an die

1016

Alter

Rentenversicherung gezahlt werden. Das gilt seit 2011 aber nur noch für die Empfänger der Versicherungsleistung Arbeitslosengeld I. Auf Basis von 80 % des Bruttoarbeitseinkommens vor der Arbeitslosigkeit überweist die Bundesagentur für Arbeit Beiträge an die Rentenversicherung. Für die Rentenversicherungsträger entstehen entsprechende Einnahmeausfälle in Höhe von 20 %. Weitaus gravierendere Folgen hat es, wenn die Arbeitslosen Leistungsempfänger von Arbeitslosengeld II im Rahmen des SGB II (Hartz IV) sind. Denn für diesen Personenkreis werden seit 2011 überhaupt keine Beiträge mehr an die Rentenversicherung gezahlt. Denn seitdem gilt die Zeit des Bezugs von Arbeitslosengeld II nicht mehr als Pflichtversicherungszeit. Seit 2006 hingegen steigt die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten kontinuierlich an. Die anhaltend gute wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland, verbunden mit einem deutlichen Abbau der Arbeitslosigkeit und einer steigenden Beschäftigungsquote vor allem von Frauen und älteren Arbeitnehmer:innen, hat die Finanzlage der Rentenversicherung entscheidend verbessert. Trotz mehrfacher Leistungsverbesserungen (vor allem Ausweitung der Mütterrente, Verlängerung von Zurechnungszeiten für Erwerbsminderungsrenten) konnten die Beitragssätze gesenkt werden. Da die Zahl der Beitragszahler stärker angestiegen ist als die Zahl der Renten, hat der Nachhaltigkeitsfaktor in der Rentenanpassungsformel sogar dazu geführt, dass das Rentenniveau nicht weiter gesunken ist. Dies wird allerdings nicht von Dauer sein. 6.9

Organisationsstruktur

Seit 2005 werden die Aufgaben der gesetzlichen Rentenversicherung (allgemeine Rentenversicherung und knappschaftliche Rentenversicherung) von Regionalträgern und Bundesträgern wahrgenommen, die unter dem gemeinsamen Namen Deutsche Rentenversicherung firmieren und nicht mehr nach Arbeiter:innen und Angestellten unterscheiden. Der Name der 16 Regionalträger der gesetzlichen Rentenversicherung besteht aus der Bezeichnung „Deutsche Rentenversicherung“ und einem Zusatz für ihre jeweilige regionale Zuständigkeit (z. B. Deutsche Rentenversicherung – Hessen). Bundesträger sind die Deutsche Rentenversicherung Bund und die Deutsche Rentenversicherung Knappschaft-Bahn-See. Die Deutsche Rentenversicherung Bund nimmt auch die Grundsatz- und Querschnittsaufgaben und die gemeinsamen Angelegenheiten der Träger der Rentenversicherung wahr. Die Träger der RV werden, wie die übrigen Träger der Sozialversicherung mit Ausnahme der gesetzlichen Unfallversicherung, im Verhältnis 50 : 50 durch Vertreter der Arbeitgeber und der Versicherten selbstverwaltet und stehen unter staatlicher Rechtsaufsicht. Die Rentenversicherung verfügt über Finanzhoheit und ist damit kein Teil der öffentlichen Haushalte. Allerdings werden Leistungsrecht und Finanzierung (Beitragssätze, Bundeszuschüsse) durch Gesetz geregelt.

Regelsysteme neben der Rentenversicherung

1017

Bei der Erstzuteilung einer Versicherungsnummer wird die Zuordnung nach dem Zufallsprinzip vorgenommen. Versicherte werden also unabhängig davon, ob sie Arbeiter:in oder Angestellte sind, entweder auf die Deutsche Rentenversicherung Bund oder auf Regionalträger zugeteilt.

7

Regelsysteme neben der Rentenversicherung

Die Rentenversicherung ist keine allgemeine Erwerbstätigenversicherung oder gar Bürgerversicherung, sondern konzentriert sich in Fortführung der Tradition der Bismarck’schen Sozialversicherung auf die Absicherung von Arbeiter:innen und Angestellten (und – als Ausnahmen von der Regel – auf einzelne, kleinere Gruppen von Selbstständigen). Für andere Beschäftigten- und Berufsgruppen gelten deshalb andere Systeme der Regelalterssicherung. Zu berücksichtigen sind hierbei insbesondere: • • • •

die Beamtenversorgung, in der Beamt:innen, Richter:innen und Berufssoldat:innen erfasst sind, die Alterssicherung für Landwirte, in der Landwirte und deren mitarbeitende Familienangehörige pflichtversichert sind, die Künstlersozialversicherung, in der selbstständige Künstler:innen und Publizist:innen pflichtversichert sind, die berufsständischen Versorgungswerke, die die Pflichtversorgung der Angehörigen der so genannten verkammerten freien Berufe gewährleisten.

7.1

Beamtenversorgung

Die Absicherung der Beamt:innen, Richter:innen und Berufssoldat:innen erfolgt als Versorgung durch den jeweiligen Dienstherrn (Bund, Länder, Gemeinden, sonstige öffentlich-rechtliche Körperschaften). Basis für das Beamtenversorgungsrecht sind die im Grundgesetz (Artikel 33) festgelegten „hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums“. Die Beamtenversorgung ist dementsprechend durch das Alimentationsprinzip charakterisiert; hiernach hat der Staat die Pflicht, den Unterhalt seiner Beamt:innen und deren Angehörigen während und nach der Dienstzeit durch angemessene Bezüge, bzw. in anderen Fällen wie z. B. Krankheit durch entsprechende Beihilfen, sicherzustellen. Beamt:innen erhalten dazu im Alter eine Pension, Ruhegehalt genannt. Grundlagen Die Gesetzgebungskompetenz der Beamtenversorgung obliegt beim Bund (für die Bundesbeamten) und bei den Ländern (die Länder auch für die Kommunen). Dies gilt auch für Beamt:innen, die bei den Aktiengesellschaften in den privatisierten Be-

1018

Alter

reichen der Post, Postbank, Telekom und Bahn beschäftigt sind bzw. waren. Der Leistungsbereich der Beamtenversorgung umfasst vor allem die Zahlung von Ruhegehältern wegen Erreichen der Altersgrenzen oder wegen Dienstunfähigkeit sowie von Leistungen an Hinterbliebene. Finanziert wird die Beamtenversorgung aus den Haushalten der jeweils zuständigen Gebietskörperschaft. Eigene Beiträge müssen die Beamt:innen nicht entrichten, so dass die BruttoNettorelationen bei den Beamtengehältern deutlich günstiger als bei den sozialversicherungspflichtig Beschäftigten ausfallen. Ob wegen der Beitragsfreiheit die Bruttoverdienste von Beamt:innen entsprechend niedriger liegen, bzw. ob die Bruttoverdienste von Angestellten, die die gleichen Tätigkeiten übernehmen, entsprechend höher sind, lässt sich empirisch im Detail nicht hinreichend klären. Versorgungsempfänger Anfang 2017 gab es rund 1,6 Mio. Versorgungsempfänger bei Bund, Ländern und Gemeinden sowie bei Bahn, Post und im mittelbaren öffentlichen Dienst. Mehr als die Hälfte (53,8 %) dieser Personengruppe war zuvor bei den Ländern beschäftigt, da die Länder für die großen und personalintensiven Bereiche Innere Sicherheit und Justiz (Polizei, Richter) sowie Bildung (Lehrer und Hochschullehrer) verantwortlich sind. Eine große, allerdings stark rückläufige Bedeutung haben die Versorgungsempfänger auch bei den ehemaligen Bundesunternehmen Bahn und Post (Bundespost und Telekom), währenddessen sowohl beim Bund als auch bei den Gemeinden Zahl und Anteil der Beamt:innen und entsprechend der Versorgungsempfänger weniger stark ins Gewicht fallen. Verfolgt man die Entwicklung der Zahl der Versorgungsempfänger seit 1980, so sind es wiederum die Länder, die den stärksten Anstieg aufweisen. Die Bildungsexpansion seit 1970 wie auch die Verstärkung der Polizei haben zu einer deutlichen Erhöhung der Zahl der Beamt:innen in diesen Bereichen geführt, der im Zeitverlauf dann die Versorgungsempfänger folgen Die Leistungen der Beamtenversorgung summieren sich nach den Berechnungen des Sozialbudgets im Jahr 2018 auf ein Gesamtvolumen von 60,3 Milliarden Euro. Dies entspricht 5,8 % aller Sozialleistungen bzw. 1,8 % des Bruttoinlandsprodukts. Berechnungsverfahren und Höhe der Pensionen Die Alterssicherung der Beamt:innen ist als sog. bifunktionales System ausgestaltet. Damit ist gemeint, dass das Ruhegehalt sowohl Regelsicherung als auch gleichzeitig eine (betriebliche) Zusatzversorgung sein soll (also sozusagen gleichzeitig die erste und zweite Schicht umfasst). Infolge dieser doppelten Zielsetzung ist das Versorgungsniveau von vornherein deutlich höher als bei der Rentenversicherung, die sich nur als Regelsicherung versteht. Zwar können GRV-Rentner noch zusätzlich eine Betriebsrente erhalten, so dass sich auch ihr Versorgungsniveau erhöht. Aber diese Aufstockung fällt in aller Regel niedrig aus und gilt zudem keinesfalls obligatorisch, sondern nur dann, wenn überhaupt eine Betriebsrente gewährt wird. Bei

Regelsysteme neben der Rentenversicherung

1019

der Beamtenversorgung hingegen greift diese Bifunktionalität automatisch und für alle. •



• •



Die Berechnung des Ruhegehalts orientiert sich an der Dienstzeit und an der Höhe der letzten (ruhegehaltsfähigen) Dienstbezüge. Zur ruhegehaltsfähigen Dienstzeit zählen insbesondere Zeiten in einem Beamtenverhältnis, in einem privatrechtlichen Arbeitsverhältnis im öffentlichen Dienst sowie (in begrenztem Umfang) Ausbildungszeiten. Vorausgesetzt wird, dass das letzte Gehalt mindestens zwei Jahre vor der Pensionierung bezogen wurde. Der Unterschied zur Rentenversicherung ist offensichtlich: Während bei der GRV die Entgeltpunkte die lebensdurchschnittliche Einkommensposition widerspiegeln, ist bei der Beamtenversorgung das letzte Entgelt entscheidend. Das letzte Entgelt ist aber in aller Regel mit der im Lebensverlauf höchsten relativen Einkommensposition identisch (gerade bei einer Beamtenbesoldung, die sich auch nach dem Lebensalter bzw. dem Senioritätsprinzip richtet) und liegt damit oberhalb der lebensdurchschnittlichen Einkommensposition. Des Weiteren ist zu berücksichtigen, dass die Beamtenversorgung im Unterschied zur GRV keine Beitragsbemessungs- und Leistungsbemessungsgrenze kennt, so dass alle, also auch sehr hohe Einkommen, im Alter abgedeckt werden. Das Ruhegehalt beträgt für jedes Jahr der Dienstzeit 1,794 % der ruhegehaltsfähigen Dienstbezüge, es kann aber den Wert von 71,75 % nicht übersteigen, so dass nach 40 Jahren der höchstmögliche Wert erreicht wird. Die Höhe der Ruhegehälter wird entsprechend der Beamtenbesoldung dynamisiert. Die Beamtenversorgung sieht darüber hinaus einen Anspruch auf eine Mindestversorgung in Form eines Mindestruhegehaltes vor, der nach 5 Dienstjahren erreicht wird. Dies gilt aber nicht für Beamte auf Zeit, die gegebenenfalls nach ihrem Ausscheiden in der gesetzlichen Rentenversicherung nachversichert werden. Die Mindestversorgung beträgt 35 % der ruhegehaltsfähigen Dienstbezüge oder 65 % der Endstufe in der Besoldungsgruppe A4. Dies entspricht (2018) in etwa 1 690 Euro (für NRW/brutto/ledig). Analog dazu gibt es auch eine Mindesthinterbliebenensicherung.

Unterschiede zwischen Beamtenversorgung und GRV-Renten Im Ergebnis dieser Komponenten kommt es zu deutlich höheren Ruhegehältern in der Beamtenversorgung gegenüber den Versichertenrenten der GRV. Allerdings unterliegen die Beamtenpensionen voll der Besteuerung, während bei den gesetzlichen Renten die Besteuerung erst schrittweise eingeführt wird. Bei einem Vergleich von Renten und Pensionen ist auch zu beachten, dass im Ruhestand lebende Beamt:innen (wie auch die aktiven Beamt:innen) für die Kosten ihrer gesundheitlichen und pflegerischen Versorgung einen Zuschuss des Dienstherrn erhalten (Beihilfe). Da die Beihilfe aber nur einen Teil der Kosten abdeckt (in der Regel 70 %), müssen sich die Betroffenen ergänzend in einer privaten Kranken- und Pflegeversicherung absichern.

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Alter

Die Beiträge dafür müssen selbst bezahlt werden. Dies gilt auch für Hinterbliebene. Die Bruttopensionen mindern sich also noch um die Steuern und die Beiträge zur privaten Kranken- und Pflegeversicherung. Es bestehen diverse Verrechnungsregelungen mit gleichzeitig erzieltem Erwerbseinkommen sowie gegebenenfalls mit Renten aus der GRV sowie Betriebsrenten und Alterseinkünften aus berufsständischen Versorgungseinrichtungen. Die in der ersten Phase der Berufstätigkeit erworbenen Rentenanwartschaften bleiben dann erhalten, entsprechend mindert sich jedoch die Pension, um eine Überversorgung zu vermeiden. Die Strukturunterschiede in den Leistungsprinzipien zwischen Beamtenversorgung und GRV spiegeln sich sowohl im Versorgungsniveau als auch in der Schichtung der Alterseinkommen wider. Sie zeigen eine klare Besserstellung der ehemaligen Beamt:innen bzw. ihrer Hinterbliebenen: •

Die Sicherungsqualität der Mindestruhegehälter in der Beamtenversorgung kann exemplarisch an einer Gegenüberstellung mit den GRV-Renten verdeutlicht werden: Demnach lagen 2018 fast 80 % aller Versichertenrenten für Männer und sogar rund 99 % aller Versichertenrenten für Frauen unter dem Mindestruhegehaltsbetrag der Beamtenversorgung von 1 690 Euro (brutto/ledig). Bei diesem Vergleich muss berücksichtigt werden, dass es sich bei den gesetzlichen Renten um Zahlbeträge handelt (also bereits abzüglich der Sozialversicherungsbeiträge, nicht aber der Steuern), während die Pensionen in Bruttowerten ausgewiesen sind. • Die durchschnittlichen Brutto-Ruhegehaltsbezüge bei Bund, Ländern und Gemeinden machten 2017 bei den Männern rund 3 000 Euro aus, bei den Frauen etwa 2 470 Euro. Die Durchschnittshöhe der Renten aus der GRV lag weit niedriger – auch dann, wenn viele Versicherungsjahre vorliegen. Bei dem Vergleich der Durchschnittsgrößen ist allerdings zu berücksichtigen, dass die Unterschiede auch auf strukturellen Faktoren beruhen: Das Einkommensniveau der Beamten ist höher als das der in der GRV versicherten Arbeitnehmer, da die Beschäftigten im Beamtenstatus weit überwiegend mit höherwertigen Tätigkeiten beauftragt sind und einen qualifizierten schulischen und beruflichen Abschluss aufweisen. So befinden sich in den Gebietskörperschaften die Mehrzahl der Versorgungsempfänger im höheren und gehobenen Dienst (z. B. in den Bundesländern 85 %). In den ehemaligen Staatsbetrieben hingegen dominieren die Beschäftigten im unteren und mittleren Dienst. Altersgrenzen und Dienstunfähigkeit Die Regelaltersgrenze steigt in der Beamtenversorgung seit 2012 – vergleichbar zur Rentenversicherung – schrittweise von 65 Jahren auf 67 Jahre. Für Beamt:innen der Polizei und für Einsatzkräfte der Berufsfeuerwehr oder in Justizvollzugsanstalten gilt eine besondere Altersgrenze von 60 Jahren. Auch für Berufssoldaten gelten beson-

Regelsysteme neben der Rentenversicherung

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dere, niedrigere Altersgrenzen, die je nach Dienstgrad und Beschäftigungsbereich variieren. Vergleichbar zur Rentenversicherung gibt es noch Möglichkeiten eines vorzeitigen Ausscheidens aus dem Dienst: Zwei Jahre vor der Regelaltersgrenze kann ein „Ruhestand auf Antrag“ gewährt werden. Für Schwerbehinderte liegt diese Antragsaltersgrenze fünf Jahre vor der Regelaltersgrenze. Bei einer vorgezogenen Pension werden Versorgungsabschläge in Höhe von 0,3 % je Monat bzw. 3,6 % je Jahr abgezogen. Für Schwerbehinderte betragen die Abschläge maximal 10,8 %. Dienstunfähigkeit liegt vor, wenn ein/e Beamter/Beamtin aus gesundheitlichen Gründen oder aufgrund seines/ihres körperlichen Zustandes dauerhaft unfähig ist, die dienstlichen Pflichten zu erfüllen. Im Unterschied zur GRV erfolgt aber kein Verweis auf den allgemeinen Arbeitsmarkt oder auf eine Tätigkeit mit niedrigeren Qualifikationsanforderungen. Die Versetzung in den Ruhestand erfolgt, wenn aufgrund eines ärztlichen Gutachtens die Dienstunfähigkeit attestiert worden ist. Bei einer „begrenzten Dienstunfähigkeit“ wird davon ausgegangen, dass ein Beamter unter Beibehaltung des bisherigen Amtes die Dienstpflichten noch mindestens mit der Hälfte der regelmäßigen Arbeitszeit erfüllen kann. Auch bei einer Dienstunfähigkeit, sofern sie mehr als zwei Jahre vor der Regelaltersgrenze erfolgt, werden Abschläge bis zu maximal 10,8 % in Anrechnung gebracht. Zukünftige Finanzierungsbelastungen Für die Zukunft lässt sich ein stark steigender Finanzaufwand für die Beamtenversorgung voraussagen. Dies ist insbesondere auf die in den 1970er Jahren erfolgten vielen Neueinstellungen vor allem in den Ländern und mit Schwerpunkten im gehobenen und höheren Dienst zurückzuführen. Diese Beamt:innen werden in den nächsten Jahren aus dem aktiven Dienst ausscheiden, während sich auf der anderen Seite der Personalbestand im öffentlichen Dienst über viele Jahre hinweg rückläufig entwickelt hat. Es ist abzusehen, dass die Pensionszahlungen zu einer erheblichen Belastung der öffentlichen Haushalte führen werden. Ein immer größer werdender Teil der Steuereinnahmen muss daher für die Finanzierung von Ruhegehältern und Hinterbliebenengeld ausgegeben werden. Einzelne Bundesländer und auch der Bund sind deshalb dazu übergegangen, durch Einrichtung von Pensionsfonds für neu eingestellte Beamt:innen die Versorgungsausgaben teilweise vorzufinanzieren. Wenn das Pensionsalter erreicht ist, sollen dann diese Rücklagen schrittweise aufgelöst werden. Allerdings erfolgen die Einzahlungen in diese Pensionsfonds teilweise nur nach Kassenlage. Wie bei der Rentenversicherung so ist es auch bei der Beamtenversorgung in den zurückliegenden Jahren zu Einschnitten ins Leistungsniveau gekommen. Politisches Ziel war es dabei, es zwar bei den unterschiedlichen Systemen zu belassen (also die gesonderte Beamtenversorgung weiterzuführen), aber die Belastungen, die die Rentner der GRV zu tragen haben, „wirkungsgleich“ auf die Beamtenversorgung zu über-

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tragen. Ob dies tatsächlich der Fall ist, wird streitig diskutiert. Zu erwähnen sind hierbei insbesondere: • Absenkung des Höchstversorgungssatzes von 75 % im Jahr 2001 auf 71,75 %, • Anhebung der besonderen Altersgrenzen und Einführung von Abschlägen bei einem vorzeitigen Ruhestand, • Anhebung der Regelaltersgrenze ab 2012 schrittweise auf 67 Jahre, • Absenkung des Versorgungssatzes bei der Hinterbliebenenversorgung. 7.2

Alterssicherung der Landwirte

Die Alterssicherung der Landwirte ist kein Teil der GRV, sondern ein eigenständiger Zweig der Sozialversicherung. Träger sind die landwirtschaftlichen Alterskassen, die jeweils bei den landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaften eingerichtet sind. Pflichtversichert sind all diejenigen landwirtschaftlichen Unternehmer, für die die Tätigkeit als selbstständiger Landwirt oder Forstwirt, Winzer, Gartenbauer und dergleichen eine ausreichende Existenzgrundlage bildet. Seit 1995 sind ebenfalls mitarbeitende Familienangehörige des Unternehmers und seines Ehegatten pflichtversichert. Das sozialpolitische Ziel, dass Landwirte und ihre Angehörigen ein ausreichendes Einkommen im Alter erhalten, hat zugleich auch agrarpolitische Hintergründe. Da die Zahlung von Altersrenten erst erfolgt, wenn der landwirtschaftliche Betrieb aufgegeben oder abgegeben worden ist, wird eine Überalterung und auch Zergliederung der Betriebe verhindert. Die Alterssicherung der Landwirte gewährt Leistungen, die denen der gesetzlichen Rentenversicherung ähnlich sind: • Renten wegen Alters, • Renten wegen Erwerbsminderung, • Witwen- bzw. Witwerrenten und Waisenrenten und • Leistungen zur Teilhabe (medizinische Rehabilitation). Außerdem werden Betriebs- und Haushaltshilfen oder Überbrückungshilfen gezahlt, damit das Unternehmen bei Krankheit oder Tod des Unternehmers weitergeführt werden kann. Im grundsätzlichen Unterschied zur gesetzlichen Rentenversicherung stellt allerdings die Alterssicherung der Landwirte bei ihren Leistungen lediglich auf eine Teilsicherung ab. Dies schlägt sich sowohl in der Höhe der Beiträge als auch im Niveau der Renten nieder. Um einen ausreichenden Lebensunterhalt im Alter sicherzustellen, bedürfen die Renten der Alterssicherung der Landwirte deshalb einer individuellen Ergänzung, etwa durch Altenteilleistungen, Pachteinnahmen, Ansprüche aus der gesetzlichen Rentenversicherung oder der privaten Vorsorge.

Regelsysteme neben der Rentenversicherung

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Die durchschnittliche Rentenhöhe, hier bezogen auf die Regelaltersrente, liegt deshalb recht niedrig. So erhielten im Jahr 2017 Unternehmer im Durchschnitt eine Rente von 476 Euro, Ehegatten von 270 Euro und Familienangehörige von 184 Euro. Finanziert wird die Alterssicherung der Landwirte über Beiträge im Umlageverfahren. In der Alterssicherung der Landwirte standen Mitte 2017 insgesamt 590 Tausend Empfängern von Alterssicherungsleistungen ab 65 Jahren nur noch 200 Tausend Versicherte gegenüber Der Bund beteiligt sich deshalb – begründet vor allem mit agrarstrukturpolitischen Argumenten – mit einer Defizitdeckung. 2016 beliefen sich die Gesamtausgaben auf 2,8 Milliarden Euro. Die Beiträge in der Alterssicherung der Landwirte sind einkommensunabhängig. Der monatliche Beitrag wird jährlich durch Rechtsverordnung festgesetzt. Er beträgt im Jahr 2017 für Landwirte, Ehegatten von Landwirten und freiwillig Versicherte jeweils 241 Euro (neue Bundesländer: 219 Euro). 7.3

Künstlersozialversicherung

Einen Spezialfall unter den Sondersystemen der Alterssicherung stellt die Pflichtversicherung für selbstständige Künstler:innen und Publizist:innen dar. Diese im Jahr 1983 eingeführte Künstlersozialversicherung (KSV) ist Teil der gesetzlichen Sozialversicherung. Sie ermöglicht den Zugang nicht nur zur gesetzlichen Rentenversicherung, sondern auch zur Kranken- und Pflegeversicherung. „Künstler ist, wer Musik, darstellende oder bildende Kunst schafft, ausübt oder lehrt; Publizist ist, wer als Schriftsteller, Journalist oder in anderer Weise publizistisch tätig ist“ (§ 2 KSVG). Eine exakte Definition ist gesetzlich nicht vorgegeben, so dass in Zweifelsfällen die Künstlersozialkasse entscheidet. Die Versicherungspflicht ist dabei an ein jährliches Mindesteinkommen aus selbstständiger Tätigkeit gebunden, das spätestens drei Jahre nach Aufnahme der Tätigkeit 3 900 Euro erreichen muss. Im Jahr 2016 waren gut 184 000 Personen versichert. Sie verteilen sich auf die Bereiche Bildende Kunst (35 %), Musik (28 %), Wort (24 %) und darstellende Kunst (13 %). Für die Versicherungsveranlagung und die Beitragserhebung ist die Künstlersozialkasse zuständig: es handelt sich hierbei eine unselbstständige, jedoch haushaltsund vermögensmäßig gesonderte Einrichtung, die in die Unfallkasse des Bundes eingegliedert ist. Die Künstlersozialversicherung wird hälftig durch die Beiträge der Versicherten (im Sinne von Arbeitnehmerbeiträgen), und zur anderen Hälfte durch eine Künstlersozialabgabe sowie durch einen Zuschuss des Bundes finanziert. Die Höhe der Beitragssätze entspricht den allgemeinen Regelungen der Sozialversicherungszweige, Bemessungsgrundlage für die Beitragszahlung ist das (angegebene) Einkommen aus der künstlerischen oder publizistischen Tätigkeit. Bei der Künstlersozialabgabe handelt es sich um eine pauschal umgelegte Abgabe, die die Künstlersozialkasse bei den Verwertern oder Auftraggebern von Kunst und Publizistik erhebt (Verlage, Hersteller von Ton-, Bild- und Filmträgern, Werbe-

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agenturen, Theater, Museen, Radio- und Fernsehsendern usw.). Diese Einbindung der wirtschaftlichen Nutznießer von künstlerischen Dienstleistungen in die Finanzierung der Alterssicherung von Selbstständigen ist eine Besonderheit im deutschen Sozialstaat. Sie gilt in der aktuellen Debatte um die Erwerbstätigenversicherung aber wiederholt als Beispiel, wenn die Frage zu beantworten ist, wer die Beiträge für die sog. kleinen Selbstständigen (Solo-Selbstständige) zahlt. Das Leistungsrecht entspricht dem der gesetzlichen Rentenversicherung (wie auch der Kranken- und Pflegeversicherung). Das heißt, dass ein Künstler mit einem nur sehr geringen Jahreseinkommen – z. B. in Höhe des Mindesteinkommens von 3 900 Euro jährlich oder 325 Euro im Monat – auch nur wenig Entgeltpunkte erreicht und damit im Alter eine nur sehr niedrige Rente erhält. Grundlegendes Problem der Künstlersozialversicherung ist die mangelnde Zahlungsbereitschaft der Verwerter und Auftraggeber. Viele Firmen drücken sich vor der Sozialabgabe, so dass wachsende Finanzierungsprobleme aufgetreten sind. 2012 ist die Künstlersozialabgabe von 3,9 % auf 5,2 % angehoben worden. Im Jahr 2017 wurde der Satz dann wieder auf 4,8 % gesenkt. Ziel der Politik ist es deshalb, ein nachhaltiges Kontrollsystem für die Unternehmen einzuführen. 7.4

Berufsständische Versorgungswerke

Bei der berufsständischen Altersversorgung handelt es sich um eine auf einer gesetzlichen Pflichtmitgliedschaft beruhende Altersversorgung für in Kammern organisierte freie Berufe, die durch einzelne Versorgungswerke erbracht wird. Berufsständische Versorgungswerke leisten Alters-, Berufsunfähigkeits- und Hinterbliebenenrenten u. a. für folgende Berufsgruppen: Ärzte, Zahnärzte, Tierärzte, Apotheker, Architekten, Notare, Rechtsanwälte, Steuerberater, Wirtschaftsprüfer, psychologische Psychotherapeuten und Ingenieure. Leistungsziel der berufsständischen Altersversorgung ist die Sicherung des Lebensstandards auf der Grundlage des versicherten und verbeitragten Einkommens. Es dominiert das Versicherungs- und Äquivalenzprinzip. Die für die gesetzliche Rentenversicherung typischen Elemente eines sozialen Ausgleichs finden sich bei der berufsständischen Altersversorgung nicht. Die Finanzierung beruht auf dem Kapitaldeckungsverfahren (Anwartschaftsdeckungsverfahren bzw. Deckungsplanverfahren): Die Beitragseinnahmen werden kapitalbildend angelegt, die Leistungen werden zum Teil aus dem Kapitalstock finanziert. Öffentliche (steuerfinanzierte) Zuschüsse gibt es bei der berufsständischen Altersversorgung nicht. Die Zahl der beitragsleistenden Mitglieder lag Ende 2016 bei etwa 950 000 Personen, wobei den Ärzten (einschließlich Zahn- und Tierärzte) die mit Abstand größte Bedeutung zukommt. Die Zahl der Rentenempfänger betrug 2015 gut 221 000 Personen, die durchschnittliche Höhe der Altersrente lag bei 2 177 Euro/Männer bzw. 1 733 Euro/Frauen.

Betriebliche und private Altersvorsorge

8

1025

Betriebliche und private Altersvorsorge

Die betriebliche wie auch die private Altersvorsorge hatten traditionellerweise die Aufgabe, die Leistungen der Rentenversicherung aufzustocken. Diese Ergänzungsfunktion war bis zur Rentenreform von 2001 maßgebend. Seitdem hat sich das Sicherungsziel verändert: Die Leistungen sollen gemeinsam mit der privaten Vorsorge einen Ausgleich für die im Niveau abgesenkten gesetzlichen Renten darstellen und Versorgungslücken abdecken. Um einen möglichst großen Verbreitungsgrad zu erreichen, erfolgt eine staatliche Förderung der zweiten und dritten Schicht der Alterssicherung – durch Entlastungen bei den Steuer- und Beitragsabzügen oder durch Zulagen. 8.1

Betriebliche Altersvorsorge

Zwar beruht die betriebliche Altersvorsorge, auch als betriebliche Altersversorgung zu benennen, auf dem Grundsatz der Freiwilligkeit: Es ist die Entscheidung eines Unternehmens, ob den Mitarbeiter:innen eine betriebliche Altersversorgung zugesagt wird. Aber die Beschäftigten haben gegenüber dem Unternehmen das Recht auf den Aufbau einer Betriebsrente, soweit sie die Finanzierung durch eine Entgeltumwandlung selbst übernehmen. 8.1.1 Ausgestaltungsformen und Durchführungswege

Die privatrechtliche Grundlage der betrieblichen Altersvorsorge (bAV) führt dazu, dass nicht von „der“ Betriebsrente gesprochen werden kann. Im Unterschied zur gesetzlichen Rentenversicherung, bei der das Leistungs- und Finanzierungsrecht exakt festgelegt sind, ergeben sich vielfältige Ausgestaltungsformen. Dies betrifft nicht nur die Frage, welche Beschäftigten in welchen Betrieben und Branchen Ansprüche erwerben, sondern auch die Art der abgedeckten Risiken (Alter, Erwerbsminderung, Tod), die Anspruchsvoraussetzungen sowie die Höhe der Rente und das Verfahren ihrer Berechnung und Anpassung. Schließlich gibt es verschiedene Durchführungswege, d. h. Organisationsformen der betrieblichen Altersvorsorge, die wiederum mit je spezifischen steuer- und beitragsrechtlichen Vorschriften verbunden sind. Diese Vielgestaltigkeit wird jedoch durch rechtliche Rahmenbedingungen begrenzt. Durch das Betriebsrentengesetz sind wichtige Aspekte wie u. a. Insolvenzsicherung und Unverfallbarkeit gesetzlich festgelegt. Zudem wirken sich steuerrechtliche Regelungen direkt und indirekt auf die Angebote der betrieblichen Altersvorsorge aus. Zu berücksichtigen sind schließlich kollektivvertragliche Regelungen in Form von Betriebsvereinbarungen oder Tarifverträgen, die die bAV nicht nur für einzelne Betriebe, sondern auch für einzelne Branchen und Beschäftigungsbereiche regeln – hinsichtlich u. a. des Kreises der Anspruchsberechtigten, der Leistungsbedingungen

1026

Alter

sowie der Art der Finanzierung. Solche umfassenden Tarifverträge finden sich für die Beschäftigten im öffentlichen Dienst (Zusatzversorgung im öffentlichen Dienst) und in der Bauwirtschaft (Zusatzversorgungskasse des Versorgungswerks SOKA-Bau). Tarifverträge regeln zudem die Entgeltumwandlung. Da eine Betriebsrente aus dem Arbeitsverhältnis abgeleitet ist, lässt sie sich als eine besondere, aufgeschobene Form der Vergütung bezeichnen, für die der Betrieb eine Zusage gibt. Um diese Zusage nicht nur beim Rentenbeginn, sondern über die gesamte Rentenlaufzeit hinweg, das heißt über viele Jahre und Jahrzehnte, garantieren zu können, muss ein entsprechender Kapitalstock vorhanden sein. Die bAV basiert damit zwingend auf bestimmten Formen des Kapitaldeckungsverfahrens. Eine Finanzierung nach dem Umlageverfahren scheidet für Unternehmen in der Privatwirtschaft aus. Eine Ausnahme bilden Direktzusagen. Zu unterscheiden ist, ob eine Betriebsrente durch den Arbeitgeber finanziert wird oder durch die Beschäftigten, indem sie dafür Teile ihres Arbeitsentgeltes einsetzen. Auch Mischformen sind möglich. Zu unterscheiden ist weiterhin, ob die Betriebsrente auf einer Leistungszusage oder einer Beitragszusage basiert. Bei Leistungszusagen sagt der Arbeitgeber seinem Beschäftigten eine Leistung in einer bestimmten Höhe zu, z. B. die regelmäßige Zahlung einer Rente, deren Höhe in der Regel von der Dauer der Betriebszugehörigkeit abhängt. Bei einer Beitragszusage besteht hingegen die Verpflichtung der Betriebe darin, regelmäßig Beiträge zum Aufbau eines Altersvorsorgekapitals zu zahlen. Zugesagt wird hier die sich aus der Beitragszahlung ergebende Leistung, deren Höhe aber nicht definiert wird, sondern vom Anlageerfolg abhängt. Die Risiken des Kapitalmarkts tragen bei Leistungszusagen also im Wesentlichen die Betriebe, bei Beitragszusagen im Wesentlichen die Beschäftigten. Organisation und Durchführung der bAV sind Aufgabe des Betriebes, nicht der Beschäftigten. Eine eigenständige Durchführung, abgesichert durch Rückstellungen, kommt jedoch nur bei Großunternehmen in Betracht. Kleine oder mittlere Betriebe bedienen sich meist eines externen Durchführungsweges wie zum Beispiel einer Pensionskasse, eines Pensionsfonds oder einer Direktversicherung. Der externe Versorgungsträger verwaltet dann den Vorsorgevertrag und zahlt später auch die Leistung an die ehemaligen Betriebsangehörigen aus. Aufgrund der kollektiven Abwicklung ist die bAV in der Regel effizienter als eine individuelle private Altersvorsorge (niedrige Kosten und damit günstigeres PreisLeistungs-Verhältnis) und für den Einzelnen auch einfacher und sicherer. Bei der Organisation der betrieblichen Altersvorsorge können sich die Unternehmen nach den Regelungen des Betriebsrentengesetzes für unterschiedliche Durchführungswege entscheiden: •

Bei Direkt- oder Pensionszusagen verpflichtet sich der Arbeitgeber, seinen Mitarbeitern unmittelbar aus dem Betriebsvermögen eine Altersrente zu zahlen. Um die Zusagen später auch finanzieren zu können, werden Rückstellungen gebildet,

Betriebliche und private Altersvorsorge



• •



1027

die den Gewinn (und damit auch die steuerlichen Belastungen) mindern. Für Direktzusagen gibt es keine Anlagevorschriften, sie unterliegen keiner gesetzlichen Aufsicht, das Unternehmen kann die Rückstellungen zinsfrei auch im Betrieb investieren (was ihre Finanzierungskosten bei Kreditbedarf reduziert). Eine Unterstützungskasse ist eine rechtlich selbstständige Versorgungseinrichtung, die die bAV im Auftrag des Arbeitgebers leistet, auf ihre Leistungen aber keinen Rechtsanspruch gewährt. Allerdings bleibt der Arbeitgeber, der die Versorgungszusage gemacht hat, gegenüber seinem Beschäftigten zur Leistung verpflichtet. Die Unterstützungskasse kann frei über das angesammelte Kapital verfügen und es z. B. dem Arbeitgeber als Darlehen zur Verfügung stellen. Unter Direktversicherung wird eine private Kapitallebens- oder Leibrentenversicherung verstanden, die das Unternehmen für seine Beschäftigten abschließt. Pensionskassen sind rechtlich selbstständige Versorgungseinrichtungen, quasi Versicherungsgesellschaften. Sie beschränken sich auf die betriebliche Altersvorsorge, können von einem Unternehmen oder einer Unternehmensgruppe getragen werden. Sie können aber auch als überbetriebliche Pensionskassen für einen größeren Kreis von Unternehmen offen sein. Pensionsfonds sind rechtlich selbstständige, vom Unternehmen getrennte Versorgungsträger, die als Investmentfonds arbeiten und im Unterschied zu Pensionskassen und Lebensversicherungen bei der Kapitalanlage ein deutlich höheres Anlagerisiko (z. B. durch einen hohen Aktienanteil) eingehen (können).

Einschränkungen bei der Wahl des Durchführungsweges und der Auswahl des Versorgungsträgers können sich aus tarifvertraglichen Regelungen ergeben. So muss der Arbeitgeber bei der Entgeltumwandlung zwischen den Durchführungswegen Direktversicherung, Pensionskasse oder Pensionsfonds wählen, weil nur diese die Voraussetzungen der Förderung erfüllen. 8.1.2 Unverfallbarkeit, Insolvenzsicherung, Rentenanpassung

Wenn das Arbeitsverhältnis, z. B. durch Kündigung, vor Eintritt des Versorgungsfalls endet, besteht eine Unverfallbarkeit der erworbenen Anwartschaften. Für Zusagen, die nach dem 31. Dezember 2000 erteilt wurden, behält der/die Arbeitnehmer:in eine unverfallbare Anwartschaft, wenn die Zusage bei Ausscheiden bereits 5 Jahre bestanden und der/die Arbeitnehmer:in bei Ausscheiden das 30. Lebensjahr vollendet hat. Wenn die Versorgungszusage nach 2004 erteilt wurde und diese über eine Pensionskasse, einen Pensionsfonds oder eine Direktversicherung durchgeführt wird, kann beim Wechsel des Arbeitsplatzes eine Übertragung der Anwartschaften auf den Versorgungsträger des neuen Arbeitgebers verlangt werden. Für Zusagen, die nach dem 31. Dezember 2008 erteilt wurden, hat der/die Arbeitnehmer:in eine unverfallbare Anwartschaft, wenn die Zusage bei Ausscheiden bereits 3 Jahre bestanden und der/ die Arbeitnehmer:in bei Ausscheiden das 21. Lebensjahr vollendet hat. Arbeitneh-

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Alter

mer:innen schließlich, die ihre Betriebsrente per Entgeltumwandlung selbst bezahlen, haben immer sofort einen Anspruch, der nicht verfallen kann. Soweit die Erfüllung von Versorgungszusagen von der Zahlungsfähigkeit des Arbeitgebers abhängig ist (so bei der Direktzusage, bei Unterstützungskassen und bei Pensionsfonds), besteht die gesetzliche Pflicht zur Insolvenzsicherung. Der Pensionssicherungsfonds des Pensions-Sicherungs-Vereins übernimmt für Unternehmen, die zahlungsunfähig sind, die laufenden Betriebsrenten und die unverfallbaren Rentenanwartschaften. Die Durchführungswege Direktversicherung und Pensionskasse stehen aufgrund ihrer Versicherungsförmigkeit unter der Aufsicht der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungen (BaFin). Eine regelgebundene Anpassung der Betriebsrenten an die Entwicklung der Einkommen (Dynamisierung), wie dies bei der gesetzlichen Rente der Fall ist, gibt es nicht. Um den Wert von Betriebsrenten vor den Folgen einer Inflation zu sichern, ist nach dem Betriebsrentengesetz aber vorgesehen, dass die Arbeitgeber alle drei Jahre eine Anpassung der laufenden Renten an die Entwicklung der Lebenshaltungskosten überprüfen müssen. Maßstab für die Überprüfung ist die wirtschaftliche Lage des Unternehmens. Eine Anpassung gilt als zu Recht unterblieben, wenn der Arbeitgeber die (schwierige) wirtschaftliche Lage des Unternehmens dargelegt hat. Die Anpassungspflicht entfällt, wenn • • •

der Arbeitgeber die laufenden Leistungen jährlich um mindestens 1 % erhöht, die bAV über eine Direktversicherung oder Pensionskasse durchgeführt wird und dabei vorgesehen ist, dass sämtliche Überschussanteile zur Erhöhung der laufenden Leistungen verwendet werden, eine Beitragszusage mit Mindestleistung erteilt wurde.

Wird die bAV über Entgeltumwandlung finanziert, muss die Rente entweder um 1 % pro Jahr erhöht werden oder es müssen die Überschüsse (im Falle einer Direktversicherung oder Pensionskasse) vollständig zur Erhöhung der Leistungen verwendet werden. 8.1.3 Entgeltumwandlung

Beschäftigte können einen Teil ihres Bruttoarbeitsentgelts für die betriebliche Altersvorsorge aufwenden. Diese Entgeltumwandlung ist durchaus attraktiv, da die Beträge steuer- und beitragsfrei gestellt, Brutto- und Nettobetrag also identisch sind. Im Gegenzug ist die spätere Rentenzahlung einkommensteuerpflichtig und unterliegt grundsätzlich den Beiträgen zur gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung. Der Anspruch auf beitragsfreie Entgeltumwandlung reicht bis zu 4 % der Beitragsbemessungsgrenze in der gesetzlichen Rentenversicherung. Steuerfrei können bis zu 8 % gestellt werden. Da die Beitragsbemessungsgrenze dynamisiert ist, d. h. jährlich an die allgemeine Lohnentwicklung angepasst wird, erhöhen sich im Laufe der Jahre

Betriebliche und private Altersvorsorge

1029

dementsprechend auch die maximalen Beträge der steuer- und beitragsfreien Entgeltumwandlung. Der Rechtsanspruch auf Entgeltumwandlung unterliegt einem Tarifvorbehalt. Tarifgebundene Arbeitnehmer:innen können eine Entgeltumwandlung aus Tariflohnbestandteilen nur vornehmen, wenn der Tarifvertrag das zulässt. Die Tarifparteien schließen entweder einen entsprechenden Tarifvertrag ab, der die Entgeltumwandlung regelt, oder sie vereinbaren eine entsprechende Öffnungsklausel. Dabei besteht die Möglichkeit, die Entgeltumwandlung mit speziellen Regelungen hinsichtlich des Durchführungsweges der betrieblichen Altersversorgung zu verbinden. Der Arbeitgeber kann als Durchführungsweg die Pensionskasse oder den Pensionsfonds vorgeben. Bietet er keinen dieser beiden Durchführungswege an, kann der/die Arbeitnehmer:in die Durchführung über eine Direktversicherung verlangen. Durch die Entgeltumwandlung mindern sich neben den Arbeitnehmerbeiträgen auch die Arbeitgeberbeiträge zur Sozialversicherung. Auch der Arbeitgeber profitiert also davon. Gleichwohl finden sich nur vereinzelt Regelungen, bei denen die Arbeitgeber ihren eingesparten Beitragsanteil an die Beschäftigten zum Aufbau der betrieblichen Altersvorsorge weiterleiten. Seit 2018 gilt jedoch, dass bei einer Entgeltumwandlung jenseits der reinen Beitragszusage Arbeitgeber verpflichtet sind, den ersparten Arbeitgeberbeitrag zur Sozialversicherung in Höhe von 15 % des sozialversicherungsfreien Entgelts an die Versorgungseinrichtung zu zahlen. Der Tarifvorrang hat den Anstoß für eine Fülle von speziellen Tarifverträgen gegeben, die die Entgeltumwandlung regeln. Verträge finden sich nicht nur in den großen Industriebranchen (Metall- und Elektroindustrie, Stahlindustrie, chemische Industrie, Bauwirtschaft) mit einer hohen Zahl von Beschäftigten, sondern auch in vielen eher kleinen Tarifgebieten wie u. a. in einzelnen Bereichen des Handwerks und im Dienstleistungssektor. Die Tarifverträge legen fest, welche tariflichen Einkommensbestandteile umgewandelt werden können, ob sich der Arbeitgeber an der Finanzierung beteiligt und welche Durchführungswege möglich sind. Um die Abwicklung der Entgeltumwandlung zu erleichtern, haben in einer Reihe von Tarifbereichen die Tarifvertragsparteien branchenspezifische und zum Teil branchenübergreifende Versorgungswerke gegründet – so die „MetallRente“ (eine gemeinsame Einrichtung von Industriegewerkschaft Metall und dem Arbeitgeberverband Gesamtmetall) oder das „Chemie-Versorgungswerk“ (eine gemeinsame Einrichtung der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie und der ChemieArbeitgeber). Diese Einrichtungen fungieren als Dienstleistungseinrichtungen; sie werden nicht selbst operativ tätig, sondern beauftragen Versicherungs- und Finanzdienstleistungsunternehmen mit der Durchführung von Direktversicherung, Pensionskassen und Pensionsfonds. Den Vorteilen der Entgeltumwandlung stehen deren Nachteile gegenüber. Denn die Minderung des beitragspflichtigen Arbeitsentgelts hat zugleich zur Folge, dass sich entsprechend auch die sozialversicherungsrechtlichen Leistungsansprüche mindern. Das Arbeitslosengeld, das Krankengeld und auch die spätere Altersrente fallen

1030

Alter

niedriger als bei einer vollen Verbeitragung aus. Eine Versorgungslücke im Alter hinsichtlich der gesetzlichen Rente vergrößert sich also. Ob die höheren Ansprüche aus der Betriebsrente diese Verluste ausgleichen, bleibt hingegen offen. Probleme entstehen vor allem bei Erwerbsminderungsrentner:innen, denen in ihrer betrieblichen Altersvorsorge kein entsprechender Anspruch zusteht, weil in aller Regel nur das Risiko Alter abgedeckt ist. Wenig beachtet wird der Effekt, dass die beitragsbefreite Entgeltumwandlung sich negativ auf die Höhe der Rentenanpassungen auswirkt. Denn die Entwicklung der sozialversicherungspflichtigen Entgelte und damit die Basis der Rentenanpassung fallen niedriger aus als bei einer vollen Verbeitragung. Damit sinkt das – ohnehin abgesenkte – Rentenniveau. Belastet werden dadurch alle Versicherten und Rentner:innen – unabhängig davon, ob sie von der Entgeltumwandlung überhaupt Gebrauch machen konnten bzw. aktuell machen. 8.1.4 Verbreitung und Rentenhöhe

Die Informationen über die Höhe der Betriebsrenten und über den Verbreitungsgrad der betrieblichen Altersversorgung sind begrenzt und wenig aktuell. Denn im Unterschied zur gesetzlichen Rentenversicherung gibt es bei den Betriebsrenten keine prozessproduzierten Daten. Auch fehlt bislang ein Meldeverfahren, das die Unternehmen verpflichtet, den statistischen Ämtern laufend Angaben über den Verbreitungsgrad von Betriebsrenten, die Höhe der Anwartschaften und die Höhe der Renten im Leistungsfall zu übermitteln. Insofern können Daten nur über (repräsentative) Befragungen erhoben werden. In Frage kommen hier der Mikrozensus oder Sondererhebungen. Die differenziertesten Befunde liefern die Sondererhebungen von Infratest bzw. die Studien „Alterssicherung in Deutschland“ (ASID) mit Daten für das Jahr 2015 sowie die Trägerbefragung zur betrieblichen Altersversorgung mit Daten für das Jahr 2015. Verbreitungsgrad Der Verbreitungsgrad der bAV (in der Privatwirtschaft und im öffentlichen Dienst) lag 2015 bei rund 57 % der versicherungspflichtig Beschäftigten (vgl. Abbildung XI.19) Da geringfügige Beschäftigungsverhältnisse (Hauptbeschäftigung) nicht erfasst werden, lässt sich davon ausgehen, dass der Verbreitungsgrad bezogen auf alle Arbeitnehmer:innen bei etwa 50 % lag. Gegenüber 2001 zeigt sich dabei ein sichtbarer Anstieg, der aber ab 2011 nahezu zum Stillstand gekommen ist. Der Großteil der Anwartschaften bezieht sich dabei auf die Beschäftigten des öffentlichen Dienstes und auf die öffentlichen Zusatzversorgungsträger. Hier gibt es einen hohen, tarifvertraglich abgesicherten Verbreitungsgrad. Demgegenüber bestehen bei den Beschäftigten in der Privatwirtschaft große Absicherungslücken. Die Verbreitung der betrieblichen Altersvorsorge hängt in einem hohen Maße von der Größe und der Branchenzugehörigkeit der Betriebe ab (vgl. Abbildung XI.20). Je

Betriebliche und private Altersvorsorge

Abbildung XI.19 2001 – 2015

1031

Anzahl der aktiven Anwartschaften der betrieblichen Altersversorgung

70 in % der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten (rechte Achse)

20 58,7

17,10

58,8

58,0

17,40

17,60

17,60

57,0 17,70

50

15 13,62

in Mio.

60

in %

48,7

59,0

40

10

30

20 5 10

0

2001

2011

2012

2013

2014

2015

0

Quelle: Bundesministerium für Arbeit und Soziales (2016), Alterssicherungsbericht.

größer der Betrieb, umso häufiger finden sich bei den Beschäftigten Versorgungsanwartschaften. Zwei Extreme können diesen Zusammenhang illustrieren: In Betrieben mit 1 bis 9 Mitarbeiter:innen haben 28 % der Beschäftigten Anwartschaften, in Betrieben mit 1 000 Mitarbeiter:innen und mehr liegt der Verbreitungsgrad bei 83 %. Bei den Branchen stehen die Bereiche Kredit/Versicherungen (81 %), Verarbeitendes Gewerbe (63 %) und Bergbau/Steine/Erde/Energie (60 %) an der Spitze. Selten zu finden – mit jeweils etwa 20 % der Beschäftigten – ist die betriebliche Altersvorsorge in den Bereichen Gastgewerbe, sonstige wirtschaftliche Dienstleistungen und Kunst/ Unterhaltung (außerhalb des öffentlichen Dienstes) Zu bedenken ist, dass der zu einem Zeitpunkt (so 2015) gemessene Verbreitungsgrad der bAV noch keine Aussage über die Höhe der Anwartschaften und die späteren Renten zulässt. Nicht bekannt ist, • seit wieviel Jahren eine Anwartschaft besteht, • ob sie bis zum Ende der Erwerbstätigkeit fortgeführt wird, • welche Höhe Leistungszusagen oder Beitragszusagen aufweisen, • inwieweit auch die Risiken von Erwerbsminderung und Hinterbliebenenabsicherung abgedeckt sind.

1032

Alter

Abbildung XI.20 Beschäftigte mit einer betrieblichen Altersvorsorge nach Betriebsgröße 2015 in % der Beschäftigten in der Privatwirtschaft

1000 und mehr

83%

500 bis 999

65%

250 bis 499

58%

50 bis 249

44%

10 bis 49

38%

1 bis 9

28%

0%

10%

20%

30%

40%

50%

60%

70%

80%

90%

Ohne geringfügig Beschäftigte Quelle: Bundesministerium für Arbeit und Soziales (2016), Alterssicherungsbericht.

Der Verbreitungsgrad der Betriebsrenten, die aktuell ausgezahlt werden, liegt noch deutlich niedriger als der Verbreitungsgrad der Anwartschaften: Von den über 65jährigen bezogen im Jahr 2015 lediglich 31 % der Männer und 8 % der Frauen eine eigene Betriebsrente. In den neuen Ländern waren es sogar nur 5 % der Männer und 1 % der Frauen. Unterscheidet man nach Altersjahrgängen, so steigen die Betriebsrentenzahlungen bei den jüngeren Kohorten; dies aber im Wesentlichen nur bei den Männern, kaum bei den Frauen. Höhe der ausgezahlten Renten Wie hoch die Betriebsrente im Leistungsfall ist bzw. sein wird, lässt sich nicht allgemeingültig feststellen, da die Berechnung der Rente zum einen von den jeweiligen betriebsspezifischen bzw. tarifvertraglichen Vereinbarungen abhängt (Leistungszusage oder Beitragszusage), zum anderen aber auch vom Anlageerfolg und von der Entwicklung auf dem Kapitalmarkt. Nach den Befunden der Erhebung „Alterssicherung in Deutschland“ (2015) zeigt sich bei der Höhe der Bruttoleistungen eine ausgeprägte Spreizung der Zahlbeträge: In den alten Bundesländern stehen neben hohen Leistungen einerseits sehr niedrige Leistungen andererseits gegenüber. Zugleich wird

Betriebliche und private Altersvorsorge

1033

Abbildung XI.21 Verteilung der Betriebsrenten 2015, alte und neue Bundesländer 30 25

Männer

Frauen

Ø: 615 €

Ø: 249 €

22

20

19

19

15

18

15 12

10 5

Alte Bundesländer

26

9

7

9

9 6

6

0 35

7 4

4

4

3

37

30 29

25

Neue Bundesländer

31

Männer

Frauen

Ø: 211 €

Ø: 115 €

23

20 15 10

14

13 10

11

5 0

9 6

bis 50

50-100

100-200

200-300

300-400

6

0

400-500

6 0 500 - 750

1

0

750 - 1.000

2

2

1.000 u. mehr

Quelle: Bundesministerium für Arbeit und Soziales (2016), Alterssicherungsbericht.

sichtbar, dass die hohen Leistungen weit überwiegend von Männern bezogen werden: 24 % der Männer, aber nur 7 % der Frauen erhielten eine Betriebsrente von mehr als 750 Euro. Für den größten Teil der Männer und den weit überwiegenden Teil der Frauen fallen die Betriebsrenten aber nur sehr niedrig aus: Weniger als 200 Euro erhielten 41 % der Männer und 67 % der Frauen (vgl. Abbildung XI.21). In den neuen Bundesländern gibt es so gut wie keine Betriebsrenten, die höher als 750 Euro liegen. Weniger als 200 Euro erhielten 66 % der Männer und 81 % der Frauen. Es zeigt sich, dass diese Verteilungsstruktur nicht etwa zu einer Korrektur der durch die Leistungsprinzipien in der GRV bedingten Einkommensunterschiede im Alter beiträgt. Die bAV begünstigt vor allem solche Arbeitnehmergruppen, die ohnehin hohe Ansprüche aus der GRV realisieren können. 8.1.5 Sozialpartnermodell

Seit 2018 ist ein weiterer Durchführungsweg der bAV eröffnet worden, das sog. Sozialpartnermodell. Es ist an das Zusammenwirken von Arbeitgeber(verbänden) und Gewerkschaften im Rahmen von Tarifverträgen und/oder Betriebsvereinbarungen gebunden. Es bleibt abzuwarten, in welchem Maße von dieser neuen Alterssicherungsform Gebrauch gemacht werden wird. Das Sozialpartnermodell sieht eine reine Beitragszusage („pay and forget“) vor, ohne subsidiäre Haftung des Arbeitgebers statt der bisherigen (und weiter gelten-

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Alter

den) Zusagen (Leistungszusage, beitragsorientierte Leistungszusage, Beitragszusage mit Mindestleistung). Nach der Beitragszusage ist der Arbeitgeber nur verpflichtet, die zugesagten Beiträge an einen externen Versorgungsträger (Pensionsfonds, Pensionskasse oder Direktversicherung) zu zahlen. Dabei gilt ein ausdrückliches Verbot der Zusage einer bestimmten Versorgungsleistung (Mindest- oder Garantieleistungen). Das Anlagerisiko wird demnach auf die Beschäftigten verlagert; die Höhe der Betriebsrente wird nicht nur beim Erstbezug, sondern auch während der Auszahlungsphase allein abhängig vom Erfolg der Kapitalanlage. Als Ausgleich des entfallenen Haftungsrisikos sollen (und nicht müssen) die Arbeitgeber im Rahmen tarifvertraglicher Regelungen einen Sicherungsbeitrag an den Versorgungsträger zahlen, der nicht unmittelbar den einzelnen Arbeitnehmer:innen zugerechnet wird. Bei einer Entgeltumwandlung für eine reine Beitragszusage im Rahmen des Sozialpartnermodells jedoch muss der Arbeitgeber als Ausgleich für die eingesparten Sozialversicherungsbeiträge (Arbeitgeberbeitrag) einen Zuschuss in Höhe von 15 % des sozialversicherungsfreien Entgelts an die Versorgungseinrichtung zahlen. Der Abschluss einer betrieblichen Altersvorsorge bleibt freiwillig. Aber ein sog. Optionssystem zielt in die Richtung eines Obligatoriums. Eröffnet wird die Möglichkeit einer tarifvertraglich geregelten automatischen Entgeltumwandlung, die alle Beschäftigten eines Betriebes (oder auch einzelne Gruppen) umfasst. Die Beschäftigten können dann innerhalb bestimmter Fristen widersprechen (opting-out). Die reine Beitragszusage kann nur durch Tarifvertrag vorgenommen oder durch Tarifvertrag in einer Betriebs- bzw. Dienstvereinbarung zugelassen werden. Die Tarifvertragsparteien müssen sich an der Durchführung und Steuerung dieser Betriebsrente beteiligen, sie können dazu gemeinsame Einrichtungen gründen bzw. vorhandene nutzen. Nutzung bzw. Anwendung der einschlägigen tariflichen Regelungen sind jedoch auch für nicht tarifgebundene Arbeitgeber und Beschäftigte möglich. 8.1.6 Zusatzversorgung im öffentlichen Dienst

Im Gegensatz zur betrieblichen Altersversorgung in der Privatwirtschaft beziehen die öffentlich-rechtlichen Zusatzversorgungssysteme alle Arbeiter:innen und Angestellte des öffentlichen Dienstes als Pflichtmitglieder unabhängig von Status, Geschlecht etc. ein. Hinzu kommen die Beschäftigten im mittelbaren öffentlichen Dienst und bei solchen Arbeitgebern, die das Tarifrecht des öffentlichen Dienstes anwenden. Der größte Träger der Zusatzversorgung ist die Versorgungsanstalt des Bundes und der Länder (VBL). Daneben bestehen noch 24 Zusatzversorgungskassen des kommunalen und kirchlichen Dienstes, die unter dem Dach der Arbeitsgemeinschaft kommunale und kirchliche Altersversorgung (AKA) zusammengefasst sind. In der VBL waren 2018 über 5 300 öffentliche Arbeitgeber (Bund, Länder, Kommunen, Träger der Sozialversicherung u. a.). Erfasst waren gut 4,7 Mio. aktiv und passiv (beitragsfrei) Versicherte. Es wurden 1,4 Mio. Renten gezahlt.

Betriebliche und private Altersvorsorge

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Das Leistungsrecht in der Zusatzversorgung ist für alle Beschäftigten weitgehend gleich. Die Versicherungsfälle entsprechen denen in der GRV, ebenso die Abschläge, die bei einem vorgezogenen Rentenbeginn erhoben werden. Die Zusatzrente berechnet sich nicht mehr (wie vor 2002) nach dem Endgehalt, berücksichtigt wird vielmehr die gesamte Arbeitsleistung. Dazu werden ganz ähnlich wie beim Verfahren der Entgeltpunkte in der GRV jährlich Versorgungspunkte ermittelt, deren Anzahl von der individuellen Entgeltposition und vom Lebensalter der Beschäftigten abhängt. Im Rentenfall werden die Versorgungspunkte durch deren Multiplikation mit einem Messbetrag in eine monatliche Betriebsrente umgerechnet. Infolge des Systemwechsels haben auch Arbeitnehmer:innen des öffentlichen Dienstes Anspruch auf die staatliche Förderung der betrieblichen und privaten Altersvorsorge. Die Finanzierung erfolgt aus den Umlagen der Arbeitgeber und einem Umlagebeitrag der Arbeitnehmer. Einige Kassen arbeiten dabei voll umlagefinanziert, einige mischfinanziert und einige inzwischen voll kapitalgedeckt. Auch die Höhe der Umlagen bzw. Beiträge ist unterschiedlich. Hinzu kommen Unterschiede in der steuerlichen Behandlung der Beiträge im Kapitaldeckungsverfahren gegenüber Umlagen im Umlageverfahren. 8.2

Private Altersvorsorge

Die private Altersvorsorge beruht auf Freiwilligkeit. Die Ausgestaltung der Verträge obliegt (begrenzt durch gesetzliche Vorschriften) den Vertragsparteien. Einen umfassenden Überblick über die private Vorsorge gibt es deshalb im Unterschied zur gesetzlichen Rente nicht. 8.2.1 Grundlagen

Auf die reine Vermögensbildung und die Bereitstellung einer möglichst hohen Kapitalsumme konzentrieren sich Bankprodukte (Spareinlagen, Sparverträge), Wertpapiere (Aktien, festverzinsliche Anleihen) und Investment-Fonds. Eine weitere wichtige und verbreitete Form von Vorsorgeprodukten stellen Lebensversicherungen und private Rentenversicherungsverträge dar. Auch der Erwerb von Wohneigentum (selbst genutztes Wohneigentum, vermietete Eigentumswohnung, Immobilienfonds) kann als Altersvorsorge dienen. Die im Folgenden dargestellten Produkte können einen Teil der Altersversorgung darstellen, müssen es aber nicht zwingend. Diese Produkte können auch der Vermögensanlage dienen, etwa mit der Absicht des Vererbens. Sparpläne, Aktien, Anleihen, Fonds Bei Sparplänen wird durch (in der Regel kontinuierliche) Einzahlungen ein Guthaben angespart. Es kann sich dabei zum einen um einen Banksparplan mit festgelegter Verzinsung handeln. Der Zinssatz kann von der Laufzeit oder dem Spar-

1036

Alter

betrag abhängig sein. Die Risiken sind gering (Schutz durch die Einlagensicherung der Kreditinstitute), die Erträge sind allerdings auch eher begrenzt. Zusätzliche Kosten (Vertriebs- und Abschlusskosten) entstehen in der Regel nicht. Sparpläne können sich zum anderen auch auf Anleihen- und Aktiensparpläne bzw. die entsprechenden Fonds beziehen. Die Wertentwicklung von Aktien, Anleihen und der Fonds ist dabei entscheidend von der Entwicklung der Aktien- und Kapitalmärkte abhängig. Die Risiken sind entsprechend hoch, da keine Verzinsung/Rendite garantiert wird und auch Totalverluste möglich sind. Lebensversicherungen und private Rentenversicherungen Da die Lebensdauer für den Einzelnen und damit der Zeitraum für die Auflösung des Kapitalstocks nicht kalkulierbar sind, bleibt die Frage offen, welche Höhe der Vermögensbestand für die Altersversorgung erreichen muss. Bei einem langen Leben können sich so selbst hohe Rücklagen als unzureichend erweisen. Auch bleibt das Risiko einer frühzeitigen Erwerbsminderung oder eines Todes des Hauptverdieners bzw. Unterhalt leistenden Ehepartners unberücksichtigt. Diese durch die reine Vermögensbildung nicht abgedeckten sog. biometrischen Risiken (Invalidität, vorzeitiger Tod, langes Leben) lassen sich durch die Einschaltung von Versicherungen ausgleichen. Durch versicherungsmathematische Verfahren werden die Risiken der Versichertengemeinschaft kalkulierbar gemacht und ausgeglichen. Die Versicherten zahlen Prämien und erhalten ab einem vereinbarten Zeitpunkt die Zahlung. Hinsichtlich der Art der Kalkulation, der Risiken, der Anlage der Versichertengelder und auch der Vertriebsformen sind von der Versicherungswirtschaft unterschiedliche Produkte entwickelt worden. Diese müssen – sofern sie in Deutschland angeboten werden – bestimmte Bedingungen erfüllen und vom Bundesversicherungsamt genehmigt werden. Zu unterscheiden ist dabei zwischen Risiko-Lebensversicherungen, Kapital-Lebensversicherungen und privaten Rentenversicherungen: •

Die Risikolebensversicherung ist eine Versicherung auf den Todesfall. Bei vorzeitigem Tod wird die vereinbarte Versicherungssumme fällig. • Bei einer Kapitallebensversicherung werden Todesfallabsicherung (Tod des Versicherten vor Ablauf der vereinbarten Laufzeit) und Sparanlage kombiniert. Ein (kleinerer) Teil der Beiträge dient dem Todesfallschutz, der andere zum Aufbau des Vorsorgekapitals ähnlich einem Sparvertrag mit langer Laufzeit. Erlebt die versicherte Person den Ablauf der Versicherungsdauer (z. B. 65. Lebensjahr), wird die Erlebensfallleistung als Kapitalbetrag oder wahlweise auch als Rente ausgezahlt. • Bei einer privaten Rentenversicherung wird mit dem Erreichen der Altersgrenze eine monatliche Rente solange gezahlt, wie der Versicherte lebt (Prinzip der lebenslangen Rente). Dadurch kann das biometrische Risiko der Unwägbarkeit der Lebensdauer abgesichert werden. Ein Erwerbsminderungsschutz (vorzeitige Erwerbs- oder Berufsunfähigkeit) wie auch ein Todesfallschutz (Hinterbliebenen-

Betriebliche und private Altersvorsorge

1037

rente) sind bei der privaten Rentenversicherung in der Regel nicht vorgesehen. Im Unterschied zur gesetzlichen Rentenversicherung lassen sich diese Erweiterungen des Versicherungsschutzes nur gegen Zahlung einer zusätzlichen Prämie oder um den Preis niedrigerer Leibrentenleistungen erreichen. Die Finanzierung der privaten Rentenversicherung erfolgt normalerweise durch regelmäßige Beiträge, aber auch durch die Zahlung eines Einmalbeitrages. Die Höhe der Prämien bei den unterschiedlichen Formen der Lebensversicherung orientiert sich vor allem am Risiko des langen Lebens. Angesichts steigender Lebenserwartung wird insofern die private Rentenversicherung geradezu automatisch kontinuierlich teurer. Die Kalkulation nach Maßgabe der Lebenserwartung würde auch bedeuten, dass Frauen entsprechend ihrer geringeren Sterbewahrscheinlichkeit bei gleichen Prämien eine niedrigere Rente erhalten müssten. Dies allerdings ist entsprechend EU-Recht nicht zulässig. Möglich sind nur die so genannten Unisex-Tarife. Der Markt der Lebensversicherungen ist in einzelnen Bereichen gesetzlich reguliert. So müssen die Versicherungen im Sinne des Verbraucher- und Anlegerschutzes ihr Kapital in risikoarmen Formen anlegen (vor allem Staatsanleihen und Immobilien). Sie sind zudem verpflichtet, bei Vertragsabschluss eine Mindestverzinsung (Garantiezins) zu gewährleisten. Dieser Garantiezins orientiert sich an den Durchschnittsrenditen auf dem Kapitalmarkt und ist entsprechend der allgemeinen Kapitalmarktentwicklung in den letzten Jahren deutlich gefallen. Er liegt für Neuverträge ab 2017 nur noch bei 0,9 % (1999 waren es noch 4 %). Altverträge sind davon nicht betroffen. Erwirtschaften die Versicherungen Überschüsse, die über den Garantiezins hinausgehen, werden diese den Verträgen gutgeschrieben (Überschussbeteiligung). Die Höhe der Überschüsse liegt nicht fest, sondern hängt wesentlich von der Kapitalmarktentwicklung und der Anlagepolitik des Unternehmens ab. Zu rechnen ist deshalb nur mit den wirklich garantierten Leistungen und nicht mit prognostizierten Überschüssen. Gerade in den Jahren seit 2008 (Weltfinanz- und Bankenkrise) haben viele Gesellschaften ihre Überschussbeteiligung zum Teil drastisch gekürzt. Und angesichts der andauernden Niedrigzinsphase wird es für einige Anbieter sogar schwierig, den Garantiezins der Altverträge zu finanzieren. Die Höhe des im Erlebensfall ausgezahlten Kapitalbetrags bzw. der Rente hängt ab von der Sparsumme, die sich über die Vertragszeit hinweg angesammelt hat, und deren Verzinsung durch Garantiezins und Überschussbeteiligung. Die Sparsumme ist jedoch nicht identisch mit der Summe der eingezahlten Prämien/Beiträge. Abgezogen werden müssen der Kostenanteil und (bei Lebensversicherungen) der Risikoanteil, die beide nicht zur Kapitalbildung zur Verfügung stehen, sondern laufend verbraucht werden. Der Kostenanteil beinhaltet die laufenden Verwaltungs- und Inkassokosten und die einmaligen Abschlusskosten, die letzteren werden in der Regel in den ersten Jahren der Laufzeit angerechnet. Der Risikoanteil deckt das Todesfallrisiko ab. Welcher Prozentsatz des Beitrags tatsächlich kapitalbildend angelegt wird, ist kaum ermittelbar und verallgemeinerbar. Im Schnitt dürfte der Sparanteil

1038

Alter

bei weniger als 85 % der eingezahlten Beiträge liegen. Da sich Garantiezins und Überschussbeteiligung nur auf den Sparanteil beziehen, liegen die tatsächlichen Renditen, die sich aus den Beiträgen an eine Lebens- bzw. Rentenversicherung erzielen lassen, deutlich niedriger als der Garantiezins. Mit höheren Renditechancen, aber auch mit hohen Risiken, sind sog. fondsgebundene Lebens- oder Rentenversicherungen verbunden. Bei diesen wird der Sparanteil der bezahlten Prämien in Fondsanteile angelegt. Je nach Art der ausgewählten Fonds (Aktien- oder Rentenfonds) nimmt der Versicherungsnehmer direkt an der Entwicklung der Aktien bzw. der Rentenpapiere teil. Insofern besteht die Chance auf Kursund Wertgewinne. Andererseits wachsen auch die Risiken. Da es keine Garantie auf Börsengewinne gibt, kann es bei einer negativen Kursentwicklung durchaus dazu kommen, dass erhebliche Verluste entstehen und die Leistung noch unterhalb der eingezahlten Beitragssumme liegt. Eine Garantieverzinsung gibt es bei fondsgebundenen Lebens- oder Rentenversicherungen nicht. Die bei der gesetzlichen Rente vorgesehene automatische Anpassung der Leistungen an die Einkommensentwicklung (Dynamisierung) gibt es bei der privaten Rentenversicherung nicht. Vertraglich lassen sich zwar Anpassungsklauseln vereinbaren (etwa einen jährlichen Erhöhungssatz der Renten um einen bestimmten Prozentsatz); diese Vereinbarung muss jedoch durch eine geringere Höhe der Eingangsrente oder durch entsprechend höhere Prämien bezahlt werden. Selbst bei einer niedrigen Inflationsrate führt die fehlende Dynamisierung zu einem erheblichen Kaufkraftverlust. Ein Beispiel: Wird mit Erreichen der Altersgrenze eine Rente in konstanter Höhe von 400 Euro gezahlt, sinkt deren realer Wert/Kaufkraft bei zwei % Inflation pro Jahr nach 10 Jahren auf etwa 333 Euro und nach 20 Jahren auf rund 267 Euro. Zu besonderen Problemen führt eine Kündigung des Vertrags. Rückerstattet wird lediglich der Sparanteil, gemindert um Stornoabzüge (Rückkaufswert). Werden die Abschlusskosten wie üblich in den ersten Jahren nach Vertragsbeginn angerechnet, ist in der Anfangszeit der Versicherung noch kein Rückkaufswert vorhanden. Es entsteht ein Totalverlust der eingezahlten Beiträge. Soweit keine Sparbeträge zurückgelegt bzw. die Versicherungsprämien nicht gezahlt werden können, wird keine private Altersabsicherung aufgebaut. Auch wenn mit der privaten Vorsorge zu spät begonnen wird, lassen sich keine relevanten Leistungen erwarten, da der Zinseszinseffekt entsprechend gering ausfällt. Zu bedenken ist schließlich, dass es bei der privaten Altersvorsorge einen Ausgleich für fehlende Zahlungsfähigkeit infolge von Notlagen oder besonderen Lebenslagen nicht gibt. Es zählen allein die tatsächlich geleisteten Sparbeträge und Prämien, die Renditen und (bei einer Versicherung) die individuellen Risiken. Für den Fall, dass wegen Arbeitslosigkeit oder aus anderen Gründen die vertraglich vorgesehenen Beitragszahlungen (vorübergehend) nicht möglich sind, kann mit den Versicherungsgesellschaften oder den Banken in der Regel ein Ruhen des Vertrages vereinbart werden.

Betriebliche und private Altersvorsorge

1039

8.2.2 Staatliche Förderung (Riester-Rente)

Seit der Rentenreform 2001 ist es zum ausdrücklichen Ziel der staatlichen Sozialpolitik geworden, die private, kapitalmarktabhängige Alterssicherung auszuweiten, die individuelle Vorsorgefähigkeit und -bereitschaft durch staatliche Fördermaßnahmen zu stärken und durch Regulierung, d. h. Normierung der Produkte für die Anlagesicherheit Sorge zu tragen. Die Regelungen sind im Einkommensteuergesetz verankert. Zum geförderten Personenkreis bei der Riester-Rente (Walter Riester war damals verantwortlicher Bundesarbeitsminister) zählen vor allem die rentenversicherungspflichtigen Personen (einschließlich Bezieher von Lohnersatzleistungen und Versicherte während der Kindererziehungs- und Pflegezeiten). Einen abgeleiteten Anspruch haben Ehepartner von berechtigten Personen. Das trifft vor allem auf nicht erwerbstätige Ehefrauen zu. Verbreitung Vergleichbar zur betrieblichen Altersvorsorge sind auch die Informationen über die geförderte private Altersvorsorge sehr begrenzt. Die Anbieter sind weder verpflichtet, im Detail Angaben über Art, Verbreitungsgrad, Bedienung der Verträge zu machen noch über die Renditen, die Höhe und mögliche Anpassung der ausgezahlten Leistungen Auskunft zu geben. Von der Zulagenstelle für Altersvermögen liegen nur (wenig aktuelle) Angaben über die Zahl der Sparer und die Zulagenhöhe vor. Repräsentative und detaillierte Daten zur Struktur der Geförderten sind nur über (ausreichend große) Umfragen erhältlich, wie über das Sozio-ökonomische Panel (SOEP) und die Studie „Sparen und Altersvorsorge in Deutschland“ (SAVE). Hinzu kommt, dass eine wirkliche Bilanz erst dann gezogen werden kann, wenn eine ausreichend hohe Anzahl von Personen eine Riester-Rente erhält. Derzeit befindet sich die weit überwiegende Zahl der Geförderten noch in der Beitrags- bzw. Ansparphase. In der erst später einsetzenden Anspruchs- und Auszahlungsphase wird sichtbar werden, mit welcher Realverzinsung (Berücksichtigung der Preissteigerungen) der eingezahlten Beiträge (Eigenbeiträge und Zulagen) nach Abzug der Verwaltungs- und Abschlusskosten gerechnet werden kann und wie es um die Leistungsanpassung in den Jahren und Jahrzehnten nach Rentenbeginn nach Maßgabe der Inflations- und Einkommensentwicklung steht. Unbekannt ist auch, ob die geförderte private Altersvorsorge tatsächlich zusätzlich erfolgt oder ob und in welchem Maße es sich um Mitnahmeeffekte handelt, indem eine bisher schon praktizierte, aber nicht geförderte anderweitige Vorsorge auf die geförderte Vorsorge umgeschichtet worden ist. Verbreitung Nach Angaben des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales lagen Ende 2019 rund 16,5 Mio. (zertifizierte) Verträge vor (vgl. Abbildung XI.22), wobei eine Person auch mehrere Verträge aufweisen kann; die Zahl der Zulagenempfänger ist deshalb

1040

Alter

Übersicht XI.6 Grundlagen der Riester-Förderung Förderungsfähig sind bestimmte Anlageformen die von der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungen (BaFin) eine Zertifizierung erhalten, eine lebenslange Auszahlung vorsehen und bei Auszahlung mindestens die Summe der eingezahlten Beträge (Eigenbeiträge und Zulagen) garantieren (Nominalwertgarantie). Dazu zählen gehören insbesondere • Rentenversicherungen und fondsgebundene Rentenversicherungen, • Fondssparpläne und Banksparpläne, • eine Altersvorsorge durch den Erwerb einer Immobilie („Wohn-Riester“). Anlagen, die nur eine Kapitalauszahlung vorsehen, werden nicht gefördert. Allerdings ist eine bis zu 30 %ige Teilauszahlung bei Rentenbeginn möglich. Es gelten geschlechtsneutrale Tarife (Unisex-Tarife): Frauen und Männer erhalten bei gleichen Beiträgen auch die gleichen monatlichen Leistungen. Die Förderung besteht aus dem Sonderausgabenabzug oder der Altersvorsorgezulage. Es gilt die sog. Günstigerprüfung: Fällt die steuerliche Ersparnis durch den Sonderausgabenabzug größer aus als die Zulage, wird der Differenzbetrag vom Finanzamt erstattet bzw. mit der Steuerschuld verrechnet. Die Zulage setzt sich zusammen aus einer Grundzulage und einer Kinderzulage. • Die jährliche Grundzulage beträgt (seit 2018) für Alleinstehende 175 Euro, für Verheiratete 350 Euro. Bei einem Ehepaar muss aber jeder Ehegatte einen Vertrag abschließen. Für Berufseinsteiger (die ihr 25. Lebensjahr noch nicht vollendet haben) erhöht sich die Grundzulage um 200 Euro auf 375 Euro. • Die Kinderzulage (für kindergeldberechtigte Kinder) liegt für bis 2007 geborene Kinder bei 185 Euro und für ab 2008 geborene Kinder bei 300 Euro. Voraussetzung für die Zahlung der Zulagen ist ein Mindesteigenbeitrag von 4 % des Vorjahresbruttoeinkommens. Da die Zulage hierbei eingerechnet ist, muss die erforderliche Sparleistung von 4 % nicht allein aufgebracht werden. Der Sockelbetrag liegt bei 60 Euro pro Jahr. Werden die Mindest- bzw. Sockelbeträge nicht geleistet, erfolgt eine anteilige Kürzung der Zulagen. Private Altersvorsorgebeiträge können bis zu bestimmten Höchstbeträgen als Sonderausgaben geltend machen. Der Maximalbetrag liegt (seit 2008) bei 2 100 Euro im Jahr. Vor allem für Besserverdienende erweist sich der Sonderausgabenabzug als sehr vorteilhaft: Wenn einem kinderlosen Riester-Sparer allein wegen seiner Beitragszahlungen zu einer privaten Vorsorge eine Steuererstattung von 600 Euro zusteht, dann beträgt der ihm gewährte Steuervorteil (600 − 154 = 446 Euro). Damit profitiert er dann weit mehr vom „Riestern“ als ein Geringverdiener, der nur die Grundzulage von 175 Euro erhält. Die Anbieter müssen ihre Kunden in einheitlicher Form über die wesentlichen Merkmale der Altersvorsorgeprodukte informieren.

geringer als die Zahl der Verträge. Bei der Mehrzahl der Verträge (65,5 %) handelt es sich um geförderte (Lebens-)Versicherungsverträge. Demgegenüber haben Banksparverträge (3,6 %), Investmentfondsverträge (20,0 %) und die sog. Wohn-RiesterVerträge (10,9 %) eine geringere Bedeutung. Die Daten lassen bis 2012 einen starken Anstieg der geförderten privaten Altersvorsorge erkennen. Danach flacht der Boom merklich ab, und seit 2013 bleibt die Zahl der Verträge nahezu unverändert – obgleich die Zahl der Erwerbstätigen und auch der prinzipiell Leistungsberechtigten deutlich angestiegen ist. Außerordentlich hoch ist die Zahl der nicht bedienten Verträge. Mitte 2018 war jeder fünfte (20 %) der 16,6 Millionen Verträge ruhend gestellt. Es werden also weder Beiträge einbezahlt, noch die staatlichen Zulagen bezogen.

Betriebliche und private Altersvorsorge

Abbildung XI.22

1041

Geförderte private Altersvorsorge (Riester-Verträge) 2001 – 2019 in Mio.

15,4

13,4 12,2 10,9

.

8,1 1,2

5,7

3,4 3,1

4,0 3,5

4,3

0,5

16,3

16,5

16,6

16,6

16,6

16,5

1,2

1,4

1,6

1,7

1,8

1,8

1,8

3,0

3,0

3,0

3,1

3,1

3,2

3,2

3,3

3,3

0,8

0,8

0,8

0,8

0,8

0,8

0,7

11,0

11,1

0,7

11,0

11,0

11,0

0,6

10,9

10,9

10,8

10,8

2011

2012

2013

2014

2015

2016

2017

2018

2019

0,7

0,5

Insgesamt

Wohn-Riester

2,8

2,6

0,7 0,6 0,6

16,0

1,0

14,5

2,4

1,9

15,8

10,5

Investmentfondsverträge Banksparverträge

9,9

9,3

8,5

0,4 6,6

0,6 4,9

3,8

1,4 1,4

2001

Versicherungsverträge 2002

2003

2004

2005

2006

2007

2008

2009

2010

Quelle: Bundesministerium für Arbeit und Soziales (2019).

Auch wenn bei einer freiwilligen Regelung keine Verbreitungsquote von 100 % erwartet werden kann, weil z. B. die Beschäftigten im rentennahen Alter oder die Personen mit einer als ausreichend angesehen betrieblichen Altersversorgung auf das Riestern verzichten, so zeigen die Daten doch, dass der Ansatz des Paradigmenwechsels in der Alterssicherung, nämlich die private Vorsorge als einen flächendeckenden Ersatz für die sinkenden Leistungen der Rentenversicherung vorzusehen, nicht erreicht worden ist. Nach wie vor hat – trotz aller anfänglichen Dynamik in den Verbreitungsquoten – eine deutliche Mehrheit der Anspruchsberechtigten keine Riester-Verträge abgeschlossen. Zudem flacht der „Riester-Boom“ merklich ab und ist mittlerweile rückläufig. Förderhöhe, Zulagenempfänger Zur Frage, ob von den Riester-Sparern der förderrechtlich maximale Beitrag (seit 2008 sind dies 4 % des Bruttoarbeitsentgelts) auch geleistet, d. h. dann auch, ob die mögliche Förderhöhe wirklich ausgeschöpft wurde, zeigen Analysen, dass in den ersten Jahren die Mehrheit derer, die überhaupt „geriestert“ haben, den Zulagenanspruch in einem hohen Maße ausgeschöpft hat. Dieser Anteil nimmt jedoch ab. So haben im Beitragsjahr 2015 kaum mehr als die Hälfte der Zulagenempfänger (53,3 %) den erforderlichen Mindesteigenbeitrag geleistet und die volle Zulage realisiert. Untersucht man die Zulagenempfänger nach der Einkommensstruktur, zeigt sich, dass

1042

Alter

die Empfänger mit einem niedrigen Einkommen den größten Teil der Geförderten ausmachen. Hingegen werden – wenig überraschend – die steuerlichen Entlastungen erwartungsgemäß von Beziehern höherer Einkommen wahrgenommen. Die RiesterFörderung ist insofern so angelegt, dass sie von den intendierten Verteilungswirkungen her für die unteren Einkommensgruppen einen höheren Förderanteil bringt als für die mittleren Einkommensgruppen. Die oft zu hörende Aussage, dass die Riester-Rente vor allem von Geringverdienern genutzt wird, ist jedoch irreführend. Diese Zahlen geben zwar die Anteile der Personen nach Einkommensgruppen an den Zulagenempfängern wieder, aber erlauben keine Aussage zur Nutzung innerhalb der Einkommensgruppen (Beteiligungsquote). Vielmehr ist davon auszugehen, dass unter den Geringverdienern der Anteil der Riester-Sparer kleiner ist als in den anderen Altersgruppen. Im Ergebnis lässt sich feststellen, dass gerade diejenigen Gruppen, die aufgrund ihrer Arbeitsmarktlage eine nur geringe Altersrente zu erwarten haben, tendenziell am wenigsten bereit bzw. in der Lage sind, die Niedrigrenten durch eine Riester-Rente aufzustocken. Die geringe Nutzung der Riester-Förderung im unteren Einkommensbereich kann durchaus ihre Rationalität haben: Wurden doch die Riester-Renten – wie auch die gesetzlichen Renten – bislang voll und ganz auf die Grundsicherung im Alter angerechnet. Wer also im Alter ein so geringes Einkommen hat, dass er bedürftig wird und Anspruch auf Leistungen der Grundsicherung im Alter, für den hat sich weder die gesetzlich verpflichtete Vorsorge über Beiträge zur Rentenversicherung noch die private Vorsorge gelohnt. Seit 2018 gibt es jedoch Freibeträge. Der Grundbetrag beträgt 100 Euro zuzüglich 30 % des überschießenden Betrags bis maximal 50 % des Bedarfs der Regelbedarfsstufe 1. Anrechnungsfrei bleiben ausschließlich Leistungen der zusätzlichen Altersvorsorge (Betriebs-und Riesterrenten sowie Renten aus einer freiwilligen GRV-Versicherung oder einer Versicherungspflicht auf Antrag. Die Aufwendungen des Staates für die Zahlung der Zulagen (wie auch die Mindereinnahmen durch die steuerliche Förderung) weisen hohe Beträge auf. So wurden im Jahr 2016 rund 2,8 Mrd. Euro an Zulagen ausgezahlt – gegenüber 1,4 Mrd. Euro noch im Jahr 2007. Die steuerliche Förderung schlägt mit Kosten von etwa 1,1 Mrd. Euro zu Buche. Renditen Gewährleistet ist bei der Riester-Rente, dass der Anbieter zu Beginn der Auszahlungsphase mindestens die Summe der eingezahlten Beträge (Eigenbeiträge und Zulagen) garantieren muss. Eine solche Nominalgarantie ist jedoch mit erheblichen Realverlusten verbunden, wenn die Inflationsentwicklung berücksichtigt wird. Noch problematischer ist die Situation für jene, die ihren Vertrag vorzeitig auflösen wollen bzw. müssen. Hier ist sogar mit hohen Nominalverlusten zu rechnen. Auch wenn nicht zu erwarten ist, dass am Beginn der Auszahlungsphase lediglich der Nominalwert zur Verfügung steht, so ist doch zweifelhaft, ob die Riester-Renten eine ausreichend hohe reale Verzinsung bzw. Rendite aufweisen. Die zu Beginn der

Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung

1043

Riester-Rente verbreitete fast euphorische Einschätzung einer durchschnittlichen Realverzinsung/-rendite von 4 % ist in den letzten Jahren durch eine zunehmend kritische Einschätzung abgelöst worden. Kritisch gesehen werden vor allem folgende Aspekte: • • • • •

9

Die Riester-Verträge weisen teilweise so hohe Abschluss- und Verwaltungskosten auf, dass die Zulagen dadurch aufgezehrt werden und der verzinste Sparanteil entsprechend gering ausfällt. Die hohen Kosten werden durch intransparente Ausgestaltung der Riester-Produkte verschleiert. Bei der Zertifizierung wird nicht geprüft, ob die Produkte eine wirtschaftliche Tragfähigkeit aufweisen und gute Renditechancen haben. Bei den Verträgen werden hohe Risikozuschläge und überzogene Annahmen zur Entwicklung der Lebenserwartung bzw. der Sterblichkeit kalkuliert. Durch die Rücknahme des Garantiezinses auf mittlerweile 0,9 % sinkt für Neuabschlüsse die gewährleistete Verzinsung noch unter das Inflationsniveau. Auch von einer Überschussbeteiligung ist nicht mehr viel zu erwarten, da die Versicherungsunternehmen aufgrund der Niedrigzinsphase und der Verwerfungen auf den internationalen Kapitalmärkten bei sicheren Staatsanleihen nur noch Zinsen in äußerst geringer Höhe erhalten. Die Gefahr ist nicht von der Hand zu weisen, dass bei einem Fortdauern dieser Entwicklung die für die Altverträge noch verbindlichen hohen Garantiezinsen künftig nicht mehr gezahlt werden können.

Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung

Die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung kann als vierte Schicht der Alterssicherung in Deutschland bezeichnet werden. Sie ist Teil der Systeme der Grundsicherung insgesamt und beruht damit auf den Prinzipien von Bedarfsdeckung und Bedürftigkeit (vgl. dazu Kapitel „Einkommen“, Pkt. 6.1). Anspruch auf Grundsicherung besteht dann, wenn bei älteren Menschen sowie bei Erwerbsgeminderten Hilfebedürftigkeit festgestellt wird, d. h. wenn die anzurechnenden Einkommen und das verwertbare Vermögen nicht ausreichen, um das soziokulturelle Existenzminimum abzudecken. Gesetzestechnisch ist die Grundsicherung im Alter Teil des Sozialhilferechts (SGB XII), weist allerdings einige Besonderheiten auf. So lässt sich im Unterschied zur Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II) und auch zur Hilfe zum Lebensunterhalt, die beide grundsätzlich nur als vorübergehende Nothilfe gedacht sind, die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung als eine Dauerleistung verstehen. Dies kommt auch darin zum Ausdruck, dass die Leistungen in aller Regel von vornherein für die Dauer eines Jahres bewilligt werden, da nicht davon auszugehen ist, dass bei älteren Menschen eine kurzfristige Veränderung der Einkommenslage eintritt. Außerdem muss nicht die Arbeitskraft eingesetzt werden, um Hilfebedürftigkeit zu vermeiden.

1044

9.1

Alter

Empfängerkreis, Bedarf und Bedürftigkeit

Anspruchsberechtigt sind: •



ältere Menschen ab Erreichen der Regelaltersgrenze der gesetzlichen Rentenversicherung: Der Bezug einer GRV-Rente ist dabei nicht entscheidend. Seit 2012, für Personen, die nach dem 31. 12. 1946 geboren sind, steigt im Zuge der Anhebung der Regelaltersgrenze in der gesetzlichen Rentenversicherung auch die Altersgrenze für die Grundsicherung im Alter schrittweise auf 67 Jahre an. dauerhaft voll Erwerbsgeminderte: Personen mit dem vollendeten 18. Lebensjahr, die wegen Krankheit oder Behinderung dauerhaft außer Stande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Dies entspricht der Regelung für die volle Erwerbsminderung in der gesetzlichen Rentenversicherung. Der Anspruch auf Grundsicherung ist jedoch nicht daran gebunden, ob die sonstigen Voraussetzungen für eine Erwerbsminderungsrente (Wartezeit) erfüllt sind.

Die Leistungen der Grundsicherung setzen sich zusammen aus dem Regelbedarf, den (angemessenen) Kosten der Unterkunft, Mehrbedarfen, einmaligen Leistungen und der Übernahme von Beiträgen zur Kranken- und Pflegeversicherung. Die Höhe der Regelbedarfe richtet sich nach den Regelungen im SGB XII/SGB II (vgl. Kapitel „Einkommen“ Pkt. 6.1.2). Mehrbedarfszuschläge in Höhe von 17 % des monatlichen Regelsatzes gelten für ältere Menschen ab Erreichen der Regelaltersgrenze sowie für voll erwerbsgeminderte Personen mit einem Schwerbehindertenausweis und dem Merkzeichen „G“ (Gehbehindert). Wie auch bei der Grundsicherung insgesamt so kann auch bei der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nicht „die“ Höhe des Gesamtbedarfs festgestellt werden. Durchschnittsbeträge verdecken, dass es sich um ein vergleichsweise breites Band unterschiedlicher Grundsicherungsniveaus handelt. Zwar kommen bei der Feststellung des Bedarfs bundeseinheitlichen Pauschalsätze (Regelbedarfe) zur Anwendung, Keiner Pauschalierung unterliegt indes die Höhe der übernommenen Warmmiete, hier erfolgt eine Bewertung des Einzelfalls, da die als angemessen geltenden Kosten der Unterkunft stark zwischen den Bundesländern, zwischen Stadt und Land und auch zwischen den Stadteilen und den Wohnungsstandards variieren. In Gebieten mit einem sehr hohen Niveau der Unterkunftskosten kann deshalb der Gesamtbedarf für einen Ein-Personen-Haushalt – einschließlich möglicher Sonderund Mehrbedarfe durchaus den Betrag von 1 100 Euro im Monat erreichen. Im Grundsatz werden sämtliche Einkommen, die in einem Haushalt zusammenfließen, auf den Grundsicherungsbedarf angerechnet. Ausnahmen bei der Einkommensanrechnung gelten u. a. für Leistungen nach dem Bundesversorgungsgesetz und Opferentschädigungsgesetz sowie für das Pflegegeld der Pflegeversicherung. Seit 2018 gibt es für Leistungen der zusätzlichen Altersvorsorge (Betriebs-, Riester-, Rürup-

Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung

1045

Renten sowie Renten aus einer freiwilligen GRV-Versicherung oder einer Versicherungspflicht auf Antrag) einen Freibetrag, der nicht zur Anrechnung kommt. Das vor der Hilfeleistung zu verwertende Vermögen umfasst das Grundvermögen, Geldvermögen und Sachvermögen. Bei der Anrechnung sind Einkommen und verwertbares Vermögen der zusammenlebenden Ehegatten gleichermaßen zu berücksichtigen. Eingetragene gleichgeschlechtliche Paare sowie Paare, die in einer eheähnlichen Gemeinschaft leben, werden Ehepaaren gleichgestellt. Vom Verwertungszwang ausgenommen ist allerdings das geschützte Vermögen. Eine im Rahmen der Riester-Rente öffentlich geförderte Altersvorsorge muss nicht aufgelöst werden. Im Regelfall werden weder Kinder von Grundsicherung beziehenden Senioren noch Eltern erwerbsgeminderter Kinder für ihre bedürftigen Angehörigen zur Kasse gebeten, es sei denn, ein Kind verdient nach Abzug von Werbungskosten oder Betriebsausgaben über 100 000 Euro im Jahr. Nur bei völliger Mittellosigkeit, wenn also überhaupt keine Renten oder andere Einkommen im Alter vorliegen, entspricht der Auszahlbetrag der Grundsicherung auch dem Bedarf, wie er sich aus der Addition von Regelbedarfen, Kosten der Unterkunft und möglichen Mehrbedarfen errechnet. In aller Regel liegt aber anzurechnendes Einkommen vor, so dass die Grundsicherung den Differenzbetrag zwischen dem eigenen Einkommen und dem Bedarf ausgleicht. In diesen Fällen kann von aufstockenden oder ergänzenden Grundsicherungsleistungen gesprochen werden. 9.2

Empfängerzahlen und -strukturen

Ende 2018 erhielten knapp 1,1 Million Personen Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung, darunter befanden sich zu 51,9 % (559 Tsd.) Personen, die die Regelaltersgrenze erreicht haben, und zu 48,1 % (519Tsd.) Personen im Alter zwischen 18 Jahren und der Regelaltersgrenze mit einer dauerhaften vollen Erwerbsminderung (vgl. Abbildung XI.23). Zwischen 2003 – seit der Einführung der Grundsicherung – und 2018 hat sich der Empfängerkreis um fast 150 % erhöht. Besonders stark zugenommen haben die voll Erwerbsgeminderten. Betrachtet man die Empfängerquoten, also den Anteil der Menschen, die Grundsicherungsleistungen beziehen, an der jeweiligen Gesamtbevölkerung, zeigt sich ein überraschendes Ergebnis (vgl. Abbildung XI.24): Die Grundsicherung im Alter hat eine vergleichsweise geringe Bedeutung. So bezogen 2018 nur 3,2 % der Älteren diese Leistung, 3,1 % der Männer und 3,3 % der Frauen. Der Anteil der Empfänger:innen an der jeweiligen Gesamtbevölkerung variiert sehr stark. Im besonderen Maße betroffen sind Personen in den nord- und westdeutschen Bundesländern, in den Stadtstaaten und in den Großstädten. Ursächlich für diese regionalen Differenzierungen ist zum einen, dass in den neuen Bundesländern die finanzielle Situation der Bestandsrentner:innen, insbesondere der Frauen, gegen-

1046

Alter

Abbildung XI.23 2003 – 2018 insgesamt

18 bis unter Regelaltersgrenze (voll erwerbsgemindert)

2017

559.419 519.102

2016

514.737 544.090

525.595 500.308

2015

1.078.521

1.058.827

1.025.903

2014

536.121 501.887

2013

512.198 490.349

497.433 464.754

2012

1.038.008

1.002.547

962.187

2011

464.066 435.780

2010

436.210 407.820

412.081 384.565

2009

Regelaltersgrenze und älter (65 Jahre, ab 2012: 65+)

899.846

844.030

796.646

2008

399.837 364.027

2007

409.958 357.724

2006

763.864

767.682

2005

392.368 340.234

370.543 311.448

342.855 287.440

293.137 232.897

257.734 181.097

2004

732.602

681.991

630.295

526.034

438.831 2003

Empfänger:innen von Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung

2018

Quelle: Statistisches Bundesamt (zuletzt 2019), Genesis online.

Abbildung XI.24

Empfängerquoten von Grundsicherung im Alter 2003 – 2018 3,3

Frauen

3

Frauen Männer

2

3,2

Insgesamt

1

3,2

Insgesamt

0

0,5

1

1,5

3,0

2

2,5

2,8

3,5

3,2

3,2

65 Jahre bzw. Regelaltersgrenze u. älter

2,5

2,0

3

3,1

2003 - 2018

2,5

1,5

2018

3,1

1,7

1,0 0,5 0,0

2003

2004

2005

2006

2007

2008

2009

2010

Quelle: Statistisches Bundesamt (zuletzt 2019), Genesis online.

2011

2012

2013

2014

2015

2016

2017

2018

Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung

1047

wärtig günstiger ist als in den alten Bundesländern. Zum anderen kommen in dem Nord-Süd- und Stadt-Land-Gefälle auch die unterschiedlichen ökonomischen und sozialen Strukturen zum Ausdruck. Und zu berücksichtigen sind schließlich die regional stark abweichenden Kosten der Unterkunft. Es zeigt sich, dass Empfänger:innen von einer niedrigen Rente in Regionen mit einem niedrigen Mietpreisniveau keinen Anspruch auf aufstockende Grundsicherung haben, während diese Rente im großstädtischen Raum nicht ausreicht, um den Grundsicherungsbedarf (einschließlich Kosten der Unterkunft) zu decken. Dunkelziffer der Nichtinanspruchnahme Die Zahlen und Daten über die Empfänger der Grundsicherung beziffern allerdings nur jene Personen, die tatsächlich Leistungen beanspruchen. Über die Größenordnung derer, die aufgrund ihres niedrigen Alterseinkommens zwar einen Anspruch hätten, diesen aber nicht wahrnehmen (Dunkelziffer der Nichtinanspruchnahme), gibt es Berechnungen. Danach nehmen rund 60 % der Antragsberechtigten – das entspricht etwa 625 000 Haushalten – diesen Anspruch nicht wahr. Die Ursachen für die Nichtinanspruchnahme sind vielfältig (vgl. Kapitel „Einkommen“, Pkt. 6.1.5): Die Betroffenen sind unzureichend informiert, ob sie noch einen Anspruch auf aufstockende Leistungen haben; dies insbesondere dann, wenn der Anspruch eher gering ist. Und nach wie vor herrschen gerade bei der älteren Bevölkerung Angst und Sorge, dass der Gang zum Sozialamt und der Erhalt bedürftigkeitsbezogener Leistungen zum sozialen Stigma werden und die Familienbeziehungen gefährden. Auch ist fraglich, ob der weitgehende Wegfall des Rückgriffs auf die Kinder den Betroffenen tatsächlich bekannt ist. 9.3

Träger, Ausgaben und Finanzierung

Die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung wird durch die Kommunen (kreisfreie Städte und Landkreise) durchgeführt. In der Regel sind die örtlichen Sozialämter zuständig; mitunter haben die Kommunen aber auch eigene Grundsicherungsämter eingerichtet. Die Leistung wird nur auf Antrag gewährt; der Antrag kann nicht nur direkt beim Sozialamt bzw. Grundsicherungsamt, sondern auch bei den Auskunfts- und Beratungsstellen der Rentenversicherung eingereicht werden. Festgestellt wird die dauerhafte volle Erwerbsminderung auf Ersuchen der Grundsicherungsträger durch die gesetzliche Rentenversicherung. Bei der Zahlung niedriger Renten beim Erstrentenbezug sind die Rentenversicherungsträger verpflichtet, die Versicherten darüber zu informieren, dass möglicherweise ein Anspruch auf Grundsicherungsleistungen besteht. Die Bruttoausgaben der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung lagen im Jahr 2018 bei etwa 7,1 Mrd. Euro. Entsprechend dem Zuwachs der Empfän-

1048

Alter

gerzahlen weisen auch die Ausgaben ein dynamisches Wachstum auf: 2018 errechnet sich gegenüber 2005 ein Anstieg um 150 %. Eine Besonderheit bei der Grundsicherung liegt in deren Finanzierung: Grundsätzlich werden Sozialhilfeleistungen von den Trägern der Sozialhilfe, den Kommunen, finanziert. Dies gilt aber seit 2014 nicht mehr für die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung. Die Kosten trägt seitdem voll und ganz der Bund. 9.4

Grundsicherungsbezug und Renten

Die Mehrheit der Empfänger:innen der Grundsicherung verfügt über Einkommen – vor allem über Renten aus der Rentenversicherung (Altersrenten, Erwerbsminderungsrenten, Hinterbliebenenrenten). Einen interessanten Einblick in die Struktur der Grundsicherungsempfänger erhält man, wenn man fragt, wie groß die Gruppe derer ist, die überhaupt keine Rente beziehen: Bei der Grundsicherung im Alter verfügten (2018) 27 % über keine Rente, bei Grundsicherung bei Erwerbsminderung waren es hingegen 63 % (vgl. Abbildung XI.25). Bei denjenigen Älteren, die keinen eigenen Rentenanspruch haben, handelt es sich um Personen, die selbst die minimale Bezugsvoraussetzung für eine Regelaltersrente, nämlich die Wartezeit von 5 Jahren nicht erfüllen. Hier dürfte es sich in erster Linie

Abbildung XI.25

Empfänger:innen von Grundsicherung und Rentenansprüche 2018

Grundsicherung bei dauerhafter Erwerbsminderung

Grundsicherung im Alter (ab Erreichen der Regelaltersgrenze) 559.419

500.000

519.102

Insgesamt

324.484 = 63%

ohne EM-Rente

148.386 = 27%

ohne Altersrente

mit EM-Rentee

mit Altersrente

400.000

411.033 = 73%

323.183

294.248

300.000

236.236

224.854 200.000 194.618 = 37% 100.000

0

Insgesamt

183.821 62%

110.427 = 38%

Insgesamt

Männer

58.633 = 25%

140.663 = 63%

177.603 = 75%

89.753 = 28% 233.430 = 72%

84.191 = 37% Frauen

Insgesamt

Quelle: Deutsche Rentenversicherung Bund (2019), Rentenversicherung in Zahlen.

Männer

Frauen

Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung

1049

um Selbstständige sowie um Migrant:innen handeln. Bei den Erwerbsminderungsrenten sind die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für den Bezug einer vollen Erwerbsminderungsrente schwieriger zu erfüllen. Erforderlich ist zunächst die Erfüllung der allgemeinen Wartezeit von fünf Jahren. Zudem müssen in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung mindestens drei Jahre mit Pflichtbeiträgen belegt sein (vgl. Pkt. 6.4.2 dieses Kapitels). Wenn auf der anderen Seite allein die Rentner:innen der gesetzlichen Rentenversicherung betrachtet werden, zeigt sich, dass der Anteil der Altersrentner:innen, die eine Aufstockung ihrer Rente durch die Grundsicherung erhalten, mit 2,6 % (2018) recht gering ist. Er hat sich seit 2003 zwar erhöht, bleibt aber auf einem niedrigen Niveau. Bei den Bezieher:innen einer Erwerbsminderungsrente sehen die Verhältnisse allerdings anders aus. Hier finden sich im Jahr 2018 zu 15,0 % Aufstocker. Gegenüber 2003 hat sich dieser Anteil mehr als verdreifacht (2003: 4,1 %) (vgl. Abbildung XI.26).

Abbildung XI.26 sicherung 2018

15,0

15,2

14,7

12,1

13,6

14,7

15,4

Aufstockung von Alters- und Erwerbsminderungsrenten durch die Grund-

Altersrentner (ab Erreichen der Regelaltersgrenze)

2003

2004

2005

2006

2007

9,0

8,8 2008

2009

2010

2011

2012

2013

2014

Quelle: Deutsche Rentenversicherung Bund (zuletzt 2019), Rentenversicherung in Zahlen.

2015

2016

2017

2,6

2,7

2,6

2,7

2,5

2,4

2,2

2,0

1,9

1,8

1,8

1,8

1,6

1,5

1,3

1,2

4,1

4,9

6,5

7,4

8,3

9,5

10,8

Erwerbsminderungsrentner

2018

1050

10

Alter

Einkommensverteilung im Alter und Altersarmut

10.1 Einkommensquellen und Einkommensschichtung Wie in der Gesellschaft insgesamt so weichen auch bei der älteren Bevölkerung die Einkommensverhältnisse stark voneinander ab: Den sehr gut Versorgten und Vermögenden stehen jene gegenüber, die nur über ein geringes Einkommen verfügen oder sogar von Armut betroffen sind. Dazwischen liegt ein breites Band unterschiedlicher Einkommenslagen. Pauschale Aussagen über die Einkommen der älteren Generation sind deshalb wenig sinnvoll. Die Einkommen der Älteren setzen sich aus verschiedenen Komponenten zusammen. Dazu zählen neben den Renten aus den vier Schichten der Alterssicherung, d. h. aus den Regelsystemen, den betrieblichen und privaten Systemen sowie aus der Grundsicherung, auch Leistungen aus anderen Sozialsystemen (so Kriegsopferrenten oder Unfallrenten) und einkommensabhängige Transfers (wie das Wohngeld). Daneben sind gegebenenfalls noch weitere Einkommensarten zu berücksichtigen, die wie Einkünfte aus Erwerbsarbeit (abhängige und selbstständige Arbeit) oder Einkünfte aus Vermögen (Gewinne, Zinsen, Mieten) marktgesteuert sind. Indirekte Einkommenseffekte gehen von einer selbst genutzten Immobilie aus. Gerade die ältere Bevölkerung lebt besonders häufig im Wohneigentum. Und die empirischen Befunde über die Vermögensverteilung lassen erkennen, dass sich der Besitz von Vermögen, insbesondere von großen Vermögen, auf die Bevölkerung im höheren Lebensalter konzentriert. Allerdings trifft dies auf nur einen sehr kleinen der Älteren zu (vgl. Kapitel „Einkommen“, Pkt. 8). Nicht auszuschließen, wenngleich heute sehr selten, sind innerfamiliäre Einkommensübertragungen von den Kindern zu den Eltern. In der Summe kann es sich also je nach persönlicher Konstellation um einen Mix unterschiedlicher Einkünfte handeln. Auch können bei einer Person mehrere Renten zusammentreffen, so eine gesetzliche Rente, eine Betriebsrente und/oder eine Pension aus der Beamtenversorgung. Der Blick allein auf die persönlichen Einkommen reicht allerdings nicht aus, um die Einkommens- und Versorgungslage zu erkennen. Denn (Ehe-)Paare wirtschaften gemeinsam und leben vom gemeinsamen Einkommen. Deshalb ist auf den Haushaltszusammenhang und das Haushaltseinkommen abzustellen. Auch richten sich Anspruch und Höhe bestimmter Transfers (z. B. Wohngeld und Grundsicherung) nicht nach dem Individualeinkommen, sondern nach dem Haushaltseinkommen. Sowohl auf der Individual- als auch auf der Haushaltsebene ist dabei zwischen Bruttound Nettobeträgen zu unterscheiden, da die meisten der genannten Einkommensarten auch bei Älteren der Steuer- und Beitragspflicht unterliegen. Trotz dieser Vielfalt machen nach den Ergebnissen der repräsentativen Erhebung „Alterssicherung in Deutschland“ (ASID 2015) die Renten aus der gesetzlichen Rentenversicherung deutschlandweit knapp Zweidrittel des gesamten Bruttoeinkom-

Einkommensverteilung im Alter und Altersarmut

Abbildung XI.27

Struktur der Gesamteinkommen der älteren Bevölkerung 2015

100% 90% 80% 70%

13 0 8

22

1051

9 1

4 1 6

13

8 17

10

9 1

5 1 7

5

12

3 3

3 4

9

1

sonstige Einkommen

20

22

Transferleistungen

25 26

60%

private Vorsoge

50% 89

81

40% 71 30%

20 2

56

94

andere Alterssicherungssysteme

67

60 50

55

20%

Gesetzliche Rentenversicherung

10% 0%

Ehepaare alleinsteh. alleinsteh. Männer Frauen Deutschland

Ehepaare

alleinsteh. alleinsteh. Männer Frauen alte Länder

Ehepaare

alleinsteh. alleinsteh. Frauen Männer neue Länder

Quelle: Bundesministerium für Arbeit und Soziales (2016), Alterssicherungsbericht 2016.

mens aller Seniorenhaushalte aus (vgl. Abbildung XI.27). Aus anderen Alterssicherungssystemen stammt knapp ein weiteres Fünftel, aus der privaten Vorsorge noch einmal ein Zehntel. Der Rest verteilt sich auf Transferleistungen und sonstige Einkommen. Diese Befunde weisen darauf hin, dass die Mehrheit der 65jährigen und älteren Menschen über keine zusätzlichen Alterssicherungsleistungen verfügt, sondern ausschließlich auf die gesetzliche Rente angewiesen ist. Nur 17 % der früheren Arbeiter/ Angestellten verfügten über Ansprüche aus der betrieblichen Altersversorgung, 13 % über solche aus der Zusatzversorgung des öffentlichen Dienstes. In den neuen Bundesländern zeigt sich diese Struktur im besonderen Maße. Hier haben weder die betriebliche Alterssicherung noch die weiteren Systeme der ersten Schicht eine Bedeutung. Die gesetzliche Rentenversicherung umfasst praktisch die gesamte Bevölkerung; der Aufbau der betrieblichen Altersversorgung (auch im öffentlichen Dienst) kommt nur sehr langsam voran. Wirklich hohe andere Einkommenskomponenten kommen – abgesehen von Personen, die nach einer meist kürzeren Phase sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung Beamte oder Selbstständige wurden – nur bei solchen Rentnerhaushalten hinzu, die auch bereits relativ höhere Renten aus der gesetzlichen Rentenversicherung beziehen. Hingegen fehlen Betriebs- und Privatrenten heute besonders bei jenen Personen, die nur über geringe Gesamteinkommen verfügen. Auch Kapitaleinkünfte und selbst genutztes Wohneigentum folgen diesem Muster. Bei ganz niedrigen GRV-

1052

Alter

Abbildung XI.28 Verteilung der Gesamteinkommen im Alter 2015, Anteile in %

40

35

35

30

31 27

25

in %

Alleinstehende Frauen

Alleinstehende Männer

Ehepaare

40

23

23

23

20 19 15

16 12

10

11 9

5

5 1

0

unter 700

6

7

5

2

700 bis