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German Pages 572 Year 2006
de Gruyter Lehrbuch
Rechtsentwicklungen Deutschland von
Dr. iur. Adolf Laufs Dr. h.c. Universite de Montpellier I em. o. Professor an der Universität Heidelberg 6., überarbeitete und erweiterte Auflage
w DE
G
De Gruyter Recht · Berlin
© Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt. ISBN-13: 978-3-89949-301-6 ISBN-10: 3-89949-301-X Bibliografische
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Der Deutschen
Bibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. © Copyright 2006 by De Grayter Rechtswissenschaften Verlags-GmbH, D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Datenkonvertierung/Satz: Fotosatz Voigt, Berlin Druck und Bindearbeiten: Druckhaus „Thomas Müntzer" GmbH, Bad Langensalza Umschlaggestaltung: Hansbernd Lindemann, Berlin
Für Herrn Dr. iur. Knut
Bücker-Fliirenbrock
Vorwort Dieses Buch wendet sich nicht zuerst an zukünftige Rechtshistoriker, sondern an die Rechtsstudentinnen und Rechtsstudenten überhaupt. Jeder junge Jurist soll die historischen Grundlagen des Rechts jedenfalls in den Grundzügen erfahren. Dabei wollen ihm die folgenden ausgewählten Kapitel helfen. Die erste Auflage des Buches erschien 1973. Nach der günstigen Aufnahme durch die Kritik legten Verlag und Autor es in einer zweiten Ausgabe 1978 vor. Die dritte, neuerlich überarbeitete Auflage 1984 ergänzten zwei knappe zusätzliche Abschnitte (Kap. II. und Kap. XII. 1.). Die vierte Auflage brachte insbesondere die Literatur auf den neuesten Stand; auch der Text erfuhr viele Ergänzungen. Für eine Zeitgeschichte des Rechts und Unrechts in der vergangenen DDR fehlte es noch an ausreichenden Vorarbeiten; so mußte ein Bericht darüber der nächsten Auflage vorbehalten bleiben. Diese versuchte, in einem zusätzlichen Kapitel einige Grundlinien zu ziehen, die der Autor zuvor in seinem rechtshistorischen Seminar und in akademischen Diskussionen zu härten gesucht hat. Neuerdings galt es, der europäischen Integration, einem tief- und ausgreifenden Prozeß der Rechtsvereinheitlichung und politischen Einigung, Raum zu geben. Das neue, vordringende europäische Recht aus teils alten Wurzeln macht die Kenntnis der Geschichte des nationalen keineswegs entbehrlich; seine Genese läßt sich vielmehr nur im Blick auf die historischen Voraussetzungen begreifen. Außerdem wurde das ganze Buch überarbeitet und wiederum vielfach ergänzt, auch erweitert. Viel A u f w a n d erforderten die Bibliographien, die es auf den Stand des Herbstes 2005 zu bringen galt. Jüngere Titel, leider auch die rechtshistorischen Beiträge zu den „Humaniora": der von Bernd-Rüdiger Kern, Klaus-Peter Schroeder und Christian Katzenmeier herausgegebenen Festschrift für den Unterzeichneten (2006), ließen sich nur noch vereinzelt aufnehmen. Neue Autoren, Perspektiven und auch Quellen lassen die Flut der Fachliteratur weiter steigen. Bemerkenswert erscheint das Interesse, das die DDR bei den Zeithistorikern, auch den juristischen, findet. Die in den Bibliographien genannten Titel bleiben auch in der Neuauflage eine Auswahl. VII
Vorwort Die sechste Auflage erscheint in einer Zeit ökonomischen Nützlichkeitsdenkens auch in den Universitäten, in denen die Geisteswissenschaften, vornehmlich die kleinen Fächer, in Not geraten. Auch die rechtshistorischen Disziplinen verlieren Lehrstühle und Platz in den Stundentafeln, in denen die aktuellen und unmittelbar praxisrelevanten Kurse dominieren. Aber Bildung und Identität lassen sich ohne Geschichtsstudium nicht gewinnen! „Kein Weg führt an einer Methode der Erkenntnis vorbei, die, weil sie die geschichtlichen und aktuellen Verständnis- und Denkhorizonte verbindet, als praktischen Erfolg die bestmögliche Basis für größtmöglich fundierte Induktionen bereitstellt" (Eduard Picker). Dank schuldet der Autor seiner wissenschaftlichen Hilfskraft Herrn stud. iur. Stefan Drackert für umfangreiche bibliographische Arbeit, seiner Ehefrau Christina für das Mitlesen der Korrektur, Herrn Dr. Michael Schremmer für verlegerische Förderung und Frau Renate Mannaa für die technische Herstellung. Der Autor widmet die Neuausgabe wiederum Herrn Dr. iur. Knut Bücker-Flürenbrock zum Zeichen des Dankes für eine jahrzehntelange Freundschaft. Waldhilsbach, Allerheiligen 2005
VIII
Adolf
Laufs
Inhaltsverzeichnis
Vorwort Einleitung Ausgewählte Studienliteratur I. Deutsches Recht im Mittelalter: Der Sachsenspiegel . . . . 1. Eike von Repgow und sein Werk 2. Beispiele mittelalterlichen Rechtsdenkens II. Stadtrecht III. Die Rezeption des römischen Rechts 1. Legisten und Kanonisten 2. Die Anfänge des deutschen Juristenstandes IV.
Reform und Umbruch 1. Die Reichsreform 2. Reformation und Reichsrecht 3. Der Bauernkrieg 1525 4. Constitutio Criminalis Carolina
V. Das Heilige Römische Reich deutscher Nation 1648-1806 1. Der Westfälische Frieden 2. Spätzeit und Ende des Reiches
VII XI XXII 1 1 19 33 48 48 64 86 86 105 118 130 145 145 161
VI. Naturrecht und Aufklärung — große Kodifikationen . . . 1. Das Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten von 1794 2. Das Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch für die gesamten Deutschen Erbländer der Osterreichischen Monarchie von 1811
179
196
VII. Die Epoche des Deutschen Bundes (1815-1866) 1. Deutsche Bundesakte und Wiener Schlußakte 2. Historische Rechtsschule und Pandektenwissenschaft 3. Der Deutsche Bund und die Zivilgesetzgebung
206 206 221 237
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Inhaltsverzeichnis
VIII. Achtzehnhundertachtundvierzig 1. Vorspiele: Die Göttinger Sieben. Das Hambacher Fest 2. Die Paulskirche 3. Industrielle Revolution und Kommunistisches Manifest
249 249 263 283
IX. Der konstitutionelle Nationalstaat 1. Zur Gründung des Bismarckschen Reiches 2. Das Bürgerliche Gesetzbuch
298 298 311
X. Versuchte Demokratie: Weimar 1. Novemberrevolution 1918 2. Das Verfassungswerk 3. Fortschritte des Arbeits- und Sozialrechts
329 329 343 360
XI. Die nationalsozialistische Rechtsverwüstung 1. Machtergreifung 1933 2. Perversion des Rechts 3. Der Widerstand gegen Hitler XII. Nachkriegsdeutschland 1. Rechtsentwicklungen im Zeichen des Grundgesetzes 2. Recht und Unrecht der D D R
375 375 392 412 425 425 449
XIII. Europäisches Erbe und Integration 1. Europäische Traditionen 2. Europäischer Zusammenschluß
478 478 488
Register
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Einleitung
Rechtsgeschichte im Sinne eines historischen Vorgangs bedeutet die Entwicklung des Rechts insgesamt oder innerhalb einer gewissen Zeitspanne, bestimmter Gemeinschaften, Räume oder Gebiete, schließlich auch — als Dogmengeschichte — die Entwicklung einzelner Rechtsinstitute oder Institutionen. Die Ursachen der Entwicklung des Rechts können verschiedenartig sein: Wirtschaftliche Kräfte, religiöse Antriebe, geistige und wissenschaftliche Anstöße, politische Absichten — kurz: eine Vielzahl von Faktoren bewirkt sie. Die Entwicklung kann an ältere Rechtsformen und Rechtseinrichtungen anknüpfen; dann sprechen w i r von historischer Kontinuität. Oder sie kann zur Übernahme (Aufnahme) fremder Rechtsordnungen oder -einrichtungen führen — Vorgänge, die der Terminus „Rezeption" bezeichnet. In der Verpflanzung von Ideen aus einem Lebenskreis in einen anderen steckt, wie Gerhart Husserl bemerkt, ein Vorgang der „Entzeitung": „Die Ideen werden aus dem Boden der raumzeitlich bedingten Wirklichkeit, in dem sie gewachsen sind und aus dem sie Nahrung empfangen haben, herausgehoben. Sie werden von den langen Wurzeln, die sie in diesem Boden hatten, losgerissen. Von dem Ding, das verpflanzt werden soll, kann nur das in einen neuen Lebensraum tradiert werden, was auf dem neuen Boden wachsen und auch in dem anderen Klima gedeihen kann. Bei einer Verpflanzung von Dingen des Rechts findet die ,Entzeitung' ihren charakteristischen Ausdruck darin, daß die Rechtsideen (um deren Übernahme es sich handelt) der überlieferten Formen entkleidet werden, in denen sie in dem Rechtskreise ihres Ursprungs auftreten." Von den Rezeptions-Vorgängen ist die Aufnahme des römischen Rechts in Deutschland schon im Hochmittelalter, doch vornehmlich am Ausgang des Mittelalters und zu Beginn der Neuzeit das bekannteste Ereignis. Auch die neuere Zeit kennt bedeutende Rezeptionsvorgänge, vor allem die Übernahme des französischen Zivilrechts durch andere europäische Völker in der Epoche Napoleons und die Aufnahme des deutschen und schweizerischen Zivilrechts in Asien und Vorderasien (China, Japan, Korea, Thailand, Türkei). XI
Einleitung
Zuweilen vollziehen sich gleichartige Rechtsentwicklungen in verschiedenen, mehr oder weniger voneinander unabhängigen Rechtskreisen; dies ist das Thema des Entwicklungs-Parallelismus. Die Geistesbewegung des Historismus hat in ihrer Opposition gegen die Aufklärung und deren Idee von der unwandelbaren menschlichen Natur und dem unveränderlichen Naturrecht das Grundprinzip zu allgemeinerem Bewußtsein gebracht, daß alle Dinge in Bewegung und fortwährender Veränderung begriffen sind. Dieser Grundsatz gilt für greifbare wie vorgestellte Erscheinungen. Die großen philosophischen Gedankenbildungen stehen, wie Ernst Cassirer formuliert, „nicht lediglich abgelöst im leeren Räume des Begriffs und der Abstraktion, sondern sie bewähren sich nach den verschiedensten Seiten hin als lebendige geistige Triebkräfte. Ihr wahrhafter Bestand tritt erst in dieser Mannigfaltigkeit der Wirkungen, die sie auf ihre Zeit und auf die großen Individuen üben, ganz hervor" (Idee und Gestalt, Ausgabe 1989). Dies gilt im besonderen für die Rechtsideen, und umgekehrt hängen die Gedanken mit den sozialen Lebensumständen ihrer Träger unlösbar zusammen. Jedes Rechtssystem repräsentiert eine bestimmte Phase in der Geschichte der Menschheit. Rechtsordnungen haben eine Geschichte und sind selbst Geschichte. Die Rechtsnorm hat ihre Daseinswurzel immer in einer bestimmten geschichtlichen Situation. Die Rechtssätze und juristischen Sachverhalte, so neu und endgültig sie scheinen, fließen im Strom der Geschichte mit und sind verwoben in dessen zahllose Kausalreihen, die sich unablässig fortsetzen, miteinander verbinden, an ihren Schnittpunkten weitere Ursachenketten entlassen. Menschliche Erkenntnisfähigkeit reicht nicht hin, diesen Fluß je ganz zu übersehen und zu durchschauen. „Erst das Wort reißt Klüfte auf, die es in Wirklichkeit nicht gibt", sagt Christian Morgenstern; und Heimito von Doderer notiert aphoristisch: „Die Geschichte ist der sozusagen .geometrische Ort' aller einmaligen Punkte, welche noch durch eine innerhalb des Vergleichbaren verlaufende Verbindung miteinander in Beziehung gesetzt werden können." Von Richard Koebner stammt der Satz: „Der Historiker ist daran gebunden, jede Persönlichkeit, jedes Ereignis, jedes Faktum der Rechts- und Wirtschaftsordnung, das in den Bereich seiner Beobachtung tritt, danach zu befragen, was es für den Fortgang der Prozesse der Bildung von Machtordnung und Zivilisation bedeutet hat. Er hat immer dynamische Zusammenhänge vor Augen. Jeder Zustand, den er beschreibt, ist nur ein Ubergang von der Auswirkung einer Tendenz zu der anderen. Für ihn ist die Geschichte an jedem Punkte eine kritische Gegenwartslage, die die Keime einer neuen enthält." XII
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Doch damit sind w i r bereits bei der Rechtsgeschichte als einem Wissenschaftszweig. In diesem Sinne bedeutet sie die fachliche Arbeit mit dem Recht der Vergangenheit. Methodisch und sachlich angewiesen auf die anderen Sparten der Historiographie, will die Rechtsgeschichte die Entstehung, den Wandel und das Vergehen von Rechtsformen und -einrichtungen aufhellen, desgleichen den Ursachen, Kräften und geistigen Strömungen nachspüren, welche die Entwicklung des Rechts beeinflußt haben. Der Rechtshistoriker soll seinen traditionellen Platz in der juristischen Fakultät behaupten. Nicht eine besondere Dignität seiner Quellen, sondern sein spezifisches Interesse unterscheidet ihn vom Historiker der Nachbarfakultät. „Wiedererkannte Intention geschichtlicher Vorgänge, Zustände und Texte auf Recht" macht dieses besondere Interesse des Rechtshistorikers aus. Rechtsgeschichte ist — um mit Franz Wieacker zu sprechen — „nichts anderes als die Summe aller Ereignisse und Zustände, die der Rechtshistoriker auf seine eigene Erfahrung von Recht beziehen kann": menschliche Tätigkeit und gesellschaftliche Zustände, die aus ihr hervorgingen, mit Einschluß der Eigenschaften, Dispositionen und Motive dieser Menschen. Gewiß darf der Rechtshistoriker bei seiner wissenschaftlichen Arbeit die eigene Rechtserfahrung nicht als apriorische voraussetzen und seinem Stoff aufdrängen; aber er benötigt sie, um überlieferte Texte und vergangene Sinngebilde wie Verfassungen, Institutionen und zivilistische Figuren aufzufinden und zu verstehen. Die Ergebnisse solcher Hermeneutik wirken auf das Vorverständnis zurück und bringen einen Zuwachs an Rechtserfahrung, den am besten wiederum der historisch arbeitende Jurist in seiner Fakultät weitervermitteln kann. Aufgabe und Arbeitsweise also begründen den Standort des Rechtshistorikers in den Juristenschulen. Das Wissen von der Geschichtlichkeit der menschlichen Existenz (Theodor Litt) ist seit dem 17. Jahrhundert Bestandteil unseres Selbstverständnisses. Als Gemeingut der Juristen kann die Einsicht gelten: Alles Recht ist geschichtliches, also gewordenes und sich fortentwickelndes Recht. Trotz dieser Grundeinsicht befindet sich das geschichtliche Denken unserer Zeit in einer Krise. Nicht als ob die Historiographie erlahmt wäre. Mit verfeinerter Zielsetzung und Methode bringt die moderne Geschichtsschreibung, auch die der Rechtsromanisten und -germanisten, eine wachsende Zahl gültiger Leistungen hervor. Das Gebrechen der Historie als Wissenschaft liegt vielmehr darin, daß sie — überspitzt gesagt — akademische Disziplin bleibt, ohne hinlänglichen Widerhall in der Gesellschaft und ohne sich im öffentlichen Bewußtsein wirklich zu behaupten. Im neunzehnten Jahrhundert, das die großen deutschen Historiker hervorgebracht hat, konnte Friedrich Nietzsche in XIII
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seiner Schrift: „Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben" nicht ohne Grund die „Ubersättigung einer Zeit in Historie" anprangern. Heute hätte er den Mangel an historischem Sinn zu beklagen. In der Rechtswissenschaft insbesondere ist an die Stelle der Relation Recht und Geschichte weithin die Relation geltendes Recht und geschichtliches Recht getreten. Darauf hat bereits 1940 Ernst Forsthoff in seiner Königsberger Rede über Recht und Sprache hingewiesen. Man glaube, in handgreiflichem Irrtum, „reine Typen rechtswissenschaftlicher Forschung in der Weise gewinnen zu können, daß man dem geltenden Recht den Dogmatiker, dem geschichtlichen Recht den Historiker zuweist". „Verlust der Geschichte", so lautet ein Buchtitel von Alfred Heuß, der die Situation bezeichnet. „Die gegenwärtige Welt, welche auf der einen Seite mit historischem Wissen im Zustand einer spezifischen und abseitigen, nur von Spezialisten zu handhabenden Verfügbarkeit angefüllt ist, andererseits täglich mit Denkformen umgeht, die sich, direkt oder indirekt, aus dem Historismus ableiten, wird im Durchschnitt von einem nahezu enthistorisierten oder ahistorischen Bewußtsein repräsentiert, d.h. durch ein Bewußtsein, welches über keinerlei aktuelle oder aktualisierbare Rapporte zur Vergangenheit verfügt. Sie gleicht dem Mann ohne Gedächtnis, der an totalem Gedächtnisschwund leidet und seine eigene Vergangenheit vergessen hat." Reinhart Koselleck hat vor etlichen Jahren in seinem Aufsatz: „Wozu noch Historie?" in der Historischen Zeitschrift von einem „Vorgang der Enthistorisierung unserer Sozial- und Geisteswissenschaften" gesprochen und festgestellt, „daß für die Historie als solche kein genuines Erkenntnisobjekt übrig bleibt". Die Absorption der Geschichte durch die Einzelforschungsbereiche hat ihre Parallele in der Auflösung der Staatswissenschaft und, noch weitergehend, in den Gebrechen unseres Staates. Die durch die politischen Katastrophen der jüngeren Vergangenheit und „die Perfektion der Technik" (Friedrich Georg Jünger) heraufbeschworene Konsumtion des Staatlichen bildet, so will es scheinen, die eigentliche Ursache für die Krise im Lehrfach Geschichte und den mangelnden Geschichtssinn überhaupt. (Vgl. in diesem Zusammenhang insbesondere auch Ernst Forsthoff, Der Staat der Industriegesellschaft, 1971.) Wer von der Rechtsgeschichte nicht mehr erwartet als eine Bestätigung der These von der Relativität des Rechts, wird sich ihr kaum zuwenden. Die Historiographie leistet indessen mehr. Weil sie die Verknüpfung des Rechts mit den Wirklichkeitsbedingungen aufhellt und seine Ausbildung in den Rahmen der allgemeinen Entwicklungen stellt, erklärt und begründet sie die notwendig vielgestaltigen Erscheinungsformen rechtlicher Ordnung. Wie die Rechtsvergleichung, vielleicht XIV
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noch besser als diese, nimmt sie dem Wechsel und der Verschiedenartigkeit der Rechtseinrichtungen das Merkmal des Zufälligen und weist zugleich die „Dauerfragen in der Rechtsgeschichte" auf, auch die sachlogischen und anthropologischen Konstanten. Auf diese stößt, wer die Wiederkehr von Rechtsfiguren beobachtet, wie das etwa Theo MayerMaly und Karl Kreuzer in der Juristenzeitung getan haben. Das juristische Repertoire unserer reformerischen oder besser: umstürzenden Zeit erscheint danach so neu und unbegrenzt nicht mehr. Die Historie empfiehlt sich so als Mittel zur Selbsterkenntnis, zur Erfahrung menschlicher Möglichkeiten und Grenzen. Ihr besonderer Anspruch ist es, der Parzellierung menschlichen Erkenntnisgewinns durch Uberspezialisierung entgegenzutreten und statt dessen nach den geschichtlichen Wurzeln unserer Kultur als verbindende Grundlage unseres Daseins zu fragen. Gerade in der Vielfalt historischer Erscheinungen, in dem scheinbar zusammenhanglosen, bunten Nebeneinander, werden die Grundmuster menschlicher Lebensformen, Einstellungen und Entscheidungen sichtbar. Wer Geschichte studiert, wird auch die eigentlich tragischen Situationen bemerken; er sieht, um mit Golo Mann zu sprechen, neben Torheit und Verbrechen, neben Güte und Tapferkeit auch die „verschuldet-unverschuldete Ausweglosigkeit, den Zwang zu irren, da w o es den rechten Weg nicht gibt". Im historischen Rückblick begegnen dem Beobachter verantwortliche Menschen, deren willentliche Entscheidungen den Gang der Geschichte bestimmten. Noch ein Bekenntnis Golo Manns sei angeführt: „Unsere Zukunft ist offen, also war jede Zukunft offen". Geschichte ist ein offener Vorgang auch in einem zweiten Sinn: „Ihre Offenheit in die Zukunft bleibt auch für längst abgelaufene Vergangenheiten nicht ohne Folgen; sie wandeln sich im Rückblick aus der hinzugetretenen Zeit" (Dan Diner). „Die Vergangenheit ist tot; sie hat nur Wert, wenn sie das Mittel ist, die Gegenwart zu verstehen und zu beherrschen", ist mancher Jurist mit Julius von Kirchmann versucht zu sagen, der dann freilich in seinem berühmten Vortrag über die Wertlosigkeit der Jurisprudenz als Wissenschaft (1848) fortfährt: „Fordert die Natur eines Gegenstandes diesen Umweg, diese trübe Brille, so muß die Wissenschaft sich wohl fügen, aber ein Glück ist es für sie nicht." Indessen: Historischer Schutt, Aktenniederschlag, den der Fleiß von Jahrhunderten auftürmte, sollte eben nicht schlechthin Gegenstand der Tradition sein. Auszuschalten ist mit Walther Schönfeld, „was noch nicht oder nicht mehr einleitet, weil es zu fremdartig oder zu altersschwach ist . . . Es gehört nicht zur Rechtsgeschichte, im Sinne der Geschichte unseres Rechtes, sondern zu den Rechtsantiquitäten oder -raritäten." Bedenken wir statt dessen ein Wort Ernst Blochs, der Zukunft in der Vergangenheit sucht: „Es wäre also XV
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Tradition genauso zu betrachten wie Utopie, und zwar nicht rechts, aber gründlich und zum Teil sogar konservativ in dem Sinn, daß noch nicht Ausgereiftes, aber sehr gut Gemeintes und sehr reich Gewolltes nicht in einer Dose oder als Aufschrift auf einer reaktionären Fahne konserviert wird, sondern als ein Aufruf, ein Postulat, das uns aus der Vergangenheit uneingelöst, aber auch unabgegolten und in jedem Falle verpflichtend entgegenkommt." Tradition verbindet die Generationen, stiftet Kontinuität zwischen Vergangenheit und Zukunft. Ebenso verhängnisvoll wie die Traditionslosigkeit ist indessen der Traditionalismus, der krampfhaft am Herkömmlichen festhält und alles Neue ablehnt. Freilich wäre es töricht, in das von allen Seiten angestimmte Rufen nach Veränderung einzustimmen, um damit die von Historikern wie Gerhard Schulz längst konstatierte „Beschleunigung der Geschichte" noch zu forcieren. „Seit dem frühen 19. Jahrhundert", so fanden Joachim Fest und Wolf Jobst Siedler, „habe die Zeit eine ungeheuere Beschleunigung erfahren, und wer die Orientierungsverluste betrachte, die von den Unwettern der Entwicklung herkamen, durfte dieser Tendenz nicht noch Vorschub leisten". Die Geschichte wiederholt sich nicht und kann darum der Gegenwart nicht in banalem Sinn nützliche Richtschnur sein. Wir gewinnen durch die Historie keine unmittelbaren Handlungsanweisungen für morgen. Wenn die Lehre der Geschichte gleichwohl nicht Selbstzweck sein oder bleiben soll, so ist das zu begründen. Die alten Historien enthielten bis ins 18. und 19. Jahrhundert immer ein Moment unmittelbarer Applikation: für Politik, Recht, Moral und Theologie. Die Voraussetzungen dafür boten die vergleichsweise langfristige Stabilität im sozialen Leben und der — gedachte — natürliche Kreislauf aller Dinge. Aus letzterem folgte die Wiederholbarkeit der Geschichten, also auch die praktische Anwendbarkeit ihrer Lehren. Seitdem die „Geschichte schlechthin", ihre Einmaligkeit, entdeckt wurde, lehrt sie nurmehr, daß historische Erfahrungen nicht unmittelbar übertragbar sind. „Wir müssen uns also bescheiden", folgert Reinhart Koselleck, „aber darin liegt der Gewinn. Der Verzicht auf Aktualität ist die Bedingung einer vermittelten Applikation, die nun allerdings die Historie als Wissenschaft freisetzen kann. Die Historie zeigt Perspektiven, Bedingungsnetze möglichen Handelns; empirisch liefert sie Daten, um Trends zu extrapolieren — insofern hat sie Teil an der Prognostik." Aber geraten wir mit dem Nein zum „L'art pour l'art" und mit der spezifischen Seh- und Interpretationsweise des Juristen, der ja — wie es Karl Engisch in seiner „Einführung in das juristische Denken" sagt — eine „praktische Wissenschaft" betreibt, nicht in Konflikt mit der histoXVI
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rischen Wahrheit, verfallen wir damit nicht dem subjektivistischen Modell, wonach das forschende Subjekt sich seinen Gegenstand selbst schafft? Überwundene Geschichtsinterpretationen, welche moderne Begriffe auf die Vergangenheit übertrugen, warnen. Die Antwort heißt für den kritischen Forscher gleichwohl: nein. Denn er weiß, daß die klassische Widerspiegelungstheorie, in welcher das Subjekt nur eine passive, rezeptive Rolle spielt, eine Selbsttäuschung darstellt. Die Wechselwirkung zwischen Objekt und Subjekt verweist auf das aktivistische Modell des Erkenntnisprozesses, wie es der polnische marxistische Philosoph Adam Schaff vorgestellt hat, mit dem Ziel der Gewinnung von partiellen, fortlaufend akkumulierten Wahrheiten. Es bedeutet die Last der Ansammlung möglichst vieler solcher partieller Wahrheiten und die Notwendigkeit ständiger Neuinterpretationen der Geschichte. Der Jurist hat zu diesem Prozeß Eigenständiges beizutragen. Ihres Vorteils, die Geschehnisse und Zusammenhänge aus der zeitlichen Distanz heraus vielfach klarer und nüchterner erkennen zu können, gehen die historischen Disziplinen dort verlustig, wo sie sich der Gegenwart nähern. So entstand die Sorge, die jüngste Vergangenheit sei einer streng wissenschaftlichen Behandlung überhaupt nicht zugänglich. Gleichwohl und mit guten Gründen darf die Notwendigkeit einer rechtshistorischen Erschließung auch des 20. Jahrhunderts, des „Zeitalters der Extreme" (Eric Hobsbawm), inzwischen als weitgehend anerkannt gelten. „Ohne künstliche Trennung von der älteren Geschichte, ..., ohne Beschränkung auf die nationalgeschichtlichen Perspektiven des 19. Jahrhunderts und insbesondere mit dem Blick auf die europäischen Rechtsentwicklungen unserer Zeit, schließlich ohne das Dogma einer ,kontemplativen' Abstinenz gegenüber juristischen Gestaltungsaufgaben der Gegenwart könnte die Juristische Zeitgeschichte somit vielleicht in der rechtswissenschaftlichen Forschung und im Rechtsstudium eine Brücke zwischen historischen Einsichten und Gegenwartsaufgaben des Juristen zu schlagen helfen" (Reiner Schulze). Ob, im ganzen gesehen, das Wort des Straßburger Consiliarius und Professors Johann Schilter aus dem Jahr 1698 nicht doch noch Gültigkeit hat? „Daß kein Reich noch einiger Staat wol glücklich und mit einem tauerhafften Bestände regiert werden könne, es sey dann daß die zwey vornehmen Stücke einer Staats-Regierung wol in acht gehalten werden, als nehmlich gute Gesetze und fleißige Beschreibung derer von Zeiten zu Zeiten sich zutragenden und den Staat vornehmlich betreffenden Geschichten, Zufällen und Veränderungen, so man Historiam und Annales zu nennen pfleget: Solches ist so wohl auß der Erfahrung kund und offenbahr, als auch auß der Vernunft leichtlich zu schließen, Gestallt dann durch gute Gesetze die Justitz und Gerechtigkeit gehandXVII
Einleitung habt, durch die Historie aber die Prudentz und Staats-Weißheit unterhalten und vermehret w i r d . " Außerdem: Selbst w e n n die Geschichte sich zu nichts anderem gebrauchen ließe, eines muß man ihr jedenfalls zugute halten: sie ist unterhaltsam. Die folgenden dreizehn Teile des Buches wollen ausgesuchte exemplarische Kapitel geschichtlicher Rechtswissenschaft bieten, die „das neue aus der geschichte des alten erläutert" (vgl. Jacob G r i m m in der Vorrede zu seinen Deutschen Rechtsaltertümern 1828). Es geht dem A u t o r mehr u m die Geschichtlichkeit des Rechts überhaupt und insbesondere des heutigen — weniger u m vergangenes Recht als Erkenntnisobjekt für sich. D a r u m versucht die Darstellung, bei dem unermeßlichen Angebot von Wissensstoff sich auf die Grundlagen unserer Rechtskultur zu konzentrieren und die Bezüge zur Gegenwart aufzuzeigen, unsere Geprägtheit durch die Geschichte. Genese und soziale Funktion der Rechtsnormen, juristische Denkformen, Sachprobleme und ihre zeitgebundenen A n t w o r t e n sollen dem Leser möglichst unmittelbar entgegentreten und so seine Rechtserfahrung erweitern. Die traditionellen Grenzen der verschiedenen rechtshistorischen Disziplinen, insbesondere das bis in die Gegenwart fortwirkende Schema der Eckhardtschen Studienreform von 1935, hat der Verfasser bewußt hinter sich gelassen: Verfassungs-, rechts- und privatrechtsgeschichtliche Aspekte sollen sich mit- und nebeneinander auftun, die Zusammenhänge erschließen und ein plastisches Bild entstehen lassen. Die Schrift verzichtet mit ihrer Stoffauswahl auf eine vollständige Ubersicht, w i e sie die gängigen Lehrund Handbücher versuchen. Dafür können die ausgewählten Themen grundsätzlicher und eindringender erörtert werden. Die zu jedem A b schnitt angeführte Literatur ist im Interesse wissenschaftlicher Weiterarbeit des Lesers ausführlich und möglichst aktuell gehalten, ohne dabei vollständig sein zu wollen. Der geneigte Leser möge auch die Literaturverzeichnisse studieren, weil sich schon aus ihnen einiges lernen läßt.
Literaturauswahl zur Einleitung BADER, Karl Siegfried: Aufgaben und Methoden des Rechtshistorikers, 1951; BADER, Karl Siegfried: Das Wertproblem in der Rechtsgeschichte. Zum Standort einer historischen Disziplin in den modernen Geisteswissenschaften, in: Speculum Historiale. Festschr. Johannes Spörl, 1965, 639-657; BADER, Karl Siegfried: Recht, Geschichte, Sprache. Rechtshistorische Betrachtungen über Zusammenhänge zwischen drei Lebens- und Wissensgebieten, in: Hist. Jahrb. 93, 1973, 1-20 (die Beiträge v. Karl Siegfried BADER wiederabgedruckt in: Ausgewählte Schriften zur Rechts- und Landesgeschichte Bd. 1, ausgewählt u. XVIII
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XIX
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I. Deutsches Recht im Mittelalter: Der Sachsenspiegel
1. Eike von Repgow
und sein Werk
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I. Deutsches Recht im Mittelalter: Der Sachsenspiegel Bd. II: Beschreibung der Handschriften, Bd. III/1 u. 2: Abbildungen der Fragmente, 1990-1992; OPPITZ, Ulrich-Dieter: Ergänzungen zu „Deutsche Rechtsbücher des Mittelalters", in: Z R G , G A , 117, 2000, 640-653; OPPITZ, UlrichDieter: Ergänzungen zu „Deutsche Rechtsbücher des Mittelalters", in: Z R G , G A , 120, 2003, 371-375; PÄSLER, Ralf G.: Einige Ergänzungen zu „Deutsche Rechtsbücher des Mittelalters", in: Z R G , G A , 117, 2000, 652-653; PETERS, Werner: Der Sachsenspiegel der Stadt Kalkar. Ein Beispiel für die Rezeption sächsischen Rechts am Niederrhein, in: Rheinische Vierteljahresblätter 1992, 301-310; PIIRAINEN, lipo Tapani u. WASSER, Winfried: Der Sachsenspiegel aus Oppeln und Krakau, 1996; ROSENSTOCK, Eugen: Ostfalens Rechtsliteratur unter Friedrich II. Texte und Untersuchungen, 1912; ROSENSTOCK, Eugen: Die Verdeutschung des Sachsenspiegels, in: Z R G , G A , 37, 1916, 498-504; RÜCKERT, Joachim: Die Rechtswerte der germanistischen Rechtsgeschichte im Wandel der Forschung, in: Z R G , G A , 111, 1994, 275-309; Sachs. Staatsministerium d. Justiz (Hg.): Rechtsbücher und Rechtsordnungen in Mittelalter und früher Neuzeit, 1999 = Schriftenreihe d. Sächs. Staatsmin. d. Justiz Bd. 9; SCHLOSSER, Hans, STURM, Fritz u. WEBER, Hermann: Die rechtsgeschichtliche Exegese, 2 1993; SCHMIDT, Roderich: Aetates mundi. Die Weltalter als Gliederungsprinzip der Geschichte, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte F. 4, 5, 1955/56, 288317; SCHMIDT, Roderich: Zu den Bilderhandschriften der Sächsischen Weltchronik, in: Sprache und Recht. Festschr. Ruth Schmidt-Wiegand, 1986, 742779; SCHMIDT, Ulrich: Königswahl und Thronfolge im 12. Jahrhundert, 1987; SCHMIDT-RECLA, Adrian, SCHUMANN, Eva u. THEISEN, Frank (Hgg.): Sachsen im Spiegel des Rechts. Ius Commune Propriumque, 2001; SCHMIDT-WIEGAND, Ruth (Hg.): Text-Bild-Interpretation. Untersuchungen zu den Bilderhandschriften des Sachsenspiegels, 2 Bde., 1986; SCHMIDT-WLEGAND, Ruth: Von der autornahen zur überlieferungskritischen Ausgabe des „Sachsenspiegels", in: Deutsches Recht zwischen Sachsenspiegel und Aufklärung. Rolf Lieberwirth zum 70. Geb. dargebracht, 1991, 13-25; SCHMIDT-WIEGAND, Ruth (Hg.): Sachsenspiegel: Die Wolfenbütteler Bilderhandschrift Cod. Guelf. 3.1 Aug. 2°, 3 Bde.: Textbd., Faksimile-Ausg., Kommentarbd., 1993; SCHMIDT-WIEGAND, Ruth (Hg.): Kommentarband zum Faksimile des Oldenburger Sachsenspiegels, 1996; SCHMIDT-WIEGAND, Ruth: Die Bilderhandschriften und ihre Bedeutung für die Wirkungsgeschichte des Sachsenspiegels, in: Heiner LÜCK (Hg.), Recht und Rechtswissenschaft im mitteldeutschen Raum. Symposion für Rolf Lieberwirth, 1998, 9-27; SCHMIDT- WIEGAND, Ruth: Sprache zwischen Recht und Gesetz — Mainzer Reichslandfriede und Sachsenspiegel — Prolog im Vergleich, in: Heiner LÜCK u. Bernd SCHILDT (Hgg.), Recht, Idee, Geschichte. Beiträge zur Rechts- und Ideengeschichte für Rolf Lieberwirth, 2000, 135150; SCHMIDT-WIEGAND, Ruth u. HOPPER, Dagmar (Hgg.): Der Sachsenspiegel als Buch, 1991; SCHMIDT-WLEGAND, Ruth u. MILDE, Wolfgang (Hgg.): Gott ist selber Recht. Die vier Bilderhandschriften des Sachsenspiegels: Oldenburg, Heidelberg, Wolfenbüttel, Dresden. Ausstellungskatalog, 1992; SCHOTT, Clausdieter u. SCHMIDT-WIEGAND, Ruth (Hgg.): Eike von Repgow, Der Sachsenspiegel, 1984; SCHROEDER, Klaus-Peter: Vom Sachsenspiegel zum Grundgesetz. Eine deutsche Rechtsgeschichte in Lebensbildern, 2001; SCHRÖDER, Richard: Zur Kunde des Sachsenspiegels, in: Z R G , G A , 9, 1888,
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1. Eike von Repgow und sein Werk 52-63; SCHUMANN, Eva: Zur Rezeption frühmittelalterlichen Rechts im Spätmittelalter, in: Humaniora. Festschr. f. Adolf Laufs, 2006, 337-373; SELLERT, Wolfgang: Borgerlike, pinlike und misschede klage nach der Sachsenspiegelglosse des Johann v. Buch, in: Uberlieferung, Bewahrung und Gestaltung in der rechtsgeschichtlichen Forschung, hg. v. Stephan BUCHHOLZ, Paul MLKAT u. Dieter WERKMÜLLER, 1993, 321-346; SIEBS, Benno Eide: Weltbild, Symbolische Zahl und Verfassung, 1969; SINAUER, Erika: Der Schlüssel des sächsischen Landrechts, 1928 (Neudr. 1970); SINAUER, Erika: Studien zur Entstehung der Sachsenspiegelglosse, in: Neues Archiv der Gesellschaft für ältere dt. Geschichtskunde 50, 1935, 475-581, dazu ZRG, GA, 55, 1935, 545; SPRANDEL, Rolf: Verfassung und Gesellschaft im Mittelalter, 5 1994 = UTB 461; Die Zeit der Staufer. Geschichte — Kunst — Kultur, 4 Bde., 1977 = Katalog der Stuttgarter Stauferausstellung; STEFFENHAGEN, Emil: Die Landrechtsglosse des Sachsenspiegels. Nach der Amsterdamer Handschrift, Teil 1: Einleitung und Glossenprolog, 1925; THEUERKAUF, Gerhard: Lex, speculum, compendium iuris. Rechtsaufzeichnung und Rechtsbewußtsein in Norddeutschland vom 8. bis zum 16. Jahrhundert, 1968; THIEME, Hans: Eike von Repgow, in: Die großen Deutschen, hg. v. Hermann HEIMPEL, Theodor HEUSS U. Benno REIFENBERG, Bd. 1, 1956, 187-200; VOLTELINI, Hans von: Der Verfasser der sächsischen Weltchronik. — Der Sachsenspiegel und die Zeitgeschichte, 1924 = Forschungen zu den dt. Rechtsbüchern II u. III; WADLE, Elmar: Landfrieden, Strafe, Recht: Zwölf Studien zum Mittelalter, 2001; WOLF, Erik: Eike von Repgow, in: Große Rechtsdenker der deutschen Geistesgeschichte, 4 1963, 1 29; WOLF, Gunther (Hg.): Stupor Mundi. Zur Geschichte Kaiser Friedrichs II. von Hohenstaufen, 1966; ZEUMER, Karl: Uber den verlorenen lateinischen Urtext des Sachsenspiegels, in: Festschr. Otto Gierke, 1911, 455-474.
Jede rechtshistorische Epoche erscheint durch die Art ihrer Rechtsquellen gekennzeichnet. So bilden die Volksrechte oder leges barbarorum, die in vulgärem Latein unter königlicher Regie aufgezeichneten Stammesrechte der einzelnen germanischen Völkerschaften, neben den königlichen und bischöflichen Kapitularien und den Synodalbeschlüssen die typischen Rechtsquellen der fränkischen Periode, die sich etwa durch die Jahre 500 und 900 n. Chr. umgrenzen läßt. Das sich anschließende, bis ins 13. Jahrhundert reichende Hochmittelalter, die Zeit des universalen Kaisertums, kennt eine an Vielgestaltigkeit zunehmende Fülle zersplitterten Landes- und Ortsrechtes und als besonders charakteristische Quellengruppe die Landfrieden, zumeist befristete und beschworene, oft unter königlichem Gebot stehende Satzungen im Spannungsfeld von König und Adel, die vor allem das Strafrecht zu entw i c k e l n beginnen. D e m darauf folgenden Spätmittelalter, in dem die Staatenbildung anhebt, geben neben dem umfangreichen Schrifttum der gelehrten Jurisprudenz z u m römischen und kanonischen Recht drei ein5
I. Deutsches Recht im Mittelalter: Der Sachsenspiegel heimische Quellengruppen das Gepräge: Die Rechtsbücher, die Stadtrechte und die ländlichen Weistümer. Die Rechtsbücher des Mittelalters sind Arbeiten einzelner Verfasser ohne amtlichen Auftrag, die das Gewohnheitsrecht eines bestimmten Gebietes meist in volkstümlicher Sprache aufzeichnen. Das bedeutendste unter ihnen, zugleich eines der ältesten größeren Prosawerke in deutscher Sprache, ist zwischen 1224 und 1230 entstanden: der Sachsenspiegel Eikes von Repgow, eines der ersten deutschen Rechtsdenker. Fritz Kern hat das mittelalterliche Rechtsdenken in seinem konservativen Grundzug treffend und gültig beschrieben. Die mittelalterliche Weltanschauung als Ganzes, so hat er in seinem berühmten Aufsatz über Recht und Verfassung im Mittelalter ausgeführt, „kennt nicht die D e n k f o r m der Entwicklung, des Wachsens und sich selber Emporbauens, sie betrachtet die menschlichen Vorgänge nicht biologisch (trotz dem aus der Antike geerbten, aber rein morphologisch erstarrten Organismusvergleich des Gesellschaftskörpers). Sie kennt ein ruhendes, gradweis abgestuftes Sein. Das zeitlos Starre, Apriorische der Ethik, nicht das Werden, sondern das Soll beherrscht ihre Anschauung von menschlichen Dingen. Diese Grundform des gebildeten Denkens im Mittelalter verbindet sich leicht der germanischen volkstümlichen Gewohnheit, das Recht als alt und bleibend, als ruhend und in seiner R u h e zu schützend anzunehmen. Germanische Volksüberlieferung und kirchlich-ethische Bildung vereinigen sich, u m einen beharrenden, rein verteidigungshaften, nicht vorantreibenden, sondern in die Unveränderlichkeit des Zeitlosen zurückgezogenen Rechtsbegriff zu schaffen. Das Leben aber schafft auch im Mittelalter täglich Neues; nur m u ß es dies Neuschaffen vor seinem eigenen theoretischen Gewissen mit dem beharrenden Rechtsbegriff in Ordnung und Gleichklang bringen. Änderung und Erneuerung des Rechts ist möglich, ja geboten, sobald sie Wiederherstellung ist, bzw. als solche sich gibt: Kein U m s t u r z , keine Entwicklung, aber fortwährende Enthüllung, Klärung, Reinigung des wahren guten Rechts, das ewig im Kampf liegt mit Unrecht, Trübung, Mißverstand und Vergessen." Mittelalterliches Recht tritt nach diesem Modell gemeinhin als seit unvordenklichen Zeiten überkommenes, mündlich tradiertes Gewohnheitsrecht in Erscheinung, dessen Gütemerkmale Alter, Bewährung und Einsichtigkeit, nicht aber systematische Geschlossenheit, begriffliche Klarheit und logische Stringenz sind. D e m Vertrauen in das Hergebrachte entspricht das Mißtrauen gegenüber dem Neuen. Doch ist damit nur eine Seite des vormodernen Rechtsdenkens beschrieben. Rechtsänderungen jenseits der Rechtsbesserung begegnen ebenso w i e die Einsicht in die historische Bedingtheit normativer Ordnungen vereinzelt auch schon in mittelalterlicher Zeit. 6
1. Eike von Repgow und sein Werk Im 13. Jahrhundert sah sich ein weit größerer Teil des Volkes tätig mit der Rechtspflege befaßt als heute. Eine fast unübersehbare Vielfalt von Gerichten des Reiches, seiner Territorien, Städte und Dörfer, seiner Stände und Genossenschaften z o g einen weiten und auch wechselnden Kreis von Männern aus allen Schichten in den Dienst. D a b e i handelte es sich nicht allein u m die Richter, welche die Prozesse leiteten und in ihnen den Vorsitz führten, ohne noch rechtsgelehrt zu sein; neben ihnen amteten überall Urteiler, Dingleute oder Schöffen, das heißt Kollegien von Angehörigen der Gerichtsgemeinde, wenn diese nicht selbst in ihrer Gesamtheit als „ U m s t a n d " das v o m Richter erfragte Recht sprach. D e m g e m ä ß gehörte die Rechtskunde — nicht die Rechtswissenschaft, denn eine solche hatte sich in den deutschen Landen noch nicht entfaltet und ausgebreitet — z u m geistigen Besitz der meisten Männer, unter deren Teilnahme und vor deren A u g e n sich die Rechtspflege oft als öffentliches Schauspiel, immer als selbstverständliches Stück mittelalterlichen Gemeinschaftslebens vollzog. D a s Rechtswissen fand sich noch kaum aufgezeichnet. „ E s lebte nur im Rechtsbewußtsein der Generationen, zugleich durch die Uberlieferung gebunden und durch die wechselnden Erlebnisse und Anschauungen der Zeit geprägt in jenem geheimnisvollen Prozeß der Tradition und Assimilation, den man mit dem Begriff der Entwicklung nur sehr unvollkommen erfaßt" (Hans Thieme). E s gab darüber noch keine Bücher, nur wenige Satzungen und Weistümer. D i e Fülle rechtlicher Urkunden entbehrte zusammenfassender oder gar systematischer Wiedergaben. D a s Rechtswissen erwuchs aus überliefernden mündlichen Berichten, aus persönlichem — handelndem oder erleidendem — Miterleben. M a n erwarb es nicht in besonderem Unterricht. Überdies hatten nur sehr wenige Deutsche, darunter kaum Laien, damals schon auf einer der neu entstandenen italienischen oder französischen Universitäten wie Bologna, Pavia, Paris, Montpellier studiert und von der dort sich ausbildenden wissenschaftlichen Rechtslehre etwas erfahren. „Wohl ist neben der Bibel, neben antiken Autoren, Kirchenvätern und Chroniken auch die eine oder andere Rechtshandschrift aus fränkischer Zeit in den Klosterschulen jetzt noch gelesen worden, wohl spielte das kanonische Recht im Unterricht bereits eine erhebliche Rolle, aber ohne daß sie in Beziehung zur eigenen Rechtspraxis standen, die vielmehr allein auf dem herkömmlichen Gewohnheitsrecht beruhte und sich außerdem seit alters in deutscher Sprache vollzog, während es ebenso von jeher als ausgemacht galt, daß Rechtsaufzeichnungen nur auf lateinisch erfolgen konnten" (Hans Thieme). Vor diesem Hintergrund erst läßt sich ermessen, was es bedeutete, daß aus der großen Zahl Rechtsverständiger nun einer hervortrat und ein umfangreiches Rechtsbuch in deutscher Sprache verfaßte mit dem 7
I. Deutsches Recht im Mittelalter: Der Sachsenspiegel Ziel, das überlieferte Recht seines Stammes und darüber hinaus das Recht schlechthin als Bestandteil der christlichen Weltordnung schriftlich niederzulegen und festzuhalten. Denn die wohlgegründete O r d nung der Vorfahren schien Eike von R e p g o w durch die Wirren seiner Gegenwart bedroht. Das Recht geriet nicht nur nach seiner Sicht in die Gefahr, unüberschaubar und verdunkelt zu werden. Eike von R e p g o w wollte dem Unrecht entgegenwirken, indem er die Kenntnis des Rechts und der Mittel, es durchzusetzen, mit Hilfe des geschriebenen, also beständigeren und eindeutigeren Wortes verbreitete. „Diz recht en habe ich selbir nicht erdacht", dichtete Eike in der Reimvorrede seines Werks, „ez haben von aldere an uns gebracht unse guten vorevaren. M a g ich ouch, ich will bewaren, daz min schätz under der erden mit mir nicht verwerden. Von gotis genaden die lere min sal al der werlt gemeine sin." U m es vor Mißverstand und Vergessen zu bewahren, will Eike das althergebrachte Recht seiner Heimat schriftlich widerspiegeln. „Spigel der sachsen sal diz buch sin genant", so erklärt der A u t o r in der Praefatio rhytmica den Titel seiner Niederschrift, „wenne des sachsen recht ist hir an bekant, alse an eime spigel die vrowen, die ire antlitz schowen." Damit nimmt Eike das Leitmotiv der lateinischen Spiegelliteratur seiner Zeit auf, w i e es etwa das einflußreiche Speculum ecclesiae des Honorius Augustodunensis erklärt: Die Braut Christi erhält den Spiegel vorgehalten, damit sie erkenne, w a s ihrem Herrn mißfallen könnte. „Es geht also nicht u m bloße Abbildung dessen, w a s ist, sondern zugleich auch u m dessen Korrektur nach dem Maßstab der göttlichen Gebote" (Karl Kroeschell). In Eikes Spiegelbild tritt uns fast die gesamte mittelalterliche Lebensordnung entgegen, das Privat-, Straf-, Verfahrens- und Staatsrecht. Es zeichnet sich damit in den Grundlagen bereits die uns vertraute Vorstellung vom Gemeinwesen ab: der Staat als Rechtseinheit, die auf einem umfassenden Normenbestand beruht, der das Leben jedes einzelnen in nahezu sämtlichen Bereichen berührt. Materien, die vor den ihm vertrauten Gerichten nicht behandelt wurden, läßt das Rechtsbuch indes außer Betracht: das Recht der Kirche und ihrer Diener, der Städte und ihrer Bürger. A u ß e r d e m fehlt das Recht der Ministerialen, das Eike, obw o h l selbst Dienstmann — nämlich des Grafen Heinrich von Anhalt —, nach eigenem Bekunden w e g e n seiner Mannigfaltigkeit unberücksichtigt läßt (Ldr. III 42 § 2). Daß Eike sich der elbostfälischen Mundart seiner Heimat, also der deutschen Sprache bediente, steigert sein Verdienst. Dabei belegt dieser U m s t a n d die Zusammenhänge der europäischen Kultur, denn etwa gleichzeitig w u r d e n Lieder und Epen, bald auch Urkunden und Gesetze, ferner weitere Rechtsbücher, in Deutsch, Franzö8
1. Eike von Repgow und sein Werk sisch und Italienisch geschrieben — Zeichen zunehmenden nationalen Selbstbewußtseins. Wohl noch vor dem Sachsenspiegel und unabhängig von ihm entstand im thüringischen Mühlhausen gleichfalls ein deutsches Rechtsbuch, welches Reichs- und Landrecht für den Gerichtsgebrauch jener Stadt aufzeichnete, freilich auf ein kleines Einflußgebiet beschränkt blieb. Das Bedürfnis nach deutschen Rechtsbüchern oder -spiegeln regte sich also hier und dort. Der Sachsenspiegel gehört in den Zusammenhang der zu jener Zeit überall in Europa entstehenden Rechtsaufzeichnungen. Eikes Werk fand vielfache Nachahmung, und eine ganze Literatur entwickelte sich u m sein Rechtsbuch herum. Eike von R e p g o w gehört nicht in die Reihe der mythischen Rechtsschöpfer, sondern erscheint als historisch belegte Persönlichkeit: in der Vorrede z u m Sachsenspiegel stellt er sich selbst vor, und in sechs rechtsgeschäftlichen U r k u n d e n aus den Jahren 1209 bis 1233 tritt er uns als Zeuge entgegen. Diese U r k u n d e n stecken nicht nur den äußeren R a h men für die Datierung des Sachsenspiegels ab, sondern lassen auch den räumlichen und persönlichen Wirkungskreis Eikes erkennen. Die Urkunden weisen in den ostsächsischen R a u m zwischen Magdeburg und Halberstadt, Dessau und Halle bis gegen Meißen hinüber. Sie belegen Eikes Bekanntschaft mit bedeutenden Reichsfürsten, die seinen Gesichtskreis erweitert haben wird. Eike entstammt einem Herrengeschlecht, das sich nach Reppichau nennt, einem Dorf, das zwischen Dessau und Kothen, zwischen Elbe und Saale, im Einflußbereich Magdeburgs und der Städte am Ostharz liegt. Eikes Geburt läßt sich mit dem Jahr 1180 nur ungefähr ansetzen; sein Leben mag nach 1233 geendet haben. Des Spieglers Leben umspannt die Krisenjahre, in die das deutsche Königtum durch den Tod Heinrichs VI. 1197 geriet. Der wieder aufbrechende staufisch-welfische Gegensatz gab der Zeit sein Gepräge. Eike mag die Wahl Philipps von Schwaben als Platzhalter für den Königssohn durch die Stauferpartei im nahen Mühlhausen verfolgt haben und dessen großen Hoftag an Weihnachten 1199 zu Magdeburg, den Walther von der Vogelweide besungen hat. Der M o r d an Philipp im Jahr 1208 fiel in Eikes Mannesalter, desgleichen der Aufstieg des letzten H o h e n staufenkaisers, Friedrichs II., und das große, vielfach rechtsetzende Vierte Kirchenkonzil von 1215 im Lateran, das die weltliche Herrschaft des Papstes und sein Schiedsrichteramt gegenüber den Königen und Fürsten herausstellen sollte. Zu Eikes Lebzeiten ergingen Kaiser Friedrichs II. Fürstenprivilegien der Jahre 1220 und 1232, die „Confoederatio cum principibus ecclesiasticis" und das „Statutum in favorem principum", grundgesetzliche Zugeständnisse der Krone an die Reichsfürsten, die ihre Territorialhoheit zu entwickeln und auszubauen trachteten und 9
I. Deutsches Recht im Mittelalter: Der Sachsenspiegel dafür auch Rechtstitel des Reiches reklamierten. Die Confoederatio w i e das Statutum haben im Text des Sachsenspiegels Spuren hinterlassen (Ldr. I 1, III 60 § 2, III 52 § 2, III 66 § 1). Friedrichs Kämpfe mit dem Papst, seine Exkommunikation, seine Fahrt ins Heilige Land und die Wiederversöhnung von 1230 bildeten Ereignisse, welche die Zeitgenossen in ihren Bann zogen, auch w e n n die Nachrichtenübermittlung noch überaus langsam vonstatten ging. Vielleicht hat Eike von R e p g o w noch den Aufstand König Heinrichs (VII.) gegen seinen kaiserlichen Vater, die U n t e r w e r f u n g des Widersetzlichen und die curia solemnis, den feierlichen Hoftag, zu M a i n z im Jahr 1235 erlebt. Der damals von fast allen Fürsten beschworene Landfrieden gelangte, anders als früheres Landfriedensrecht, wohl nicht mehr z u m Spiegier, denn es findet sich kein Niederschlag davon in seinem Werk. Der Mainzer Landfrieden von 1235 erging als erstes Reichsgesetz außer in lateinischer auch in deutscher Sprache. In ihm versuchte Kaiser Friedrich II., auf der H ö h e seines Ruhmes und seiner Macht, das sich zersplitternde Deutschland zu ordnen und die Reichsrechte zu wahren — ohne doch das A u f k o m m e n der territorialen Landesherrschaften und späteren Einzelstaaten noch verhindern zu können. Von der Gesetzessprache des Mainzer Reichslandfriedens unterscheidet sich die Sprache des Sachsenspiegels, dessen Begriffe aus der Mündlichkeit des Gerichts stammen, durch ihren Variantenreichtum bei Bezeichnungen und Bedeutungen, auch durch das Neben- und Miteinander von Rechtswörtern im engeren und weiteren Sinne. Als vornehmer, edelfreier Dienstmann, w o h l Ministerialer des Grafen Heinrich von Anhalt, verkehrte Eike von R e p g o w mit den Fürsten und Herren seiner engeren und weiteren Heimat, die ihm manche Nachricht zutrugen und mit denen sich die weltpolitischen Vorgänge bereden ließen. Seine Rechtskenntnisse mag er sich als Schöffe oder auch als Verwalter ererbten oder zu Lehen getragenen Besitzes, als Berater der in diesem R a u m politisch maßgebenden Askanier und im Austausch mit Fürsten und Standesgenossen erworben haben. A u s Eikes Schriften spricht jedenfalls eine vieljährige Vertrautheit mit dem Recht und eine gereifte Erfahrung. Seine Bildung übertraf das für einen Laien seines Standes übliche Maß. Er konnte Latein, gewiß auch lesen und schreiben — eine damals bei Adeligen noch keineswegs selbstverständliche Kunst! Eike mag die Domschule in Magdeburg oder Halberstadt besucht haben. Seine Kundigkeit im U m g a n g mit dem kanonischen Recht, vor allem mit der Bibel, tritt immer wieder hervor. Eine umfassende Buchgelehrtheit freilich stand ihm sowenig zu Gebote wie die Kenntnis des römischen Rechts. Dafür geriet sein Bericht unverfälscht. Seine Regeln und Sätze atmen noch die Ursprünglichkeit praktischen Rechtslebens. 10
1. Eike von Repgow und sein Werk Großen Einfluß auf seinen Sachsenspiegel gewannen seine geschichtlichen Vorstellungen und Urteile. Die Sächsische Weltchronik, eine Eike lange zugerechnete Geschichtsdarstellung ebenfalls in deutscher Sprache, läßt sich dafür allerdings nicht heranziehen. Stünde Eikes Urheberschaft fest, so fiele helleres Licht auf seinen politischen Standort w i e seinen geschichtlichen Horizont. Indessen kann der Spiegier die Sächsische Weltchronik nicht geschrieben haben. Denn die ursprüngliche Form dieses Geschichtswerks stammt nach Hubert H e r k o m m e r aus den Jahren u m 1260; damals aber hat Eike gewiß nicht mehr gelebt. Nicht Eike hat die Weltchronik benutzt, sondern deren geistlicher A u t o r kannte den Sachsenspiegel. Der Rechtsspiegel zeigt uns jedenfalls das pragmatische Denken eines Mannes, der Geschichte und Gegenwart zu verbinden und dem Vergangenen Lehren abzugewinnen sucht. Der A u t o r ist kundig, aber nicht gelehrt. Seine Schriften bieten neben oft assoziativ angeordneten Wiedergaben auch selbständig Gedachtes, ohne doch im ganzen System und Distanziertheit wissenschaftlicher Arbeiten zu erreichen. Der Sachsenspiegel entstand nicht in einem Wurf. Die Niederschrift erfolgte zuerst in lateinischer Sprache. Die verlorene lateinische Vorfassung läßt sich wenigstens in Teilen erschließen. Karl August Eckhardt hat zeigen können, daß der Auetor vetus de benefieiis, ein Lehnrechtsbuch in holpriger lateinischer Reimprosa, die Vorlage des Sachsenspiegel-Lehnrechts bildete. U n d das Görlitzer Rechtsbuch aus der Zeit u m 1300, eine selbständige deutsche Ubersetzung des Auetor vetus, enthält eine Reihe von Landrechtsartikeln, die nicht Eikes deutschem Sachsenspiegel entstammen, sondern die selbständige Ubersetzung einer verlorenen lateinischen Vorlage sein müssen. Auf Bitten seines Lehnsherrn, des Grafen H o y e r von Falkenstein, des Stiftvogtes von Quedlinburg, übertrug Eike seine Arbeit ins Deutsche, w i e er in der Reimvorrede selbst berichtet. Später überarbeitete und ergänzte er sein Rechtsbuch. N a c h seinem Tode betätigten sich weitere Redakteure an dem Text. So rührt nur der zweite Teil der Reimvorrede von Eikes Hand, während der erste von einem späteren Bearbeiter stammt; und w ä h r e n d Eike Prologus und Textus prologi selbst verfaßte, entsprang eine vierte Vorrede, welche die sächsischen Herrengeschlechter aufzählt („Von der Herren Geburt"), der Feder eines anderen A u tors. Eike gliederte seinen Sachsenspiegel in zwei Bücher: ein Landund ein Lehnrecht. Die Dreiteiligkeit des ersteren geht auf die Zeit u m 1300 zurück. Eike überlieferte das Recht des sächsischen Stammes im Hochmittelalter. Er gestaltete die Rechtssätze nach dem Leben, so wie sie sich bei Gericht und im Gemeinschaftsleben darboten. Die Niederschrift bleibt 11
I. Deutsches Recht im Mittelalter: Der Sachsenspiegel darum ausdrucksvoll, anschaulich und bildhaft. Gelegentlich klingen feierliche Sätze durch, wie die Rechtssage der Volksversammlung sie kannte; mitunter erscheinen Rechtssprichwörter in R e i m oder Prosa. „Wer ouch erst zu der mulen kumt, der sal erst malen" (Ldr. II 59 § 4). „Wor zwene man ein erbe nemen sollen, der eldeste teile unde der lungere kise" (Ldr. III 29 § 2). Gegen Ende des 13. Jahrhunderts begannen Illustratoren den Text des Sachsenspiegels mit erläuternden, kolorierten Federzeichnungen zu versehen, die Leseunkundigen als Erinnerungshilfen dienen sollten und außerdem Glossenfunktion besaßen. Die Codices picturati des Sachsenspiegels oder die Bilderhandschriften aus Dresden, Heidelberg, Wolfenbüttel und Oldenburg gehen auf eine gemeinsame Stammhandschrift zurück, die wohl gegen Ende des 13. Jahrhunderts im nordöstlichen Harzvorland entstand. Ihr Gebrauchscharakter ergibt sich aus den intentionalen Daten, etwa der N e n n u n g des Auftraggebers und seiner besonderen Absicht. Der Sachsenspiegel gewann großes Ansehen. In der Rechtspraxis des 14. und 15. Jahrhunderts, den Gutachten und Schiedssprüchen offenbar bereits studierter Juristen, erscheint der Sachsenspiegel „regelrecht allegiert, also ganz genauso angeführt und zitiert w i e die Quellen des gemeinen kanonischen und römischen Rechts" (Karl Kroeschell). Der Sachsenspiegel w u r d e seit den ersten Jahrzehnten des 14. Jahrhunderts durch die dem Vorbild der gelehrten Jurisprudenz folgenden Glossen römisch-kanonisch überschichtet und gewann so nahezu gleichen Rang wie das römische und kanonische Recht: als consuetudo in scriptis redacta und damit als ius scriptum, certum et finitum. Der Sachsenspiegel verbreitete sich in zahlreichen Handschriften, von denen etwa zweihundert auf unsere Zeit gekommen sind. Im 14. Jahrhundert galt er für das Werk berühmter Gesetzgeber: man führte das Landrecht auf Karl den Großen, das Lehnrecht auf Friedrich I. Barbarossa zurück. „Daß die Gestalt Karls des Großen ebenso wie die Vorstellung von einer Gesetzgebung durch große Herrscher im Sachsenspiegel eine Rolle spielte, ist unbestreitbar" (Karl Kroeschell). Eikes Werk diente den späteren süddeutschen Rechtsbüchern, dem Deutschen· und dem Schwabenspiegel, als Vorlage und beeinflußte auch das Stadtrecht, insbesondere das magdeburgische. In zahlreiche Sprachen übersetzt, dehnte sich das Sachsenspiegelrecht auch jenseits der deutschen Volksgrenze bis nach Polen und in die Ukraine aus. In N o r d deutschland entwickelte sich auf der Grundlage von Eikes Niederschrift das gemeine Sachsenrecht, das als ergänzende oder subsidiäre Quelle hinter das Landes- und Ortsrecht trat und das einheimische H e r k o m men gegenüber dem vordringenden römischen Recht lebendig erhielt. Die durch den Sachsenspiegel herbeigeführte Schriftlichkeit des Rechts 12
1. Eike von Repgow und sein Werk
im sächsischen Gebiet verhinderte eine weitgehende inhaltliche Romanisierung und wirkte so als ein „Hauptbollwerk gegen die Rezeption des römischen Rechts" (Hans Thieme). Freilich: Die von Oberitalien her vordringende römische Jurisprudenz beschäftigte sich mit dem Rechtsbuch und kommentierte oder glossierte es. Das gelehrte Rankenwerk vermochte es, das deutsche Recht romanistisch-kanonistisch zu überformen und im Distinktionsstil der Zeit zu verwissenschaftlichen. Alte deutschrechtliche Institute versanken allmählich. Die älteste und bedeutendste Glosse zum Landrecht verfaßte in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts der brandenburgische Ritter und Hofrichter Johann von Buch, der in Bologna studiert hatte und nun die Konkordanz zwischen dem sächsischen und dem römischen Recht zeigen und herstellen wollte. „Offensichtlich geht es Johann v. Buch hauptsächlich darum, in den leges und canones möglichst viele Regeln zu finden, die einen, wenn auch noch so entfernten Rechtsgedanken enthalten, der mit den Bestimmungen des Sachsenspiegels in Verbindung gebracht werden kann. Er benutzt insoweit — methodisch durchaus zeitgemäß — das römische Recht wie eine Sammlung von regulae iuris, ohne daß es ihm jeweils auf deren konkrete Regelungsgehalte und rechtliche Zusammenhänge angekommen wäre" (Wolfgang Sellert). Nach Abschluß seiner Landrechtsglosse schrieb Johann von Buch zwischen 1325 und 1334 noch ein gelehrtes Prozeßrechtshandbuch, den Richtsteig Landrechts, der nach einleitenden Kapiteln über Richter und Fürsprecher den Rechtsgang für die einzelnen Klagen behandelte, wobei der Autor den Stoff systematisch anordnete und durchdrang. Im 14. und 15. Jahrhundert bildete der Sachsenspiegel — wie angedeutet — das anregende Vorbild für eine ganze Reihe von Rechtsaufzeichnungen. Genannt seien das Görlitzer Rechtsbuch, das schlesische Breslauer Landrecht von 1356, der von einem Geistlichen des Bistums Utrecht verfaßte holländische Sachsenspiegel, das Schöffenrecht des Berliner Stadtbuches von 1397 und der livländische Rechtsspiegel. Für die Rechtsentwicklung im Osten Europas blieb der Sachsenspiegel gemeinsam mit dem Magdeburger Stadtrecht sogar noch während der frühen Neuzeit bedeutsam. Der Deutschenspiegel gründete auf einer oberdeutschen Sachsenspiegelübersetzung, die ein aus Augsburg stammender Minorit nach 1265 gefertigt hatte; er bezog weitere Quellen der römischen und kanonistischen Literatur mit ein. Ungleich stärker wirkte das um 1275/76 in Augsburg entstandene kaiserliche Land- und Lehnrechtsbuch oder Kaiserrecht, später als Schwabenspiegel bekannt. Der unbekannte Autor dieses Rechtsbuches, vielleicht ein Franziskanermönch, stützte sich gleichfalls auf den Sachsenspiegel und benutzte daneben bayerisches 13
I. Deutsches Recht im Mittelalter: Der Sachsenspiegel Volksrecht, fränkische Kapitularien, Landfriedensrecht, ferner römisches und kanonisches Recht und außerdem geistliche Schriften; darum ist er auch ein Schlüsselwerk zur Frührezeption, w i e überhaupt „mit den Rechtsbüchern die erste Stufe einer wissenschaftlichen Rechtspraxis" beginnt (Eva Schumann). Im Unterschied zu seinem sächsischen Vorbild hält sich der Schwabenspiegel kurienfreundlich. A u c h läßt er den Wandel im Verfassungs- und Rechtsleben spüren, der seit dem großen Interregnum, der auf den Untergang des staufischen Hauses folgenden Zeit der Schattenkönige (1254-1273), eingetreten war. Das zeigt sich etwa beim Königswahlrecht, in der Anerkennung der Landesherrschaft, im Prozeßrecht durch den H i n w e i s auf die nunmehr gebräuchliche Folter. Das Kleine Kaiserrecht oder der Frankenspiegel schließlich entstand zur Zeit L u d w i g s des B a y e r n (1314-1347) im fränkischen Hessen und gab dem unter der Regierung dieses Kaisers wieder erstarkten Reichsgedanken Ausdruck. Von den Stadtrechtsbüchern, die sich im spätmittelalterlichen Deutschland gleichfalls ausbreiteten und den Sachsen- w i e den Schwabenspiegel auswerteten, verdienen das Meißner, das Eisenacher und das Freisinger Rechtsbuch wenigstens erwähnt zu werden. In vielerlei Gestalt überliefert, bearbeitet und mehr oder weniger mit dem aufkommenden gelehrten Recht verbunden, in mannigfachen deutschen Mundarten und fremden Sprachen gehalten, hat so das Werk Eikes eine breite W i r k u n g auf das Rechtsleben etlicher europäischer Länder ausgeübt. Der Sachsenspiegel bezeugt die Religiosität seines Autors, so wie die gesamte Kultur des Mittelalters religiös motiviert und imprägniert ist wie kein anderes Zeitalter. M i t einem Gebet z u m Heiligen Geist macht sich Eike von R e p g o w an sein schwieriges Unternehmen; er bittet u m seinen Beistand und u m denjenigen aller guten Leute. In Gott sieht er den Ursprung des Rechts. Den Dienst am Recht nimmt Eike überaus ernst, er steht für ihn unter Gottes Gericht: „Des heiligen geistes minne Sterke mine sinne, daz ich recht unde unrecht den Sachsen bescheide nach gotis hulden unde nach der werlde vromen", heißt es im Prologus. „Des en kan ich aleine nicht getun, dar u m m e bete ich zu helfe alle gute lute, die rechtes geren (wünschen), ab in eine rede beiegent (begegne), die min tummer sin vermiden habe unde da diz buchelin nicht abe en spreche, daz sie ez bescheiden nach irme sinne, so si ez rechtest wissen. Von rechte en sal nimande wisen lib noch leit, noch zorn und gäbe. Got ist selber recht. Dar u m m e ist im recht lip. Dar u m m e sen se sich vor all, den gerichte von gotishalben bevolen si, daz si also richten, daz gotis zorn unde sin gerichte genedicliche obir se gen muze." In diesen Sätzen liegt mehr als bloß erbauliche Deklamation; sie weisen vielmehr bescheiden und ernsthaft auf den Ewigkeitsgehalt alles wirklichen 14
1. Eike von Repgow und sein Werk Rechts, das nicht Menschenhand allein setzt, sondern das unter dem Gebot des Höchsten steht. Das Rechtsbuch weist zahlreiche biblische Bezüge auf — aus vermittelnden Quellen oder gar unmittelbar aus der Vulgata genommene Begriffe w i e rechte warheit und unnrechte gewonheit zeigen Eikes Lehre im Einklang mit der des kanonischen Rechts, das er gewiß kannte. „So bilden Vernunft und göttliche Wahrheit die Maßstäbe, an denen Eike das heimische Gewohnheitsrecht mißt. Wie andere specula des Mittelalters, so zeigt auch der Sachsenspiegel nicht bloß ein Abbild, sondern zugleich ein Vorbild" (Karl Kroeschell). Die N o r m e n für das gesellschaftliche Leben erscheinen im Sachsenspiegel so nicht allein pragmatisch, sondern letztlich religiös begründet. Erscheint Eikes Uberzeugung tief religiös, so w a r sie doch nicht klerikal. Das Werk des Spieglers belegt vielmehr exemplarisch den fortschreitenden Prozeß der Etablierung einer eigenständigen, w e n n auch gedanklich noch an die lateinische Tradition der Kirche gebundenen laikalen Schriftkultur gegen Ende der staufischen Epoche. Die Haltung des Sachsenspiegels gegenüber der Kirche und ihrem Recht führte zu A n griffen von geistlicher Seite gegen das Rechtsbuch. Der Augustinermönch Johannes Klenkok bezeichnete in einer 1372/73 dem Papste Gregor XI. überreichten Schrift einundzwanzig Artikel des Sachsenspiegels als unkirchlich. Der Papst verwarf daraufhin durch die Bulle „Salvator generis humani" von 1374 vierzehn Sätze des Sachsenspiegels, die sogenannten articuli reprobati. Eikes Religiosität durchdringt den Sachsenspiegel und prägt sich in einzelnen seiner Bestimmungen konkret aus. Gott hat den Menschen nach sich selber gebildet, so führt der Spiegier aus (Ldr. III 42), und hat ihn durch seinen Martertod erlöst, den einen w i e den anderen; ihm ist der A r m e ebenso lieb w i e der Reiche. „Dar bi ist u n z kundig von gotes worten, daz der mensche, gotis bilde, gotis sin sal, unde w e r in anders imande zusaget denne gote, der tot wider got." Daraus zieht Eike den wichtigen Schluß, daß die Leibeigenschaft zu Unrecht bestehe. „Nach rechter warheit hat eigenschaft begin von getwange unde venknisse unde von unrechter gewalt, de man von aldere in unrechte gewonheit gezogen hat unde nu vor recht haben wil." Die Glosse hat diesen Satz im Einklang mit der von Augustinus und Isidor von Sevilla herkommenden scholastischen Ständelehre bald entschärft und die Leibeigenschaft zu rechtfertigen vermocht. Religiös bestimmt ist auch der Sinn, den der Spiegier der Geschichte gibt. Die Eigenart des jüdisch-christlichen Geschichtsdenkens liegt darin, daß es das Geschick des Menschengeschlechts als das Hauptthema des Geschichtsverlaufes betrachtet, der zweckvoll auf ein Ziel an15
I. Deutsches Recht im Mittelalter: Der Sachsenspiegel gelegt erscheint. Von der Schöpfung und dem Sündenfall spannt sich der Bogen über das Feld des göttlichen Handelns durch Jesus Christus bis z u m Jüngsten Gericht — eine Heilsgeschichte nach dem Glauben, der auf der Bibel gründet. Sie liefert auch das Gliederungsprinzip: das System der Weltalter. Erzbischof Isidor von Sevilla etwa folgt ihm u m das J a h r 600 in seinem während des Mittelalters berühmten Werk, den Etymologien, einer A r t Realenzyklopädie des überkommenen Wissens der Spätantike. Darauf beruft sich Eike, w e n n er schreibt, „daz sechz werlde solden sin, die werlt bi tusent iaren ufgenomen (gerechnet), unde in deme sibinden solde se zugen (untergehen). N u ist uns kunt von der heiligen schrift, daz an A d e m e de erste werlt began, an N o e die andere, an A b r a h a m die dritte, an M o y s i die vierde, an Davide die vumfte, an gotis geburt die sechste. In der sibenden si w i r sunder gewisse zal (ohne bestimmte Dauer)" (Ldr. I 3 § 1). M i t der Vorliebe des Mittelalters für mythisches Zahlenspiel zieht Eike anschließend die Parallele z u m ständischen A u f b a u der Gesellschaft, der sich in w i e d e r u m sieben Heerschilden darstellt. Verbreiteter mittelalterlicher Lehre folgt Eike auch, w e n n er die Idee der translatio imperii aufnimmt, den Gedanken nämlich, daß das Reich von einem historischen Volk auf das anderere übergegangen sei. Eike schreibt (Ldr. III 44 § 1, nach der Eckhardtschen Übertragung): „Zu B a b y l o n begann das Reich, das w a r gewaltig über alle Lande; das zerstörte C y r u s und überführte das Reich nach Persien, da stand es bis auf Darius den Letzten, den besiegte Alexander und übertrug es an Griechenland; da stand es so lange, bis R o m sich seiner bemächtigte und Julius Kaiser w a r d . N o c h hat R o m davon behalten das weltliche Schwert und von Sankt Peters wegen das geistliche; deswegen heißt es Haupt aller Welt." N o c h manch anderer M y t h o s ließe sich im Sachsenspiegel auffinden. So beherrscht den Anfang (Ldr. I 1, 2, 3) eine aufsteigende Reihe s y m bolischer Zahlen: der eine Gott, die Zwei-Schwerter-Lehre, die heilige Dreizahl mit der dreifachen Freiheit und den drei geistlichen und weltlichen Gerichtsständen, z u m Abschluß die Siebenzahl mit den sieben Weltaltern, den sieben Heerschilden und den sieben Sippegliedern. Der Verfasser hegte auch eine sichtliche Vorliebe für bereits halbvergessene Rechtssprichwörter und Rechtsaltertümer, selbst w e n n sie sich überlebt hatten oder sittlich fragwürdig erscheinen konnten. Ein Beispiel bieten die spöttischen Scheinbußen für Rechtlose: Pfaffenkinder und alle sonst nichtehelich Geborenen erhielten nach dem Sachsenspiegel anstelle des Wergeides ein Fuder Heu, das zwei jährige Ochsen ziehen können, Spielleute den Schatten eines Mannes, Schaukämpfer und ihre Kinder den Widerschein eines von der Sonne bestrahlten Kampfschildes, Ver16
1. Eike von Repgow und sein Werk brecher zwei Besen und eine Schere (Ldr. III 45 § 9). Stark durch altes H e r k o m m e n beeinflußt zeigt sich das Bild, das Eike vom Rechtsgang entwirft. Hier begegnen teils archaische Institute w i e die Urteilsschelte, der Reinigungseid, der gerichtliche Zweikampf mit eingehend geschildertem Ritual und das Beschreien der handhaften Tat. Eikes Lust am Uberlieferten, freilich auch seinem Stolz auf die eigene Rechtstradition und der Sorge u m deren Fortbestand entsprach es schließlich, w e n n das Rechtsbuch die Eigenarten der Stammesrechte wahrte und den Vorzug des sächsischen H e r k o m m e n s heraushob. Neben Eikes Religiosität und seiner Liebe zur Tradition verdient seine praktische Vernunft, seine erfahrene und dem gemeinen N u t z e n verpflichtete Besonnenheit Hervorhebung. Sie zeigt sich in seiner Bereitschaft, die Nützlichkeit von Rechtssätzen abzuwägen, und in seinem Verständnis für Verkehrsbedürfnisse, beispielsweise im Recht der Straßenbenutzung: „Des Königs Straße soll so breit sein, daß ein Wagen dem anderen ausweichen könne. Der leere Wagen soll dem beladenen ausweichen und der minder beladene dem schwereren. Der Berittene weiche dem Wagen aus und der Gehende dem Berittenen; sind sie aber in einem engen Wege oder auf einer Brücke, oder jagt man einen Berittenen oder einen zu Fuß, so soll der Wagen still stehen, bis sie vorbeik o m m e n können. Welcher Wagen zuerst auf die Brücke kommt, der soll zuerst hinübergehen, er sei leer oder beladen" (Ldr. II 59 § 3). Der Sachsenspiegel verdankt seine W i r k u n g nicht zuletzt der Sprachkunst seines Verfassers, der sich oft einprägsamer, spruchartiger Stabund Endreime bediente, die Rechtsgedanken durch plastische Beispiele veranschaulichte und verschiedentlich für bedeutsame Rechtsvorstellungen ein deutsches Wort ausprägte ( z u m Beispiel „auflassen", Ldr. I 9 § 5). „Diese geistige Kraft hat Eike ohne Verletzung der Ehrfurcht vor dem geschichtlichen Brauchtum das Recht seiner Zeit schöpferisch fortbilden lassen. Wo er Verworrenheit oder Lücken im Uberlieferten vorfand, verzichtete sein Ordnungswille nicht auf selbständiges Denken. Er schied dann mit behutsamer Hand, aber entschlossen, das ungewisse Alte aus und schuf Neues. Das gilt sogar für Grundregeln des Verfassungslebens. Sein Ziel w a r freilich auch dabei die Behauptung des Althergebrachten; er wollte es nur richtiger und seinem wahren Sinn gemäß darstellen" (Erik Wolf). Der Sachsenspiegel galt in Preußen bis z u m Inkrafttreten des Allgemeinen Landrechts 1794, in Sachsen bis z u m Sächsischen BGB 1863, in Holstein und Lauenburg, Anhalt und Thüringen als subsidiäre Rechtsquelle sogar bis zur Ablösung durch das BGB. Der Einfluß des Lehnrechts erlosch in Preußen erst mit der neuen Verfassung von 1850. N o c h im ersten Drittel des letzten Jahrhunderts haben Richter sich auf privat 17
I. Deutsches Recht im Mittelalter: Der Sachsenspiegel rechtliche Stellen des Rechtsbuches berufen. So stützte sich das Reichsgericht bei einem Urteil zuletzt im Jahr 1932 auf eine alte Rechtsregel des Sachsenspiegels (RGZ 137, 343 f.). Es ging dabei im Rahmen des § 1821 Abs. 1 Nr. 1 B G B u m die Frage, ob den A n w ä r t e r n bei einem Familienfideikommiß dingliche Rechte zustanden. Die seit der Französischen Revolution aus politischen und wirtschaftlichen Gründen bekämpften, von der Weimarer Reichsverfassung in Artikel 155 Abs. 2 preisgegebenen Familienfideikommisse, gebundene und der Sondererbfolge unterliegende H a u s - oder Stammgüter, beruhten auf Rechtsgeschäft oder autonomer Satzung und sicherten den Bestand adeligen Vermögens, bewahrten es im Interesse des splendor familiae vor der Zersplitterung und erhielten es im Mannesstamm. Der oder die Inhaber des unveräußerlichen und unteilbaren Familienfideikommisses sahen sich beschränkt durch die Kontroll-, M i t w i r k u n g s - und bisweilen auch Sondernutzungsrechte der Anwärter, die Schmälerungen der Substanz des gebundenen Gutes etwa durch Veräußerungen mittels der Revokationsklage bekämpfen konnten. Für den dinglichen Charakter des Rechts der A n w ä r t e r k o m m e entscheidend in Betracht, so nun urteilte das Reichsgericht, „daß der Sachsenspiegel, die Grundlage des gemeinen Sachsenrechts, in Buch I Art. 52 § 1 die Bestimmung enthält, niemand dürfe ohne der Erben Erlaubnis sein Eigen (ererbten Grundbesitz) vergaben, tue er es dennoch, so könnten die Erben das Gut mittels Klage von dem Besitzer herausverlangen und an sich nehmen, gleich als ob der Veräußerer gestorben wäre und ihnen das Gut hinterlassen hätte. Diese das Beispruchsrecht der Erben anerkennende Vorschrift bildet gerade eine der wesentlichen gesetzlichen, deutschrechtlichen Grundlagen für die den Fideikommißanwärtern zustehende — dingliche — Revokationsklage und damit für die Auffassung, daß den Anwärtern dingliche Rechte am Familienfideikommiß zustehen. Dafür, daß diese Grundanschauung gerade in der Fortbildung des gemeinen Sachsenrechts im Gegensatz z u m (römischen) gemeinen Recht durch die Rechtsprechung aufgegeben w o r d e n wäre, erhellt nicht das mindeste." Wenngleich heutzutage k a u m jemals noch ein Gericht unmittelbar auf den Sachsenspiegel angewiesen sein wird, bleibt dieses Rechtsbuch für den Juristen von Interesse: als Quelle vieler dauerhaft bewährter und in jüngeren Rechtswerken fortlebender Regeln und als inhaltsreiches Denkmal alter deutscher Rechtskultur. Die Sachsenspiegelforschung verlagert sich derzeit von den Rechtshistorikern weitgehend zu den Germanisten hin. Sie sieht mittlerweile als Ziel editorischer Bemühungen nicht mehr eine — oft genug fiktive — Rekonstruktion des Urtextes, sondern die überlieferungskritische Her-
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2. Beispiele mittelalterlichen Rechtsdenkens ausgabe der im Rechtsleben tatsächlich verbreiteten und großen Einfluß ausübenden Vulgata-Fassungen (Ruth Schmidt-Wiegand).
2. Beispiele
mittelalterlichen
Rechtsdenkens
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Das Landrecht des Sachsenspiegels beginnt mit einem Grundthema abendländischer Geschichte, dem Verhältnis zwischen geistlicher und weltlicher Gewalt: „Zwei Schwerter hinterließ Gott auf Erden, zu beschirmen die Christenheit. D e m Papst ist bestimmt das geistliche, dem Kaiser das weltliche. D e m Papst ist auch bestimmt, zu beschiedener Zeit zu reiten auf einem weißen Pferd, und der Kaiser soll ihm den Steigbügel halten, damit der Sattel sich nicht verschiebe. Dies ist die Bedeutung: Was dem Papst widersteht, was er mit geistlichem Gericht nicht zu zwingen vermag, daß es der Kaiser mit weltlichem Gericht zwinge, dem Papst gehorsam zu sein. So soll auch die geistliche Gewalt helfen dem weltlichen Gericht, w e n n es dessen bedarf" (Ldr. I 1, nach Karl August Eckhardt). Seit der karolingischen Zeit verstand sich die christliche Welt als C i vitas Dei, als Gottesstaat, in dem sich geistliche und weltliche Gewalt vereinigten. Im Mittelalter zählte der Schutz des Glaubens und der Kirche zu den Friedensaufgaben der weltlichen Mächte, die stets an die überirdischen Zwecke der christlichen Lehre gebunden blieben. N a c h mittelalterlichem Verständnis sollten darum geistliche und weltliche Gewalt einander ergänzen und zusammenwirken, so w i e der Sachsenspiegel dies bildhaft beschrieb und ausdeutete. Bis ins 11. Jahrhundert konnte der weltliche A r m in kirchliche Angelegenheiten eingreifen, ohne die Harmonie grundsätzlich zu stören. Das änderte sich, als die Kirche im Verlauf ihrer großen inneren Reform die Freiheit der geistlichen Gewalt von der weltlichen, libertas ecclesiae, forderte. Der Investiturstreit, ein erbittert geführter Kampf der Kirche u m die freie Besetzung der Bischofsstühle durch kanonische Wahl, machte sichtbar, daß die Christenheit zwei Häupter trug, den Papst und den Kaiser. Ihr Verhältnis, versinnbildlicht durch zwei Schwerter, gab Anlaß zu ausgedehnten theoretischen Kontroversen. Die kurialistische Doktrin verfocht den 22
2. Beispiele mittelalterlichen Rechtsdenkens
Vorrang der geistlichen Gewalt und schuf dem Papst die Rechtsgrundlage für Eingriffe in weltliche Angelegenheiten: für die Absetzung von Herrschern, die Bestätigung der Königs wähl, die Entbindung der Untertanen vom Treueid. Die Zweischwerterlehre im kurialistischen Sinne, wie sie auch der Schwabenspiegel vertrat, sah beide Schwerter unmittelbar von Gott auf die Kirche übertragen, die das weltliche an den König weitergab, wodurch ihre Suprematie zum Ausdruck kam. Demgegenüber lehrte die imperiale Theorie, wie sie etwa Lupoid von Bebenburg 1340 vertrat, die grundsätzliche Gleichordnung der Gewalten. Danach kamen beide Kompetenzen unmittelbar von Gott, der das geistliche Schwert dem Papst, das weltliche dem Kaiser anvertraut hatte. Eike von Repgow nahm diese Lehre in sein Rechtsbuch auf. Sie setzte sich im deutschen Staatsrecht durch. So erklärten im Jahre 1338 die Kurfürsten zu Rhens das Königtum für unabhängig vom Papsttum, dessen Ansprüche auf Bestätigung des deutschen Königs sie zurückwiesen. Das im selben Jahr auf dem Reichstag zu Frankfurt erlassene, durch die Weltreichslehre Wilhelms von Ockham beeinflußte Reichsgesetz „Licet iuris" Kaiser Ludwigs des Bayern bekräftigte diese Linie, ohne daß sich damit das Ringen mit Rom schon entschieden hätte. Noch im 18. Jahrhundert, als die kurialen Ansprüche des Mittelalters sich längst als hinfällig erwiesen hatten, vertrat der Papst den Grundsatz der Abhängigkeit der weltlichen Universalgewalt von der geistlichen; er protestierte gegen die Parität der Ketzer im Reich und gegen den Wandel im Kurkolleg als einer päpstlichen Schöpfung. Das Nebeneinander der beiden Gewalten erscheint noch an weiteren Stellen des Sachsenspiegels, der sich jeweils bemüht, für das Reichsoberhaupt die Lehren aus den Kämpfen der Salier- und Stauferzeit zu ziehen. „Den Kaiser", so lesen wir in Ldr. III 57 § 1, „darf weder der Papst noch sonst jemand bannen seit der Zeit, daß er geweiht ist, außer wegen dreier Sachen: wenn er an dem rechten Glauben zweifelt oder sein eheliches Weib verläßt oder Gottes Haus zerstört". Danach kann der päpstliche Bannstrahl das Reichsoberhaupt nur in eng begrenzten Fällen treffen. Und in Ldr. III 63 § 2 heißt es: „Der Bann schadet der Seele und nimmt doch niemand das Leben und mindert niemanden an Landrecht noch an Lehnrecht, da folge denn des Königs Acht nach." Eike erkennt also dem päpstlichen Bann weltlich wirksame Rechtsfolgen nur zu, wenn der königliche Achtspruch hinzukommt; dieser liegt bei schweren Freveln in der Pflicht des Reichsoberhaupts. Allgemein gilt im Sachsenspiegel der Kaiser als Schutzherr der Kirche und ihrer Diener. Dafür schulden diese, vor allem die geistlichen Lehensträger, dem Reich die Treue.
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I. Deutsches Recht im Mittelalter: Der Sachsenspiegel Das Königswahlrecht des Sachsenspiegels gewann maßgebende Bedeutung. „Die Deutschen sollen von Rechts w e g e n den König küren. Wenn der geweiht w i r d von den Bischöfen, die dazu eingesetzt sind, und auf den Stuhl zu Aachen kommt, so hat er königliche Gewalt und königlichen Namen. Wenn ihn der Papst weiht, so hat er des Reiches Gewalt und kaiserlichen N a m e n " (Ldr. III 52 § 1). Die Thronfolge beruhte im Mittelalter auf einer Kette von Akten. N e b e n die Wahl traten die Thronsetzung zu Aachen, die den Erwerb der Krone Karls des Großen bedeutete, und die päpstliche Krönung. Hieran hielt Eike fest; er anerkannte insbesondere die W ü r d e des Papstes und unterschied deutlich zwischen dem Königtum und der Kaisergewalt. Theorie freilich blieb seine Aussage, daß jeder freie M a n n König werden könne (Ldr. III 54 § 3). Das Geblütsrecht erhielt sich neben der konstitutiven Wahl. Besonderen Einfluß indessen gewannen die Wahlregeln in Ldr. III 57 § 2, die nach der neueren Forschung w o h l nicht von Eike selbst stammen, sondern erst u m 1273 entsprechend dem bei der Wahl Rudolfs von Habsburg geübten Verfahren in den Sachsenspiegel Eingang fanden: „Bei des Kaisers Kur soll der erste sein der Bischof von Trier, der zweite der Bischof von Mainz, der dritte der Bischof von Köln. Unter den Laien ist der erste bei der Kur der Pfalzgraf v o m Rhein, des Reiches Truchseß; der zweite der Marschall, der Herzog von Sachsen; der dritte der Kämmerer, der Markgraf von Brandenburg. Der Schenke des Reiches, der König von Böhmen, hat keine Kur, weil er nicht deutsch ist. Danach küren des Reiches Fürsten alle, Pfaffen und Laien. Die als erste bei der Kur benannt sind, die sollen nicht küren nach ihrem M u t willen; sondern w e n die Fürsten alle z u m König erwählen, den sollen sie allererst bei N a m e n küren." Danach stand allen Fürsten, nicht mehr dem Volk, das Wahlrecht zu. Die Gesamtheit der Reichsfürsten repräsentierte dabei das Volk. Erst beim Kürspruch, beim Bekenntnis zu einem bestimmten Thronwerber, traten sechs der W ä h l e r besonders hervor: die vier rheinischen Fürsten, die bereits Papst Innozenz III. im Thronstreit zwischen Weifen und Staufern als unentbehrlich bezeichnet hatte, der Herzog von Sachsen und der Markgraf von Brandenburg. Auffallenderweise überging der Sachsenspiegel die mächtigen Herzöge von Bayern und von Osterreich. Das Kurrecht der drei weltlichen Kurfürsten erschien als Annex ihrer Ehren- oder Erzämter beim Krönungsmahl. Das Rechtsbuch vertrat diese Erzämtertheorie nicht allein. Seit dem 13. Jahrhundert brachten die Dichtung, etwa die Kurfürstenerzählung des Lohengrin, auch die Rechts- und Geschichtsliteratur das Vorrecht der Wahlfürsten mit den höfischen Ehrendiensten in Zusammenhang, ja leiteten das Kurrecht gar 24
2. Beispiele mittelalterlichen Rechtsdenkens
aus dem Erzamt ab. Obwohl die Kurfürsten bei der Wahl selbst keinen Vorzug genießen, sondern als Treuhänder an den Willen der gesamten Fürsten gebunden bleiben sollten, gewannen sie das Ubergewicht und bald das alleinige Bestimmungsrecht: Wahl und Kur fielen zusammen. Die Kurfürstenliste des Sachsenspiegels indessen setzte sich reichsrechtlich durch, freilich in der vollen Siebenzahl. Der Ausschluß des Böhmen, der unter den weltlichen Fürsten das älteste Reichserzamt bekleidete und dessen Hof deutsche Kultur prägte, hielt sich nicht. Der Böhme galt später sogar als Ranghöchster unter den weltlichen Kurfürsten. Auch die Notwendigkeit der Teilnahme aller Kurfürsten an der Wahl ging nicht ins Reichsrecht über. Vielmehr genügten stets vier Kurstimmen als Quorum für die Beschlußfähigkeit und als Majorität. Mit der Akzeptanz des Mehrheitsprinzips schloß die Siebenzahl des Kurkollegs Doppelwahlen von Rechts wegen aus. Diese Grundsätze faßte später die Goldene Bulle Kaiser Karls IV., das Reichsgrundgesetz von 1356, feierlich zusammen. Hier erschien das Recht zur Königswahl endgültig gesichert und mit einem festen und engen Kreis geistlicher Ämter und weltlicher Dynastien verbunden und so — anders als in Frankreich und England — das Erbkönigtum ausgeschlossen. Die neuere Forschung hat aufgedeckt, daß die vier weltlichen Kurfürsten, die sich mit den drei Erzbischöfen zum Kurkolleg zusammenschlossen, allesamt Repräsentanten ottonischer Tochterstämme waren. Im Bewußtsein dieser Verwandtschaft haben sie sich zugunsten eines Wahlkönigtums und eines Erbkurfürstentums zugleich entscheiden können. „Sie wahrten damit ihr Geblütsrecht, ihre zur Königswahl berechtigende königliche Abstammung" (Armin Wolf). Anders als Wolf begreift Franz-Reiner Erkens „das Werden des Kurfürstenkollegiums als einen vielen Einflüssen unterworfenen Prozeß, mithin als einen genetischen Vorgang". So habe der Besitz der Erzämter im Laufe der Zeit immer mehr an Bedeutung gewonnen. „Der Ursprung der Theorie bleibt zwar dunkel, und ihre Aufnahme in den Sachsenspiegel führte nicht allein schon zum exklusiven Wahlrecht der späteren sieben Kurfürsten; aber zusammen mit anderen Faktoren hat sie den Weg dahin mitbestimmt." Eike betont und stärkt die Rechte des Königs. Allein der König erscheint als Lehnsherr der weltlichen Fürsten, und auch die geistlichen schulden ihm Treue. Der König gilt als oberster Richter. Wer ihm Rechtshilfe leistet, bricht ein anderes Treueverhältnis, etwa zum Lehensherrn, keineswegs. Jedes Bündnis der Fürsten, welches das Reich nicht ausnimmt und damit auch nicht den Monarchen, der es verkörpert, verstößt gegen das Recht. Aber auch der König selbst steht unter dem Recht. „Der Mann kann auch dem Unrecht seines Königs und seines 25
I. Deutsches Recht im Mittelalter: Der Sachsenspiegel Richters widerstehen und auch helfen, dem in jeder Weise zu wehren, sei jener auch sein Vetter oder sein Herr, und er tut damit nicht w i d e r seine Treue" (Ldr. III 78 § 2). Diese germanisch-deutsche Lehre v o m Widerstandsrecht unterscheidet sich wesentlich von der spätantiken Bestimmung des Kaiserrechts, die sich für Italien doch schon zur Zeit Friedrich Barbarossas in der Reichskanzlei findet: „Dein Wille ist das Recht, w i e es (bei Justinian) heißt; w a s dem Fürsten gefällt, hat Gesetzeskraft, weil ihm das Volk seine ganze Befehlsgewalt und Macht übertragen hat" (1158). Der Sachsenspiegel folgt dem römischen „princeps legibus solutus" indessen nicht, bindet vielmehr auch den Herrscher an das Recht. Er untersteht selbst einer Gerichtsbarkeit, nämlich der des Pfalzgrafen (Ldr. III 52 § 3); und es kann ihm gar „das Reich mit Urteilen aberkannt" werden (Ldr. III 54 § 4). Das Gesellschaftsbild des Spieglers zeigt eine statisch geschichtete, gottgewollte Ordnung mit einem vorgegebenen Gefälle v o m H o h e n z u m Niedrigeren. Der König hält die Spitze der Stände, die das Reich rechtlich — gleichsam pyramidenförmig — aufbauen. N o c h tritt das Prinzip der Gebietsherrschaft neben dem älteren System der Lehenshierarchie nicht deutlich hervor. Mit Francois Louis Ganshof läßt sich das Lehnswesen, wie es sich seit dem Karolingerreich ausgebildet hat, als eine Gesamtheit von Instituten bestimmen, die zwischen freien Vasallen auf der einen und freien Herren auf der anderen Seite wechselweise Rechte und Verbindlichkeiten begründen und regeln: der Vasall ist dem H e r r n gegenüber zu Gehorsam und Dienst, insbesondere zur Waffengefolgschaft verpflichtet, und der H e r r schuldet dem Vasallen Schutz und Unterhalt, welch letzteren er meist durch Verleihung eines Gutes, des Lehens, erbringt. N u r w e r Anteil an der Heerschildordnung hat, w e r also lehensfähig ist, kann auch politische Geltung besitzen. Die von den Rechtsbüchern formulierte, im Kern indes ältere Heerschildordnung gibt an, wessen Vasall der Freie werden darf, ohne seinen Rang in der Lehnshierarchie, seinen Schild, zu mindern. Der Sachsenspiegel gliedert das Reich lehnsrechtlich in sieben Heerschilde (Ldr. I 3 § 2). Den ersten von ihnen führt der König. Im zweiten Glied stehen die geistlichen Fürsten, im dritten die weltlichen. Den vierten Heerschild haben die freien Herren und Ritter, den fünften die schöffenbar freien Grundeigentümer von mindestens drei H u f e n Land. Mit den schöffenbar Freien meint Eike vormals Freie: Ministeriale, die sich beim Eintritt in eine Dienstmannschaft ihre Schöffenfähigkeit und das dafür erforderliche Eigengut vorbehalten hatten. Ihr Eindringen in die Gerichte suchte der Spiegier einzudämmen. Der sechste Heerschild gebührt den Dienstleuten des fünften; der siebte bleibt offen. In dieser Lehnshierarchie finden die an Zahl und Macht zunehmenden Stadtbürger noch ebensowenig Platz w i e 26
2. Beispiele mittelalterlichen Rechtsdenkens
die freien Bauern und die Hörigen aller Art. Eike begründet sein System mit der Tradition von den sieben Weltaltern. Die Siebenstufigkeit begegnet übrigens auch sonst, etwa im Aufbau der Sippengemeinschaft, der Grundlage des Erbrechts (Ldr. I 3 § 3). Eike stellt die Sippe nach dem Bild des menschlichen Körpers dar: das Haupt versinnbildlicht die Ehegatten, im Hals stehen die Kinder, der Rumpf verkörpert die Hausgenossenschaft, Seitenverwandte bilden die Glieder. Da auch im Königswahlrecht die um eins verkürzte Siebenzahl auftritt, läßt sich vermuten, daß der Sachsenspiegel mit ihr — ähnlich wie die Bibel — schöpfungsund heilsgeschichtliche Ideen verband. Als eines der obersten Ziele gilt dem Sachsenspiegel der Frieden, der die Ordnung des Landes prägen soll. „Wie zum Recht besteht eine enge Beziehung des Landes zum Frieden. Die Sorge um den Landfrieden ist zentrale Aufgabe der Herrscher; auch die Reichsfrieden sind Reichslandfrieden und beziehen sich wie der Mainzer von 1235 auf die consuetudines terrae" (Otto Brunner). Als der berufene Wahrer und höchste Beschützer des Rechtsfriedens erscheint der deutsche König. Eike von Repgow begegnet dem überlieferten Brauch der ritterlichen Fehden mit Abneigung. Er strebt danach, die vielfältigen Sonderfrieden seiner Zeit einzuschärfen und mit dem Ziel eines gemeinen dauernden Friedens für alle Landbewohner fortzuentwickeln. Der Schutz sozial Schwacher findet das besondere Interesse des Spieglers: „Nun vernehmt den alten Frieden, den die kaiserliche Gewalt bestätigt hat dem Lande zu Sachsen mit Willkür der Edelknechte aus dem Lande. Alle Tage und alle Zeit sollen Frieden haben Pfaffen und geistliche Leute, Mädchen und Frauen und Juden an ihrem Gut und an ihrem Leben, Kirchen und Kirchhöfe und jedes Dorf innerhalb seines Grabens und seines Zaunes, Pflüge und Mühlen und des Königs Straßen zu Wasser und zu Lande, die und alles was dorthin kommt, sollen steten Frieden haben" (Ldr. II 66 § 1). Im Dienste eines weitreichenden Friedensschutzes erstreckt der Sachsenspiegel die öffentliche Strafgewalt auf alle schweren Friedensbrüche. „Alle Mörder und die den Pflug berauben oder eine Mühle oder eine Kirche oder einen Kirchhof, und Verräter und Mordbrenner, oder die ihre Vollmacht zu ihrem Nutzen mißbrauchen, die soll man alle radbrechen" (Ldr. II 13 § 4). „Wer einen Mann erschlägt oder fängt oder beraubt oder ohne Mordbrand brennt oder Weib oder Mädchen notzüchtigt, und Friedebrecher und die beim Ehebruch ergriffen werden, denen soll man das Haupt abschlagen" (Ldr. II 13 § 5). Der Friedebrecher unterliegt der außergerichtlichen Strafverfolgung. „Wenn einer einen Friedebrecher tötet oder verwundet, der bleibt dessen ohne Buße, wenn er das selbsiebt beweisen kann, daß er ihn auf der Flucht oder bei der Tat verwundete, da er den Frieden brach" (Ldr. II 27
I. Deutsches Recht im Mittelalter: Der Sachsenspiegel 69). Der Sachsenspiegel kennt die erlaubte Selbsthilfe noch in weiteren Fällen, etwa in Gestalt der Fehde und der außergerichtlichen Pfändung, im Verfahren auf handhafter Tat und gegen Geächtete. Neben dem gerichtlichen Rechtsgang steht der außergerichtliche, neben der Rechtshilfe der Selbstschutz. Der Spiegier sucht das zerstörerische Faustrecht einzudämmen, ohne es doch ausschließen zu können. Denn noch hat sich die Territorialgewalt nicht in einem M a ß e entwickelt, das es der Landesobrigkeit erlaubt hätte, den Friedens- und Rechtsschutz umfassend selbst zu gewährleisten. Immerhin deutet das Rechtsbuch den langsamen Fortschritt auf dieses Ziel hin an, den auch das materielle Strafrecht belegt. Was im Mainzer Landfrieden von 1235 und im Sachsenspiegel ungefähr der gleichen Zeit als selbstverständlich gilt, daß die schwereren Freveltaten oder „ungerichte" peinlich an Leib und Leben, die geringeren Vergehen an H a u t und Haar zu strafen seien, das hat sich unter Verdrängung des stammesrechtlichen Bußenstrafrechts nach dem Kompositionensystem im Zeitalter der Gottes- und Landfrieden v o m 11. bis z u m 13. Jahrhundert allmählich durchgesetzt. Die mittelalterliche Landfriedensbewegung also hat Ansätze eines strengen, peinlichen Strafrechts entwickelt, das Eike wiedergibt, ein Recht, welches die Sühneleistungen, Wergeid und Buße nach katalogartigen Sätzen, mehr und mehr zurückdrängte, den Unterschied zwischen handhafter und nicht handhafter Tat fallen ließ und damit etwa die Todesstrafe bei schwerem Diebstahl nicht nur dem auf frischer Tat betroffenen Täter androhte. „ N u n vernehmt", so führt der Sachsenspiegel in Ldr. II 13 § 1 aus, „über Verbrechen, welches Gericht darüber ergehe: Den Dieb soll man hängen. Geschieht aber in einem Dorfe bei Tag ein Diebstahl, der weniger als drei Schillinge wert ist, den kann der Bauermeister am selben Tage richten zu H a u t und zu Haar, oder mit drei Schillingen zu lösen; so bleibt jener ehrlos und gerichtsunfähig." Der Strang w i e das Stäupen, Schlagen oder der Haarverlust werden hier ohne Unterschied der prozeßrechtlichen Situation, also auch bei nicht handhafter Tat, angedroht. Die Lösung durch Geld erscheint rechtlich bereits zurückgebildet. Faktisch bleibt sie bis in die frühe Neuzeit hinein verbreitet. Der Kreis der peinlich, namentlich mit Lebensstrafen zu ahndenden Taten hat auf der Grundlage der Friedensordnungen einen zunehmend weiteren U m f a n g angenommen. Im Sachsenspiegel begegnet demzufolge die peinliche Strafe in zahlreichen Fällen. Das System der öffentlichen, insbesondere der peinlichen Strafen im Mittelalter steht, w i e Eberhard Schmidt in seiner „Einführung" formuliert, „weder w i e aus einem Guß plötzlich fertig da, noch begegnet es uns in allen deutschen Obrigkeitsbereichen überall in gleicher Weise, noch stellt es die einzige Methode der Ahndung strafbarer Handlungen 28
2. Beispiele mittelalterlichen Rechtsdenkens
dar". Denn das Bußenstrafrecht, Fehde und Sühne dauerten, auch nach dem Bild des Sachsenspiegels, fort. Die politische Zerrissenheit, die Vielzahl der Herrschafts- und damit Rechtsentstehungskreise ließen allenthalben Unterschiede bei der Ausgestaltung und Anwendung der einzelnen Strafmittel entstehen. Auch verlief die Entwicklung in den verschiedensten Teilen des Reiches durchaus ungleichmäßig schnell. Es fehlte die zentrale Vollzugsgewalt, die Neues hätte einführen und Altes hätte außer Kraft setzen können. So blieb das alte Recht neben dem jüngeren bestehen, und nur in dem Maße, in dem die Neuerungen immer dringender wurden, vollzog sich die Abkehr vom frühmittelalterlichen Bußenstrafrecht, das die Privatinitiative des Verletzten und Sühneleistungen des Verletzers kennzeichneten. An Todesstrafen kennt der Sachsenspiegel den Galgen, das Enthaupten, den Scheiterhaufen und das Rad. Als verstümmelnde Leibes- oder Gliederstrafen begegnen das Abschlagen der Hand und das Ausschneiden der Zunge. Zu den leiblichen Übeln gehören auch die Strafen zu Haut und Haar: Die Bilderhandschriften zeigen den Delinquenten an einen Pfahl gefesselt, während der Henker ihm das Haar schneidet und ihn mit Ruten streicht. Der Verlust des Haares demütigt den Missetäter — ein Zweck, der auf die im Mittelalter in mancherlei Spielart verbreiteten und häufig gebrauchten Ehrenstrafen hinweist. Sie wollen — etwa mittels des seit dem 13. Jahrhundert bezeugten Prangers — den Verurteilten öffentlich beschimpfen. Eine andere Gruppe der Ehrenstrafen verhängt über den Rechtsbrecher die Ehr- und Rechtlosigkeit, bedeutet für ihn insbesondere den Verlust der Gerichtsfähigkeit. Diese Art der Ehrenstrafe ist mit Acht- und Todesurteilen verbunden und tritt bei manchen Delikten wie Diebstahl und Meineid als Nebenfolge ein. Den Freiheitsentzug kennt das Mittelalter noch nicht als weltliche Strafe. Die Gefängnisse in Türmen und Rathauskellern verwahren den Gefangenen während des Prozesses und bis zur Exekution. Zwar kommt seit dem 14. Jahrhundert in den Städten auch ein längerer Freiheitsentzug vor, doch wirkt er wie eine Leibes- oder gar wie die Todesstrafe. Denn in den mittelalterlichen Gefängnissen, die nichts mit den neuzeitlichen Vollzugsanstalten gemein haben, leiden die Gefangenen durch Dunkelheit, Kälte, Ungeziefer und Hunger körperliche Qualen. Das Bußenstrafrecht, wie es im Kompositionensystem der Volksrechte und in seinen letzten Ausläufern bis tief in das Mittelalter hinein galt, wollte dem Verletzten und seiner Sippe eine Genugtuung zuteil werden lassen, ihn durch Sühne besänftigen, und dabei auch dem Schadensausgleich dienen. Diese Zwecke lebten im Wergeid und bei der Buße, auch in den Ablösungsrechten des Sachsenspiegels fort. Die Grundgedanken des mittelalterlichen peinlichen Strafrechts lassen sich 29
I. Deutsches Recht im Mittelalter: Der Sachsenspiegel dagegen nicht so leicht auf eine Formel bringen. Eike von R e p g o w gelangte sowenig w i e andere zeitgenössische deutsche Schriftsteller zu einer einheitlichen Erkenntnis des Rechtsgrundes der Strafe. Gewiß spielte der Vergeltungsgedanke eine Rolle, denn jede Strafe erfolgt i m mer auch, quia peccatum est. U n t e r dem Einfluß alttestamentarischer Tradition nahm das Vergeltungsprinzip vielfach eine Wendung zur Talionsidee: die Strafe fügte dem Täter das gleiche Übel zu, das sein Verbrechen dem Verletzten beigebracht hatte. „Wenn einer den anderen lähmt oder verwundet, w i r d er dessen überführt, man schlägt ihm die H a n d ab" (Ldr. II 16 § 2 S. 1). Christlichem Denken erschien die Strafe außerdem bis in das 17. Jahrhundert hinein als Mittel, Gottes Zorn über die Missetat abzuwenden, das Land zu entsühnen — eine Vorstellung, deren Wurzeln teilweise bis in die heidnisch-germanische Zeit zurückreichten. Gleichwohl lassen sich die genannten Gedanken nicht als die beherrschenden Leitprinzipien des öffentlichen Strafens im Mittelalter bezeichnen. „In erster Linie werden Sinn und Zweck der peinlichen Strafen in politischen Erwägungen zu suchen sein, wie sie sich schon den Schöpfern der Landfrieden haben aufdrängen müssen. Die peinlichen Strafen w u r d e n zuerst im Kampf gegen die Landfriedensbrecher, ein z u m Teil äußerst gefährliches Verbrechertum, eingesetzt. Die obrigkeitlichen Machtmittel in diesem Kampfe waren an sich nicht groß. Eine straffe Zentralgewalt fehlte. Die Durchschlagskraft der Strafverfolgung w a r im allgemeinen gering. Aus all diesen Verhältnissen heraus ergab sich von selbst der Gedanke, daß man mit harten Strafandrohungen und mit nicht minder harten Vollzugsmethoden auf die zu bekämpfende Verbrecherwelt einen möglichst abschreckenden Eindruck machen müsse . . . M i t dem Abschreckungsgedanken aber hat der Gedanke der Unschädlichmachung des Verbrechers und damit der Entlastung des Gemeinwesens von s c h ä d l i c h e n Leuten' aufs einfachste verbunden werden können. Im Sinn der Unschädlichmachung haben die Todesstrafen, aber auch die Leibesstrafen, die, w e n n nicht letztlich auch z u m Tode, doch zu einer erheblichen Krüppelhaftigkeit führten, einen ganz unmittelbaren und sicheren Effekt verbürgt . . . Das Mittelalter zeigt mit aller Deutlichkeit, daß Härte und Grausamkeit der Strafrechtspflege ein Zeichen politischer Schwäche ist" (Eberhard Schmidt). Diese durch grundsätzliche Einsprüche der christlichen Kirche k a u m gemilderten Züge des mittelalterlichen Strafrechts treten gleichermaßen im Sachsenspiegel hervor. Das Rechtsbuch bietet auch etliche Belege für die Verwendung der spiegelnden Strafe, die das begangene Verbrechen am Täter offenbar machen und andere damit zugleich abschrecken sollte. Ein altertümliches Beispiel dafür enthält die Stelle Ldr. II 28 § 3: 30
2. Beispiele mittelalterlichen Rechtsdenkens
„Wenn einer nachts gemähtes Gras oder gehauenes Holz stiehlt, das soll man richten mit der Weide." Der nächtliche Feld- oder Walddieb wurde nicht mittels eines Strickes an den Galgen geknüpft, sondern mit einem aus Weiden geflochtenen Strang, einer aus Gewächsen des Feldes und Waldes hergestellten Schlinge. Kennt der Sachsenspiegel bereits ein System abgestufter Strafen, so fehlen ihm doch — wie dem mittelalterlichen deutschen Strafrecht vor der Rezeption des römisch-italienischen Rechts überhaupt — umschriebene Tatbestände und durchgebildete Begriffe, die das kanonische Strafrecht der Zeit schon kannte. Ein tastendes Suchen spricht aus vielen strafrechtlichen Sätzen. Der Spiegier kann die Problematik des Verschuldens noch nicht eigentlich erfassen, Vorsatz und Fahrlässigkeit als Schuldarten noch nicht klar unterscheiden und begrifflich vom Zufall absondern. Die Stelle Ldr. III 48 § 3, ein späterer berühmter Zusatz, reicht nicht so weit, wie es zunächst scheint: „Bleibt aber ein Vieh tot oder lahm von eines Mannes Schuld, und doch ohne seinen Willen, und leistet er darauf seinen Eid, er bezahlt es ohne Buße, wie hiervor gesagt ist." Vielmehr besteht die archaische Erfolgshaftung, wie an anderen Orten des Rechtsbuches zu lesen, noch immer fort, wenngleich die Rechtspflege mit der Missetat zunehmend den verbrecherischen Willen zu ahnden sucht und zwischen gewollter und ungewollter Tat zu unterscheiden lernt. Nach wie vor haftet man an äußerem Schein, wenn es gilt, die eine oder andere Spielart aufzunehmen, und die typischen Ungefährwerke finden sich noch immer. „Der Mann soll den Schaden bezahlen, der anderen Leuten infolge seiner Unachtsamkeit geschieht, es sei durch Brand oder durch einen Brunnen, den er nicht einfriedigt kniehoch über der Erde, oder wenn er einen Mann oder ein Vieh anschießt, oder wirft, wenn er nach einem Vogel zielt; hierum erkennt man ihm nicht sein Leben oder seine Gesundheit ab, wenn der Mann auch stirbt; aber er muß für ihn zahlen, wie sein Manngeld steht" (Ldr. II 38). Auch das Problem der Zurechnungsfähigkeit erfährt nur ansatzweise Teilantworten. Kinder und Geisteskranke haften strafrechtlich nicht. „Ein Kind kann unter seinen Jahren nichts tun, wodurch es sein Leben verwirke. Erschlägt es einen Mann oder lähmt es ihn, sein Vormund soll es büßen und bessern mit jenes Manngeld, wenn es gegen es nachgewiesen wird. Welchen Schaden es tut, den soll er bezahlen nach seinem Wert mit des Kindes Gut" (Ldr. II 65 § 1). „Man soll über kein Weib, die ein lebendes Kind trägt, höher als zu Haut und Haar richten. Über rechte Toren und einen schwachsinnigen Mann soll man auch nicht richten; w e m sie aber schaden, ihr Vormund soll es bezahlen" (Ldr. III 3). Die Frage des Schadensausgleichs und der Straffolge einer Missetat 31
I. Deutsches Recht im Mittelalter: Der Sachsenspiegel regelt das Rechtsbuch in engem Zusammenhang. Die Privilegierung der werdenden Mutter und die Straffreiheit des Schwachsinnigen verknüpft der Sachsenspiegel assoziativ unter dem Gesichtspunkt des Schutzes des Beschuldigten, ohne die Unterschiede im Grund herauszuarbeiten. Es zeugt indes von dem hohen Ethos des Spieglers, w e n n er hier w i e sonst den Schutz des Schwachen und Unbeholfenen überaus ernst nimmt. „Jeder Mann", lesen w i r im Ldr. III 71 § 1, „den man beschuldigt, kann sich wohl weigern zu antworten, man beschuldige ihn denn in der Sprache, die ihm angeboren ist, w e n n er Deutsch nicht kann und seinen Eid darüber leistet. Beschuldigt man ihn dann in seiner Sprache, so muß er antworten oder sein Fürsprecher von seinetwegen, daß es der Kläger und der Richter vernehmen." Das deutsche Strafrecht des Mittelalters klammert sich an starre Versuchsdeliktstypen. Im Bereich der Teilnahme überwiegt gleichfalls kasuistische Unsicherheit. „Wegen einer W u n d e kann man nur einen M a n n verklagen, doch kann man Rates oder Hilfe mehr Leute beschuldigen", sagt der Sachsenspiegel (Ldr. III 46 § 2), ohne doch Täter und Teilnehmer begrifflich zu scheiden und zu sagen, w i e Ratgeber und Helfer strafrechtlich haften sollen. A u c h für die Notwehr- und N o t standsfälle gelangen die Rechtsbücher noch nicht zu allgemeinen Grundsätzen. Kein wesentlich anderes Bild tritt uns auf dem Felde des Privatrechts entgegen, das Eike von R e p g o w in der ganzen Reichhaltigkeit, doch ohne begriffliche Durchbildung und systematische Anlage darbietet. Dafür entfaltet sich hier w i e d e r u m die Bildfreudigkeit des mittelalterlichen deutschen Rechts. Ein Beispiel für die Rechtsplastik des Sachsenspiegels sei an dieser Stelle angeführt: „Alle fahrende Habe vergabt der M a n n ohne Erbenerlaubnis an allen Stätten, und er läßt auf und verleiht Gut, dieweil er das vermag, daß er, umgürtet mit einem Schwerte und mit einem Schilde, auf ein Streitroß k o m m e n kann, von einem Steine oder Stocke eine Elle hoch, ohne eines Mannes Hilfe, wofern man ihm das Streitroß und den Steigbügel halte; w e n n er dies nicht tun kann, kann er es weder vergaben noch auflassen noch verleihen, so daß er es jenem entziehe, der darauf nach seinem Tode wartet" (Ldr. I 52 § 2). Während der Sachsenspiegel jede Grundstücksveräußerung an die Zustimmung der Erben bindet (Ldr. I 52 § 1), kennt er diese Einschränkung für bewegliche Sachen nicht. In der zitierten Stelle lebt das alte Wartrecht fort, die unter dem Einfluß der Kirche freilich schon weitgehend gelockerte Gebundenheit des Eigentums in der Hausgemeinschaft. Ist der Verfügende hinfällig und altersschwach, so meldet sich das Wartrecht seiner Erben und verbietet Veräußerungen. Nicht durch abstrakte und begriffliche Merkmale, sondern mittels einer anschaulich geschil32
II. Stadtrecht derten Tüchtigkeitsprobe will der Spiegier den stimmen. D a b e i gebraucht er eine sprachliche und Stabreime auf eine alte Tradition schließen regel schwingt n o c h der archaische Grundsatz waffentüchtige M a n n als geschäftsfähig gilt.
kritischen Zeitpunkt beF o r m , deren R h y t h m u s lassen. In Eikes R e c h t s mit, nach dem nur der
F ü r den F o r m e n - und Inhaltsreichtum des mittelalterlichen, v o m römisch-italienischen D e n k e n n o c h weitgehend unbeeinflußten Privatrechts legt der Sachsenspiegel mit dem reizvollen Stoff der sächsischen Uberlieferung Zeugnis ab, die in manchen wesentlichen Grundzügen der anderer deutscher Länder gleicht. D a s deutsche Privatrecht entsprang nicht einer einheitlichen Quelle. Andreas Heusler hat das schöne Bild v o m Gebirgsstock gebraucht, dessen unterirdische Ströme die einzelnen Partikularrechte speisten. D i e ihnen zugrunde liegenden R e c h t s ideen prägte der Volksgeist in der Blütezeit des deutschen Privatrechts, dem Hochmittelalter, vielfach übereinstimmend aus. D e r R e c h t s f o r m a lismus und die R e c h t s s y m b o l i k , der Unterschied zwischen Individualund Sozialrecht, zwischen Fahrnis und Liegenschaften, das G e n o s s e n schaftsprinzip und die enge Miteigentumsgemeinschaft der G e s a m t hand, die Treuhandschaft, der Publizitätsschutz im Sachenrecht und eine ganze Reihe weiterer Grundsätze und Institute bildeten den gemeinsamen und eigenartigen Bestand des deutschen Privatrechts, der sich auch im Sachsenspiegel findet. D i e Kunst des Spieglers fixierte, erhielt, ergänzte hie und da und verbreitete diese einheimische R e c h t s k u l tur, auch nachdem die römische ihren Siegeszug in Deutschland angetreten hatte. D i e durch E i k e von R e p g o w herbeigeführte Schriftlichkeit des R e c h t s im sächsischen G e b i e t vermittelte die bodenständige privatrechtliche Tradition den O b e r h ö f e n , Schöffenstühlen und Ratskollegien, die sie mittels des Filters der Glosse fortbildeten und teilweise auch mit dem römisch-italienischen ius civile verschmolzen. So k o n n t e das deutsche Privatrecht die Rezeptionszeit überdauern und in die neuzeitlichen Kodifikationen mit eingehen.
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Die europäische Stadt erscheint je nach Epoche und Region in vielerlei Gestalt. Es begegnen auch Klein- und Ubergangsformen mit dörflichen Zügen. Der Begriff läßt sich darum kaum scharf und eindeutig umreißen. Immerhin wird nur die Siedlung als Stadt gelten können, die einen topographischen Zusammenhang aufweist, der eine gewisse Bevölkerungsdichte widerspiegelt, außerdem eine nicht ausschließlich agrarische Wirtschaftstätigkeit, kirchliche Anstalten und soziale Differenziertheit. Max Weber hat einen idealtypischen Begriff näher zu bestimmen gesucht. Ihm erschien die okzidentale Stadt als befestigte Siedlung mit Handel und Gewerbe und dem Bedürfnis kontinuierlicher Lebensmittelzufuhr von außerhalb, weiter als Gemeindeverband mit eigenem Recht und Gericht und eigenen autonomen Behörden. Damit sind rechtliche Kriterien genannt, auf die es wesentlich ankommt. „Die Statik der mittelalterlichen Welt ist in der mittelalterlichen Stadt überspielt und gesprengt" (Otto Borst). Die Bürger der mittelalterlichen Stadt ordnen die dem bürgerlichen Wesen eigentümlichen Verhältnisse durch Satzung und Einung. Mit Absprachen, Einungen, Willküren, Sat38
II. Stadtrecht zungen beginnt die Mobilisierung des Rechts: Der Mensch findet und bessert nicht mehr nur das Recht, er gestaltet es nun bewußt selbst. Als Zeugnisse dieser eingreifend-rechtsgestaltenden Tätigkeit treten im M i t telalter die Landfrieden und die Stadtrechte hervor. U m ausartende Fehden und räuberische Gewalt einzudämmen, schlossen Fürsten und Städte oft unter Führung des Königs das ganze Mittelalter hindurch Landfriedenseinungen, auf Zeit vereinbarte und beschworene Satzungen, die neues Recht schufen. So begann mit ihnen das peinliche Strafrecht an die Stelle der Wergelder und Geldbußen der früheren Zeit zu treten. Das Landfriedensrecht galt, w i e das Stammes- und Landrecht, auch in der frühen Stadt, freilich nur für Sachverhalte, die hinter den Mauern nicht anders zu ordnen waren als draußen unter Adel und Bauern. Die andersartige Lebensform, Handel und Wandel, Wehrwesen und Verkehr der Stadt erforderten ein besonderes Recht. Verfassung und Verwaltung, Strafrecht und Rechtsgang, Ehegüter- und Erbrecht hatten den sich entwickelnden neuartigen k o m m u n a l e n Bedürfnissen und Möglichkeiten zu folgen und zu genügen. Das Stadtrecht hieß auch Weichbild. Die Satzung, W i l l k ü r oder Einung oder das Statut der Stadt nahm mit der Zeit das außerstädtische Recht mehr oder weniger verändert in sich auf oder verdrängte es. „Die hunderte deutscher Stadtrechte sind Erzeugnisse genossenschaftlicher Autonomie, geschworene Satzungen der Bürger. Die Schwurgenossenschaft der Bürger ist die Grundlage solcher Selbstunterwerfung jedes einzelnen unter die verwillkürten Normen; die Eidesbindung mit Leib und Gut bildet den Rahmen der auf die Nichtbeachtung oder den Bruch der Satzungen angedrohten (.vereinbarten') Strafen und sonstigen Rechtsfolgen" (Wilhelm Ebel). M i t dem Beitrittseid schloß sich der N e u b ü r g e r der Schwurgenossenschaft an, w o m i t er sich zugleich dem in ihr schon geltenden Recht unterwarf. Der meist jährlich am Schwörtag wiederholte Bürgereid bei jeder neuen Ratssetzung ermächtigte das Stadtregiment w i e d e r u m dazu, weitere Satzungen zu erlassen, denen die Bürgerschaft in ihrem Gehorsamseid von vornherein zu folgen versprach. Im älteren Recht der Reichsstadt Rottweil am N e c k a r etwa stand geschrieben: „Item welher zu uns zühet und dem das burgrecht gelihen wirdt, der sol schweren zu den heiligen, fünff iar hüslich und häblich by unns zu sitzen und aigen rouch ze haben und die pündtnüssen und veraynungen ze halten, die w i r haben, und den räten und den amptlüten, burgermaistern, schulthaissen und zunfftmaistern gehorsam ze sinde." Wo kommunale Willküren, Einungen, Statuten entstanden, erwies sich die Stadt als mehr oder weniger autonome Körperschaft. Bei der 39
II. Stadtrecht Rechtsetzung machte sich indessen auch, vornehmlich w ä h r e n d der Frühzeit, die Gewalt des Stadtherrn geltend. Abgesehen von den italienischen Stadtstaaten, den Freien Städten und Seerepubliken sowie den eidgenössischen Kantonsvororten blieben de iure alle Städte des mittelalterlichen Europa unter der stadtherrlichen Kontrolle des Königs oder eines weltlichen oder geistlichen Landesherrn. Unter der fürstlichen Hoheit bildete sich die körperschaftliche Autonomie verschieden stark aus, wobei der personale Rechtsstatus der Stadtbewohner nicht in Relation stand z u m Grad der gemeindlichen Selbständigkeit. Durch Privilegien oder Handfesten sicherte oder verbesserte der Landesherr die Rechtsstellung der Stadtbewohner. Stadtherrliche Gründungsprivilegien ergingen für viele Plätze. Mancherorts entstanden im Ringen der Bürger mit dem Stadtherrn neue Rechtssätze, denen die unmittelbare Anerkennung durch beide Seiten oder ein Schiedsspruch Geltungskraft verlieh. Viele Städte schufen selbst im Wege autonomer Satzung oder durch zusammenfassende Aufzeichnung bereits geltenden Rechtes umfangreiche, früh auch in deutscher Sprache gefaßte Stadtrechte. Im Spätmittelalter begannen die Städte unter dem Einfluß des vordringenden römischen Rechts ihre Stadtrechte zu reformieren. Bedeutende Stadtrechtsreformationen brachten Nürnberg (1479), Worms (1498), Frankfurt (1509) und Freiburg im Breisgau (1520) hervor. Durch die Verleihung des Stadtrechts von einer Kommune an eine oder mehrere andere konnten Stadtrechtsfamilien entstehen. Meist entwickelte dann die Mutterstadt einen Oberhof, an den der Rechtszug v o m Gericht der Tochterstädte ging: Gericht oder Rat der Mutterstadt entschieden die vor sie gebrachten Rechtsfälle oder erteilten Rechtsweisungen. Als Mutterrechtsstädte und Oberhöfe gewannen im Osten hohes Ansehen Magdeburg und Lübeck. Das Recht dieser Städte dehnte sich mit der deutschen Siedlung nach Osten hin aus. Das lübische Recht beherrschte den Kranz der Ostseestädte. Das Magdeburger Recht stellte nicht nur das Recht der deutschen Bauern und H a n d w e r k e r in den — verschieden dicht — deutsch besiedelten Gebieten von der Memel bis zur Oder dar, sondern das Stadtrecht auch der polnischen, wolhynischen, ukrainischen, galizischen, podolischen Städte schlechthin. „Das ius Magdeburgense, w i e die lateinischen Quellen reden — nachdem bis gegen Ende des 15. Jahrhunderts nicht Latein, sondern Deutsch lingua franca nicht nur der Kaufleute, sondern auch der Juristen gewesen ist —, stellt die modernste, handhabbarste Rechtsordnung zur Verfügung; neben die planerischen Modelle der Städte selbst tritt die importierte Rechtsordnung, deren M a ß an Freiheitsgewährung für den A k kerbürger der Stadt im slawischen R a u m den sozialen Rahmen absteckt, 40
II. Stadtrecht den die Stadt als selbständige L e b e n s - und Wirtschaftseinheit gegenüber der dominial und feudal regierten U m w e l t b e n ö t i g t " (Friedrich Ebel). D i e Spruchtätigkeit der O b e r h ö f e hielt die weiträumigen städtischen Rechtslandschaften zusammen. D i e O b e r h ö f e bewahrten das Stadtrecht und bildeten es fort. D e r Rechtszug ging in L ü b e c k an den Rat, in M a g deburg an den Schöppenstuhl, dessen Mitglieder — zunächst n o c h an R e g i m e n t und G e r i c h t der Stadt unmittelbar beteiligt — überaus beständig amteten. D e r ursprünglich mündliche Rechtsverkehr wandelte sich aus mancherlei G r ü n d e n z u m schriftlichen. „Wente alle ding verghenlick sint, so is dhes not, dat men dhe ding, dhe redeliken gheschen, bescrive und also irweghe, dat ere dhe minslike krangheyt nicht verghete"; so eine Magdeburgische U r k u n d e von 1305. D i e schriftlich gefaßten Rechtsbelehrungen ergingen meist nur innerhalb konkreter P r o zesse. D i e Städte hielten ihr R e c h t in besonderen B ü c h e r n fest. Viele K o m munen besaßen und führten Statutenbücher, die alle Privilegien, Satzungen und Rechtsaufzeichnungen über Jahrhunderte hinweg bewahrten. Gerichtsbücher verzeichneten die richterliche Spruchpraxis und verhängte Strafen. A u ß e r d e m führten die k o m m u n a l e n B e h ö r d e n Stadtbücher über A k t e der freiwilligen Gerichtsbarkeit: über Schuld-, G r u n d stücks· und Erbgeschäfte. D i e K ö l n e r Schreinsbücher z u m Liegenschaftsverkehr mit ihrem öffentlichen Glauben, Vorläufer unserer Grundbücher, fanden Eingang in die Praxis der Grundstücksübertragung vieler anderer Städte. Ferner führten die Städte Verwaltungsbücher für die verschiedenartigsten Z w e c k e der k o m m u n a l e n Administration. In den Ratsprotokollen und Steuer- oder Schoßregistern zumal schlugen sich die Schicksale der Städte wie ihre sozialen und alltäglichen B e wandtnisse anschaulich nieder. Von den amtlichen Stadtrechten zu unterscheiden sind die Stadtrechtsbücher, Privatarbeiten rechtskundiger oder gar -gelehrter Autoren, deren Werke sich oft weit verbreiteten und verschiedentlich auch selbst öffentlich anerkannte Geltungskraft erlangten. D i e früheste Quelle dieser A r t stellt das Mühlhäuser Reichsrechtsbuch aus der Zeit von 1 2 2 4 / 30 dar, ein Werk teils altertümlichen Inhalts und ein Zeugnis des Reichsgedankens in den Stauferstädten. In Süddeutschland erlangten Ansehen etwa das Stadtrechtsbuch des Vorsprechers R u p r e c h t von Freising aus dem J a h r 1328 und das selbständige Wiener Stadtrechtsbuch aus dem 14. Jahrhundert. Wie die landesherrlichen Territorien so bildeten sich auch die Städte nicht überall auf dieselbe Weise aus. D i e gestaltenden Kräfte konnten sich auf mannigfaltige Weise mischen und unterschiedliche Ansatzpunkte nutzen: Straßenkreuzungen, Furten, Burgen, Handelsplätze. G e 41
II. Stadtrecht w i ß finden sich in ganz Europa fast gleichzeitig charakteristische Züge: Siedlungsverdichtung, Zunahme gewerblich-wirtschaftlicher Aktivitäten, Märkte, vermehrte kirchliche und weltliche Bautätigkeit. Indessen entstanden auf scheinbar ähnlicher Grundlage drei verschiedene Modelle europäischer Stadtentwicklung. In West- und Mitteleuropa entwickelte sich die Stadt im Rechtssinne als eigenständiger Rechtsbezirk mit Selbstverwaltung für eine privilegierte Bürgerschaft. Polen erreichte dieses Ziel nicht kraft seiner zunächst vorhandenen autochthonen Entwicklung, sondern durch Rezeption des westlichen Modells, des deutschen Rechts. In Rußland hingegen etablierte sich der Typus der Fürstenstadt. Vergleichbare wirtschaftliche Vorgänge brauchten nicht ähnliche Rechtsund Verfassungsgefüge hervorzubringen. Uberall machten sich andererseits herrschaftliche Antriebe mehr oder weniger stark geltend. „Herrschaft und Wirtschaft treiben die Entwicklung in ständiger Auseinandersetzung miteinander in einem dialektischen Prozeß voran" (Bernhard Diestelkamp). Vieles weist darauf hin, so Gerhard Dilcher, „daß im 13. und 14. Jahrhundert wohl im Europa nördlich der Alpen sich unter Führung des städtischen Rechts eine neue, die Archaik des germanischen Rechts überwindende Rechtsstruktur verbreitet hat. Ohne diesen Prozeß wäre dann aber auch die Rezeption des römischen Rechts als subsidiäres gemeines Recht, w i e sie in der Reichskammergerichtsordnung von 1495 besiegelt wird, nicht verständlich. Die Erforschung des Stadtrechts erweist sich damit als unentbehrlich dafür, die europäische Rechtsentw i c k l u n g als einen kontinuierlichen Prozeß hin zur Ausbildung der modernen Rechtsstrukturen erfassen und verstehen zu können. Die Stadtbürgerschaften des 12. und 13. Jahrhunderts aber waren es, die einer wichtigen Phase dieses Prozesses die entscheidenden Impulse und Formen gaben." Die Bürgerschaft gewann, oft in heftigem Ringen mit dem Stadtherrn, ein Bewußtsein der Solidarität; sie fand zu festen, eigenen Formen gemeinschaftlichen Handelns und zu körperschaftlicher Organisation. Damit gewann das Recht besonders Gewicht im Prozeß der Stadtentstehung. Im Laufe der Salierzeit (1024-1125) verselbständigte sich die Stadt rechtlich. Als flächenmäßig abgegrenzter exemter Rechtsbezirk hob sie sich von ihrem U m f e l d ab. U m die Mitte des 11. Jahrhunderts bringen die Quellen den Richter und das Recht in einen Zusammenhang mit den Begriffen „urbs" oder „civitas". „Der urbs werden besondere Amtsträger zugeordnet, und das ius urbanum tritt in Gegensatz z u m ius terrae" (Gerhard Köbler). Besondere Amtsträger in der urbs oder civitas: iudex, advocatus, tribunus, comes oder vilicus urbis, treten hervor in Köln (1032), zu M a i n z (um 1050) und Augsburg (1067), in Eich42
II. Stadtrecht statt (1068), W ü r z b u r g (1069), Speyer (1084), in Straßburg (1095) und in Basel (1098). A u ß e r d e m finden sich aus der 2. Hälfte des 11. Jahrhunderts auch die Belege, die ius, lex, mos oder consuetudo mit provincia, terra, patria, regio, deutsch land einerseits und mit civitas andererseits verbinden. Schließlich bezeugen Privilegien vom Ende der Salierzeit die Freiheit der Stadtbürger von auswärtigen Gerichten. So gab Heinrich V., der letzte Herrscher aus der Dynastie der Salier (1106-1125), etwa den Bürgern von Speyer nicht nur neue einzelne materielle Rechte, sondern er bestimmte auch formal, keiner von ihnen dürfe gezwungen werden, außerhalb des U m g a n g s der M a u e r ein Ding, einen Gerichtstermin, seines Vogtes zu besuchen, außerdem dürfe niemand dazu zwingen, eine in der civitas begonnene Streitsache außerhalb ihrer zu beenden. Dabei hatte schon Bischof Rüdiger von Speyer 1084 den tribunus urbis als für die Streitigkeiten der cives untereinander zuständig erklärt. Früh gehörte demnach der eigene Gerichtsstand zu den Wesensmerkmalen der Stadt im eigentlichen, das heißt rechtlichen Sinne. Die Konstituierung der Stadt als eigener Rechtsbezirk vollendete sich dann während des 12. Jahrhunderts dadurch, daß sich die Bewohner — Dienstleute (Ministeriale), Handwerker, Kaufleute, Hörige — aus ihren alten rechtlichen Bindungen herauslösten und zu einer Gemeinde zusammenschlossen, die eigene Herrschaftsgewalt, eigene Gerichts- und Rechtsetzungsgewalt und vor allem auch Freiheit für alle ihre Mitglieder beanspruchte. Die sich entfaltende städtische Lebensform mit ihren neuen Chancen, ihren gewerblichen und kaufmännischen Möglichkeiten, ihrem wehrhaften Schutz, ihren kulturellen Leistungen und ihrem genossenschaftlichen Gefüge zog mit Macht Zuwanderer aus dem Lande an. Für diese galt freilich nicht von Anfang an der seit dem Beginn des 13. Jahrhunderts in zahlreichen Privilegien bezeugte Grundsatz „Stadtluft macht frei". Vielmehr blieben die Zuwanderer zunächst meist ihrem bisherigen ländlichen Grundherrn durch Abgabepflichten rechtlich verbunden: Das Institut der Zensualität verschaffte seit dem Ende des 11. Jahrhunderts weiten Teilen der wachsenden Bevölkerung die notwendige Mobilität und Betätigungsfreiheit, indem es Frondienste ablöste und die Bindung an den Grundherrn auf eine Abgabepflicht reduzierte. A b e r bald schon erschienen Hörigkeitsabgaben von Pflichtigen fragwürdig, deren Produktivkraft nicht mehr auf Grund und Boden, sondern in Handel und Gewerbe fußte. D a r u m befreite Kaiser Heinrich V. in berühmten Privilegien 1111 Speyer und 1114 Worms von solchen unfunktionalen Abgaben. „Als dann seit der Wende z u m 13. Jahrhundert die Stadtbürger auch die letzten Reste alter Abhängigkeit abzustreifen begannen und überhaupt keine grundherrlichen Abgaben mehr zahlen, sondern frei davon sein wollten, k a m es zu den seit der ersten 43
II. Stadtrecht Hälfte des 13. Jahrhunderts bezeugten Auseinandersetzungen zwischen Adligen und Städten oder Grundherren und dem König u m die Durchsetzung des Grundsatzes der Bürgerfreiheit" (Bernhard Diestelkamp). In dem früher bezeugten Rechtssprichwort: „Keine Henne fliegt über die M a u e r " steckt die Aussage von der städtischen Freiheit. Denn das Fastnachtshuhn als Zeichen der Leibeigenschaft haben die Bewohner der ummauerten Orte nicht zu entrichten. Als Wahrzeichen bürgerlicher libertas galten früh gewählte consules: Repräsentanten der k o m m u n a l e n Genossenschaft. Die Anfänge des Konsulats, der städtischen Ratsverfassung, liegen in Deutschland schon u m die Wende des 12. z u m 13. Jahrhundert, in Utrecht, Lübeck, Speyer und Straßburg nahezu gleichzeitig. U m die Mitte des 13. Jahrhunderts dürften in immerhin mehr als hundert deutschen Städten consules amtiert haben. Dabei ging der Norden Deutschlands dem Süden zeitlich deutlich voran. Das hing mit der Politik bestimmter Stadtgründer und Stadtherren zusammen, ohne daß es stets auf deren förderliche Absicht angekommen wäre. So mußten und konnten etwa die rheinischen Bischofsstädte die Ratsverfassung gegen den entschiedenen Willen ihrer geistlichen Herren durchsetzen. Das Konsulat der oberdeutschen Reichsstädte k a m verhältnismäßig verzögert, und eine große Mehrheit der landesfürstlichen Städte hat, w e n n überhaupt, erst viel später einen Rat bekommen. Vielfach blieben die Ratssitze bestimmten Geschlechtern in der Stadt vorbehalten. Republikanische Gleichheit hätte den gesellschaftlichen Schichten und Stufen, w i e sie sich auch in den Kommunen zeigten, nicht entsprochen. So erwies sich etwa die frühe Ratsverfassung der oberdeutschen Reichsstädte mit ihren ausgeklügelten Regeln als eine wenig flexible und durchaus aristokratische Institution. Das Konsulat bildete hier alles andere als ein Vehikel sozialer Mobilität. Es konnte wirtschaftliche und soziale Krisen oder U m b r ü c h e k a u m auffangen, die sich darum nahezu unvermeidlich zu Verfassungskonflikten auswuchsen. Hier liegt der Grund für die Zunftstreitigkeiten und Bürgerunruhen in den oberdeutschen Reichsstädten seit dem Ende des 13. Jahrhunderts. Diese Bürgerkämpfe gaben der Verfassung jener Städte fast überall ein anderes Gesicht. In vielen Reichsstädten übrigens flammten Verfassungskonflikte immer wieder auf und beschäftigten kaiserliche Schiedskommissionen w i e die höchsten Reichsgerichte bis z u m Ende des A n cien regime. Die Reichsstädte, liberae Imperii civitates, wie der Westfälische Frieden von 1648 sie nannte, unterschieden sich von den Landesstädten dadurch, daß sie keinen anderen Herrn als den König oder Kaiser hatten. Ihre führende Rolle unter den Kommunen, ihr wirtschaftliches und 44
II. Stadtrecht politisches Gewicht im mittelalterlichen Reich verringerten sich in demselben M a ß e w i e die Macht der Territorien zunahm. A u c h ihre Zahl schmolz seit dem Spätmittelalter zusammen. Zürich, Schaffhausen, Basel und Bern schlossen sich der schweizerischen Eidgenossenschaft an und erschienen seit 1531 nicht mehr auf dem Reichstag. Eine Reihe von Reichsstädten ging an Frankreich verloren: in Lothringen Metz, Toul und Verdun, im Elsaß die zehn Reichsstädte der Landvogtei Hagenau und Straßburg (1681). Andere Städte gerieten unter die Landesherrschaft und büßten dadurch Reichsfreiheit und -standschaft ein: So fiel Konstanz an Osterreich (1548), D o n a u w ö r t h an Bayern (1608), Magdeburg an Brandenburg (1666). A m Ende des 18. Jahrhunderts gehörten dem Städtekollegium des Reichstages noch einundfünfzig Reichsstädte an, von denen siebenunddreißig auf der schwäbischen Bank und vierzehn auf der rheinischen Bank saßen. Schließlich mediatisierte der Reichsdeputationshauptschluß im Jahre 1803 alle Reichsstädte bis auf Augsburg, Bremen, Frankfurt am Main, Hamburg, Lübeck und N ü r n berg. Rat und Bürgerschaft huldigten dem König oder Kaiser als ihrem Herrn, dem sie bestimmte Leistungen, vor allem Abgaben, auch Jahressteuern zu erbringen hatten. Kaiser und Reich übten die Aufsicht und Schutzherrschaft über die Reichsstädte und bemühten sich u m deren inneren Frieden, w e n n er gefährdet oder zerbrochen schien. Wie den adeligen Reichsständen k a m den freien Städten die Landeshoheit, das ius territorii et superioritatis zu. Dazu gehörte auch das Recht, das Bekenntnis der Stadtbewohner vorzuschreiben und zu wahren, wobei sich aus dem religiösen Besitzstand des Jahres 1624 Einschränkungen ergaben. Für die paritätischen Reichsstädte, in denen beide Religionen gleichberechtigt nebeneinander bestanden, schrieb der Westfälische Frieden die konfessionelle Gleichheit für die Besetzung des Rates und der anderen öffentlichen Ämter vor. Die Reichsstädte übten ihre Landeshoheit oder obrigkeitliche Gewalt in ihrem Hoheitsgebiet aus, zu dem neben dem ummauerten Bezirk auch ein mehr oder weniger weiträumiges ländliches Territorium, ein Untertanengebiet, eine Landschaft gehören konnte. A u c h mittlere oder kleinere Plätze w i e die Reichsstadt Rottweil konnten über ein umfangreiches Territorium mit zahlreichen Dörfern gebieten. Die reichsstädtische Ratsobrigkeit ließ der politischen Willensbildung der Landschaft nur wenig Raum. So beklagten sich die ländlichen Rottweiler Untertanen, sie wollten „lieber unter dem Türken leben, denn unter dem Rat". Auf dem Reichstag bildeten die freien Städte seit dem späten 15. Jahrhundert neben der Kurfürstenkurie und dem Fürstenrat ein drittes geschlossenes Kollegium, dessen Einfluß freilich im ganzen hinter den stattlichen Matrikularanschlägen und Abgaben zu45
II. Stadtrecht rückblieb. Wenn die Reichsstädte 1648 endlich das ihnen lange bestrittene votum decisivum erlangten, so standen oder saßen ihre Boten bei den v o m Adel dominierten Versammlungen und Tagungen des Ancien regime doch mehr am Rande. A u c h wollten ihre Beschwerden über die immer unverhältnismäßig stärker bedrückenden finanziellen Lasten, die Reichs- und Kreisanschläge, nicht verstummen. Konnten viele liberae Imperii civitates als Hauptstädte des Reiches gelten, weil sie dessen Verfassungsorgane zuzeiten beherbergten, so ragten unter den Landesstädten nicht wenige als stattliche territorialfürstliche Residenzen heraus. Unter den Reichs- wie den Landesstädten gab es bedeutende und mindere, wirtschaftlich mächtige und kleine ackerbürgerliche sowie mannigfache Zwischenstufen. D i e Reichsstädte taten sich in den Städtebünden des Spätmittelalters hervor, spielten in der E p o c h e sich entwickelnder Geldwirtschaft ihre besondere Rolle und erwiesen sich als entscheidende Vermittler der Reformation. Aber sie gerieten immer stärker unter den D r u c k der Territorialfürsten wie die Landesstädte unter den integrierenden Zugriff der Landesherren, die ihre A u t o n o m i e und Finanzkraft aufsogen, wenngleich manche K o m m u n e lange eine quasi-reichsstädtische Stellung bewahren konnte. D i e Landesstadt förderte den territorialen Verdichtungsprozeß, wobei sie zugleich mehr und mehr unter die sich verfestigende Staatsgewalt geriet. In den Landtagen konnte sie in der Regel keine dominierende Rolle spielen. M o c h ten sich Reichsstadt und Landesstadt in der F o l g e stärker differenzieren, so zeigten sich während des 17. und 18. Jahrhunderts vielfach hier wie dort verwandte Züge: das Stadtregiment erstarrte infolge der sich verfestigenden Oligarchien, die auch die Zünfte erfaßten. O f t bewirkten die Zünfte als beharrende, sich gegen Konkurrenz und N e u e r u n g e n verschließende Institutionen der Wirtschaftsverfassung wie als Gliedkörperschaften des kommunalen Gemeinwesens bei der politischen Willensbildung eine hartnäckige allgemeine Stagnation. Im Spätmittelalter schlossen sich die Reichsstädte zu machtvollen Bünden zusammen, u m ihre Selbständigkeit zu behaupten, die Verkehrswege und den Handel mit militärischer Macht zu schützen und Streitigkeiten der Mitglieder untereinander schiedsgerichtlich auszutragen. A m A n f a n g ihres Bundbriefes bezeichneten die Mitglieder des schwäbischen Städtebundes den Zweck ihrer Einung mit den Worten: „Von unser und gemains landes großer notdurft und besunders nutz wegen, und och u m das, das wir unsselb b y dem hailigen Römischen Ryche dest bas beheben möchten und dest minder davon gedrungen w e r d e n " (1437). Wie der schwäbische so unterlag auch der rheinische Städtebund noch im Spätmittelalter den Territorialmächten.
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II. Stadtrecht Hansa bedeutet Schar, Genossenschaft, Gilde. H a n s e hieß die große Gemeinschaft der west-, nord- und ostdeutschen Städte des Spätmittelalters. Zusammenschlüsse städtischer Einzelkaufleute trugen diese G e meinschaft während des 13. Jahrhunderts. In den beiden folgenden Jahrhunderten traten die Hansetage, die Zusammenkünfte der Städtevertreter, hervor. D i e städtische K o n f ö d e r a t i o n sorgte für Ausgleich unter den Gliedern und eine gemeinsame Handelspolitik. D i e Zusammenschlüsse der Kaufleute lebten in den H a n s e k o n t o r e n zu N o v g o r o d , Brügge, L o n don und B e r g e n weiter. D i e in den deutschen Küstenlandschaften dicht beieinanderliegenden Hansestädte gehörten z u m Reich, wenngleich der Einfluß des Kaisers hier ungleich schwächer war als in O b e r d e u t s c h land. D i e fortschrittliche italienische Handelstechnik prägte die oberdeutsche Kaufmannschaft viel stärker als die hansische. D i e H a n s e gliederte sich in vier Städtegruppen oder Quartiere unter je einem Vorort: das wendische mit L ü b e c k — caput et principium o m n i u m — , das sächsische mit Braunschweig, das rheinisch-westfälische mit K ö l n und das preußisch-livländische mit Danzig. I m Kriegsfalle erhob die H a n s e B u n dessteuern und führte von den Bundesständen gestellte Kontingente ins Treffen. D e r Hansebann, der U n b o t m ä ß i g e ausschloß, und die Handelssperre, die Gegner blockierte, erwiesen sich als wirksame Mittel im Wirtschaftskrieg. A u c h die H a n s e unterlag schließlich den neuen M ä c h ten, den Landesherren. M i t dem Niedergang der städtischen Einungen versank auch das Satzungsrecht der bündischen Abschiede und Rezesse. D e r Aufschwung des deutschen Städtewesens im Mittelalter wirkte weit über die K o m m u n e n hinaus und erzeugte Ideen, welche die M o derne mit begründeten. „ M e h r als irgend ein anderes G e b i e t wurde das G e b i e t des Rechts und der Verfassung von dieser vorerst innerhalb der städtischen Burgwälle vollzogenen U m w a n d l u n g ergriffen", urteilt mit G r u n d O t t o von Gierke 1868 im ersten Band seines D e u t s c h e n G e n o s senschaftsrechts. „Unsere gesamte heutige R e c h t s - und Staatsauffassung ist aus den Anschauungen des Mittelalters erst durch das M e d i u m der Städte erwachsen. In den Städten wurde die Scheidung des öffentlichen und des privaten R e c h t s und die Anerkennung der Einheit und Unveräußerlichkeit des ersteren zuerst vollzogen, wurde der G e d a n k e einer einheitlichen G e w a l t und Verwaltung, eines Alle gleichmäßig verbindenden Gesetzes, k u r z eines Staates überhaupt zuerst in seiner eigentümlich deutschen Gestaltung erzeugt und erst von hier aus auf die landesherrlichen Territorien übertragen; Kriegs-, Polizei- und Finanzwesen der letzteren wurden geradezu nach dem Vorbild der städtischen Einrichtungen entwickelt; und die Selbstverwaltung sowie die hohe Idee der K o r r e spondenz von bürgerlichen Pflichten und bürgerlichen R e c h t e n , welche wir heute im Staat zu verwirklichen, in der Gemeinde wiederherzustel47
III. Die Rezeption des römischen Rechts len suchen, waren in den mittelalterlichen Städten für ihren engen Kreis als oberste Principien anerkannt und oft vollkommen durchgeführt." Wenn das mittelalterliche Stadtbürgertum seine kommunale Verfassungsform gegen Könige und Adel durchsetzte und durch bündischen Zusammenschluß Macht gewann, so mag man fragen, warum es nicht die neuzeitliche Verfassungsentwicklung zum modernen Staat prägte, warum diesen vielmehr die Fürsten schufen? Die mittelalterlichen Bürger errichteten die Kommune als Form politischer Herrschaft nach innen. „Nach außen werden sie stark, indem sie sich zu Städteligen oder Hansen verbinden, um ihre innere Freiheit, nach außen aber Handel und Frieden auf den Straßen zu schützen, also die Quelle ihres Reichtums" (Gerhard Dilcher). Der mittelalterliche Bürger entsprach, wie schon Max Weber erkannte, dem Typus des homo oeconomicus, der antike Polisbürger dagegen dem des homo politicus.
III. Die Rezeption des römischen Rechts
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Die Rezeption oder A u f n a h m e des römisch-italienischen Rechts in Europa und vornehmlich in Deutschland, ein steter und fortlaufender Prozeß der Infiltration: ein langgestreckter und vielfältiger Vorgang der Verwissenschaftlichung des Rechtsdenkens w i e der Urkunden-, Verwaltungs- und Gerichtspraxis während des Mittelalters, des Einfließens landfremder Regeln und gelehrten Stoffes, begründete wesentlich die westliche Rechtskultur; damit einher ging der Aufstieg des besonderen Berufsstandes der studierten Juristen. Der im römischen ius civile seit dem 12. Jahrhundert an nord- und mittelitalienischen, an französischen und dann auch deutschen Universitäten ausgebildete Jurist begann früh, zunächst noch als Kleriker, die leitenden diplomatischen, verwaltenden und rechtsprechenden Funktionen in den europäischen Territorien und Nationalstaaten zu übernehmen. „Seine Herrschaft über das öffentliche Leben begründete für immer den eigentümlich juristischen, d.h. durch die rationale Diskussion der juristischen Sachproblematik bestimmten Charakter, der bis heute die okzidentale Gesellschaft von allen anderen uns bekannten Kulturen unterscheidet und ohne den Gesellschaft, Staat und Wirtschaft, ja noch die heutige Herrschaft der öffentlich organisierten Technik über das Leben nicht vorstellbar w ä r e " (Franz Wieacker). Die Bedürfnisse des sich ausbildenden Territorialstaats w i e des bürgerlichen Wirtschaftsverkehrs förderten die Rezeption, die das Rechtsleben rationalisierte und vereinheitlichte. Das wissenschaftliche Interesse und die sich entwickelnde Kunst der immer zahlreicheren Rechtsgelehrten einerseits, die Erfordernisse einer zweckgerichteten behördlichen Ver51
III. Die Rezeption des römischen Rechts waltung und des privaten Güter- und Dienstleistungsverkehrs andererseits begünstigten sich wechselweise und trieben gemeinsam den großen historischen Prozeß der Rezeption voran. Was Theodor Bühler über die verschiedenen Wege des Eindringens römischen Rechts in die schweizerischen Erbrechte schrieb, hat wohl auch für andere Felder Gültigkeit: „Kontinuität mit dem herkömmlichen römischen Vulgarrecht; Weiterbestehen neben den germanischen Stammesrechten; Beeinflussung des einheimischen Rechts durch im römischen Recht Ausgebildete; sprachliche Rezeptionen; direkte und bewußte Ubernahmen; Ü b e r n a h m e unter dem Titel ,Reichsrecht'; indirekte Ü b e r n a h m e durch Vermittlung von ausländischen Vorlagen; Druck oder Befehl der Herrschaft; gewohnheitsmäßige Verwendung; Verwissenschaftlichung des einheimischen Rechts mittels Erkenntnissen aus dem römischen Recht." Den wichtigsten Ausgangspunkt für das römische Recht im Mittelalter bot die Gesetzgebung des oströmischen Kaisers Justinian, bestehend aus den im Jahre 533 n. Chr. in Kraft gesetzten Institutionen als amtlichem Lehrbuch und den Digesten oder Pandekten als einer mit Gesetzeskraft ausgestatteten Sammlung von Zitaten aus älteren Juristenschriften. H i n z u k o m m t der 534 n. Chr. in Geltung getretene Codex, eine Sammlung kaiserlicher Konstitutionen; verschiedene Novellen während der folgenden Jahre ergänzten sie. Codex, Digesten und Institutionen bildeten nach dem Willen des oströmischen Gesetzgebers ein einheitliches Kodifikationswerk, das freilich zunächst noch keinen zusammenfassenden N a m e n trug. Die Bezeichnung Corpus iuris civilis (Corpus iuris Justiniani) stammt aus der Neuzeit: sie erschien erstmals 1583 als Titel einer Gesamtausgabe der justinianischen Kodifikation durch Dionysius Godofredus. Die Kompilatoren, die das Gesetzeswerk Justinians ausführten, faßten die schwer zu bewältigende Fülle der in sechs Jahrhunderten gewachsenen römischen Rechtskultur in energischer Arbeit zusammen. Im Osten des römischen Reiches hatten die Rechtsschule von Beirut und seit dem Anfang des 5. Jahrhunderts auch diejenige von Konstantinopel die großen Werke der klassischen Rechtsliteratur wieder erschlossen: ihren Erfahrungsschatz, die Kunst der praktischen Fallösung, ihre Methoden juristischer Schlußfolgerung, ihre geschmeidige Technik und prägnant-sachliche Sprache. Die in fünfzig Bücher eingeteilte, breit angelegte Sammlung des römischen Juristenrechts im Corpus iuris Justiniani erhielt nach dem Muster der bedeutenden kasuistischen Werke der hochklassischen Zeit den N a m e n Digesta, daneben auch noch den griechischen Titel Pandectae. M a n zitiert sie heute mit dem Kürzel D. und den N u m m e r n von Buch, Titel, Fragment (Lex) und Paragraph. Die 52
1. Legisten und Kanonisten einzelnen Exzerpte aus der Rechtsliteratur heißen Fragmente oder auch leges. A n ihrem Anfang steht jeweils der N a m e des herangezogenen Autors und der Fundort des Auszuges (Inscriptio). Die bei kurzen Fragmenten fehlende Paragrapheneinteilung stammt erst aus dem M i t telalter. Mit dem Inkrafttreten der Digesten verschwanden die Originalw e r k e der klassischen Juristen und die späteren Elementarschriften aus dem Rechtsunterricht und der Gerichtspraxis des Ostreichs. In den Pandekten lebte diese Tradition keineswegs unverändert fort. Justinian selbst berichtet, daß seine Gesetzgebungskommission den Wortlaut ihrer klassischen Vorlagen nicht unerheblich modifizierte, u m ihn den Zeitbedürfnissen anzupassen. Seit dem 16. Jahrhundert finden die Einschaltungen der oströmischen Kompilatoren, die sogenannten Interpolationen, die A u f m e r k s a m k e i t von Rechtswissenschaftlern, die sie herausfinden und auf diese Weise das reine Recht der klassischen Zeit wiederherstellen wollen. In Deutschland, w o die justinianische Kodifikation nach der Rezeption jahrhundertelang vorwiegend als unmittelbare Quelle praktischen Rechts galt, stießen die Interpolationen auf wenig Interesse. Es meldete sich erst, als die praktische Geltung des Corpus iuris durch das BGB ein Ende nahm. Das justinianische Recht galt seit 554 n. Chr. in Italien, w o h i n es Ostroms siegreiche Truppen gebracht hatten, während in Spanien und Südfrankreich die für die römische Bevölkerung bestimmte Lex romana Visigothorum bestand, die der Westgotenkönig Alarich II. im Jahre 506 publiziert hatte und die darum später meist Breviarium Alaricianum hieß. Dieses vereinfachende, vulgarrechtliche Werk enthält Auszüge aus dem im Jahre 438 n. Chr. in Kraft getretenen C o d e x des römischen Kaisers Theodosius II. und aus römischen Juristenschriften des 4. und 5. Jahrhunderts. Nach dem Corpus iuris stellte dieses Brevier den für das Mittelalter wichtigsten Vermittler römischen Rechtsdenkens dar. Das römische Recht verlor in Italien und Spanien seinen staatlichen Charakter wieder, als die Langobarden am Ende der Völkerwanderungszeit, im Jahre 568 n. Chr., N o r d - und Mittelitalien und die Araber zu Beginn des 8. Jahrhunderts fast ganz Spanien eroberten. N u n m e h r galt das römische Recht von Staats w e g e n nur noch im byzantinischen Kaiserreich, dem im westlichen Mittelmeerraum indessen weiterhin Süditalien zugehörte. Die byzantinischen Gebiete strahlten noch lange Zeit einen der römischen Rechtskultur freundlichen Einfluß aus. A u c h im übrigen Italien und in Südfrankreich konnte sich das römische Recht in vereinfachter und verkümmerter Gestalt erhalten, denn die Landnahme der germanischen Völkerschaften auf dem Boden der später sogenannten Romania löschte es keineswegs aus. So blieben in Italien die Institu53
III. Die Rezeption des römischen Rechts tionen, der C o d e x und ein Teil der Novellen Justinians bekannt. In Südfrankreich und Spanien wahrte das genannte westgotische Römergesetz Alarichs die römische Tradition wenigstens in verkürzter Gestalt. Eine Pflege des römischen Rechts, wie der byzantinische Staat sie — nun freilich in griechischer Sprache — betrieb, erfolgte in Westeuropa allerdings nicht mehr. M i t dem 11. Jahrhundert jedoch begann die Wiedergeburt der römischen Rechtskultur. In Pavia, dem Sitz des Hofgerichts für den langobardischen Staat und später für das karolingische regnum Italiae, entwickelte sich eine Rechtsschule, die das heimische lombardische Recht mit Hilfe des römischen für die Praxis bearbeitete. Der folgenreichste Lehrsatz, den die Lombardisten für ihre Jurisprudenz prägten, betraf das Verhältnis zwischen lombardischem und römischem Recht. Fasziniert von der Stoffülle und dem Gedankenreichtum der römischen Tradition, lehrten die Juristen von Pavia, dieses römische Recht sei das gemeine und subsidiäre, die lex o m n i u m generalis, eine Ansicht, die sich durchsetzte und als Bestandteil der italienischen Doktrin im Zuge der Rezeption späterhin auch in Deutschland galt. Die Erfolge der Juristen von Pavia sahen sich bald weit übertroffen durch die Arbeiten der Glossatoren, die v o m 11. bis z u m 13. J a h r h u n dert als Meister der Rechtsschule von Bologna wirkten. Der R u h m dieser Schule gründet sich darauf, daß sie erstmalig wieder das ganze Corpus iuris z u m Gegenstand juristischer Studien machte und so alsbald die Führung der sich entfaltenden europäischen Rechtswissenschaft errang. Als Begründer der Rechtsschule von Bologna und damit der mittelalterlichen Jurisprudenz gilt seit dem 13. Jahrhundert der magister artium liberalium Irnerius. Dieser Gelehrte machte die nach fünfhundertjähriger Verschollenheit wiederentdeckten Digesten z u m Gegenstand eines nachhaltigen Studiums. Irnerius versah, w o es nötig schien, den Pandektentext mit kurzen Erläuterungen oder Glossen und gab die so gewonnenen Kenntnisse des römischen Rechts und seiner Sprache an eine Reihe von Schülern weiter, die sich u m ihn sammelten. Damit hat Irnerius dem Studium des römischen Rechts seine wertvollste Quelle gegeben und es im eigentlichen Sinne zu einem wissenschaftlichen gemacht. Waren bisher die Rechtskenntnisse als Teil der artes liberales erschienen, als B e i w e r k der Rhetorik, der Dialektik und insbesondere der Grammatik, welche die Kunst der Abfassung vertraglicher und amtlicher Schriftstücke einschloß, so führte das Studium der Rechtsbücher Justinians w i e dasjenige der Theologie, der Medizin und der Philosophie zu einer eigenständigen Wissenschaft. Seit dem 12. Jahrhundert galt das Studium der Jurisprudenz als Bestandteil und auch als sorgfältig gehütetes M o n o pol der Universitäten. Bereits unter den Schülern des Irnerius, den 54
1. Legisten und Kanonisten „quattuor doctores" Bulgarus, Martinus, J a c o b u s und H u g o , die in den Jahren zwischen 1130 und 1170 wirkten, fanden sich Hunderte von Studenten in B o l o g n a zusammen, u m sich dort über das C o r p u s iuris civilis unterrichten zu lassen. „ D i e legistische Literatur ist bei aller Vielfalt der Erscheinungsformen ein Gebäude von großartiger Geschlossenheit. D e r G r u n d , auf dem dieses Gebäude steht, ist der Rechtsunterricht, wie er zuerst am Studium zu B o l o g n a erteilt wurde und sich von dort aus über das ganze A b e n d land ausbreitete." D i e Glossenapparate, Harmonisierungen und Zusätze, welche die Bologneser von Anbeginn des Rechtsstudiums zur Erläuterung der Teile des C o r p u s iuris civilis verfaßten, „waren nichts anderes als die U m s e t z u n g des gesprochenen Wortes der Vorlesung in das geschriebene Wort der Literatur" (Peter Weimar). In jener Zeit nahm das Studium Generale zu B o l o g n a überhaupt eine festere und selbständige Gestalt an. Von Kaisern und Päpsten oft begünstigt, insbesondere der städtischen Obrigkeit und der Bürgerschaft gegenüber, verschiedentlich aber auch gehemmt und bedrängt, schloß sich die B o l o g n e s e r Studentenschaft u m 1200 zur „universitas" zusammen, wählte eigene R e k t o r e n aus ihrer Mitte, unterstellte sich ihrer Gerichtsbarkeit, berief und besoldete anfangs sogar selbst die L e h r e r und beschloß eigene Statuten: „So konstituierte und behauptete sie sich zwischen staatlichen, kirchlichen, städtischen Gewalten als autonome G e meinschaft, die für andere Universitäten z u m anspornenden Vorbild w u r d e " (Herbert G r u n d m a n n ) . D i e korporative A u t o n o m i e der Magister und Scholaren charakterisierte fortan das Bild der europäischen H o h e n Schulen. D i e universitas magistrorum et scholarium oder studentium, die Genossenschaft der mit dem P r o m o t i o n s r e c h t begabten L e h r e r und ihrer Schüler, brachte alle jene F o r m e n und Institutionen korporativer Selbstverwaltung hervor, die dann auch die fürstlichen Universitätsgründer vor allem in Deutschland übernahmen, so die Leitung der H o c h s c h u l e durch selbstgewählte R e k t o r e n mit Gerichtsgewalt über die Universitätsangehörigen, die Gliederung der Studienfächer in Fakultäten mit gleichfalls gewählten, wechselnden D e k a n e n an der Spitze, das R e c h t zur Prüfung und zur Verleihung akademischer Grade. Das E x a men nahmen die D o k t o r e n ab, die licentia docendi verlieh in Bologna, wie Papst H o n o r i u s I I I . festlegte, der Archidiakon. D i e Verselbständigung der verschiedenen Wissenschaften fand dabei ihren sichtbaren organisatorischen Ausdruck. Italiens Juristenstand ging aus der Genossenschaft gelehrter K e n n e r der alten R e c h t s b ü c h e r hervor, und diese Experten standen von Anfang an in enger Beziehung zu den vielerlei Gerichten der Städte. Angesichts der Vielfalt von O b r i g k e i t e n und Gerichten „hatte dort die gelehrte 55
III. Die Rezeption des römischen Rechts Korporation der Universität die einzigartige Aussicht, fachliche Autorität zu verleihen", die u m so eher allgemeine Anerkennung zu finden vermochte, „als das Recht sich in der Theorie von Kaisertum und Imperium ableiten konnte, ohne daß die Korporation politisch von den einzelnen Kaisern irgendwie abhängig w a r " (Peter Classen). Die Methode der Glossatoren blieb nicht auf Bologna beschränkt. A u c h die anderen neu enstandenen Universitäten Europas nahmen das Corpus iuris Justinians z u m Gegenstand ihres Rechtsunterrichts, so früh Oxford und noch in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts Padua, Neapel, Siena, Rom, Montpellier, Orleans, Toulouse und Salamanca. Die Werke der Glossatoren suchten den im Gesetzeswerk Justinians beschlossenen reichhaltigen Rechtsstoff wieder zu beherrschen und die durch die Vielzahl kompilierter Zitate bedingten Widersprüche mittels exegetischer Distinktion im Dienste eines harmonischen Textes aufzulösen. Die Arbeitsergebnisse dieser Methode schlugen sich in Glossen z u m Gesetzestext nieder, die der Schule später den N a m e n gaben. A n fangs als sogenannte glossae interlineares zwischen die Zeilen gesetzt, kamen sie später als glossae marginales an den Rand der Textvorlage. Die wissenschaftliche Tätigkeit der Glossatoren reichte indes weit über diese exegetische Literaturform hinaus. So veröffentlichten sie mit ihren Summae v o m Gesetzeswortlaut gelöste Monographien über einzelne Titel oder ganze Teile der Kompilation, ferner Dissensiones als Sammlungen der Meinungskontroversen und andere literarische Werke. M i t seiner Summa Codicis lieferte der Glossator A z o im Jahre 1210 das juristisch gehaltvollste Werk der Schule. Sein Schüler Accursius brachte die Glossatorenjurisprudenz z u m Abschluß. Accursius, der in Bologna u m 1263 starb, sammelte in seinem Lebenswerk alle Thesen der Schule in einem umfassenden Glossenapparat z u m Corpus iuris, wobei er die Parallel- und Konträrstellen zu jeder Vorschrift so vorzüglich nachwies, daß seine Arbeit durch die späteren Jahrhunderte hindurch bis heute von Wert blieb. Des Accursius Glossenwerk, Glossa ordinaria genannt, setzte sich alsbald bei Juristen und Regierungen allgemein durch. Für Deutschland w u r d e die accursische Glosse später durch den Satz: „Quidquid non agnoscit glossa, non agnoscit curia" z u m Maßstab des rezipierten römischen Rechts. Den Glossatoren k o m m t das Verdienst zu, mit Scharfsinn und Stoffkenntnis die ausgedehnte Kasuistik des römischen Rechts für Wissenschaft und Justizgebrauch zugerichtet und erschlossen zu haben. Mit dem Entstehen der gelehrten Rechte und ihrer praktischen Wirksamkeit im 12. Jahrhundert bildeten sich neben der Universität auch die Institutionen der Rechtspraxis heraus, die beides sind: „ein Produkt, von den gelehrten Rechten mitgestaltet, und zugleich ein Vehikel für ihre weitere 56
1. Legisten und Kanonisten Ausbreitung" (Knut Wolfgang Nörr). Die Schule der Glossatoren hat damit die Grundlage für alle spätere Arbeit am römischen Recht, auch in Deutschland, gelegt. Zwar gingen diese mittelalterlichen Juristen ohne historisches Verständnis an das Corpus iuris heran, das sie w i e ein zeitgenössisches Gesetzbuch zu lesen und auszulegen suchten. A u c h betrachteten die Glossatoren das Recht Justinians als geltendes, so daß sie sich das A u s m a ß schöpferischer Tätigkeit selbst beschränkten. Gleichw o h l kann ihre Arbeitsweise als durchaus selbständig und kritisch gelten. Ein berühmtes Distichon des Gribaldus M o p h a charakterisierte 1554 die von den Glossatoren begründete, dann zu einem komplizierten Mechanismus fortgebildete analytisch-exegetische Methode „more italico" folgendermaßen: „Praemitto, scindo, summo casumque figuro, perlego, do causas, connoto, objicio." Der Exeget macht die Vorbemerkung, zergliedert den Text, faßt den wesentlichen Inhalt knapp zusammen, nennt die faktischen Voraussetzungen der Rechtssätze, stellt die Lesart des Textes fest, bespricht die rationellen Gründe, merkt Verschiedenes an und klärt Streitfragen. Im Wege scholastischer Distinktion gelangten die Glossatoren auch dazu, das procedere ad similia als erlaubt für sich zu beanspruchen, w o m i t sie der Sache nach die juristische Lehre von der Analogie begründeten. Die Rechtsschule von Bologna trat bereits während ihrer Blütezeit im 12. Jahrhundert in Beziehung z u m Reich. Die quattuor doctores lebten als Zeitgenossen Kaiser Friedrichs I. Barbarossa, der sie gelegentlich in seinen Dienst nahm. So w i r k t e n sie bei der Abfassung der Gesetze mit, die der Kaiser auf dem Ronkalischen Reichstag des Jahres 1158 beschließen ließ. Berühmtheit erlangte das Verzeichnis der königlichen Rechte, ein Regalienkatalog, den Friedrich Barbarossa bei jener Reichsversammlung mit Hilfe der römischen Juristen aufstellte, u m die an die emporsteigenden Stadtgewalten Oberitaliens verlorengegangenen iura regalia wieder zu gewinnen. Die Beiziehung der Bologneser Doktoren bedeutete mehr als deren persönliche Ehrung durch den Kaiser, der sich später offiziell z u m römischen Recht als Kaiserrecht bekannte. Friedrich Barbarossa betätigte sich als Fortsetzer der Kodifikation Justinians. Er befahl, sein Scholarenprivileg (Authentica „Habita") in den justinianischen C o d e x aufzunehmen. Das Privileg nahm die fahrenden Scholaren und ihre Lehrer vor jeglicher iniuria in Schutz, befreite sie durch Verbote von Repressalien von der Haftung für Schulden oder Privatdelikte ihrer Landsleute und begründete einen eigenen Gerichtsstand der Studenten vor ihrem Lehrer oder dem Bischof des Studienortes. Durch seine A u f n a h m e in die Kodifikation Justinians gewann das Privileg in der Folge den Charakter eines Grundgesetzes der mittelalterlichen U n i -
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III. Die Rezeption des römischen Rechts versität. Kaiser Friedrich II. ließ im Jahre 1220 noch weitere elf Constitutionen in den justinianischen C o d e x einfügen. Die Frührezeption des römischen Rechtes, für die der Ronkalische Reichstag einen eindrucksvollen Beleg liefert, vollzog sich vor dem H i n tergrund der Machtkämpfe zwischen Kaiser und Papst. D e m Weltrecht der Kirche, das soeben im Decretum Gratiani u m 1140 einheitliche Form angenommen hatte, sollte das römische Weltrecht als kaiserliches zur Seite treten. Sancta ecclesia und sacrum imperium mochten nach der Absicht des Kaisers als gleich gottunmittelbar nebeneinander stehen. Den Hohenstaufen k a m darum bei ihrem Streit mit der Kirche das in Bologna wieder ans Licht gezogene kaiserlich römische Weltrecht gelegen. Die aus dem Corpus iuris herübergenommenen Sätze, etwa zur antiken Herrschermächtigkeit, bildeten Waffen der Politik gegen den päpstlichen Primat. In Bologna stand die Wiege nicht nur der weltlichen hochmittelalterlichen Rechtserneuerung, sondern auch der kirchlichen. Die geistliche Jurisprudenz heißt Kanonistik nach dem für die kirchliche Rechtsetzung bevorzugten Wort canon. Legisten und Kanonisten forschten und lehrten zur selben Zeit, am nämlichen Ort und im gleichen Geist. Die Entwicklung beider Rechte vollzog sich in parallel verlaufenden Perioden und in wechselseitiger Beeinflussung. Ein Zeitgenosse des Irnerius, der Bologneser Kamaldulensermönch Gratian, legte mit seinem „Dekret" den Grundstock des Corpus iuris canonici. Gratian sammelte und verarbeitete in diesem Lehrbuch für seinen Unterricht im Kirchenrecht die wichtigsten geistlichen Quellen: Aussagen der Kirchenväter, Konzilsbeschlüsse und päpstliche Dekretalen. Das Werk sollte den unübersichtlichen Rechtsstoff sichten und klären, die Vielfalt der Texte harmonisieren. Der wohl schon von dem Autor selbst gebrauchte Titel des Decretum: „Concordantia discordantium canonum" bezeichnete diese Absicht des Werkes und hätte ebensogut über anderen scholastischen Handbüchern und den repräsentativen Schriften der Glossatoren stehen können. Gratian suchte w i e seine Kollegen von der weltlichen Jurisprudenz die Unstimmigkeiten der Tradition, die ihm w i e den anderen Rechtsgelehrten nur als scheinbare galten, zu glätten und zu vereinheitlichen. M i t seinem Decretum, dem ältesten und umfassendsten Teil des Corpus iuris canonici, begründete Gratian die Kanonistik als eigenständige Wissenschaft im Rahmen der Theologie, als „theologia practica externa". Damit erwarb er sich bereits im Mittelalter hohen R u h m : Dante wies Gratian im Paradies einen Platz neben Albertus M a g n u s und Thomas von A q u i n an. Eigentliche Gesetzeskraft erlangte das Decretum Gratiani nicht, wenngleich es ältere Quellen im Einzelfall als Gewohn58
1. Legisten und Kanonisten heitsrecht in die kirchliche Praxis einführte. A u c h konnte es freilich nur die bis z u m Tode seines Autors ergangenen päpstlichen Dekretalen und Konzilienbeschlüsse aufnehmen. Die später entstandenen Rechtsnormen liefen eine Zeitlang ungesammelt und einzeln um, weshalb sie Extravagantes hießen. Amtliche Sammlungen faßten sie nach einiger Zeit jeweils zusammen. So entstanden folgende weitere Bücher des — w i e es seit dem 16. Jahrhundert amtlich hieß — Corpus iuris canonici: der Liber extra des R a y m u n d u s de Penaforte 1234 unter Gregor IX., der Liber sextus unter Bonifaz VIII. 1298 und die Clementinae, schließlich die Extravagantes Ioannis XXII. und die Extravagantes communes. Das 1317 abgeschlossene Textcorpus erfuhr seit 1566 eine amtliche Textredaktion durch die sogenannten Correctores R o m a n i und w u r d e in dieser überarbeiteten Form 1582 neu publiziert. Es galt bis zur Kodifikation des kanonischen Rechtes im C o d e x iuris canonici 1917, der im folgenden Jahr in Kraft trat. Ihn löste ab der grundlegend erneuerte und von überlebtem Rechtsgut gereinigte C o d e x iuris canonici 1983. Das Corpus iuris canonici brachte das innere autonome Kirchenrecht zur Darstellung. Damit erschöpfte es sich aber nicht; vielmehr trat es in Wettbewerb mit dem weltlichen Recht seiner Zeit. „Durch das päpstliche Gesetzbuch empfing die Welt ein zweites Corpus iuris, welches zugleich den Anspruch erhob, das alte römische Kaiserrecht des Corpus iuris civilis für die Gegenwart von damals zu reformieren" (Rudolph Sohm). Das kanonische Recht k a m also z w a r von der Kirche, galt aber nicht nur für sie: dem Herrschaftsanspruch der Kirche entsprach der ihres Rechts. Ein päpstlicher Entscheid aus der Mitte des 12. Jahrhunderts mag die Konkurrenz der beiden Rechte und Gerichtsbarkeiten beleuchten: „Decernimus etiam, ut laici ecclesiastica tractare negotia non praesumant. Sed episcopi, abbates, archiepiscopi et alii ecclesiarum praelati de negotiis ecclesiasticis, maxime de illis, quae spiritualia esse noscuntur, aliquorum laicorum iudicio non disponant, nec propter eorum prohibitionem ecclesiasticam dimittant iustitiam exercere." Laien sollten sich also nicht anmaßen, kirchliche Geschäfte zu verhandeln. Geistliche Würdenträger standen unter dem Gebot, Kirchenangelegenheiten nicht der Gerichtsbarkeit von Laien zu unterwerfen; auch durften sie weltlicher Verbote w e g e n nicht etwa ihre kirchliche Rechtspflege unterlassen. Geltungsanspruch und praktischer Einfluß des kanonischen Rechts reichten weit. Das hochmittelalterliche Kirchenrecht erfaßte wichtige Teile des Privatrechts. Ratione materiae, der N a t u r der Sache nach, galten als rein geistlich die causae mere spirituales, deren Hauptgruppe die Ehesachen darstellten. Das kanonische Recht bildete unter Indienst59
III. Die Rezeption des römischen Rechts nähme des Vertragsgedankens die Ehe als Rechtsinstitut aus. Die Kirche setzte die Gleichberechtigung der Frau wenigstens im persönlichen Verhältnis der Gatten zueinander durch und verstand die eheliche Treuepflicht als eine gegenseitige. Das Kirchenrecht verbürgte die prinzipielle Unauflöslichkeit der Ehe und schränkte durch die kanonischen Ehehindernisse die Verwandtenehen ein. Im Deutschen Reich verlor die Kirche das letzte Stück der Rechtspflege in Ehesachen erst mit dem Personenstandsgesetz von 1875, das die obligatorische Zivilehe einführte. Entscheidenden Einfluß nahm die Kanonistik etwa auch auf das Testamentsrecht und die Zinstheorie. Aus dem mosaischen Recht und dem Evangelium leiteten die Kanonisten ein Zinsverbot ab, und Papst Clemens V. erklärte 1311 jedes entgegenstehende weltliche Gesetz für nichtig. Zwingende Gründe des Wirtschaftsverkehrs schränkten das Verbot später ein: ein Kompromiß, den noch der C o d e x von 1917 aufrechterhielt, erlaubte den Zins bei Verzugsschäden und als Risikoprämie. A u c h im Zivilprozeßrecht leistete die Kanonistik Bahnbrechendes. Mit dem Speculum iudiciale des Kanonisten Guillelmus D u r a n d s erschien im Jahre 1271 das prozessuale Leitwerk der mittelalterlichen Rechtswissenschaft überhaupt. Zu häufigem Streit zwischen den weltlichen und geistlichen Gerichtsbarkeiten k a m es auf dem weiten Feld der causae spiritualibus annexae oder mixtae, also der Angelegenheiten, welche die Kirche kraft Zusammenhangs mit den causae mere spirituales an sich zog. Dahin gehörten Patronatssachen, Pfründ- und Zehntstreitigkeiten, Verlöbnis-, Dotal-, Status-, Testamentssachen und Streitigkeiten über eidlich bestärkte Verträge. Das kirchliche Gericht verfolgte neben der sachlichen eine weitgespannte persönliche Zuständigkeit etwa für Rechtsstreitigkeiten, in denen ein Geistlicher als Beklagter auftrat. A u ß e r d e m vereinbarten die Parteien häufig die Zuständigkeit des geistlichen Gerichts (Prorogation). Die Glossatoren befaßten sich nur oberflächlich mit dem kanonischen Recht und erkannten dessen Vorrang allein in einigen eherechtlichen Fragen sowie im Zinsrecht an, während die ihnen nachfolgenden Kommentatoren mit ihrer „Bereichslehre" das ius canonicum systematisch in das Zivilrecht einordneten, wobei sie dem kirchlichen Recht in allen Fragen des Glaubens und der Sünde den Vorzug einräumten. „Der entscheidende Gesichtspunkt, der das kanonische Recht überall leitete, w a r bei allen diesen Einbrüchen in das Gebiet des Privatrechtes der Kampf gegen die Sünde. Wenn dabei das weltliche Recht gegenüber dem geistlichen stark an Boden verlor, so schließt das natürlich nicht aus, daß umgekehrt auch das geistliche Recht durch Denkformen des weltlichen beeinflußt w o r d e n ist" (Gerhard Wesenberg). Im Konfliktsfall beanspruchte das kirchliche Recht vor dem weltlichen den Vorrang. 60
1. Legisten und Kanonisten Dieser zunächst vielfach durchgesetzte, sich später verlierende Vorzug beruhte nicht nur darauf, daß jüngeres Recht älteres derogiert. Er ergab sich mehr noch aus der ideellen und politischen Kraft der römischen Kirche. Sie bildete die weitaus bedeutsamste geistige Macht und zugleich die geschlossenste und weiträumigste öffentliche Organisation des Mittelalters mit einer entsprechend wirkungsvollen inneren Rechtsordnung, welche schon früh auf einer durch Schriftgebrauch, Aufzeichnung und Schule gesicherten Tradition gründete und eine erhebliche Ausstrahlungskraft besaß. H i n z u k a m die kirchliche Beicht- und Bußpraxis, die das allgemeine Rechtsbewußtsein prägte. Die hier einschlägigen Handbücher bemühten sich, die moralischen Tatbestände zu erfassen und zu juridifizieren. Die Beicht- und Bußpraxis mit ihrer Tendenz zur moralischen, subjektiven und individuellen Bewertung inneren Verhaltens erzog auch das profane Rechtsdenken und förderte die strafrechtliche Schuldlehre ebenso wie die zivilistische Vertragsdogmatik. Ius civile und canonicum, Legistik und Kanonistik blieben, so sehr sie sich gegenseitig durchdrangen und förderten, nach der Rechtsansicht ihrer Zeit grundsätzlich gesonderte Disziplinen und bildeten je ein Studium für sich. Den Doktorgrad erwarben die Rechtsstudenten des 13. und 14. Jahrhunderts entweder in iure civili oder in iure canonico. Der Begriff des ius u t r u m q u e w i e das Verbot des Studium civile für Kleriker mit seelsorgerischen A u f g a b e n und Ordensleute zeigten jedoch zugleich an, daß die beiden Rechtsfächer einander zunehmend überdeckten. Für die mit Verwaltungs- und Rechtsprechungsaufgaben befaßten Weltgeistlichen galt das Verbot des — für sie notwendigen — Studium civile nicht. Den Austausch der Rechtssätze begünstigte „ein gegenseitiges Subsidiaritätsprinzip: die geistlichen Gerichte wendeten hilfsweise das römische Recht, die weltliche Rechtsprechung in der gleichen Weise allgemeine kirchliche Rechtsgrundsätze an" (Franz Wieacker). Im Laufe des 15. Jahrhunderts absolvierten immer mehr Rechtsstudenten beide Fächer mit dem Ziel der Promotion z u m doctor iuris utriusque, die dann im folgenden Jahrhundert zur Regel wurde. Den Zusammenhang der beiden juristischen Disziplinen brachte der Satz z u m Ausdruck: ius canonicum et civile sunt adeo connexa, ut u n u m sine altero non intellegi potest, oder auch: legista sine canonibus valet paucum, canonista sine legibus nihil. Als Wiedererwecker der Rechtswissenschaft haben die Glossatoren und die Kanonisten Grundlegendes und Weiterführendes geleistet. Die Absolventen des Studiums der Rechte fingen an, sich als Mitglieder eines eigenen, gelehrten Berufsstandes zu verstehen und damit auch die kritische A u f m e r k s a m k e i t der Zeitgenossen auf sich zu lenken. H u g o von Trimberg hat u m das J a h r 1300 in seinem „Renner" auf bleibende 61
III. Die Rezeption des römischen Rechts
Anfechtungen und Schwächen des neuen Berufsstandes hingewiesen und dem Juristen den Judisten oder Judas-Menschen als negatives Abbild vor Augen gehalten: „Juristen stent dem rehten bi, Judisten sind niht valsches fri; Juristen sint gerehte liute, Judisten tuont vil Übels hiute ... Juristen mac man niht enpern, Judisten siht man ofte ungern; ... Juristen stent nach gotes minne, Judisten gent nach boesem gewinne; ... Juristen volgent der heiligen schrift, Judisten kluocheit ist ein gift ..." Auf die Schule der Glossatoren folgte im 14. Jahrhundert die ihr ebenbürtige Gelehrtengeneration der Postglossatoren. Das wesentlich Neue ihrer Arbeit bringen die Bezeichnungen Praktiker, Kommentatoren oder Konsiliatoren besser zum Ausdruck. Denn sie wirkten nicht — wie Savigny es noch sah — als bloße Epigonen der Glossatoren, sondern sie vollzogen die für die spätere Weltgeltung des römischen Rechts entscheidende Wendung zur Praxis, indem sie sich mit ihrer Wissenschaft in die öffentlichen und privaten Rechtshändel einließen und eine ausgedehnte Gutachterpraxis entfalteten. Zwar setzten die Konsiliatoren die theoretische Erläuterungsarbeit der Glossatoren am Corpus iuris civilis fort, wobei sie die exegetische Kunst und die Denkfiguren ihrer Vorläufer noch übertrafen; doch sie erneuerten darüber hinaus ihren Gegenstand und ihre Aufgaben. „Von der Theorie wandten sie sich mehr und mehr einer Konsultationspraxis zu, aus deren Erfahrungen eine wissenschaftliche Durchdringung und Fortbildung des Statutarrechts, ja der italienischen und europäischen Rechtsordnungen überhaupt hervorging. Indem die Konsiliatoren ihre eigene Umwelt, und zwar nicht nur die italienische und südfranzösische, sondern bald auch die nah verwandte Welt West- und Mitteleuropas zum Material ihrer Wissenschaft machten, haben sie das justinianische Recht erst zu einem gesamteuropäischen Gemeinrecht (ius commune) gemacht und zugleich die Fülle der nichtrömischen Rechte Europas den Denkformen ihrer Rechtswissenschaft anverwandelt: Erst durch sie wurde der alte Gedanke, das römische Recht sei die ratio scripta der abendländischen Christenheit, eine greifbare Wirklichkeit" (Franz Wieacker). Zu einer erneuten Wahrnehmung dieser Wirklichkeit ist es in der aktuellen Diskussion um die Entwicklung eines europäischen Zivilrechts gekommen. „Europäische Rechtsvereinheitlichung ist zunächst einmal Aufgabe der Rechtswissenschaft — einer Rechtswissenschaft, die sich, pointiert gesagt, geradezu als eine erneuerte Historische Rechtsschule begreifen könnte: die also, von den gemeinsamen Wurzeln der modernen europäischen Rechtsordnung aus ,organisch fortschreitend' (Savigny) das neue ius commune Europaeum wieder vom Zentrum des allgemeinen Privatrechts her entwirft — und vereinheitlichender Gesetzge62
1. Legisten und Kanonisten bung damit den Boden bereiten mag. Dazu sind die Kenntnis des römischen Rechts und seiner Wirkungsgeschichte auch weiterhin unerläßlich" (Reinhard Zimmermann). Das wirtschaftlich reiche, kulturell blühende und politisch zerrissene spätmittelalterliche Italien bot der praktischen Jurisprudenz der Konsiliatoren ein Tätigkeitsfeld, das ihre Kunst herausforderte und ihre Dienste als Schlichter bei den vielen politischen Kämpfen und ökonomischen Konkurrenzen vielfältig in Anspruch nahm. Bei diesem Geschäft k a m es vor allem darauf an, das Verhältnis des römischen ius commune z u m mannigfachen lokalen ius speciale insbesondere der stadtrechtlichen statuta zu klären. Mit ihrer Statutentheorie suchten die Kommentatoren einen abgewogenen Ausgleich, der sowohl der wissenschaftlichen Einheit w i e der Existenz zahlreicher zersplitterter Ortsgebräuche Rechnung trug. Die Statuten genossen den Vorrang des speziellen Rechts, erfuhren indessen eine strikte, also enge Auslegung, wobei die Konsiliatoren der lückenfüllenden vereinheitlichenden Theorie des ius commune am Ende ein Ubergewicht verschafften. Indem sie auch die örtlichen Statuten ihrer Wissenschaft unterwarfen und sie mit dem justinianischen Recht verschmolzen, erweiterten sie den Stoff ihrer Jurisprudenz beträchtlich. Materien, die im justinianischen Recht fehlten oder dort unentwickelt geblieben waren, entfalteten nun die Konsiliatoren: insbesondere das Strafrecht, den Prozeß, das Handelsrecht und das interlokale Recht, das Ehegüter- und Bodennutzungsrecht, sowie das Recht der Korporationen. Eine größere Freizügigkeit und unbefangenere Geschicklichkeit im U m g a n g mit den Quellentexten vermehrten den Bestand an Instituten und Neuschöpfungen. Die praktische Tätigkeit der Postglossatoren schlug sich in einem ausgedehnten Schrifttum nieder, das sich weit in Europa verbreitete. Aus der gutachterlichen Arbeit erwuchs eine Konsilienliteratur, die — in ungezählten Handschriften und oft erneuerten Druckauflagen überliefert — die europäische Rechtspraxis bis ins 18. Jahrhundert beeinflußte, w a s die gelehrten Zitate in Urteilen und Fakultätssprüchen beweisen. Neben den Konsilien brachten die Postglossatoren zahlreiche breiter angelegte Kommentare und Monographien hervor, deren oft stattliche Folianten in viele Bibliotheken gelangten. Die größte Autorität unter den Konsiliatoren gewann Bartolus de Saxoferratis (1314-1357), der Richterstellen in Todi und Pisa, Professuren in Pisa und Perugia bekleidete und dessen Opera zehn Foliobände füllten. Seine Lehrsätze galten in Spanien und Portugal lange Zeit hindurch w i e Gesetze. Die Rechtsschule zu Padua erhielt einen eigens der Pflege seines Werkes gewidmeten Lehrstuhl unter dem Titel: lectura textus, glossae et Bartoli. N e m o jurista nisi bartolista, so hieß ein geflügeltes 63
III. Die Rezeption des römischen Rechts
Wort. Fast ebensoviel Ansehen genoß ein Schüler des Bartolus: Baldus de Ubaldis (1327-1400), der neben seinem lange geübten akademischen Lehramt stets Staatsgeschäfte wahrnahm und dabei auch als Generalvikar des Bischofs von Todi amtete. Baldus und Bartolus sahen sich in den Zitaten späterer Gutachter oft vereinigt: eine doppelte Gewähr für die Richtigkeit der jeweils vertretenen Rechtsansicht. Die Theorie der Glossatoren und die Praxis der Konsiliatoren veränderten Recht und Staat in Europa von Grund auf durch die wieder begründete Fachwissenschaft der Jurisprudenz mit ihrer formalen Technik, ihrem logisch-analytischen Vermögen, ihrem Argumentations- und Diskussionsstil, der die öffentlichen Angelegenheiten durchdrang und rationalisierte. Vom mittelalterlichen Oberitalien ausgehend, wirkte dieser neue Geist bald auch nördlich der Alpen, in Deutschland. Harold J. Berman hat in seinem gewichtigen Werk über „Recht und Revolution. Die Bildung der westlichen Rechtstradition" (deutsche Ausgabe 1991/95) mit guten Gründen die Anfänge gesehen beim Aufstieg der Kirche als eines unabhängigen, körperschaftlich-politischen und juristischen Gebildes: „Die westliche Kirche brauchte ein Rechtssystem für ihre neue sichtbare, körperschaftliche rechtliche Einheit unter dem Papsttum; die Ausgliederung des kanonischen Rechts aus Theologie und Liturgie und seine Systematisierung und Rationalisierung waren nötig zur Legitimierung und als Kontrollinstrument der zentralen Kirchengewalten und auch als wirksames Symbol der selbständigen korporativen Identität des Klerus als ganzen. Das neue ius canonicum war auch wichtig für die neuen Beziehungen der Kirche zu den verschiedenen weltlichen Gewalten. Und auch diese brauchten verhältnismäßig eigenständige und rationale Rechtssysteme zur Legitimierung und Durchsetzung ihrer sich entwickelnden zentralen Kontrollmechanismen und in dem neuen Konkurrenzkampf der politischen Gebilde."
2. Die Anfänge
des deutschen
Juristenstandes
ACKERMANN, Markus Rafael: Der Jurist Johannes Reuchlin (1455-1522), 1999 = Schriften z. Rechtsgesch. H. 77; AMMANN, Jost u. SACHS, Hans: Das Ständebuch. 114 Holzschnitte von J. A. mit Reimen von H. S., 10 1988 = Insel-Bücherei Nr. 133; ANGERMEIER, Heinz: Reuchlin, Württemberg und das Reich, in: Hist. Jahrb. 114, 1994, 381-395; BATTENBERG, Friedrich: Gerichtsschreiberamt und Kanzlei am Reichshofgericht 1235-1451, 1974; BATTENBERG, Friedrich: Ein hessischer Appellationsprozeß des späten 15. Jahrhunderts, in: ZRG, GA, 98, 1981, 56-94; BATTENBERG, Friedrich: Beiträge zur höchsten Gerichtsbarkeit im Reich im 15. Jahrhundert, 1981; BATTENBERG, Friedrich: Das
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2. Die Anfänge des deutschen Juristenstandes Reichskammergericht und die Juden des Heiligen Römischen Reiches, 1992; BATTENBERG, Friedrich u. RANIERI, Filippo (Hgg.): Geschichte der Zentraljustiz in Mitteleuropa. Festschr. Bernhard Diestelkamp, 1994; BAUMANN, Annette, OESTMANN, Peter, WENDEHORST, Stephan u. WESTPHAL, Siegrid (Hgg.): Prozeßpraxis im Alten Reich. Annäherungen, Fallstudien, Statistiken, 2005; BELOW, Georg von: Die Ursachen der Rezeption des Römischen Rechts in Deutschland, 1905 (Neudr. 1964); BENDER, Peter: Die Rezeption des römischen Rechts im Urteil der deutschen Rechtswissenschaft, 1979; BEYERLE, Franz, KUNKEL, Wolfgang u. THIEME, Hans (Hgg.): Quellen zur neueren Privatrechtsgeschichte Deutschlands, 1. Halbbd.: Ältere Stadtrechtsreformationen, 2. Halbbd.: Landrechte des 16. Jahrhunderts, 1936, 1938; BOOCKMANN, Hartmut: Zur Mentalität spätmittelalterlicher Gelehrter Räte, in: H Z 233, 1981, 295-316; BURGER, Gerhart: Die südwestdeutschen Stadtschreiber im Mittelalter, 1960; BURMEISTER, Karl Heinz: Das Studium der Rechte im Zeitalter des Humanismus im deutschen Rechtsbereich, 1974; BURMEISTER, Karl Heinz: Anfänge und Entwicklung des öffentlichen Notariats bis zur Reichsnotariatsordnung von 1512, in: Festschr. Ferdinand Elsener, 1977, 77-90; Carl, Horst: Der Schwäbische Bund 1488-1534. Landfrieden und Genossenschaft im Übergang vom Spätmittelalter zur Reformation, 2000 = Schriften zur südwestdeutschen Landeskunde, Bd. 24; CLÄVADETSCHER, Otto Paul: Die geistlichen Richter des Bistums Chur. Zugleich ein Beitrag zur Geschichte des römischen Rechts im Mittelalter, 1964; CLAVADETSCHER, Otto Paul: Rätien im Mittelalter, 1994; CoiNG, Helmut: Die Rezeption des römischen Rechts in Frankfurt am Main. Ein Beitrag zur Rezeptionsgeschichte, 1939 ( 2 1962); CoiNG, Helmut: Römisches Recht in Deutschland, 1964 = Jus Romanum Medii Aevi V, 6; CoiNG, Helmut (Hg.): Handbuch der Quellen und Literatur der neueren europäischen Privatrechtsgeschichte Bd. 1, 1973; DAHM, Georg: Zur Rezeption des römisch-italienischen Rechts, 1960; DALL'ASTA, Matthias u. DÖRNER, Gerald (Bearb.): Johannes Reuchlin Briefwechsel. Bd. I: 1477-1505, 1 9 9 9 ; B d . II: 1 5 0 6 - 1 5 1 3 , 2 0 0 3 ; DEUTSCH, A n d r e a s : D e r K l a g s p i e g e l u n d s e i n
Autor Conrad Heyden. Ein Rechtsbuch des 15. Jahrhunderts als Wegbereiter der Rezeption, 2004 = Forschungen zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 23; DIESTELKAMP, Bernhard: Das Reichskammergericht im Rechtsleben des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, 2 1988; DIESTELKAMP, Bernhard (Hg.): Das Reichskammergericht in der Deutschen Geschichte, 1990; DIESTELKAMP, Bernhard (Hg.): Die politische Funktion des Reichskammergerichts, 1993; DIESTELKAMP, Bernhard: Rechtsfälle aus dem Alten Reich. Denkwürdige Prozesse vor dem Reichskammergericht, 1995; DÖHRING, Erich: Geschichte der deutschen Rechtspflege seit 1500, 1953; DÖRNER, Gerald (Hg.): Reuchlin und Italien, 1999 = Pforzheimer Reuchlinschriften, Bd. 7; EBEL, Friedrich: Über Legaldefinitionen. Rechtshistorische Studie zur Entwicklung der Gesetzgebungstechnik in Deutschland, insbesondere über das Verhältnis von Rechtsetzung und Rechtsdarstellung, 1974; ECKHARDT, Albrecht: Der Lüneburger Kanzler Balthasar Klammer und sein Compendium juris, 1964; ELSENER, Ferdinand: Notare und Stadtschreiber. Zur Geschichte des schweizerischen Notariats, 1962; ELSENER, Ferdinand: Studien zur Rezeption des gelehrten Rechts. Ausgewählte Aufsätze, 1989; FOTH, Albrecht: Gelehrtes römisch-
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III. Die Rezeption des römischen Rechts kanonisches Recht in deutschen Rechtssprichwörtern, 1971; GENZMER, Erich: Kleriker als Berufsjuristen im späten Mittelalter, in: Etudes Le Bras II, 1965, 1207-1236; HACKE, Daniela u. ROECK, Bernd (Hgg.): Die Welt im Augenspiegel: Johannes Reuchlin und seine Zeit, 2002 = Pforzheimer Reuchlinschriften, Bd. 8; HAMM, Marlies u. ULMSCHNEIDER, Helgard (Hgg.): Die „Rechtssumme" Bruder Bertholds. Eine deutsche abecedarische Bearbeitung der „Summa Confessorum" des Johannes von Freiburg, Untersuchungen I, 1980, Bd. VI: Synoptische Edition der Fassungen B, A u. C, Bde. VII u. VIII: Quellenkommentar, Buchstabenbereich A - H u. I-Z, 1991; HAUSMANN, Jost (Hg·): Fern vom Kaiser. Städte und Stätten des Reichskammergerichts 1495-1806, 1995; HEINEMANN, Franz: Der Richter und die Rechtsgelehrten. Justiz in früheren Zeiten, 1900 (Nachdr. 1969); HEUSINGER, Bruno: Vom Reichskammergericht, seinen Nachwirkungen und seinem Verhältnis zu den heutigen Zentralgerichten, 1972; HOFMANN, Hanns Hubert: Eine Reise nach Padua 1585. Drei fränkische Junker „uff der Reiß nach Italiam", 1969; KEIL, Gundolf, MOELLER, Bernd u. TRUSEN, Winfried (Hgg.): Der Humanismus und die oberen Fakultäten, 1987; KISCH, Guido: Erasmus und die Jurisprudenz seiner Zeit. Studien zum humanistischen Rechtsdenken, 1960; KlSCH, Guido: Toleranz und Menschenwürde, 1965; KlSCH, Guido: Melanchthons Rechts- und Soziallehre, 1967; KlSCH, Guido: Gestalten und Probleme aus Humanismus und Jurisprudenz. Neue Studien und Texte, 1969; KlSCH, Guido: Studien zur humanistischen Jurisprudenz, 1972; KNAPE, Joachim: Dichtung, Recht und Freiheit. Studien zu Leben und Werk Sebastian Brants 1457-1521, 1992; KNOCHE, Hansjürgen: Ulrich Zasius und das Freiburger Stadtrecht von 1520, 1957; LAUFS, Adolf: Johann Oldendorp (1488-1567), in: JuS 1967, 248-251; LAUFS, Adolf (Hg.), unter Mitarbeit v. Christa BELOUSCHEK U. Bettina DLCK: Die Reichskammergerichtsordnung von 1555, 1976; LAUFS, Adolf: Johannes Reuchlin — Jurist in einer Zeitenwende, in: Stefan RHEIN (Hg.), Reuchlin und die politischen Kräfte seiner Zeit, 1998, 9-30, wieder abgedr. in: LAUFS, Adolf, Persönlichkeit und Recht. Gesammelte Aufsätze, 2001; LEFEBVRE, Charles: Juges et savants en Europe (13 c -16 c s.). L'apport des juristes savants au developpement de ['organisation judiciaire, in: Ephemerides iuris canonici 22, 1966, 76-202; LEISER, Wolfgang: Beiträge zur Rezeption des gelehrten Prozesses in Franken, in: Festschr. Hans Thieme, 1977, 96-118; LLEBERICH, Heinz: Die gelehrten Räte. Staat und Juristen in Baiern in der Frühzeit der Rezeption, in: ZBLG 27, 1964, 120-189; LuiG, Klaus: Humanismus und Privatrecht, in: Festschr. Gunter Wesener, hg. v. Georg KLINGENBERG, Joh. Michael RAINER U. Herwig STIEGLER, 1992, 285-301; MUTHER, Theodor: Zur Geschichte der Rechtswissenschaft und der Universitäten in Deutschland. Gesammelte Aufsätze, 1876 (Nachdr. 1961); NASSALL, Wendt: Das Freiburger Stadtrecht von 1520 — Durchsetzung und Bewährung, 1989; OLDENDORP, Johann: Ein RatmannenSpiegel. Von guter Policey, 1971 (unveränderter Neudr. d. Ausg. Schwerin 1893); RANIERI, Filippo: Recht und Gesellschaft im Zeitalter der Rezeption. Eine rechts- und sozialgeschichtliche Analyse der Tätigkeit des Reichskammergerichts im 16. Jahrhundert, 2 Teilbde., 1985; RANIERI, Filippo: Biographisches Repertorium der Juristen im Alten Reich, 16.-18. Jahrhundert, Bde. A, 1989, C, 1991, D, 1990, E, 1987; REILING, Emil: Reuchlin und die politischen
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2. Die Anfänge des deutschen Juristenstandes Kräfte seiner Zeit, in: ZRG, GA, 112, 1995, 730-739; ROWAN, Steven: Ulrich Zasius. Α Jurist in the German Renaissance, 1461-1535, 1987; SCHEURMANN, Ingrid (Hg.): Frieden durch Recht. Das Reichskammergericht von 1495 bis 1806, 1994; SCHEYHING, Robert: Eide, Amtsgewalt und Bannleihe. Eine Untersuchung zur Bannleihe im hohen und späten Mittelalter, 1960; SCHMIDT, Paul Gerhard (Hg.): Humanismus im deutschen Südwesten, 1993; SCHNUR, Roman (Hg.): Die Rolle der Juristen bei der Entstehung des modernen Staates, 1986; SCHOTT, Clausdieter: Wir Eidgenossen fragen nicht nach Bartele und Baldele ..., in: Gerichtslauben-Vorträge. Freiburger Festkolloquium zum 75. Geb. v. Hans Thieme, hg. v. Karl KROESCHELL, 1983, 17-45; SCHROEDER, Klaus-Peter: Das Reichskammergericht, in: JuS 1978, 368-372; SCHROEDER, Klaus-Peter: Ulrich Zasius (1461-1535) — Ein deutscher Rechtsgelehrter im Zeitalter des Humanismus, in: JuS 1995, 97-102; SCHUBERT, Ernst: Fürstliche Herrschaft und Territorium im späten Mittelalter, 1996; SCHULER, Peter-Johannes: Geschichte des südwestdeutschen Notariats. Von seinen Anfängen bis zur Reichsnotariatsordnung von 1512, 1976; SCHWINGES, Rainer Christoph: Deutsche Universitätsbesucher im 14. und 15. Jahrhundert. Studien zur Sozialgeschichte des Alten Reiches, 1986; SCHWINGES, Rainer Christoph (Hg.): Gelehrte im Reich. Zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte akademischer Eliten des 14. bis 16. Jahrhunderts, 1996; SMEND, Rudolf: Das Reichskammergericht. Geschichte und Verfassung, 1911 (Neudr. 1965); SÖLLNER, Alfred: Zu den Literaturtypen des deutschen usus modernus, in: Ius Commune 2, 1969, 167186; STEER, Georg u.a. (Hgg.): Die „Rechtssumme" Bruder Bertholds. Eine deutsche abecedarische Bearbeitung der „Summa Confessorum" des Johannes von Freiburg. Synoptische Edition der Fassungen Β, Α und C, Bde. I-IV, 1987; STELZER, Winfried: Gelehrtes Recht in Österreich. Von den Anfängen bis zum frühen 14. Jahrhundert, 1982; STINTZING, Roderich: Ulrich Zasius. Ein Beitrag zur Geschichte der Rechtswissenschaft im Zeitalter der Reformation, 1857 (Nachdr. 1961); STINTZING, Roderich: Geschichte der populären Literatur des römisch-kanonischen Rechts in Deutschland am Ende des fünfzehnten und im Anfang des sechzehnten Jahrhunderts, 1867 (Neudr. 1959); STINTZING, Roderich: Geschichte der Deutschen Rechtswissenschaft, 1. Abt., 1880 (Nachdr. 1957); STOBBE, Otto: Geschichte der deutschen Rechtsquellen, 2. Abt., 1864; STÖLZEL, Adolf: Die Entwicklung des gelehrten Richterthums in deutschen Territorien, 2 Bde., 1872; STÖLZEL, Adolf: Die Entwicklung der gelehrten Rechtsprechung, Bd. 1: Der Brandenburger Schöppenstuhl, 1901, Bd. 2: Billigkeits- und Rechtspflege der Rezeptionszeit in Jülich-Berg, Bayern, Sachsen und Brandenburg, 1910; TRUSEN, Winfried: Anfänge des gelehrten Rechts in Deutschland. Ein Beitrag zur Geschichte der Frührezeption, 1962; TRUSEN, Winfried: Römisches und partikuläres Recht in der Rezeptionszeit, in: Rechtsbewahrung und Rechtsentwicklung. Festschr. Heinrich Lange, hg. v. Kurt KUCHINKE, 1970, 97-120; WESENER, Gunter: Einflüsse und Geltung des römisch-gemeinen Rechts in den altösterreichischen Ländern in der Neuzeit (16.-18. Jahrhundert), 1989; WIEACKER, Franz: Gründer und Bewahrer. Rechtslehrer der neueren deutschen Privatrechtsgeschichte, 1959; WIEACKER, Franz: Privatrechtsgeschichte der Neuzeit unter besonderer Berücksichtigung der deutschen Entwicklung, 2 1967, 152-169; WLEGAND, Wolfgang: Studien zur
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III. Die Rezeption des römischen Rechts Rechtsanwendungslehre der Rezeptionszeit, 1977; WILLOWEIT, Dietmar: Das juristische Studium in Heidelberg und die Lizentiaten der Juristenfakultät von 1386 bis 1436, in: Semper Apertus. Festschr. Sechshundert Jahre RuprechtKarls-Universität Heidelberg Bd. I, 1985, 85-135; WOLF, Erik: Ulrich Zasius. Johann Oldendorp, in: Große Rechtsdenker der deutschen Geistesgeschichte, 4 1963,
5 9 - 1 0 1 , 138-176; ZASIUS (Zäsy), U l r i c h : N ü w e Stattrechten u n d Sta-
tuten der loblichen Statt Fryburg im Pryszgow gelegen, Faksimiledruck der Ausg. 1520, hg. v. Gerhard KÖBLER, 1986. (Weitere Lit. zum Reichskammergericht siehe unter IV. 1.)
Die praktische Rezeption des römischen Rechts in Deutschland begann im Spätmittelalter mit dem Studium deutscher Scholaren an den italienischen Universitäten. Die deutschen Studenten lernten dort das römische Recht in der Gestalt kennen, die es durch die Schule der Konsiliatoren, der Legisten Bartolus und Baldus, angenommen hatte. Buchgelehrt und bisweilen graduiert kehrten die jungen Juristen in die H e i mat zurück, u m ihre Kenntnisse in den Dienst deutscher Obrigkeiten zu stellen, als Räte und Syndici insbesondere A u f g a b e n in der sich stark ausdehnenden landesherrlichen Verwaltung zu übernehmen. Die diplomatische und administrative Tätigkeit des Juristen in den geistlichen, fürstlichen und reichsstädtischen Regimenten eilte jedenfalls nördlich der Alpen dem gelehrten Justizdienst meist weit voraus. „Denn w o sich das einheimische Recht seinem Inhalt nach lange erhielt, wie in großen Teilen Mittel- und Nordwesteuropas, gelangte der Jurist erst auf dem Wege über die fürstliche Verwaltung in die Hofgerichte und — abgesehen von den größeren Städten — erst zuletzt in die allgemeinen Gerichte, aus denen ihn die handgreiflichen politischen und materiellen Interessen der Stände lange fernzuhalten suchten. Nicht allein durch die Rechtsprechung und jedenfalls nicht zuerst durch sie hat also der Jurist den modernen Staat schaffen helfen" (Franz Wieacker). Es bewährte sich nun, daß die Fortschritte der Konsiliatorenjurisprudenz sich keineswegs auf das Privatrecht und die Urteilskunst beschränkt, vielmehr das gesamte Rechts- und Staatsdenken durchdrungen und rationalisiert hatten. Der durch diese Schule gegangene gelehrte Jurist entsprach den Bedürfnissen seiner Dienstherren. Er konnte den Herrschaftsanspruch der Territorialfürsten aus den Quellen des justinianischen Absolutismus begründen. Die aufstrebenden Landesherren sahen sich imstande, dank der sachlich-zweckhaften Arbeitsweise ihrer neuen Beamten feste Behörden einzurichten oder auszubauen, leistungsfähige Registraturen und Kanzleien führen zu lassen und so über den Widerstand der altständisch-lokalen Gewalten hinweg ihre Herrschaft zu rationalisieren und zu verdichten. 68
2. Die Anfänge des deutschen Juristenstandes Bei dem personellen w i e sachlichen Zusammenhang von Verwaltung und Justiz stieß das römisch-italienische Recht allmählich auch in die eigentliche Rechtspflege vor. Die neuen Kanzleien, Hofräte, Amter und Ratsdeputationen mit ihren akademisch gebildeten Juristen verdrängten allmählich die ungelehrten Richter und Urteiler der alten, volkstümlichen Gerichtsverfassung, wobei die rechtsuchenden Parteien selbst durch Supplikationen an die Obrigkeiten und durch Gerichtsstandsabreden diesen Vorgang begünstigten. So zog die neue, behördliche Verwaltung in immer größerem U m f a n g die Aufgabe der Rechtspflege an sich, „um dann im Laufe der Zeit eine neue Rechtspflege, die von beamteten A k a d e m i k e r n getragene Justiz, aus sich hervorgehen zu lassen" (Georg Dahm). Zugleich wandelte sich die überlieferte deutsche Gerichtsbarkeit innerlich, indem sich zunächst ein neuer Stil mittelbarer Rechtsfindung durch beamtete und gelehrte Berater ausbildete, die den Schöffen z w a r noch nicht formell ersetzten, sein Urteil indessen maßgebend bestimmten. Der Grund dafür lag darin, daß das mündliche Verfahren mehr und mehr dem schriftlichen Prozeß wich, w o b e i der Wandel der äußeren Form zugleich einen solchen der Sache bedeutete. A n die Stelle mündlicher Rede und Gegenrede trat eine logische Folge von Schriftsätzen, welche den Tatsachenstoff vortrugen und das Begehren der Parteien — in zunehmendem M a ß mit dem gelehrten Recht — begründeten. A u c h hier also förderten die Rechtsuchenden selbst die Rezeption. M i t dem Ubergang zur Schriftlichkeit des Verfahrens und der H i n w e n d u n g z u m römischen Recht verlagerte sich die Prozeßführung auf die studierten Advokaten, die z w a r nicht im Verfahren erschienen — dies taten die Prokuratoren —, indessen ihre Mandanten berieten und ihnen die Schriftsätze verfaßten. Der Prozeß w u r d e damit aus dem Hintergrunde geführt und oft auf ebensolche Weise entschieden. Denn die ihrer Spruchpraxis nicht mehr gewissen ungelehrten Richter aus dem Volk sahen sich durch die juristischen Parteischriftsätze überfordert und suchten Rat und Vorschlag bei den Juristen: so in den Städten bei den Ratskonsulenten, Syndizi, Stadtadvokaten und -Schreibern. Nicht nur die Parteien, sondern auch die Gerichte und die Gerichtsherren erbaten Gutachten von Rechtsgelehrten. So prägte ein System der Beratung und mittelbaren Entscheidung durch außerhalb der Gerichte stehende Personen und juristische Fakultäten die Rechtspflege, die sich auf diese Weise dem römisch-italienischen Recht erschloß. Wie der Kanonist die Rechtskirche schuf, so begründete der weltliche Jurist den neuzeitlichen Territorialstaat, indem er zuerst dessen Verwaltung, dann auch die Rechtspflege als Berufsfeld eroberte. Dabei kamen ihm seine Vielseitigkeit und vor allem seine Freizügigkeit zustatten. Eine von Italien übernommene Lehre stellte den Doktor dem Adeligen 69
III. Die Rezeption des römischen Rechts gleich, eröffnete dem A k a d e m i k e r damit die bisher dem Adel vorbehaltenen h o h e n Verwaltungs- wie Richterstellen und ermöglichte auch solchen M ä n n e r n den Eintritt in den städtischen Magistrat, die keinem ratsfähigen Geschlecht angehörten. Wenngleich der Jurist regelmäßig dem partikulären Fürstenstaat diente, so milderte er doch andererseits die politische Zerrissenheit Deutschlands, indem er als Glied eines allgemeinen und über die Territorial- und Standesgrenzen hinweg mobilen Berufsstandes ein einheitliches, wenn auch nur wissenschaftliches Rechtsbewußtsein erhielt. D i e verhältnismäßig große Zahl deutscher Scholaren, die im 13. und vor allem 14. Jahrhundert an nord- und mittelitalienischen Universitäten das ius civile studierten, erklärt sich aus dem Fehlen vergleichbarer Ausbildungsmöglichkeiten in Deutschland. Als die neugegründeten deutschen Universitäten Prag (1348), W i e n (1365), Heidelberg (1386), K ö l n (1388), Erfurt (1392), Leipzig (1409), R o s t o c k (1419), Freiburg (1457), Basel (1460) und T ü b i n g e n (1477) zunächst das ius canonicum und meist alsbald auch das ius civile in ihr L e h r p r o g r a m m aufnahmen, verringerte sich die F r e q u e n z der D e u t s c h e n an ausländischen H o c h s c h u l e n trotz weiter zunehmenden Bedarfs an Juristen; H e l m u t C o i n g errechnete nach den biographischen Angaben in den A k t e n der deutschen N a tion für das 14. Jahrhundert 1650 und für das folgende nur n o c h 1038 deutsche Studenten, vorwiegend Juristen, an der H o c h s c h u l e zu B o l o gna. Das Fortschreiten der praktischen und profanen Vollrezeption und die damit verbundenen erweiterten Berufsmöglichkeiten ließen die Zahl der in Italien und Frankreich studierenden D e u t s c h e n u m das J a h r 1500 wieder erheblich ansteigen. Diese Zunahme spiegelte den Bevölkerungszuwachs und den kräftig voranschreitenden Ausbau der territorialen und städtischen Verwaltungen ebenso wider wie das A u f b l ü h e n des Wirtschafts- und Handelsverkehrs sowie den Aufstieg des Bürgertums. N o c h k o n n t e n die deutschen Universitäten die emporschnellende Zahl von Rechtsstudenten nicht selbst ausreichend betreuen. D e n planmäßigen Unterricht über römisches R e c h t nahmen die Juristenfakultäten in Deutschland erst seit der Mitte des 15. Jahrhunderts allgemein auf. Erst in der u m 1460 geborenen Generation gingen auch aus dem eigenen Land bedeutende Rechtslehrer und Praktiker hervor, während der A n teil italienischer und französischer Juristen auf deutschen Lehrstühlen sank. A u c h nachdem sich das romanistische Lehrangebot der deutschen Rechtsfakultäten im 16. Jahrhundert stark ausgeweitet hatte, blieb die peregrinatio academica — wie die Universitätsmatrikeln der natio germanica iuristarum Paduas und anderer italienischer Plätze belegen — durchaus ein beliebtes U n t e r n e h m e n angehender oder bereits graduierter Rechtsgelehrter. 70
2. Die Anfänge des deutschen Juristenstandes
Nicht zuletzt förderten die Reichstradition und das Reichsrecht die Rezeption. Eine verbreitete Theorie sah in den römischen Cäsaren die Vorgänger der deutschen Kaiser. Staufische Reichsoberhäupter hatten von ihnen gesetztes Recht dem Corpus iuris angefügt. Aus der Idee von der translatio imperii ließ sich der Geltungsanspruch des römischen Rechts herleiten. Als überaus bedeutsam für die Geschichte der Aufnahme des römisch-italienischen Rechts in Deutschland erwies sich die Ordnung, die auf dem Reichstag zu Worms im Jahre 1495 für das damals geschaffene Reichskammergericht erging. Uber des Richters und der Beisitzer Eide bestimmte § 3 der Kammergerichtsordnung: „Item die alle sollen zuvor Unser Königlicher oder Kaiserlicher Majestät geloben und zu den Hailigen swern: Unserm Königlichen oder Kaiserlichen Camergericht getrewlich und mit Vleis ob sein und nach des Reichs gemainen Rechten, auch nach redlichen, erbern und leidlichen Ordnungen, Statuten und Gewonhaiten der Fürstenthumh, Herrschaften und Gericht, die für sy pracht werden, dem Hohen und dem Nidern nach seinem besten Verstentnus gleich zu richten und kain Sach sich dagegen bewegen zu lassen, auch von den Partheyen oder yemand anders kainer Sach halben, so in Gericht hanget oder hangen wurden, kain Gab, Schenk oder ainichen Nutz durch sich selbs oder ander, wie das Menschen Synn erdencken möcht, tzu nemen oder nemen lassen; auch kain sonder Parthey oder Anhang und Zufeil in Urtailn zu suchen oder zu machen und kainer Parthey raten oder warnen, und was in Ratschlegen und Sachen gehandelt wirdet, den Partheyen oder niemands zu offnen, vor oder nach der Urtail, auch die Sachen auß böser Mainung nit aufhalten oder verziechen, one alles Geverde." Der Richter sollte also, so lautete eine seiner Pflichten, nach des Reichs gemeinen Rechten, das hieß nach dem römischen und kanonischen, urteilen. Noch ließ freilich eine salvatorische Klausel bewiesene und vernünftige deutsche Rechtsgewohnheiten und Gebräuche dem gemeinen Recht vorgehen; letzteres galt nach der Ordnung von 1495 nur subsidiär. Indessen kehrte sich diese Regel alsbald in ihr Gegenteil um, weil das Kammergericht immer höhere Anforderungen an diesen Beweis stellte und die deutschen Rechtssätze eng auslegte. Es setzte sich der Grundsatz durch: statuta stricte sunt interpretanda. Wer sich auf das römische Recht berief, machte die ratio scripta geltend, nach dem Wortspiel ratio iuris — ius rationis, und genoß „fundatam intentionem"; wer sich dagegen auf das heimische Recht bezog, hatte dessen Vernünftigkeit zu beweisen. Der Geltungsbeweis fiel beim ungeschriebenen deutschen Gewohnheitsrecht besonders schwer. So drängte denn die romanistische Jurisprudenz die einheimischen, volkstümlichen Rechtsgewohnheiten 71
III. Die Rezeption des römischen Rechts immer mehr zurück. E b e n s o drang das römische R e c h t in die deutsche Sprache ein, die es mit F r e m d w ö r t e r n und Ubersetzungslehnwörtern durchsetzte; dies besorgten die A u t o r e n und Verbreiter der zusammenfassenden und vereinfachenden Klagspiegel („uß Latein teutsch gem a c h t " ) , die doppelsprachigen Stadtschreiber und N o t a r e . Als Wegbereiter der R e z e p t i o n wirkte im 15. Jahrhundert insbesondere der Klagspiegel, den der halbstudierte Stadtschreiber v o n Schwäbisch Hall C o n r a d H e y d e n als eigenständige Bearbeitung des römisch-rechtlichen Stoffes verfaßt hatte. D i e Spruchpraxis des Reichskammergerichts als einer Appellationsinstanz beeinflußte die Judikatur der Gerichte in den Territorien und Städten. D i e F o r m e l der Kammergerichtsordnung über die Justizpflichten fand Eingang in zahlreiche Landrechte und örtliche Gerichtssatzungen. D e r weit verbreitete Laienspiegel U l r i c h Tenglers von 1509, der ausführliche Eidesformulare für Richter, Urteiler — auch Beisitzer oder Ratgeber genannt — und andere Gerichtspersonen publizierte, übernahm die Regel der Kammergerichtsordnung: D i e geschworenen Beisitzer, Räte und Urteiler sollten nach des heiligen Reichs gemeinen R e c h ten und nach den ehrbaren, redlichen und leidlichen G e w o h n h e i t e n , Freiheiten und O r d n u n g e n ihrer Herrschaft nach bestem Verstehen gemeinlich dem A r m e n als dem R e i c h e n gleich und recht richten und prozedieren. N a c h der kurpfälzischen Hofgerichtsordnung aus der R e zeptionszeit, u m n o c h ein weiteres Beispiel anzuführen, gelobten H o f richter und Beisitzer eidlich, „nach gemeinen beschriebnen R e c h t e n , deß H . Reichs Constitutionen, U n s e r m L a n d - R e c h t , ehrbar und guten Ordnungen, Statuten und G e w o h n h e i t e n (sofern dieselbigen f ü r k o m m e n ) " zu urteilen. D i e Reichskammergerichtsordnung v o n 1495 bezeugt auch Ansehen und Aufstieg der Rechtsgelehrten. N a c h § 1 dieser Satzung war „das Camergericht zu besetzen mit ainem Richter, der ain gaistlich oder weltlich Fürst oder ain Grave oder ain F r e y h e r r sey, und 16 Urtailern, die alle W i r (Maximilian I.) mit R a t und Willen der Besamnung y e t z o hie kießen werden aus dem R e i c h Teutscher N a c i o n , die redlichs, erbars Wesens, Wissens, Ü b u n g und ye der halb Tail der Urtailer der R e c h t gelert und gewirdiget, und der ander halb Tail auf das geringest auß der Ritterschafft geborn sein sollen". I m obersten Gericht des Reiches also saßen graduierte Juristen, D o k t o r e n oder Lizentiaten, gleichberechtigt neben M ä n n e r n adeligen Standes. Ursprünglich oblag am K a m m e r g e richt wie bei allen übrigen aus Rechtsgelehrten und Adeligen zusammengesetzten Spruchkörpern die eigentliche juristische Tätigkeit, das Referieren, den Gelehrten allein, während die Ritter nur mitvotierten. D i e gelehrten Beisitzer hießen im Gegensatz zu den übrigen geradezu 72
2. Die Anfänge des deutschen Juristenstandes Referentes, und ein populärer A u s d r u c k nannte das Reichsgericht bezeichnend „die Doctores in der C a m m e r " . Doch schon in den z w a n ziger Jahren des 16. Jahrhunderts wünschte man sich die adeligen Beisitzer rechtsgelehrt oder gerichtserfahren. Die Reichskammergerichtsordnung von 1548/1555 erstreckte die sachliche Qualifikation der Doktoren demgemäß auch auf die Ritter, ohne ihnen doch den akademischen Grad abzuverlangen. „Damit waren beide Kategorien in der Vorbildung gleichgestellt, so daß der Grad der Doktoren nur noch als das soziale Äquivalent der Geburt der adeligen Mitglieder erschien, und außerdem waren nunmehr beide, nachdem noch unmittelbar vorher der scharfe Gegensatz des gelehrten und des adeligen Elements bestanden hatte, . . . zu einem homogenen Kollegium von gleichmäßig an der juristisch-technischen Tätigkeit des Gerichts beteiligten Mitgliedern vereinigt, ein Zustand, der in den Territorien erst im 18. Jahrhundert, am Reichshofrat nie erreicht w u r d e " (Rudolf Smend). In dem Maße, in dem die gelehrten Rechtsverständigen die nächste U m g e b u n g der Kaiser und Landesherren bildeten, die wichtigsten A m ter besetzten, sich als Doktoren den Rittern gleichachten konnten, ja z u m Adel zählten, hob sich ihr allgemeines Ansehen. A u ß e r den Richtern trugen auch die Sachwalter eine Amtstracht, die v o m 16. Jahrhundert ab meist in einem einfachen schwarzen Rock oder Mantel bestand, den die örtliche Gewohnheit mit unterschiedlichem B e i w e r k versah. Die aus dem kanonischen Recht stammende Teilung der Sachwalterschaft in Advokaten und Prokuratoren bürgerte sich auch in Deutschland im Laufe des 16. und 17. Jahrhunderts ein. W ä h r e n d die Prokuratoren eine geringere juristische Bildung aufwiesen und als eigentliche „Gewalthaber" oder Vertreter vor Gericht auftraten, w i r k t e n die Advokaten als gelehrte Schriftsatzverfasser im Hintergrund. Beide Professionen weiteten sich im Zuge der Rezeption zahlenmäßig gleichfalls erheblich aus. Die nützlichen Leistungen, die der aufstrebende juristische Berufsstand vollbrachte, besaßen freilich auch ihre Schattenseiten, welche die Öffentlichkeit bald kritisch beklagte. Die Juristen entfremdeten dem Volk das Recht, w a s eine Krise heraufbeschwor, die nicht zuletzt im Bauernkrieg z u m A u s d r u c k k a m und die seither immer wieder, in jüngerer Zeit etwa durch den Freirechtler Ernst Fuchs, hart angeprangert w o r d e n ist. Die Vorliebe für das römische Recht erregte den Widerwillen und das Mißtrauen des gemeinen Mannes wie der Adligen gegen die Doctores. Besondere Vertragsklauseln suchten gelegentlich staatsrechtliche Streitigkeiten dem Urteil gelehrter Juristen zu entziehen. So verpflichtete sich Kurfürst Friedrich I. von der Pfalz im Jahre 1457, künftige Streitigkeiten mit seinem Vertragspartner, der Reichsstadt Straßburg, durch unge73
III. Die Rezeption des römischen Rechts lehrte Schiedsrichter entscheiden zu lassen: „daß er dann zween L e y e n , die nicht D o c t o r e s oder Juristen seynd, darzu setzen solle und w o l l e " . H a n s Sachs reimte in dem von J o s t A m m a n n s H o l z s c h n i t t e n illustrierten Ständebuch dem P u b l i k u m aus dem H e r z e n , wenn er den Procurator wie folgt vorstellte: „Ich procurir vor dem Gericht, und offt ein böse sach verficht, durch L o i c , falsche list und renck, durch auffzug, auffsatz und einklenck, darmit ichs R e c h t auffziehen thu: schlecht aber zuletzt Unglück zu, daß mein Parthey ligt unterm gaul, hab ich doch offt gfüllt beutl und maul." In der Tat zogen sich die schriftlichen P r o zesse nun länger hin, und die Juristen, die von ihnen lebten, lagen den Parteien oft sehr auf der Tasche. Beutelschneidereien und manche lateinisch aufgeputzte Rabulistik, auch auf die Schulweisheit beschränkter H o c h m u t boten zur Berufssatire je und je Anlaß. Indessen festigten sich seit der Mitte des 16. Jahrhunderts Standesethik und fachliche Q u a lifikation des Juristenberufes. D i e Landesherren bemühten sich u m eine regelmäßigere Ausbildung und sorgfältigere Auswahl des Nachwuchses. Wenngleich n o c h weitgehend ständische Vorstellungen die Auslesegrundsätze b e i m Richter wie beim A n w a l t bestimmten und damit die Söhne sozial achtbarer Familien sich bevorzugt sahen, bot das juristische Vollstudium auch dem H o c h b e g a b t e n aus dem Volk eine gesellschaftliche Aufstiegschance, wie sie das Mittelalter allein dem Kleriker eröffnet hatte. Indessen setzten die hohen K o s t e n der Ausbildung und der teuere Promotionsaufwand dem Studierwillen G r e n z e n . Insgesamt trug der deutsche Juristenstand, solange er sich während der Rezeptionszeit herausbildete, noch kein ausgeglichenes Gesicht. Eine große Gruppe stellten die Halbstudierten, die einige J a h r e Vorlesungen gehört hatten und aus sozialen oder wirtschaftlichen G r ü n d e n zu einem Vollstudium oder z u m D o k t o r g r a d nicht gelangten, sich aber gleichwohl dem Juristenstand zurechnen konnten. Sie traten als G e richts- und Stadtschreiber in den Dienst kleinerer Herrschaften und K o m m u n e n oder übten als Fürsprecher den Sachwalterberuf aus. „Für den Alltag der praktischen R e z e p t i o n wird man dieser Gruppe vielleicht die nachhaltigste W i r k u n g zusprechen, und ebenso ihren beschränkten H o r i z o n t für die urteilslose A n w e n d u n g des schulmäßig Erlernten verantwortlich machen wie ihre fleißige R o u t i n e für die zunehmende Versachlichung des deutschen R e c h t s l e b e n s " (Franz Wieacker). Diese durchschnittlichen Praktiker übertraf nach Anspruch und Leistung eine zahlenmäßig viel geringere Elite romanistisch voll geschulter und humanistisch gebildeter Juristen, die mit ihrer Gelehrsamkeit das Verständnis für bewährte einheimische Rechtsgewohnheiten verbanden und sich darum auch bei der gesetzgeberischen Arbeit bewährten. Als der bedeutendste Angehörige dieser humanistischen Juristenelite gilt 74
2. Die Anfänge des deutschen Juristenstandes seit alters Udalricus Zasius (Ulrich Zäsy, 1461-1535), dessen Studienund Berufsgang den gehobenen Teil des frühen deutschen Juristenstandes im wesentlichen durchaus charakterisiert. Zasius begann nach dem Besuch der Domschule seiner Vaterstadt Konstanz im Jahre 1481 das Studium an der Artistenfakultät der wenige Jahre zuvor von Graf Eberhard im Barte gestifteten Hochschule in Tübingen, wobei er w o h l auch kanonistische Collegia hörte. N a c h dem vorläufigen Abschluß seiner Studien amtete Zasius als bischöflicher N o tar in Konstanz und von 1489 bis 1494 als Stadtschreiber von Baden im eidgenössischen Aargau. Dann berief ihn der Magistrat von Freiburg im Breisgau z u m Stadtschreiber, und 1496 übernahm Zasius die Leitung der Freiburger Lateinschule — ein damals keineswegs ungewöhnlicher Berufswechsel. N a c h dreijähriger Tätigkeit als „ludimagister" wandte sich Zasius wieder dem juristischem Studium zu. A n der Freiburger Universität immatrikuliert, studierte er nun die Quellen der römischen Jurisprudenz, hörte er Collegia bei Ulrich Krafft, einem geschulten Kanonisten und angesehenen späteren Münsterpfarrer zu U l m , sowie bei dem Legisten Paolo Cittadino, einem gebürtigen Mailänder und Schüler des renommierten Konsiliatoren Jason de M a y n o . Im J a h r 1501 erlangte Zasius die W ü r d e eines doctor legum. Vom Jahr seiner Promotion ab hielt er in Freiburg Vorlesungen, zuerst die poetisch-rhetorischen Einführungslektionen für Juristen, dann Kollegien über die Institutionen. Als Nachfolger seines italienischen Lehrers bekam Zasius, inzwischen als „Institutionarius" fest angestellt, die lectura ordinaria legum. A u ß e r d e m stand er erneut im Dienst der Stadt Freiburg. „Ich will eines ersamen Raths verpflichteter Doctor sin . . . alles das tun, w o z u Doctores gewonlich gebraucht werden", gelobte er 1502 bei seiner Anstellung. Der Schwerpunkt seiner Tätigkeit freilich lag im Hörsaal, w o sein Vortrag bei einer von Jahr zu J a h r wachsenden Hörerschaft begeisterten Widerhall fand. Zasius liebte und förderte die Wissenschaft, doch u m des Lebens willen, dem sie dienen sollte. Ein praktischer Sinn drängte den Freiburger Gelehrten dazu, seine wissenschaftlichen Einsichten als Gutachter, Richter und Gesetzgeber zu bewähren. Sein gewichtigstes praktisches Werk stellte die Reformation des Freiburger Stadtrechts von 1520 dar, ein gesetzgeberischer Ausgleich des Neben- und Widereinanders von römischem und deutschem Recht. Die reformierten Stadt- und Landrechte, für die Rezeptionszeit typische Rechtsquellen, entsprangen dem dringenden Bedürfnis nach Klärung und Bereinigung des Zwiespalts zwischen dem römischen und deutschen Recht, nach Heilung der Vertrauenskrise, die den Juristen dem Volk entfremdete. D e m französischen und deutschen H u m a n i s m u s gebührt das Verdienst, mittels kritisch-historischer Besinnung und gei75
III. Die Rezeption des römischen Rechts stiger Emanzipation von der Glosse A u s w e g e gewiesen zu haben. Das Bestreben des juristischen Humanismus entsprach der allgemein einsetzenden Abkehr von der mittelalterlichen Scholastik mit ihrer strengen Gebundenheit an die geistige Autorität der Kirche und der überlieferten Texte. Kritik und Polemik der Humanisten, die eines ihrer geistigen Zentren am Oberrhein besaßen, galten nun auch der als schwerfällig und unzeitgemäß empfundenen Methode der Rechtswissenschaft, der mit Kontroversen und logischen Figuren überladenen Konsiliatorenjurisprudenz. Der juristische Humanismus bezog sein reformerisches Programm von den Urhebern der neuen Denkweise, des mos gallicus, nämlich von dem Mailänder Alciat (1492-1550) und dem Franzosen Budaeus (Bude, 1467-1540), deren Werk Zasius vermittelte und in Deutschland ausbreitete. Die Juristen-Humanisten suchten die Quellenkenntnisse zu erweitern und zu vertiefen, die Texte selbst kritisch zu reinigen, u m auf diese Weise ein logisch befriedigendes System aus dem Corpus iuris zu gewinnen oder selbst herzustellen, wobei das römische Recht die Grundlage blieb. Der neugewonnene Sinn für die historische Bedingtheit der Quellen gab gerade Zasius die Freiheit zu eigentlich textkritischer Wissenschaft. Die von ihm immer wieder gestellte Frage nach der ratio legis machte seine Argumente besonders überzeugend. So hielt sich Zasius auch „den Blick frei für die dienlichen Grenzen der Rezeption, denn seine Achtung vor der ratio scripta w a r geläutert durch das in die Tiefe dringende philosophische und historische Verständnis der Entwicklung. Gerade weil ihm weder eine blinde Verehrung des römischen Rechts noch ein verbohrter Stolz auf das deutsche eigen war, konnte er beide in Einklang bringen w i e nur ein Mann, der geistig über beiden stand" (Hansjürgen Knoche). Zasius nutzte bei seinen theoretischen Arbeiten und seinen praktischen consilia und responsa das Werk der Glossatoren und Konsiliatoren, das er schätzte, ohne doch an es gebunden zu bleiben. Die freie und überlegene Denkweise dieses selbständigen Gelehrten bei der Auseinandersetzung zwischen römischer und deutscher Tradition prägte das Gesamtbild seines Freiburger Stadtrechts, das auf den alten Stadtbrauch weitgehend Rücksicht nahm und die Romanistik nur dort vorherrschen ließ, w o dies aufgrund ihrer Überlegenheit notwendig erschien, w i e etwa im Schuldrecht. Zasius vereinfachte die oft komplizierten gemeinrechtlichen Streitfragen und überprüfte den römischen Stoff durchweg auf seine Eignung und seine Vereinbarkeit mit dem deutschen Denken. So blieben die Regeln über den Liegenschaftskauf und gewisse Verfügungsbeschränkungen rein deutschrechtlich; im Ehegüterrecht und bei der Einkindschaft paßte Zasius römische Institute sinnvoll in das Freiburger H e r k o m m e n ein. U m g e k e h r t erfuhr das dominierende römische 76
2. Die Anfänge des deutschen Juristenstandes Recht der Vormundschaft und der gesetzlichen Erbfolge bedeutsame und freizügige Ausnahmen, die dem älteren Stadtgebrauch schonend Rechnung trugen. Mehr als eine bloße Stadtrechtsreformation, konnte des Zasius Werk z u m ersten, wegweisenden Beispiel eigenständiger deutscher Zivilgesetzgebung im 16. Jahrhundert werden. Zu den hervortretenden juristischen Figuren der beginnenden N e u zeit ist ferner Johannes Reuchlin (1455-1522) zu rechnen. D e r große Pforzheimer Humanist und anerkannte vir trilinguis trat mit Beiträgen zur griechischen und lateinischen Philologie hervor. N o c h weit mehr Einfluß gewannen seine hebraistischen Werke, das 1494 in Basel erschienene Buch „ D e verbo mirifico", die erste europäische Publikation über die jüdische Mystik, die Kabbala, und die Schrift „ D e arte cabalistica" von 1517. F ü r den orthodox religiösen A u t o r besaß die beabsichtigte Rekonstruktion der jüdischen Kabbala im christlichen Glauben ihre theologische Mitte und ihr Ziel. D i e Leistungen des Philologen, der sich auch als Dichter und Komödienschreiber einen N a m e n machte, haben diejenigen des Juristen für die N a c h w e l t ganz in den Schatten gestellt. Freilich hat er nicht dauerhaften R u h m gewonnen als Gesetzgeber wie Ulrich Zasius oder als juristischer Zeitkritiker wie Sebastian Brant, der A u t o r des „ N a r r e n s c h i f f s " . A u c h hinterließ der fleißige und produktive A u t o r aus der von ihm fast lebenslang beruflich betriebenen Rechtswissenschaft wohl kein theoretisches oder praktisches D r u c k werk, abgesehen von dem Gutachten und den Verteidigungsschriften in seinem aufsehenerregenden Rechtsstreit u m die hebräische Literatur, in dem er allerdings seine Kennerschaft auf den Gebieten des römischen und kanonischen Rechts als A u t o r bewies. A b e r er gehörte doch zu den namhaften Vertretern der jungen, aufstrebenden Profession der Juristen, zu den Prominenten einer durch Leistung ausgewiesenen neuen Elite auf der diplomatischen Bühne. „Reuchlin machte seine große Karriere nicht als Humanist, sondern als J u r i s t " (Otto Flake). Reuchlins Lebensweg als Jurist des 15. und 16. Jahrhunderts weist die charakteristischen Merkmale einer Juristenlaufbahn der frühen N e u z e i t auf. „Insbesondere der Wechsel der Dienstherren und die Vielfalt der nach- und bisweilen nebeneinander ausgeübten Tätigkeiten als Richter, Beisitzer, diplomatischer Vertreter und Anwalt sind typische Elemente einer Juristenkarriere der frühen N e u z e i t . " D a b e i hat Reuchlin „die Philosophie mit der Rechtsgelehrtheit verbunden" (Markus Rafael Ackermann). D e r berufliche Lebensgang führte den Sohn eines Klosterverwalters, eines Schaffners des Dominikaner- oder Predigerordens, über die Pforzheimer Lateinschule z u m artistischen Studium an die Universitäten Freiburg und Basel, von dort 1479 nach Paris, Orleans und dann nach 77
III. Die Rezeption des römischen Rechts Poitiers. A n den beiden zuletzt genannten französischen Universitäten studierte er jeweils mit Abschluß das römische Recht — Voraussetzung für die Karriere eines Bürgerlichen im Territorialstaat oder im Reich. In Poitiers erwarb er 1481 das juristische Lizentiatendiplom. Der danach in Tübingen 1482 immatrikulierte und 1485 promovierte Doktor der Kaiserlichen Rechte begann seinen Aufstieg in württembergischen Diensten, unter der Protektion von Johannes Vergenhans, genannt Nauclerus, des ersten Rektors der soeben gegründeten Universität Tübingen. Er gewann die Position eines engen Ratgebers von Graf Eberhard im Barte, außerdem die Stelle eines Beisitzers am württembergischen H o f gericht. In den Jahren 1483, 1484, 1485, 1489 und 1493 läßt sich Reuchlin als solcher nachweisen. Die Urteile aus seinen Jahren erweisen sich nach heutigen Maßstäben als bereits höchst professionelle, moderne juristische Leistungen. Eine gewichtige diplomatische Mission im Dienste seines Herrn, des u m die Einheit und Unteilbarkeit Württembergs besorgten, kinderlosen Grafen Eberhard des V. im Barte, führte Reuchlin zweimal, in den J a h ren 1492 und 1493, an die Residenz Kaiser Friedrichs III., des greisen Reichsoberhauptes, nach Linz. Es ging u m die Regelung der Nachfolge Eberhards, die der Zwist im gräflichen Hause erschwerte und die sow o h l die württembergische Außenpolitik wie die Innenpolitik herausforderte. Reuchlin erwarb sich durch seine Dienste Vertrauen und Respekt ersichtlich auch beim Kaiser. Denn dieser erhob den Gelehrten im Oktober 1492 z u m Kaiserlichen Pfalzgrafen. Das Palatinat oder Hofpfalzgrafenamt, eine von Reichsitalien im Wege der Rezeption des römischen Rechts nach Deutschland eingeführte Institution, gab dem Kaiser die Möglichkeit, angesehene Persönlichkeiten, zuallermeist führende Juristen, auszuzeichnen, sie ohne eigenen materiellen A u f w a n d zu belohnen und an sich zu ziehen. Den U m f a n g der verliehenen Rechte, etwa den Status der Volljährigkeit zu verleihen, Notare zu berufen, Legitimationen und Wappenbriefe zu erteilen, legte die Ernennungsurkunde im einzelnen fest. Reuchlin erhielt die Befugnis, zehn Doktoren zu ernennen. Johannes Reuchlin hat als württembergischer Gesandter an dem Frankfurter Reichstag im Frühjahr 1486 und den nachfolgenden Verhandlungen zu Aachen und Köln von Februar bis M a i teilgenommen, bei denen mehrere gewichtige Themen anstanden: die A b w e h r der ungarischen Invasion in den österreichischen Reichslanden durch die Organisation einer Reichshilfe ebenso wie ein epochemachender Reichslandfriede, bedeutsame Verfassungsdiskussionen und nicht zuletzt die Wahl eines neuen römischen Königs zu Lebzeiten des Kaisers in Frankfurt und dessen Krönung zu Aachen. Die äußeren Abläufe des Reichs78
2. Die Anfänge des deutschen Juristenstandes tages mit ihrem noch durchaus mittelalterlichen Zeremoniell treten uns anschaulich in allen traditionellen Einzelheiten entgegen in den Berichten, die der württembergische Rat seinem zu Hause gebliebenen Herrn, dem Grafen Eberhard im Barte, erstattete. Der gelehrte Chronist beobachtet genau die Rangfolgen, die Ausstattungen der Herren und ihres Gefolges, Kleidung, Schmuck und Tafelgedecke bei den großen Auftritten und Feierlichkeiten — mit w a c h e m A u g e für bezeichnende Szenen und auch komische Situationen. Der A u t o r selbst findet sich stets mitten im Geschehen. Bei festlichen Mahlzeiten sitzt er zusammen mit Fürsten an einem Tisch. A u c h die Reichsversammlungen spiegeln so den Aufstieg der gelehrten Räte aus dem städtischen Bürgertum in die Adelswelt hinein. Im Jahre 1495 gehörte Johannes Reuchlin zu dem starken Gefolge, mit dem Graf Eberhard im Barte z u m Reichstag nach Worms zog, der einen H ö h e p u n k t der Reichsreform darstellte und den württembergischen Landesherrn z u m Herzog, sein Land z u m H e r z o g tum erhob. Nach dem Tode Eberhards im Barte 1496 floh Johannes Reuchlin im Zusammenhang mit dem innenpolitischen U m s t u r z und der Affäre u m den Augustinermönch Conrad Holzinger, einen Günstling des neuen Herrn, nach Heidelberg, u m nach der neuerlichen Wende, dem Amtsantritt einer ständischen Regierung in Württemberg 1498, in seine frühere Stellung zurückzukehren. In Heidelberg hatte der Humanist im Jahre 1497 für einige Zeit das A m t eines Rates des Kurfürsten Philipp und eines Prinzenerziehers übernommen. N a c h einigen Anzeichen hat die juristische Berufsarbeit den Pforzheimer Juristen auch z u m Reichskammergericht geführt. Eine Vorschlagsliste für die Wahl der Kammergerichtsbeisitzer auf dem Wormser Reichstag 1495 nennt unter den Doktoren auch Johannes Reuchlin, der freilich kein Assessorat übertragen erhielt, aber eines solchen jedenfalls für w ü r d i g galt. Wahrscheinlich hat sich Reuchlin bei der von ihm zeitweise ausgeübten anwaltlichen Tätigkeit auch mit Kammergerichtsprozessen befaßt; z u m Prokurator am Reichskammergericht w a r er jedenfalls nicht bestellt. Wohl die H ö h e seiner Wirksamkeit erreichte er als einer der drei Richter des Schwäbischen Bundes — „Triumvir Sueviae". Ein hohes M a ß an Organisationskraft und Effektivität erweist den während der Jahre 1488 bis 1534 bestehenden Schwäbischen Bund, ein wiederholt erneuertes militärmächtiges Landfriedensbündnis, als den letzten großen H ö h e p u n k t der mittelalterlichen Einungsbewegung. Der Bund besaß hohen Wert für die habsburgische Reichspolitik. Seine Ordnung läßt sich zugleich als „integrirenden Theil der Reichsverfassung" (Otto von Gierke) charakterisieren. Bezeichnend für ihn w i e für alle nachfolgenden Bundesgründungen w a r der ergänzende, das Reichsgefüge durchdringende Charakter, doch fehlten den späteren Einungen 79
III. Die Rezeption des römischen Rechts der starke Bezug zur königlichen Friedensgewalt und die alle drei Stände — Fürsten, Adel und Städte — umschließende Verfassungsordnung mit den alten Kennzeichen von Schiedsgericht und Bundeshilfe. Die Fürsten des Schwäbischen Bundes hatten 1502 Johannes Reuchlin als Nachfolger des Johannes Vergenhans z u m Richter der Einung gewählt; er bekleidete dieses A m t elf Jahre lang bis 1513. A n dem hochangesehenen Gericht des Schwäbischen Bundes in seiner dritten Phase von 1500 bis 1534 amteten drei ständige Richter, alle gelehrte Juristen, die an festem Sitz — zu Reuchlins Zeit Tübingen — nach ausführlichen, v o m römischen Recht beeinflußten Regeln in gelehrtem Verfahren urteilten. Als Richter des Schwäbischen Bundes finden w i r den Pforzheimer Humanisten 1502 bis 1505 an der Streitsache zwischen dem Deutschen Orden und der Reichsstadt Heilbronn, 1508 und 1509 an einem Prozeß zwischen Kaufbeuren und dem Bischof von Augsburg beteiligt. In den Jahren 1508 bis 1512 befaßte den Richter ein Rechtsstreit zwischen den Grafen Wolfgang und Joachim von Ottingen als Klägern und Markgraf Friedrich von Brandenburg als Beklagtem. Die im Druck zu verfolgende Spur dieses Prozesses zeigt das Bemühen des fürstlichen Bundesrichters, den Prozeß zu beschleunigen, und die Zwangslage, in die das Gericht durch das außerdem bemühte Reichskammergericht geriet. Das Nebeneinander konkurrierender Gerichtsbarkeiten, unterschiedlicher Verfahrensregeln und voneinander abweichender materieller Rechte verlangte dem Juristen ein hohes M a ß an Wissen und Sachverstand ab, vor allem auch im vordringenden kanonisch-gemeinen Prozeßrecht. Die territorialen Rechtsstreitigkeiten u m Jurisdiktionen und Gerechtsame aller A r t forderten außerdem historische Kenntnisse, nicht zuletzt auch diplomatisches Geschick und politisches Talent. Die Position eines herzoglichen Rates von H a u s hatte der Dichterjurist weiter inne, auch nachdem er sich — schon vor dem Jahre 1513 — von den laufenden Regierungsgeschäften zurückgezogen hatte. Seine schönste Leistung, ein Produkt überlegener Meisterschaft, ist das deutschsprachige Gutachten, das er im Jahr 1510 zu Stuttgart auf Wunsch Kaiser Maximilians I. erstellte und das dann Gegenstand der Attacke durch den getauften J u d e n Johannes Pfefferkorn wurde, woraus sich eine weitläufige, den Ausgangspunkt hinter sich lassende, aufgeregte Affäre entwickelte, die Humanisten und Kirchenleute in Mainz, Köln, Erfurt, Paris und R o m in ihren Bann zog. Das heute noch oder w i e d e r u m faszinierende Werk Reuchlins trägt den Titel: „Ratschlag, ob man den Juden alle ire bücher nemmen, abthun und verbrennen soll". Der Gutachtenauftrag umfaßte zwei Fragen, die sich voneinander nicht trennen ließen, nämlich einmal danach, ob die zur Vernichtung empfohlenen hebräischen Schriften wissenschaftlich wertvoll, vielleicht auch für 80
2. Die Anfänge des deutschen Juristenstandes die Christenheit nützlich seien, andererseits danach, ob den J u d e n von Rechts w e g e n gegen die geplanten obrigkeitlichen Eingriffe Schutz gebühre. Der Gutachter vertrat den Standpunkt, die J u d e n seien Mitbürger des römischen Reiches, ihr Eigentum sei darum grundsätzlich unantastbar: „Das w i r vnd sie ains ainigen römischen reichs mittburger synd vnd inn ainem burgerrecht vnd burgfriden sitzen." Zum Beweis dafür dienten ihm das spätrömische ius civile und meist frühe Quellen des kanonischen Rechts. Johannes Reuchlin argumentierte als versierter J u rist selbstverständlich und nicht nur decoramenti causa mit zahlreichen Zitaten des römischen und kanonischen Rechts und den dazu gehörenden Glossen und Kommentaren, daneben auch in reichem M a ß mit Stellen aus der Bibel und mit Hinweisen auf die Kirchenväter. Der jüdische Rechtsgelehrte Guido Kisch hat in einfühlsamer Arbeit die juristische Leistung des Gutachters gebührend herausgestellt und im einzelnen demonstriert, wobei er hinzusetzte: Floß die humanitäre Einstellung „letztlich aus der Quelle der Gerechtigkeit, so w a r ihre zunehmende Verstärkung wohl durch persönliche Berührung mit jüdischen Gelehrten, ebenso durch Reuchlins tiefes und gelehrtes Eindringen in die hebräische Literatur und ihren Geist mitverursacht, beides U m stände, die bei Zasius niemals w i r k s a m geworden sind". Den Ausschlag bei dem Votum habe aber doch die juristische Analyse gegeben. Indessen darf darüber der geistige Hintergrund Johannes Reuchlins nicht zu k u r z kommen. Ihm galt das Hebräische als heilige Sprache, als die Sprache Gottes. A u c h w e n n die Idee, J u d e n und Christen einander in Toleranz gleichzuachten, außerhalb seines w i e seiner Zeitgenossen Denkens lag, zeigt das Plädoyer des Jahres 1510 doch einen aufklärerischen Zug im eigentlichen Wortsinn. Es w a r b mit Entschiedenheit für das jüdischchristliche Gelehrtengespräch und für die Einführung des Faches H e bräisch an allen deutschen Universitäten. Reuchlin hat das Verdienst, die Bedeutung der jüdischen literarischen Quellen für das Christentum gesehen und betont zu haben, eine Erkenntnis, die in unserer Zeit w i e der an Gewicht gewonnen hat. Dieser wissenschaftliche Antrieb bewegte gewiß die juristische Argumentation, in der sich das neuzeitliche Toleranzprinzip in ersten Keimen angelegt findet. Vor dem Hintergrund einer verbreiteten Judenfeindlichkeit im 16. Jahrhundert, auch in der württembergischen Gesetzgebung, ist dies nicht wenig. W i r haben den A u t o r an den Maßstäben seiner Zeit zu messen. W i r müssen erkennen, daß das römische Rechtsargument der jüdischen Mitbürgerschaft tragischerweise im alten Reich nicht verfangen konnte, das ein allgemeines Bürgerrecht nicht kannte. Diesen knappen Bildern zweier oberdeutscher humanistischer Rechtsgelehrter, die trotz gelegentlicher Kirchenkritik beim alten Glau81
III. Die Rezeption des römischen Rechts ben blieben, mag das in manchem Zug verwandte Kurzporträt eines niederdeutschen und protestantischen Juristen folgen, der w i e Zasius und Reuchlin als herausragender Kopf seinen Berufsstand prägte und die Rechtsentwicklung beeinflußte: Johann Oldendorp (1488-1567). Die Geistesströmungen der Zeitenwende fließen in seiner Wissenschaft zu einem selbständigen Ganzen zusammen, das der Theoretiker auch praktisch in einem äußerlich bewegten Leben zu bewähren sucht. Oldendorp dient der zeitgenössischen gelehrten Jurisprudenz, die ganz unter dem Zeichen der Rezeption des römischen Rechts steht, doch zugleich weist er der heimischen Rechtssitte den ihr gebührenden Platz an. Als Reformationsjurist ist er am kirchlichen und politischen A u f b r u c h einer neuen Epoche beteiligt. Dabei prägen ihn neben reformatorischen und humanistischen Ideen spätmittelalterliche Anschauungen mit, und ebenso bleibt er, w i e so viele protestantische Juristen, im Denkstil des kanonischen Rechts verwurzelt. Oldendorps protestantische Naturrechtskonzeption verbindet Recht und Religion. M i t seiner U b e r z e u gung von der Existenz unveränderlich gültiger Rechtsgrundsätze stellt er sich in die Reihe der u m das Naturrecht bemühten Juristen und w i r d mit seiner naturrechtlichen allgemeinen Rechtslehre ein Vorläufer des H u g o Grotius — eines seinerseits „bedeutenden Katalysators für die Theorieproduktion des 18. Jahrhunderts" (Frank Grunert) — und des neuzeitlichen rationalistischen Naturrechtsdenkens. Leben und Werk dieses Mannes in ihrer Geschlossenheit sind eindrucksvoll geblieben und können bis heute als Vorbild dienen: durch ihre starke moralische Kraft, den neben aller Gelehrsamkeit stets offenen Sinn für die N ö t e des Menschen und durch die „auf das Positive und Praktische gerichtete Einstellung" (Erik Wolf). Oldendorp, aus H a m b u r g gebürtig, bezog 1504 die Universität zu Rostock. U b e r Köln führte sein Weg 1508 nach Bologna, w o er sein juristisches Studium 1515 mit der Promotion z u m Lizentiaten abschloß, nachdem er 1511 z u m stellvertretenden Prokurator der Studenten deutscher Nation gewählt w o r d e n war. Im folgenden Jahr, 1516, w u r d e der junge Gelehrte als Lehrer der Institutionen nach Greifswald berufen. Schon im nächsten J a h r übernahm er das Rektorat, 1518 promovierte er z u m „Doctor Legum". 1520 berief ihn der Kurfürst von Brandenburg als lector iuris civilis nach Frankfurt/Oder. Ein Jahr später schon kehrte er von dort nach Greifswald zurück, u m hier als Ordinarius legum und erneut als Rektor zu wirken. In Greifswald bekannte er sich nach dem Studium der Schriften Luthers entschieden zur Reformation. Sein öffentliches Eintreten für lutherische Gedanken brachte ihm Feindschaften und Schwierigkeiten, die ihn bewogen, 1526 nach Rostock überzusiedeln. Diese Stadt, in der Mecklenburgs Reformator Joachim Slüter 82
2. Die Anfänge des deutschen Juristenstandes predigte, gewährte der neuen Lehre bereits größeren Rückhalt. Hier w i r k t e Oldendorp im A m t des Stadtsyndikus und zeitweilig auch des Universitätslehrers. Als führendes Mitglied des Magistrats trat er bei politischen Verhandlungen und bei der Schaffung städtischer reformatorischer Ordnungen hervor. Die Reformation gab ihm eine Fülle von Rechtsfragen auf, die sich oft als Gewissensfragen stellten. In den Jahren 1529 und 1530 kamen zu Rostock die beiden bahnbrechenden, in niederdeutscher Sprache geschriebenen Abhandlungen heraus, die ihrem A u t o r ein breiteres P u b l i k u m erschlossen. Zuerst erschien das Büchlein: „Wat byllich unn recht ys, eyne körte erklaring, allen Stenden denstlick", eine Rechtsethik für die richterliche Praxis und ein Werk, das bedeutsam ist „als frühes Zeugnis volkstümlicher Rechtswissenschaft in Deutschland und als Versuch einer Übertragung lutherischer Sozialtheologie auf die heimische Rechtswirklichkeit" (Erik Wolf). In äußerlich ähnlicher Gestalt und aus derselben Offizin folgte das Buch: „Van radtslagende, w o men gude Politie und ordenunge, y n n Steden und landen erholden möghe". Dieser Ratsmannenspiegel, eine dem Rat und der Gemeinde der Stadt H a m b u r g gewidmete, praktisch gefaßte Staats- und Verwaltungslehre in der F o r m eines Regimentstraktats, ist ein bürgerliches Gegenstück zur Literaturgattung der Fürstenspiegel. Die Schrift, 1597 ins Hochdeutsche übertragen und erneut gedruckt, w a r von nachhaltiger W i r k u n g auf die städtische Selbstregierung. Ende 1533 geriet Oldendorp in den Wirren der religiösen Kämpfe, die auch nach Durchführung der Reformation in Rostock fortdauerten, erneut in Bedrängnis. Persönliche Gefahren drohten und zwangen ihn schließlich, der Stadt im Januar 1534 den R ü c k e n zu kehren. Lübeck bot ihm neue verantwortungsvolle Aufgaben. In der v o m mächtigen Bürgermeister J ü r g e n Wullenwever regierten Reichsstadt nahm Oldendorp teil an der Neuordnung des öffentlichen Lebens, welche die kirchliche R e f o r m hier wie anderswo gebot und nach sich zog. A u c h nach dem Sturz des Stadtoberhaupts in den äußeren und inneren politischen Verwicklungen der Stadt blieb Oldendorp noch eine Zeitlang lübischer Syndikus. Im Herbst 1536 erhielt er einen Ruf nach Frankfurt/Oder. A u c h diesmal w a r sein Aufenthalt nicht von langer Dauer. 1538 betraute ihn der Rat der Stadt Köln, w o die reformatorische Bewegung unter dem Erzbischof H e r m a n n von Wied sich ausbreitete, mit der doppelten Aufgabe, ähnlich w i e in Rostock an der Universität die „gentium leges Romanas" zu lehren und zugleich „in causis rei publicae patrocinium praestare". In Köln verbrachte Oldendorp zwei wissenschaftlich ertragreiche Jahre. 1539 k a m sein als Lehrbuch für Studenten geschriebenes Werk „Isagoge iuris naturalis seu elementaria introductio iuris naturae, gentium et civilis" heraus; ebenfalls in Köln erschien 1541 die 83
III. Die Rezeption des römischen Rechts Abhandlung „De iure et aequitate forensis disputatio, secundum q u a m doctrina civilis cum in scholis tum in iudiciis tractari potest". Wie in den meisten seiner größeren Werke sucht der A u t o r hier die Regeln einer gerechten Justiz aufzuweisen; juristische Einzelfragen treten hinter den Grundsätzen der Rechtsfindung zurück. Inzwischen hatte Landgraf Philipp von Hessen den Gelehrten nach Marburg berufen. Anfang 1543 kehrte Oldendorp noch einmal für kurze Zeit nach Köln zurück. In den kirchenpolitischen Streitigkeiten der Stadt nahm er die Partei seines Förderers, des reformfreudigen erzbischöflichen Kanzlers Peter von Bellinghausen, und förderte im Zusammenspiel mit Martin Bucer und Philipp Melanchthon die Reformation. Schließlich w u r d e Oldendorp im M a i 1543 v o m reformationsfeindlichen Rat aus seinen Ä m t e r n entlassen und der Stadt verwiesen. Der hessische Landgraf bot ihm erneut eine Wirkungsstätte in Marburg. Hier fand er nach langer Zeit äußerer U n r u h e eine dauernde Heimat. U b e r zwanzig Jahre lang hat Oldendorp in Marburg gewirkt, vor allem als begnadeter Lehrer, dem die Universität ihre Blüte u m die Jahrhundertmitte zu einem guten Teil verdankte. Fragen der richtigen Lehrmethode und einer Studienreform beschäftigten ihn lebhaft. Das umfangreiche literarische Werk des großen Rechtsdenkers und ersten weltlichen Naturrechtslehrers zeichnet sich aus durch lebensnahe Konzeptionen. Alle Schriften folgen in logischem A u f b a u einer streng durchgeführten Systematik. Rechtsethische und rechtserzieherische Gedanken und Ziele stehen im Vordergrund, vor allem in Oldendorps Schriften z u m Problem der aequitas, dem er als erster im Gefolge des großen französischen Humanistenjuristen Budaeus eine monographische Behandlung hat zuteil werden lassen. Vernunft und Offenbarung, natürliches Rechtsgefühl und biblische Rechtsweisung bilden nach Oldendorps Verständnis eine unlösliche Einheit. Der Vielzahl von Rechtskreisen geistlichen und weltlichen, gemeinen und partikularen Rechts setzt Oldendorp seine Anschauung v o m Recht schlechthin entgegen und mildert so auf seine Weise die heillose Rechtszersplitterung im Reich. Die Billigkeitslehre erweist ihren A u t o r als einen ursprünglichen und lebensnahen, dem Geist der alten Spiegier, aber auch Schwarzenberg noch verwandten Rechtsdenker. Besonders augenfällig machen das die „ghemeynen regelen, formen edder orkunden, woruth de byllicheyt ermethen mach werden", welche die Schrift „Wat byllich unn recht y s " den Lesern an die H a n d gibt. Ihre endgültige F o r m gewinnen Oldendorps Lehren vom Naturrecht, von Gerechtigkeit und Billigkeit in seiner „Isagoge" und der Schrift „De iure et aequitate". Die Isagoge schöpft wieder aus vielerlei Quellen und gründet ihre Aussagen auf die Weisheit geschichtlicher Autoritäten, 84
2. Die Anfänge des deutschen Juristenstandes die natürliche Vernunft und nicht zuletzt auf Gottes Wort. A u c h hier der Grundgedanke, daß Recht und Billigkeit, positive Satzung und N a turrecht im konkreten Einzelfall z w a r verschieden oder gar als Gegensätze erscheinen können, wesensmäßig aber eins sind und eins sein müssen. Es ist die A u f g a b e des Juristen, die Ubereinstimmung herzustellen und so die aequitas zu verwirklichen. Die Arbeit „De iure et aequitate" bildet in lehrhafter, abstrakter Darstellung die Grundgedanken der niederdeutsch geschriebenen Abhandlung von 1529 juristisch weiter aus. In Anlehnung an eine Baldus-Stelle definiert Oldendorp w i e folgt: „Aequitas est iudicium animi, ex vera ratione petitum, de circumstantiis rerum, ad honestatem vitae pertinentium, cum incidunt, recte discernens, quid fieri aut non fieri oporteat." Abermals tritt ein Bestreben Oldendorps deutlich hervor: die Erziehung der Richter. Der Billigkeitsrichter soll durchaus nicht z u m Gesetzesfeind erzogen, sondern zur richtigen A n w e n d u n g allgemeiner Begriffe und zur gerechten Entscheidung im Einzelfall angeleitet werden. Hier erscheint Oldendorp als Vorläufer der modernen teleologischen oder Interessenjurisprudenz. Als Resümee bleibt somit festzuhalten: Die Rezeption bewirkte einen nachhaltigen Rationalisierungsschub, der den Ausbau der frühmodernen Staatlichkeit in den Territorien förderte und z u m Abschluß seiner ersten Phase 1495 in Worms das Reichskammergericht hervorbrachte. Zur A u f n a h m e in Deutschland gelangte das aus dem spätantiken Corpus iuris civilis abgeleitete, in Oberitalien ausgebildete ius commune. „Klassisches römisches Recht w a r Fallrecht, ius commune zeigt das Bestreben zur Systematik, zur abstrakten Regel und hat damit den kontinentalen Rechtsstil der großen Kodifikation und umfassenden Gesetzesplanung vom grünen Tisch geschaffen" (Hermann Lange). Der umgreifende und u m w ä l z e n d e Vorgang der Rezeption läßt sich kennzeichnen als „die Summe unzählbarer Handlungen, Ereignisse und innerer Vorgänge: der Rechtsetzungen, Urteilsakte, der Rechtsausbildung, ja der Veränderung der Rechtsüberzeugung von vielen Millionen". Franz Wieacker hat den Gesamtsinn der Rezeption gültig beschrieben, indem er sich orientierte „nicht so sehr an der A u f n a h m e der Lehrsätze des ius commune als am Ablauf des zentralen Entwicklungsprozesses: nämlich der Verwissenschaftlichung des deutschen Rechtswesens und seiner fachlichen Träger". Die sich in Deutschland hauptsächlich im 15. und 16. Jahrhundert vollziehende Rezeption, die keineswegs einheitlich verlief, brachte die intellektuelle Rationalisierung des gesamten öffentlichen Lebens. Es brach sich die Idee Bahn, politische und private Konflikte nicht mehr durch Gewalt, Emotionen oder mittels unreflektierter Traditionen auszutragen, sondern durch vernünftiges Erörtern der autono-
85
IV. Reform und Umbruch men juristischen Sachproblematik und durch professionelle Entscheidung nach fachgerechten Regeln. Die sich über das M e d i u m des römisch-italienischen Rechts und zuerst die lateinische Sprache vollziehende Modernisierung, das innovatorische Potential des sich ausbreitenden neuen Berufsstandes der Juristen k a m den Territorien wie dem Reich zustatten. Rechtsschöpferische und kodifikatorische Impulse gingen von beiden Ebenen aus und w i r k t e n auf die jeweils andere zurück. Trieben vornehmlich herrscherliche und fachwissenschaftliche Interessen diesen Prozeß an, so w i r k t e förderlich auch die Romidee, der das Heilige Römische Reich deutscher Nation als legitimer Nachfahre des Imperium R o m a n u m galt, die Deutschen demzufolge das römische Recht in diesem Sinne als eigenes ansehen konnten.
IV. Reform und Umbruch 1. Die
Reichsreform
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Advokaten
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An-
nette, WESTPHAL, Siegrid, WENDEHORST, Stephan, EHRENPREIS, Stefan (Hgg.): 86
1. Die Reichsreform Prozeßakten als Quelle: neue Ansätze zur Erforschung der Höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich, 2001; BECKER, Hans-Jürgen: Das Gewaltmonopol des Staates und die Sicherheit des Bürgers: Der Ewige Landfriede — vor 500 Jahren, in: Jahres- und Tagungsbericht der Görres-Ges. 1994, 117-130; BEMMANN, Rudolf: Beiträge zur Geschichte des deutschen Reichstages im XV. Jahrhundert, phil. Diss. Leipzig, 1907; BLEZINGER, Harro: Der Schwäbische Städtebund in den Jahren 1438-1445. Mit einem Uberblick über seine Entwicklung seit 1389, 1954; BLICKLE, Peter: Gemeiner Pfennig und Obrigkeit (1495), in: V S W G
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IV. Reform und Umbruch Auftrag des Kaisers. Die kaiserlichen Kommissionen des Reichshofrats und die Regelung von Konflikten im Alten Reich (1637-1657), 2001; POSCH, Andreas: Die „Concordantia catholica" des Nikolaus von Cusa, 1930; RANKE, Leopold von: Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation, hg. v. Willy ANDREAS, 1957; RASSOW, Peter: Forschungen zur Reichs-Idee im 16. und 17. Jahrhundert, 1955; RAUCH, Karl: Traktat über den Reichstag im 16. Jahrhundert, 1905; REINLE, Christine: Bauernfehden. Studien zur Fehdeführung Nichtadliger im spätmittelalterlichen römisch-deutschen Reich, besonders in den bayerischen Herzogtümern, 2003 = Vierteljahrschrift f. Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Beiheft 170; ROLL, Christine: Das zweite Reichsregiment 1521-1530, 1996; RÜCK, Peter (unter Mitwirkung v. Heinrich KOLLER) (Hg.): Die Eidgenossen und ihre Nachbarn im Deutschen Reich des Mittelalters, 1991; SCHILDT, Bernd: Inhaltliche Erschließung und ideelle Zusammenführung der Prozeßakten des Reichskammergerichts mittels einer computergestützten Datenbank, in: ZNR 2003, 269-290; SCHMID, Peter: Der Gemeine Pfennig von 1495, 1989; SCHMID, Peter: Herzog Albrecht IV. von Bayern und Kurfürst Berthold von Mainz. Zum Problem reichsständischer Reformpolitik an der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert, in: ZBLG 58, 1995, 209-234; SCHNEIDER, Andreas: Der Niederrheinisch-Westfälische Kreis im 16. Jahrhundert, 1985; SCHUBERT, Ernst: Einführung in die Grundprobleme der deutschen Geschichte im Spätmittelalter, 1992; SCHUBERT, Friedrich Hermann: Die deutschen Reichstage in der Staatslehre der frühen Neuzeit, 1966; SCHULZE, Winfried: Reich und Türkengefahr im späten 16. Jahrhundert. Studien zu den politischen und gesellschaftlichen Auswirkungen einer äußeren Bedrohung, 1978; SELLERT, Wolfgang: Uber die Zuständigkeitsabgrenzung von Reichshofrat und Reichskammergericht, 1965; SLEBER, Johannes: Zur Geschichte des Reichsmatrikelwesens im ausgehenden Mittelalter 1422-1521, 1910; SLGRIST, Hans: Reichsreform und Schwabenkrieg, in: Schweizer Beiträge zur Allgemeinen Geschichte 5, 1947, 114-141; SlGRIST, Hans: Zur Interpretation des Basler Friedens von 1499, in: Schweizer Beiträge zur Allgemeinen Geschichte 7, 1949, 153-155; SMEND, Rudolf: Zur Geschichte der Formel „Kaiser und Reich" in den letzten Jahrhunderten des alten Reiches, in: Historische Aufsätze Karl Zeumer zum sechzigsten Geb. als Festg. dargebracht, 1910, 439-449; SMEND, Rudolf: Das Reichskammergericht. Geschichte und Verfassung, 1911 (Neudr. 1965); STETTLER, Bernhard: Reichsreform und werdende Eidgenossenschaft, in: Schweizerische Zs. für Geschichte 44, 1994, 203-229; ULMANN, Heinrich: Der Traum des Hans von Hermansgrün. Eine politische Denkschrift aus dem Jahre 1495, in: Forschungen zur deutschen Geschichte 20, 1880, 67-92; VLRCK, Hans: Des kursächsischen Rathes Hans von der Planitz Berichte aus dem Reichsregiment in Nürnberg 1512-1523, 1899; WEBER, Hermann (Hg.): Politische Ordnungen und soziale Kräfte im Alten Reich, 1980; WEBER, Matthias: Die Reichspolizeiordnungen von 1530, 1548 und 1577. Historische Einführung und Edition, 2002 = Ius Commune, Sonderheft Studien zur Europäischen Rechtsgeschichte, 146; WEINRICH, Lorenz (Hg.): Quellen zur Verfassungsgeschichte des Römisch-deutschen Reiches im Spätmittelalter (1250-1500), 1983; WEITZEL, Jürgen: Der Kampf um die Appellation ans Reichskammergericht. Zur politischen Geschichte der
90
1. Die Reichsreform Rechtsmittel in Deutschland, 1976; WIESFLECKER, Hermann: Maximilian I. und die Wormser Reichsreform von 1495, in: Zeitschrift d. Hist. Vereins f. Steiermark 49, 1958, 3-66; WIESFLECKER, Hermann: Kaiser Maximilian I. Das Reich, Osterreich und Europa an der Wende zur Neuzeit, Bd. 1, 1971, Bd. 2, 1975, Bd. 3, 1977; WIESFLECKER-FRIEDHUBER, Inge (Hg.): Quellen zur Geschichte Maximilians I. und seiner Zeit. Mit einer Einleitung v. Hermann WIESFLECKER, 1996; WILLOWEIT, Dietmar: Rechtsgrundlagen der Territorialgewalt. Landesobrigkeit, Herrschaftsrechte und Territorium in der Rechtswissenschaft der Neuzeit, 1975; WILLOWEIT, Dietmar: Gesetzgebung und Recht im Ubergang vom Spätmittelalter zum frühneuzeitlichen Obrigkeitsstaat, in: Okko BEHRENDS U. Christoph L I N K (Hgg.): Zum römischen und neuzeitlichen Gesetzesbegriff, 1987, 123-149; WILLOWEIT, Dietmar: Reichsreform als Verfassungskrise. Überlegungen zu Heinz Angermeier, Die Reichsreform 1410-1555, in: Der Staat 26, 1987, 270-278; WOLF, Armin: Gesetzgebung in Europa 1100-1500. Zur Entstehung der Territorialstaaten, 2 1996; ZEUMER, Karl: Heiliges römisches Reich deutscher Nation. Eine Studie über den Reichstitel, 1910; ZEUMER, Karl (Hg.): Quellensammlung zur Geschichte der Deutschen Reichsverfassung in Mittelalter und Neuzeit, 2 1913 (Nachdr. 1987); ZIEHEN, Eduard: Frankfurt, Reichsreform und Reichsgedanke 14861504, 1940. (Weitere Lit. zum Reichskammergericht siehe unter III. 2.)
Der u m die Mitte des vorigen Jahrhunderts in die Historiographie eingeführte Titel „Reichsreform" bezeichnet die ständischen und monarchischen Bestrebungen v o m Anfang des 15. bis ins 16. Jahrhundert, die — begleitet von gelehrten, literarischen Bemühungen — auf eine Neuordnung der Reichsverfassung gerichtet sind und dem alten Reich schließlich am Beginn der Neuzeit die Gestalt geben, die ihm bis zu seinem Ende 1806 bleiben sollte. Anders als nach heutigem Verständnis deutet der mittelalterliche und frühneuzeitliche Reformbegriff indessen nicht auf grundlegende Veränderungen. Für die u m das gemeine Wesen bemühten Fürsten, Herren und Räte hieß reformare wiederherstellen, in überlieferter Gestalt erneuern und befestigen. Es galt, die Kirche in ihrem seit dem Schisma von 1378 fortschreitenden äußeren Verfall zu reformieren w i e die Welt, vor allem das Imperium, darüber hinaus alle Lebenskreise im tradierten Sinne zu reinigen von Mißständen und die alte, in Vergessenheit geratene N o r m wieder in Kraft zu setzen. Dabei brachte der langwierig fortschreitende, je und je stockende, vielschichtig gefügte Prozeß, der etwa von 1410 bis 1555 dauerte, durchaus Neuartiges und Zukunftweisendes hervor. Bei der Reichsreform ging es u m Grundfragen der Verfassung, die sich aus dem Gang der inneren und äußeren Geschichte im ganzen entwickelten. Königtum und Territorialherrschaften in ihrem Gegensatz und in ihrer Angewiesenheit aufeinander, die Idee des Imperiums und 91
IV. Reform und Umbruch die des Reichsverbands, geistliche und weltliche Gewalten, schließlich auch verschiedene Konfessionen suchten in ihrem Gegensatz Ausgleich, Frieden und Recht in einer überlieferten, doch restituierten und fortgebildeten Ordnung, deren Eigentümlichkeit zugleich der europäischen Mittellage Deutschlands entsprach. M i t dem Untergang der Staufer im 13. Jahrhundert und dem A u f k o m m e n des Kurfürstentums ist die Aussicht auf eine Erbmonarchie im Reich endgültig geschwunden. Die allerorts im Werden begriffenen Teilgewalten wachsen kräftig empor. Auf Erweiterung und Abrundung der überkommenen und gewonnenen Rechte und Güter bedacht, in vielfachen Kleinkriegen und Fehden miteinander, streben Dynastenfamilien, geistliche Fürsten, Städte und Herren nach Selbsterhöhung. Die Ausbildung der Landeshoheit ist in vollem Gange, jener Jahrhunderte dauernde, keineswegs einheitlich verlaufende Prozeß der Territorialbildung mit örtlich unterschiedlichen Ansatzpunkten, der allmählich den „Flächenstaat" (Theodor M a y e r ) hervorbringt in einem „Vorgang der Fixierung und Radizierung der Herrschaftsvorgänge auf umgrenztem und abgrenzbarem R a u m " (Karl Siegfried Bader). In manchen Regionen, etwa im deutschen Südwesten, gelang der Qualitätssprung z u m territorium clausum bis z u m Ende des Alten Reiches nicht. Da das Alte Reich niemals eine feste und durchgebildete Organisation besaß, läßt sich jene Entwicklung nicht als konsequente Entfremdung oder Usurpation von Reichsaufgaben durch die Territorien begreifen. Sie führt indessen zu einem Widerstreit zwischen dem alten königlichen Recht am Reich und der Macht im Reich, der eine Erneuerung der Verfassung fordert. Die Schaffung einer über den verschiedenartigen Landesherrschaften stehenden Gewalt, die den inneren und äußeren Frieden gewährleistet, w i r d notwendig, unabweislich eine N e u o r d n u n g des Verhältnisses zwischen dem Reich und seinen Gliedern. In der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts werden die Reform der Kirche und die des Reiches zugleich zu drängenden Aufgaben, die ideell eng miteinander verknüpft und nach dem Wissen jener Zeit nur im Zusammenhang zu lösen sind: „quia pro reformacione sacri imperii est in multis par racio cum reformacione papatus". Geistliches und weltliches A m t durchdringen sich. König Sigismund aus dem Hause Luxemburg, u m Besserungen bemüht, betreibt als Vogt der Kirche die Einberufung des Konzils zu Konstanz (1414-1418), an dem er selbst teilnimmt. A u c h das Konzil von Basel (1431-1437) besucht er, seit 1433 Kaiser. Die beiden großen Reformkonzile bringen Reichsreformpläne hervor oder regen sie doch an. Urheber dieser Staatsschriften sind geistliche Würdenträger, die aus eigener Anschauung und Erfahrung auch in weltlichen Geschäften die N ö t e des Reiches kennen. 92
1. Die Reichsreform 1433 unterbreitet Nikolaus von Kues den Vätern des Basler Konzils seine Staats- und Kirchenlehre „De concordantia catholica". Das Werk, „der letzte und großartigste Versuch, den mittelalterlichen Universalismus mit den ans Licht drängenden Faktoren einer neuen Zeit in genialer Synthese zu versöhnen" (Andreas Posch), bietet auch konkrete politische Reformpläne. Cusanus schlägt jährliche Reichsversammlungen zu Frankfurt vor, die Stärkung der kaiserlichen Macht durch Aufstellung eines Reichsheeres und Erhebung von Reichssteuern, die Einteilung des Reichs in zwölf Gerichtsbezirke, die mit ihren Spruchkörpern an die Stelle des ungeordneten Mosaiks der örtlichen Gewalten treten sollen, die Schaffung eines gemeinen deutschen Rechtes durch eine Kodifikation, welche die vielen örtlichen Gewohnheiten zusammenfassen und mit dem allgemeinen Recht in Einklang bringen soll. Dietrich von Niem (Nieheim), ein maßgeblicher päpstlicher Beamter, will die brennende Landfriedensfrage von der Kirche, von Provinzialsynoden, lösen lassen. Der patriotisch und kaisertreu gesinnte Mann spricht neben Heinrich von Langenstein als erster deutscher Schriftsteller bereits Jahrzehnte vor dem offiziellen Sprachgebrauch von der „deutschen Nation" und meint damit, anders als noch das Konstanzer Konzil, ausschließlich die Deutschen: ein Beleg für das im Gefolge der Konzile, vor allem aber der hussitischen Revolution aufglimmende Problem der nationalen, sprachlich-volkstümlichen Gegensätze. Der Magdeburger Domherr Heinrich Toke fordert ein stetes Gericht mit festem Sitz im Reiche nach dem Vorbild des Pariser Parlaments. Zur Hälfte soll es besetzt sein mit kurfürstlich delegierten und besoldeten „doctores y n dem keyser-rechten ader geistlichen rechten", zur anderen Hälfte will er es beschickt sehen mit ungelehrten, vom König zu bestallenden Richtern. Ein gemeiner Frieden mit Fehdeverbot und eine alljährlich zu erhebende Vermögenssteuer sind seine weiteren Postulate. Besondere Aufmerksamkeit verdient die Reformatio Sigismundi, jene berühmte, 1439 in Basel entstandene, weitverbreitete Reformschrift eines bis heute im dunkeln gebliebenen Verfassers, die nicht nur Zeitgenossen und Nachwelt beeindruckt, sondern auch die Forschung je und je in ihren Bann gezogen hat. Reformatio des Reiches: das ist Wiederherstellung und Wahrung von Frieden und Recht. „Man soll auch gedenken, daß es am allernützlichsten ist, eine Ordnung zu setzen, um Frieden und rechte Gemeinschaft zu haben unter Herren, Städten und auf dem Lande. Wir sehen wohl, daß oft großer Unfriede aufsteht aus Ubermut und kleinen Rechtsforderungen, und daß Land und Leute zuschanden gemacht und verderbt werden." Jegliche Selbsthilfe und Gewaltanwendung sollen verboten sein. Die Reformschrift spricht der Fehde den Charakter eines Rechtsinstituts ab. Niemand darf seinem 93
IV. Reform und Umbruch H e r r n bei einer Fehde helfen. Ein Fehdeverbot kann nur w i r k s a m sein, w e n n im Streitfall bald ein überparteilicher Rechtsspruch zu erlangen ist, dessen Durchsetzung dann auch gewährleistet wird. Die Reformatio Sigismundi schlägt darum vor, vier Vikare zu verordnen, die als kaiserliche Statthalter die Streitenden vereinen und aussöhnen sollen. Der Rechtsweigerer muß der Rechtlosigkeit verfallen. Neben dem inneren Frieden sollen die Vikare w o h l auch die Reichsrechte in den gefährdeten Randgebieten wahren; darauf deuten die für sie vorgesehenen Sitze in Osterreich, Mailand, Burgund und Savoyen hin. Das Programm liegt im Sinne der Bestrebungen jener Zeit. Es erinnert an den Entwurf des Nikolaus von Kues und zeigt eine tiefgehende Verwandtschaft mit den Reformvorschlägen, die auf dem Reichstag zu Nürnberg im Juli 1438 verhandelt werden, allerdings die Institutionen für die Friedenswahrung grundsätzlich von unten her aufbauen wollen. Der kurfürstliche Entwurf verlangt ein vollständiges Fehdeverbot und schlägt in Anlehnung an ein fürstliches Projekt des Vorjahres eine detaillierte Gerichtsordnung vor mit reichsgesetzlicher Festlegung von Austragsinstanzen. Das Reich w i r d in vier Kreise geteilt, denen jeweils ein Fürst mit weitreichenden berufungsrichterlichen und exekutiven Kompetenzen vorstehen soll. Aus dem kurfürstlichen übernimmt der königliche Entwurf das generelle Fehdeverbot, die Forderung nach Zuziehung von Gelehrten z u m königlichen Hofgericht und die Einschränkung der Feme. Die Kreisorganisation ändert er ab, indem er den fürstlichen Machtansprüchen engere Grenzen zieht: es werden sechs Kreise vorgeschlagen, deren Hauptleute samt zugeordneten Räten von den Ständen zu w ä h l e n sind. Doch scheitert der Reformreichstag am Gegensatz z w i schen Fürsten und Städten. Treffend der Satz L u d w i g Quiddes: „Die Städte, die an der Beseitigung des Fehderechts und der Festigung des Landfriedens stärker als irgendwelche anderen Reichsglieder interessiert waren, widersetzten sich aufs äußerste einer Landfriedensorganisation, die ihnen die Handhabung der rechtlichen Vorschriften aus der H a n d nahm und den Zusammenschluß der Städte in ihrer besonderen Organisation, dem Städtebunde, verhindern mußte." A u c h der Frankfurter Reichstag 1442 bringt keinen Fortschritt in der Reformfrage. Die dort beschlossene Landfriedensordnung Friedrichs III., die sich u m die Voraussetzungen der als subsidiäres Rechtsmittel zugelassenen Fehde und eine bloße U m g r e n z u n g der Selbstpfändung bemüht, verdient den N a men einer Reformation eigentlich nicht, sondern bedeutet, gemessen an den Entwürfen der Vorgänger Friedrichs III., einen Rückschritt. Zwar genoß sie als A k t der Gesetzgebung auf lange Zeit Ansehen: das zeigt die ungewöhnlich weite Verbreitung des Instruments. Das große H i n dernis aber, das einer Lösung der Landfriedensfrage im Wege stand, hat 94
1. Die Reichsreform sie nicht überwunden. Es lag in der Verknüpfung der Frage der Rechtssicherung mit der Frage der Organisation, im Gegensatz zwischen den Erfordernissen des Rechtsgedankens und politischen Machtinteressen. Trotz einzelner weiterer Anläufe, etwa der Kurfürsten, stagnierte die Landfriedensfrage seit der Mitte des Jahrhunderts. Ein Grund dafür lag in der Unlust der Stände an der päpstlich-kaiserlichen Kreuzzugspolitik. Den Forderungen Friedrichs III. nach einem Reichsheer gegen die Türken — 1453 war Konstantinopel gefallen — setzten die Stände ihre Bedingung: die Erneuerung des Reichslandfriedens im Rahmen einer Reform des Reichs, entgegen. Die weltlichen Reichsfürsten indes wollten sich durch die Verabschiedung eines Reformgesetzes nicht selbst den Zwang zur Leistung militärischer Türkenkontingente auferlegen. Der Kaiser befürchtete Forderungen der Stände nach einer Reformierung des Gerichtswesens, die auf eine weitere Festigung und Abschließung der territorialen Gerichtsgewalten hinauslaufen mußten. Er betrieb darum die Landfriedensfrage nur, soweit es die für ihn ganz im Vordergrund stehende universale Kreuzzugspolitik verlangte. Im Zusammenhang mit der Türkenfrage brachten die Nürnberger Reichstage 1466 und 1467 eingehende Verhandlungen zur Reichsreform, die vielfach an überkommene Projekte anknüpften und nach deren Abschluß Friedrich III. zu Wiener Neustadt einen Landfrieden erließ. Zur Durchführung des Türkenkrieges spricht jenes Gesetz ein absolutes Fehdeverbot auf fünf Jahre aus, verweist den Kläger an die ordentlichen Gerichte und droht dem Landfriedensbrecher die Strafe für Majestätsverbrechen und die kaiserliche Acht und Aberacht an. Verboten wird die Anwendung von Gewalt statt Recht, ohne daß die Tatbestandsmerkmale des Landfriedensbruchs im einzelnen aufgeführt und Exekutionsbestimmungen gegeben würden: Mängel, die durch die Subsumtion des Landfriedensbruchs unter das Crimen laesae maiestatis nicht aufgewogen werden. So haben sich denn auch die anarchischen Zustände im Reich keineswegs gebessert. A m Ende der langen Regierungszeit Friedrichs III., jenes zäh beharrenden, dadurch scheinbar träge wirkenden, ganz von der mittelalterlichen Kaiseridee erfüllten Habsburgers, in der Mitte der achtziger Jahre des 15. Jahrhunderts, beginnt das eigentliche und umfassende Ringen der Stände mit dem Kaiser um Reform. 1484 wird Berthold von Henneberg, der spätere Hauptverfechter einer reichsständischen Teilhabe an der Reichsgewalt, zum Erzbischof von Mainz gewählt. 1486 wählen die sechs zum Frankfurter Reichstag berufenen Kurfürsten — König Wladislaw von Böhmen war nicht geladen worden — Erzherzog Maximilian von Österreich-Burgund zum Römischen König und damit zum Nachfolger seines ihm charakterlich so wenig verwandten Vaters, des greisen Friedrich III. Diese beiden Per95
IV. Reform und Umbruch sönlichkeiten in ihrem Gegensatz geben den alsbald beginnenden und in dichter Folge ablaufenden Verhandlungen das Gepräge. Das zeitgenössische Spottwort: das einzige Ergebnis eines jeden Reichstages sei die Geburt eines neuen, charakterisiert nur eine Seite dieser Verhandlungen. Die Vielzahl der Stände und Interessen, das weitschweifige Artikulieren, die äußeren verzögerlichen Umstände der Versammlungen geben den Verhandlungen gewiß einen überaus schleppenden Charakter. Doch w a r gerade die Zeit Maximilians von größter Bedeutung für die Institution der deutschen Reichstage. Die Tagungsformen sind in jener Zeitspanne endgültig geregelt und gefestigt worden. Der Reichstag hat w e sentlich an Gewicht gewonnen und ist für geraume Zeit zu einer w i r k lichen Repräsentation des Reiches geworden. Die Reformreichstage der Zeit Maximilians lassen sich ohne den Blick auf die Verflechtung von außen- und innenpolitischen Motiven und Bewegungen nicht verstehen. Maximilian hat die Italienpolitik der Staufer fortzusetzen gesucht; er hat mit der burgundischen Erbschaft auch den Gegensatz zu Frankreich übernommen, der durch die Heirat seines Sohnes mit der spanischen Erbtochter weltpolitisches A u s m a ß gewann; die Doppelheirat von 1515 öffnete seinen N a c h k o m m e n den Weg nach Böhmen und Ungarn; doch alles u m den Preis dauernder kriegerischer Verwicklungen. Maximilian selbst: eine Persönlichkeit mit großer Ausstrahlungskraft, militärisch begabt, voller Kunstsinn und Interesse für alle Dinge, aber auch unstet, ruhmsüchtig und stets der „Massimiliano senza denari", w i e ihn die Italiener nannten. Treffend hat Leopold von Ranke das Verhältnis zwischen König und Ständen beschrieben: „Maximilian lebt vor allem im Interesse seines Hauses, in Anschauung der großen europäischen Verhältnisse, im Gefühl, daß er die höchste W ü r d e der Christenheit trägt, die jedoch eben gefährdet ist; er ist ehrgeizig, kriegslustig, geldbedürftig. Die Versammlung hat dagegen die inneren Verhältnisse im Auge; sie möchte vor allen Dingen O r d nung und Recht im Reiche machen; sie ist bedächtig, friedfertig, sparsam. Sie will den König beschränken und festhalten: Er w i l l sie entflammen und fortreißen." Eine geschlossene Front formierten dabei die Stände dem König gegenüber aber keineswegs. Ein Höhepunkt der Reformepoche ist der Wormser Reichstag von 1495. Worms empfahl sich durch seine bevorzugte geographische Lage zwischen zwei anderen rheinischen Bischofsstädten — Mainz, Sitz des Reichserzkanzlers und ranghöchsten geistlichen Kurfürsten, und Speyer mit seinem Kaiserdom —, als Verkehrsplatz an der Wasserstraße des Rheins und Postort für die Kurierverbindung zwischen den österreichischen Alpenländern und den wirtschaftsstarken Niederlanden. Die Stadt empfahl sich dem Reichsoberhaupt auch durch ihre Bürgergemeinde, 96
1. Die Reichsreform die sich in ihrer doppelten Bedrängnis durch den eigenen Bischof wie dessen Schirmherrn, den pfälzischen Kurfürsten, ihre Selbständigkeit durch enge Anlehnung an König und Kaiser zu gewährleisten suchte. N o c h längst nicht präsentierte sich die Reichsversammlung als G e sandtenkongreß wie der Immerwährende Reichstag zu Regensburg nach dem Westfälischen Frieden. Viele Reichsstände erschienen höchstselbst, an ihrer Spitze der König, der im November 1494 von Antwerpen aus Kurfürsten, Fürsten und die anderen Stände „zu einer gemeinen Versammlung erfordert" hatte — seiner ersten eigenen — und der durch seine Proposition den Gang der Verhandlung wesentlich bestimmte. Während der Papst in Worms nicht durch Legaten vertreten war, wirkte die Reichskirche sowohl nach Präsenz wie Einsatz als bedeutender Faktor mit. Von den sechs Erzbischöfen erschienen vier persönlich, allen voran das Haupt der ständischen Reformpartei und der Gegenspieler des Königs: Berthold von Henneberg, Kurfürst und Erzbischof von Mainz. Fünf Reichsbischöfe reisten zu Schiff oder zu Pferde an, zehn weitere schickten stattliche Gesandtschaften; auch zahlreiche Reichsklöster zeigten sich. Es gilt hervorzuheben, daß die Reichskirche sich bei allen Fragen der inneren Ordnung „vollständig dem Reich als Rechts-, Friedens- und Verfassungskörper einordnete" (Heinz Angermeier). Zu den geistlichen territorialherrschaftlichen Ständen oder deren „Botschaften" stießen die weltlichen: Kurfürsten und Fürsten, die gleichfalls in der Stadt hofhielten, oder ihre Räte als Vertreter. Unter den persönlich anwesenden Fürsten befand sich Graf Eberhard im Barte von Württemberg, der auf dem Reichstag die Herzogswürde gewann. Die dritte Kurie nach der kurfürstlichen und der fürstlichen bildeten die Reichsstädte: D e r „Freystett Sendboten" kamen aus Köln und Straßburg, aus Basel, Bern, Freiburg im Uechtland und Solothurn, aus Speyer, Frankfurt, O f fenburg, Wetzlar, aus Hagenau und Colmar, aus Augsburg, Nürnberg, U l m und Rottweil — um nur eine Auswahl zu nennen. Auch Landstädte unterhielten Beziehungen zum Reichsgeschehen, um ihre Selbständigkeit auszuweiten oder dem König Einflußmöglichkeiten zu eröffnen. Schließlich bleiben zu nennen die „welschen Botschaften" etwa aus Spanien, Venedig, Neapel, Mailand. Insgesamt verzeichnen die Teilnehmerlisten zum großen Wormser Reichstag viele Hunderte von Namen. D e r den Wormser Tag am 7. August 1495 beendende Reichsabschied gibt die Inhalte und Ergebnisse der diplomatischen Abläufe nur zum Teil wieder. Versammlungen wie die von Worms bildeten Ereignisse der deutschen Reichsgeschichte und Sammelpunkte des politischen Geschehens im europäischen Rahmen. Auf der politischen Bühne der Freien Stadt am Rhein begegneten, durchdrangen, lähmten oder verschlangen sich vielerlei Interessen und Bestrebungen mit ihren dynastischen, mili97
IV. Reform und Umbruch tärischen, wirtschaftlichen oder nachbarlichen Bewandtnissen. Eine beherrschende und durchgängige Linie läßt sich den Reichstagsgeschäften in ihrem Wechselspiel historisch nicht entnehmen, ebensowenig den Konzeptionen des Königs, mochte dessen europäische Heiratspolitik auch dominieren. Dennoch lassen sich zwei signifikante Schwerpunkte des Wormser Reichstages ausmachen. Maximilian I. suchte die Hilfe des Reiches, der Stände, für seine außenpolitischen Pläne: Zuerst dachte er an den A b wehrkrieg gegen die Türken, dann an einen Zug nach Italien z u m Kampf gegen den dort eingebrochenen König Karl VIII. von Frankreich. Der König forderte Geld, die Stände verlangten die Gewährleistung von Frieden und Recht auf einer institutionellen Grundlage, die das Reich erhalten und zugleich die Territorialobrigkeiten und deren Libertät festigen sollte. Mit den hierzu gehörenden Geschäftigkeiten verbanden sich andere: die Belehnungen zahlreicher Stände, der schiedsgerichtliche Austrag territorialer Streitigkeiten, das Bemühen u m die Verlängerung des Schwäbischen Bundes. Die Kontrahenten haben „ihre nächstliegenden Ziele erreicht, der König die tatsächliche beträchtliche Reichshilfe und die Stände die Sicherung von Friede und Recht auf einer neuen, institutionellen Basis" (Heinz Angermeier). Für die Ordnung des Reiches erwiesen sich die rechtsschöpferischen Erträge als die zukunftsträchtigsten: Die zu Worms verabschiedeten Satzungen erschienen und gelten jedenfalls der N a c h w e l t mit Grund als die bedeutendsten staatsrechtlichen Leistungen des Reichstages von 1495. Sie eröffneten einen neuen Abschnitt der deutschen Verfassungsgeschichte. 1. Der Ewige Landfriede ist der eigentliche Ruhmestitel. Er führte die jahrhundertelange Landfriedensbewegung zu einem H ö h e p u n k t und Abschluß. Nach der Wormser Satzung dürfen Steitigkeiten nicht mehr gewalttätig und eigenmächtig, sie müssen vielmehr gerichtlich ausgetragen werden. Das R e f o r m w e r k hebt die Fehde im ganzen Reich unbedingt und für alle Zeiten auf; Zuwiderhandelnde sollen in des Königs und des Reiches Acht fallen, selbst friedlos werden an Leib und Gut, auch ihre Ansprüche und Lehen einbüßen. Wer „aus redlicher a n z y gung in verdacht" stünde, hat sich bei der vorladenden Obrigkeit eidlich zu entschuldigen, w e n n er nicht als Friedbrecher gelten soll. Herrenlose oder unbotmäßige Söldner sollen im Reich nicht geduldet, sondern gemaßregelt werden. Verträge und Bündnisse sollen nicht gelten, soweit sie gegen den Landfrieden verstoßen. Der Ewige Landfriede hat das Reich beruhigt und auch dessen Glieder, die kleineren geistlichen und weltlichen Territorialherrschaften zumal, gestärkt, sein Ziel freilich nur z u m Teil erreicht. Gewalttätiger 98
1. Die Reichsreform Streit und innerer Krieg entzündeten sieh im konfessionellen Zeitalter wieder und heftiger noch, so daß der Augsburger Reichstag 1555 vor der Aufgabe stand, den Wormser Frieden zu erneuern und durch eine Exekutionsordnung zu verstärken. 2. Die Gründung des vom Königshof getrennten und von den Ständen mitgetragenen und mitbestimmten Reichskammergerichts, des mit der Achtgewalt ausgestatteten Rechtsorgans des Landfriedens, stellt die wichtigste organisatorische Leistung der Reformzeit dar. U m die Ausgestaltung im einzelnen ist hart gerungen worden. Der König mußte der Gerichtsreform bedeutende Opfer bringen, während die Territorien ihre Gerichtsgewalt eher verstärkten. Das Gericht war zu besetzen mit einem Kammerrichter, der geistlicher oder weltlicher Fürst, Graf oder Freiherr sein mußte, und mit sechzehn Urteilern, die zur einen Hälfte graduierte Juristen, zur anderen wenigstens ritterbürtig sein sollten. Die Urteiler sollte der König mit Rat der Reichsversammlung auswählen. Die Reichsversammlung gewann den entscheidenden Einfluß auf Bestellung und Nachwahl der Kammerrichter und selbst die Bedeutung eines obersten Gerichtshofs für Fälle, denen das Kammergericht nicht gewachsen war. Das Gericht wurde vom Hof getrennt und sollte vorerst in Frankfurt residieren. Acht und Banngewalt gingen auf den Kammerrichter über. Stark war die Berücksichtigung der fürstlichen Gerichtsprivilegien: Den Fürsten wurde das Vorrecht eingeräumt, untereinander „gewilkürte rechtlich Außtreg", also Schiedsgerichte, zu gebrauchen. Das Kammergericht war dabei nur subsidiär und als Appellationsinstanz zuständig. Bei Klagen von Prälaten, Grafen, Herren und Städten gegen die Fürsten sollten letztere Gerichte aus ihren eigenen Räten bilden und einsetzen dürfen: die als parteiisch berüchtigten Suppenessergerichte. Trotz dieser Schwächen, bald hinzukommender konfessioneller Gegensätze und allerlei Stockungen in seinem von den Zeitläuften abhängigen Geschäftsgang, nicht zuletzt beim Unterhalt durch die reichsständischen Kammerzieler, hat das zu Worms errichtete, seit 1527 in der Reichsstadt Speyer, seit 1689 in der Reichsstadt Wetzlar sitzende höchste Reichsgericht eine ebenso beträchtliche wie nachhaltige Wirksamkeit im Dienste des inneren Friedens und einer wissenschaftlich fundierten, professionellen Rechtspflege während dreier Jahrhunderte bis zu seinem Ende 1806 entfaltet: vornehmlich als Appellationsinstanz für die Anfechtung von Urteilen territorialer und reichsstädtischer Obergerichte in Zivilsachen, als Kontrollinstanz bei Klagen wegen Rechtsverweigerung oder -Verzögerung durch Untergerichte sowie bei auf grobe Rechtsverstöße gestützten Nichtigkeitsbeschwerden gegen Urteile landesherrlicher Gerichte. 99
IV. Reform und Umbruch Die Appellation sucht anstelle eines verkündeten vorinstanzlichen ein neues obergerichtliches Urteil zu erwirken. Dieses Rechtsmittel begann sich erst in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts im weltlichen Gerichtswesen durchzusetzen. M i t der zunehmenden Inanspruchnahme des Königlichen Kammergerichts als Appellationsinstanz „wurde das rechtliche Band zwischen den Reichsangehörigen und dem Reich neu verfestigt" (Bernhard Diestelkamp). Die Möglichkeit der Appellation z u m Reichskammergericht w i r k t e auf ähnliche Weise. A u ß e r d e m besaß das Gericht die erstinstanzliche Zuständigkeit für Klagen w e g e n Bruchs des Reichslandfriedens und für Prozesse Reichsunmittelbarer gegeneinander oder von Untertanen gegen ihre reichsunmittelbaren Obrigkeiten. Die vielen, meist langwierigen, oft mit Vergleichen endenden Untertanenprozesse zogen der territorialen Herrschaft reichsrechtliche Grenzen und beschränkten obrigkeitliche Bedrückungen in justizstaatlichem Geist. 3. Die Handhabung des Friedens und Rechtes ist verfassungsgeschichtlich die wichtigste Satzung des Wormser Tages. Sie bietet eine A r t Ersatz für ein Projekt der Reformpartei, das die Einrichtung eines kontinuierlichen, ständisch bestimmten Reichsrats oder Reichsregiments vorgesehen hatte, mit dem Berthold von M a i n z gegen den König und die weltlichen Fürsten aber nicht durchgedrungen war. Die Handhabung macht den Reichstag z u m zentralen Verfassungsorgan, das für die Durchsetzung der Wormser Satzungen in alljährlichen Versammlungen von mindestens einmonatiger Dauer sorgen soll. Doch tragen seine Beschlüsse nach w i e vor Vertragscharakter: denn weder gilt das Mehrheitsprinzip, noch sollen dem Reichstag Ferngebliebene an dessen Beschlüsse gebunden sein. Damit blieb dem Reich der Weg zu moderner Staatlichkeit verlegt, das von der ständischen Libertät geprägte, freilich reichsrechtlich gefestigte bündische Gefüge erhalten. 4. A m wenigsten Erfolg w a r dem zu Worms beschlossenen Gemeinen Pfennig beschieden: einer dem einzelnen Reichsangehörigen unmittelbar auferlegten Steuer. Es galt, den Geldbedarf für die außenpolitische Selbstbehauptung des Reiches und die Kosten für den A u f w a n d im Inneren, etwa das Kammergericht, zu decken und dafür eine feste Rechtsgrundlage und eine verläßliche Organisation zu schaffen. Der Wormser Reichstag entschied sich für eine befristete allgemeine Abgabenordnung, die eine Vermögens- mit einer Kopfsteuer kombinierte. „Nemlich das die nechstkummenden 4 jar lang und nit lenger alle und yegeliche menschen, sy seyen geistlich oder weltlich, frauen oder mann, w a s w y r d e n , ordens, stands oder wesens da sein, n y m a n d ausgeslossen, durch das H l . R. ganz aus jerlich geben, nemlich . . . " Es folgen die mäßigen, eher groben Vermögenssteuersätze, die unter Mißachtung der Steuergerech100
1. Die Reichsreform tigkeit und Steuergleichheit die Inhaber großer Vermögen bevorzugten. Von den Steuerpflichtigen mit einem Vermögen von weniger als 500 Gulden an Wert sollten vierundzwanzig Personen gemeinsam einen Gulden als Steuer zahlen — eine tragbare Kopfsteuer zu Lasten der breiten Masse. Die Juden sollten jeder einen Gulden zahlen, also ein Vielfaches der für Christen fälligen Kopfsteuer. Dem auf das Lehenssystem gegründeten Reich fehlte ein von Amtsleuten getragener eigener Verwaltungs- und Behördenapparat; es blieb angewiesen auf die Dienste der Territorialgewalten, die im Steuervollzug den Ausdruck ihrer Landeshoheit sahen. Nach langem Ringen um die Modalitäten der Einsammlung trug der Reichstag diesem Umstand Rechnung: Im Normalfall oblag die Besteuerung der weltlichen Untertanen den Territorialgewalten, die auf ihre Kosten die Ordnung des Gemeinen Pfennigs verkünden und die Abgabe einheben lassen, auch die Register führen sollten. Die Steuererträge sollten über Kommissare an die zentrale Reichssteuerstelle der Reichsschatzmeister nach Frankfurt fließen. Insofern zeigte sich die Steuerhoheit des Reiches. Für den Klerus und die Juden galten besondere Regeln. Trotz großen Bemühens, auch der Reichsschatzmeister und noch des Freiburger Reichstages 1498, blieb der Erfolg des Gemeinen Pfennigs unbefriedigend. Bezeichnenderweise lieferten die dem Reich wohl am tiefsten verbundenen Glieder, nämlich die geistlichen Stände und die Reichsstädte, am bereitwilligsten und auch die größten Teilsummen. Das Unternehmen scheiterte letztlich an der Eigensucht der großen Reichsfürsten. Die Wormser Ergebnisse sind ein Kompromiß. Die Wahrung von Frieden und Recht, das eigentliche Attribut des alten deutschen Königtums, obliegt König und Ständen fortan nach reichsgesetzlicher Regelung gemeinsam. Die Ordnungen tragen Vertragscharakter. Doch begründen sie mehr als eine Einung im herkömmlichen Sinne: eine Konstitution nämlich, die dem Reich eine allgemeine und unbefristete Grundordnung gibt und damit Verfassungsmerkmale im neuzeitlichen Sinne besitzt. Der Blick auf die trotz Worms fortbestehenden Einungen, etwa den Schwäbischen Bund, macht den verfassungsgeschichtlichen Fortschritt deutlich. Die Schweizer Eidgenossenschaft hat auf dem Wormser Reichstag nicht mitgewirkt. Ihr Verhältnis zum Reichsverband war zu dieser Zeit längst gelockert. Die Gründe dafür sind zu suchen in der Randlage und damit fehlenden territorialen Verzahnung, vor allem in der Struktur der Eidgenossenschaft, die in der Reichsverfassung keinen Platz mehr fand. Denn als Bund blieben die Eidgenossen von der Teilnahme am Reichstag ausgeschlossen; zum andern bedurfte ihr Gemeinwesen, das seine innere Sicherheit selbst gewährleistete, einer Betätigung der Reichsge101
IV. Reform und Umbruch wait nicht. Der Schwaben- oder Schweizerkrieg 1499, der die Kluft z w i schen der Schweiz und dem Reich weiter vertieft hat, ist z w a r nicht u m die Anerkennung der Wormser Beschlüsse geführt worden, er w a r überhaupt kein Krieg der Eidgenossen gegen das Reich. A b e r daß im Reich Ordnungen aufgerichtet w o r d e n waren, denen die Schweiz sich weder unterordnen wollte noch brauchte, dieser Umstand hatte die Teile einander doch noch mehr entfremdet. Die rechtliche Abtrennung besiegelte der Westfälische Friede 1648. M i t dem Jahr 1495 sind die Reformbemühungen keineswegs abgeschlossen. Das Kammergericht, dessen Leidensgeschichte w e g e n finanzieller Nöte und politischer Spannungen bereits 1496 begonnen hatte, w a r 1499 auseinandergegangen. Die Organisationsformen der Handhabung hatten sich als zu schwerfällig und umständlich erwiesen. H i n z u k a m die Konkurrenz zu dem von Maximilian 1497/98 als herrscherliche A n t w o r t auf die ständisch geprägte Reichsreform kraft seiner persönlichen Gerichtsbarkeit ausgebildeten Kaiserlichen Hofrat zu Wien. So bemüht sich der Augsburger Reichstag 1500 erneut u m Reform. Er bringt die Verwirklichung der alten Reichsratspläne des Mainzer Kurfürsten, in die der außenpolitisch bedrängte Maximilian einwilligen muß: das Reichsregiment, einen ständischen Ausschuß, der an den Regierungsgeschäften beteiligt wird. Doch Kammergericht und Reichsregiment, beide in Nürnberg eröffnet, litten unter der Gleichgültigkeit der größeren Territorien und unter fehlender Exekutive. So löste sich das Regiment schon zu Anfang des Jahres 1502 nach erfolglosem Bemühen u m regelmäßige Besetzung und Anerkennung wieder auf. Das Wesen des Ständetums erwies sich stärker als die Intention der Reformer: sein Streben w a r auf möglichste Freiheit vom übergreifenden Verband gerichtet, nicht darauf, mitgestaltenden Anteil an ihm zu erlangen. Der Konstanzer Reichstag 1507 gibt dem Kammergericht endlich die finanzielle Grundlage durch Herstellung der Reichsmatrikel, eines Verzeichnisses der ständischen Beitragspflichten, der „Anschläge", das fortan die Grundlage des Reichssteuerwesens bildete; auch regelt er die Berufung der Assessoren durch König und Stände neu. Der Reichstag von Trier und Köln 1512 schafft zur Durchsetzung des Reichsrechts eine Exekutionsordnung, deren Instrument die zehn Kreise bilden, in die das Reich eingeteilt wird: ein Versuch, der sich erst Jahrzehnte später unter anderen Voraussetzungen bewähren sollte und vor allem im Süden und Westen des Reiches wesentlich zur Befriedung des Alltags beitrug. Die Reformbemühungen in der Zeit Karls V., des Enkels und N a c h folgers Maximilians, haben an die Pläne der Maximilianeischen Periode angeknüpft. D a r u m kann die in den Jahren 1495-1512 geschaffene N e u ordnung, der ein durchgreifender Erfolg ja nicht beschieden war, doch 102
1. Die Reichsreform als die eigentliche Reichsreform gelten. Sie hat die Notwendigkeit ständischer Kooperation und einer Abgrenzung der kaiserlichen von der ständischen Gewalt bewußt gemacht und den Gedanken der Zusammengehörigkeit im Reich belebt. Der Wormser Reichstag 1521 hat in Ausführung der in der Wahlkapitulation Karls V. von 1519 enthaltenen Reformbestimmungen den Ewigen Landfrieden und das Kammergericht erneuert, die Matrikel verbessert und das zweite Reichsregiment aufgerichtet. Es war ähnlich verfaßt wie das erste, wenngleich die Stellung des Kaisers diesmal stärker blieb. Das Regiment sollte die Reichsgeschäfte nur während der Abwesenheit des Kaisers vom Reich wahrnehmen. Da Karl V. von 1521 bis 1530 nicht in Deutschland weilte, schienen die Möglichkeiten für eine ständische Regierung zunächst hoffnungsvoll. In der Tat ist das Regiment weit mehr denn sein Vorgänger als Reichsgewalt über den Ständen in Erscheinung getreten; es hat gesetzgeberische Initiativen entwickelt und zu verwirklichen gesucht. Seinen anerkennenswerten und ernsthaften Versuchen ist indessen kaum mehr Erfolg beschieden gewesen als den Bemühungen des ersten Reichsregiments. Es krankte am Desinteresse vieler, zumal der größeren Stände, an der Gegnerschaft des Schwäbischen Bundes, vor allem auch und in zunehmendem Maß an der Glaubensspaltung, die ihre schweren Schatten bereits über das Land legte. So endet der letzte Versuch, das Reich zu einer echten föderativen Einheit zu machen. Die Ziele späterer Reformpläne sind anspruchsloser. Der Reichstag verliert an Bedeutung, die Bemühungen verlagern sich gleichsam nach unten, in die Kreisversammlungen. Das Augsburger Friedenswerk von 1555 mit seiner Kreisexekutionsordnung ist zum guten Teil deren Werk. Versuchen wir den Ereignissen einen Gesamtaspekt abzugewinnen, so fällt zunächst ins Auge die starke Kontinuität und Beständigkeit der Probleme wie auch der Lösungsversuche. Bedrängend sind und bleiben im Innern Zerrissenheit und Unfrieden, von außen die Bedrohung durch fremde Mächte. Beiden Übeln war nur durch eine Ordnung und Zusammenfassung der zahllosen territorialen Gewalten, durch eine Stärkung der Reichsgewalt, beizukommen. Die monarchische Reichsspitze konnte, durch vielerlei europäische Interessen beansprucht, eine Vereinigung der Kräfte aus eigenen Mitteln nicht bewirken. Eine feste Beteiligung der Stände an der Reichsregierung war unausweichlich. Groß ist die Beharrsamkeit der alten Verfassungsordnung selbst, eine der hervorstechendsten Eigenschaften des Alten Reiches. Sie zeigt sich in den sorgfältig gehüteten Prärogativen des Kurfürstenkollegiums und in den niemals aufgegebenen Ansprüchen des Kaisers auf die höchste Reichsgewalt. Diese Beharrsamkeit und vor allem die längst zur Tat103
IV. Reform und Umbruch sache gewordene Eigenständigkeit der Territorien verhinderten einen N e u b a u der Verfassung von Grund auf. Deutlich w i r d schließlich die Kontinuität in den literarisch-wissenschaftlichen Reformbemühungen, deren Bedeutung nicht unterschätzt w e r d e n darf. Die Projekte der Literaten sind gewiß nur z u m kleineren Teil Wirklichkeit geworden, haben aber doch Einfluß auf die politischen Verhandlungen gehabt. Die Traktate der frühen Reformzeit sind wieder und wieder, besonders in der Reformationsepoche, neu herausgebracht worden, durch Schard, Hutten und andere. Das gelehrte Nachdenken der damaligen Zeit, die wissenschaftlich fundierte Vorstellung, auch die Sehnsüchte des Volkes, w i e sie uns besonders in der Reformatio Sigismundi und in der Schrift des Oberrheinischen Revolutionärs entgegentreten, dürfen uns Gradmesser sein für das vorgestellt Mögliche und das Gesollte. Die Übung, an H e r k o m m e n und Uberlieferung festzuhalten, legt es nahe, den zeitgenössischen Gebrauch des Wortes Reform in dem uns verlorengegangenen mittelalterlichen Sinne als Wiederherstellung zu verstehen. Daneben tragen die Reformpläne doch auch früh schon, dann zunehmend, den neuzeitlichen Entwicklungsgedanken in sich. Das zeigen die vorgeschlagenen Organisationsschemen, die nicht an mittelalterliche Vorbilder anknüpfen können. Vereinzelt lassen sich w o h l auch umstürzlerische Töne vernehmen. Der vorherrschende Traditionalismus erklärt, w a r u m das Reich über der lange ungelösten Reformfrage nicht völlig auseinandergefallen ist, w a r u m die Bemühungen u m N e u o r d n u n g nicht erlahmt sind. Die alte, je und je wachgehaltene Reichsidee und „die hohenstaufische Erbschaft der Zuordnung des Rechts z u m Kaiser" (Hermann Krause) haben neben sprachlich-volkstümlichen Bindungen das Gemeinschaftsgefühl erhalten, auf das es endlich ankommt. Zu den Leistungen der Reformepoche mit langwährender W i r k s a m keit gehören nicht zuletzt die Reichspolizeiordnungen von 1530, 1548 und 1577. Sie wollen den „gemeinen N u t z e n " , die allgemeine Wohlfahrt fördern, U n o r d n u n g und Mißbräuchen entgegenwirken, der Disziplinierung, Kultivierung und Zivilisierung aufhelfen. Der Bogen der Gebote und Verbote ist weitgespannt und oft strafbewehrt. Die „Ordnungen" richten sich an die Landesherren, denen sie die Pflicht auferlegen, als Obrigkeiten ihre Untertanen zur Befolgung aller reichsrechtlichen Vorschriften anzuhalten. Insofern erscheinen also auch die landesherrlichen Untertanen in den Territorien als Adressaten der M a ß g a b e n des Reichstages. Die rechts- w i e die sozialgeschichtliche Aussagekraft der Reichspolizeiordnungen läßt sich k a u m überschätzen. Diese Quellen spiegeln die 104
2. Reformation und Reichsrecht sittlichen und rechtlichen Maßstäbe ihrer Zeit nach dem Stand der christlichen Lehren; sie erlauben Einblicke in die ständische Wirklichkeit etwa nach den Kleiderordnungen; sie dokumentieren das Wirtschaftsleben beispielsweise durch ihre Regeln zu Zins, Wucher und Vorkauf; sie zeigen uns das Verhältnis der Gesellschaft zu Minderheiten wie den Juden; sie führen das Vormundschaftswesen vor Augen, die öffentliche Unsicherheit in Krieg und Frieden und vieles mehr. Vielerlei Kräfte waren in dem Prozeß der Reichsreform am Beginn der Neuzeit wirksam. Im Grunde ging es um die Aufrichtung einer funktionierenden föderativen Reichsgewalt, um die Integration der Teile. Dies Ziel ist nur unvollkommen erreicht worden. Doch hat die Reform Verfassungsorgane ausgebildet: den Reichstag, die zehn Kreise, das Kammergericht. Sie haben das weitläufige Regnum Teutonicum zwar locker genug, aber dennoch für lange Zeit zusammen und am Leben gehalten.
2. Reformation
und
Reichsrecht
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2. Reformation und Reichsrecht rigkeit, 1972; WOLFF, Fritz: Corpus Evangelicorum und Corpus Catholicorum auf dem Westfälischen Friedenskongreß. Die Einfügung der konfessionellen Ständeverbindungen in die Reichsverfassung, 1966; WOLGAST, Eike: Die Religionsfrage als Problem des Widerstandsrechts im 16. Jahrhundert, 1980; WOLGAST, Eike: Obrigkeit und Widerstand in der Frühzeit der Reformation, in: Wegscheiden der Reformation, hg. v. Günter VOGLER, 1994, 235-258; WOLGAST, Eike: Hochstift und Reformation. Studien zur Geschichte der Reichskirche zwischen 1517 und 1648, 1995; ZEEDEN, Ernst Walter: „Konfessionsbildung". Studien zur Reformation, Gegenreformation und katholischen Reform, 1985; ZLEGLER, Walter: Territorium und Reformation. Überlegungen und Fragen, in: Hist. Jahrb. 110, 1990, 52-75; ZIMMERMANN, Wolfgang: Rekatholisierung, Konfessionalisierung und Ratsregiment. Der Prozeß des politischen und religiösen Wandels in der österreichischen Stadt Konstanz 1548— 1637, 1994.
Die Reformation hat die sichtbare Einheit der res publica christiana gesprengt, die Verbundenheit ihrer beiden Seiten, des sacrum imperium mit der ecclesia universalis, gelöst. Die Christenheit bildete nicht länger mehr ein geistlich-weltliches Gemeinwesen, ein Corpus im Zeichen des ius utrumque (civile et canonicum). Mit der Reformation zerbricht die Einheit des Mittelalters und damit auch die Geschlossenheit der sakral begründeten Rechtskultur. Dafür tun sich die Gegensätze der Moderne auf mit einer Fülle neuartiger Kontroversen und Distinktionen. Der katholische, der evangelische und der weltlich reichische Rechtskreis treten auseinander; im Reich sondern sich Kirche und Staat; der dicht gewachsene Zusammenhang zwischen Kirchenrecht und Staatsrecht lockert sich; das Individuum beginnt, in den übergreifenden Systemen weltlichen und geistlichen Regiments größere Selbständigkeit zu gewinnen. Die Reformation hat Recht und Staat nachhaltig beeinflußt und wesentlich verändert. Und doch entstand sie nicht in politischer Absicht, sondern als eine Bewegung des Glaubens, getragen von der Frömmigkeit, Tatkraft und religiösen Leidenschaft Martin Luthers, in dem die reformatorische Idee ihren eigentlichen Ursprung, die nicht versiegende Quelle besaß. „Gerade das Entscheidende seiner Tat: der revolutionäre Durchbruch durch den Zauberbann der Tradition, die durch eine mehr als tausendjährige Geschichte gerechtfertigt schien, und die Begründung dieses Durchbruchs aus den letzten Tiefen des religiösen Bewußtseins heraus — gerade das war völlig neu, völlig unvorbereitet, völlig unerwartet. Diese eine überraschende Tat hat die Deutschen, bis dahin mehr Teilhaber als Mitschöpfer der abendländischen Kultur in den Augen der anderen Nationen, für einige (freilich kurze) Jahrzehnte an die Spitze der europäischen Geistesbewegung gebracht" (Gerhard Ritter). 109
IV. Reform und Umbruch Doch die Predigt Luthers stieß auch auf eine Bereitschaft, zu welcher die allgemeinen kirchlichen und politischen Verhältnisse längst den Grund gelegt hatten. Der Sendbrief „An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung", mit seiner neuen grundlegenden Botschaft vom allgemeinen Priestertum der Gläubigen, den Luther 1520 hinausgehen ließ, bildete den Höhepunkt einer langen Reihe kirchenpolitischer Reformtraktate, w i e sie seit mehr als einem Jahrhundert umliefen. Es fehlt keine der alten Beschwerden über römische Habsucht, innere Verderbnis der Kirche und Unterdrückung deutscher Nation durch die Päpste. „Wenn man des Papstes Hof ließe das hundertste Teil bleiben und täte ab neunundneunzig Teile, er wäre dennoch groß genug, A n t w o r t zu geben in des Glaubens Sachen. N u n aber ist ein solch G e w ü r m und Geschwürm in dem Rom, und alles sich päpstlich rühmet, daß zu Babylonien nicht ein solch Wesen gewesen ist. Es sind mehr denn dreitausend päpstliche Schreiber allein; w e r will die andern Amtleute zählen, so der Ämter so viel sind, daß man sie k a u m zählen kann, welche alle auf die Stifter und Lehen Deutschlands warten, w i e W ö l f e auf die Schafe. Ich erachte, daß Deutschland jetzt weit mehr gen R o m gibt dem Papst, denn vor Zeiten den Kaisern. Ja, es meinen etliche, daß jährlich mehr denn dreimalhunderttausend Gulden aus Deutschland gen R o m kommen, rein vergebens und umsonst, dafür w i r nichts denn Spott und Schmach erlangen; und w i r verwundern uns noch, daß Fürsten, Adel, Städte, Stifter, Land und Leute arm w e r d e n ? " Solche und ähnliche Vorwürfe, in denen sich die Unzufriedenheit der Zeit wiedererkannte, ließen das Sendschreiben gewaltig einschlagen. Viele reichsständische Räte und Konvente hatten die „Beschwerden deutscher Nation" gegen die Ubergriffe der römischen Kurie und w i d e r kriegerische Renaissance-Päpste traktiert. Gerade beim Adel und seiner geistlichen Vetternschaft regte sich der Widerstand; der ritterbürtige H u manist und Publizist Ulrich von Hutten hatte ihm sprachgewaltigen A u s d r u c k verliehen. Doch vornehmlich weil den Deutschen der nationale Staat fehlte, blieben die Klagen ungestillt. U m so w i l l k o m m e n e r galt und w i r k t e eine Kritik w i e diejenige Luthers, welche die N o t w e n digkeit reinigender Reform grundsätzlich beschrieb sowie biblisch begründete und darum über die traditionellen Streitschriften weit hinausführte. Die Reformation verstand sich nicht als Revolution und Sezession; sie erstrebte vielmehr eine Klärung und Fortführung der alten, wahren, katholischen Kirche Christi. Sie entsprang theologischen, kirchlich-seelsorgerischen Antrieben, die auf der Heiligen Schrift gründeten. Es ging zuerst u m den Ablaß, den Sinn der Buße und des Glaubens, auch u m die Grenzen kirchlicher Gewalt. Das Wort Gottes, wie es die Bibel be110
2. Reformation und Reichsrecht zeugte, sollte wieder in Kraft gesetzt werden — eine Aufgabe, die von der Gnade Gottes selbst abhing. Gleichwohl blieb auch die charismatisch verstandene reformatio ecclesiae nach ihren Voraussetzungen und in ihren Möglichkeiten und W i r k u n g e n unlöslich mit den rechtlichen, politischen und sozialen Gegebenheiten verquickt. Weil das christlichmittelalterliche Weltbild sich als geschlossenes darstellte, die kanonischen Rechtssätze alles Gesellschaftliche umfaßten und durchdrangen, weil Glaube und Recht, Theologie und Jurisprudenz sich existenziell aufeinander bezogen, konnte der neue Anruf nicht auf die Religion allein beschränkt bleiben. Er mußte vielmehr darüber hinaus zu Brüchen mit der überlieferten Rechts- und Sozialordnung führen. Das reformatorische Verständnis der Bibel gelangte nicht nur zu einem U m s t u r z der römischen Kirchenverfassung; es gebot eine schriftgemäße Exegese und Handhabung des Geltung fordernden tradierten Rechts schlechthin. Eine neuere Sichtweite sucht zu zeigen, daß die Reformation mit ihrer starken Betonung der christlichen Gemeinde aus dem das Spätmittelalter in nahezu allen europäischen Ländern prägenden kommunalen Geist zu erklären ist. „Was der Reformation in Deutschland und Frankreich ihre Durchschlagskraft sicherte, w a r der Umstand, daß sie die Gemeinde theoretisch legitimierte, und z w a r theologisch. Eine Theorie von höherer Dignität können sich gläubige Menschen nicht wünschen, und die Menschen waren gläubig" (Peter Blickle). Die Konfessionsbildung, „die geistige und organisatorische Verfestigung der seit der Glaubensspaltung auseinanderstrebenden verschiedenen christlichen Bekenntnisse zu einem halbwegs stabilen Kirchentum nach Dogma, Verfassung und religiös-sittlicher Lebensform" (Ernst Walter Zeeden), schnitt in alle Lebensbereiche ein. Insbesondere gab sie eine Vielzahl schwieriger Rechtsfragen auf. Im territorialpolitisch zerklüfteten Deutschland entfaltete sich dieser Prozeß der Konfessionsbildung überaus bewegt, nuancen- und formenreich. Fast jedes Territorium durchlief seine eigene Reformations- oder Rekatholisierungsgeschichte, gelenkt von seinem lutherischen oder katholischen Landesherrn. N o c h während Kaiser und Papst in offenem Streit miteinander lagen, nutzten die Landesherren die Möglichkeiten, die im duldsamen Speyrer Reichsabschied von 1526 lagen, und befestigten durch kirchliche Reformen die eigene Macht innerhalb der sich schließenden Landesgrenzen. Sie vertieften damit zugleich die bereits in vorreformatorischer Zeit feststellbare U m w a n d l u n g der mittelalterlichen Herrscherpflicht, A n w a l t und Vogt der Kirche zu sein, in eine auf die U n t e r w e r f u n g des geistlichen Lebens unter die weltliche Gewalt zielende obrigkeitliche Machtbefugnis. „Die Gründung der deutschen Landeskirchen, vorbereitet schon seit dem vorigen Jahrhundert, w u r d e jetzt zur Tatsache: eine der wichtigsten 111
IV. Reform und Umbruch Tatsachen der deutschen Geschichte. Indem sie die politische Zerspaltung der Nation förmlich besiegelte, bestimmte sie zugleich den C h a rakter nicht nur des kirchlichen, sondern zugleich des politischen Lebens in den Einzelterritorien. Die Reformation, in Westeuropa eine der geistigen Wurzeln der modernen politischen Demokratie, hat in Deutschland und in den v o m Luthertum reformierten Ländern des N o r d e n s mitgeholfen, der absoluten Monarchie ihren — freilich ohnedies unaufhaltsamen — Sieg zu erleichtern" (Gerhard Ritter). Im Reich hatte die Konfessionsbildung zur Folge das geistige Auseinandertreten der beiden Religionsparteien in zwei konträren Verfassungskonzeptionen. Das Ringen der Konfessionen in Deutschland ist seit Anbeginn nicht allein theologischer Streit, sondern zugleich eine in den Formen des Reichsrechts sich vollziehende prozessuale Auseinandersetzung gewesen. „Seinen theologischen Charakter hat es z w a r auch dann nicht verloren, aber doch nur noch gebrochen bewahrt, nämlich durch das M e d i u m des theologisch bestimmten Rechts. Die für Jahrhunderte maßgebenden Entscheidungen, die fortan das Verhältnis der Konfessionen regelten und bestimmten, sind Rechtsentscheidungen gewesen" (Fritz Dickmann). Im Geflecht der intrikaten und verschlungenen Kontroversen bildet die Gleichberechtigung der Konfessionen das zentrale Problem, also die Rechtsgleichheit der Konfessionen im Reich, die staatskirchenrechtliche Parität. Den juristischen und militärischen Kampf führen nicht die Kirchengemeinschaften, vielmehr politische Mächte: der Kaiser, die Stände, in der Schweiz die Kantone. Die — w i e sie schon damals hießen — „Religionsparteien" tragen den Streit aus in einer eigentümlichen Konstellation, die das politische Interesse und zugleich das religiöse Bekenntnis prägen. A m Ende des Ringens steht im Heiligen Römischen Reich, das sich diesen Titel bewahrt, und in der Eidgenossenschaft die volle Gleichberechtigung der beiden Seiten. Die Bildung von Religionsparteien beginnt mit dem Zusammenschluß Österreichs, Bayerns und der oberdeutschen Bischöfe unter M i t w i r k u n g des Papstes 1524. Im Gegensatz zu den Reichstagsbeschlüssen von 1523 und 1524, die ein allgemeines Konzil oder eine deutsche Nationalversammlung zur U b e r w i n d u n g des religiösen Zwiespalts gefordert hatten, will der katholische Bund das alte Kirchenwesen unverändert aufrechterhalten. Eindeutig auf seiner Seite steht das Reichsoberhaupt. Zur Konsolidierung der evangelischen Gegenpartei trägt wesentlich der Umstand bei, daß Kaiser Karl V. den Protestanten zu Augsburg 1530 eine letzte Gelegenheit bietet, ihren Standpunkt darzulegen. Die Evangelischen übergeben aus diesem Anlaß die Confessio Augustana, eines der Hauptbekenntnisse der protestantischen Kirchen. Damit hat sich die Bildung 112
2. Reformation und Reichsrecht der beiden Religionsparteien vollzogen. Sie nehmen die vertraute Gestalt von Einungen an, von ständischen Bünden mit eigenen Organen. Der konfessionelle Charakter zeigt sich besonders beim Schmalkaldischen Bund in der Verpflichtung seiner Mitglieder auf die Confessio Augustana. Bundesvertrag (1531) und Verfassung (1535) kennzeichnen den Schmalkaldischen Bund „als eine Verteidigungsgemeinschaft evangelischer Fürsten und Städte gegenüber allen Angriffen in Glaubenssachen ohne die sonst übliche Ausnehmung des Kaisers. Staatsrechtlich stellte der Bund nicht etwa einen Bundesstaat dar, sondern einen Länder- und Städtebund im Rahmen des Reiches, der im Hinblick auf kriegerische Bedrohung geschlossen w u r d e und dessen Organe, Heeres- und Finanzwesen erst im Kriegsfalle voll w i r k s a m werden sollten. A b e r schon im — allerdings auch damals stets bedrohten — Frieden entwickelte sich der Bund von Schmalkalden bald zur bedeutendsten innerdeutschen Macht der Reformationszeit, die zugleich unter anderen mit Dänemark, England, Frankreich, Preußen und der Schweiz sowie mit Kaiser und Papst verhandelte und dadurch auch europäischen Rang erhielt" (Ekkehart Fabian). Die katholische Partei zeigte sich weniger straff organisiert. Ihr k a m dafür zustatten, daß der Kaiser sie stützte mit seiner Autorität als Reichsoberhaupt und den unerschöpflichen Hilfsmitteln seiner weltumspannenden Erbreiche. Die Problematik des Widerstandsrechts gegen den Herrn des Reiches lastete auf der protestantischen Partei. Die Frage, „ob man sich muge wehren gegen k. Mt., w o sie mit gewalt y e mand uberzihen w o l t umbs evangelions willen", beschied Luther nach einem Ratschlag mit Freunden dem Kurfürsten Johann dem Beständigen von Sachsen im Jahre 1530 wie folgt: „Und befinden, das vielleicht nach keiserlichen odder weltlichen rechten ettliche mochten schliessen, das man y n n solchem fall mochte w i d d e r k. Mt. sich zur gegenwehre stellen, sonderlich weil k. Mt. sich verpflicht und vereidet, niemand mit gewalt anzugreiffen, sondern b e y aller vorigen freiheit zu lassen etc., w i e denn die iuristen handeln von den repressalien und diffidation. Aber nach der schrifft w i l sichs y n n keinen weg zimen, das sich iemand, w e r ein Christ sein will, w i d d e r seine oberkeit setze, got gebe, sie thu recht oder unrecht, sondern ein Christ sol gewalt und unrecht leiden, sonderlich von seiner oberkeit. Denn obgleich hierinn k. Mt. unrecht thut und y h r e pflicht und eid ubertritt, ist damit seine keiserliche oberkeit und seiner unterthan gehorsam nicht aufgehebt, weil das reich und die kurfursten y h n fur keiser halten und nicht absetzen. Thut doch w o h l ein keiser oder fürst w i d e r alle Gottes gebot und bleibt dennoch keiser und fürst und ist doch Gotte viel hoher verpflicht und vereidet denn den menschen. Solts nun gnug sein, das man sich w i d d e r k. Mt. 113
IV. Reform und Umbruch setzet, so sie unrecht thut, so mocht man y n n allen stucken, so offt er w i d d e r Gott thut, sich w i d d e r y h n setzen, und bliebe mit der weise wol gar keine oberkeit noch gehorsam y n n der wellt, weil ein iglicher unterthan k u n d diese ursach furwenden, seine oberkeit thet unrecht w i d d e r Gott. . . . D a r u m b diese rechtsspruche: Vim vi repellere licet, man muge gewalt mit gewalt steuren, helffen hie nichts. Denn sie gelten w i d d e r die oberkeit nicht, ia sie tugen auch nicht gegen gleiche, on w o es notwehr oder schütz foddert der andern odder unterthanen. Denn dagegen stehen auch andere rechtsspruche: N i e m a n d sol sein eigen richter sein, item: Wer w i d d e r schlegt, der ist unrecht. So sind ia aller fursten unterthan auch des keisers unterthan, ia mehr denn der fursten, und schickt sich nicht, das y e m a n d mit gewalt w o l t des keisers unterthan w i d d e r den keiser y h r e n herrn schützen, gleich wie sichs nicht ziemet, das der burgermeister zu Torgaw w o l t die burger wider den fursten zu Sachsen mit gewalt schützen etc., so lang er fürst zu Sachsen ist." Luther suchte also in strenger Weise die Lehre des Evangeliums von jedem politischen Unternehmen zu trennen. Aus Sorge u m das Gelingen und die Sicherung der Reform der Kirche sah er sich freilich in der Folgezeit zu einer U b e r p r ü f u n g seiner Auffassung von weltlicher O b rigkeit und Gehorsamsverpflichtung gedrängt. Eine auf die Aristotelische „Politik" zurückgehende Deutung des Reiches als einer rechtlich beschränkten Monarchie ließ ihn schließlich in den späten dreißiger J a h ren im Fall des Rechtsbruches ein Widerstandsrecht der Reichsfürsten gegen den Kaiser anerkennen. Die beiden Religionsparteien tragen den Kampf der Konfessionen politisch, forensisch und militärisch aus. Sie treten sich auf den Reichstagen als die „Stände, der alten Religion anhängig" und als die „der Augsburgischen Konfession Verwandten" gegenüber. Wenn die großen Reichskonvente der Reformationszeit das religiöse Suchen und Ringen im Volk nur unvollkommen widerspiegeln, so bezeugen die Abschiede und Verdikte mit ihren Verboten, ihren den Gegensatz entschärfenden und verschleiernden Suspensionen und mit ihren befristeten und unbegrenzten Friedständen doch eindrücklich das dramatische Auf und A b des Ringens im Ablauf der Tagespolitik, ebenso das unaufhaltsame Vordringen der Protestanten auch hinsichtlich ihrer verfassungsrechtlichen Position. Der Wormser Tag 1521 bringt der neuen Lehre Bann und Reichsacht, der Speyerer 1526 tatsächliche Duldung und vorsichtig-verhaltene Reformationsgestattung. Die Jahre 1529 und 1530, erneut in Speyer und zu Augsburg, bedeuten Verbot und Unterdrückung — begrenzt suspendiert w i e d e r u m unter Kautelen und Garantien zu N ü r n berg (1532), Frankfurt (1539) und Speyer (1544). Der für die Protestanten unglückliche Ausgang des Schmalkaldischen Krieges 1547 er114
2. Reformation und Reichsrecht möglicht der katholisch-kaiserlichen Partei den Versuch gewaltsamer Unterdrückung und R ü c k f ü h r u n g z u m alten Glauben. In den Religionsprozessen sahen sich die Assessoren des Reichskammergerichts einer überkonfessionellen Friedenspflicht verbunden. Das Reichskammergericht blieb freilich durch die in das Staatsrecht hineinreichende Glaubensspaltung in Aporien gefangen, die sich am Ende nur politisch lösen ließen. Die Judikatur hat die konfessionellen Konflikte aber immerhin in oft jahrelangem Gerichtsaustrag gemildert, auch w e n n die Hauptsache meist nicht bis z u m Entscheid gedieh. In den Untertanenkonflikten hat das Reichskammergericht im besonderen pazifizierend gewirkt. Den ersten großen Abschnitt des Ringens besiegelt der Augsburger Religionsfrieden von 1555, der die Existenz der Protestanten verbürgt, freilich den Keim zu hundertjährigen rechtlichen und kriegerischen Verw i c k l u n g e n in sich trägt, die nach blutigem und erschöpfendem Waffengang der Westfälische Friede 1648 beendet. Das Friedensinstrument des Jahres 1555 hat die Gleichberechtigung der Konfessionen im Reich begründet, das paritätische System verfestigt und gesichert, ohne es als obersten Verfassungsgrundsatz zu formulieren; der Sache nach erscheint die Parität in der Augsburger staatskirchenrechtlichen Satzung indessen durchgeführt. Gleichwertigkeit und Gleichrang der beiden Bekenntnisse sind angelegt und damit auch prinzipiell atheologische Ansätze verwirklicht, die den Prozeß der Säkularisierung und Relativierung des Rechts fördern. Gewiß wollte keiner der Vertragspartner in den fünfziger J a h ren dem anderen ernsthaft Gleichheit zugestehen; gewiß wähnte sich jede Seite im Besitz der alleinigen Wahrheit, sah jeder der Kontrahenten den andern in Irrtümern, schuldhafter Verstocktheit und in Häresie. U n d das Kernstück des „Geistlichen Vorbehalts", der die geistlichen Gebiete bei der alten Religion erhalten und weite Teile des Reichsgebiets dem Protestantismus verschließen sollte, trug kein Konsens der Religionsparteien. König Ferdinand und die Reichstagsmehrheit wahrten vielmehr den katholischen Standpunkt: beim Ubertritt eines Geistlichen z u m evangelischen Glauben sollte er sein Bistum oder seine Prälatur verlieren, das landesherrliche ius reformandi also nicht üben dürfen. Das ius reformandi: das formale und säkulare Recht der weltlichen Obrigkeit, die Religionsverhältnisse im Territorium oder Staat zu regeln, hat sich im Reformationszeitalter ohne direkte A b k u n f t aus einem mittelalterlichen Titel zunächst ohne terminologische Fixierung ausgebildet. Der Begriff hat sich als terminus technicus erst nach dem Dreißigjährigen Krieg verfestigt. Weil das ius reformandi aus theologischen Gründen für keine der beiden Seiten existieren durfte, konnten sie es 1555 nicht in einer General115
IV. Reform und Umbruch klausel statuieren, sondern mußten es in Gestalt eines „verwerfungsreichen Mosaiks" zusammenfügen. Das Reformationsrecht „war seines theologischen Gehaltes als Freiheitsrecht, der Reformationspflicht nachz u k o m m e n , mit dem es die evangelische Seite in die Diskussion gebracht hatte, so weit zu entleeren, daß es von der katholischen Partei akzeptiert werden konnte. Ebenfalls u m ihretwillen mußte es mit dem Religionsbann bewehrt werden. Gleichzeitig w a r es, wenngleich verschämt, als Freiheitsrecht möglichst vielen Ständen zuzugestehen und selbst für die Untertanen noch als beneficium emigrandi zu formulieren, u m für die Evangelischen attraktiv zu bleiben" (Bernd Christian Schneider). Typisch für den Stil des Religionsfriedens war, daß sein Vertragstext eine Reihe unvereinbarer Gegensätze dissimulierend zudeckte und sich die Religionsparteien einen Ausgleich auf einem Generalkonzil oder einer nationalen Versammlung vorbehielten. Doch darin lag eben ein hinhaltend-beruhigender und ausgleichender Effekt. Mit gutem Grund sieht Martin Heckel im Gesamtgefüge des Augsburger Friedstandes die Chancengleichheit und Parität angelegt: in der Ausgewogenheit widerstreitender Ideen, in der Verbindung des Status quo mit der Bewegung, der Vorläufigkeit mit Dauerndem, der Erhaltung des katholischen unter gleichzeitiger Freigabe der Fortentwicklung des evangelischen Kirchenwesens. Gleichwohl blieb das komplizierte Koexistenzsystem von 1555 gefährdet. Vor allem die seit den siebziger Jahren des 16. Jahrhunderts in großer Zahl aufkommenden, die Reichstags-, Reichsjustiz- und Reichsfinanzverfassung zunehmend in Mitleidenschaft ziehenden konfessionellen Händel belegen den sich allmählich weiter vertiefenden religionspolitischen Riß. Erst später begrifflich gefaßt und voll ins Bewußtsein gehoben w o r den ist der von den evangelischen Kirchenrechtslehrern Joachim und Matthias Stephani in den achtziger Jahren formulierte Satz: „Cuius regio eius religio". Die Zusammengehörigkeit von religio — öffentlicher Religionspraxis — und ius territoriale — Landeshoheit — galt seinem Inhalt nach bereits 1555. Das Verfassungsdokument jenes Jahres regelt im wesentlichen die Rechte der Religionsparteien, also der Landesherren, im Reich. Das Problem der staatsbürgerlichen Parität, also der Rechtsgleichheit der Individuen verschiedener Konfession, erscheint nicht, das der Religionsfreiheit nur in einem verklausulierten — freilich gewichtigen und entwicklungsmächtigen — Ansatz: in der Gestalt des ius emigrandi: „§ 24. Wo aber Unsere, auch der Churfürsten, Fürsten und Stände Unterthanen der alten Religion oder Augspurgischen C o n fession anhängig, von solcher ihrer Religion wegen, aus Unsern, auch der Churfürsten, Fürsten und Ständen des H . Reichs Landen, Fürsten116
2. Reformation und Reichsrecht thumen, Städten oder Flecken, mit ihren Weib und Kindern, an andere Orte ziehen und sich nieder thun wolten, denen soll solcher A b - und Zuzug, auch Verkauffung ihrer H a a b und Güter, gegen zimlichen billigen Abtrag der Leibeigenschafft und Nachsteuer, wie es jedes O r t s von alters anhero üblichen herbracht und gehalten worden ist, unverhindert männiglichs zugelassen und bewilligt, auch an ihren Ehren und Pflichten allerding unentgolten seyn. D o c h soll den Oberkeiten an ihren Gerechtigkeiten und H e r k o m m e n der Leibeigenen halben, dieselbigen ledig zu zehlen oder nicht, hiedurch nichts abgebrochen oder b e n o m m e n seyn." Hier findet sich das erste Individualgrundrecht der deutschen Rechtsgeschichte. D i e O r d n u n g von 1555 sucht das Reich durch einen Ausgleich zwischen den Religionsparteien zu befrieden. D i e Augsburger Confession erhält einen Platz im Reich. D i e „streitige Religion" soll „nicht anders, dann durch christliche, freundliche, friedliche Mittel und Wege zu einhelligem christlichen Verstand und Vergleichung gebracht werden". D e r Friedstand führte darüber hinaus zu Veränderungen im herkömmlichen Stylus imperii. So bestimmte bereits das Augsburger Friedensinstrument, „daß hinfüro der Cammer-Richter und die Beysitzer sammtlich und sonderlich, dergleichen alle anderen Personen des Cammer-Gerichts von beyden: der alten Religion und der Augsburgischen Confession, präsentirt und geordnet werden m ö g e n " . Diese Regel belegt die sich durchsetzende Parität der Religionsparteien. D i e Reichsverfassung hat in der Folge den konfessionellen Gegensatz weiter institutionell verfestigt und „in F o r m gebracht": In konfessionellen Angelegenheiten schloß das Prinzip der „itio in partes" Mehrheitsentscheidungen in den Reichsgremien aus. Keine Religionspartei sollte die andere majorisieren. In den zahlreichen Fällen der itio in partes trat an die Stelle der „ m a i o r a " eine „amicabilis c o m p o s i t i o " , eine gütliche Ubereinkunft beider Teile: D a s Reich blieb erhalten, hielt der Zerreißprobe stand, verzichtete aber eingestandenermaßen auf eine gemeinsame religiös-geistige Grundlage. D e r Westfälische Frieden hat die „itio in partes" ausdrücklich sanktioniert: „In causis religionis omnibusque aliis negotiis, ubi status tanquam unum corpus considerari nequeunt, ut etiam catholicis et Augustanae confessionis statibus in duas partes euntibus, sola amicabilis compositio lites dirimat non attenta v o t o r u m pluralitate" ( I P O Art. V, § 52). „Luther hat die Kirchenspaltung und die politischen Auswirkungen der Reformation weder gewollt noch geahnt. Ihm ging es u m die Wahrung und Reinigung der einen wahren Kirche; die Spaltung oder N e u gründung des Kirchenwesens und die politischen Konflikte in ihrer Folge hat er nicht vorausgesehen, geschweige denn gebilligt. Wie alle großen historischen Bewegungen ist auch die lutherische Reformation 117
IV. Reform und Umbruch z u m Auslöser historischer Folgen und N e b e n w i r k u n g e n geworden, die ihrem innersten Wesen widerstritten und mit denen sie doch zu leben gezwungen w a r " (Martin Heckel).
3. Der Bauernkrieg
1525
ADAM, Thomas: Joß Fritz — das verborgene Feuer der Revolution. Bundschuhbewegung und Bauernkrieg am Oberrhein im frühen 16. Jahrhundert, 2002; ANDREAS, Willy: Der Bundschuh. Die Bauernverschwörungen am Oberrhein, 1953; ANGERMEIER, Heinz: Die Vorstellung des gemeinen Mannes von Staat und Reich im deutschen Bauernkrieg, in: VSWG 53, 1966, 329-343; BADER, Karl Siegfried: Studien zur Rechtsgeschichte des mittelalterlichen Dorfes, 3 Bde., I: Das mittelalterliche Dorf als Friedens- und Rechtsbereich, 1957, II: Dorfgenossenschaft und Dorfgemeinde, 1962, III: Rechtsformen und Schichten der Liegenschaftsnutzung im mittelalterlichen Dorf. Mit Ergänzungen und Nachträgen zu den Teilen I und II, 1973; BILGERI, Benedikt: Der Bund ob dem See. Vorarlberg im Appenzellerkrieg, 1968; BLICKLE, Peter: Landschaften im Alten Reich. Die staatliche Funktion des gemeinen Mannes in Oberdeutschland, 1973; BLICKLE, Peter (Hg.): Deutsche Ländliche Rechtsquellen. Probleme und Wege der Weistumsforschung, 1977; BLICKLE, Peter: Gemeindereformation, 1987; BLICKLE, Peter (Hg.): Zugänge zur bäuerlichen Reformation, 1987; BLICKLE, Peter: Studien zur geschichtlichen Bedeutung des deutschen Bauernstandes, 1989; BLICKLE, Peter: Die Revolution von 1525, 4 2004; BLICKLE, Peter: Kommunalismus: Skizzen einer gesellschaftlichen Organisationsform, Bd. 1: Oberdeutschland, Bd. 2: Europa, 2000; BLICKLE, Peter u. ADAM, Thomas (Hgg.): Bundschuh. Untergrombach 1502, das unruhige Reich und die Revolutionierbarkeit Europas, 2004; BLICKLE, Peter, BIERBRAUER, Peter, BLICKLE, Renate u. ULBRICH, Claudia: Aufruhr und Empörung? Studien zum bäuerlichen Widerstand im Alten Reich, 1980; BLOCH, Ernst: Thomas Münzer als Theologe der Revolution, 3 1969; BRAND, Jürgen: Bibel und Altes Recht im Bauernkrieg, in: Bibel und Recht, hg. v. Jörn ECKERT U. Hans HATTENHAUER, 1994, 287-329; BRAND, Jürgen: Bibel und Altes Recht im Bauernkrieg, 1996 = Leipziger Juristische Vorträge, Heft 17; BUSZELLO, Horst: Der deutsche Bauernkrieg von 1525 als politische Bewegung, 1969; BUSZELLO, Horst, BLICKLE, Peter u. ENDRES, Rudolf (Hgg.): Der deutsche Bauernkrieg, 3 1995 = UTB 1275; ENGELS, Friedrich: Der deutsche Bauernkrieg, l0 1972; FAUTH, Dieter: Verfassungs- und Rechtsvorstellungen im Bauernkrieg 1524/ 25, in: ZRG, KA, 81, 1995, 225-248; FOSCHEPOTH, Josef: Reformation und Bauernkrieg im Geschichtsbild der DDR. Zur Methodologie eines gewandelten Geschichtsverhältnisses, 1976; FRANZ, Günther (Hg.): Quellen zur Geschichte des Bauernkrieges, 1963; FRANZ, Günther (Hg.): Bauernschaft und Bauernstand. Biedinger Vorträge 1971-1972, 1975; FRANZ, Günther: 450 Jahre deutscher Bauernkrieg, in: Das historisch-politische Buch 24/1, 1976, 1-5; FRANZ, Günther: Der deutsche Bauernkrieg, l2 1984; FUCHS, Walther Peter: 118
3. Der Bauernkrieg 1525 Der Bauernkrieg von 1525 als Massenphänomen, in: Massenwahn in Geschichte und Gegenwart, ein Tagungsbericht, hg. v. Wilhelm BITTER, 1965, 198-207; GANSEUER, Frank: Der Staat des „gemeinen Mannes". Gattungstypologie und Programmatik des politischen Schrifttums von Reformation und Bauernkrieg, 1985; GERTEIS, Klaus: Regionale Bauernrevolten zwischen Bauernkrieg und Französischer Revolution. Eine Bestandsaufnahme, in: ZHF 6, 1979, 37-62; GOTHEIN, Eberhard: Politische und religiöse Volksbewegungen vor der Reformation, 1878; GRIMM, Jacob (u. SCHROEDER, Richard) (Hgg.): Weisthümer, 7 Bde., 1840-1878; HINRICHS, Carl: Luther und Müntzer. Ihre Auseinandersetzung über Obrigkeit und Widerstandsrecht, 1952; HIPPEL, Wolfgang von: Die Bauernbefreiung im Königreich Württemberg, 2 Bde., 1977; HIRSCHFELDER, Heinrich: Herrschaftsordnung und Bauerntum im Hochstift Osnabrück im 16. und 17. Jahrhundert, 1971; HOHN, Malte: Die rechtlichen Folgen des Bauernkrieges von 1525. Sanktionen, Ersatzleistungen und Normsetzung nach dem Aufstand, 2004 = Schriften zur Rechtsgeschichte, Heft 112; HOLENSTEIN, Andre: Bauern zwischen Bauernkrieg und Dreißigjährigem Krieg, 1996; KAAK, Heinrich: Die Gutsherrschaft. Theoriegeschichtliche Untersuchungen zum Agrarwesen im ostelbischen Raum, 1991; KACZEROWSKY, Klaus (Hg.): Flugschriften des Bauernkrieges, 1970 = rororo-Klassiker 526/527; KNAPP, Georg Friedrich: Die Bauernbefreiung und der Ursprung der Landarbeiter in den älteren Theilen Preußens, 2 Bde., 1887, 2 1927 = Ausgew. Werke Bde. 2 u. 3; KOBUCH, Manfred u. MÜLLER, Ernst: Der deutsche Bauernkrieg in Dokumenten. Aus staatlichen Archiven der DDR, 1977; LAUBE, Adolf (Hg.): Flugschriften vom Bauernkrieg zum Täuferreich (15261535), 2 Bde., 1992; LUDWIG, Karl-Heinz: Bergleute im Bauernkrieg, in: ZHF 5, 1978, 23-47; LÜTGE, Friedrich: Geschichte der deutschen Agrarverfassung vom frühen Mittelalter bis zum 19. Jahrhundert, 2 1967; LUTZ, Robert Hermann: Wer war der gemeine Mann? Der dritte Stand in der Krise des Spätmittelalters, 1979; MAURER, Hans-Martin: Herzog Ulrich beim „Armen Konrad" auf dem Engelberg. Zur Rolle Leonbergs im Aufstand von 1514, in: ZWLG 51, 1992, 131-159; MAYER, Eberhard: Die rechtliche Behandlung der Empörer von 1525 im Herzogtum Württemberg. Ein Beitrag zur Rechtsgeschichte des sogenannten „Deutschen Bauernkriegs", 1957; NEUHAUS, Helmut: Das Reich und die Wiedertäufer von Münster, in: Westfälische Zeitschrift 133, 1983, 9— 36; OBERMAN, Heiko A. (Hg.): Deutscher Bauernkrieg 1525, in: Zeitschrift f. Kirchengeschichte 85, 1974, Heft 2; PATZE, Hans (Hg.): Die Grundherrschaft im späten Mittelalter, 2 Bde., 1983; PEUCKERT, Will-Erich: Die große Wende, 2 Bde., I: Das apokalyptische Saeculum und Luther, II: Geistesgeschichte und Volkskunde, 1948 (Nachdr. 1966); PETERS, Jan (Hg.): Gutsherrschaft als soziales Modell. Vergleichende Betrachtungen zur Funktionsweise frühneuzeitlicher Agrargesellschaften, 1995; PLETSCH, Friedrich: Die rechtliche Behandlung der Empörer von 1525 im Herzogtum Württemberg, in: ZWLG 16, 1957, 383387; PRESS, Volker: Herrschaft, Landschaft und „Gemeiner Mann" in Oberdeutschland vom 15. bis zum frühen 19. Jahrhundert, in: ZGO 123, 1975, 169-214; PRESS, Volker: Ein Ritter zwischen Rebellion und Reformation: Franz von Sickingen 1481-1523, in: Blätter f. pfälzische Kirchengeschichte u. religiöse Volkskunde 50, 1983, 151-177; QuESTER, Ernst: Das Rad der Fortuna
119
IV. Reform und Umbruch und das Kreuz. Studien zur Aufstandsperiode von 1525 in und um Rothenburg ob der Tauber und ihrer Vorgeschichte, 1994; RIGGENBACH, Bernhard: Johann Eberlin von Günzburg und sein Reformprogramm. Ein Beitrag zur Geschichte des sechzehnten Jahrhunderts, 1874 (Neudr. 1967); ROSENKRANZ, Albert: Der Bundschuh, die Erhebungen des südwestdeutschen Bauernstandes in den Jahren 1493-1517, 2 Bde., Darstellung und Quellen, 1927; SABEAN, David Warren: Landbesitz und Gesellschaft am Vorabend des Bauernkriegs. Eine Studie der sozialen Verhältnisse im südlichen Oberschwaben in den Jahren vor 1525, 1972; SCHMIDT, Irmgard: Das göttliche Recht und seine Bedeutung im deutschen Bauernkrieg, phil. Diss. Jena, 1939; SCHULZE, Winfried: Bäuerlicher Widerstand und feudale Herrschaft in der frühen Neuzeit, 1980; SCHULZE, Winfried (Hg.): Aufstände, Revolten, Prozesse. Beiträge zu bäuerlichen Widerstandsbewegungen im frühneuzeitlichen Europa, 1983; SCHULZE, Winfried: Die Entwicklung des „teutschen Bauernrechts" in der Frühen Neuzeit, in: ZNR 12, 1990, 127-163; SEEBASS, Gottfried: Artikelbrief, Bundesordnung und Verfassungsentwurf. Studien zu drei zentralen Dokumenten des südwestdeutschen Bauernkrieges, 1988; SMIRIN, M. M.: Die Volksreformation des Thomas Münzer und der große Bauernkrieg (aus dem Russischen), 2 1956; STRUCK, Wolf-Heino: Der Bauernkrieg am Mittelrhein und in Hessen. Darstellung und Q u e l l e n , 1 9 7 5 ; TROSSBACH, W e r n e r : B a u e r n 1 6 4 8 - 1 8 0 6 , 1 9 9 3 ; VOGLER,
Gün-
ter: Reichsvorstellungen im Umkreis des Bauernkrieges, in: Alternativen zur Reichsverfassung in der Frühen Neuzeit?, hg. v. Volker PRESS, nach dem Tod des Hg. bearb. v. Dieter STIEVERMANN, 1995, 23-41; WAAS, Adolf: Die Bauern im Kampf um Gerechtigkeit 1300-1525, 1964; WALDER, Ernst: Der politische Gehalt der Zwölf Artikel der deutschen Bauernschaft von 1525, in: Schweizer Beiträge zur Allgemeinen Geschichte 12, 1954, 5-22; WEHLER, Hans-Ulrich (Hg.): Der Deutsche Bauernkrieg 1524-1526, 1975; WOHLFEIL, Rainer (Hg.): Der Bauernkrieg 1524-26. Bauernkrieg und Reformation. Neun Beiträge, 1975; WOLGAST, Eike: Thomas Müntzer. Ein Verstörer der Ungläubigen, 1981; WOLGAST, Eike: Die Stellung von Johannes Brenz zu Bauernkrieg und Widerstandsrecht, Blätter für württembergische Kirchengeschichte 100, 2000 (2001), 297-326; ZIMMERMANN, Gunter: Die Grundgedanken der Bundschuhverschwörungen des Joss Fritz, in: ZGO 142, 1994, 141-164.
„Da . . . das anonyme Opfer immer zu den stärksten Kräften der Geschichte gehört und das tragische Mißlingen großer berechtigter A n sprüche würdigster Gegenstand der Betrachtung ist, bleibt der Bauernkrieg eines der großen Themen der deutschen Geschichte. Seine Bedeutung geht weit hinaus über das schnell beschriebene, zeitlich so kurze äußere Geschehen." So hat Joseph Lortz in seinem Buch über die Reformation in Deutschland geurteilt; sein Wort blieb gültig. Jede Generation deutscher Historiker hat sich auf ihre Weise mit den Bauernkriegen auseinandergesetzt und Erkenntnisse beigesteuert. Die Beweggründe und Abläufe sind inzwischen voll ans Licht gekommen und erstmals 120
3. Der Bauernkrieg 1525 von Günther Franz in einem grundlegenden und umfassenden Bericht zusammengefügt worden. „Embörung und ufrur der bursame w i d e r ire hoche oberkaiten" zeigten wie die sie begleitenden religiösen Reformationen ein Janusgesicht: mittelalterliche Züge verbanden sich mit radikal umbrechenden Gedanken und Leitsätzen. Durchaus mittelalterlich sahen die Bauern bei ihren Ansprüchen Geistliches und Weltliches zusammen. Der extreme Spiritualismus und Biblizismus Thomas Müntzers (wohl u m 1488/89-1525) und Andreas Karlstadts (um 1480-1541), teils aus der vorreformatorischen Tradition der John Wiclif (um 1320-1384) und Johannes H u s (1370-1415) stammend, lieferte der Bauernrevolution geistige Antriebe und blieb dabei doch zugleich von einem mittelalterlichen frommen Glauben an die Macht des Rechts und den Sieg der Gerechtigkeit begleitet. Die teils konservative, teils umstürzlerische Eigenart des Bauernkriegs erschließt sich erst im Blick auf seine zweihundertjährige Vorgeschichte: eine lange, ununterbrochene Abfolge örtlicher Aufstände und Revolten. A m Anfang steht der Kampf u m das gute alte Recht, das sich im Bewußtsein der Bauern als unantastbare Tradition behauptete und neuen Herrschaftspraktiken widerstrebte. „Nach rechter Wahrheit", lesen w i r im Sachsenspiegel (Ldr. III 42 § 6, Eckhardtsche Übertragung), „hat Leibeigenschaft Beginn von Zwang und von Gefangenschaft und von unrechter Gewalt, die man seit alters in unrechte Gewohnheit gezogen hat und nun für Recht halten will." Das überlieferte Recht der Bauern bot sich dar als eine bunte Fülle örtlich unterschiedlicher Gewohnheiten, gutenteils niedergelegt in den Weistümern aus dem 14. bis 17. Jahrhundert, die der große Germanist Jacob G r i m m wiederentdeckt und erstmals ediert hat. Die Weistümer, von der Herrschaft bei den Urteilsfindern und ältesten Gemeindegenossen erfragt, gaben Auskunft über die wechselseitigen Rechte und Pflichten, insonderheit über Abgaben und Dienste des Landvolks. Der sich ausbildenden Landeshoheit der Territorialherren standen die überkommenen lokalen Rechte als Hindernisse auf dem Weg zur territorialen Geschlossenheit entgegen. U m so mehr empfahl sich das römische Recht den Obrigkeiten als Mittel einheitlicher Verwaltung und Rechtsprechung, als Rechtstitel für erhöhte Untertanenpflicht. Wenn die Bauern sich gegen den erstarkenden Territorialstaat und das gelehrte fremde Recht auflehnten, u m ihr heimisches H e r k o m m e n festzuhalten, so empfanden sie sich nicht als Empörer, sondern als Verteidiger ihrer genossenschaftlich geprägten Rechtsordnung. Der bäuerliche Kampf u m das alte Recht begann am Ende des 13. Jahrhunderts in den Schweizer Urkantonen u m den Vierwaldstätter See. Zuerst richtete er sich gegen das Unternehmen Habsburger Vögte, do121
IV. Reform und Umbruch mini terrae zu werden durch allerlei Übergriffe und das Gebot neuer Dienste und Lasten. Als die Reichsunmittelbarkeit der drei Talschaften erreicht war, entwickelte sich der Kampf gegen Osterreich zu einem Freiheitskrieg gegen einen äußeren Feind, der zugleich Ständestaat und Adelsherrschaft verkörperte. Die Niederlagen Habsburgs bei Sempach (1386) und Näfels (1388) bedeuteten einen Sieg auch für das republikanische Prinzip. Einige Jahre später brachen sich im Bund ob dem (Boden-)See, einem großen republikanischen Volksbund zwischen dem Zürichsee und dem Inn in Tirol (1405 bis 1408) neben den alten Freiheiten und Gewohnheiten deutlich auch Sozialrevolutionäre Ideen Bahn. Im zweiten D e z e n n i u m des 16. Jahrhunderts hielt der Schweizer Bauernkrieg die Eidgenossenschaft in Atem: Die Luzerner, Berner und Solothurner untertänigen Bauern vereinigten sich und zogen in die Städte, u m den erstarkten obrigkeitlichen Magistraten die ländliche Autonomie abzutrotzen. Fast gleichzeitig erhoben sich der A r m e Konrad in W ü r t temberg, die ungarischen und innerösterreichischen Bauern und der Bundschuh am Oberrhein, w o Joß Fritz, ein trotz obrigkeitlichen Steckbriefs nie gefaßter, immer wieder aktiver Rädelsführer, seine Werbungen unternahm. Kein Zufall, daß jetzt erstmals in der Schweiz das Symbol der Bauernrevolte erschien: der Bundschuh. So hieß im Unterschied z u m gespornten Stiefel des Ritters der derbe, riemengeschnürte Schuh des gemeinen Mannes. Es meldeten sich Ansprüche, die sich nicht mehr mit dem alten Recht begründen ließen: so das Verlangen nach A u f h e bung der Leibeigenschaft, eines zur Rentenquelle gewordenen obrigkeitlichen Rechtstitels, der nicht etwa Sklaverei, sondern nur eine lästige Abgabe neben anderen bedeutete. Der A r m e Konrad entsprang dem U n w i l l e n des gemeinen Mannes gegen die in Stadt und Land Württembergs herrschende bürgerliche Oligarchie der Ehrbarkeit. Die unkluge Steuerpolitik der Regierung gab den Anlaß z u m Aufstand, den ein unruhiger M a n n namens Gaispeter aus Beutelsbach im Remstal begann und der sich von A m t zu A m t im Herzogtum, doch nicht darüber hinaus ausbreitete. Die Hauptklage hieß, daß „in alten Bräuchen und Gewohnheiten bei Städten und Dörfern durch die Doctores viel Zerrüttungen geschehen, dem gemeinen M a n n zu verderblichem Nachteil und Schaden". Ein weiterer U n r u h e herd des ausgehenden Mittelalters endlich lag im Gebiet der Ostalpen: in den weitläufigen geschlossenen Territorien des Erzstifts Salzburg und des Hauses Österreich. Die Beschwerden glichen denen in der Schweiz und Oberdeutschlands; sie richteten sich unter Berufung auf das alte H e r k o m m e n hauptsächlich gegen neue Lasten des sich herausbildenden Territorialstaats; auch umstürzlerische Postulate sowie die Forderung nach einer landständischen Repräsentation der Bauern w u r d e n laut. 122
3. Der Bauernkrieg 1525 In den Jahren 1513-1517, den letzten vor Luthers erstem Auftreten, ergriff die U n r u h e ganz Oberdeutschland von der ungarisch-türkischen Grenze bis zu den Vogesen, von der Schweiz bis nach Franken. A u c h im Kleinbürgertum vieler Städte gärte es. N e b e n das alte H e r k o m m e n trat als Ziel der Aufstände und „Rottierungen" die Verwirklichung des Göttlichen Rechts, ein N e u a u f b a u der Gesellschaft. Das erste sozialistisch-politische Revolutionsprogramm erschien 1521: „Die fünfzehn Bundesgenossen" des Johann Eberlin von Günzburg, eines süddeutschen franziskanischen Barfüßer-Mönchs und Reformators. Zu Recht hat Paul Joachimsen dieses Dokument in seinem Sammelband: „Der deutsche Staatsgedanke von seinen Anfängen bis auf Leibniz und Friedrich den Großen" wieder dargeboten (1921/1967). Der Entwurf greift in alle Bereiche gesellschaftlichen Lebens. „Kein ehrlichere arbeit oder nahrung soll sein dann ackerbau. Aller adel soll sich nähren v o m ackerbau." — „Jegliche vogtei soll ihr selbs eigne recht, die in nutz sind, ordnen, und solich recht sollen ihr bestätigung nehmen von allem volk der vogtei, so man sie vorhin darum personlich erfragt hat." — „In allen räten sollen als viel edelleut als baursleut sitzen." — „Gewild, vögel und fisch soll jedermann gemein sin für sein not(durft) zu fahen, w e r es vermag." — „Alle alte kaiserliche und pfaffenrecht tun w i r ab." — „Kein peinlich Statut soll fürhin angenommen werden, das nicht im gsatz Moisi austruckt ist, denn der mensch soll nit harter strafen w a n n gott." Viele Zeichen kündigten am Ende den großen Sturm des Jahres 1525 an. Ein altes Sprichwort verhieß: „Wer im 1523. Jahr nicht stirbt, 1524 nicht im Wasser verdirbt und 1525 nicht w i r d erschlagen, der mag wohl von Wundern sagen." Prophezeiungen und Streitschriften, von anschaulichen Holzschnitten illustriert und von der jungen Kunst des Buchdrucks unmittelbar z u m Volk getragen und weit verbreitet, erregten die Gemüter. A p o k a l y p t i k erfüllte das Zeitbewußtsein. Luther, Zwingli und andere Reformatoren hatten die Autorität der römischen Kirche erschüttert. N u n schien die Zeit reif, der U m s c h w u n g unausweichlich. Seit der Mitte des Jahres 1524 breiten sich Bauernerhebungen aus in Oberschwaben und Württemberg, im Elsaß, in Thüringen und Franken. Im Frühjahr 1525 erreicht der Aufstand seine größte Ausdehnung und Stärke. Fast ganz Oberdeutschland — mit Ausnahme Bayerns — steht im Aufruhr, und die Wogen der Revolution schlagen bis z u m M i t telrhein und noch weiter nach Norden, wobei hier die Städte den Schauplatz bieten. Die eigentliche Bauernempörung bleibt also auf Süddeutschland beschränkt, einen verhältnismäßig dicht bevölkerten, territorial stark zersplitterten Raum, das traditionelle Werbe- und Aufmarschgebiet der Landsknechte, das Herzstück des Reiches. In kleineren örtlichen Zirkeln, bei Kirchweihen, Wallfahrten und Märkten 123
IV. Reform und Umbruch konspirativ vorbereitet, jeweils ausgelöst durch Betroffenheit von den Zeitproblemen, durch Unzufriedenheiten und Ungeduld, durch Appelle und Überredung, auch durch Lust an Abenteuer und Geheimbündelei, springt die Empörung von Dorf zu Dorf, von Landstrich zu Landstrich: Auf ein verabredetes Zeichen, oft ist es die Sturmglocke, treten die Eingeweihten bewaffnet zusammen, wählen im Ring Hauptleute und Fähnriche, übernehmen die vorbereitete Bauernfahne und schwören eine christliche Einung. Der Bund, dessen Glieder sich Brüder nennen, gerät in Gang und ruht nicht, bis er eine Landschaft zusammengeschlossen hat. Die Bauern seien, so berichten die Quellen, herbeigelaufen w i e ein Bienenschwarm z u m Honigfaß. Einschüchterung und Zwang helfen nach, w o die Bereitschaft z u m Anschluß fehlt. Die einzelnen Haufen bleiben nicht homogen zusammengesetzt: allerlei fahrendes Volk, Schwärmer und ausgesprungene Mönche schließen sich den Bauern an, unter denen nicht die A r m e n die eigentlichen Träger sind, sondern die Bessersituierten. Der helle A u f r u h r schien den Zeitgenossen so vehement und unwiderstehlich, daß selbst etliche Herren sich der Revolution anschlossen, unter ihnen Äbte, Bischöfe, Stadtmagistrate. A u c h Teile des Adels machten gemeinsame Sache mit den Bauern, teils aus politischem Kalkül, teils aus Feindschaft den auch sie selbst einengenden Landesobrigkeiten gegenüber, teils aus ritterlicher Unternehmungslust oder auch nur unter dem D r u c k der Aufrührer. Florian Geyer, Götz von Berlichingen und Herzog Ulrich von Württemberg gehören zu ihnen. Waren die Bauernhaufen erst in Bewegung geraten, so nahmen die Ereignisse vielfach einen anderen als den vorbedachten Lauf, entstanden notgedrungen neue Probleme, etwa das der Verpflegung. Oft blieb den Empörern schwerlich anderes übrig, als Schlösser, Burgen und die verhaßten Klöster mit ihren Vorratskellern gewaltsam zu brechen. Plünderungen zerrütteten die Disziplin. Ubergriffe aus aufgestautem Zorn, Brandstiftungen, R a u b ereigneten sich, vereinzelt auch blutrünstige, gemeine Taten gegen allen Kriegsbrauch. Besonders hatten die Aufständischen es auf Zinsregister, Salbücher, herrschaftliche Steuerregister abgesehen, welche die bäuerlichen Abgabepflichten auswiesen. Während die Revolution noch ihre Sturm- und Brandzeichen setzte, begann der Rückschlag. Der Gegner formierte sich: die geistlichen und weltlichen Herren und reichsstädtischen Magistrate alten und neuen Glaubens und ihr obrigkeitlicher Schwäbischer Bund. Sein Heer unter dem Befehl meist des Georg Truchseß von Waldburg, des Bauernjörg, schlug nacheinander die Oberschwaben, die Württemberger und die Franken, die Thüringer und die Elsässer in blutigen Schlachten. Dabei dauerte der eigentliche Bauernkrieg k a u m länger als ein Vierteljahr. Er 124
3. Der Bauernkrieg 1525 führte zur vollständigen Niederlage der Aufrührer. Die Chroniken wissen von hunderttausend Bauern, die ihr Leben verloren. Hunderte gerieten in die H a n d des Scharfrichters, Tausende flohen oder w u r d e n ausgewiesen. Von den Anführern retteten sich nur wenige. Thomas Müntzer, Heinrich Pfeiffer, Ulrich Schmid, Jäcklein Rohrbach, Friedrich Weigandt und wie sie hießen, haben ihr Leben am Richtplatz gelassen. Wendel Hipler endete 1526 in einem pfälzischen Kerker, Michael Gaismair w u r d e 1530 im Exil ermordet. Andere, wie Matern Feuerbacher, den Bottwarer Gastwirt, zerrieben langwierige Prozesse. A u c h die Künstlerschaft, die sich dem Aufstand häufig rasch angeschlossen hatte, brachte ihre Opfer: Jörg Rathgeb w u r d e in Pforzheim gevierteilt; dem W ü r z b u r g e r Ratsherrn Tilmann Riemenschneider zerbrach die Folter A r m und Hand. Mancher andere entzog sich der Strafe durch Flucht und Ortswechsel. Der schnelle und endgültige Zusammenbruch der Revolte erschien den Zeitgenossen unverständlich und ließ sie von Verrat sprechen. N a c h ihrer Zahl und ihren Waffen blieben die Bauernhaufen nicht hinter dem Gegner zurück. Im ganzen Aufstandsgebiet stand den Bauern das Waffenrecht zu; viele von ihnen hatten in jungen Jahren als Söldner gedient. Als der Krieg ausbrach, gewannen sie Landsknechte als Führer. A u c h an Geschütz gebrach es ihnen nicht; indessen mangelte es an Reiterei. N o c h verhängnisvoller w i r k t e sich das Fehlen militärischer w i e politischer Führerpersönlichkeiten aus. Es fehlte der Kopf, der das Ganze wirklich überblickt und die Vielheit örtlicher Beschwerden zur Einheit hätte z u s a m m e n z w i n g e n können. Selbst das Haupt in Thüringen, der mit Abstand gedankenstärkste Revolutionär und kraftvoll fanatische Thomas Müntzer, vermochte das nicht. „So blieb die ungeheure, dumpfe Kraft in der Zersplitterung und w u r d e leicht eine Beute der besser organisierten und raffinierter operierenden Herren" (Joseph Lortz). Das Zutrauen der Bauern zu Luther erwies sich als tragischer Irrtum. Mochte der Reformator den Herren in seiner „Ermahnung z u m Frieden" auch scharf ins Gewissen reden, ihnen Schuld am A u f r u h r geben, und mochte Luther manchen bäuerlichen Anspruch rechtfertigen, so blieb doch in seinem Denken für ein Widerstandsrecht kein R a u m . Ein strenges Verständnis von R ö m e r 13 stand dem entgegen. Mochte der Christ noch so sehr das Recht haben, zu fordern: ihm gebührte doch nur, Unrecht zu leiden; Matthäus 5, 39 f. und Christi Beispiel am Kreuz verboten, daß er sich selber sein Recht verschaffe. Es könne nichts Giftigeres, Schädlicheres, Teuflischeres sein denn ein aufrührerischer Mensch, hieß es in Luthers furchtbar harter Schrift „Wider die räuberischen und mörderischen Rotten der Bauern". Übrigens distanzierte sich auch Eberlin von Günzburg schon 1524 von Wittenberg aus: 125
IV. Reform und Umbruch „Liebe Herren, die ihr Schwärmer zu Predigern habt in Euern Landen und Städten, thut in Zeiten dazu, ehe denn euer Volk los und muthwillig werde. Das Evangelion Christi lehret Geduld, Gehorsam, Zucht, Ehrbarkeit, überhaupt alle Tugenden. R ö m e r 13." Und: „Wir sollen nicht anfangen, ohne Schrift und ohne Vernunft zu murmeln wider gemeine Gebräuche und Gewohnheiten, als: den Zehnten geben, Zinse reichen, vier Opfer halten, Frondienste leisten. Was allein Beschwerung des Geldes, des Leibes und der Ehre, aber keinen Schaden an Seelen und Gewissen mit sich bringt, darüber soll niemand weniger murmeln, denn eben die Christen . . . " Der Bauernkrieg ist eine soziale und zugleich geistig-religiöse Auseinandersetzung mit Herren und Besitzenden. Den Zusammenhang z w i schen dem Aufstand und der Reformation belegen am besten „Die grundlichen und rechten Hauptartikel aller Baurschaft und Hindersessen der gaistlichen und weltlichen Oberkaiten, von welchen sie sich beschwert vermeinen". Diese erstmals im M ä r z 1525 gedruckten „Zwölf Artikel der Bauernschaft in Schwaben" oder „schwarzwäldischen Artikel" rührten von dem M e m m i n g e r Kürschnergesellen und Laienprediger Sebastian Lotzer, dem Feldschreiber des Baltringer Haufens. Peter Blickle hat nachgewiesen, „daß die prinzipielleren Forderungen und ihre göttlich-rechtliche Begründung auf eine ältere bäuerliche Vorlage aus dem Oberrheingebiet zurückgeführt werden können". Die Artikel bildeten überall das P r o g r a m m der Bauern, das gelegentlich w o h l gar den Anstoß z u m Aufstand gab und dennoch als maßvoll gelten kann. Es ist mit der Heiligen Schrift begründet und zeigt, wie ernst die Bauern es mit dem Göttlichen Recht meinten. „Zum zwelften ist unser Beschluß und endliche Mainung, w a n n ainer oder mer Artikel, alhie gesteh, so dem Wort Gotes nit gemeß weren, . . . w o l t w i r darvon abston, w a n n mans uns mit Grund der Schrift erklert." Die Artikel anerkennen grundsätzlich die Pflicht gegenüber der von Gott gesetzten Obrigkeit: „Nit das w i r gar frei wollen sein, kain Oberkait haben wellen, lernet uns Gott nit." In vielen der bittweise vorgetragenen Forderungen steckte eine machtvolle innere Berechtigung: daß Jagd-, H o l z - und Allmendrechte den Gemeindegenossen nicht vorenthalten und weiter entzogen, die herrschaftlichen Dienste nicht über alles M a ß erhöht werden; daß die W i l l k ü r der Strafen abgestellt werde; daß die Abgabe des Beststückes im Todesfall verschwinde und W i t w e n und Waisen das Ihre nicht w i d e r Gott und Ehre verlören. Und: „Ist der Brauch bisher gewesen, das man uns für ir aigen Leut gehalten haben, wölchs zu erbarmen ist, angesehen das uns Christus all mit seinem kostparlichen Plutvergüssen erlößt und erkauft hat, den Hirten gleich als w o l als den Höchsten, kain ausgenom126
3. Der Bauernkrieg 1525 men. D a r u m b erfindt sich mit der Geschrift, das w i r frei seien und w o l len sein." Weiter verlangt das Programm das Recht der Gemeinde, ihren Pfarrer zu wählen. Von dem großen Getreidezehnten soll allein der Pfarrer besoldet, der Uberschuß für die Dorfarmut und die Einrichtung der Kriegssteuer verwendet werden. Der Viehzehnte soll, weil biblisch nicht begründet, fallen. Die Bauern hofften, endlich Recht und Gerechtigkeit zu vereinigen. „Bibel und Göttliches Recht bildeten so gleichsam den Treibsatz für das letzte große A u f b ä u m e n der horizontal verfaßten Kräfte gegen die Nivellierung z u m Untertanen und den gescheiterten Versuch, die Territorialstaatsbildung und Ausformung eines neuen Rechts- und Gerichtssystems zurückzudrängen" (Jürgen Brand). Doch auch die maßvollen Konzepte stießen auf die Kritik der führenden Reformatoren. Philipp Melanchthon, A u t o r der Augsburgischen Konfession und „Praeceptor Germaniae", schrieb „wider die 12 Artikel der Bauernschaft". Es sei, führte er aus, ein Frevel und Gewalt, daß die Bauern nicht länger leibeigen sein wollten; die Schrift lasse sich dafür nicht anziehen, denn sie meine die geistliche Freiheit. „Eusserlich tregt eyn Christ dültiglich und frolich alle weltlich und bürgerlich Ordnung und braucht dere, als speyß und kleyder, er kan l e y b e y g e n und unterthan seyn, er khan auch edel und e y n regent seyn, er kan sich Saxischer recht oder Romischer recht y n brauch und teylung der gutter hallten. Solch ding irret als den glawben nicht, ja das Evangelium fordert, das man solche weltliche Ordnungen u m b fridens willen halte." In seinem Obrigkeitsverständnis und in der Frage des Widerstandsrechts folgte neben weiteren Reformatoren auch Johannes Brenz der Linie der Wittenberger Theologen: ein treuer Schüler Luthers, auch w e n n er die Lage durchaus pragmatisch beurteilte. Neben den zwölf Artikeln stehen drei weitere zentrale D o k u m e n t e des südwestdeutschen Bauernkrieges: Artikelbrief, Bundesordnung und Verfassungsentwurf. Beim Artikelbrief der Schwarzwälder Bauern handelt es sich seinem Inhalt nach nicht, w i e die marxistische Forschung annahm, u m eine Programmschrift, „sondern u m die Aufforderung, der ,christlichen Vereinigung' beizutreten, deren Charakter und Ziele eine Reihe von beigelegten Artikeln genauer umreißen und vorstellen sollte" (Gottfried Seebaß). Die Ziele der Empörung blieben freilich nicht auf die Zwölf Artikel beschränkt. Für viele Bauern und ihre Anführer bot das Göttliche Recht nur den Mantel für weitergehende Ansprüche auf eine neue politische Ordnung, in welcher das Landvolk gleichberechtigt neben den übrigen Ständen erschien. „Die Franken wollten einen neuen Staat aufrichten, in dem Adel, Geistlichkeit und Bürgertum sich nach gemeinen Bürger- und 127
IV. Reform und Umbruch Bauernrechten halten sollten und der Landesfürst als einziger H e r r über einen freien, zu mäßigen Abgaben verpflichteten Bauernstand herrschen sollte. Die Elsässer wollten sogar nur den Kaiser als Herren gelten lassen. U n d die Markgräfler, die zu den wenigen Bauern im Reich gehörten, die landständische Rechte besaßen, wollten einen reinen Bauernstaat aufrichten, in dem jedes A m t von Bauern besetzt und der Markgraf selbst ein Bauer werden sollte. N o c h weiter gingen die Kraichgauer, die offen eine Bauernrepublik erstrebten. Sie forderten nicht mehr Gleichberechtigung, sondern Alleinherrschaft und Entrechtung der anderen Stände" (Günther Franz). Hinter solchen verfassungspolitischen Plänen traten die wirtschaftlichen Gravamina zurück, auch solche gegen die großen Monopole und Fuggereien und die Verschlechterung der zersplitterten, ungeordneten M ü n z e . Bezeichnenderweise spielte auch die Judenfrage keine entscheidende Rolle, obgleich einzelne Juden sich allerorten Plünderungen hatten gefallen lassen müssen. Kommunistische Kampfansagen ließen sich z w a r vernehmen, fanden aber nur wenig Widerhall. Den Aufstand trugen die Dorfehrbarkeiten: Schultheißen und Richter, Gastwirte und Schmiede, die reicheren Bauern, die sich die Position im Staat erringen wollten, die ihrer wirtschaftlichen Funktion entsprach. Die Quellen bezeugen immer wieder, daß die wohlsituierten Untertanen viele ärmere, von den Vorberatungen zunächst ausgenommene Bauern und Taglöhner z u m Anschluß überredeten oder gar zwangen. Das Ende des bäuerlichen Kampfes für ein genossenschaftliches Volks-, gegen ein obrigkeitliches Herrschaftsrecht traf die Unterlegenen entscheidend und schwächte sie, w e n n auch nicht überall im gleichen Maße, für Jahrhunderte. Strafgelder und Brandschatzungen ließen sich verschmerzen. Doch der Verlust von zehn bis fünfzehn Prozent der gesamten wehrfähigen Mannschaft der Aufstandsgebiete, der wagemutigsten und beweglichsten Kräfte des Bauern- und städtischen Kleinbürgertums, blieb nach Lage der Dinge unaufholbar. Der Sieg gehörte dem Landesfürstentum, das den Aufstand niedergeworfen hatte, ohne daß Kaiser und Reich auf dem Plan erschienen wären. A u c h den kleineren Adel und die Kirche schwächte der Krieg. Die weitere, selbständige kirchliche Linie des Bauerntums lief entweder zurück zur alten Kirche oder hin z u m nichtkirchlichen Neuerertum, z u m schwärmerischen Sektenwesen. „Es kann nicht w o h l bezweifelt werden, daß dadurch dem Luthertum Teile seiner besten, zeugfähigen Kraft, die Berührung mit dem eigentlichen Volksboden, genommen w u r d e n " (Joseph Lortz). Der Landesherr, nach dem Ende des alten Ständeregiments auf dem Weg z u m absoluten Territorialstaat, w u r d e in den protestantischen Gebieten unter Luthers Zuspruch zugleich Herr der Kirche, Summus Episcopus. 128
3. Der Bauernkrieg 1525 Die harten Strafmaßnahmen lagen im Rahmen der Sanktionsmöglichkeiten eines z w a r differenzierten, jedoch grausamen zeitgenössischen Strafrechts. D e m Großteil der Bestraften gegenüber verzichtete die O b rigkeit auf allzu rigide Sanktionen. Malte H o h n hat gezeigt, daß die Qualität der Strafverfahren wesentlich davon abhing, zu welchem Zeitpunkt sie erfolgten. In finanzieller Hinsicht dürften sich die Obrigkeiten für die ihnen entstandenen Schäden und Kosten bei den Aufständischen ausreichend erholt haben — über streitige oder gütliche Verfahren, teilweise auch über Umlagen. Die fast überall erhobenen Brandschatzungsgelder ersetzten die Kosten der Niederschlagung des Aufstands weitgehend. Kapitulationen und Huldigungen stellten das alte Herrschaftsgefüge wieder her. Das A u s m a ß und die Tragweite der bäuerlichen Niederlage von 1525 w i e überhaupt das politische Gewicht des Bauernstandes bezeugt der Umstand, daß der Landmann seine Befreiung im ausgehenden 18. und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht aus eigener Kraft erstritt, sie vielmehr als Destinatar obrigkeitlichen Wohlwollens erreichte. Die Niederlage schwächte den an Zahl stärksten Stand für knapp drei Jahrhunderte im politischen Leben eines vielgespaltenen Volkes. Aus den Reihen des Bauerntums gingen auch k a u m noch geistige Führer mehr hervor — Luthers und Zwingiis Väter waren aus der Bauernschaft aufgestiegen. N o c h im 19. Jahrhundert und in seinen Parlamenten stand der Bauer abseits. Das industrielle Zeitalter, das folgte, drängte ihn erneut in den Hintergrund. Gleichwohl darf, w i e neuere Erkenntnisse zeigen, die Niederlage von 1525 nicht überschätzt werden. In manchen Territorien verbleibt den Bauern noch im 17. und 18. Jahrhundert ein beachtlicher Anteil an der Ausgestaltung der rechtlichen Verfassung und der Herrschaftswirklichkeit. „Dem frühmodernen Staat stellen die ,Christlichen Vereinigungen' und ,Landschaften' Modelle einer neuen Gesellschafts- und Herrschaftsordnung gegenüber, die trotz ihres revolutionären Gehaltes nach der Niederschlagung des Aufstandes in Oberdeutschland vielfach Grundlage eines Ausgleichs zwischen Herren und Bauern w u r d e n und, w i e Blickle überzeugend nachweisen kann, entgegen der bisherigen Auffassung zu einer spürbaren Verbesserung der rechtlichen und politischen Stellung der Bauern geführt haben" (Günther Franz). Nicht überzeugen kann die propagandistische Linie, die Publikationen der vergangenen D D R vom Bauernkrieg zu den Produktionsgenossenschaften der Gegenwart zogen, die nach dem Willen der Autoren als Erfüllung der alten bäuerlichen Ansprüche von 1525 gelten sollten. Das Bauernschlachtpanorama, ein Monumentalbild von Werner Tübke in einem eigenen R u n d b a u zu Frankenhausen aus der DDR-Zeit, blieb als 129
IV. Reform und Umbruch Leistung eines gelehrten Malers mit verblüffenden handwerklichen Fähigkeiten aber gültig und sehenswert: eine bunte Fülle symbolischer und realistischer Aktionen auf gigantischer Fläche setzt das Reformationszeitalter in Szene.
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Criminalis
Carolina
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In seiner berühmten Streit- und Programmschrift „Vom Beruf unsrer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft" urteilte Friedrich Carl von Savigny 1814: „Ich kenne aus dem achtzehnten Jahrhundert kein deutsches Gesetz, welches in Ernst und Kraft des Ausdrucks mit der Peinlichen Gerichtsordnung Karls des Fünften verglichen werden könnte." A u c h die der Carolina im anschließenden Jahrhundert folgenden territorialen Ordnungen übertrafen das große Strafrechtswerk an begrifflicher Abstraktion und Schärfe der getroffenen Distinktionen durchaus nicht. In der Tat: „Kaiser Karls V. und des heiligen R ö m i schen Reichs peinlich Gerichtsordnung" von 1532 kann als sprach- und rechtsschöpferisches D o k u m e n t ersten Ranges gelten. Die v o m Reichstag beschlossene, den N a m e n des Reichsoberhaupts tragende Konstitution ordnete maßvoll und zukunftweisend das prozessuale und materielle Strafrecht ihrer bewegten Zeit und heilte oder linderte die Gebrechen einer teils verwildert-ungehemmten, teils unsicher gewordenen und zerfahrenen Rechtspflege. Es ist das Verdienst dieser Satzung, die obrigkeitliche Strafrechtspflege durchgesetzt und zugleich gebunden zu haben. Sie hat dem modernen Richtertum den Weg bereitet, die römisch-oberitalienischen w i e kanonistischen Begriffe und Doktrinen mit dem einheimischen H e r k o m m e n verschmolzen und damit der gemeindeutschen Strafrechtswissenschaft eine Grundlage geschaffen. Die Carolina ist nicht das Werk des „allerdurchleuchtigsten, großmächtigsten, unüberwindlichsten Kaisers", auf den sie hinweist, sondern das Verdienst des ritterlichen Moralisten, Dichters und Gerichtsund Freiherrn Johann von Schwarzenberg und Hohenlandsberg (1463 oder 1465-1528). „Ein adliger Volksmann, ohne schulmäßige Bildung und ohne Vorgänger, getrieben von der Verantwortung seines Richteramts und gebunden in seinem Gewissen, ist Schwarzenberg in zäher Arbeit der Selbsterziehung zu einem der großen Rechtsdenker der N a tion geworden. Ohne einer besonderen Strömung des zeitgenössischen H u m a n i s m u s anzugehören, erscheint er doch als echter Zeuge der damaligen Erneuerung des deutschen Geistes" (Erik Wolf). Nicht im Sinn anspruchsvoller Gelehrsamkeit, sondern mit volkstümlicher, religiös bestimmter, praktischer Vernunft hat Schwarzenberg auf Zeitgenossen und 135
IV. Reform und Umbruch N a c h w e l t gewirkt. Mancher Zug im Charakter dieses Mannes und seiner Arbeit erinnert an Eike von Repgow. Beide sind Figuren einer Ubergangszeit. Beide sind nicht des Rechts Gelehrte, sondern Kundige. Beide geben ihr Recht in volkstümlicher Sprache. Johann Freiherr von Schwarzenberg und Hohenlandsberg entstammte einem vermögenden Adelsgeschlecht Frankens. Seiner ritterlichen Herkunft entsprachen die Jugendjahre, die der Erziehung zu körperlicher Tüchtigkeit, dem Turnierspiel und dem Knappendienst galten. In Abenteuern und Zechereien lebte sich die kraftvolle N a t u r des jungen Edelmannes zeitgemäß aus, bis ein Mahnbrief des erzürnten Vaters dem ungebundenen Leben, der verschwenderischen Spielleidenschaft und dem Zutrinken ein Ende setzte. Schon bald nach seiner Heirat zählte Johann von Schwarzenberg z u m Gefolge König Maximilians. W i e viele seiner Standesgenossen nahm er in der Folge fürstliche Dienste, zuerst des W ü r z b u r g e r Bischofs und Domkapitels. M i t der Pilgerfahrt ins Heilige Land 1493 genügte er einem Anspruch seiner Zeit und seines Standes. Zu Beginn des neuen Jahrhunderts trat Schwarzenberg ein fürstbischöfliches A m t zu Bamberg an, das er lange und erfolgreich versehen sollte: den Vorsitz des Hofgerichts. Als höchster weltlicher Bediensteter am Bischofshof w i e als Territorialherr und Zentrichter eigener Herrschaftssprengel lernte er die N ö t e der Strafrechtspflege kennen. Schwarzenbergs Gerechtigkeitssinn empfand die Mängel der Justiz stark. Das mittelalterliche Straf- wie Verfahrensrecht zeigte sich dem anschwellenden Verbrecherunwesen einer von Krisen erschütterten Welt nicht mehr gewachsen. R a u b - und fehdelustige Strauchritter und Schnapphähne, das buntscheckige fahrende Volk herrenloser Soldknechte, Gaukler und Kesselflicker, verwilderter Wallfahrer und Scholaren, vertriebener J u d e n und Zigeuner bildeten eine Landplage und den Nährboden für ein gefährliches Gewohnheitsverbrechertum. Die privatrechtlichen Züge mittelalterlicher Strafjustiz standen der Verbrechensverfolgung im Wege: die Ablösbarkeit der Sanktionen, die formalen Beweismittel des Reinigungseides und der Grundsatz: w o kein Kläger, da kein Richter. H i n z u k a m die Rechtszersplitterung im Gefolge der zahlreich sich entwickelnden und abschließenden Landeshoheiten. Viele Obrigkeiten suchten die gewerbsmäßigen Verbrecher und „schädlichen Leute" durch ein grausames und summarisches Strafverfahren niederzuhalten. Die Nürnberger hängen keinen, sie hätten ihn denn, hieß ein geflügeltes Wort, das die gesetzlose W i l l k ü r der Zeit witzig umschrieb. Das Eindringen fremder Rechte, des römischen und kanonischen, aus Oberitalien vermehrte die Rechtsunsicherheit. „ N u n w u ß t e kein Mensch mehr, w a s eigentlich rechtens sei, in diesem Wirrsal landschaftlich zersplitterten Volksrechts, willkürlicher obrigkeitlicher Strafrechts136
4. Constitutio Criminalis Carolina praktiken und dem ungelehrten Schöffen unverständlichen fremden Rechts" (Gustav Radbruch). Angesichts solcher Gebrechen der Strafjustiz genügten dem richterlichen Ethos und der tatkräftigen Natur Schwarzenbergs die Aufrufe in seinen erzieherischen Mahnschriften nicht länger: eine durchgreifende Reform schien ihm not. Nach mancherlei theoretischen Studien und praktischen Vorarbeiten, verständnisvoll unterstützt von seinem Dienstherrn, dem Bischof Georg III., verfaßte ein gelehrtes Juristenkollegium unter Leitung Schwarzenbergs die Bambergische Halsgerichtsordnung, ein Reformwerk, das 1507 in Kraft trat und bald der Carolina als Vorlage diente. Die Constitutio Criminalis Bambergensis und „mater Carolinae" bietet neben ihren Rechtssätzen Ermahnungen und Hinweise auf den Verfall der Rechtspflege insbesondere in der Vorrede. Die Holzschnitte und Reimsprüche der verschiedenen Drucke sollen den erzieherischen Wert der Halsgerichtsordnung noch erhöhen. So erscheint die Bambergensis trotz ihrer unmittelbaren Verbindlichkeit als ein Rechtsbuch nach Art der alten Spiegel. Den Grundstock bildet fränkisches Gewohnheitsrecht aus der Bamberger Gerichtspraxis des 15. Jahrhunderts. Schwarzenberg ordnete und überarbeitete es nach den Grundsätzen der „gemeyn gescriben keyserlichen rechten". Mit Hilfe gelehrter, der alten Sprache mächtiger Berater und Rechtsverständiger aus seiner dienstlichen U m gebung hat Schwarzenberg Erkenntnisse italienischer Juristenschriften in sein Werk einbezogen. So wenig wie der Sachsenspiegel ist die Bambergensis ein Erzeugnis freier Rechtsschöpfung. „Was sie zum geistigen Eigentum Schwarzenbergs macht, sind die leitenden Prinzipien, der Aufbau der Tatbestände und die sprachliche Kraft des treffenden, vielfach erstmals den Begriff im Deutschen klärenden Ausdrucks" (Erik Wolf). Die Bambergensis bezeugt die profane praktische Rezeption des römisch-italienischen Rechts auf einem Felde, das die legistisch geschulten Doktoren bisher im Unterschied zum ius civile eher vernachlässigt hatten. Die Aufnahme strafrechtswissenschaftlicher Doktrinen entsprang gewiß dem praktischen Bedürfnis nach vereinheitlichender Reform einer ungenügenden Justiz; bei lutherischen Rechtsdenkern wie Schwarzenberg kam indes ein durch die Reformation vertieftes religiöses Empfinden hinzu. „Unser Regiment in deutschen Landen muß und soll nach dem römischen kaiserlichen Recht sich richten, es ist unseres Regiments Weisheit und Vernunft, von Gott gegeben" — so hatte Luther die Rezeption gebilligt. Die Lehrsätze der oberitalienischen Kriminalisten und ihre römischen Quellen — bereits in Deutschland auch bei nicht studierten Richtern, Urteilern und Sachwaltern verbreitet und also guten137
IV. Reform und Umbruch teils übersetzt — standen Schwarzenberg zu Gebote. So hatte etwa der 1298 in Siena verfaßte Tractatus de maleficiis des Albertus Gandinus, eine begrifflich-rationale Darstellung der straf- und prozeßrechtlichen Praxis, schon weitreichende W i r k u n g e n entfaltet. Der u m 1436 entstandene Klagspiegel des schwäbisch-hällischen Stadtschreibers Conrad H e y d e n , von dem elsässischen Humanisten Sebastian Brant 1516 neu herausgegeben und viel gedruckt, gründet in seinem strafrechtlichen Teil auf Gandinus und anderen gelehrten Autoren. Die Wormser Reformation von 1498, „in der erstmalig in breitem Strom italienisches Gedankengut in eine deutsche Strafrechtsquelle hineinströmt" (Eberhard Schmidt), beruht w i e d e r u m auf dem Klagspiegel und zieht außerdem unmittelbar italienische Juristen heran, unter ihnen erneut Gandinus. Die Tradition, in der die Bambergensis steht, läßt sich in Teilen außerdem als kirchenrechtliche identifizieren. Kirchliches Recht hat das mittelalterliche Leben vielfach umfassender, detaillierter und differenzierter normiert als das oft nur lückenhafte und wenig durchsetzungsfähige weltliche Strafrecht. Die Vorschriften der kirchlichen Kanonessammlungen w i e der verbreiteten Bußliteratur bildeten einen wesentlichen Teil des ius utrumque, über den das römische Recht in das Reich einfloß. Die gelehrte Gerichtsbarkeit der Kirche hat hierbei als Vermittlerin und Uberträgerin gewirkt. Einige der Bußbücher und Beichtsummen des späten Mittelalters dürften Schwarzenberg und seinen Helfern am geistlichen Hof zu Bamberg vermutlich vorgelegen haben. Ein geistiges Fundament der Bambergensis und damit auch der Carolina bilden die Schriften Ciceros, aus denen die humanistisch-reformatorische Jurisprudenz der Zeit ihre Maßstäbe gewann. Schwarzenberg hat, unter Mitarbeit Sprachgelehrter, philosophische Schriften Ciceros in bearbeiteten Ubersetzungen publiziert. Allein die posthum 1531 erschienenen Officien haben bis 1565 vierzehn Auflagen erlebt! Auf dem Weg über Ciceros Schriften hat Schwarzenberg das Verhältnis von Gerechtigkeit und Zweckmäßigkeit bedacht und gültig durchgearbeitet. Vor ihm hatte dieses Thema bereits der Nördlinger Stadtschreiber Ulrich Tengler im strafrechtlichen Teil seines wohlinformierten, erstmals mit einer Vorrede Sebastian Brants 1509 gedruckten Laienspiegels angeschlagen in einer Deliberation über die „lieb der gerechtigkait" und „gemain nutz". In Artikel 125 C C B (= Art. 104 C C C ) weist Schwarzenberg den Richter an, „die straff nach gelegenheyt und ergernuß der übelthat, aus lieb der gerechtigkeyt und u m b gemeynes nutz willen zu ordnen und zu machen". Die Spannung zwischen Gerechtigkeit und Gemeinnutz oder Zweckmäßigkeit ist aufgelöst: Gerechtigkeit nicht ein formal-starres Fiat justitia, pereat mundus — vielmehr ein materielles, wahren N u t z e n für Staat und Volk einschließendes Prinzip. Ihm gebührt der Primat vor 138
4. Constitutio Criminalis Carolina aller Staatsräson. Cicero: „Est nihil utile quod idem non honestum, nec quia utile honestum, sed quia honestum utile." Bei Schwarzenberg finden wir: „Und soll sich niemand mit solcher Torheit beladen, daß er etwas, das endlich nutz oder gut sein möge, ohne Ü b u n g wahrer Gerechtigkeit hoffe." Ein Holzschnitt in seinem Officienbuch gibt dem Gedanken bildhaften Ausdruck: Vier Narren mühen sich mit verbundenen A u g e n ab, zwei zusammengekettete Truhen voneinander zu reißen, auf deren einer „Ehrbarkeit, Gerechtigkeit" zu lesen steht und auf deren anderer das Wort „Nutz": „Das Ehrbar hangt dem N u t z e n an, daß solchs kein Mensch je scheiden kann." Johann von Schwarzenberg kann als Urheber der Carolina gelten, auch w e n n er deren Inkrafttreten nicht mehr erlebte und ihren schwerfälligen Werdegang im Reich nur an einigen Abschnitten tätig begleitete. Der Reichstag von Freiburg 1497/1498 begann die Strafrechtsreform mit dem Beschluß, „ein gemein Reformation und Ordenung in dem Reich vorzunehmen, wie man in Criminalibus procediren soll". In der Folge sahen sich beide Reichsregimente an den Arbeiten beteiligt, dann ein besonderer Ausschuß. N a c h mehreren Entwürfen führte der Regensburger Reichstag das R e f o r m w e r k nach mehr als drei Dezennien schließlich zu einem guten Ende. Schwarzenbergs Mitarbeit an der C a rolina fällt w o h l in die Jahre von 1521 bis 1524 und vielleicht noch darüber hinaus, als er am Wormser Reichstag 1521 teilnahm und darauf als Mitglied im zweiten Reichsregiment zu Rate saß. Die partikularistischen Bedenken gegen das R e f o r m w e r k — die Stände suchten ihre eigene Rechtshoheit zu wahren — hatten sich mittels einer salvatorischen Klausel überwinden lassen. Zwar befahl die Vorrede der Carolina den Reichsuntertanen, sich in peinlichen Sachen künftig nach der Ordnung von 1532 zu richten; doch sollte den Ständen dadurch „an ihren alten wohlhergebrachten, rechtmäßigen und billigen Gebräuchen nichts benommen" werden. D e m Landesrecht erhielt sich also ein weiter Spielraum; die Carolina galt grundsätzlich nur subsidiär. Überdies bleibt anzumerken, daß die Carolina, die sich selbst zutreffend „Ordnung" oder „Satzung" nennt, nicht als Gesetz im modernen Sinne mißverstanden werden darf. Das Zeitalter der Kodifikation, welche die Rechtsverhältnisse mit sofortiger durchgreifender Verbindlichkeit für alle Justizorgane regelt, beginnt erst mit dem landesfürstlichen Absolutismus in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Die C a rolina w i l l Richtlinien geben für eine Strafrechtspflege „dem gemeynen rechten, billicheyt und löblichen hergebrachten gebreuchen gemeß". Sie erhebt nicht den Anspruch, an die Stelle der einzelnen Landesrechte ein allgemeinverbindliches, für das ganze Reich gültiges Gesetz zu rücken. Wenn sich die Carolina trotzdem weitgehend durchsetzen konnte, so 139
IV. Reform und Umbruch verdankt sie dies wesentlich ihrem geistigen Rang, der Qualität ihres Inhalts. Ihrer Grundanlage nach ist die Carolina eine Strafprozeßordnung, in welche der Satzungsgeber materielle Strafrechtsnormen eingebettet hat. Wenn die Schwarzenbergsche Reformation das Inquisitionsverfahren in Deutschland auch nicht begründet oder eingeführt hat, so hat sie es doch entscheidend fortgebildet und weiterverbreitet. „Der Inquisitionsprozeß entstand unter Innozenz III. durch die Veränderung eines bereits in der Kirche üblichen Verfahrens, nämlich des Infamationsprozesses. W ä h r e n d hier nach der ex officio festgestellten mala fama (inquisitio famae), falls kein Geständnis vorlag, nur eine Reinigung durch ein iuramentum mit Eideshelfern zugelassen war, w u r d e nun eine inquisitio zur Ergründung der materiellen Wahrheit eingeschoben. Die Beweismittel, vor allem der Zeugenbeweis, w u r d e n dem geltenden Akkusationsprozeß entnommen" (Winfried Trusen). Im Inquisitionsprozeß schreitet der Richter von Amts wegen, ohne die Klage des Verletzten, gegen den Verdächtigen ein. Der Richter führt dabei den Beweis, und z w a r nicht mehr mit formalen Behelfen w i e dem Reinigungseid, dem Leumundszeugen oder dem Gottesurteil, sondern mit rationalen Erkenntnismitteln. Die Verstaatlichung des Strafrechts drängte die Totschlagsühneverträge zurück. Zwei M a x i m e n in ihrer Verschränkung kennzeichnen das neue Verfahren: Der Offizialgrundsatz beinhaltet die Pflicht der Obrigkeit, den Strafprozeß ex officio durchzuführen, im Gegensatz z u m Akkusationsprinzip. Die Instruktionsmaxime gebietet den Organen der Strafrechtspflege, nach der objektiven Wahrheit von Vorwürfen zu forschen, Sachverhalte materiell zu ermitteln; ihr Gegensatz ist die im heutigen Zivilprozeß geltende Parteimaxime. Diese beiden Elemente des Inquisitionsprozesses haben sich w ä h r e n d des Mittelalters gewohnheitsrechtlich entfaltet und vereinigt, vor allem in der geistlichen, dann auch in der Praxis städtischer Gerichtsbarkeit. Einzelne gesetzliche Regeln haben die Entwicklung bestätigt und begleitet. Die wissenschaftlich-systematische Durchdringung des neuen Prozesses stand — beim Fehlen einer Jurisprudenz in Deutschland — lange aus. Während der alte Prozeß dem Verletzten auferlegte, den Verdächtigen zu überwinden, prägte die amtliche Initiative bei der Verbrechensbekämpfung den Inquisitionsprozeß. Der große Anteil der Obrigkeit an einem Verfahren, das die Ermittlung der materiellen Wahrheit bezweckte, führte zu einem fatalen Streben nach dem Geständnis des verhafteten Beschuldigten, der zuerst als bequemstes Beweismittel zu Gebote stand. Blieb das Geständnis des Verdächtigten aus, so glaubten die Rechtspflegeorgane bald, es erpressen zu dürfen. Der neuen Einstellung der Obrigkeiten zur materiellen Wahrheit entsprang die Folter als Ge140
4. Constitutio Criminalis Carolina ständniserzwingungsmittel. Die Folter, Tortur oder Marter (quaestio, cruciatus) hat sich w ä h r e n d des Mittelalters im deutschen Rechtsbereich eigenständig als Instrument des Inquisitionsprozesses entwickelt. Wo die Folter belegt erscheint, indiziert sie das Inquisitionsverfahren. Die ältesten Zeugnisse stammen aus dem 13. Jahrhundert: Das Recht von Wiener Neustadt (1221/30) kennt die Folter ebenso w i e der Schwabenspiegel (Landrecht, c. 375), w o es heißt: „Man sol in (ihn, den durch bestimmte Anzeichen Verdächtigen) witzegen (warnen, bedrängen) mit siegen an der sraiget (am Pranger) und mit starker vancnusse und mit hunger und mit vroste und mit andern ubelen dingen" — bis z u m Geständnis. Im 14. Jahrhundert vermehren sich die Belege. „Die Folter tritt ihren furchtbaren blutigen Siegeszug an, ein trauriger Schatten des Inquisitionsprozesses, dessen historische N o t w e n d i g k e i t im Sinne der Verstaatlichung der Strafrechtspflege im übrigen gar nicht zu verkennen ist, der aber gerade durch die Zulassung der Folter zwecks Geständnis mit seinem eigenen Prinzip, daß die materielle Wahrheit zu ermitteln sei, in einen heillosen Widerspruch geriet. Denn nirgends gerät die Wahrheit in größere Gefahr als da, w o die Folter das Geständnis zu erpressen hat" (Eberhard Schmidt). Die Kirche hat, obwohl ihr kanonisches Strafverfahren die Folter ursprünglich ablehnte, das Mittel der Tortur seit dem 13. Jahrhundert selbst eingesetzt. Bei der Ketzerverfolgung, in den Hexenprozessen, verbreiteten Inquisition und peinliche Frage besonderen Schrecken. Seit der Hochscholastik erschien die Hexerei (Teufelsbündnis oder -buhlschaft) als Verbrechen, crimen magiae, welches das kirchliche w i e das weltliche Recht verfolgten (delictum mixti fori). Reichsrechtliche sedes materiae bildete Art. 109 C C C , der den Schadenzauber (maleficium) mit der Feuerstrafe bedrohte, die schadlose Zauberei indessen dem Ermessen der Urteiler anheimstellte. Die Hexenbulle „Summis desiderantes affectibus" des Papstes Innozenz VIII. aus dem Jahre 1484 hatte den Verfolgungswahn ebenso gesteigert w i e der dazu von dem Dominikaner-Inquisitor Heinrich Institor (Kramer) verfaßte forensische Kommentar, der „Hexenhammer" (Malleus maleficarum) von 1487, dessen Strafkodex die profane Rechtspflege stark beeinflußte. Der häufig als Koautor des Hexenhammers genannte J a k o b Sprenger, ein Ordensbruder Kramers und w i e dieser päpstlicher Inquisitor, k o m m t nach neuerer Einsicht dagegen allenfalls als Urheber der dem Traktat vorangestellten Apologie in Betracht. Im H o c h - und Spätmittelalter empfanden nicht nur Papst und Kirche Häresie und Ketzerbewegung als existentielle Bedrohung, sondern auch die weltliche Herrschaft sah sich gefährdet. Eine w i r k s a m e Bekämpfung erschien nach der Mentalität der Zeit nur durch ein System peinlicher 141
IV. Reform und Umbruch Strafen möglich. „Unter diesem Gesichtspunkt w i r d man daher die Inquisitionsgerichtsbarkeit und das Inquisitionsverfahren gegen Häresie und Ketzerbewegung insgesamt in einem etwas anderen Licht betrachten müssen, als dies in der vielfach akkusatorischen historiographischen Literatur geschieht" (Arno Buschmann). Die Carolina vermied die verhängnisvollen Fehler des Inquisitionsverfahrens nicht: daß es nämlich die staatliche Verbrechensverfolgung dem Richter übertrug, der dadurch Richter und Partei in einer Person wurde, und daß es sich der Tortur bediente. M i t dem Hexenprozeß und der Folter nahm es erst im aufgeklärten 18. Jahrhundert ein Ende, nachdem vor allem der Jesuit Friedrich von Spee (Cautio criminalis contra sagas, 1631) und nach ihm der Hallenser Rechtslehrer Christian Thomasius (Dissertatio de crimine magiae, 1701; De tortura ex foris Christian o r u m proscribenda, 1705; Dissertatio de origine ac progressu processus inquisitorii contra sagas, 1712), schließlich Cesare Beccaria (Dei delitti e delle pene, 1764) dagegen literarisch zu Felde gezogen waren. Die hohe Leistung Schwarzenbergs und der Carolina besteht indessen darin, daß die Schutzfunktion bindender prozessualer Formen oder Regeln gesehen und zur Geltung gebracht ist. „Hier w i r d erstmalig ein wirklich zeitloses Problem erkannt, das Problem von der Bedeutung der prozessualen Formen, die in Gestalt von bindenden Regeln und beruhend auf den mit forensischer Wahrheitsfindung gemachten Erfahrungen den Richter zur Vorsicht und Behutsamkeit z w i n g e n " (Eberhard Schmidt). Es ist Schwarzenbergs große Tat, die Folter in enge Grenzen eingeschlossen zu haben. Die Carolina w i l l die Tortur allein bei einem der Gewißheit nahekommenden Verdacht angewendet wissen. Die Artikel 24 bis 44 C C C führen das M a ß der für die peinliche Frage erforderlichen „genügsamen Anzeigungen" in anschaulichen Beispielen vor Augen. Die „Territion" bereits soll den Angeklagten z u m Geständnis veranlassen, der Marter also vorausgehen (Art. 46 C C C ) , und eine Anleitung zur Verteidigung erteilt werden (Art. 47 C C C ) . Artikel 56 C C C verbietet Suggestivfragen, Artikel 54 C C C gebietet die „Verifikation". „Item die peinlich frag soll nach gelegenheyt des argkwons der person, vil, offt oder wenig, hart oder linder, nach ermessung eyns guten vernünfftigen richters fürgenommen werden, und soll die sag des gefragten nit angenommen oder auffgeschriben werden, so er inn der marter, sondern soll sein sag thun, so er von der marter gelassen ist" (Art. 58 C C C ) . Blieben die Häufigkeit zulässiger Wiederholung der Folter und die anwendbaren Zwangsmittel auch unbegrenzt und ungeregelt — w a s der erfinderischen Grausamkeit allen R a u m ließ —, so gebührt der Bambergensis und der Carolina doch das Verdienst, alles ihrer Zeit Mögliche
142
4. Constitutio Criminalis Carolina getan zu haben, u m Mißbrauche einzudämmen und der Verurteilung Unschuldiger vorzubeugen. Scharfsichtig und weise hat Schwarzenberg im Richterproblem die zentrale Frage des Strafprozeßrechts gesehen. D i e Ansprüche des richterlichen Amtes und ein ausgeprägtes Richterethos führen Schwarzenberg die H a n d gerade bei seiner Indizienlehre. Richterliche „ m ä z e " und „bescheidenheit" hatte schon die Wormser Reformation 1498 als Voraussetzungen einer gerechten Strafrechtspflege gefordert; der Sinn dieses Postulats durchdringt auch in der Carolina alle dem richterlichen A m t geltenden Regeln. „Erstlich setzen, ordnen und wollen wir, daß alle peinlich gericht mit richtern, urtheylern und gerichtsschreibern versehen und besetzt werden sollen, von frommen, erbarn, verstendigen und erfarnen personen, so tugentlichst und best dieselbigen nach gelegenheyt jedes orts gehabt und zu b e k o m m e n sein" (Art. 1 C C C ) . Schwarzenberg geht über die aufgerufenen Richtertugenden noch hinaus, wenn er letztlich allein dem wissenschaftlich ausgebildeten Berufsjuristen die Fähigkeit zuspricht, die in der Strafrechtspflege besonders einschneidenden Probleme der Wahrheits- und Rechtsfindung zu meistern. D e n Schwächen und UnZuverlässigkeiten der zunächst noch in großer Zahl weiter amtenden Laienrichter hat Schwarzenberg dadurch zu steuern gesucht, daß er in ernsten prozessualen und materiellen Fragen auf den „ R a t der Rechtsverständigen" hinwies: „ S o sollen die richter, w o inen zweiffein zufiele, bei den nechsten hohen schulen, Stetten, communen oder andern rechtverstendigen, da sie die underricht mit dem wenigsten kosten zu erlangen vermeynen, rath zu suchen schuldig sein" (Art. 219 C C C ) . In ihrem Strafensystem teilt die Carolina Härte und Grausamkeit ihres Zeitalters (vgl. Art. 192 bis 198 C C C ) : E s drohen der Tod durch Feuer und Schwert, Vierteilung, Rad, Galgen und Wasser; schwere Verstümmelungen wie „abschneidung der Zungen", „abhawung der finger", „oren-abschneiden". D i e Strafen „an leib, leben oder glidern" herrschen vor. Daneben begegnen Staupenschlag, Pranger, Landesverweisung und Infamie. Ein Fortschritt liegt im Ausschluß von Wergeid und Buße: mittelalterliche private Rache und Vergeltung oder ihre A b l ö s u n g und Vermeidung treten fast völlig zurück. D e r Freiheitsentzug erscheint als Sicherungshaft bei gefährlichen Verbrechern bis zur offenkundigen Besserung (Art. 108, 176, 195 C C C ) ; die Bambergensis sah demgegenüber noch „ewiges Gefängnis" ohne Berücksichtigung der Besserungsmöglichkeit vor (Art. 202 C C B ) . Als eigentliche Strafhaft begegnet der Freiheitsentzug — beim Zustand der damaligen Gefängnisse wohl überhaupt eher eine besondere Leibesstrafe — im weltlichen Vollzug noch kaum (vgl. Art. 157 C C C ) . Ursprünglich entstammt sie der kirchlichen Praxis, zunächst der Klosterdisziplin, dann der Ketzerinquisition. D i e 143
IV. Reform und Umbruch Freiheitsstrafe begann die Leibesstrafe erst zurückzudrängen, als sich 1595 bis 1597 in den beiden Amsterdamer Zuchthäusern — den Vorbildern — Anstalten entwickelten, in denen der Freiheitsentzug bewußt die Resozialisierung des Täters durch Erziehung zur Arbeit anstrebte. Den Gedanken der Besserung des Täters als Strafzweck kehrt die Peinliche Gerichtsordnung von 1532 noch nicht hervor; die Strafzwecke der Vergeltung (Talion) und der Unschädlichmachung des Täters standen vielmehr beherrschend im Vordergrund. Immerhin sucht die Carolina die Verbrechen in ihrer verschiedenen Art zu bewerten und die Strafen entsprechend abzustufen und zu differenzieren. A n die Stelle bisher üblicher allgemeiner Bezeichnungen und bloßer N a m e n der Verbrechen setzt sie in vielen Fällen einen festumrissenen Tatbestand. Der Fundamentalsatz „nulla poena sine lege", zuerst von Feuerbach 1801 lateinisch formuliert, blieb allerdings den Kodifikationen der Aufklärungszeit und den Verfassungen des bürgerlichen Zeitalters vorbehalten; die Carolina ließ dagegen den Analogieschluß zur Lückenfüllung noch ausdrücklich zu: „Item ferner ist zu uermercken, inn w a r peinlichen feilen oder verklagungen die peinlichen straff inn disen nachuolgenden artickeln nit gesetzt oder gnugsam erklert oder verstendig wer, sollen richter vnd vrtheyler (so es zu schulden kompt) radts pflegen, wie inn solchen zufelligen oder vnuerstendtlichen feilen, vnsern Keyserlichen rechten vnd diser vnser Ordnung am gemessigsten gehandelt vnnd geurtheylt werden soll, vnd alßdann jre erkantnuß darnach thun, w a n n nit alle zufellige erkantnuß vnd straff inn diser vnser Ordnung gnugsam mögen bedacht und beschriben w e r d e n " (Art. 105 C C C ) . Die allgemeinen Strafrechtsbegriffe erscheinen von den einzelnen Straftatbeständen z w a r nur teilweise abgelöst; doch treten dem Leser gewichtige und scharfsinnige Ansätze zu einem „Allgemeinen Teil" entgegen (Art. 139 ff., 177 bis 179 C C C ) . Als Beispiel sei der Versuchstatbestand hier angeführt (Art. 178 C C C ) : „Item so sich jemandt eyner missethatt mit etlichen scheinlichen wercken, die zu volnbringung der missethatt dienstlich sein mögen, understeht und doch an volnbringung der selben missethatt durch andere mittel wider seinen willen verhindert würde, solcher böser will, darauß etlich w e r c k — als obsteht — volgen, ist peinlich zu straffen; aber in eynem fall herter dann in dem andern, angesehen gelegenheit und gestalt der sach; darumb sollen solcher straff halben die urtheyler, w i e hernach steht, radts pflegen, w i e die an leib oder leben zu thun gebürt." Endlich erhebt die Carolina die Schuldhaftung z u m strafrechtlichen Prinzip. Die Satzung unterscheidet Vorsatz und Fahrlässigkeit und erklärt zufällige Taten, für die der Täter keine Schuld trägt, für straffrei (vgl. Art. 146 C C C ) . Das Problem der Zurechnungsfähigkeit bei J u 144
1. Der Westfälische Frieden gendlichen und Geisteskranken sieht Artikel 179 C C C , der auf die U m stände des Einzelfalles abstellt. Artikel 164 C C C will junge Diebe milder bestraft wissen; „wo aber der dieb nahent bei vierzehen jaren alt w e r und der diebstall groß oder obbestimpt beschwerlich umbstende so geverlich dabei gefunden würden, also daß die boßheyt das alter erfüllen möcht, so sollen richter und urtheyler deßhalb auch . . . radts pflegen . . . " (Malitia supplet aetatem!). Ganz allgemein soll die Strafe der „gelegenheyt und ergernuß der übelthatt", also den Umständen des Falles und den besonderen Verhältnissen des Täters Rechnung tragen (vgl. Art. 104 C C C ) . Diese Individualisierung erlaubte die Berücksichtigung strafverschärfender, -mildernder oder -ausschließender Umstände (vgl. Art. 137, 166, 175 C C C ) — ein erheblicher Fortschritt gegenüber der spätmittelalterlichen Strafrechtspflege!
V. Das Heilige Römische Reich deutscher Nation 1648-1806
1. Der Westfälische
Frieden
BÄTE, Ludwig (Hg.): Der Friede in Osnabrück 1648. Beiträge zu seiner Geschichte, 1948; BECKER, Winfried: Dreißigjähriger Krieg und Zeitalter Ludwigs XIV. (1618-1715), 1995 = Quellenkunde zur deutschen Geschichte der Neuzeit von 1500 bis zur Gegenwart, Bd. 2; BECKER, Winfried: Der Westfälische Friede im historisch-politischen Urteil der Nachwelt, Zeitschrift f. bayer. Landesgeschichte 62, 1999, 439-466; BLERTHER, Kathrin: Der Regensburger Reichstag von 1640/1641, 1971; BÖCKENFÖRDE, Ernst-Wolfgang: Der Westfälische Frieden und das Bündnisrecht der Reichsstände, in: Der Staat 8, 1969, 449-478; BRAUBACH, Max: Der Westfälische Friede, 1948; BRAUBACH, Max u. REPGEN, Konrad (Hgg.): Acta Pacis Westphalicae, 1962 ff.; BRUNNER, Otto: Land und Herrschaft. Grundfragen der territorialen Verfassungsgeschichte Österreichs im Mittelalter, 5 1965 (Nachdr. 1990); BURKHARDT, Johannes: Der Dreißigjährige Krieg, 1992; DLCKMANN, Fritz: Der Westfälische Friede und die Reichsverfassung, in: Forschungen u. Studien z. Gesch. d. Westfälischen Friedens, 1965, 5-32; DlCKMANN, Fritz: Der Westfälische Frieden, 7 1998; DIETRICH, Richard: Landeskirchenrecht und Gewissensfreiheit in den Verhandlungen des Westfälischen Friedenskongresses, in: HZ 196, 1963, 563-583; DÖRING, Detlef: Untersuchungen zur Entstehungsgeschichte der Reichsverfassungsschrift Samuel Pufendorfs (Severinus de Monzambano), in: Der Staat 33, 1994, 185-206; DÖRING, Detlef: Der Westfälische Frieden in der Sicht Samuel von Pufendorfs, in: Zeitschr. f. Hist. Forschung 26, 1999, 349-364; DuCHHARDT, Heinz: Studien zur Friedensvermittlung in der frühen Neuzeit, 1979; DuCH145
V. Das Heilige Römische Reich deutscher Nation 1648-1806 Heinz: Westfälischer Friede und übernationales System im Ancien Regime, in: HZ 249, 1989, 529-543; D U C H H A R D T , Heinz: Altes Reich und Europäische Staatenwelt 1648-1806, 1990; D U C H H A R D T , Heinz (Hg.): Der Westfälische Friede. Diplomatie — politische Zäsur — kulturelles Umfeld — Rezeptionsgeschichte, 1998 = HZ Beihefte (NF) Bd. 26; D U C H H A R D T , Heinz (Hg.): Bibliographie zum Westfälischen Frieden, bearb. v. Eva O R T L I E B und Matthias S C H N E T T G E R , 1996 = Schriftenreihe der Vereinigung zur Erforschung der Neueren Geschichte, Bd. 26; E R D M A N N S D Ö R F E R , Bernhard: Deutsche Geschichte vom Westfälischen Frieden bis zum Regierungsantritt Friedrichs des Großen 1648-1740, 2 Bde., 1932 (Nachdr. 1962); E R N S T B E R G E R , Anton: Ausklang des Westfälischen Friedens am Nürnberger Reichskonvent 1648-1650, in: ZBLG 31, 1968, 259-285; F A S S B E N D E R , Bardo: Die verfassungs- und völkerrechtsgeschichtliche Bedeutung des Westfälischen Friedens von 1648, in: Ingo E R B E R I C H u.a. (Hg.), Frieden und Recht, 1998, 9-52; F R A N Z , Günther: Der Dreißigjährige Krieg und das deutsche Volk. Untersuchungen zur Bevölkerungs- und Agrargeschichte, 4 1979; F R I S C H , Michael: Das Restitutionsedikt Kaiser Ferdinands II. vom 6. März 1629. Eine rechtsgeschichtliche Untersuchung, 1993; F R I T Z , Wolfgang D. (Bearb.): Die Goldene Bulle Kaiser Karls IV. vom Jahre 1356. Text, 1972 = Fontes iuris Germanici antiqui XI; G A U S S , Julia (Hg.): Johann Rudolf Wettsteins Diarium 1646/47, 1962; G ö T S C H M A N N , Dirk: Das Jus Armorum. Ausformung und politische Bedeutung der reichsständischen Militärhoheit bis zu ihrer definitiven Anerkennung im Westfälischen Frieden, in: Blätter für deutsche Landesgeschichte 129, 1993, 257-276; H A A N , Heiner: Der Regensburger Kurfürstentag von 1636/1637, 1967; H A U G - M O R I T Z , Gabriele: Kaisertum und Parität. Reichspolitik und Konfessionen nach dem Westfälischen Frieden, in: ZHF 19, 1992, 445-482; H E C K E L , Martin: Deutschland im konfessionellen Zeitalter, 1983 = Kl. Vandenhoeck-Reihe 1490; H E C K E L , Martin: Der Westfälische Friede als Instrument internationaler Friedenssicherung und religiös-weltanschaulicher Koexistenzordnung, in: JuS 1988, 336-341; H E C K E L , Martin: Itio in partes. Zur Religionsverfassung des Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation, in: Gesammelte Schriften Bd. II, 1989, 636-736; H E C K E L , Martin: „Zelo domus Dei"? Fragen zum Protest des Heiligen Stuhls gegen den Westfälischen Frieden, in: Humaniora. Festschr. f. Adolf Laufs, 2006, 93—121; H O L Z F U R T N E R , Ludwig: Katastrophe und Neuanfang. Kriegsschäden im Dreißigjährigen Krieg im Spiegel der Stiftsbücher oberbayerischer Klöster, in: ZBLG 58, 1995, 553-576; H Ö F E R , Ernst: Das Ende des Dreißigjährigen Krieges, 2 1998; H Ö V E L , Ernst (Hg.): Pax optima rerum. Beiträge zur Geschichte des Westfälischen Friedens 1648, 1948; I M M L E R , Gerhard: Kurfürst Maximilian I. und der Westfälische Friedenskongreß. Die bayerische auswärtige Politik von 1644 bis zum Ulmer Waffenstillstand, 1992; J A K O B I , Franz-Josef: Zur Entstehungs- und Uberlieferungsgeschichte der Vertragsexemplare des Westfälischen Friedens, Zeitschr. f. Hist. Forschung, Beiheft 19, 1997, 207-221; K A M P M A N N , Christoph: Reichsrebellion und kaiserliche Acht. Politische Strafjustiz im Dreißigjährigen Krieg und das Verfahren gegen Wallenstein 1634, 1992; K A M P M A N N , Christoph: Reichsrecht und politische Strafjustiz im 17. Jahrhundert. Der Wiener Hof und Wallensteins Untergang, in: Vorträge zur Justizforschung. Geschichte und Theorie, Bd. 2, hg. v. HARDT,
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147
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Bernd Christian: Ius Reformandi. Die Entwicklung eines Staatskirchenrechts von seinen Anfängen bis zum Ende des Alten Reiches, 2001 = Jus Ecclesiasticum, Bd. 68; SCHORMANN, Gerhard: Der Dreißigjährige Krieg, 2 1993 = Kl. Vandenhoeck-Reihe 1506; SCHROEDER, Klaus-Peter: Der Dreißigjährige Krieg, das Alte Reich und Samuel von Pufendorf (1632-1694), in: JuS 1995, 959-965; SCHRÖDER, Meinhard (Hg.): 350 Jahre Westfälischer Friede. Verfassungsgeschichte, Staatskirchenrecht, Völkerrechtsgeschichte, 1999 = Schriften z. Europäischen Rechts- und Verfassungsgeschichte, Bd. 30; SENKENBERG, Renatus Karl Frhr. von: Darstellung des Westfälischen Friedens, in: HÄBERLIN, Franz Dominikus: Neuere Teutsche Reichs-Geschichte bis auf unsere Zeiten, Bd. 28, 1804; STEIGER, Heinhard: Das ius belli ac pacis des Alten Reiches zwischen 1645 und 1801, Der Staat 37, 1998, 493-520; STIEVERMANN, Dieter: Politik u n d Konfession i m 18. J a h r h u n d e r t , in: Z H F 18, 1991, 177-199; THIEME,
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Der zu Münster und Osnabrück tagende europäische Gesandtenkongreß beendete drei langwierige militärische Konflikte: den Krieg z w i 148
1. Der Westfälische Frieden
sehen den nördlichen Niederlanden und Spanien, den Krieg zwischen Frankreich und dem Kaiser mit einem Teil der Reichsstände und den Krieg zwischen dem Kaiser und einem Teil der Reichsstände und Schweden. Daß der Friedenskongreß in einer höchst komplizierten, kriegstreibenden Gemengelage machtpolitischer und konfessioneller Gegensätze überhaupt zustandekam, hat ein vorzüglicher Experte der europäischen Außenpolitik von 1648, der venezianische Diplomat Alvise Contarini, in seinem offiziellen Rechenschaftsbericht „als geradezu ein Weltwunder" bezeichnet, und „dieses Urteil aus dem Jahre 1650 ist als historische Rückschau zutreffend" (Konrad Repgen). Der politische Name für das große Werk war „allgemeiner Friede", „pax universalis" oder auch „pax generalis". Mag nationalstaatlich motivierte Kritik diese Benennung bezweifelt haben angesichts der Lockerung und der Gebietsverluste des Reichsverbandes, so hat die Historiographie im Gedächtnisjahr 1998 sie jedenfalls mit guten Gründen bestätigt. Der Friedensschluß hat dreierlei erreicht: ein europäisches Friedenssystem, das Schweden und Frankreich befriedigte, einen Ausgleich der zwischen Kaiser und Reich strittigen Verfassungsfragen unter Stärkung der Territorialherren und nicht zuletzt die Schlichtung des Streits zwischen den Konfessionen unter Einbeziehung der Reformierten. Die römische Kurie mußte sich in die „offenen Rahmenbedingungen der neuen Zeit erst einleben. 1648 sah sie sich damit überfordert" (Martin Heckel). Das Heilige Römische Reich hat die dreißigjährige Kriegsfurie mit ihren ungeheuren Opfern an Blut und Gut, ihren Wechselfällen und Umbrüchen überdauert. Das Friedenswerk von Münster und Osnabrück ordnete den alten Reichsbau nicht von Grund auf neu. Mochte „das Grundgesetz des neuzeitlichen Europa" 1648 die staatlichen Verhältnisse Deutschlands noch ungefüger einrichten, ja dem Sacrum Imperium „den Anfang der tödlichen Krankheit" beibringen, „der es schließlich erlag" (Fritz Dickmann), so gewährleistete es doch zunächst und für lange Zeit dessen Existenz. Die Juristen, die sich über den Charakter dieses „unregelmäßigen und einem Monstrum ähnlichen Staatskörpers" (Samuel von Pufendorf) stritten, sprachen zu Recht vom Fortbestand des Reiches, dem einigenden Band zwischen den zahlreichen partikularen Gewalten und Einzelstaaten, wobei sie — für die noch ferne Zukunft bedeutsam — immer häufiger den Terminus Deutschland als Rechtsbegriff verwendeten. Freilich war „die Form des Ganzen ein Wust von Präzedenzen, Beschlüssen, Richtsprüchen, Wahlkapitulationen" (Golo Mann). Die Reichsverfassung, ein Inbegriff von Gewohnheiten und vertraglich gegründetem Satzungsrecht, bot der ständischen Libertät einen gebrechlichen Rahmen, der vieles, auch eigentlich Notwendiges, auf Dauer unentschieden und in der Schwebe ließ. Die 149
V. Das Heilige Römische Reich deutscher Nation 1648-1806 Rechtsetzung des Reichs und seiner Kreise hat bis zu deren ruhmlosen Ende 1806 den Einungscharakter nicht abgestreift. A n der Spitze des deutschen „gemeinen Wesens" stand wie seit alters der Kaiser aus der übernationalen und katholischen Dynastie der Habsburger, mächtigster Landesherr über Territorien, die z u m Teil weder deutsch noch reichisch waren, und Vorkämpfer einer Religionspartei, der im eigentlichen Deutschland eine andere, noch stärkere gegenüberstand. Reichsfriedensstiftende Autorität und Zutrauen genoß dieses Oberhaupt mit veraltetem Anspruch, das sich mehr auf seine eigenen Hilfsmittel als die des Reichs stützen mußte, nur in beschränktem M a ß e noch. Unter dem Kaiser standen die Mitglieder der Reichsversammlung oder Reichsstände, zuerst die „innersten Glieder und Hauptsäulen des Heiligen Reiches", die Kurfürsten, neuerdings acht an der Zahl: die drei geistlichen Kurerzbischöfe und -kanzler Mainz, Köln, Trier; die fünf weltlichen: König von Böhmen, Pfalzgraf bei Rhein, Herzog von Bayern, Kurfürsten von Sachsen und Brandenburg, sowie ab 1692 der Herzog von Braunschweig-Lüneburg. Die Elektoren und neidvoll angefochtenen Nutznießer der Wahlkapitulationen hüteten angestrengt ihre überkommene und im Reichsgrundgesetz der Goldenen Bulle von 1356 sanktionierte Präeminenz auf den Reichs-, Kreis- und Deputationstagen und hielten sich für eine zweite Reichsregierung. Ihnen im Range folgten die u m ein Vielfaches zahlreicheren Mitglieder des Reichsfürstenrates, auch sie von unterschiedlicher Konfession und Macht: reichsständische Fürsten, Prälaten, Grafen und Herren. Sie oder ihre Vertreter saßen im Reichstag auf einer geistlichen und einer weltlichen Bank, w o die fürstlichen Häuser ihre Viril-, die Grafenkurien und Prälatenbänke ihre Kuriatstimmen führten. Eher einen Fremdkörper in dieser adeligen, altständischen Gesellschaft bildeten die rund fünfzig freien, reichsunmittelbaren Städte. Sie regierten sich selbst durch ihre Magistrate nach ihren jeweiligen, oft äußerst kunstvollen und komplizierten, vielfach oligarchischen und schwerfälligen Verfassungen, übten die Landeshoheit hinter ihren Wällen und — w o vorhanden — in ihren Territorien aus und formierten auf dem Reichstag, in die rheinische und die schwäbische Bank geteilt, das dritte Kollegium. Sie lagen über das ganze Reich zerstreut, in Schwaben freilich zahlreich beieinander. Höchst verschieden auch hier Größe und Gewicht: Angesehene, kapital- und wehrkräftige Kommunen w i e Lübeck und Köln, Bremen und Frankfurt, Nürnberg, Augsburg und U l m übertrafen mit ihrer Macht und der Fähigkeit, sich selbst zu schützen, so manchen Herrn von hohem Adel. Doch neben ihnen fristeten viele reichsfreie städtische Gemeinwesen ihr Dasein, deren alter Glanz verblaßt, deren R u h m vergangen war, die herabgesunken waren oder sich jedenfalls äußerlich 150
1. Der Westfälische Frieden nicht von den mittleren und kleineren Landstädten ringsum abhoben, süddeutsche Ackerstädtchen w i e Isny und Bopfingen, Zell am Harmersbach, Buchau am Federsee und andere. Wenn sie ihre Reichsunmittelbarkeit fortbrachten und weiterschleppten, so dankten sie dies weniger sachlich-natürlichen Gründen als vielmehr dem Spiel der Geschichte. „So w i e die kirchlichen Kämpfe in Deutschland im 16. und 17. Jahrhundert damit endigten, daß die streitenden Bekenntnisse beide unbesiegt sich nebeneinander behaupteten, so w i e das territoriale Fürstentum triumphierte und daneben doch das Kaisertum seinen Bestand hatte, so erlag das reichsstädtische Wesen tatsächlich dem Ubergewicht des Fürstentums, aber seine Erscheinung verschwand deshalb doch nicht von der staatsrechtlichen Musterkarte des Deutschen Reichs, und so w i e es einen landsässigen Adel und eine Reichsritterschaft gab, so blieb auch das deutsche Bürgertum in ein landschaftliches und ein reichsstädtisches geteilt" (Bernhard Erdmannsdörffer). Buntscheckig also tritt uns das Reich u m die Mitte des 17. Jahrhunderts entgegen mit seinen mannigfaltigen, von weltlichen und geistlichen Eigeninteressen geteilten Ständen und seinem in das europäische Kräftespiel verstrickten Oberhaupt. Deutschland selbst in seiner Mittellage bot im großen Krieg, den eine Rebellion in Böhmen ausgelöst hatte, den Schauplatz des Kampfes zwischen den europäischen Großmächten. Als Hauptkontrahenten standen sich die Alliierten Frankreich und Schweden auf der einen, die beiden miteinander verbündeten Linien des H a u ses Habsburg auf der anderen Seite gegenüber. Was die Reichsstände betraf, so hielten sich die katholischen — abgesehen von Kurtrier — im Lager des Kaisers. Die Protestanten w a r e n zu Beginn der dreißiger Jahre mit Schweden und Frankreich gegen Kaiser und Liga zu Felde gezogen. Indessen hatten sich die meisten von ihnen inzwischen durch ihren Beitritt zu dem 1635 zwischen Kaiser Ferdinand II. und Kurfürst Johann Georg von Sachsen abgeschlossenen Prager Frieden wieder auf die Seite des Reichsoberhaupts geschlagen — freilich mit gewichtigen Ausnahmen. So überschnitten sich in vielfältigem Widerstreit die Kraftlinien europäischer und deutscher Politik, territoriale und konfessionelle Interessen, die Belange zentraler Reichsgewalt und partikularer Libertät im alten Dualismus zwischen Kaiser und Ständen. Der lange ersehnte Frieden konnte nur ein europäischer sein, der zugleich das ius publicum Corporis Germanici neu ordnete. Frankreich und Schweden betrieben, als man sich ihm langsam und mühsam näherte, die M i t w i r k u n g der mit ihnen verbündeten deutschen Reichsstände an den Verhandlungen, am Vertrage und an der Garantie des Friedensschlusses. Ihre Ziele bildeten das Gleichgewicht der Konfessionen im Reich und insbesondere im Kurkolleg, ferner die Beschränkung der Verfassungsrechte des Kaisers. 151
V. Das Heilige Römische Reich deutscher Nation 1648-1806 W ä h r e n d das Interesse Schwedens allein den Evangelischen galt, verfolgte Richelieu in weiter gesteckter Ambition die endgültige Dissoziation des Reichsverbandes. Beide Mächte suchten dauernden Einfluß auf die inneren Angelegenheiten des Reiches zu gewinnen und gedachten darum, ihre schon bestehenden Bündnisse mit deutschen Ständen zu einem dauernden System auszugestalten. Daher verfochten sie das B ü n d nisrecht der Reichsstände. In den übrigen Verfassungsfragen erwarteten sie die Initiative der Reichsglieder. In der Tat k a m der eigentliche Anstoß zur umfassenden N e u o r d n u n g des Reiches von einer Gruppe evangelischer Reichsfürsten, die HessenKassel maßgebend bestimmte und die auch Brandenburg von Fall zu Fall unterstützte. Von der Politik dieser kleinen, doch entschlossenen Partei gingen letztlich die Verfassungsänderungen aus, die das Reich im Westfälischen Frieden erfuhr. Sie lebte von der alten trotzigen Opposition gegen kaiserliche Machtansprüche und kurfürstlichen Vorrang, v o m traditionellen Streben nach fürstlicher Libertät und protestantischer Autonomie. Sie suchte die iura reservata, die der Kaiser allein ausübte, zugunsten der iura comitialia zurückzuschneiden, jener Rechte, die dem Reichsoberhaupt nur gemeinsam mit den Ständen zukamen. Die Stände sollten das Reich als solches neben und mit dem Kaiser völkerrechtlich zu vertreten haben — nicht kraft kaiserlicher Vergönnung, sondern ipso iure, kraft Stimmrechts am Reichstag. Diese Politik erreichte durch zielbewußte Einflußnahme auf Frankreich und Schweden die Berufung aller Reichsstände z u m Kongreß; sie entwarf das Verfassungsprogramm, das zu weiten Teilen in die Propositionen der Großmächte einfloß und dann die Verhandlungsgrundlage des Friedenskongresses abgab. Dieser fand nach mancherlei Anläufen und Präliminarien als weltpolitisches Schauspiel auf der engen Bühne von Münster und Osnabrück statt — ein langwieriges, zähes Ringen vieler Diplomaten mit der prunkvollen Außenseite barocker Prachtentfaltung und aufwendigen Zeremoniells, begleitet freilich auch von den abstoßenden Schatten finanzieller Abhängigkeiten und oft praktizierter Korruption. A m Abend des 24. Oktober 1648 endlich w u r d e n im Rathaussaal zu Münster die beiden lateinisch gefaßten Friedensurkunden, das Instrumentum Pacis Osnabrugense (IPO) und das Instrumentum Pacis Monasteriense (IPM) von den kaiserlichen, französischen und schwedischen Gesandten verlesen, verglichen, unterzeichnet und besiegelt, u m danach im Bischofshof die Unterschrift der deputierten reichsständischen Gesandtschaften zu erhalten. A m folgenden Tag verkündete der Stadtsekretär von Münster nach festlichen Dankgottesdiensten in feierlichem Umritt den Einwohnern der Kongreßstadt die Friedensbotschaft, und eilende Boten trugen 152
1. Der Westfälische Frieden
sie an die Höfe und in die Feldlager der Heere. Die Freude des „friedejauchzenden Deutschland" gab sich allerorts Ausdruck, am besten wohl in Paul Gerhardts Gedicht auf den Westfälischen Frieden. Zwar lagen Spanien und Frankreich weiter im Streit, den erst der Pyrenäenfrieden 1659 abschloß; auch lasteten die Ansprüche der kriegsgewohnten „Soldateska" auf weiteren Unterhalt und Abfindung noch auf dem Land; außerdem verhieß das überaus heikle Unternehmen der Friedensexekution und der Restitution neue Schwierigkeiten für die Zukunft. Doch immerhin hatte die Diplomatie den langen Krieg auf seinem Hauptfeld zum Stehen gebracht. Der Westfälische Frieden genoß als Grundgesetz des Reiches bis zu dessen Ende hohes Ansehen in Deutschland: als vielgepriesenes, eifrig studiertes und oft kommentiertes Dokument. Im 19. Jahrhundert, nach den Freiheitskriegen, setzte ein plötzlicher Umschwung ein: nationalstaatlichem Denken mißfiel der Frieden von 1648 als Zeugnis des deutschen Partikularismus mit seiner durch keine nennenswerte Zentralgewalt beschränkten Landeshoheit und seinem ständischen Bündnisrecht. Der Wandel des Geschichtsbildes nach der Katastrophe von 1945, unsere Suche nach Europa, lassen den Westfälischen Frieden wieder in anderem Licht erscheinen. Freilich darf das erfreuliche Interesse für Völkerrecht nicht dazu verleiten, die staatsrechtlichen Züge der Friedensinstrumente und die von den Zeitgenossen als solche empfundenen Gebrechen der Rechtslage Deutschlands zu übersehen. Otto Brunners berühmtes Buch „Land und Herrschaft", das in seiner ersten Auflage 1939 erschien, hat ein methodisches Problem aufgedeckt und prinzipiell gelöst, vor dem der Verfassungs- und Rechtshistoriker steht: Sachverhalte der Vergangenheit in der Sprache seiner Zeit bewußtzumachen, ohne doch die Geschichte durch Subsumtion unter die jeweils modernen Begriffe zu verfälschen. Brunner bekämpfte insbesondere den dem 19. Jahrhundert, seinem Staatsdenken und Gesellschaftsmodell verpflichteten Begriffsapparat, welcher der Historiographie lange den Blick verstellte, nicht zuletzt auch für die Eigenart des westfälischen Friedenswerks. Versuchen wir also, die einstigen Probleme — die uns in manchem an aktuelle erinnern — aus ihren eigenen Voraussetzungen zu verstehen und sie nach den ihnen angemessenen, nicht durchaus nach unseren heutigen Maßstäben zu beurteilen. Der Westfälische Frieden beansprucht für seine Verfassungssätze grundgesetzlichen Rang: „Pro maiori etiam horum omnium et singulorum pactorum firmitudine et securitate sit haec transactio perpetua lex et pragmatica imperii sanctio imposterum aeque ac aliae leges et constitutiones fundamentales imperii nominatim proximo imperii recessui ipsique capitulation! Caesareae inserenda, obligans non minus absentes 153
V. Das Heilige Römische Reich deutscher Nation 1648-1806 q u a m praesentes, ecclesiasticos aeque ac politicos, sive status imperii sint sive non, eaque tarn Caesareis procerumque consiliariis et officialibus q u a m tribunalium omnium iudicibus et assessoribus tanquam regula q u a m perpetuo sequantur praescripta" (IPO Art. XVII § 2 = I P M § 112). Der Vertrag versteht sich so als eine lex fundamentalis, ein Reichsgrundgesetz. Der Begriff begegnet zuerst in der Wahlkapitulation Ferdinands III. von 1636, ist seinem Sinne nach aber älter. Er umfaßt die wichtigsten, satzungsrechtlich festgehaltenen Gewohnheiten der Reichsverfassung: die Goldene Bulle von 1356, den Ewigen Landfrieden von 1495, den Augsburger Religionsfrieden und die Exekutionsordnung von 1555, schließlich den Westfälischen Frieden, auch die Wahlkapitulationen und die Ordnungen der Reichsgerichte. Sorgfältig tradiert, im Corpus recessuum und sonst wieder und wieder gedruckt und wissenschaftlich bearbeitet, gelten diese „Fundamentalgesetze des Heiligen Reiches" bis 1803/1806 fort. Altes steht neben Jüngerem, ohne daß je die Absicht einer umfassenden Neuredaktion oder gar Kodifikation sich ernsthaft regt. Viele Fragen erfahren nie eine abschließende A n t w o r t . Die Stufen einer allmählichen, von den starken beharrenden Kräften langsam gehaltenen und über Jahrhunderte sich hinziehenden Fortentwicklung des Verfassungsrechts bleiben über die jeweils weitergeltenden Grundgesetze sichtbar und lassen doch die U m b r ü c h e im Reichsherkommen k a u m empfinden. Der verfassungsgeschichtliche Prozeß verläuft gewiß nicht kontinuierlich, aber er bringt doch — unaufhaltsam und fortschreitend trotz allem Auf und A b — den Verfall der kaiserlichen Macht, die Lockerung des Reichsverbandes und die Staatlichkeit der größeren Stände. Der Westfälische Frieden markiert das Ende einer von mehreren Phasen des jahrhundertelangen Kampfes u m die A b g r e n z u n g der Befugnisse von Kaiser und Ständen. Die Regeln von 1648 schlossen ihn nicht ab, entschieden ihn aber — unter der Garantie zweier europäischer Großmächte — unwiderruflich. Der verfassungsrechtliche Kern des Friedensschlusses von 1648 findet sich im VIII. Kapitel des Vertrages von Osnabrück (IPO VIII §§ 1 - 5 = I P M §§ 62-66). N a c h § 1 „sollen alle und jede Kurfürsten, Fürsten und Stände des Römischen Reichs in ihren alten Rechten, Vorzügen, Freiheit, Privilegien und der freien Ausübung der Landeshoheit sowohl in geistlichen als auch in weltlichen Angelegenheiten, in ihren Gebieten, Regalien und deren aller Besitz kraft dieses Vertrages so befestigt und bestätigt sein, daß sie von niemandem jemals unter irgendeinem Vorw a n d tätlich gestört werden können oder dürfen". Die Vorschrift bekräftigt mit dem ius territoriale der Reichsstände längst Anerkanntes. W ä h r e n d § 1 also nur Selbstverständliches formelhaft deklariert, spie154
1. Der Westfälische Frieden
geln die nachfolgenden Paragraphen mannigfache Kompromisse sich kreuzender und widersprüchlicher Interessen verschiedener Gruppen. § 2 verschiebt die Gewichte zugunsten der Stände, denen der Vertrag ein Mitspracherecht „sine contradictione" in allen Reichsangelegenheiten, „in omnibus deliberationibus super negotiis imperii", ebenso zusichert wie das Bündnisrecht: „Ohne Widerspruch sollen sie das Stimmrecht in allen Beratungen über Reichsgeschäfte haben, vornehmlich (praesertim) wenn Gesetze zu erlassen oder auszulegen, Krieg zu beschließen, Reichskontributionen auszuschreiben, Werbungen oder Einquartierungen von Soldaten vorzunehmen, neue Befestigungen innerhalb des Herrschaftsgebiets der Stände im Namen des Reichs zu errichten oder alte mit Besatzungen zu versehen, und auch wo Frieden oder Bündnisse zu schließen oder andere derartige Geschäfte zu erledigen sind; nichts dergleichen soll künftig jemals ohne die auf dem Reichstag abgegebene freie Zustimmung und Einwilligung aller Reichsstände geschehen oder zugelassen werden. Vor allem aber soll das Recht, unter sich und mit dem Ausland Bündnisse für ihre Erhaltung und Sicherheit abzuschließen, den einzelnen Ständen immerdar freistehen, jedoch unter der Voraussetzung, daß dergleichen Bündnisse nicht gegen Kaiser und Reich und dessen Landfrieden oder besonders gegen diesen Vertrag gerichtet, sondern so beschaffen seien, daß der Eid, durch den ein jeder dem Kaiser und Reich verpflichtet ist, in allen Stücken unverletzt bleibt." Der § 2 gewährleistet den Reichsständen ein allgemeines und uneingeschränktes Mitbestimmungsrecht. Die Aufzählung und Hervorhebung etlicher gewichtiger Gegenstände — eingeleitet durch das Adverb praesertim — illustriert und betont den Grundsatz durch Regelbeispiele, bedeutet also keine Begrenzung der ständischen Befugnisse im Wege der Enumeration. Freilich entscheidet die Regel damit noch nicht den grundsätzlichen Streit über die kaiserlichen Reservatrechte. Das Reichsoberhaupt verzichtet auf deren ausdrücklichen und generellen Vorbehalt, und die Stände verlangen dafür nicht mehr die enumerative Fixierung der ausschließlich kaiserlichen Zuständigkeiten. Damit bleibt der alte kaiserliche Anspruch auf eine originäre und prinzipiell unbegrenzte Gewalt im Unterschied zur abgeleiteten und vom Reichsoberhaupt nur zugestandenen Kompetenz der Stände letztlich unwiderlegt, wenngleich sich deren Rechtsposition sichtlich verstärkt. Indem der Westfälische Frieden das Bündnisrecht der Reichsstände anerkennt und das des Kaisers an den Konsens der Stände bindet, sanktioniert er die Staatwerdung der Territorien und verstärkt er die föderativen und bündischen Züge der Reichsverfassung. Der bedeutsame Zusatz, daß Bündnisse sich nicht gegen Kaiser und Reich richten dürfen, 155
V. Das Heilige Römische Reich deutscher Nation 1648-1806 den das Friedensinstrument einer von den Ständen einmütig gutgeheißenen Initiative Bayerns verdankt, bezeugt die trotz aller Gravamina und Reservationen fortdauernde Reichstreue der Territorialherren und Städte. Das tiefe Mißtrauen der Reichsstände gegen die fremden Kronen läßt sie nach dreißig leidvollen Kriegsjahren zusammenrücken und belebt den Reichsgedanken, der Rechtsschutz und Existenzsicherung verspricht. Freilich öffnet das Bündnisrecht ausländischen Interessen das Tor weit und von Rechts wegen. „In der politischen Wirklichkeit des Reichs w u r d e das Bündnis- und Assoziationswesen z u m eigentlichen verfassungsgestaltenden Faktor der kommenden Zeit; auf der Grundlage der anerkannten Unabhängigkeit und potentiellen Staatlichkeit der Territorien waren Bündnisse und Assoziationen der einzig erfolgversprechende Weg, zur Wirksamkeit des Reichsgedankens und der Reichsinstitutionen zu gelangen. Andererseits vermochten die Einschränkungen des Bündnisrechts, die Art. VIII § 2,2 IPO enthielt, w e nig normative Kraft zu entfalten. Das außenpolitische Betätigungsfeld namentlich der größeren Territorien w a r praktisch ein nahezu unbegrenztes; weder Bündnisse gegen das Haus Habsburg noch Allianzverträge gegen andere Reichsglieder sind in der Folge verhindert worden; der Defensivcharakter solcher Bündnisse bot eine gute Schutzform" (Ernst-Wolfgang Böckenförde). In seinem § 3 schrieb Artikel VIII des Osnabrücker Friedensvertrages zwischen dem Kaiser und Schweden die Abhaltung eines Reichstages binnen sechs Monaten nach der Ratifikation der westfälischen A b schlüsse vor. Auf diesen nächsten Reichstag verschob der Friedenskongreß die Lösung einer ganzen Reihe teils alter und überaus komplizierter deutscher Verfassungsfragen. Der künftige Konvent sollte die Gebrechen des Reichstags beheben, die Königswahl festlegen und eine beständige Wahlkapitulation aufstellen, das Achtverfahren regeln, über die Ergänzung der Reichskreise, die Erneuerung der Reichsmatrikel und die Wiedereinbeziehung eximierter Reichsstände beschließen und den Komplex der Kontributionen oder Reichsanschläge bereinigen, dann das Polizei- und Justizwesen, insbesondere auch das Kammergericht neu ordnen und schließlich die Reichsdeputationen reorganisieren. Diesen A u f g a b e n unterzog sich erst mit einigem Verzug der Regensburger Reichstag 1653, den der Jüngste Reichsabschied ( J R A ) im M a i 1654 abschloß. Diese Reichsversammlung konnte indessen den westfälischen Auftrag nur teilweise erledigen und vertagte die hinterständig gebliebenen Materien, wobei § 192 J R A den in Aussicht gestellten weiteren Reichstag als Prorogation des verabschiedeten erscheinen ließ. Der aus dem Instrumentum Pacis sich ergebende rechtliche Zwang, eine formelle Beendigung des „nächsten Reichstages" bis zur Entscheidung der 156
1. Der Westfälische Frieden
ausstellenden Themen nicht eintreten zu lassen, wurde so mitursächlich dafür, daß der Reichstag seit seiner Wiedereröffnung im Jahre 1663 auch tatsächlich zur immerwährenden Versammlung wurde; denn die je und je aufgeschobenen Probleme ließen sich auch später nicht mehr regeln. Die Reichsverfassung prägten wesentlich auch die Bestimmungen des Artikels V IPO über die Religionsfragen, die den Krieg mit entzündet und genährt hatten. „In Religionssachen und allen anderen Geschäften", so postulierte § 52, „wo die Stände nicht als einheitliche Körperschaft betrachtet werden können, sowie auch, wenn die katholischen und die Stände Augsburgischer Konfession zu getrennten Verhandlungen auseinandertreten, soll allein gütlicher Vergleich die Streitigkeiten schlichten, ohne Rücksicht auf die Stimmenmehrheit. Was aber die Stimmenmehrheit in Kontributionssachen betrifft, so soll diese Angelegenheit, da sie auf dem gegenwärtigen Kongreß nicht entschieden werden konnte, auf den nächsten Reichstag verschoben sein." Diese Regel der amicabilis compositio und der itio in partes in Religionssachen sanktionierte die von den evangelischen Gesandten mit der Hilfe Schwedens durchgesetzte Gleichberechtigung der Konfessionsparteien bei allen Friedensverhandlungen, die während des ganzen Kongresses als Norm für das Verhältnis der Stände untereinander galt. Auf dieser Grundlage ließ sich der verfassungsrechtliche Platz der Corpora — und das hieß wesentlich: des Corpus Evangelicorum — durch die Reichsrechtswissenschaft (Publizistik) fortan theoretisch untermauern und ausbauen. Das alte Bild vom Reiche als einem mit der Ecclesia untrennbar verbundenen Corpus Christianum hatte endgültig aufgehört zu bestehen. Ferner trat ein, was mancher Gesandte schon während des westfälischen Friedenskongresses vorausgesehen und besorgt hatte: „amicabilis compositio in omnibus ... gibt große confusion" im Reiche. Jeder vom Kaiser proponierte Verhandlungsgegenstand ließ sich bei einigem Bemühen und einiger Anhängerschaft mit einer Religionssache verquicken und in dieser Weise aufhalten, wenn die Corpora nicht freiwillig zustimmten. Der Vertragscharakter der Reichsschlüsse verstärkte sich. So trugen die konfessionellen Corpora nicht wenig zur Schwächung und schließlichen Zerrüttung des Reiches bei. Doch darf ein abschließendes Urteil die positiven Seiten ihrer Existenz nicht übersehen. „Das 18. Jahrhundert hat am Westfälischen Frieden vor allem gerühmt, daß er die Sicherung der Glaubensfreiheit aller Bürger gebracht hat. Die Garanten dieser Freiheit waren die Corpora, die nicht nur die Reichsstände vertraten, sondern in vielen Fällen auch die Untertanen andersgläubiger Landesherrn gegen Bedrückungen schützten. Nicht zuletzt waren sie es, die das Zusammenleben von Angehörigen verschiedener Konfessionen in einem wenn auch nur locker gefügten Staatsverband ermöglicht haben" (Fritz Wolff). 157
V. Das Heilige Römische Reich deutscher Nation 1648-1806 U m die weitreichenden Entscheidungen über die kirchlichen Verhältnisse Deutschlands hat der Kongreß am zähesten gerungen. Seine Beschlüsse in diesem Bereich stießen auf manchen Widerwillen, haben aber auch am meisten z u m R u h m des Westfälischen Friedens beigetragen. Sie brachten die volle Rechtsgleichheit beider Konfessionsparteien unter A u f n a h m e auch der Reformierten und beendeten damit den jahrzehntealten Kampf u m den Augsburger Religionsfrieden und seine Interpretation. Dieser Streit ging u m das von der evangelischen Seite formulierte Prinzip der „aequalitas mutua et reciproca". Die Protestanten wollten die Augsburger Zugeständnisse als Rechtsansprüche, den Religionsfrieden von 1555 als eine „sanctio pragmatica" anerkannt wissen. N a c h katholischer Sicht aber hatte das erste große Friedensinstrument den Augsburgischen Konfessionsverwandten nicht die Gleichberechtigung gebracht, sondern nur gewisse begrenzte Konzessionen geboten, ein Ausnahmerecht zugebilligt. Den Katholiken galt, wie ein Gutachten kaiserlicher Räte formulierte, der Augsburger Vertrag nicht als „sanctio pragmatica", sondern nur als „pactum de non repetendo": die Rechte der einen und wahren alten Kirche blieben vorbehalten, auch w o man darauf verzichtet hatte, sie zu verfolgen. Heftige Kontroversen z w i schen den Konfessionen verursachte das ius reformandi. Der Religionsfrieden sprach es den geistlichen Fürsten durch den „Geistlichen Vorbehalt" ab, enthielt es auch einem Teil der Reichsstädte und der Reichsritterschaft vor. Gewisse inhaltliche Schranken des ius reformandi, welche die katholische Partei der evangelischen aufzuerlegen suchte, widersprachen ebenfalls dem Gleichheitsprinzip. „Die meisten der vor dem Krieg in Praxis und Rechtslehre umkämpften, vom Augsburger Religionsfrieden offengelassenen Fragen z u m ius reformandi sind z w a r nicht w i r k lich materiell beantwortet, aber durch die Normaldatumsregelungen suspendiert und formell ausgeschaltet" (Bernd Christian Schneider). Der Westfälische Frieden brachte das u m die Mitte des 16. J a h r h u n derts erst Angebahnte zu Ende und stellte die eindeutige und unwiderrufliche Parität zwischen den Konfessionsparteien her. Es solle, so bestimmte er in einer den Religionsfrieden ergänzenden und fortführenden N o r m , „zwischen allen und jeden Kurfürsten, Fürsten und Ständen beider Religionen genaue und gegenseitige Gleichheit herrschen, soweit sie der Verfassung des Staatswesens, den Reichssatzungen und gegenwärtigem Vertrag gemäß ist, so daß, w a s für den einen Teil recht ist, auch für den andern recht sein soll, wobei alle Gewalt und Tätlichkeit, wie im übrigen, so auch hier zwischen beiden Teilen auf alle Zeit verboten ist" (Art. V § 1 IPO). Die Reformierten bezog der Vertrag grundsätzlich in den Religionsfrieden mit ein (Art. VII IPO). Er stabilisierte 158
1. Der Westfälische Frieden den Bekenntnisstand und löste die Zwietracht w e g e n des Kirchengutes, indem er das Normaljahr 1624 einführte: „Der terminus a quo für die Wiederherstellung in geistlichen Dingen und für das, w a s mit Rücksicht auf sie in weltlichen Dingen geändert w o r d e n ist, soll der 1. Januar 1624 sein. Somit hat die Wiedereinsetzung aller Kurfürsten, Fürsten und Stände beider Religionen, mit Einschluß der freien Reichsritterschaft sow i e auch der reichsunmittelbaren Städte und Dörfer, vollständig und ohne Vorbehalt zu geschehen, w o b e i alle inzwischen in dergleichen Streitsachen ergangenen, veröffentlichten und angeordneten Urteile, Beschlüsse, Vergleiche, Unterziehungs- oder andere Verträge und Vollstreckungen abgetan und alles auf den Stand des besagten Jahres und Tages zurückgeführt sein soll" (Art. V § 2 IPO). Hatte das Reichsrecht im 16. Jahrhundert neben den Altgläubigen allein die Anhänger der Confessio Augustana geduldet und damit zugleich das ius reformandi auf die Befugnis reduziert, zwischen der römisch-katholischen oder einer Kirchenform nach Maßgabe des Augsburgischen Bekenntnisses zu wählen, so engte der Westfälische Frieden dieses ius reformandi exercitium religionis durch das Normaljahr weiter ein; eigentlich hob er es auf, denn ein Glaubenswechsel der Obrigkeit sollte fortan nicht mehr die Zwangsbekehrung der Untertanen nach sich ziehen. „So garantierte er in den Grenzen des damals Möglichen eine Freiheit von staatlichem Bekenntniszwang, aus der später die volle Gewissensfreiheit erwachsen konnte" (Fritz Dickmann). Die persönliche Glaubens- und Gewissensfreiheit freilich gewährte der Westfälische Frieden selbst noch nicht. A u c h brach er noch keineswegs mit dem Grundsatz, daß in einem Territorium prinzipiell nur eine Konfession bestehen könne, und z w a r das katholische, das lutherische oder das reformierte Bekenntnis. Es solle „außer den obbenannten Religionen im Heiligen Römischen Reich keine andere angenommen oder geduldet werden", postulierte Artikel VII I P O (§ 2 am Ende). Indessen führte das verfassungsrechtlich gesicherte und konkurrierende Nebeneinander der Religionsparteien zu einer zunehmenden wechselseitigen Duldung andersgläubiger Untertanen. Das ius emigrandi schwächte das ius reformandi zusätzlich: Der Osnabrücker Frieden erleichterte die A u s w a n d e rungsfreiheit erheblich und verknüpfte sie mit einem Verbot der Benachteiligung Andersgläubiger in ihren bürgerlichen Rechten; aber er gab dem Landesherrn auch ein Ausweisungsrecht gegenüber solchen Untertanen, die 1624 weder die öffentliche noch private Kultusfreiheit besaßen oder nach 1648 die Religion wechselten (vgl. Art. V §§ 3 5 - 3 7 IPO). Alles in allem beschränkte der Westfälische Frieden die Staatsgewalt im Bereich des Glaubens und der Kirchenordnung und schlug da-
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V. Das Heilige Römische Reich deutscher Nation 1648-1806 mit dem modernen Toleranzgedanken eine Bahn, welche die A u f k l ä rungsphilosophie später fundieren und verbreitern konnte. Fassen w i r die wesentlichen Ergebnisse der Verträge von 1648 zusammen. Der Westfälische Frieden bewirkte die allmähliche U m w a n d l u n g des Reichs in einen Verband von Staaten, die ihr Verhältnis z w a r weithin nach völkerrechtlichen Grundsätzen gestalteten, dabei aber doch an das gemeinsame Reichsrecht und seine Friedenspflichten gebunden blieben. D e m alten Reich wohnte ein supranationaler, ein europäischer Charakter inne: „Ist es nicht auch als ein Modellfall heranzuziehen für einen Föderalismus, der unseren ganzen Kontinent nach und nach erfassen könnte?" (Hans Thieme). Inzwischen gehen die Hoffnungen noch weiter. Die überkommene reichsrechtliche Ordnung erhielt ihre alten Funktionen aufrecht, wobei das europäische Vertragssystem sie mit seinen sich entfaltenden Formen und Mitteln auflockerte und überlagerte. Die europäische Mittellage des Reiches, die ausgreifenden Hausmachtinteressen des Kaiserhauses, das Eingriffsrecht von Frankreich und Schweden, der reichsrechtlichen Garantiemächte der Ordnung von 1648, stellten die Geschicke des R e g n u m Teutonicum unter außenpolitische Vorgaben. Der Westfälische Frieden führte endgültig zur Parität der Religionsparteien und zu einer von Rechts w e g e n doppelkonfessionellen Struktur des Reiches, aus der sich die erste verfassungsmäßige Verpflichtung der Staatsgewalt zur Respektierung des religiösen Gewissens ergab. A u c h territorialpolitisch bestätigte das Friedenswerk ältere Entwicklungen, indem es zugleich neue andeutete. Die Schweizer Eidgenossenschaft und die Generalstaaten schieden definitiv aus dem Reichsverband. Das französische Expansionsstreben nach Osten erreichte den Rhein: Frankreich gewann die 1552 eingenommenen Bistümer Metz, Toul und Verdun, außerdem österreichische Gebiete und Rechte im Elsaß, überdies Breisach und das Besatzungsrecht in Philippsburg. Schweden trat mit Vorpommern und den in ein H e r z o g t u m umgewandelten Stiftern Bremen und Verden in den Kreis der Reichsstände ein. Das D a t u m 1648 markiert indes kein Jahr Null. Die Verfassungsentwicklung, w i e sie sich seit dem 14. Jahrhundert ergeben hatte, w i r k t e mental w i e juristisch fort. „Aus dieser Sicht w a r nun weder der Kaiser noch die Zusammensetzung des Reiches aus größeren, kleineren und kleinen Ständen wegzudiskutieren, das heißt, die in der deutschen Geschichte angelegte hierarchische Form des Reiches gewann an Bedeutung" (Karl Otmar Freiherr von Aretin). Bildete für den katholischen Reichsteil die hierarchische, sakrale F o r m des Reiches die Grundlage seiner Existenz und sah er diese durch den Kampf gegen die Türken bestätigt, so nahm auch das protestantische Deutschland an diesem 160
2. Spätzeit und Ende des Reiches Krieg teil, der die kaiserliche Aufgabe für alle nachvollziehbar machte. Die Türkensiege führten mit anderen Faktoren z u m Wiederaufstieg des Kaisertums und belebten damit zugleich die historisch-sakrale Gestalt des Reiches.
2. Spätzeit und Ende des
Reiches
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V. Das Heilige Römische Reich deutscher Nation 1648-1806 Wirklichkeit des Reiches im deutschen Rechtsdenken des 16. und 17. Jahrhunderts, 1943; WOLGAST, Eike: Staat und Säkularisation, in: Volker RÖDEL, Hans AMMERICH U. Thomas ADAM (Hg.), Säkularisation am Oberrhein, 2004, 23-41 (Oberrheinische Studien, Bd. 23); WOLGAST, Eike: Säkularisation und Säkularisationspläne im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation vom 16. bis zum 18. Jahrhundert, in: Rottenburger Jahrbuch für Kirchengeschichte, Bd. 23, 2004, 25-43; WOLTER, Udo: Der Immerwährende Reichstag zu Regensburg (1663-1806), in: JuS 1984, 837-841; WUNDER, Bernd: Die Kreisassoziationen 1672-1748, in: ZGO 128, 1980, 167-266; WUNDER, Bernd: Die Erneuerung der Reichsexekutionsordnung und die Kreisassoziationen 1654-1674, in: ZGO 139, 1991, 494-502; ZEUMER, Karl (Hg.): Quellensammlung zur Geschichte der Deutschen Reichsverfassung in Mittelalter und Neuzeit, 2 1913 (Nachdr. 1987), 446-539.
Die Ordnung des Alten Reiches läßt sich entgegen manchen, auch alten, Vorurteilen durchaus in ihrem inneren Zusammenhang trotz aller Komplexität rechtlich erfassen und qualifizieren. Es handelt sich u m eine Verfassung, „die eine geschichtlich gewachsene und in den wichtigsten Bereichen nach und nach gesetzlich fixierte Ordnung des politischen Lebens darstellt, die sich immerhin v o m Anfang des 14. J a h r h u n derts bis z u m Beginn des 19. Jahrhunderts allen politischen und militärischen Widrigkeiten z u m Trotz behauptet hat. Keine schlechte Bilanz — vorausgesetzt, man verabschiedet sich von der Vorstellung eines straff organisierten militärischen Kommandostaates als Wunschbild und Maßstab aller politischen Verfassung" (Arno Buschmann). Der grundlegenden vierbändigen Darstellung, die Karl O t m a r von Aretin jüngst vorlegte, verdanken w i r tiefe Einsichten in die Eigenart des Alten Reiches. Die Grundthese des Werkes geht dahin, „daß das Reich eben kein föderatives Gebilde, sondern ein auf hierarchischer Ordnung aufgebauter Staat war, den die v o m Kaiser geschützten mindermächtigen Reichsstände am Leben erhielten, während die nach Souveränität strebenden größeren Reichsstände als zentrifugale Kräfte w i r k ten". Das D a t u m 1648 markiert kein Jahr Null. Die Verfassungsentwicklung, w i e sie sich seit dem 14. Jahrhundert ergeben hatte, w i r k t e mental w i e juristisch fort. „Aus dieser Sicht w a r nun weder der Kaiser noch die Zusammensetzung des Reiches aus größeren, kleineren und kleinen Ständen wegzudiskutieren, das heißt, die in der deutschen Geschichte angelegte hierarchische Form des Reiches gewann an Bedeutung". Bildete für den katholischen Reichsteil die hierarchische, sakrale Form des Reiches die Grundlage seiner Existenz und sah er diese durch den Kampf gegen die Türken bestätigt, so nahm auch das protestantische Deutschland an diesem Krieg teil, der die kaiserliche Aufgabe für 166
2. Spätzeit und Ende des Reiches alle nachvollziehbar machte. Die Türkensiege führten mit anderen Faktoren z u m Wiederaufstieg des Kaisertums und belebten damit zugleich die hierarchisch-sakrale Gestalt des Reiches. Diese Charakteristik hat viel für sich, zumal der A u t o r den Territorialstaat und dessen Leistungen nicht verkennt. D e m Alten Reich eignete eine Staatlichkeit eigener Art. Seine leges fundamentales, seine Ge- und Verbote ergingen im Grunde als Satzungen, w i e denn überhaupt der Einungsgedanke sich je und je geltend machte. Das Alte Reich, in seinem Kern ein Friedensverband nach innen, kein Machtstaat, verstand sich als ein System rechtlicher Ordnung, die vielfach auf ausgleichenden Kompromissen, auf vertraglicher Regulierung gründete. Die Kompromisse, etwa bei den gemischtkonfessionellen Institutionen, führten gelegentlich zu bizarren Konstruktionen. U n d doch scheint die Flurbereinigung der buntscheckigen deutschen Landkarte im Verlauf des europäischen Ringens u m die Wende z u m 19. Jahrhundert durch das Diktat der Großmacht im Westen ihre innere Logik zu besitzen: Die deutsche Kleinstaaterei erfährt eine wesentliche Milderung, zahllose hemmende Territorialgrenzen, welche Handel und Wandel, auch die Bevölkerungsentwicklung behindert hatten, werden getilgt. Das Jahr 1801 leitet das letzte Stück des Weges ein z u m modernen Landesstaat, besonders im Herzstück des Reiches, im deutschen Südwesten. A n diesen Fakten besteht kein ernsthafter Zweifel. Die ganz einseitigen Urteile der zeitgenössischen Kritiker, der späteren Hofhistoriographen und der nationalstaatlichen Geschichtsschreiber indes, die das alte Reich nur als Inbegriff erstarrter Rechtsformen sahen und geringschätzten, haben freilich den neueren, u m mehr Gerechtigkeit bemühten, differenzierenden Forschungen von Karl Siegfried Bader, Hermann Conrad, Karl O t m a r Freiherr von Aretin, Volker Press — u m vier bedeutende N a m e n zu nennen — nicht standgehalten. Die Verfassungswirklichkeit des Reiches kannte auch nach 1648 neben Zeiten der Stagnation, der Lähmung und des Zerfalls große w ü r d i g e Jahrzehnte des Friedens und der Prosperität. „Der weite Rahmen der Verfassung von Münster und Osnabrück bot R a u m für das Spiel der unterschiedlichsten politischen Kräfte. Der Effekt kaiserlicher Macht wie die Freiheit der Reichsstände von dieser wechselten mit der politischen Situation. H o c h schäumende, patriotische Begeisterung in höchster Gefahr, Schlachtenglück und Kriegsstolz kräftigten die eine, N o t und Ermattung und das Gebot ständischer Staatsräson stärkten die andere. M i t diesen B e w e g u n gen schwoll und verebbte die reale Schlagkraft der Zweiheit von Kaiser und Reich, des Reiches als Staat. W i e das lockere N e t z des Grundgesetzes die vielfältigsten politischen Kräfte spielen ließ, so nährte dieses Gesetz auch die gegensätzlichsten juristischen Auffassungen, und sie alle 167
V. Das Heilige Römische Reich deutscher Nation 1648-1806 haben im wirklichen staatlichen Leben des Reiches gewirkt" (Ingomar Bog). Der Niederschlag des juristischen Federstreits, die Deskriptionen, Deliberationen und Abhandlungen der Reichspublizisten und Staatsrechtslehrer: Johann J a k o b Mosers, Johann Stephan Pütters und vieler anderer, die unermeßlichen Bestände der Reichs- und Kreisacta in den Archiven des Kaisers und der Stände bezeugen, daß das späte Reich mehr als ein toter Petrefakt vergangener Zeiten gewesen ist. Sein Wesen und sein Wert beruhten freilich nicht auf militärischer, wirtschaftlicher oder finanzieller Macht. Leben und Sinn des Deutschen Reiches bestanden noch im Verlauf des 18. Jahrhunderts darin, daß es Träger uralter und eingewurzelter Traditionen, Gedanken und Formen w a r und daß es seit unzähligen Generationen wenigstens einen gebrechlichen verfassungsrechtlichen Rahmen bot, der Deutschland zusammenhielt und an den sich trotz aller offenkundiger Schwächen viele Hoffnungen knüpften. „Wie in einem Gebirgsstock, den die Jahrtausende der Erdgeschichte aufgebaut haben, lassen sich an der Reichsverfassung des 18. J a h r h u n derts noch die einzelnen Schichten ihres Entstehens erkennen, der Zeitalter, die sie durchlaufen hat. Völlig abgestorbene stehen neben jüngeren, noch lebenskräftigen Verfassungsinstitutionen, und auch aus dem ältesten tragenden Stamm der Verfassung ist das Leben noch keineswegs völlig gewichen. Daneben lassen sich junge Triebe verfassungsmäßigen Lebens erkennen, die z w a r auf Reichsboden erwachsen, mit der offiziellen Reichsverfassung doch nur in losem Zusammenhang stehen, immerhin aber Möglichkeiten einer Erneuerung und Kräftigung des Reichsverbandes zu bieten scheinen. In diesem N e b e n - und Ineinander von Verfassungsformen älterer und jüngerer Zeiten mit ganz verschiedener Lebenskraft liegt die eigentliche Schwierigkeit des rechtlichen Verständnisses begründet." Mit diesen plastischen und treffenden Sätzen hat Hans Erich Feine die N a t u r des Reichsrechts umrissen und u m die Geduld geworben, die dessen Studium erfordert. Versuchen wir, die Reichsinstitutionen zu kennzeichnen. Die monarchische Spitze bildete der römische Kaiser, der so hieß, weil das Kaisertum der deutschen Herrscher seit Otto I. (962) auf der Krönung durch den Papst beruhte. Wie die Lehre von der translatio imperii es vorgab, so erschien der römische Titel des Reichs dessen Publizisten „als Hoffnung, Auftrag, aber auch Beweis, daß dieses Reich die beste — weil gerechteste, freieste und ehrwürdigste — Ordnung habe, die, werde sie nur eingelöst, ebenso beispielhaft und segensreich für die Welt sein müsse w i e seinerzeit die R o m s für das römische Weltreich" (Notker Hammerstein). Die Distinktion des mittelalterlichen Staatsrechts zwischen König- und Kaisertum verlor ihren Sinn, seit die deut168
2. Spätzeit und Ende des Reiches sehen Herrscher u m die Wende zur Neuzeit auf die römische Krönung verzichteten und den Titel „Electus R o m a n o r u m imperator semper augustus, Germaniae rex" annahmen. Das Reichsoberhaupt verdankte sein A m t der Wahl durch die Kurfürsten nach den Regeln der Goldenen Bulle von 1356. Die Stände wachten zunächst darüber, daß das Wahlnicht in ein Erbreich umschlug. So mußte der neugewählte Herrscher in seinem Wahlversprechen, der Wahlkapitulation, geloben, das Reich zu schirmen und „sich keiner Sukzession oder Erbschaft desselben anzumaßen". Gleichwohl fiel die Wahl seit Albrecht II. (1438/39) bis z u m Aussterben der Habsburger im Mannesstamm stets auf einen Angehörigen dieses Hauses. Nach dem Zwischenspiel Karls VII., eines Wittelsbachers, wählten die Kurfürsten den Gemahl der habsburgischen Erbtochter Maria Theresia, den Herzog von Lothringen: Franz I. Seitdem stellte das H a u s Lothringen-Habsburg das Reichsoberhaupt. Diese Verbindung der Kaiserkrone mit Osterreich prägte das Reich stark. N a c h d e m das Reich längst zu einem Zuschuß-Unternehmen geworden war, konnten es nur noch Träger einer stattlichen Hausmacht leiten. A u c h darum hat jahrhundertelang das reiche und mächtige Erzhaus Habsburg die Kaiserwürde bekleidet. Das Reichsrecht beschränkte die Hoheitsgewalt des Kaisers weitgehend und band sie in den wesentlichen Stücken an den Konsens der Stände. Ohne ihn konnte das Reichsoberhaupt weder Verträge noch Bündnisse mit fremden Staaten schließen, noch den Krieg erklären. Solange der Reichstag noch nicht als fortwährender Gesandtenkongreß zu Regensburg tagte, blieb der Kaiser befugt, ihn zu berufen. Der Kaiser hatte ferner das Recht, dem Reichstag Propositionen zu unterbreiten und die Reichstagsbeschlüsse oder -gutachten zu ratifizieren. A u c h als Inhaber der Gerichtshoheit bei den Reichsgerichten sah sich das Reichsoberhaupt durch ständische Rechte beschränkt. Als oberstem Lehnsherrn oblag ihm die Verleihung und Erneuerung der Reichslehen, indessen band das Recht ihn in wichtigen Fällen an die Zustimmung der Kurfürsten. Die kaiserlichen Reservatrechte umfaßten Kompetenzen von geringem Gewicht, obgleich sie mancherlei Gebühren und Taxen abwarfen, so das Recht der Standeserhöhung, der Verleihung von akademischen Titeln, der Ernennung von Hofpfalzgrafen und öffentlichen Notaren, die Befugnis, Minderjährige für volljährig zu erklären und U n eheliche zu legitimieren. Der Glanz, den die Kaiserwürde auch im späten Reich noch verbreitete und den ein sorgsam befolgtes altüberliefertes Zeremoniell pflegte, w i e es noch Goethe in seinen Jugenderinnerungen farbig schildert, auch die Reichs- und Kaisertreue der kleineren, auf den Schutz der alten Verfassungsordnung angewiesenen Stände konnten die Mittel nicht erset169
V. Das Heilige Römische Reich deutscher Nation 1648-1806 zen, an denen es dem kaiserlichen Regiment im „Reich ohne Hauptstadt" gebrach. Es fehlte jede Verwaltungsorganisation; der Kaiser blieb auf die Machtmittel seines Hauses und auf die eigenen Wiener Behörden angewiesen, die weitab residierten. Was er ins Werk zu setzen gedachte, benötigte das Plazet der allgemeinen Reichsversammlung, die seit 1663 als Immerwährender Reichstag und Gesandtenkongreß zu Regensburg in schwerfälligem Geschäftsgang beriet, beschloß oder stillstand. „Unter vielen Mängeln und Gebrechen", so urteilte 1756/57 Professor Christian August von Beck, der Lehrer des Erzherzogs Joseph, „die man an der deutschen Reichsversammlung zu tadeln findet, fallen sonderlich diejenigen in die Augen, welche die Beratschlagungen zu hemmen und folglich den Reichstag inaktiv zu machen vermögend sind, z u m Exempel die Beschwerden w i d e r die Directoria, die Allegierung des defectus instructionis (die Berufung auf fehlende Vollmacht), die Zeremonial- und Rangstreitigkeiten teils mit der kaiserlichen Prinzipal-Kommission und mit fremden Gesandten, teils auch der Gesandten unter sich selbst, das Jus eundi in partes, das Protestieren und Reprotestieren, die Eifersucht zwischen den drei Reichs-Collegiis und so fort. Wenn man hingegen in Betrachtung zieht, daß der Reichskonvent sowohl dem Kaiser als den Reichsständen eine bequeme Gelegenheit an die H a n d gibt, unmittelbar miteinander in Unterhandlung zu treten, welches sonst anders nicht als durch viele beschwerliche und kostbare Gesandtschaften geschehen könnte, so werden obige Unvollkommenheiten noch in gewissem M a ß erträglich, u m so mehr da zu deren Abstellung schon mehrmalen Hoffnung gemacht w o r d e n ist." Die Anfänge des Immerwährenden Reichstags sind im Westfälischen Frieden zu suchen. Dieser hatte sich über die projektierten Reformen der Reichsverfassung nicht einigen können und sie als „negotia remissa" oder „hintersteilige Materien" an den nächsten Reichstag verwiesen. Artikel VIII § 3 IPO nannte das Programm: Königswahl und Wahlkapitulation, das Achtverfahren, die Ergänzung der Reichskreise, die Erneuerung der Reichsmatrikel, die Wiedereinbeziehung der eximierten Reichsstände und die Moderation der Anschläge, die Neuordnung des Polizei- und Justizwesens sowie der Sporteintaxe des Reichskammergerichts, die Deputationen und die Direktion in den Reichskollegien. Der stattlich besuchte Regensburger Reichstag 1653/54 indessen vermochte diesen Auftrag nur teilweise zu erfüllen und vertagte seinerseits die unerledigt gebliebenen Gegenstände auf einen in Aussicht genommenen weiteren Termin, der als Prorogation des verabschiedeten gelten sollte. Als Kaiser Leopold I. daraufhin die Reichsversammlung 1662/1663 einberief und eröffnen ließ, sollte in erster Linie ein Türken-Reichstag stattfinden, ein immerwährender zeichnete sich noch keineswegs ab. 170
2. Spätzeit und Ende des Reiches „Aber es ergab sich w ä h r e n d der folgenden Jahre fast geräuschlos die Perpetuierung der Ständeversammlung. Ohne daß je ein Grundsatz-Beschluß über die Perpetuierung gefaßt w o r d e n wäre, blieb der Reichstag in Regensburg beisammen" (Anton Schindling). Bereits u m das J a h r 1670 stabilisierte sich die Tendenz. Ungefähr anderthalb Dezennien später, beim Abschluß des den Frieden am Rhein durch Verzicht sichernden Regensburger Stillstandes zwischen kaiserlichen und französischen Unterhändlern 1684, galt die Permanenz als selbstverständlich. Sessio et votum auf dem Reichstag begründeten die Reichsstandschaft, die weit über zweihundert Territorialherrschaften innehatten, wobei die reichsunmittelbaren Klöster, Grafen und Herren, in mehreren Bänken zusammengefaßt, gemeinschaftliche Kuriatstimmen führten. Die Reichsstände gliederten sich in drei große Kollegien: die Kurfürstenkurie, den Fürstenrat und das Kollegium der Reichsstädte. Die ständischen Komitialgesandten beratschlagten die kaiserliche Proposition jeweils nach Kollegien getrennt. Die kurfürstlichen und fürstlichen Räte suchten daraufhin zunächst im Wege der Re- und Correlation einen übereinstimmenden Beschluß, das C o m m u n e duorum. Danach erst kamen die Reichsstädte mit ihrem votum decisivum z u m Zuge. Pflichteten sie den beiden ersten Kollegien bei, so gelangte das gemeinsame Reichsgutachten über den Kurerzkanzler an den kaiserlichen Prinzipalkommissar. Das kaiserliche Ratifikationsdekret erhob das Reichsgutachten z u m Reichsschluß (conclusum Imperii), den bis z u m Jahre 1654 die jeweiligen Reichsabschiede (recessus Imperii), später kaiserliche Patente publizierten. Während der Reichsschluß die Übereinstimmung aller drei Kollegien erforderte, galt innerhalb der Kurien das Mehrheitsprinzip, der Schluß per majora. In Religionssachen freilich herrschte das Prinzip: „sola amicabilis compositio lites dirimat"; hier also bedurfte es einer freundlichen Verständigung, eines Schlusses per unanimia. O b in den praktisch wichtigen Reichssteuerfragen die Mehrheit entscheiden sollte, hatte der Westfälische Frieden einem späteren Reichstagsbeschluß vorbehalten, der freilich nie mehr erging. Der Reichstag betrieb seine Geschäfte entweder im Plenum, also durch die versammelten Stände und ihre Gesandten, oder in Ausschüssen, bei welchen man ordentliche und außerordentliche Deputationen unterschied. Das Parlament des alten Reiches hat in den einhundertdreiundvierzig Jahren seines Bestehens als permanente Institution zur Verfassungsentw i c k l u n g k a u m mehr etwas beigetragen. Viel stärker als früher entzogen sich die politischen Gegensätze dem Zugriff der Reichspolitik. Im Konzert der europäischen Großmächte spielten nur die Staaten mit, die Kriege führen konnten, nicht der Reichsverband, den die Mächte zu sprengen drohten. Seit Beginn des 18. Jahrhunderts entwickelten sich 171
V. Das Heilige Römische Reich deutscher Nation 1648-1806 Österreich, Preußen, Sachsen und Hannover zu Staaten, deren Schwerpunkte außerhalb des Reiches lagen. Der Regensburger Reichstag sah sich durch den immer stärkeren österreichisch-preußischen Gegensatz zusätzlich politisch gespalten: Der Westfälische Frieden hatte der ursprünglichen Einteilung des Reichstages in drei Kollegien eine weitere in das Corpus evangelicorum und das Corpus catholicorum quer durch die Kurien hinzugefügt, und nun ließ die Rivalität der beiden deutschen Großmächte die Reichsstände außerdem in eine österreichische und eine preußische Partei zerfallen. Hatte die itio in partes den Reichstag noch schwerfälliger werden lassen und bereits 1757 die Verhängung der Acht gegen Friedrich den Großen gehemmt, so erwuchs durch den 1785 unter preußischer Führung gegründeten Deutschen Fürstenbund eine Verfassungskrise, die den kaiserlichen Einfluß im Reich lähmte und die Expansionspolitik Josephs II. entscheidend eindämmte. Immerhin bewährten sich das Reichsrecht und die Regensburger diplomatische Bühne der großen und der vielen kleineren Reichsglieder als Stabilisatoren, welche die politische Existenz auch des unbedeutendsten Standes garantierten. Gewiß hat der Reichstag seit dem Jüngsten Reichsabschied von 1654 keine gewichtige gesetzgeberische A u f g a b e mehr erledigt; grundsätzlichere Fragen wie die R e f o r m der Reichsmatrikel, also des Verteilers der Reichslasten, des M ü n z - und Polizeiwesens, die Visitation der Reichsgerichte, die endlosen Religionsgravamina blieben unerledigt stecken. Doch als H ü t e r der Reichsverfassung und sinnfälligster A u s d r u c k gelokkert fortbestehender Reichseinheit, als foyer politique (so Reichsvizekanzler Fürst Colloredo 1782) und als Nachrichtenbörse erfüllte der Regensburger Reichstag Funktionen, die seine angefochtene Existenz rechtfertigten. In der Barockzeit wertete überdies die zeremonielle Selbstdarstellung der Stände sowohl den Kaiser als den Reichstag als Legitimationsinstanzen auf, übrigens auch die fürstlichen Häuser im Verhältnis zu den zahlreichen Sekundogeniturlinien und zu den Untertanen. Das Zeremonialwesen hat mit seinen identitätsstiftenden Präsenzsymbolen durchaus — neben der Staatstheorie — nicht nur stil-, sondern rechtsbildend gew i r k t . Der reichsfürstliche Principal-Commissarius bildete als kaiserlicher Repräsentant mit seiner Hofhaltung den Mittelpunkt des Reichstages. Der permanente Reichstag stabilisierte, integrierte und gewährleistete das Herrschaftsgefüge und mit ihm dessen Oberhaupt, das seinerseits in steigendem M a ß e diese Funktion selbst übernahm. U b e r die Verrechtlichung kehrte er gleichsam in das Reich zurück, in dem die Verträge von 1648 seinen R a u m eingeengt hatten. Die Weitläufigkeit und Mannigfaltigkeit des Reichs gebot eine regionale Zusammenarbeit der Stände, insbesondere auf dem Felde des Land172
2. Spätzeit und Ende des Reiches friedensschutzes, der Reichsdefension, des Polizei- und Münzwesens. Ihr diente die Kreisverfassung. Sie gliederte das alte Reich in Gruppen landschaftlich zusammengehöriger Stände: sie vereinigte die Territorien einer Region zur Durchführung von Aufgaben, welche die herkömmlichen Reichsorgane mangels eigener Verwaltungsorganisation sowenig erfüllen konnten w i e die einzelnen Stände in ihrer territorialen Begrenztheit. Durch Reichssatzungen in den Jahren 1500, 1507 und 1512 begründet, gewannen die Kreise während der 30er Jahre des 16. Jahrhunderts im Zuge der T ü r k e n a b w e h r Leben; sie erhielten auf dem Augsburger Reichstag 1555 mit der Exekutionsordnung ihre im wesentlichen bis z u m Ende des Ancien regime gültige Rechtsgestalt. Die zehn Zirkel — der österreichische, burgundische und kurrheinische, obersächsische, schwäbische, fränkische, bayerische, oberrheinische, westfälische und niedersächsische — besaßen z w a r eine lange gemeinsame Vorgeschichte und dieselbe Rechtsgrundlage, aber dennoch sehr unterschiedliche Struktur. Im kleinparzellierten Herzstück des Reiches, in Franken und Schwaben, entwickelte sich das Kreiswesen am lebensvollsten. Die Kreise waren Institutionen der Reichsverfassung. Sie bildeten im Reichsgefüge zugleich „Mittelinstanzen" und Selbstverwaltungskörper, gleichsam eingeschoben zwischen das Reich und die Stände. Die Reichs- und Kreistage verschlangen sich in enger Abhängigkeit, bildeten mit den unzähligen Deputationen ein endloses Band ineinander mündender, sich gegenseitig fordernder ständischer Versammlungen. Auf den Kreiskonventen spiegelten sich im Kleinen die Verfahrensweisen und das Zeremoniell der comitia imperii Romano-Germanici. Hier w i e dort präsentierte sich eine altständische Gesellschaft, die unter strenger Wahrung althergebrachter Freiheitsrechte im Wege des Paktierens ihre gemeinschaftlichen Rezesse verabschiedete. Ein ehrwürdiges, in manchem notleidendes und dennoch aufs Ganze gesehen wirksames Organ besaß das Reich in seinem Kammergericht, dessen Mängel Goethe in „Dichtung und Wahrheit" so anschaulich w i e streng beschrieben hat. „Ein allgemeiner Fehler, dessen sich die M e n schen bei ihren Unternehmungen schuldig machen, w a r auch der erste und ewige Grundmangel des Kammergerichts: zu einem großen Zwecke w u r d e n unzulängliche Mittel angewendet. Die Zahl der Assessoren w a r zu klein; w i e sollte von ihnen die schwere und weitläufige Aufgabe gelöst werden! Allein w e r sollte auf eine hinlängliche Einrichtung drängen? Der Kaiser konnte eine Anstalt nicht begünstigen, die mehr w i d e r als für ihn zu w i r k e n schien; weit größere Ursache hatte er, sein eignes Gericht, seinen eignen Hofrat auszubilden. Betrachtet man dagegen das Interesse der Stände, so konnte es ihnen eigentlich nur u m 173
V. Das Heilige Römische Reich deutscher Nation 1648-1806 Stillung des Bluts zu tun sein, ob die Wunde geheilt würde, lag ihnen nicht so nah; und nun noch gar ein neuer Kostenaufwand! M a n mochte sich's nicht ganz deutlich gemacht haben, daß durch diese Anstalt jeder Fürst seine Dienerschaft vermehre, freilich zu einem entschiedenen Zwecke, aber w e r gibt gern Geld fürs N o t w e n d i g e ? " So schleppte sich denn das nach mancherlei Ortswechseln zuletzt in Wetzlar residierende Gericht, nur notdürftig visitiert, durch zahlreiche Appellationsprivilegien vom Rechtsleben der größeren Stände abgeschnitten, mit seinen übermäßig angeschwollenen Aktenbeständen durch die Jahre — eine Zuflucht insbesondere der kleineren Reichsstände und eine Hoffnung noch immer vieler Prozeßparteien, insbesondere auch der Untertanen im Rechtsstreit mit ihren Obrigkeiten. Die zahlreichen Bände der Schriftenreihe „Quellen und Forschungen zur Höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich" bezeugen die beträchtliche, bis ins 19. Jahrhundert fortwirkende Tätigkeit des Reichskammergerichts. Gravamina also allerorts, und dennoch eine zähe und beharrliche Lebenskraft bei den Reichsinstitutionen, die bis zuletzt die besten Juristen in ihren Dienst zogen, ein durchaus noch verbreiteter Wille z u m Reich nicht nur bei seinen Hauptstützen, den geistlichen Fürsten, und bei den Duodezherren. Anders als Frankreich befand sich Deutschland u m die Jahrhundertwende nicht in einer revolutionären Situation. U n d doch wandelten sich seine politischen Verhältnisse nun grundlegend. Das revolutionäre Nachbarland westlich des Rheins, seit langem z u m nationalgeeinten souveränen Staatskörper geformt, brachte in kriegerischem und diplomatischem Zusammenspiel mit den europäischen Mächten den alten Reichsbau z u m Einsturz und beendete damit die übernationale Reichstradition, das Dasein der adelsgeprägten, auf die Ottonenzeit zurückgehenden Reichskirche und die Eigenständigkeit einer unübersehbaren Vielzahl kleinerer geistlicher w i e weltlicher Herrschaften. Der Reichspatriotismus des 18. Jahrhunderts und die Assoziationspolitik des „dritten Deutschland" konnten Niedergang und Ende nicht länger verhindern. Der Bruch mit Autorität und Legitimität der alten Reichsordnung bedeutete seinerseits ein revolutionäres Ereignis, welches nicht nur das zersplitterte deutsche Territorialsystem bereinigte, sondern tief in die Lebensverhältnisse vieler Deutscher einschnitt. Die Austilgung der meisten Reichsstände und der ritterschaftlichen Einsprengsel von der politischen Landkarte im Zuge der Säkularisationen und Mediatisierungen am Anfang des 19. Jahrhunderts setzte gewaltige Kräfte frei, die sich bisher von engen Territorialgrenzen, Feudallasten, Konfessionsund Zunftzwängen und mancherlei sonstigen überkommenen Rechtstiteln behindert gesehen hatten. Der bürokratische, polizei- und w o h l fahrtsstaatliche Mechanismus der arrondierten deutschen Mittelstaaten 174
2. Spätzeit und Ende des Reiches besaß freilich auch eine schmerzhafte Kehrseite. Er beseitigte vielfach die gewohnte N ä h e zwischen dem P u b l i k u m einerseits, der Regierung und ihrer Residenz andererseits. Das neue Regiment reduzierte die zahllosen A m t e r und Amtlein in den ehemals selbständigen Gemeinwesen, verkürzte die Möglichkeiten zur Selbstverwaltung in Kommunen, Allmenden und Stiftungen, die bisher das altständische Leben nicht nur in den Reichsstädten geprägt hatten. Der Einzug des Kirchengutes durch die Säkularisation benachteiligte nicht allein den Stiftsadel in den geistlichen Hochstiften; er brachte vielmehr auch achtzehn katholische Universitäten und ungezählte Klosterschulen mit ihren Stipendien und Bildungseinrichtungen z u m Verschwinden — ein Verlust nicht zuletzt deshalb, weil er — wie die jüngere, noch keineswegs abgeschlossene Forschung ermittelte — z u m Abbruch ungezählter naturwissenschaftlicher Studien führte. Zahlreiche wirtschaftlich bedeutsame Subzentren gingen unter. M i t einigem Grund auch konnten die Säkularisationsgegner vom wohlerworbenen Recht der Bewohner geistlicher Staaten „auf eine eingeschränkte Regierungsform" sprechen, wie das kirchliche Wahlrecht sie ermöglichte. Im Ablauf der militärischen und diplomatischen Ereignisse, die das Ende des Ancien regime herbeiführten, gewann der Frieden von Luneville v o m 9. Februar 1801, den Kaiser Franz II. für sich und das Reich mit dem siegreichen Frankreich Napoleons abschloß, besondere Bedeutung. In diesem Vertrag trat Deutschland das gesamte linke Rheinufer an Frankreich ab: „depuis l'endroit oü le Rhin quitte le territoire helvetique, jusqu'ä celui oü il rentre dans le territoire batave". Die durch Gebietsverluste auf dem linken Rheinufer betroffenen erblichen Fürsten sollten im verbliebenen Reichsgebiet unter M i t w i r k u n g Frankreichs Entschädigungen erhalten, ein Ausgleich, der sich allein durch rechtsrheinische Säkularisationen und Mediatisierungen erreichen ließ. Der Reichstag ratifizierte den Friedensschluß und gab damit w i e der Kaiser den Grundsatz der Reichsintegrität auf. Kaiser und Reichstag übertrugen die Feststellung des Entschädigungsgesetzes einer für diesen Zweck gebildeten Reichsdeputation, der aus dem kurfürstlichen Kollegium Böhmen, Brandenburg, M a i n z und Sachsen, als Mitglieder des Reichsfürstenrates Bayern, Württemberg, Hessen-Kassel sowie der H o c h - und Deutschmeister angehörten. Die Arbeit dieses in Regensburg tagenden Ausschusses, auf welche auch Rußland und Frankreich Einfluß nahmen, führte z u m Reichsdeputationshauptschluß vom 25. Februar 1803, den Reichstag und Kaiser schließlich z u m Reichsgesetz erhoben. Weit über das Geschäft des Gebietsausgleichs hinausgreifend, bildete der Reichsdeputationshauptschluß als Revolution von oben ein die deutsche Staats- und Kirchenverfassung von Grund auf umgestaltendes Funda175
V. Das Heilige Römische Reich deutscher Nation 1648-1806 mentalgesetz, einen Markstein auf dem Weg v o m alten Reich zu den deutschen Staatsverhältnissen des 19. Jahrhunderts. M i t der Abtretung des linken Rheinufers verlor das Reich ganz oder z u m Teil die Erzbistümer Köln, Trier und Mainz, die Bistümer Worms und Speyer, das Kurfürstentum Pfalz, die H e r z o g t ü m e r Kleve, Geldern und Jülich, Simmern und Zweibrücken, die Grafschaften Sponheim und Saarbrücken, ferner die Reichsstädte Aachen, Köln, Worms und Speyer. Als Entschädigung erhielten die betroffenen erblichen Reichsstände rechtsrheinische Territorien, die bisher geistlichen Reichsfürstentümern, kleineren weltlichen Herrschaften oder Reichsstädten zugehörten. Der Reichsdeputationshauptschluß hob im ganzen 112 rechtsrheinische Reichsstände auf, darunter drei Kurfürstentümer, nämlich die rechtsrheinischen Teile von Kurpfalz, Kurköln und Kurtrier, 19 Reichsbistümer, 44 Reichsabteien und 41 Reichsstädte. Sämtliche reichsunmittelbaren geistlichen Fürstentümer, Bistümer w i e Klöster, hörten auf, weltliche Herrschaftsbereiche zu sein. N u r der Kurerzkanzler erhielt ein neues Kurfürstentum Aschaffenburg-Regensburg. A u c h der H o c h - und Deutschmeister sowie der Großprior des Malteserordens behaupteten bis z u m Jahre 1809 ihre Position als reichsunmittelbare Fürsten. Mit der Säkularisation der geistlichen Stände löschte der Reichsdeputationshauptschluß eine tausendjährige verfassungsrechtliche Tradition aus. A u c h in den Bereich der weltlichen Herrschaften griff er tief ein: 41 Reichsstädte, alle bis auf Hamburg, Bremen, Lübeck, Augsburg, Frankfurt und Nürnberg, verloren ihre Reichsfreiheit. Den reichsritterschaftlichen Splitterbesitz sogen die größeren Territorien eigenmächtig auf, auch die meisten landsässigen Klöster w u r d e n mitkassiert. Die Säkularisationen und Mediatisierungen führten zu erheblichen Kräfteverschiebungen im Kurfürstenkolleg und im Reichsfürstenrat. D e m ersteren gehörten nunmehr zehn Mitglieder an: neben dem Reichserzkanzler der Kaiser als König von Böhmen, der König von Preußen als Markgraf von Brandenburg, der König von England als Herzog von Hannover, der mit Salzburg ausgestattete Großherzog von Toskana (eine Sekundogenitur des Hauses Habsburg-Lothringen), die Herzöge von Sachsen, B a y e r n und Württemberg, der Markgraf von Baden und der Landgraf von Hessen-Kassel. Das Stimmenverhältnis im Fürstenkolleg veränderte sich durch Kumulationen und neue Virilstimmen. Kirchenverfassungsrechtlich bildete der Reichsdeputationshauptschluß mit der status-quo-Garantie seines § 63 das durch den Westfälischen Frieden geschaffene deutsche Kirchensystem fort: „Die bisherige Religionsübung eines jeden Landes soll gegen A u f h e b u n g und Kränkung aller Art geschützt sein; insbesondere jeder Religion der Besitz und ungestörte Genuß ihres eigentümlichen Kirchenguts, auch Schul176
2. Spätzeit und Ende des Reiches fonds nach der Vorschrift des Westfälischen Friedens ungestört verbleiben; dem Landesherrn steht jedoch frei, andere Religionsverwandte zu dulden und ihnen den vollen Genuß bürgerlicher Rechte zu gestatten." Diese Regel brachte zwei gewichtige Rechtsgarantien, die jeweils einem Vorbehalt unterworfen waren: die Gewähr einmal für den Fortbestand der bisherigen Religionsübung im Zeichen fortschreitender Toleranz, z u m andern für den Besitzstand des Kirchengutes, soweit es sich nicht u m die Entschädigungsmasse der Reichsunmittelbaren und u m Eigentum der landsässigen Stifter handelte, also im wesentlichen eine Garantie für das Vermögen der örtlichen Pfarrkirchen. Die Säkularisation schuf, soweit sie kirchlichen Besitz einzog, kein freies Staatseigentum. Der Erwerb durch den Staat vollzog sich vielmehr unter einer Reihe von Belastungen, die auf dem Staatsvermögen ruhen blieben und noch heute nach Art. 140 GG, 138 Abs. 1 W R V fortbestehen. Der Reichsdeputationshauptschluß durchbrach mit seiner Säkularisation die im Reichsgrundgesetz des Westfälischen Friedens verankerte Besitzstandsgarantie. „Das letzte Reichsgrundgesetz w a r eine Revolution nicht nur, weil es ein unter Abkehr von alten Reichsgarantien vollzogener gewaltsamer Rechtseingriff war, sondern auch und in tieferem Sinn, weil hier die monarchischen Träger der deutschen Reichs- und Staatsgewalt die aristokratisch-feudale Kirchenverfassung Deutschlands mit der gleichen W i r k u n g umgestalteten, mit der in Frankreich die demokratische Konstituante durch das national-revolutionäre Säkularisationsedikt die gallikanische Kirchenverfassung zerstört hatte. So gehörte der Reichsdeputationshauptschluß auch in diesem Wirkungsbereich zu dem Sieg der Ideen von 1789" (Ernst Rudolf Huber). Geist und Vorbild der Französischen Revolution determinierten die Ereignisse indessen nicht allein; hierzu kamen „der Verlust der Reichsintegrität durch A b tretung des linken Rheinufers, die Selbstaufgabe der kaiserlichen Amtspflichten durch Franz II. und der nicht mehr durch Rechtsbewußtsein und Verfassungsrespekt in Zaum gehaltene Expansionswille der weltlichen Reichsstände" (Eike Wolgast). Diese Umstände und Einlassungen zusammen führten zur Totalsäkularisation und damit zur Vernichtung der Reichskirche noch vor dem offiziellen Ende des Reiches. Dabei kann, wie neuere Studien zeigen, von Insuffizienz und Uberlebtheit der geistlichen Staaten schlechthin nicht die Rede sein. Es erhebt sich vielmehr der „Verdacht, das gern bemühte Klischee von der generellen Rückständigkeit der geistlichen Staaten sei damals wie heute vor allem eine wohlfeile Rechtfertigung der Säkularisation von 1802/03" (Kurt Andermann). Das Grundgesetz von 1803 w i r k t e über das Ende des Reiches im J a h r 1806 weit hinaus, weil es die territoriale und kirchliche Verfassungs177
V. Das Heilige Römische Reich deutscher Nation 1648-1806 struktur Deutschlands für die Dauer entscheidend umgestaltete. Der Reichsdeputationshauptschluß schuf mit einer Mehrzahl mittelgroßer, politisch selbständiger Länder die Grundlage des modernen deutschen Föderalismus. Die Säkularisation befreite die Kirche von der weltlichen Hoheitsgewalt und verwies ihre Kräfte auf die religiösen A u f g a b e n einer geistlichen Institution. Als Teil des gemeinen deutschen Staatsrechts behielt der Reichsdeputationshauptschluß auch nach 1806 unmittelbare Geltungskraft, nun freilich nicht mehr als Reichsrecht, sondern als Landesrecht. Soweit nämlich die deutschen Staaten an der gleichen reichsrechtlichen Quelle festhielten und sie in Landesrecht transformierten, bildete sich gemeines deutsches Staatsrecht als eine „gesamtdeutsche Rechtsordnung interterritorialer A r t " (Ernst Rudolf Huber). Es unterlag dann allerdings hinfort der einzelstaatlichen Legislative, die es verändern oder aufheben konnte. So galten insbesondere gewichtige Regeln z u m Verhältnis zwischen Staat und Kirche weiter, etwa die in § 35 des Reichsdeputationshauptschlusses verliehenen Rechtstitel der Kirchen auf Staatsleistungen, welche noch die Weimarer Reichsverfassung in Art. 138 Abs. 1 und das Bonner Grundgesetz in Art. 140 anerkannten. Der Fortgang der Reichsgeschichte nach dem Reichsdeputationshauptschluß stand ganz im Zeichen Napoleons, der am 18. M a i 1804 die erbliche W ü r d e eines Kaisers der Franzosen annahm. Osterreich antwortete mit einer Rangerhöhung des Erzhauses: Franz II. erklärte sich am 18. August 1804 z u m erblichen Kaiser der österreichischen Erblande und entwertete damit die Reichskrone. Der im folgenden Jahr ausbrechende dritte Koalitionskrieg sah w i e d e r u m Frankreich als Sieger. Der Preßburger Frieden 1805 schwächte Osterreich erheblich und brachte den Verbündeten Napoleons, den Kurfürsten von Bayern und Baden und dem Herzog von Württemberg die Souveränität, B a y e r n und Württemberg außerdem die Königswürde. A m 12. Juli 1806 schlossen sich sechzehn deutsche Reichsstände zur Confederation du Rhin zusammen, welche die Schutzherrschaft des Bündnispartners Frankreich anerkannte. Die Rheinbundakte sah eine Separation der Bundesstaaten vom Reiche vor und verlieh diesen mit der Souveränität das Recht, sich nochmals zu arrondieren, also weitere weltliche Territorien zu mediatisieren. Unter dem Druck eines napoleonischen Ultimatums legte Franz II. am 6. August 1806 schließlich die Reichskrone nieder: „Wir erklären . . . , daß W i r das Band, welches U n s bis jetzt an den Staatskörper des deutschen Reichs gebunden hat, als gelöst ansehen, daß W i r das reichsoberhauptliche A m t und W ü r d e durch die Vereinigung der conföderirten rheinischen Stände als erloschen und U n s dadurch von allen übernommenen Pflichten gegen das deutsche Reich losgezählt betrachten und die 178
1. Das Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten von 1794 von w e g e n desselben bis jetzt getragene Kaiserkrone und geführte kaiserliche Regierung, w i e hiemit geschieht, niederlegen." Dieser formell unzulässige A k t besiegelte das Ende des alten Reiches.
VI. Naturrecht und Aufklärung — große Kodifikationen
1. Das Allgemeine
Landrecht für die Preußischen
Staaten von 1794
ACHENWALL, Gottfried u. PÜTTER, Johann Stephan: Anfangsgründe des Naturrechts (Elementa Iuris Naturae, 1750), hg. u. übers, v. Jan SCHRÖDER, 1995; ARETIN, Karl Otmar Frhr. von (Hg.): Der Aufgeklärte Absolutismus, 1974; ARETIN, Karl Otmar Frhr. von: Friedrich der Große. Größe und Grenzen des Preußenkönigs, 1985; BACHMANN, Hanns-Martin: Die naturrechtliche Staatslehre Christian Wolffs, 1977; BARZEN, Carola: Die Entstehung des „Entw u r f s ) eines allgemeinen Gesetzbuchs für die Preußischen Staaten" von 1780 bis 1788, 1999 = Konstanzer Schriften zur Rechtswissenschaft, Bd. 156; BAUMGART, Peter (Hg.): Erscheinungsformen des preußischen Absolutismus, Verfassung und Verwaltung, 1966; BAUMGART, Peter (Hg.): Expansion und Integration. Zur Eingliederung neugewonnener Gebiete in den preußischen Staat, 1984; BEHME, Thomas: Samuel von Pufendorf: Naturrecht und Staat. Eine Analyse und Interpretation seiner Theorie, ihre Grundlagen und Probleme, 1995; BENÖHR, Hans-Peter: Die Urheber des ALR, in: ZRG, GA, 121, 2004, 493-503; BERDING, Dietrich: Elterliche Gewalt, Kindesrechte und Staat im deutschen Naturrecht um 1800, in: ZNR 22, 2000, 52-68; BIRTSCH, Günter: Gesetzgebung und Repräsentation im späten Absolutismus. Die Mitwirkung der preußischen Provinzialstände bei der Entstehung des Allgemeinen Landrechts, in: HZ 208, 1969, 265-294; BIRTSCH, Günter u. WILLOWEIT, Dietmar (Hgg.): Reformabsolutismus und ständische Gesellschaft. Zweihundert Jahre Preußisches Allgemeines Landrecht, 1998 = Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte, Beiheft 3; BÖHME, Heinz-Jürgen: Politische Rechte des einzelnen in der Naturrechtslehre des 18. Jahrhunderts und in der Staatstheorie des Frühkonstitutionalismus, 1993; BREITENBORN, Anke: Randgruppen im Allgemeinen Landrecht für die Preußischen Staaten von 1794, 1994; BÜHLER, Christoph: Die Naturrechtslehre und Christian Thomasius (1655-1728), 1991; BUSSENIUS, Ingeburg Charlotte: Die preußische Verwaltung in Süd- und Neuostpreußen 1793-1806, 1960; BUSSENIUS, Ingeburg Charlotte (Bearb.) u. HUBATSCH, Walther (Hg.): Urkunden und Akten zur Geschichte der preußischen Verwaltung in Südpreußen und Neuostpreußen 1793-1806, 1961; CONRAD, Hermann: Die geistigen Grundlagen des Allgemeinen Landrechts für die Preußischen Staaten von 1794, 1958; CONRAD, Hermann: Das Allgemeine Landrecht von 1794 als Grundgesetz des frideriziani179
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31996;
HATTENHAUER, H a n s u . LANDWEHR, G ö t z
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181
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183
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(Hg.): Bürger und Bürgerlichkeit im Zeitalter der Aufklärung, 1981; VLERHAUS, Rudolf: Was war Aufklärung?, 1995; VOGLER, Günter: Absolutistische Herrschaft und ständische Gesellschaft, 1996 = UTB 1898; VOIGT, Janine: Die Abschaffung des transatlantischen europäischen Sklavenhandels im Völkerrecht, 2000; WAGNER, Wolfgang: Die Wissenschaft des gemeinen römischen Rechts und das Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten, in: Wissenschaft und Kodifikation des Privatrechts im 19. Jahrhundert Bd. 1, 1974, 119152; WEBER-WILL, Susanne: Die rechtliche Stellung der Frau im Privatrecht des Preußischen Allgemeinen Landrechts von 1794, 1983; WELZEL, Hans: Die Naturrechtslehre Samuel Pufendorfs. Ein Beitrag zur Ideengeschichte des 17. und 18. Jahrhunderts, 1958; WLLLOWEIT, Dietmar: Johann Heinrich Casimir von Carmer und die preußische Justizreform im Zeitalter Friedrichs des Großen, in: Persönlichkeiten im Umkreis Friedrichs des Großen, hg. v. Johannes KUNISCH,
1988,
153-174;
WLNIGER, B e n e d i c t :
Das
rationale
Pflichtenrecht
Christian Wolffs. Bedeutung und Funktion der transzendentalen, logischen und moralischen Wahrheit im systematischen und theistischen Naturrecht Wolffs, 1992; WOLF, Erik: Carl Gottlieb Svarez, in: Große Rechtsdenker der deutschen Geistesgeschichte, 4 1963, 424-466; WOLFF, Christian: Grundsätze des Natur- und Völkerrechts, worin alle Verbindlichkeiten und alle Rechte aus der Natur des Menschen in einem beständigen Zusammenhange hergeleitet werden, 1754 (Nachdr. 1980); WOLFF, Jörg (Hg.): Das Preußische Allgemeine Landrecht. Politische, rechtliche und soziale Wechsel- und Fortwirkungen, 1995; ZIEGLER, Karl-Heinz: Reflexe des Völkerrechts im Allgemeinen Landrecht für die Preußischen Staaten von 1794, in: Festschr. Helmut Coing, Bd. 1, 1982, 4 5 3 - 4 6 6 .
„Dieses Gesetzbuch", so schrieb Alexis de Tocqueville 1856 treffend im Anhang zu seinem Ancien Regime, „ist wirklich eine Verfassung in dem Sinne, in dem man dieses Wort begreift; es will nicht nur die Beziehungen der Bürger untereinander regeln, sondern auch die Beziehungen 184
1. Das Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten von 1794 zwischen Bürger und Staat; es ist bürgerliches Gesetzbuch, Strafrecht und Verfassungsurkunde zugleich. Es beruht oder scheint zu beruhen auf einer A n z a h l allgemeiner, in sehr philosophische und sehr abstrakte Form gekleideter Grundsätze, die außerdem in vieler Hinsicht den in der Erklärung der Menschenrechte aus der Verfassung von 1791 enthaltenen Grundsätzen verwandt sind. Es w i r d darin verkündet, daß das Wohl des Staates und seiner Bürger Ziel der Gesellschaft und Richtschnur für das Gesetz sei; daß die Gesetze die Freiheit und die Rechte der Bürger nur im Hinblick auf den N u t z e n der Allgemeinheit beschränken können; daß jeder Angehörige des Staates seiner Stellung und seinem Vermögen entsprechend auf das Allgemeinwohl hinzuarbeiten habe; daß die Rechte des Einzelnen hinter dem Allgemeinwohl zurückstehen müssen. Nirgends ist vom angestammten Recht des Fürsten, seiner Familie oder nur einem persönlichen Recht die Rede, das v o m Recht des Staates abgehoben wäre. Das Wort Staat ist bereits der einzige Name, der zur Bezeichnung der königlichen Gewalt gebraucht wird. Hingegen w i r d v o m allgemeinen Menschenrecht gesprochen: die allgemeinen Menschenrechte beruhen auf der natürlichen Freiheit, für das eigene Wohl zu wirken, ohne das Recht des Nächsten zu verletzen. Jede Tätigkeit, die nicht durch das Naturgesetz oder ein positives Gesetz des Staates verboten wird, ist erlaubt. Jeder Angehörige des Staates kann von diesem die Verteidigung seiner Person und seines Eigentums verlangen und hat das Recht, sich selbst mit Mitteln der Gewalt zu verteidigen, w e n n der Staat ihm nicht zur Hilfe k o m m t . " Gleichwohl leitet der preußische Gesetzgeber aus diesen hohen Grundsätzen nicht, w i e Tocqueville seiner gültig gebliebenen Charakteristik sogleich hinzufügt, das Dogma der Volkssouveränität und den A u f b a u einer Regierung des Volkes in einer freien Gesellschaft ab, „sondern er macht statt dessen eine unerwartete Wendung" und „sieht in dem Fürsten den einzigen Repräsentanten des Staates und gibt ihm alle Rechte, die eben noch der Gesellschaft zuerkannt wurden. Der Souverän ist in diesem Gesetzbuch nicht mehr der Stellvertreter Gottes, er ist nur der Repräsentant der Gesellschaft, ihr Beauftragter, ihr Diener, w i e es Friedrich der Große in aller Deutlichkeit in seinen Werken niedergelegt hat; aber er vertritt sie allein, er allein übt alle Gewalt aus." Mit diesen Sätzen Tocquevilles sind die Grund- und Bruchlinien unseres Gegenstandes bezeichnet, das Gesellschaftsbild des Gesetzes und sein — konservativen wie evolutionären Ausdeutungen zugänglicher — Kompromißcharakter angedeutet. Im Zeitalter der absoluten Monarchie erkämpfte sich der Herrscher gegen die widerstrebenden Landstände die Gesetzgebungsgewalt als unveräußerliche und unteilbare Befugnis, als ausschließliche Funktion. „Das Recht, Gesetze und allgemeine Polizeyverordnungen zu geben, 185
VI. Naturrecht und Aufklärung — große Kodifikationen dieselben wieder aufzuheben, und Erklärungen darüber mit gesetzlicher Kraft zu ertheilen, ist ein Majestätsrecht" ( A L R II 13 § 6). Der Befehl, das Rechtsgebot des Souveräns, verdrängte die mit den Landständen vereinbarte Satzung. Die Ausweitung der Staatsfunktionen in der bevormundenden Sorge des aufgeklärten Absolutismus ließ das Gesetz im 18. Jahrhundert z u m zentralen Führungsmittel des modernen Staates werden. Die Konjunktion von Vernunftrecht, Wohlfahrtsstreben (Eudämonismus), wissenschaftlicher Systematik und Gesetzesallmacht begründete das Zeitalter der großen Kodifikationen. Die den gesamten Stoff eines Rechtsgebietes zusammenfassende, planvoll nach systematischen Gesichtspunkten durchgearbeitete Gesetzgebung gibt dieser Epoche das Gepräge. Auf ihrer Höhe stehen — unter sich durchaus verschieden — das Allgemeine Landrecht in Preußen (1794), der die privatrechtliche Gleichheit als Ergebnis der großen Revolution festhaltende C o d e civil in Frankreich (1804) und das Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch in Österreich (1811). Preußen unternahm den nie wiederholten Versuch, die Gesamtheit der Rechtsordnung in einem einzigen Gesetzbuch zu kodifizieren, das nach dem Willen seines eigentlichen Autors Carl Gottlieb Svarez (1746-1798) die Züge einer Grundverfassung, eines den Gesetzgeber selbst bindenden Grundgesetzes tragen sollte. Ihm gebührt w e g e n seiner „bis in die heutige Zeit ausstrahlenden Verdienste u m die Schaffung rechtsstaatlicher Strukturprinzipien höchste A n e r k e n n u n g " (Thomas Karst). In einem Referat vor der Mittwochsgesellschaft aufgeklärter Beamter zu Berlin sagte Svarez, noch ehe die Französische Revolution ausbrach: „Aber die allgemeine Gesetzgebung, deren Werk es ist, feste, sichere und fortdauernde Grundsätze über Recht und Unrecht festzustellen, die besonders in einem Staat, welcher keine eigentliche Grundverfassung hat, die Stelle derselben gewissermaßen ersetzen soll, die also für den Gesetzgeber selbst Regeln enthalten muß, denen er auch in bloßen Zeitgesetzen nicht zuwiderhandeln darf, die sich den stolzen Gedanken erlauben darf, die Wohlfahrt nicht bloß der gegenwärtigen, sondern auch künftiger Generationen zu befördern — diese kann und darf sich bei allen dergleichen Nebenrücksichten auf bloß temporelle Bedürfnisse oder Umstände nicht aufhalten. Ihr Geist und ihre Grundsätze müssen gleichsam die Feste sein, in welche sich die durch Zeitgesetze gedrängte Freiheit zurückziehen und aus der sie unter günstigeren U m s t ä n d e n zur Wiedererlangung ihrer gekränkten Rechte mit gestärkten Kräften zurückkehren kann" („Uber den Einfluß der Gesetzgebung in die A u f k l ä r u n g " , 1789). Das rechtsstaatliche P r o g r a m m dieser Sätze erscheint noch eindrücklicher in den Vorträgen, die Svarez dem preußischen Kronprinzen und späteren König Friedrich Wilhelm III. 1791/92 186
1. Das Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten von 1794 als Erzieher des Thronfolgers gehalten hat, u m den künftigen Monarchen in den Pflichten seines hohen Amtes und der Regierungskunst zu unterweisen. Hier bietet sich das weltanschaulich-politische Bild von Recht und Staat eines Mannes, der z u m Gesetzgeber eines führenden deutschen Staates seiner Zeit geworden ist: die Staatsauffassung des aufgeklärten Absolutismus mit ihrer rationalistischen Naturrechtslehre v o m Gesellschaftsvertrag, deren Anfänge im 17. Jahrhundert liegen. Die philosophische Naturrechtslehre der Aufklärung, „eine anerkannte Teildisziplin der Rechtsgelehrsamkeit" und eine „zusätzliche, subsidiäre Rechtsquelle" (Diethelm Klippel), setzte sich im staatlichen Leben Preußens und Österreichs vornehmlich im Allgemeinen Staatsrecht und im Völkerrecht seit der Mitte des 18. Jahrhunderts durch. Das Jahr 1740 markiert die Wende: Der Thronwechsel in Preußen (Friedrich Wilhelm I. — Friedrich II., der Große) und Osterreich (Karl VI. — Maria Theresia) führte in beiden Staaten zu einem Wandel des Verfassungs- und Rechtslebens. In Friedrich dem Großen besaß der aufgeklärte Absolutismus seinen hervorragendsten Vertreter. Daß den M e n schen „doch das Feld geöffnet w i r d . . . und die Hindernisse der allgemeinen Aufklärung, oder des Ausganges aus ihrer selbstverschuldeten Unmündigkeit, allmählich weniger werden, davon haben w i r doch deutliche Anzeigen. In diesem Betracht ist dieses Zeitalter das Zeitalter der Aufklärung, oder das Jahrhundert Friedrichs", schrieb Immanuel Kant 1784 in der Berlinischen Monatsschrift zur „Beantwortung der Frage: Was ist A u f k l ä r u n g ? " . Der aufgeklärte Absolutismus veränderte nicht die Staats-, wohl aber die Regierungsform. Der Staat fand seinen Zweck im Gemeinwohl, in der Wohlfahrt der Untertanen und Bürger, in der Aufrechterhaltung von Recht und Sicherheit innerhalb der staatlichen Gemeinschaft. Er w a r nicht mehr das Werkzeug der W i l l k ü r des Herrschers; vielmehr erschien der Herrscher nun als der erste Diener des Staates. Zwar blieb der M o n a r c h alleiniger und uneingeschränkter Träger der Hoheits- oder Majestätsrechte; doch die dem Staate vorgegebenen Zwecke beschränkten deren Ausübung. Der Fürst verkörperte nicht mehr den Staat, sondern galt als Institution des Staates. A L R II 13: „§ 1. Alle Rechte und Pflichten des Staats gegen seine Bürger und Schutzverwandten vereinigen sich in dem Oberhaupte desselben. § 2. Die vorzügliche Pflicht des Oberhaupts im Staate ist, sowohl die äußere als innere R u h e und Sicherheit zu erhalten, und einen jeden bey dem Seinigen gegen Gewalt und Störungen zu schützen. § 3. Ihm k o m m t es zu, für Anstalten zu sorgen, w o d u r c h den Einwohnern Mittel und Gelegenheiten verschafft werden, ihre Fähigkeiten und Kräfte auszubilden, und dieselben zur Beförderung ihres Wohlstandes anzuwenden. § 4. D e m Oberhaupte im 187
VI. Naturrecht und Aufklärung — große Kodifikationen Staate gebühren daher alle Vorzüge und Rechte, welche zur Erreichung dieser Endzwecke erforderlich sind." Die rechtstheoretische Grundlage dieses neuen Staatsdenkens lieferte die Lehre vom Staatsgründungsvertrag, die von der klassischen Naturrechtsschule, vor allem von Samuel Pufendorf (1632-1694) und C h r i stian Wolff (1679-1754) ausgebaut w o r d e n ist. Diese Doktrin gründete den Staat auf einen Gesellschaftsvertrag, den die Bürger — der Unsicherheiten und Gefahren des Naturzustandes überdrüssig — schlossen. Svarez, der an der preußischen Universität Frankfurt/Oder bei dem Wolff-Schüler Darjes die Rechte studiert hatte, übernahm diese Idee. In seinen Kronprinzenvorträgen dozierte er: „Nicht von jeher haben Staaten existiert. Der Mensch im Stande der N a t u r hat schon Rechte und Pflichten, die man kennenlernen muß, u m seine Rechte und Verhältnisse im Staat richtig zu bestimmen." Die Staatsverbindung sei durch den bürgerlichen Vertrag entstanden: „Der Regent übernimmt, das Volk nach dem Gesetz und nach dem dadurch bestimmten Zwecke des Staates zu regieren; die Untertanen geloben, ihm nach diesen Gesetzen zu gehorchen. W i e dieser Vertrag geschlossen werde: a) ausdrücklich, bei Huldigungen, Verpflichtungen der Vasallen, Offizianten, Bürger pp.; b) stillschweigend durch das F a k t u m der Etablierung in einem Staat." In der rechtlichen Bindung des Herrschers und Staates an die vorgegebenen Zwecke des Gesellschaftsvertrages lag der Fortschritt im Vergleich z u m alten, religiös-patriarchalischen Absolutismus. Offen ließ Svarez freilich, wie diese Bindung gewährleistet w e r d e n sollte, w e n n es dem Souverän an Einsicht oder gutem Willen fehlte. Auf der Grundlage des Absolutismus mußten Rechtsstaat und Grundrechte unvollkommen bleiben. Die Kraft der neuen Staatsidee in Preußen offenbarten die Ereignisse der beiden letzten Jahrzehnte des 18. Jahrhunderts. Gegen Ende der Regierung Friedrichs des Großen führte der berühmte Müller-Arnold-Prozeß zu einer „Justizkatastrophe" (Hermann Conrad), die 1779/80 eine neue Periode der Reform des Justizwesens in Preußen einleitete. In dem Verfahren gegen den Wassermüller Arnold hatte der König vermeintliches Unrecht durch einen „Machtspruch" korrigiert: ein Kammergerichtsurteil abgeändert, die beteiligten Richter gefangengesetzt und seinen obersten Justizbeamten, den Großkanzler von Fürst entlassen. A n dessen Stelle berief der Alte Fritz den schlesischen Justizminister von Carmer, der bereits mit seinen Vorschlägen zur R e f o r m des Prozeßrechts hervorgetreten war. C a r m e r w a r der Initiator der großen Kodifikation und stand dann auch an der Spitze der Arbeitsorganisation. C a r m e r brachte von Breslau mit sich seinen langjährigen Mitarbeiter, den aus Schweidnitz gebürtigen Oberamtsregierungsrat Svarez 188
1. Das Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten von 1794 (eigentlich Schwarz), der bald z u m eigentlichen Kopf der preußischen Rechtserneuerung wurde. Die Gesetzgebungsarbeit des neuen Großkanzlers begann mit einer Reform des Zivilprozesses. Dann schuf Svarez die Preußische Hypothekenordnung, die bedeutende Fortschritte im Bereich des Liegenschaftspfandrechts brachte. Die Hauptleistung indessen stellte das Landrecht dar. Eine Kabinettsorder Friedrichs des Großen v o m 14. April 1780 hatte dieses schon seit 1714 begonnene, doch ins Stocken geratene große U n ternehmen w i e d e r u m angestoßen. Der König erstrebte eine Vereinfachung (Simplifizierung) der Gesetze, die dem Publikum verständlich sein und nicht „durch ihre Dunkelheit und Zweydeutigkeit zu weitläufigen Disputen der Rechtsgelehrten Anlaß geben" sollten. Ferner beabsichtigte Friedrich eine Vereinheitlichung (Unifizierung) des Rechts in den preußischen Staaten, ohne freilich das unterschiedliche Recht der einzelnen Provinzen dabei ausschalten zu wollen. Er befahl vielmehr, Provinzialgesetzbücher herzustellen, über denen sich als umfassende Kodifikation das Landrecht erheben sollte. Das Gesetzeswerk sollte das römische, das natürliche und das einheimische Recht gleichermaßen in sich aufnehmen. „Es muß also", hieß es in der Kabinettsorder, „nur das Wesentliche mit dem Natur-Gesetz und der heutigen Verfassung aus demselben (d.h. dem justinianischen Recht) abstrahiert, das U n n ü t z e weggelassen, Unsere eigene Landes-Gesetze am gehörigen Orte eingeschaltet und solchergestalt ein subsidiarisches Gesetz-Buch, zu welchem der Richter beim Mangel der Provinzialgesetze recurriren kann, angefertigt werden." Die Arbeit des Svarez und seiner ad hoc berufenen und wechselnden, auch miteinander konkurrierenden Helfer — deren bedeutendster Kopf der spätere Hallenser Strafrechtsprofessor Ernst Ferdinand Klein w a r — an dem Projekt, „ein Muster aufgeklärter Kodifikationskunst in Europa" (Franz Wieacker), zog sich über Jahre hin. Sie folgte den Ansprüchen Friedrichs des Großen, der in seiner „Dissertation sur les raisons d'etablir ou d'abroger les lois" (1749) das Idealbild eines vollkommenen Gesetzbuchs entworfen hatte. Die Reformer beteiligten die Öffentlichkeit, indem sie durch ein Preisausschreiben „philosophische Juristen" auch des deutschen Auslandes, Regierungen und Stände aller preußischen Provinzen zu Beiträgen aufforderten. Die Fülle der eingehenden Monita k a m dem letzten Entwurf zugute. N a c h Abschluß der „Svarezschen Revision", bei welcher Ernst Ferdinand Klein das Strafrecht, Christoph Goßler das Handelsrecht, der H a m b u r g e r Büsch das Schifffahrtsrecht und Svarez selbst die gesamten übrigen Materien bearbeitet hatten, konnte das Publikationspatent v o m 20. M ä r z 1791 das „Allgemeine Gesetzbuch für die Preußischen Staaten" ( A G B ) verkünden. 189
VI. Naturrecht und Aufklärung — große Kodifikationen Doch Friedrich Wilhelm II. suspendierte die Kodifikation schon k u r z darauf, noch ehe sie in Kraft getreten war. Der König stand dabei unter dem Einfluß der politischen und theologischen Reaktion u m den Kultusminister Wöllner und den Justizminister Danckelmann und unter dem Eindruck der Französischen Revolution. Die aufklärerische Staatstheorie und die rechtsstaatliche Terminologie des Gesetzes stießen auf den entschlossenen Widerstand der Krone und des Adels, die ihre Privilegien durch den „Gleichheitskodex" gefährdet sahen. Doch Svarez kämpfte weiter u m die Verwirklichung seines Lebenswerkes. M i t seinem 1793 erschienenen „Unterricht über die Gesetze für die Einwohner der Preußischen Staaten", einem schlicht gefaßten volkstümlichen Auszug aus der Kodifikation, w a r b er erfolgreich für das A G B und seine Leitgedanken. N o c h mehr k a m dem bereits halbbegrabenen Gesetzbuch ein äußerer Umstand zu Hilfe: der Erwerb großer fremder Gebietsteile, insbesondere des sogenannten Südpreußen A n n o 1793 infolge der zweiten polnischen Teilung. Nicht eine mit drakonischer Strenge betriebene Assimilierungspolitik, sondern „die Fürsorge und Besserung des Landes w a r das oberste Ziel" (Walther Hubatsch) der preußischen Regierung in den neuerworbenen Landen. Was lag näher, als auf das bereitliegende A G B zurückzugreifen, nachdem man es noch einmal revidiert hatte? So fiel das Verbot von Machtsprüchen (§ 6 EAGB), ebenso der Satz, daß die königlichen Gesetze dann nicht befolgt zu werden brauchten, w e n n sie die Rechte der Bürger stärker, als v o m allgemeinen Wohl geboten, beschränkten. A u c h der alte Titel des Werkes mußte einem traditionelleren, altständische Empfindungen schonenden weichen. N a c h diesen und einigen weiteren unbedeutenderen Änderungen trat die Kodifikation endlich am 1. J u n i 1794 in Kraft, und z w a r nicht nur für die neuen Provinzen, sondern in der ganzen Monarchie, w o sie in der Gerichtspraxis auch alsbald die Subsidiarität ihres Geltungsanspruchs verlor. Das Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten enthält Staats-, Stände-, Lehn-, Kirchen-, Straf- und Privatrecht. Die Einleitung handelt „von den Gesetzen überhaupt" und bietet „allgemeine Grundsätze des Rechts". Die Kodifikation umfaßt zwei Teile mit 23 und 20 Titeln und insgesamt etwa 19000 Paragraphen. Der umfangreiche Stoff und die Kasuistik des Gesetzes haben das A L R stark anschwellen lassen. Svarez hat den Nachteil gesehen, den die Dickleibigkeit der Kodifikation für die volkspädagogische Absicht ihrer Verfasser bedeutete; das Gesetz sollte ja nicht bloß eine A n w e i s u n g für den Richter, sondern eine Anleitung für das P u b l i k u m liefern. In seinem Vortrag: „Inwiefern können und müssen Gesetze k u r z sein?" hat Svarez indes die Kasuistik seines Werks gerechtfertigt mit dem H i n w e i s darauf, daß Undeutlichkeit und Ungewißheit des Gesetzes für den Bürger v o m Übel seien: „denn als190
1. Das Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten von 1794 dann w i r d der Richter z u m Gesetzgeber, und nichts kann der bürgerlichen Freiheit gefährlicher sein, zumal w e n n der Richter ein besoldeter Diener des Staates und das Richteramt lebenswierig . . . ist". Während es seinen Rechtsstoff vorwiegend aus dem gemeinen Recht übernimmt, folgt das Landrecht in seinem A u f b a u dem durch Wolff auf Pufendorf zurückgehenden vernunftrechtlichen System. Der erste Teil behandelt das Vermögensrecht des einzelnen, insbesondere den Eigentumserwerb mit den einschlägigen Obligationen („Von der Erwerbung des Eigenthums überhaupt, und den unmittelbaren Arten derselben insonderheit", „Von der mittelbaren Erwerbung des Eigenthums", „Von den Titeln zur Erwerbung des Eigenthums unter Lebendigen"). Hierauf folgt das Erbrecht. Weitere Titel regeln die Erhaltung und Verfolgung des Eigentums, das gemeinschaftliche Eigentum, sowie dingliche und persönliche Rechte auf Sachen. Der zweite Teil des A L R gilt den Vereinigungen: dem Ehe-, Familien- und Gesinderecht, den Gesellschaften, den Ständen, den Kirchen und dem Staat. Der A u f b a u des Gesetzes vollzieht sich also von der Einzelperson über die verschiedenen Gemeinschaften bis zur umfassendsten Ordnung des staatlichen Gemeinwesens. Das Allgemeine Landrecht hält trotz seines aufklärerischen Geistes sonst an der feudalen Schichtung des Volkes mit den Ständen des Adels, der Bürger und Bauern fest, denen es im einzelnen Rechte und Pflichten auch für den Bereich des Privatrechts zuweist. D e m schlechthin bevorzugten Adel, „als dem ersten Stande im Staate, liegt, nach seiner Bestimmung, die Vertheidigung des Staats, so w i e die Unterstützung der äußern W ü r d e und innern Verfassung desselben, hauptsächlich ob" ( A L R II 9 § 1). „Nur der Adel ist z u m Besitze adlicher Güter berechtigt" (II 9 § 37); dem adligen Rittergutsbesitzer allein k o m m t das Vorrecht zu, erbuntertänige Bauern zu haben „und herrschaftliche Rechte über dergleichen Leute auszuüben" (II 7 § 91). Diese herrschaftlichen Rechte bedeuten einmal eine dingliche Bindung der Erb- oder Gutsuntertänigen an das herrschaftliche Gut, das sie ohne Erlaubnis der Herrschaft nicht verlassen dürfen. Andererseits können sie von dieser ohne das Gut auch nicht veräußert werden (II 7 § 150 f.). Die bäuerlichen Untertanen sind ihrer adligen Herrschaft Treue, Ehrfurcht und Gehorsam, auch allerlei Dienste und Abgaben schuldig. Zur Heirat bedarf es der herrschaftlichen Genehmigung. „Kinder der Unterthanen müssen in der Regel dem Bauerstande, und dem Gewerbe der Aeltern sich widmen. Ohne ausdrückliche Erlaubniß der Gutsherrschaft können sie zur Erlernung eines bürgerlichen Gewerbes oder z u m Studiren nicht gelassen werden." Widerspenstiges Gesinde „kann die Herrschaft durch mäßige Züchti-
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VI. Naturrecht und Aufklärung — große Kodifikationen gungen zu seiner Pflicht anhalten", und dieses Recht ist gar übertragbar (II 7 §§ 133 f., 150 ff., 227 ff.). D e m Adel folgt der Bürgerstand; er umfaßt alle Einwohner des Staates, „welche, ihrer Geburt nach, weder z u m Adel, noch z u m Bauerstande gerechnet werden können, und auch nachher keinem dieser Stände einverleibt sind" (II 8 § 1). Ihnen ist die Ausübung bürgerlicher Gewerbe und der Erwerb städtischer Grundstücke vorbehalten. Unter dem Bauernstand schließlich versteht das Landrecht „alle Bewohner des platten Landes, welche sich mit dem unmittelbaren Betriebe des Ackerbaues und der Landwirthschaft beschäftigen; in so fern sie nicht durch adliche Geburt, A m t oder besondre Rechte, von diesem Stande ausgenommen sind" (II 7 § 1). Kein Angehöriger des Bauernstands darf ohne Erlaubnis des Staates selbst ein bürgerliches Gewerbe treiben oder seine Kinder dazu w i d m e n (II 7 § 2). Eine besondere Gruppe der Bauernschaft bildeten die bereits charakterisierten Erbuntertänigen, die der adligen Patrimonialgerichtsbarkeit unterstanden und den J u n k e r n H a n d und Spanndienste (Fronden) schuldeten. Langsam hatte sich nach der Niederlage von 1525 die rechtliche und wirtschaftliche Lage der Bauern gebessert; sie verharrten in z w a r oft wirtschaftlich einigermaßen gesicherter, doch unfreier Stellung unter ihren adeligen und geistlichen Guts- und Grundherren. Wiederholtes Aufbegehren und mittels beauftragter Bauernadvokaten vor den höchsten Reichsgerichten nicht ohne Erfolg geführte Untertanenprozesse vermochten z w a r der W i l l k ü r t y rannischer oder jagdlustiger Potentaten zu steuern, änderten aber nichts an der grundsätzlichen Stellung der Besiegten. Erst die A u f k l ä r u n g und in ihrem Gefolge die Französische Revolution und der Siegeszug N a p o leons zerbrachen die Ordnung des Ancien regime und setzten eine große soziale und rechtliche Umschichtung ins Werk, die ganz Europa erfassen sollte und in den letzten Ausläufern erst im 20. Jahrhundert ihren Abschluß fand. Zu dieser Umgestaltung zählten folgende Einzelreformen: die A u f h e b u n g von Leibeigenschaft und Erbuntertänigkeit, samt den damit verbundenen Pflichten und Rechtsbeschränkungen; die Übertragung des vollen Eigentums an Grund und Boden an die ihn bewirtschaftenden Bauern, w o f ü r die Grundherren entschädigt wurden; die sich lange hinziehende und erst im Laufe des 19. Jahrhunderts z u m Abschluß gelangende Aufhebung der Gerichts- und Polizeigewalt, der Schul- und Kirchenaufsicht der Grundherren. Relikte, w i e etwa das Kirchenpatronat, ragen sogar bis in die Gegenwart hinein, wenngleich die Kirchen sie mittlerweile weithin abgelöst haben. Die ersten Ansätze zu einer Bauernbefreiung finden sich 1761 in Savoyen. In Frankreich verleiht ihr der Rechtsumbruch der Französischen Revolution dann mächtige, auf das Alte Reich ausstrahlende Wucht. 192
1. Das Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten von 1794 A u c h die Restauration nach 1815 ändert daran nichts mehr. Die aus dem gleichen Geiste des Liberalismus und des Rationalismus gespeisten josephinischen Reformen in Osterreich (1781-1789) werden dagegen nach dem Tode jenes aufgeklärten Herrschers teilweise wieder aufgehoben und erst durch die Achtundvierzigerrevolution endgültig erzwungen. Im rechtsrheinischen Deutschland hob als erster Markgraf Karl Friedrich von Baden im Jahre 1787 die Leibeigenschaft auf; ihm folgten das Napoleonidenkönigreich Westfalen und einige süddeutsche Mittelstaaten. Schrittweise vollzog sich der Reformprozeß in Preußen; doch w a s dessen Gesetzgeber 1794 versäumt hatte, holte er in den Jahren 1807 bis 1810 wenigstens teilweise nach. Der Zusammenbruch des preußischen Staates im Krieg mit dem Frankreich Napoleons hatte die Schwäche der alten ständestaatlichen Ordnung erwiesen. Die Einsicht in die Unzulänglichkeit eines überlebten Sozialmodells führte zur preußischen Reformgesetzgebung am Anfang des 19. Jahrhunderts, welche die Ausgleichung der ständischen Rechtsverschiedenheiten einleitete und vornehmlich mit den N a m e n Karl Reichsfreiherr v o m und z u m Stein (1757-1831) und Karl August von Hardenberg (1750-1822), der ein noch weitergehendes Programm vertrat, verknüpft ist. W ä h r e n d König Friedrich Wilhelm III. in den Jahren 1799 bis 1805 50000 seiner Domänenbauern persönliche Freiheit und volles Eigentum schenkte, hielt der Widerstand des Adels die Erbuntertänigkeit der Privatbauern zunächst aufrecht. Das Edikt v o m 9. Oktober 1807 betreffend den erleichterten Besitz und den freien Gebrauch des Grundeigentums sowie die persönlichen Verhältnisse der Landbewohner legte die feudalen Schranken teilweise nieder und gab allen Bauern Preußens spätestens zu Martini 1810 die volle persönliche Freiheit; ihm folgte 1811 das Regulierungsedikt, das ihnen unbeschränktes Hofeigentum verschaffte. D e m an sich berechtigten Begehren der Gutsherren nach einem Ausgleich für diesen Verlust entsprach eine — 1816 modifizierte — gesetzliche Ablösungsbestimmung: als Entschädigung für die A u f h e b u n g aller Lasten und Dienste müssen die Bauern — die zumeist ohne eigenes Kapital und mangels ländlicher Darlehenskassen die festgesetzte Entschädigung nicht in Geld zu zahlen vermochten — ein Drittel bis die Hälfte ihrer neugewonnenen Hofstelle wieder an ihren Grundherrn abtreten. Das w i r k t e sich vielfach verhängnisvoll aus: ohne Mittel zur intensiven Bewirtschaftung und auf zu schmalem Land konnte die Masse der Kleinbauern nicht mehr selbständig existieren. Eine nüchterne Gesamtbilanz muß in dem sich lang hinziehenden, durch vielfache Rückschläge und zeitliche Überlappungen geprägten Vorgang, unter dem Schlagwort Bauernbefreiung plakativ zusammengefaßt, Licht und Schatten gerecht verteilen. Die Mittel- und Großbauern 193
VI. Naturrecht und Aufklärung — große Kodifikationen konnten in der Regel ihren Besitz arrondieren und ihre Stellung festigen. Doch in der Breite konnte nur eine Begleitung durch überlegte und mit langem A t e m ins Werk gesetzte wirtschaftliche und sozialpolitische Unterstützungsmaßnahmen dem durch Jahrhunderte gedrückten Bauernstande aufhelfen. Wo solcher Sukkurs fehlte oder nicht griff — so in den gutsherrlichen Gebieten Ostelbiens, aber auch in den durch Realerbteilung in Kleinstparzellen zersplitterten Regionen Südwestdeutschlands —, verloren zahlreiche nun selbständige Kleinbauern und Häusler ihre allein nicht lebensfähigen Hofstellen wieder und sanken aus ihrer vorherigen rechtlich geschützten Abhängigkeit in eine schutzlose Freiheit und Verarmung ab. Aus ihnen rekrutierte sich ein schnell anwachsendes Landarbeiterproletariat, strömte in die Städte und bildete dort die ausbeutbare industrielle Reservearmee des Kapitalismus. Ohne die Bauernbefreiung ließe sich der Wandel v o m Agrar- z u m Industriestaat k a u m denken. Die Proklamation der Gewerbefreiheit im Edikt v o m 28. Oktober 1810 über die Einführung einer allgemeinen Gewerbesteuer und das Edikt v o m 11. M ä r z 1812 über die bürgerlichen Verhältnisse der J u d e n im preußischen Staate setzten das Streben nach Rechtsgleichheit fort, das freilich erst im Zeichen der Weimarer Verfassung sein Ziel erreichen sollte. Das Landrecht hat in den altpreußischen Landesteilen bis z u m 1. Januar 1900 gegolten. 1814 ist es in den neuerworbenen westfälischen Gebieten, indessen nicht im Rheinland, w o ebenso w i e im ehemaligen H e r z o g t u m Berg der C o d e civil von 1804 galt, 1866 nirgends mehr eingeführt worden. Teile des Polizeirechts hat erst das preußische Polizeiverwaltungsgesetz von 1931 ersetzt und auch übernommen, darunter die berühmte Generalklausel des § 10 II 17, die das 1875 gegründete Preußische Oberverwaltungsgericht ausgeprägt hatte und die gemeindeutsch geworden ist: „Die nöthigen Anstalten zur Erhaltung der öffentlichen Ruhe, Sicherheit und Ordnung, und zur A b w e n d u n g der dem Publico, oder einzelnen Mitgliedern desselben, bevorstehenden Gefahr zu treffen, ist das A m t der Policey." A u c h die §§ 74, 75 E A L R haben eine große Karriere weit über Preußen hinaus gemacht: „Einzelne Rechte und Vortheile der Mitglieder des Staats müssen den Rechten und Pflichten zur Beförderung des gemeinschaftlichen Wohls, w e n n zwischen beyden ein wirklicher Widerspruch (Collision) eintritt, nachstehn." „Dagegen ist der Staat denjenigen, welcher seine besondern Rechte und Vortheile dem Wohle des gemeinen Wesens aufzuopfern genöthigt wird, zu entschädigen gehalten." Diese Regeln sind typische Erzeugnisse der Naturrechtsdoktrin. Der Aufopferungsanspruch bildet das Gegenstück zur umfassenden landesherrlichen Verwaltungshoheit über die soziale Güterordnung, z u m dominium eminens oder „ius dispo194
1. Das Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten von 1794 nendi de rebus propriis civium salutis publicae causa" (Christian Wolff). Er ergibt sich aus der Doktrin vom Gesellschaftsvertrag: Nach dem sozialkontraktlichen Bild hatten die Bürger allein die natürliche Freiheit, nicht indessen ihre auf besonderen Erwerbstiteln beruhenden Rechte (iura quaesita) in die Staatsgemeinschaft eingebracht; darum konnte der Landesherr über diese Vermögenswerten Rechte nicht ohne weiteres und nur gegen Entschädigung verfügen. Den hohen Rang der Kodifikation des „preußischen Naturrechts" (Wilhelm D i l t h e y ) begründen gleichermaßen Stil und Inhalt des Gesetzes, das — umfassendem Plan folgend und getragen von starkem Staatsethos — in anspruchsvoller und anschaulicher Sprache die Fülle römischer und deutscher Rechtsgedanken und Institute zu einem großen neuen, durchaus volkstümlichen und erzieherisch w i r k e n d e n Ganzen verband. Die Schwächen des Werkes von 1794 liegen in dem übersteigerten Vernunftglauben seiner Schöpfer, in ihrem Mißtrauen gegen die staatsbürgerliche Selbstverantwortung und in dem überlebten ständischen Sozialmodell des Landrechts. Der Versuch des preußischen Gesetzgebers, durch eine weitreichende, oft bevormundende Kasuistik alle erdenklichen Verhältnisse absolut richtig zu lösen, mußte fehlschlagen. Die Selbstüberschätzung des Gesetzgebers erscheint besonders deutlich in § 6 E A L R : „Auf Meinungen der Rechtslehrer, oder ältere Aussprüche der Richter, soll, bey künftigen Entscheidungen, keine Rücksicht genommen werden." U n d im Publikationspatent hieß es: „Es soll . . . kein Collegium, Gericht oder Justizbedienter sich unterfangen, . . . von klaren und deutlichen Vorschriften der Gesetze auf den Grund eines vermeinten philosophischen Raisonnements oder unter dem Vorwande einer aus dem Zwecke und der Absicht des Gesetzes abzuleitenden Auslegung die geringste eigenmächtige A b w e i c h u n g bei Vermeidung Unserer höchsten U n g n a d e und schwerer Ahndung sich zu erlauben." Solche Sätze trugen wesentlich zu der Reserve und Ablehnung bei, die das Gesetz bei vielen Rechtsgelehrten fand. Manche abweisende Kritik freilich w u r d e der Kodifikation nicht gerecht und hielt ohne Grund ihre wissenschaftliche Fortentwicklung hin. Namentlich die Verwahrungen Savignys, des Haupts der Historischen Rechtsschule, gegen die Gesetzgebung des aufgeklärten Absolutismus haben das Bild des A L R für die Zukunft nicht unerheblich verfälscht. Zu beachten bleibt allerdings auch, daß derselbe Savigny, der im Jahre 1816 das Gesetzbuch in einem Brief an A c h i m von A r n i m noch als „in F o r m und Inhalt eine . . . Sudel e y " bezeichnet hatte, durch seine im Wintersemester 1819/20 aufgenommene Berliner Landrechtsvorlesung der Romanisierung des preußischen Privatrechts den Weg bereitete. Auf diese Weise vermochte die Kodifikation allmählich wieder Anschluß an die zeitgenössische Rechts195
VI. Naturrecht und Aufklärung — große Kodifikationen lehre zu gewinnen. Schließlich brach auch in der preußischen Praxis während des letzten Drittels des 19. Jahrhunderts die Pandektistik dank des Kommentators Christian Friedrich Koch sowie der Handbuchautoren Franz August Alexander Förster und Heinrich Dernburg breit durch. Vom wissenschaftlichen Hochstand der Ministerialbürokratie des 19. Jahrhunderts zeugen die seit einer Kabinettsorder vom 25. November 1808 zu einem festen Programmpunkt der preußischen Justizpolitik zählenden Bemühungen um eine Revision des Allgemeinen Landrechts. Auch wenn das Projekt letztlich erfolglos blieb, so dienten manche der erarbeiteten Entwürfe doch als wichtige Grundlage für die spätere zivil-, straf- und verfahrensrechtliche Legislatur Preußens, des Deutschen Bundes und des Deutschen Reiches. Die Forschungen Hans Thiemes und Hermann Conrads haben die abwertenden und unzuständigen Urteile zuletzt auch marxistischer Autoren entkräftet und auf das rechte Maß zurückgeführt. Uns Heutigen ist das A L R nicht nur ein Lehrstück über die Möglichkeiten und Grenzen der Gesetzgebung, sondern auch — dank seines juristischen Vorrats — ein Auskunftsmittel bei vielen rechtlichen Fragen.
2. Das Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch für die gesamten Deutschen Erbländer der Osterreichischen Monarchie von 1811 BRAUNEDER, Wilhelm: Privatrechtsfortbildung durch Juristenrecht in Exegetik und Pandektistik in Österreich, in: ZNR 5, 1983, 22-43; BRAUNEDER, Wilhelm: „Allgemeines" aber nicht gleiches Recht: das ständische Recht des ABGB, in: HATTENHAUER, Hans u. LANDWEHR, Götz (Hgg.): Das nachfriderizianische Preußen 1786-1806, 1988, 23-33; BRAUNEDER, Wilhelm: Das österreichische ABGB: Eine neuständische Kodifikation, in: Festschr. Gunter Wesener, hg. v. Georg KLINGENBERG, Joh. Michael RAINER u. Herwig STIEGLER, 1992, 67-80; BÜRGE, Alfons: Das französische Privatrecht im 19. Jahrhundert. Zwischen Tradition und Pandektenwissenschaft, Liberalismus und Etatismus, 2 1995; C O I N G , Helmut: Zur Geschichte des Privatrechtsystems, 1962; C O N RAD, Hermann: Individuum und Gemeinschaft in der Privatrechtsordnung des 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts, 1956; C O N R A D , Hermann: Rechtsstaatliche Bestrebungen im Absolutismus Preußens und Österreichs am Ende des 18. Jahrhunderts, 1961; CONRAD, Hermann (Hg.): Recht und Verfassung des Reiches in der Zeit Maria Theresias. Die Vorträge zum Unterricht des Erzherzogs Joseph im Natur- und Völkerrecht sowie im Deutschen Staats- und Lehnrecht, 1964; DÖLEMEYER, Barbara: Die Teilnovellen zum ABGB, in: HOFMEISTER, Herbert (Hg.): Kodifikation als Mittel der Politik, 1986, 49-57; DÖLEMEYER, Barbara: Die gegenseitige Beeinflussung deutscher und österrei-
196
2. Das ABGB für die ges. Dt. Erbländer der Österr. Monarchie von 1811 chischer Kodifikationen im 19. und 20. Jahrhundert, in: Deutsche in der Habsburger Monarchie, hg. v. Hans ROTHE, 1989, 57-79; Festschr. zur Jahrhundertfeier des Allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuches (mit vielen wertvollen Beiträgen), 2 Bde., 1911; FEHRENBACH, Elisabeth: Traditionale Gesellschaft und revolutionäres Recht. Die Einführung des Code Napoleon in den Rheinbundstaaten, 1974; FIJAL, Andreas u. ELLERBROCK, Winfried: Das Österreichische ABGB vom 1.6.1811 — ein Jubiläum besonderer Art, in: JuS 1988, 519— 523; GAMPL, Inge: Staat — Kirche — Individuum in der Rechtsgeschichte Österreichs zwischen Reformation und Revolution, 1984; HARRASOWSKY, Philipp Harras Ritter von: Geschichte der Codification des österreichischen Civilrechtes, 1868; HARRASOWSKY, Philipp Harras Ritter von (Hg.): Der Codex Theresianus und seine Umarbeitungen, 5 Bde., 1883-1886; HOFMEISTER, Herbert: Bürger und Staatsgewalt bei Franz v. Zeiller, in: Diritto e Potere Nella Storia Europea. Atti del quarto Congresso internazionale della Societä Italiana di Storia del Diritto in onore di Bruno Paradisi, 1982, 1007-1029; KANT, Immanuel: Die Metaphysik der Sitten (zuerst 1797), in: Kant-Studienausgabe, hg. v. Wilhelm WEISCHEDEL, Bd. 4, 3 1970 (Nachdr. 1983), 303-499; KLEIN-BRUCKSCHWAIGER, Franz: Karl Anton von Martini in der Zeit des späten Naturrechts, in: Festschr. Karl Haff, 1950, 120-129; KLEIN-BRUCKSCHWAIGER, Franz: Die Geschichte der Rechtsphilosophie in der Naturrechtslehre von Karl Anton von Martini, in: ZRG, GA, 71, 1954, 374-381; KLUETING, Harm (Hg.): Der Josephinismus. Ausgewählte Quellen zur Geschichte der theresianisch-josephinischen Reformen, 1995; KOCHER, Gernot: Höchstgerichtsbarkeit und Privatrechtskodifikation: die Oberste Justizstelle und das allgemeine Privatrecht in Österreich von 1749-1811, 1979; LENTZE, Hans: Die Universitätsreform des Ministers Graf Leo Thun-Hohenstein, 1962; LEUZE, Dieter: Die Entwicklung des Persönlichkeitsrechts im 19. Jahrhundert, zugleich ein Beitrag zum Verhältnis allgem. Persönlichkeitsrecht — Rechtsfähigkeit, 1962; LEWISCH, Peter: Der Wandel von Arbeitsethos und Arbeitsrecht in Österreich in der Zeit von Maria Theresia bis zum ABGB, 1987; LOCRE, Guillaume: Legislation civile, commerciale et criminelle, 16 Bde., Bruxelles 1836 (Nachdr. 1990, hg. v. Werner SCHUBERT); MAASS, Ferdinand: Der Josephinismus. Quellen zu seiner Geschichte in Österreich 1760-1850, 5 Bde., 19511961; MALFER, Stefan: Das österreichische Allgemeine bürgerliche Gesetzbuch in Ungarn zur Zeit des „Provisoriums" 1861-1867, in: ZNR 14, 1992, 32-44; OFNER, Julius (Hg.): Der Ur-Entwurf und die Berathungs-Protokolle des Oesterreichischen Allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuches, 2 Bde., 1888/89; OGRIS, Werner: Der Entwicklungsgang der österreichischen Privatrechtswissenschaft im 19. Jahrhundert, 1968; OGRIS, Werner: Die Wissenschaft des gemeinen römischen Rechts und das österreichische Allgemeine bürgerliche Gesetzbuch, in: Wissenschaft und Kodifikation des Privatrechts im 19. Jahrhundert Bd. 1, 1974, 153-172; OGRIS, Werner: Gesetzgeber und Gesetzgebung Österreichs im ausgehenden 18. Jahrhundert, in: GIULIANI, Alessandro u. PlCARDI, Nicola (Hgg.): L'educazione giuridica Bd. V/2, 1984, 381-404; OGRIS, Werner: 175 Jahre ABGB 1986, 1987; OGRIS, Werner: Aufklärung, Naturrecht und Rechtsreform in der Habsburgermonarchie, in: Peter KRAUSE (Hg.): Vernunftrecht und Rechtsreform, 1988, 30-49; OGRIS, Werner: Zur Geschichte
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SCHI-
METSCHEK, Bruno: Das Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch als kulturelle Tat. Zum 150. Jahrestag seines Inkrafttretens (1. Juni 1961), in: Religion, Wissenschaft, Kultur — Vierteljahresschrift d. Wiener Kath. Akad. 13, 1962, 59-68; SCHNUR, Roman: Einflüsse des deutschen und des österreichischen Rechts in Polen, 1985; SCHUBERT, Werner: Französisches Recht in Deutschland zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Zivilrecht, Gerichtsverfassungsrecht und Zivilprozeßrecht, 1977; SCHULZE, Reiner (Hg.): Französisches Zivilrecht in Europa während des 19. Jahrhunderts, 1994; SEEMANN, Otmar: Die mit „1811" datierten Drucke des ABGB, 1995; SELB, Walter u. HOFMEISTER, Herbert (Hgg.): Forschungsband Franz von Zeiller (1751-1828). Beiträge zur Gesetzgebungsund Wissenschaftsgeschichte, 1980; SLAPNICKA, Helmut: Österreichs Recht außerhalb Österreichs. Der Untergang des österreichischen Rechtsraums, 1973; STEINWENTER, Artur: Der Einfluß des römischen Rechtes auf die Kodifikation des bürgerlichen Rechtes in Österreich, in: Studi in memoria di Paolo Koschaker I, 1954, 403-426; STEINWENTER, Artur: Kritik am österreichischen bürgerlichen Gesetzbuch — einst und jetzt, in: Recht und Kultur. Aufsätze und Vorträge eines österreichischen Rechtshistorikers, 1958, 57-64; STOBBE, Otto: Geschichte der deutschen Rechtsquellen II, 1864, 476-481; STRAKOSCH, Heinrich: Privatrechtskodifikation und Staatsbildung in Österreich (1753-1811), 1976; SWOBODA, Ernst: Das Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch im Lichte der Lehren Kants. Eine Untersuchung der philosophischen Grundlagen des österreichischen bürgerlichen Rechts, ihrer Auswirkung im einzelnen und ihrer Bedeutung für die Rechtsentwicklung Mitteleuropas, 1926; SWOBODA, Ernst: Franz von Zeiller, der große Pfadfinder der Kultur auf dem Gebiete des Rechts und die Bedeutung seines Lebenswerkes für die Gegenwart, 1931; ToPITSCH, Ernst: Kant in Österreich, in: Festschr. Robert Reininger, 1949, 236253; WAGNER, Stephan: Der politische Kodex. Die Kodifikationsarbeiten auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts in Österreich 1780-1818, 2004 = Schriften zur Verfassungsgeschichte, Bd. 70; WAGNER, Wolfgang (Hg.): Das Staatsrecht des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation. Eine Darstellung der Reichsverfassung gegen Ende des 18. Jahrhunderts nach einer Handschrift der Wiener Nationalbibliothek, 1968; WESENER, Gunter: Naturrechtliche und römisch-gemeinrechtliche Elemente im Vertragsrecht des ABGB, in: ZNR 6, 1984, 1 1 3 - 1 3 1 ; ZEILLER, F r a n z v o n : D a s n a t ü r l i c h e P r i v a t - R e c h t ,
31819;
ZEIL-
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2. Das ABGB für die ges. Dt. Erbländer der Österr. Monarchie von 1811 handlung über die Principien des allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuches, 1 8 1 6 - 1 8 2 0 ( N a c h d r . 1986, hg. v. W i l h e l m BRAUNEDER).
Der Gleichlauf der österreichischen Kodifikation mit der preußischen bezeugt den gesamtdeutschen Charakter der Aufklärung, die im protestantischen N o r d e n und im katholischen Süden wirkte. Zahlreiche Parallelen fallen ins Auge. Hier w i e dort entschied die Tatkraft bedeutender Herrscherpersönlichkeiten und in der letzten Phase ein genialer Rechtsschöpfer; hier wie dort folgten die Reformer ihren selbstbewußten Plänen aus erzieherischen Antrieben und getragen von einer anspruchsvollen politischen Ethik. In beiden aus disparaten Territorien zusammengewachsenen Großstaaten hießen die Ziele der Gesetzgeber Rationalisierung und Rechtsvereinheitlichung. Die Habsburger Monarchie verband durch Personalunion Königreiche (Böhmen, U n g a r n und Dalmatien), Erzherzogtümer (Nieder- und Oberösterreich), H e r z o g t ü m e r (Steiermark, Kärnten u. a.) und etliche weitere Länder und Herrschaften mit einer bunten Vielfalt von Rechtsordnungen. J e mehr das vielgliedrige Habsburgerreich in der Residenzstadt Wien eine Mitte gewann, u m so gebotener erschien die Einheit von Verwaltung und Justiz. „In Osterreich machten sich aufklärerische Ideen und naturrechtliches Gedankengut in breiter Front etwa seit der Mitte des 18. Jahrhunderts bemerkbar, freilich mit Vorläufern und Wurzeln, die bis in das Ende des 17. Jahrhunderts zurückreichten, meist in Verbindung mit merkantilistischen und/oder physiokratischen Theorien. W i e anderswo so waren es auch hier (zumal in den Zentren Wien, Prag, Innsbruck, Graz) die intellektuellen Eliten, die das neue, v o m europäischen Westen her vordringende Gedankengut aufnahmen, geistig-politisch verarbeiteten und im Sinne einer ,Revolution von oben' in den Staatsapparat, in das Bildungswesen und in das Kulturleben einschleusten" (Werner Ogris). Franz Anton Felix Zeiller, der Grazer Kaufmannssohn und große Vollender des A B G B (1751-1828), begann sein Lehrbuch über „Das natürliche Privat-Recht" (zuerst 1802) mit der Auskunft, daß die vernünftigen Menschen ein „allen willkührlichen Anordnungen vorhergehendes, durch die bloße Vernunft gegebenes Recht, und ein allgemeines, unveränderliches M e r k m a h l anerkennen, w o r a n sie das Recht v o m Unrecht zu unterscheiden vermögen. Diesem Merkmahle, oder dem obersten Begriffe des Rechts in der Natur, d.i. in dem B e w u ß t s e y n des Menschen nachzuforschen, daraus allgemeine Grundsätze und aus den Grundsätzen die, den Menschen in ihren verschiedenen Verhältnissen zukommenden, Rechte und Rechtspflichten zu entwickeln, ist der Gegenstand des Naturrechts, oder der (philosophischen) Rechtslehre." 199
VI. Naturrecht und Aufklärung — große Kodifikationen Entsprangen die beiden Kodifikationen, A L R und A B G B , nach dem monarchisch-absolutistischen Prinzip dem Rechtsetzungsakt des Herrschers, so beanspruchten sie doch ebenso Geltung kraft ihrer inneren, vernunftrechtlichen Qualität. Die einander in den Grundlagen verwandten Gesetzeswerke unterscheiden sich zugleich auf bezeichnende Weise. Die österreichische Kodifikation ist ein reines Privatrechtsgesetzbuch und erscheint schon darum kürzer, übersichtlicher und moderner. Das A B G B verzichtet auf bevormundende Kasuistik und Lehrsätze, damit aber auch auf die anschauliche Gegenständlichkeit des A L R . Dafür hält sich das begrifflich straffe und abstrakte österreichische Gesetz für die Entwicklung in viel größerem M a ß e offen. A u ß e r d e m — u m noch ein weiteres Kriterium vorab auszuführen — ist das A B G B seinem preußischen Gegenstück auf dem Weg zur privaten Rechtsgleichheit voraus. „Jeder Mensch", postuliert § 16 A B G B , „hat angeborne, schon durch die Vernunft einleuchtende Rechte, und ist daher als eine Person zu betrachten. Sclaverey oder Leibeigenschaft, und die Ausübung einer darauf sich beziehenden Macht w i r d in diesen Ländern nicht gestattet." In seinem vierbändigen Kommentar (1811-1813) übte Zeiller deutliche Kritik an den preußischen Verhältnissen: „Die Leibeigenschaft, w o die Unterthanen, als ein Zugehör z u m Grunde geschlagen, bey dem Grunde, ohne Freyheit der Veräußerung desselben, zu verbleiben genöthiget, oder willkürlich auf einen andern Grund versetzt, dem Gutsherrn zu unbestimmten Diensten und der Züchtigung desselben . . . überlassen, ja selbst die Kinder dem Stande ihrer Aeltern zu folgen gezwungen werden, nähert sich, nach Verschiedenheit der zufälligen Modificationen, mehr oder weniger der Sclaverey." Deutlicher als der preußische hat der österreichische Gesetzgeber demzufolge die Stellung des Menschen als Person, als selbständiger Träger von Rechten, aus der Naturrechtslehre abgeleitet. Zeiller, der Verfasser des A B G B , erweist sich hier als Schüler Kants, unter dessen Einfluß der Begriff der allgemeinen Rechtsfähigkeit des Menschen erstmalig — w i e H e r m a n n Conrad zeigte — in ein privatrechtliches Gesetzbuch übernommen wurde. Der Königsberger Philosoph erkennt eigentlich nur ein angeborenes Recht, nämlich das der Freiheit, das heißt der Unabhängigkeit von eines anderen nötigender Willkür, sofern diese Freiheit mit jedes anderen Freiheit nach einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen kann. Die Freiheit der sittlichen Entscheidung begründet die W ü r d e des Menschen, macht ihn zur Person, z u m Subjekt. Kraft des ihm angeborenen Rechts der Freiheit, also nach seinem Wesen, ist jeder Mensch Person: Träger von Rechten und Pflichten. Aus der Freiheit leitet sich die Gleichheit ab, weil aufgrund seiner Freiheit kein Mensch vor dem anderen einen rechtlichen Vorzug 200
2. Das ABGB für die ges. Dt. Erbländer der Österr. Monarchie von 1811
haben kann. Letztlich beruht die Gleichheit auf der gegenseitig gewährleisteten Freiheit. In seinem „Natürlichen Privat-Recht" hat Zeiller diese Lehre juristisch ausgeformt: „Vernünftige Wesen, in so fern sie die Fähigkeit haben, sich Zwecke vorzusetzen, und dieselben auf eine freywirksame Weise zu befördern, folglich um ihrer selbst willen vorhanden (Selbstzwecke) sind, nennet man Personen, im Gegensatze der Sachen, der vernunftlosen, unfreyen Wesen, welche bestimmt sind, als Mittel zu Zwecken vernünftiger Wesen verwendet zu werden. Der Mensch denkt sich also nothwendig als ein freythätiges Wesen, als eine Person" (§ 2). „Die Einschränkung der Freyheit eines jeden Einzelnen auf die Bedingung, daß auch alle Anderen neben ihm gleichmäßig als Personen bestehen können, ist, nach dem Selbstbewußtseyn des Menschen, das Recht" (§ 3). „Alle noch so mannigfaltigen Rechte stehen übrigens, als von der Vernunft ertheilte Befugnisse, nothwendig in der genauesten Verbindung, vermöge welcher sie aus einander abgeleitet, und auf ein erstes, oberstes Recht zurück geführet werden können, welches das Urrecht heißt. Dieses ist das Recht der Persönlichkeit, d.i. das Recht, die Würde eines vernünftigen, freyhandelnden Wesens zu behaupten, oder auch das Recht der gesetzlichen Freyheit, d.h. zu allen, aber auch nur zu denjenigen Handlungen, bey denen ein geselliger Zustand gleichmäßig freyhandelnder Wesen Statt finden kann, das Recht der gesetzlichen Gleichheit" (S 40). Der Weg zu § 16 ABGB führt schließlich über § 41 des Zeillerschen Lehrbuchs: „Jedes sinnlich vernünftige Wesen, weil es als Selbstzweck, als ein Subject von Rechten und Pflichten betrachtet werden muß, ist eine Person. Ohne Zweifel müssen also alle Wesen, welche die, für uns erkennbaren, äußeren Zeichen der Menschheit, d.i. des möglichen Vernunftgebrauches haben, ... als Personen geachtet, und Rechte bey ihnen anerkannt werden." Der Gang der österreichischen Gesetzgebung erwies sich als ebenso langwierig und zuzeiten gefährdet wie das preußische Unternehmen. Nach Errichtung der Obersten Justizstelle 1749 berief Maria Theresia im Jahre 1753 eine Kommission zur Abfassung eines „Codex Theresianus, worin für alle Erblande ein Jus privatum certum et universale statuiert wird". Die Kommisson sollte „soviel möglich das bereits übliche Recht beybehalten, die verschiedenen Provinzial-Rechte, insofern es die Verhältnisse gestatteten, in Uebereinstimmung bringen, dabey das gemeine Recht und die besten Ausleger desselben, so wie auch die Gesetze anderer Staaten benützen, und zur Berichtigung und Ergänzung stets auf das allgemeine Recht der Vernunft zurück sehen". Als Hauptreferent entwarf der Prager Advokat und Professor Joseph Azzoni einen Generalplan, dessen oberste Einteilung in den drei Teilen des ABGB 201
VI. Naturrecht und Aufklärung — große Kodifikationen fortlebte: die freilich umgebildete Trias des Gaianischen Institutionensystems „personae, res, actiones", die man derart modifizierte, daß man das letzte Stück der neuen Kodifikation den dem Personen- und Sachenrecht gemeinschaftlichen Bestimmungen widmete. Der 1766 vollendete C o d e x Theresianus fand die erwartete kaiserliche Sanktion nicht. Staatsrat und Kanzler Fürst Kaunitz hielten das voluminöse Werk lediglich für eine „brauchbare Materialiensammlung", auf deren Grundlage weitergebaut werden sollte. Die neue Richtschnur hieß: „1. Soll das Gesetz- und Lehrbuch nicht miteinander vermengt; mithin alles, was nicht in den M u n d des Gesetzgebers, sondern ad cathedram gehört, aus dem C o d e x weggelassen; 2. alles in möglichster Kürze gefaßt, die casus rariores übergangen, die übrigen aber unter allgemeinen Sätzen begriffen; jedoch 3. alle Zweydeutigkeit und Undeutlichkeit vermieden werden. 4. In den Gesetzen selbst soll man sich nicht an die Römischen Gesetze binden, sondern überall die natürliche Billigkeit z u m Grunde legen; endlich 5. die Gesetze, so viel möglich, simplificiren, daher bey solchen Fällen, welche wesentlich einerley sind, w e g e n einer etwa unterwaltenden Subtilität nicht vervielfältigen." Der daraufhin von dem Staatsratskonzipisten Johann Bernhard Horten umgearbeitete Entwurf bildete gleichsam die zweite Stufe des Projekts. Doch nur der erste Teil dieser Arbeit, das Personenrecht, w u r d e durch Patent v o m 1. November 1786 als Josephinisches Gesetzbuch für die gesamten deutschen Erblande publiziert. Im übrigen blieb das Werk stecken, w o r a n ungünstige Kritiken Schuld trugen, wohl auch der Streit darüber, w i e weit das neue Gesetz richterliche und doktrinäre Auslegung noch nötig habe und zulassen dürfe. Ein weiterer Abschnitt des Unternehmens begann im Jahre 1790, als Leopold II. den Naturrechtler und Justizpolitiker Karl Anton Freiherrn von Martini (1726-1800) mit der Leitung der personell verjüngten H o f kommission in Gesetzessachen betraute. Martini, der seit 1754 den an der Universität W i e n neu geschaffenen Lehrstuhl für Naturrecht innehatte und von der Kaiserin mit der Unterrichtung ihres Sohnes Leopold in der Rechts- und Staatswissenschaft betraut w o r d e n war, verfolgte in seinen Grundlehren ähnliche Ziele w i e die Schöpfer des A L R . „Martinis Rechts- und Staatslehre stimmt mit der von Svarez überein" (Hermann Conrad). Dies zeigt sich besonders in der Theorie v o m „bürgerlichen Vereinigungsvertrage" und in der Absicht der österreichischen A u f k l ä rer, einen politischen Kodex, d.h. eine den Regenten selbst bindende Grundgesetzgebung zu schaffen. Martinis rechtsstaatliches Programm fand trotz der durch die Französische Revolution geweckten Widerstände seinen Niederschlag in den die überlieferte Fassung des Entwurfes abändernden Vorschriften des 202
2. Das ABGB für die ges. Dt. Erbländer der Österr. Monarchie von 1811 1797/98 in West- und Ostgalizien sowie in der B u k o w i n a eingeführten Bürgerlichen Gesetzbuchs. Das Gesetz bestimmte den Staat als eine Gesellschaft, die zur Erreichung eines der N a t u r des Menschen angemessenen und unveränderlichen Endzweckes unter einem gemeinschaftlichen Oberhaupt verbunden ist. Diesen E n d z w e c k sah das Gesetz in der allgemeinen Wohlfahrt des Staates, „das ist die Sicherheit der Personen, des Eigentums und aller übrigen Rechte seiner Mitglieder". M i t dem Eintritt in die bürgerliche Gesellschaft, so lehrt die Kodifikation, geben die Menschen ihre natürlichen oder angeborenen Rechte keineswegs auf: „Nur eine gewisse Richtung und Beschränkung dieser Rechte findet insofern statt, als sie zur Erreichung der allgemeinen Wohlfahrt notwendig ist." Zu den angeborenen Kompetenzen zählt das Gesetz das Recht, „sein Leben zu erhalten, die dazu nötigen Dinge sich zu verschaffen, seine Leibes- und Geisteskräfte zu veredeln, sich und das Seinige zu verteidigen, seinen guten L e u m u n d zu behaupten, endlich das Recht, mit dem Seinigen frei zu schalten und zu walten". Neben dieser Garantie der bürgerlichen Freiheit kennt das Gesetzbuch bereits den Grundsatz der justizförmigen Entscheidung von Rechtsstreitigkeiten: jeder Bürger soll den Rechtsweg beschreiten können, „so oft er durch w a s für immer gesetzwidrige Verfügungen in seinen Privatrechten gekränkt zu sein glaubt". Schließlich verbietet das Gesetz — wie das preußische A G B von 1791 — den Machtspruch. Die weitreichenden Sätze von 1797 indessen blieben nicht von Bestand, sondern fielen der Revision im Dienste der geplanten allgemeinen Kodifikation z u m Opfer. Bei der Umarbeitung des Westgalizischen Bürgerlichen Gesetzbuches z u m A B G B des Jahres 1811 hat dessen eigentlicher Autor, Franz von Zeiller, die grund- und naturrechtlichen Regeln, den politischen Katechismus seines Lehrers und Amtsvorgängers Martini, gestrichen. Diese A b k e h r verfolgte die erklärte Absicht, eine schärfere Trennung zwischen öffentlichem und privatem Recht herzustellen. Darüber hinaus dürfte dem neuen Kopf des Unternehmens die rechts- und staatsphilosophische Grundansicht Martinis nicht entsprochen haben, eine Doktrin, die letztlich auf eine entscheidende Schwächung des monarchischen Prinzips hinauslaufen mußte. So blieb es erst der konstitutionellen Bewegung des 19. Jahrhunderts vorbehalten, dem Verbot des Machtspruchs und der Kabinettsjustiz z u m Durchbruch zu verhelfen. Gleichwohl verdient die Leistung Zeillers, der sich so wenig w i e Martini im Kompilieren und Redigieren erschöpft hat, hohen Respekt. Zeiller, dessen gesetzgeberische Absichten in einer Reihe von wissenschaftlichen Vorträgen und Abhandlungen klar zutage treten, stand — anders als seine Vorgänger — weniger im Banne Christian Wolffs als 203
VI. Naturrecht und Aufklärung — große Kodifikationen vielmehr unter dem Einfluß Kants. D e m von Zeiller erneut durchgeformten, den Postulaten der „Vernünftigkeit" und der „Angemessenheit" entsprechenden Entwurf gab Kaiser Franz I. 1811 endlich die Sanktion. Das Werk trat als Gesetz am 1. Januar 1812 in Kraft. Im Publikationspatent erklärte der Kaiser, das Gesetzbuch sei erlassen w o r d e n „aus der Betrachtung, daß die bürgerlichen Gesetze, u m den Bürgern volle Beruhigung über den gesicherten Genuß ihrer PrivatRechte zu verschaffen, nicht nur nach den allgemeinen Grundsätzen der Gerechtigkeit, sondern auch nach den besonderen Verhältnissen der Einwohner bestimmt, in einer ihnen verständlichen Sprache bekannt gemacht, und durch eine ordentliche Sammlung in stätem Andenken erhalten werden sollen". Das Gesetz, das zunächst in allen deutschen Erbländern der österreichischen Monarchie galt, w u r d e später darüber hinaus in einigen weiteren Gebieten des Habsburgerreiches eingeführt. Das A B G B hat das gemeine römische Recht, das Josephinische Gesetzbuch von 1786 und das Westgalizische Gesetzbuch von 1797 außer Kraft gesetzt, die Provinzial-Statuten verdrängt und damit Osterreich die Rechtseinheit auf dem Gebiete des bürgerlichen Rechts gebracht. Der Zerfall der österreichisch-ungarischen Monarchie nach dem Ersten Weltkrieg hat das räumliche Geltungsgebiet der Kodifikation zunächst nicht berührt. Doch erfuhr ihr inhaltlicher, vor allem durch die große Novelle von 1916 in manchem dem B G B und damit der deutschen Pandektenwissenschaft angenäherter Bestand seit 1918 in den einzelnen Nachfolgestaaten naturgemäß ein unterschiedliches Schicksal. In Osterreich selbst drängten die Gesetze der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen das A B G B in w e i t e m U m f a n g auf die Bedeutung einer subsidiären Rechtsquelle zurück. D e m naturrechtlichen System folgend, handelt die österreichische Kodifikation das Privatrecht in drei Teilen mit insgesamt 1502 Paragraphen ab: Der erste Teil gilt dem Personen- und Familienpersonenrecht. Der zweite Teil regelt das Sachenrecht, w a s soviel bedeutet w i e Vermögensrecht (§ 285: „Alles, w a s von der Person unterschieden ist, und z u m Gebrauche der Menschen dient, w i r d im rechtlichen Sinne eine Sache genannt"). Es erscheinen hier neben den „dinglichen Rechten" die „persönlichen Sachenrechte", d.h. Schuldverträge, Ehe-Pakte, Schadensersatz und Genugtuung. Der dritte Teil des Gesetzes schließlich handelt „von den gemeinschaftlichen Bestimmungen der Personen- und Sachenrechte": „Von Befestigung der Rechte und Verbindlichkeiten" (insbesondere Bürgschaft und Pfandvertrag); „von U m ä n d e r u n g " und „von Aufhebung der Rechte und Verbindlichkeiten"; „von der Verjährung und Ersitzung". In diesem A u f b a u schimmert das System des von den Wolff-Schülern in die Rechtswissenschaft eingeführten Allgemeinen 204
2. Das ABGB für die ges. Dt. Erbländer der Österr. Monarchie von 1811 Teils durch, welches das altüberlieferte dreiteilige Schema der römischen Institutionen fortentwickelte. Die dreigespaltene Formel des Gaius und des Justinian hat noch für den A u f b a u des französischen C o d e civil das Modell abgegeben (des personnes, des biens, des differentes manieres dont on acquiert la propriete); sie läßt sich ferner in den Anfangstiteln des ersten Teils im A L R wiederfinden. A b e r die Institutionenordnung erscheint doch überall schon erheblich aufgelockert und durchbrochen. Die Naturrechtslehrbücher haben ihre Abstraktions- und Deduktionskunst gerade in der Herausarbeitung „allgemeiner Lehren" betätigt, die sie den Teilstücken des Privatrechts voranstellten, also gleichsam vor die Klammer zogen. Wie das A L R zeigt sich das A B G B dem Vernunftrecht verpflichtet durch seine doktrinäre Absage an das Gewohnheitsrecht: „Auf Gewohnheiten kann nur in den Fällen, in welchen sich ein Gesetz darauf beruft, Rücksicht genommen w e r d e n " (§ 10). Vernunftrechtlich auch die Anweisung, Gesetzeslücken zunächst durch Analogie, sodann nach natürlichen Prinzipien zu schließen: „Läßt sich ein Rechtsfall weder aus den Worten, noch aus dem natürlichen Sinne eines Gesetzes entscheiden, so muß auf ähnliche, in den Gesetzen bestimmt entschiedene Fälle, und auf die Gründe anderer damit verwandten Gesetze Rücksicht genommen werden. Bleibt der Rechtsfall noch zweifelhaft, so muß solcher mit Hinsicht auf die sorgfältig gesammelten und reiflich erwogenen Umstände nach den natürlichen Rechtsgrundsätzen entschieden w e r d e n " (§ 7). Diese dem Art. 1 des Schweizerischen Zivilgesetzbuchs verwandte Regel ließ der Gerichtspraxis mehr R a u m als das preußische Recht, das den Richter in Zweifelsfällen an die dann maßgebende „Gesetzcommission" verwies und ihm bei Gesetzeslücken eine Pflicht zur Anzeige an den „Chef der Justiz" auflud (§§ 46 ff. E A L R ) . Mochte die u m die Mitte des 19. Jahrhunderts nach der Thun-Hohensteinschen Reform des Rechtsstudiums auch in Osterreich aufblühende Pandektenwissenschaft die Leistungen Zeillers überdecken und die Interpretation der Kodifikation bestimmen, so blieb das fortgeltende A B G B doch Gegenstand der Jurisprudenz. „Immerhin hat Osterreich mehr als Preußen seinem Gesetzbuch eine w ü r d i g e praktisch-wissenschaftliche Behandlung zugewandt, aus der die heutige österreichische Zivilrechtswissenschaft hervorgegangen ist" (Franz Wieacker). Vernunftrechtlich endlich ist außer dem System des A B G B auch manches Stück seines Inhalts, etwa die Erstreckung des Eigentums auf unkörperliche Gegenstände und die dadurch mögliche Hereinnahme des Erbrechts ins „Sachenrecht". Die josephinische Aufklärung zeigt sich besonders im fortschrittlichen Ehe- und Familienrecht, das freilich später, in der Restaurationszeit, eine reaktionäre Rückbildung erfuhr. 205
VII. Die Epoche des Deutschen Bundes (1815-1866) Seit 1896 wirkte das deutsche BGB, seit 1907 ferner das Schweizer ZGB stärker in fremden Rechtskreisen als die österreichische Kodifikation. A n Erfolg in der Welt übertraf alle Gesetzbücher der Kodifikationsepoche der französische Code civil von 1804, mit seinem Pathos der Volkssouveränität und der vollen Rechtsteilhabe des Citoyen, das Werk einer revolutionären Nation und ihres Ersten Konsuls Bonaparte. Das in epigrammatischer Sprache gehaltene, straff und klar aufgebaute französische Privatrechtsgesetzbuch teilte die Rationalität seiner Rechtsnormen mit den beiden großen deutschen Kodifikationen der Zeit und erwies sich doch als überlegen: Das A L R folgte mehr noch als das ABGB einer überlebten Staatsidee, der Code civil — auf dessen wissenschaftliche Durchdringung nach 1840 die Historische Rechtsschule Einfluß gewann — den Ansprüchen einer neuen Zeit.
VII. Die Epoche des Deutschen Bundes (1815-1866)
1. Deutsche
Bundesakte
und Wiener
Schlußakte
AEGIDI, Ludwig Karl: Die Schlußacte der Wiener Ministerial-Conferenzen zur Ausbildung und Befestigung des deutschen Bundes, 2. Abt., 1860-1869; ANGERMEIER, Heinz: Deutschland zwischen Reichstradition und Nationalstaat. Verfassungspolitische Konzeptionen und nationales Denken zwischen 1801 und 1815, in: ZRG, GA, 107, 1990, 19-101; ARETIN, Karl Otmar Frhr. von: Vom Deutschen Reich zum Deutschen Bund, 21993 = Kl. Vandenhoeck-Reihe 1 4 5 5 ; ARNDT, Ernst Moritz: Germanien und Europa, 1 8 0 3 ; ARNDT, Ernst Moritz: Fantasien für ein künftiges Deutschland, 1 8 1 5 ; BENTFELDT, Ludwig: Der Deutsche Bund als nationales Band, 1985; BLUNTSCHLI, Johann Kaspar: Geschichte der neueren Staatswissenschaft. Allgemeines Staatsrecht und Politik seit dem 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart, 3 1 8 8 1 (Neudr. 1 9 6 4 ) ; BOTZENHART, Manfred (Hg.): Die deutsche Verfassungsfrage 1812-1815, 1968 = Hist. Texte/Neuzeit Heft 3; BRANDT, Hartwig (Hg.): Restauration und Frühliberalismus 1 8 1 4 - 1 8 4 0 , 1 9 7 9 ; BURG, Peter: Die deutsche Trias in Idee und Wirklichkeit. Vom Alten Reich zum Deutschen Zollverein, 1989; BURG, Peter: Der Wiener Kongreß. Der Deutsche Bund im europäischen Staatensystem, 31993 = dtv 4 5 0 1 ; CONZE, Werner (Hg.): Staat und Gesellschaft im deutschen Vormärz 1815-1848, 21970; DARMSTADT, Rolf: Der Deutsche Bund in der zeitgenössischen Publizistik, 1971; DUCHHARDT, Heinz: Gleichgewicht der Kräfte, Convenance, europäisches Konzert. Friedenskongresse und Friedensschlüsse vom Zeitalter Ludwigs XIV. bis zum Wiener Kongreß, 1 9 7 6 ; FICHTE, Johann Gottlieb: Schriften zur Revolution, hg. v. Bernard WLLLMS, 1 9 6 7 = Klassiker der 206
1. Deutsche Bundesakte und Wiener Schlußakte Politik Bd. 7; FRIEDRICH, Manfred: Geschichte der deutschen Staatsrechtswissenschaft, 1997 = Schriften zur Verfassungsgeschichte, Bd. 50; FRIES, Jakob Friedrich: Von deutscher Staatsverfassung. Die Erste Abtheilung des Buches Von Deutschem Bund und Deutscher Staatsverfassung, mit einem Nachwort von Gerald HUBMANN, 1816, 1997; FRÜHAUF, Gerd: Die Austrägalgerichtsbarkeit im Deutschen Reich und im Deutschen Bund, 1976; GALL, Lothar: Der Deutsche Bund als Institution und Epoche der deutschen Geschichte, in: Europa im Umbruch 1750-1850, hg. v. Dieter ALBRECHT, Karl Otmar Frhr. von ARETIN u. Winfried SCHULZE, 1995, 257-266; GENTZ, Friedrich von: Staatsschriften und Briefe. Auswahl in 2 Bdn., Bd. 2: Friedrich von Gentz und die deutsche Freiheit 1815-1832, hg. v. Hans von ECKARDT, 1921; GÖRRES, Joseph: Auswahl in 2 Bdn., Bd. 2: Deutschland und die Revolution. Mit Auszügen aus d. übrigen Staatsschriften. Mit Einl. u. Anm. neu hg. v. Arno DuCH, 1921; GRIEWANK, Karl: Der Wiener Kongreß und die Europäische Restauration 1814/15, 2 1954; HALLER, Carl Ludwig von: Restauration der Staatswissenschaft oder Theorie des natürlich-geselligen Zustandes, der Chimäre des künstlichbürgerlichen entgegengesetzt, 6 Bde., 1816-1825 ( 2 1820-1834, Neudr. 1964); HECKER, Michael: Napoleonischer Konstitutionalismus in Deutschland, 2005 = Schriften zur Verfassungsgeschichte, Bd. 72; HERDER, Johann Gottfried: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, Textausg. mit einem Vorwort v. Gerhart SCHMIDT, 1966; HLLKER, Judith: Grundrechte im deutschen Frühkonstitutionalismus, 2005 = Schriften zur Verfassungsgeschichte, Bd. 73; HUBER, Ernst Rudolf (Hg.): Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. 1: Deutsche Verfassungsdokumente 1803-1850, 3 1978, 81—154; HUBER, Ernst Rudolf: Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. 1: Reform und Restauration 1789 bis 1830, 2 1990 (Revid. Nachdr. 1995); HUMBOLDT, Wilhelm von: Schriften zur Anthropologie und Geschichte, 3 1980 = S t u d i e n a u s g . , h g . v. A n d r e a s FLITNER U. K l a u s GLEL, B d . 1; KAERNBACH,
Andreas: Bismarcks Konzepte zur Reform des Deutschen Bundes, 1991; KALTENBORN, Carl von: Geschichte der Deutschen Bundesverhältnisse und Einheitsbestrebungen von 1806 bis 1856 unter Berücksichtigung der Entwikkelung der Landesverfassungen, 2 Bde., 1857; KIRCHNER, Hildebert: Das Ringen um ein Bundesgericht für den Deutschen Bund, in: Ehreng. Bruno Heusinger, 1968, 19-33; KISSINGER, Henry Α.: Das Gleichgewicht der Großmächte. Metternich, Castlereagh und die Neuordnung Europas 1812-1822, 2 1990; KLÜBER, Johann L u d w i g (Hg.): Acten des Wiener Congresses in den Jahren 1814 und 1815, 9 Bde., 1815-1835; KLÜBER, Johann Ludwig: Ö f f e n t l i ches Recht des Teutschen Bundes und der Bundesstaaten, 4 1840; KLÜBER, Johann Ludwig u. WELCKER, Carl (Hgg.): Wichtige Urkunden für den Rechtszustand der deutschen Nation mit eigenhändigen Anmerkungen, 2 1845; KORIOTH, Stefan: „Monarchisches Prinzip" und Gewaltenteilung — unvereinbar? Zur Wirkungsgeschichte der Gewaltenteilungslehre Montesquieus im deutschen Früh-Konstitutionalismus, in: Der Staat 37, 1998, 27-55; LANGEWIESCHE, Dieter: Europa zwischen Restauration und Revolution, 3 1993; LUTZ, Heinrich: Zwischen Habsburg und Preußen. Deutschland 1815-1866, 1985; MAGER, Wolfgang: Das Problem der landständischen Verfassungen auf dem Wiener Kongreß 1814/15, in: HZ 217, 1973, 296-346; MANN, Golo: Friedrich von
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VII. Die Epoche des Deutschen Bundes (1815-1866) Gentz. Geschichte eines europäischen Staatsmannes, 1947; MARTENS, Georg Friedrich von: Recueil des principaux traites d'alliance depuis 1761 jusqu'ä present, 7 Bde., 1791-1801, Suppl. 1-4, 1802-1808, Suppl. 5-20, 1817-1841, 2C ed. 8 Bde., 1817-1835, Continuation par Frederic MURHARD, 20 Bde., 1856-1875; MARTENS, Georg Friedrich von: Nouveau recueil general de traites et autres actes relatifs aux rapports de droit international. Continuation du Grand Recueil de G. Fr. de Martens par Charles SAMWER et Jules HOPF ( 1 1 ff. Felix STOERK). Τ Ser., 35 Bde., 1876-1910 (Repr. 1967); MAURENBRECHER, Romeo: Grundsätze des heutigen deutschen Staatsrechts, 21843; MEHNERT, Klaus: Der deutsche Standort, 1969 = Fischer Bücherei 989; MEINECKE, Friedrich: Das Zeitalter der deutschen Erhebung (1795-1815), 61957; MEYER, Guido von: Repertorium zu den Verhandlungen der deutschen Bundesversammlung in einer systematischen Uebersicht, 1. Bd.: Die Verhandlungen 1816-1819, 1822; MEYER, Philipp Anton Guido von (Hg.): Corpus Juris Confoederationis Germanicae oder Staatsacten für Geschichte und öffentliches Recht des Deutschen Bundes, 3 Bde., 31858—1869; MOLDENHAUER, Rüdiger: Aktenbestand und Geschäfts verfahren der Deutschen Bundesversammlung (1816-1866), in: Archivalische Zeitschrift 1978, 35-76; MOMMSEN, Wilhelm: Stein — Ranke — Bismarck. Ein Beitrag zur politischen und sozialen Bewegung des 19. Jahrhunderts, 1954; MÖSSLE, Wilhelm: Restauration und Repräsentativverfassung, in: ZBLG 56, 1993, 63-109; MÖSSLE, Wilhelm: Die Verfassungsautonomie der Mitgliedstaaten des Deutschen Bundes nach der Wiener Schlußakte. Zur Entstehungsgeschichte der Artikel 54 bis 61 der WSA, in: Der Staat 33, 1994, 373-394; MÜLLER, Harald: Deutscher Bund und deutsche Nationalbewegung, in: HZ 248, 1989, 51-78; MÜLLER, Jürgen (Bearb.): Die Dresdener Konferenzen und die Wiederherstellung des Deutschen Bundes 1850/51, 1996 = Quellen zur Geschichte des Deutschen Bundes, Bd. III, 1; MÜLLER, Jürgen (Bearb.): Der Deutsche Bund zwischen Reaktion und Reform 1851-1858, 1998 = Quellen zur Geschichte des Deutschen Bundes, Bd. III, 2; MÜLLER, Klaus (Hg.): Quellen zur Geschichte des Wiener Kongresses. 1814/15, 1986; MÜLLERKINET, Hartmut: Die höchste Gerichtsbarkeit im deutschen Staatenbund 18061866, 1975; NIPPERDEY, Thomas: Deutsche Geschichte 1800-1866. Bürgerwelt und starker Staat, Ausg. 1994; NOLTE, Paul: Staatsbildung als Gesellschaftsreform. Politische Reformen in Preußen und den süddeutschen Staaten 18001820, 1990; PETERS, Wilfried: Späte Reichspublizistik und Frühkonstitutionalismus. Zur Kontinuität von Verfassungssystemen an nord- und mitteldeutschen Konstitutionalismusbeispielen, 1993; PFIZER, Paul Α.: Briefwechsel zweier Deutschen, 1831; PFIZER, Paul Α.: Ueber die Entwicklung des öffentlichen Rechts in Deutschland durch die Verfassung des Bundes, 1835; REIN, Gustav Adolf: Der Deutsche und die Politik. Betrachtungen zur Geschichte der Deutschen Bewegung bis 1848, 1970; RUMPLER, Helmut (Hg.): Deutscher Bund und deutsche Frage 1815-1866. Europäische Ordnung, deutsche Politik und gesellschaftlicher Wandel im Zeitalter der bürgerlich-nationalen Emanzipation, 1990; SCHMIDT, Wilhelm Adolf: Geschichte der deutschen Verfassungsfrage während der Befreiungskriege und des Wiener Kongresses 1812 bis 1815, 1890; SCHUCK, Gerhard: Rheinbundpatriotismus und politische Öffentlichkeit zwischen Aufklärung und Frühliberalismus. Kontinuitätsdenken und Diskon208
1. Deutsche Bundesakte und Wiener Schlußakte tinuitätserfahrung in den Staatsrechts- und Verfassungsdebatten der Rheinbundpublizistik, 1994; SEYNSCHE, Gudrun: Der Rheinische Revisions- und Kassationshof in Berlin (1819-1852). Ein rheinisches Gericht auf fremdem Boden, 2003 = Schriften zur Europäischen Rechts- und Verfassungsgeschichte, Bd. 43; SLEMANN, Wolfram (Bearb.): Restauration, Liberalismus und nationale Bewegung (1815-1870), 1982 = Quellenkunde zur deutschen Geschichte der Neuzeit von 1500 bis zur Gegenwart, Bd. 4; SIEMANN, Wolfram: „Deutschlands Ruhe, Sicherheit und Ordnung." Die Anfänge der politischen Polizei 1806-1866, 1985; SIEMANN, Wolfram: Vom Staatenbund zum Nationalstaat. Deutschland 1806-1871, 1995; SRBIK, Heinrich von: Metternich, der Staatsmann und der Mensch, 3 Bde., 1925-1954; STEIN, Karl Frhr. vom und zum: Briefe und amtliche Schriften, hg. v. Walther HUBATSCH, 8 Bde., 1957-1970; WADLE, Elmar: Staatenbund oder Bundesstaat? Ein Versuch über die alte Frage nach den föderalen Strukturen in der deutschen Verfassungsgeschichte zwischen 1815 und 1866, in: Wilhelm BRAUNEDER (Hg.), Staatliche Vereinigung: Fördernde und hemmende Elemente in der deutschen Geschichte = Der Staat, Beiheft 12, 1998, 137-170; WADLE, Elmar: Grundrechte in der Deutschen Bundesakte? Notizen zu „Preßfreiheit" und „Rechte der Schriftsteller und Verleger gegen den Nachdruck" (Artikel XVIII d), in: Jürgen BRÖHMER u.a. (Hgg.), Internationale Gemeinschaft und Menschenrechte, Festschrift für Georg Ress, 2005, 1333-1351; WALTER, Gero: Der Zusammenbruch des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation und die Problematik seiner Restauration in den Jahren 1814/15, 1980; WEECH, Friedrich von (Hg.): Correspondenzen und Actenstücke zur Geschichte der Ministerconferenzen von Carlsbad und Wien in den Jahren 1819, 1820 u. 1834, 1865; WIENHÖFER, Elmar: Das Militärwesen des Deutschen Bundes und das Ringen zwischen Osterreich und Preußen um die Vorherrschaft in Deutschland 1815-1866, 1973; WUNDER, Bernd: Landstände und Rechtsstaat. Zur Entstehung und Verwirklichung des Art. 13 DBA, in: ZHF 5, 1978, 139-185; ZACHARIÄ, Heinrich Albert: Deutsches Staats- und Bundesrecht, 2 Bde., 3 1865, 1867; ZOEPFL, Heinrich: Grundsätze des gemeinen deutschen Staatsrechts, mit besonderer Rücksicht auf das allgemeine Staatsrecht und auf die neuesten Zeitverhältnisse, 2 Bde., 5 1863.
N a c h d e m Z u s a m m e n b r u c h der napoleonisch-französischen Vorherrschaft stellte sich erneut das G r u n d p r o b l e m der deutschen Geschichte, die variantenreiche D a u e r f r a g e nach der Rechtsgestalt Deutschlands: Staat oder B u n d ? Die A n t w o r t hing von den G r o ß m ä c h t e n der siegreichen Q u a d r u p e l a l l i a n z ab, von R u ß l a n d u n d England, Osterreich u n d Preußen; ferner v o m unterlegenen Frankreich, das alsbald 1814/15 zu W i e n eine gleichberechtigte Rolle i m Konzert der europäischen Pentarchie z u r ü c k g e w a n n . Freilich meldeten sich auch die Deutschen selbst zu Wort. Eine Fülle — teils a n o n y m e r — patriotischer Flugschriften u n d Bücher gab der „Volksstimmung" nach der Leipziger Völkerschlacht A u s d r u c k , verfocht „Teutschlands A n s p r ü c h e " u n d eine neue gemein209
VII. Die Epoche des Deutschen Bundes (1815-1866) same Zukunft „Germaniens". Die Befreiungskriege hatten in Deutschland als Volkserhebung gegen die Fremdherrschaft begonnen. Die J u gend, die unter den Fahnen der Verbündeten für Freiheit und Selbstbestimmung gefochten hatte, und weite Teile des politisch erwachten Bürgertums vor allem in den ehemals französisch regierten oder rheinbündischen Gebieten forderten den deutschen Gesamtstaat mit einer Nationalrepräsentation. Das Beispiel der Französischen Revolution belebte den Nationalstaatsgedanken in der deutschen Publizistik nachhaltig. Der Anspruch auf geistige, dann auch auf politische Einheit und Freiheit der Deutschen stand längst in den Werken ihrer Schriftsteller und Dichter begründet. „Tiefere Besinnung hat uns — vor allem durch W i l helm Dilthey und H e r m a n N o h l — gelehrt, Aufklärung, Klassik und R o m a n t i k in dem größeren Zusammenhang der ,Deutschen B e w e g u n g ' zusammen zu sehen, in der sich die Deutschen, etwa seit der Mitte des 18. Jahrhunderts, fortschreitend ihres Wesens und ihrer geschichtlichen A u f g a b e bewußt w u r d e n " (Klaus Mehnert). Johann Gottfried Herder schuf mit seiner Lehre v o m Volksorganismus und -charakter und ihrem Postulat, daß der „natürliche" Staat nur ein Volk umfassen dürfe, dem Streben nach nationaler Selbständigkeit insbesondere auch der Slawen eine wissenschaftliche Grundlage. Johann Gottlieb Fichte, lange Zeit ein leidenschaftlicher Verteidiger der Französischen Revolution, fand großen Widerhall mit seinen „Reden an die deutsche Nation", die er w ä h r e n d des Wintersemesters 1807/1808 — noch während die Franzosen die preußische Hauptstadt okkupiert hielten — in der Berliner A k a demie vortrug. Fichte appellierte an das Volk und forderte es auf, in der Gesamtheit aller seiner Stämme und Stände die „Ausländerei" zu überwinden. Die entschlossensten und oft feindselig-übersteigerten literarischen Kampfrufe kamen von dem Universitätslehrer, Dichter und Publizisten Ernst M o r i t z Arndt, der schon 1803 die Ansicht äußerte, ein gesundes Leben des Volkes könne „nur durch die Einheit des Volkes und Staates geboren werden". Joseph Görres, im Geist der jüngeren R o m a n tik dem Volkstum zugewandt, erreichte politischen Einfluß mit seinem „Rheinischen M e r k u r " , der „gewaltigen Stimme christlich-vaterländischer Gesinnung in der Zeitwende" (Leo Just). N o c h weitere glanzvolle N a m e n aus der Welt des Geistes ließen sich als Zeugen benennen für die nationale Aufbruchstimmung. Sie tat ihre W i r k u n g , obgleich sie nur die beweglicheren Köpfe, das Bildungsbürgertum vornehmlich, berührte und große Kreise des Publikums keineswegs aus der unpolitischen Beschaulichkeit biedermeierlichen Lebens riß. Die Wortführer der nationalstaatlichen Idee traten in den Jahren 1812-1815 mit zahlreichen Entwürfen hervor, u m den patriotischen 210
1. Deutsche Bundesakte und Wiener Schlußakte Bekenntnissen konkrete verfassungsrechtliche Gestalt zu geben. Als die bedeutendsten unter ihnen können der Reichsfreiherr Karl vom und z u m Stein und Wilhelm von H u m b o l d t gelten. Sie stimmten darin überein, daß die Nation eine autonome politische Größe sei mit dem Recht auf staatliche Einheit und Selbstbestimmung. Ihr Ziel bildete ein zentralgeleiteter Bundesstaat mit gewählter Volksvertretung und geschützten Bürgerrechten. Sie gedachten es durch Reform, nicht im Wege der Revolution, zu erreichen und blieben darum der Tradition des alten Reichs w i e der Staatlichkeit der deutschen Territorien verpflichtet. Das Konzept der europäischen Mächte indessen gebot anderes. Eine Vorentscheidung brachte bereits 1807 der russisch-preußische Vertrag von Bartenstein, der einen deutschen Staatenbund — „federation des etats" — unter preußisch-österreichischer Hegemonie projektierte. Der am 25. M ä r z 1813 im N a m e n des Zaren und des preußischen Königs erlassene Aufruf von Kaiisch hingegen verhieß „den Fürsten und Völkern Deutschlands" die „Rückkehr der Freiheit und Unabhängigkeit" und die „Wiedergeburt eines ehrwürdigen Reiches". Doch die Hoffnung auf einen national-repräsentativen Bundesstaat zerstörte der Bündnisvertrag von Teplitz, in welchem Osterreich 1813 der russischpreußischen Allianz beitrat. M i t diesem Vertrag, der die Unabhängigkeit der deutschen Einzelstaaten garantierte, setzte sich der allen nationalstaatlichen Plänen abgeneigte Klemens Lothar Fürst von Metternich gegen Stein durch. „Les Etats de FAllemagne seront independants et unis par un lien federatif", bestimmte Art. 6 Abs. 2 des Ersten Pariser Friedens vom 30. M a i 1814, und damit w a r der Würfel gefallen. Die Interessen des österreichischen Vielvölkerstaates mit seinen großen nichtdeutschen Teilen Ungarn, Galizien, Kroatien und Norditalien verboten damals wie 1848 die nationalstaatliche Einigung Deutschlands, die den habsburgischen Staatsverband gesprengt hätte. A u c h das durch tiefgreifende Reformen, neue militärische Siege und beträchtlichen Gebietszuwachs gestärkte Preußen widerstrebte der bundesstaatlichen Lösung, weil es weder ein vorrangiges österreichisches Kaisertum noch die Gleichordnung mit den kleineren deutschen Ländern hinnehmen wollte, die ihrerseits auf die eigene Souveränität pochten. U n d die übrigen europäischen Mächte sahen durch ein staatlich geeintes Deutschland das Kräftegleichgewicht gestört. So bot sich den Regenten nur ein deutscher Staatenbund an. „Die staatenbündische Lösung bedeutete den Verzicht auf nationale Einheit, auf den gemeindeutschen Schutz der bürgerlichen Freiheitsrechte und auf demokratische Mitbestimmung in einer gesamtdeutschen Verfassung. A b e r sie erhielt das innerdeutsche und das europäische Gleichgewicht aufrecht und empfahl sich daher allen, 211
VII. Die Epoche des Deutschen Bundes (1815-1866) die das Stabilitätsprinzip höher stellten als die Idee der nationalstaatlichen Selbstbestimmung" (Ernst Rudolf Huber). Der Wiener Kongreß, zugleich europäischer Friedensvollzugs- und deutscher Verfassungskonvent unter dem Vorsitz Metternichs, besiegelte nach achtmonatigem diplomatischen Ringen in der Deutschen Bundesakte vom 8. J u n i 1815 eine neue Föderation der deutschen Staaten. Der Schöpfer dieses Friedenssystems und Leiter der österreichischen Politik von 1809 bis 1848, Fürst Metternich, ließ sich bei seinem Werk von dem Prinzip der Restauration leiten, das Karl L u d w i g von Haller in einer epochemachenden sechsbändigen Monographie staatstheoretisch fundierte. Haller lehrte gegen Rousseaus „Contrat social" die A b k e h r von allen Fiktionen der Vertrags- und Rechtsstaatsdoktrin und die Rückbesinnung auf das Wesen des Staates als einer Machtordnung, einer starken monarchischen Herrschaft von Gottes Gnaden mit altständischer, nicht mit repräsentativer Verfassung. Als Restaurator der Staatsordnung erstrebte Metternich nicht die Restitution von Reich und Kaisertum, nicht die Wiedereinsetzung der durch Säkularisation und Mediatisierung Depossedierten, sondern die Stabilisierung der legitimen monarchischen Autorität ohne erneute territorialpolitische U m w ä l z u n g in einem System des europäischen und deutschen Gleichgewichts der rivalisierenden Kräfte. Die Metternichschen Grundsätze brachte bereits die Präambel der Bundesakte z u m Ausdruck: „Im N a m e n der allerheiligsten und untheilbaren Dreieinigkeit. Die souveränen Fürsten und freien Städte Deutschlands, den gemeinsamen Wunsch hegend, den 6. Artikel des Pariser Friedens v o m 30. M a i 1814 in Erfüllung zu setzen, und von den Vortheilen überzeugt, welche aus ihrer festen und dauerhaften Verbindung für die Sicherheit und Unabhängigkeit Deutschlands, und die Ruhe und das Gleichgewicht Europa's hervorgehen würden, sind übereingekommen, sich zu einem beständigen Bunde zu vereinigen." Zu dieser unauflöslichen Föderation zählten nach dem Stande vom 1. September 1815 einundvierzig deutsche Staaten. Osterreich und Preußen gehörten dem Bund nur mit ihren ehedem z u m Reich gerechneten Gebietsteilen an; v o m Bunde her gesehen blieben daher Ausland Ungarn, Siebenbürgen, Galizien, Kroatien, Slawonien, Dalmatien, Lombardo-Venetien und Istrien einerseits, Ost- und Westpreußen sowie Posen und das Fürstent u m Neuenburg andererseits. Zum Deutschen Bund gehörten drei ausländische Souveräne: der König von England als König von Hannover (bis 1837); der König von Dänemark als Herzog von Holstein und Lauenburg (bis 1864); der König der Niederlande als Großherzog von Luxemburg (bis 1866).
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1. Deutsche Bundesakte und Wiener Schlußakte Als einziges Bundesorgan kannte die Wiener A k t e von 1815 einen ständigen Gesandtenkongreß mit dem Sitz in Frankfurt, die Bundesversammlung oder — w i e er noch hieß — den Bundestag: „Die Angelegenheiten des Bundes werden durch eine Bundesversammlung besorgt, in welcher alle Glieder desselben durch ihre Bevollmächtigten theils einzelne, theils Gesamtstimmen . . . führen" (Art. 4). Den geschäftsführenden Vorsitz hatte Osterreich, die Präsidialmacht des Bundes, inne. Jeder Mitgliedsregierung stand ein Initiativrecht in allen Angelegenheiten zu, welche die Kompetenz des Bundestages umfaßte. Das Stimmenverhältnis bemaß sich danach, ob der Bundestag als Engere Versammlung (mit insgesamt 17 Stimmen) oder — in bestimmten Sachen — als Plenum (mit 69 Stimmen) zusammentrat (Art. 4 ff.). Im engeren Rat führten die 11 mächtigeren Staaten je eine Virilstimme; die kleineren Bundesglieder teilten sich in 6 Kuriatstimmen. Osterreich und Preußen konnten hier sowenig wie im Plenum zusammen mit den vier anderen Königreichen die Mittel- und Kleinstaaten majorisieren. Im Plenum k a m jedem M i t glied mindestens eine Stimme zu; die Größeren verfügten über mehrere Voten. Die Plenarsachen umriß Art. 6: „Wo es auf Abfassung und A b änderung von Grundgesetzen des Bundes, auf Beschlüsse, welche die Bundes-Acte selbst betreffen, auf organische Bundes-Einrichtungen und auf gemeinnützige Anordnung sonstiger Art ankömmt, bildet sich die Versammlung zu einem Plenum . . . " Plenarbeschlüsse bedurften grundsätzlich einer Mehrheit von zwei Dritteln der abgegebenen Stimmen. Die wichtigsten Angelegenheiten freilich erforderten Einstimmigkeit: Beschlüsse über Bundesgrundgesetze, organische Bundeseinrichtungen und in Religionssachen, über die A u f n a h m e eines neuen Mitglieds und gemeinnützige Anordnungen. Beschlüsse, welche die jura singulorum, die eigenständigen Rechte der Mitglieder berührten, verlangten die Zustimmung der betroffenen Bündner (Art. 7 Abs. 4 Bundesakte, Art. 13, 15, 64 Wiener Schlußakte). Diese Möglichkeit z u m Veto mußte alsbald die Bundesreform hemmen. Den Zweck des staatlichen Zusammenschlusses bestimmte Art. 2 der Bundesakte mit der „Erhaltung der äußeren und inneren Sicherheit Deutschlands und der Unabhängigkeit und Unverletzbarkeit der einzelnen deutschen Staaten". Damit beschränkte sich die Bundestätigkeit auf die Gefahrenabwehr. A u f g a b e n der Wohlfahrtspflege, positiver Förderung des Gemeinwohls, blieben indessen ungenannt. Die Gewährleistung der inneren Sicherheit bedeutete wesentlich die A b w e h r aller demokratischen, liberalen und nationalen Motionen mit legislativen, polizeilichen und richterlichen Mitteln im Dienste der überkommenen monarchisch-dynastischen und föderativen Ordnung. A u s den Zwecken des Bundes ergaben sich nach Art. 3 der Schlußakte von 1820 seine 213
VII. Die Epoche des Deutschen Bundes (1815-1866) Kompetenzen: „Der U m f a n g und die Schranken, welche der Bund seiner Wirksamkeit vorgezeichnet hat, sind in der Bundesacte bestimmt, die der Grundvertrag und das erste Grundgesetz dieses Vereins ist. Indem dieselbe die Zwecke des Bundes ausspricht, bedingt und begränzt sie zugleich dessen Befugnisse und Verpflichtungen." Beschränkte die Sicherheits-Klausel den Zweck des Bundes und damit auch seine Kompetenz, so umschloß sie doch eine Fülle von entwicklungsfähigen Befugnissen, deren Inanspruchnahme von den politischen Entschlüssen des Frankfurter Bundestages abhing. Seit Anbeginn umstritten blieb die Frage, ob der Bund im Bereich seiner Zwecke eine Gesetzgebungsmacht innehatte. Sie läßt sich mit Ernst Rudolf H u b e r bejahen, wenngleich die Eigenart dieser gesetzgebenden Gewalt im Unterschied zur bundesstaatlichen Legislative hervorzuheben ist. Art. 10 der Bundesakte bestimmte zur ersten Bundesobliegenheit „die Abfassung der Grundgesetze des Bundes und dessen organische Einrichtung in Rücksicht auf seine auswärtigen, militärischen und inneren Verhältnisse" — eine dauernde Funktion, wie sich aus Art. 6 ergab. Danach konnte der Bundestag durch Beschluß Bundesgesetze erlassen, nämlich von Bundes w e g e n Rechtsnormen schaffen, die mit ordnungsgemäßer Publikation unmittelbare Verbindlichkeit für und gegen die Betroffenen erlangten. Wo Stimmenmehrheit für einen Bundesbeschluß genügte, mußte auch ein in der Minderheit gebliebener Gliedstaat dem Gesetz folgen. In wesentlichen Angelegenheiten freilich herrschte das Einstimmigkeitsprinzip. A u c h w e n n einstimmige Beschlüsse nicht als völkerrechtliche leges conventionales gelten konnten, weil nicht eine Vielheit souveräner Einzelstaaten, sondern ein Organ des Bundes selbst sie hervorbrachte, so trug das bündische Recht doch einen einungsrechtlichen Zug, der — wie noch manch weiteres M e r k m a l der Verfassung von 1815 — an das vergangene Reich erinnerte. Immerhin bedurften die v o m Bundestag beschlossenen Gesetze, w a s die meisten Landeskonstitutionen ausdrücklich anerkannten, zu ihrer Vollziehbarkeit gegenüber Dritten nicht mehr der landesrechtlichen Sanktion, sondern allein noch der landesrechtlichen Publikation. Zu dieser w a r e n die Landesregierungen bundesrechtlich verpflichtet. Der Bund betätigte seine Rechtsetzungsgewalt vor allem durch den Erlaß von Organisationsgesetzen (Austrägalordnung 1817; Exekutionsordnung 1820; Kriegsverfassung 1821/22; Schiedsgerichtsordnung 1834). M i t anderen Gesetzen, vor allem den Karlsbader Beschlüssen 1819, griff der Bund in die Rechte nicht nur seiner Mitgliedsländer, sondern auch in die ihrer U n tertanen ein. Neben dem unmittelbaren Gesetzesbeschluß stand dem Bund zur Fortentwicklung des Rechts noch das Mittel eigentlich vertraglicher ge214
1. Deutsche Bundesakte und Wiener Schlußakte meinnütziger Anordnungen zu Gebote. Die Wiener Schlußakte bestimmte in ihrem Art. 64 dazu: „Wenn Vorschläge mit gemeinnützigen Anordnungen, deren Zweck nur durch die zusammenwirkende Theilnahme aller Bundesstaaten vollständig erreicht werden kann, von einzelnen Bundesgliedern an die Bundesversammlung gebracht werden, und diese sich von der Zweckmäßigkeit und Ausführbarkeit solcher Vorschläge im Allgemeinen überzeugt, so liegt ihr ob, die Mittel zur Vollführung derselben in sorgfältige Erwägung zu ziehen, und ihr anhaltendes Bestreben dahin zu richten, die zu dem Ende erforderliche freiwillige Vereinbarung unter den sämmtlichen Bundesgliedern zu bewirken." Gewiß ließ sich die Ubereinkunft auch in Gestalt eines einstimmigen Bundesplenarbeschlusses treffen. Doch bei Gegenständen, die außerhalb der Bundeskompetenz lagen, weil sie nicht der Gefahrenabwehr, sondern der Wohlfahrtspflege dienten, empfahl sich ein anderes Verfahren, das der zitierte Weg eröffnen wollte: die einzelstaatliche Parallelgesetzgebung auf der Grundlage einer vorausgegangenen vertraglichen Verständigung der Bundesglieder. Vertragsgesetze dieser Art, d.h. auf völkerrechtlicher Basis vereinbarte, dann durch die Einzelstaaten nicht nur verkündete, sondern erlassene gleichlautende Gesetze, entsprachen in besonderer Weise dem föderalistischen Geist des Deutschen Bundes. Hauptbeispiele solcherart erzeugten gemeinsamen Rechts bilden die Allgemeine Deutsche Wechselordnung von 1848 und das Allgemeine Deutsche Handelsgesetzbuch des Jahres 1861: die Vorläufer deutscher Rechtseinheit. Im Außenverhältnis zu fremden Staaten besaß der Deutsche Bund volle Völkerrechtssubjektivität. Er konnte Gesandtschaften austauschen, völkerrechtliche Verträge vereinbaren, Kriege führen und durch Friedensschluß beenden. „Der Bund hat als Gesammtmacht das Recht, Krieg, Frieden, Bündnisse, und andere Verträge zu beschließen. Nach dem im zweiten Artikel der Bundesacte ausgesprochenen Zwecke des Bundes übt derselbe aber diese Rechte nur zu seiner Selbstvertheidigung, zur Erhaltung der Selbständigkeit und äußern Sicherheit Deutschlands, und der Unabhängigkeit und Unverletzbarkeit der einzelnen Bundesstaaten aus" (Art. 35 Wiener Schlußakte). Daneben behielten alle Gliedstaaten die völkerrechtliche Handlungsfähigkeit, ein fragwürdiger Umstand, den jedoch schon die Sonderstellung Österreichs und Preußens im Bund gebot. So ergab sich also eine vollentwickelte völkerrechtliche Doppelstellung Deutschlands mit der Konsequenz einer selbständigen Außenpolitik der Länder. Art. 11 Abs. 3 der Bundesakte hielt sich an die ältere, im Westfälischen Frieden 1648 niedergelegte Tradition: „Die Bundesglieder behalten z w a r das Recht der Bündnisse aller Art; verpflichten sich jedoch, in keine Verbindungen einzugehen, wel215
VII. Die Epoche des Deutschen Bundes (1815-1866) che gegen die Sicherheit des Bundes oder einzelner Bundesstaaten gerichtet wären." Alte Gebrechen wiederholten sich auch bei der Wehrorganisation des Bundes. Sein staatenbündisches Gefüge ließ keine einheitliche Streitmacht, sondern nur ein Kontingentsheer zu, eine Formation, die neben den fast völlig selbständigen Verbänden der deutschen Großmächte und Bayerns stark integrierte Einheiten der kleineren Staaten umfaßte. Die Bundesglieder hatten ihre Kontingente im Frieden bereitzuhalten, außerdem Matrikularbeiträge in eine Bundeskriegskasse zu zahlen. Einen ständigen militärischen Oberbefehl gab es nicht. A n dauerhaften militärischen Einrichtungen besaß der Bund nur die Bundesfestungen Mainz, Luxemburg, Landau-Germersheim, Rastatt und U l m . Eine eigene Gerichtsgewalt hat der Bund nicht eigentlich ausgebildet. Streitigkeiten zwischen seinen Gliedstaaten sollten in einem Austrägalverfahren, Verfassungskonflikte innerhalb der einzelnen Länder nach der Bundesschiedsordnung ausgetragen werden. Wenn der Bund nicht zu einem Obersten Bundesgericht für die Zivil- und Strafgerichtsbarkeit gelangte, so beschloß er für diese wenigstens einige Rahmengrundsätze. Art. 12 der Bundesakte stellte an die einzelstaatliche Gerichtsorganisation bestimmte Mindestanforderungen. Als gemeinsamer Bundesgrundsatz für die Länder galt der Drei-Instanzenzug, ein altes reichsrechtliches Prinzip. Länder, in denen die dritte Instanz noch fehlte, hatten diese einzurichten; Länder mit weniger als 300000 Einwohnern mußten sich mit anderen zur Bildung eines gemeinschaftlichen obersten Gerichts dritter Instanz zusammentun. Viel bedeutete Art. 29 der Wiener Schlußakte: „Wenn in einem Bundesstaate der Fall einer Justiz-Verweigerung eintritt, und auf gesetzlichen Wegen ausreichende Hülfe nicht erlangt werden kann, so liegt der Bundesversammlung ob, erwiesene, nach der Verfassung und den bestehenden Gesetzen jedes Landes zu beurtheilende Beschwerden über verweigerte oder gehemmte Rechtspflege anzunehmen, und darauf die gerichtliche H ü l f e bei der Bundesregierung, die zu der Beschwerde Anlaß gegeben hat, zu bewirken." Dieser Satz verbot implizite die Justizverweigerung und damit auch die Kabinettsjustiz; er gewährleistete das Recht jedes Deutschen auf den gesetzlichen Richter und ein gesetzliches Verfahren, letztlich die Selbständigkeit und Unabhängigkeit der Gerichte. Art. 18 der Bundesakte enthielt darüber hinaus vornehmlich die Zusicherung der Freizügigkeit für die „Unterthanen der deutschen Bundesstaaten", auch erwähnt er die „Preßfreiheit" und die „Sicherstellung der Rechte der Schriftsteller und Verleger gegen den N a c h d r u c k " . Die „Befugnisse" und „Rechte" der „Untertanen" oder „Bürger" galten den Zeitgenossen als bereits geltende Rechte. Es handelte sich freilich u m nur rudimentäre, schwach 216
1. Deutsche Bundesakte und Wiener Schlußakte ausgebildete Grundrechte, die bloß Antrags- und Reklamationsbefugnisse enthielten. Unter den Mitteln des exekutiven Verfassungsschutzes gewann die Bundesintervention besonderes Gewicht, d.h. die einem Land zur A b w e h r innerer U n r u h e n erwiesene Bundeshilfe (Art. 26 Wiener Schlußakte). Die Bundesexekution hingegen ermöglichte dem föderativen Gesamtverband das zwangsweise Vorgehen gegen einen Gliedstaat, u m diesen zur Erfüllung der von ihm vernachlässigten verfassungsmäßigen Bundespflichten anzuhalten. Sowohl die Intervention w i e die Exekution hat der Bund in zahlreichen Fällen ausgeübt. Die Jahre 1819 und 1820 brachten weitreichende Fortbildungen des Bundesrechts. Die Karlsbader Ministerkonferenzen v o m August 1819 galten den „revolutionären Umtrieben und demagogischen Verbindungen", vor allem der oppositionellen Burschenschaft, die sich auf dem Wartburgfest 1817 zu einem auf Freiheit und Einheit gegründeten deutschen Nationalstaat bekannt hatte. Den w i l l k o m m e n e n Anlaß z u m Kampf gegen die nationalen Demokraten lieferte den Regierungen die Ermordung des Schriftstellers August von Kotzebue durch den Burschenschafter Karl L u d w i g Sand im M ä r z 1819. Als A n t w o r t darauf ergingen die „Karlsbader Beschlüsse": die Entwürfe eines Universitäts-, eines Preß- und eines Untersuchungsgesetzes sowie einer vorläufigen Exekutionsordnung. Das Plenum des Frankfurter Bundestags setzte die Entwürfe durch Beschluß v o m 20. September 1819 in Kraft. Die Gesetze unterwarfen die Universitäten strenger obrigkeitlicher Aufsicht und einem rigorosen bundeseinheitlichen Disziplinarrecht; ferner hoben sie die Pressefreiheit durch Vor- und Nachzensur auf und schufen eine unter der Aufsicht des Bundestages stehende siebenköpfige C e n t r a l - U n tersuchungskommission zu Mainz, die — viel gehaßt und oft verspottet — neun Jahre lang an ihrer Enquete arbeitete. Die Karlsbader Konferenzen zeitigten als weiteres, nicht minder wichtiges Ergebnis den Beschluß, alsbald eine weitere Tagung in Wien stattfinden zu lassen. Die folgenden Wiener Ministerialkonferenzen v o m Herbst 1819 bis z u m Frühjahr 1820 dienten einem zweiten konservativ-restaurativen Bundesgrundgesetz, das als Wiener Schlußakte v o m 15. M a i 1820 gleichrangig neben die Bundesakte trat. Die Schlußakte berührte vor allem das Prinzip der landständischen Verfassung, das sie teils begrenzte, teils festigte. In ihrem Artikel 54 unterstrich sie die bundesrechtliche Pflicht der Landesregierungen, landständische Konstitutionen zu erlassen: „Da nach dem Sinn des dreizehnten Artikels der Bundesacte, und den darüber erfolgten spätem Erklärungen, in allen Bundesstaaten landständische Verfassungen Statt finden sollen, so hat die Bundesversammlung 217
VII. Die Epoche des Deutschen Bundes (1815-1866) darüber zu wachen, daß diese Bestimmung in keinem Bundesstaate unerfüllt bleibe." Doch Osterreich und Preußen blieben säumig, und so unternahm auch der Bundestag lange nichts. Bereits eingeführte Konstitutionen schützte die Schlußakte auf ebenso problematische Weise gegen den Staatsstreich von oben: „Die in anerkannter Wirksamkeit bestehenden landständischen Verfassungen können nur auf verfassungsmäßigem Wege wieder abgeändert w e r d e n " (Art. 56). Der einzelstaatlichen Verfassungsautonomie (Art. 55) zog die Wiener Schlußakte eine enge Grenze, indem sie den Ländern das monarchische Prinzip gebot (Art. 57): „Da der deutsche Bund, mit Ausnahme der freien Städte, aus souverainen Fürsten besteht, so muß, dem hierdurch gegebenen Grundbegriffe zufolge, die gesammte Staatsgewalt in dem Oberhaupte des Staats vereinigt bleiben, und der Souverain kann durch eine landständische Verfassung nur in der Ausübung bestimmter Rechte an die M i t w i r kung der Stände gebunden werden." In diesem Satz v o m monarchischen Prinzip spiegelte sich die Idee der Restauration, w i e sie Friedrich von Gentz, „ein europäischer Staatsm a n n " (Golo M a n n ) und w o h l der klügste und brillanteste konservative Publizist des Vormärz und vertrauter Mitarbeiter Metternichs, literarisch verfocht. In seiner 1819 den Staatsmännern der Karlsbader Konferenzen übergebenen Schrift „Ueber den Unterschied zwischen den landständischen und Repräsentativ-Verfassungen" (abgedruckt in den „Wichtigen U r k u n d e n " von Klüber und Welcker) hatte Gentz die mit dem Repräsentativ-System verbundene Volkswahl, das „Phantom der sog. Volksfreiheit" und den „Wahn allgemeiner Gleichheit der Rechte" perhorresziert und die „Accessionen" des Parlamentarismus w i e Ministerverantwortlichkeit, Öffentlichkeit, Pressefreiheit als Wegbereiter der Revolution bekämpft. Gentz sah richtig, daß die neuen landständischen Konstitutionen, w i e sie sich in vielen Staaten eingebürgert hatten, mit ihren gewählten Repräsentanten von Stadt und Land auf das volle konstitutionelle oder gar das parlamentarische System hinauslaufen konnten. War angesichts einer gewandelten sozialen Realität, einer breiten bürgerlichen Besitz- und Bildungsschicht die R ü c k k e h r z u m altständischen Wesen ausgeschlossen, so k a m es den Vertretern der Restauration u m so mehr darauf an, bundesgesetzliche Hindernisse gegen weitere Fortschritte der demokratischen Kräfte aufzurichten. D a r u m beschränkte die Wiener Schlußakte in dem General-Vorbehalt des Art. 57 Kompetenz und Funktion der landständischen Verfassung so eng, daß die traditionelle Hoheit des Monarchen gewahrt blieb. „Das monarchische Prinzip w a r die Gegenlehre gegen das Gewaltenteilungsprinzip. Indem das Bundesrecht feststellte, daß auch in einer landständischen Verfassung der Landesherr der Inhaber der gesamten Staatsgewalt bleibe, 218
1. Deutsche Bundesakte und Wiener Schlußakte
sicherte es dem Staatsoberhaupt die Position des echten Souveräns, von dem alle Staatsgewalt ausging. Es behielt dem Landesherrn die Substanz der Staatsgewalt vor; nur an ihrer Ausübung waren andere Organe mit beteiligt. Die Landstände waren nach dem monarchischen Prinzip kein dem Landesherrn gleichgeordnetes primäres, sondern ein ihm nachgeordnetes sekundäres Staatsorgan" (Ernst Rudolf Huber). Die Wiener Schlußakte hielt so an der Souveränität des Staatsoberhauptes als des Inhabers der „gesammten Staatsgewalt" entschieden fest. Der Monarch hatte nicht allein die Exekutive, sondern auch die von ihr noch nicht getrennte Legislative insofern inne, als er den Gesetzesbefehl erteilte, während die landständischen Kammern mit dem Fürsten lediglich den Gesetzesinhalt festlegten. Man unterschied also zwischen der Feststellung des Gesetzesinhalts und der Sanktion des Gesetzes. Was endlich die Justizgewalt betraf, so übten sie die Gerichte im Namen des Königs; der Souverän erschien damit — auch nachdem sich die Unabhängigkeit der Gerichte durchgesetzt hatte — als Träger der rechtsprechenden Gewalt, der die Richter einsetzte und zu ihrem Amt bevollmächtigte. Der Artikel 57 machte das monarchische Prinzip zu einem für alle landständisch verfaßten Gliedstaaten verbindlichen Gesetz und eröffnete dem Bunde deswegen die demnächst wiederholt geübte Möglichkeit der Verfassungskontrolle und -intervention. Im Anschluß an den Verwaltungsrechtswissenschaftler Otto Mayer kommen neuere Studien zu dem Ergebnis, daß sich monarchisches Prinzip und Gewaltenteilung nicht ausschlossen. „Allen verbalen Zurückweisungen zum Trotz gab es schon in der Frühzeit des monarchischen Prinzips Gewaltenteilung ... für die Organisation der Staatsgewalt" (Stefan Korioth). Denn es gab einen Pluralismus realer politischer Mächte mit verschiedenen, unterschiedlich legitimierten Trägern, die es zusammenzufassen galt. Stellen wir abschließend die Frage nach dem Rechtscharakter des Deutschen Bundes, welche bereits die Zeitgenossen lebhaft beschäftigt hat. Mit der eingefahrenen und verkürzend-antithetischen Distinktion zwischen dem auf völkerrechtlichem Vertrag beruhenden Staatenbund und dem auf eine staatsrechtliche Verfassung gegründeten Bundesstaat ist nicht allzuviel gewonnen. Bereits Wilhelm von Humboldt hat das gesehen und den Zusammenschluß von 1815 als einen mit bundesstaatlichen Elementen durchsetzten Staatenbund gekennzeichnet. Die Wiener Schlußakte selbst deklarierte die Rechtsnatur des Deutschen Bundes in ihren beiden ersten Artikeln wie folgt: „Der deutsche Bund ist ein völkerrechtlicher Verein der deutschen souverainen Fürsten und freien Städte, zur Bewahrung der Unabhängigkeit und Unverletzbarkeit ihrer im Bunde begriffenen Staaten, und zur Erhaltung der innern und äußern Sicherheit Deutschlands. — Dieser Verein besteht in seinem In219
VII. Die Epoche des Deutschen Bundes (1815-1866) nern als eine Gemeinschaft selbständiger, unter sich unabhängiger Staaten, mit wechselseitigen gleichen Vertrags-Rechten und Vertrags-Obliegenheiten, in seinen äußern Verhältnissen aber, als eine in politischer Einheit verbundene Gesammt-Macht." Diese Umschreibung deutete auf einen bloß völkerrechtlichen Verein der Souveräne. Doch sie definierte den Bund nur unvollständig und unterschlug die staatsrechtlichen Elemente: insbesondere den Organcharakter des Bundestags und dessen Legislativgewalt, die durch das monarchische Prinzip gewährleistete Verfassungshomogenität der Gliedstaaten, die Bundesbefugnisse zu Intervention und Exekution. Freilich erreichte die Durchdringung der völkerrechtlichen Grundstruktur mit verfassungs- oder staatsrechtlichen Elementen längst nicht den Grad, der es erlaubt hätte, von einem Bundesstaat zu sprechen. Der eigenartige Deutsche Bund w a r weder nur Staatenbund noch beinahe Bundesstaat: „Was nun zwischen diesen beiden Extremen zustande k o m m e n konnte, das ist die wahre Definition des Deutschen Bundes" (Wilhelm von H u m b o l d t ) . Jüngst hat Elmar Wadle im Blick auf die Realitäten des Deutschen Bundes einerseits und des Deutschen Zollvereins andererseits sowie auf die sie begleitende Diskussion gezeigt, „daß die Unterscheidung von Staatenbund und Bundesstaat keine Kategorien enthält, die durch eine allgemeine Staatslehre zeitlos fixiert werden könnten. Sie bleiben immer verwoben mit dem Fluß der Verfassungsgeschichte. Für alle, denen die künftige Gestalt der europäischen U n i o n nicht gleichgültig sein kann, mag diese am historischen Material erneuerte Erkenntnis Trost und A n sporn zugleich sein". Was die epochalen U r k u n d e n von 1815 und 1820 verbrieften und für fast ein Menschenalter Wirklichkeit werden ließen, konnte die fortschrittlichen Zeitgenossen aus dem aufstrebenden Bürgertum durchaus nicht zufriedenstellen. Nicht allein die Verfechter unitarischer, liberaler und demokratischer Ziele, auch die Vertreter eines gemäßigt nationaldeutschen Konzepts hielten mit ihrer Kritik nicht hinterm Berg. Der Schwabe Paul Achatius Pfizer, mit L u d w i g Uhland einer der Führer der liberalen Opposition im Württembergischen Landtag, der „Prophet des Bismarckreiches", gab in seinem Buch „Ueber die Entwicklung des öffentlichen Rechts in Deutschland durch die Verfassung des Bundes" 1835 dem verbreiteten Mißbehagen Ausdruck: „Ein Bund der Fürsten w a r d errichtet, das deutsche Volk aber mit einigen Verheißungen abgefunden, deren vollständige Erfüllung man bereits nicht mehr verlangen darf, ohne für einen Träumer oder Friedenstörer erklärt zu werden, und seit fünfzehn Jahren hat der Deutsche Bund nicht aufgehört, gegen die versprochene Preßfreiheit und Volksvertretung, so wie gegen die auf sie gegründeten Verfassungen selbst dann anzukämpfen, wenn, w i e bei Er220
2. Historische Rechtsschule und Pandektenwissenschaft
neuerung der Karlsbader Beschlüsse im Jahr 1824, jede äußere Veranlassung dazu gemangelt. Nach solchen Erfahrungen möchte etwas mehr als deutsche Gutmüthigkeit dazu gehören, den Deutschen Bund noch immer für den Freund und Beförderer konstitutioneller Freiheit zu halten, und wer ohne diese an kein Besserwerden glaubt, kann sein Vertrauen nicht in Diejenigen setzen, welche es für ,unmöglich' halten, einem ,aus dem Fürstenrathe Deutschlands hervorgehenden Beschlüsse mit dem Einwand einer Verletzung der Verfassung eines einzelnen Staates entgegenzutreten', und die längst erklärt haben, daß es ein Hauptzweck der neuern Gesetzgebung des Bundes sey, ,den in einer noch lange zu beklagenden Epoche fast allgemeiner politischer Verwirrung mit so vieler Uebereilung gestifteten gemischten Verfassungen entgegenzuwirken'." Die Urteile über den Deutschen Bund fielen und fallen widersprüchlich aus, weil er zwischen zwei Zeitaltern bestand: zwischen Ancien regime und bürgerlich-industrieller Epoche, nach 1848 zwischen den Kräften des Bürgertums und der sich formierenden proletarisch-demokratischen Massengesellschaft. Im Blick auf die ganze deutsche Geschichte bleibt zu konstatieren, „daß der Deutsche Bund jene Form deutscher Staatlichkeit war, die mit den Interessen Gesamteuropas vereinbar war, in deren Rahmen sich keine Macht Europas bedroht fühlte, aber auch Deutschland stark genug war, jede fremde Bedrohung abzuwehren" (Helmut Rumpier). Freilich verkörperte die europäische Friedensordnung zugleich ein umfassendes Repressionssystem, das die Modernisierung Deutschlands auf dem Weg über den Nationalstaat lange verzögerte. Der Deutsche Bund stand gegen den Liberalismus mit seinen demokratischen und nationalistischen Zügen, er bildete ein Bollwerk gegen Demokratie und Nationalismus; sein Niedergang und Zerfall 1854/59 und 1866 muß darum als zwiespältiges Ereignis erscheinen.
2. Historische
Rechtsschule
und
Pandektenwissenschaft
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VII. Die Epoche des Deutschen Bundes (1815-1866) Privatrecht, in: HRG Bd. 1, 1971, Sp. 702-709; THÖL, Heinrich: Volksrecht. Juristenrecht. Genossenschaften. Stände. Gemeines Recht, 1846; WADLE, Elmar: Friedrich Carl von Savignys Beitrag zum Urheberrecht, 1992; WAGNER, Heinz: Die Politische Pandektistik, 1985; WLEACKER, Franz: Wandlungen im Bilde der historischen Rechtsschule, 1967; WlEACKER, Franz: Die Ausbildung einer allgemeinen Theorie des positiven Rechts in Deutschland im 19. Jahrhundert, in: Festschr. Karl Michaelis, 1972, 354-362; WOLF, Erik: Friedrich Carl von Savigny. Bernhard Windscheid. Rudolf von Jhering, in: Große Rechtsdenker
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WOLLSCHLÄGER, Christian (Hg.): Friedrich Carl von Savigny, Landrechtsvorlesung 1824. Drei Nachschriften. 1. Halbbd.: Einleitung, Allgemeine Lehren, Sachenrecht, 1994; 2. Halbbd.: Obligationenrecht, Familienrecht, Erbrecht, 1998 = Ius Commune, Sonderhefte 67 und 105, Savignyana 3,1 und 3,2; ZIMMERMANN, Reinhard: Savignys Vermächtnis. Rechtsgeschichte, Rechtsvergleichung und die Begründung einer Europäischen Rechtswissenschaft, 1998 = Tübinger Universitätsreden, NF Bd. 23 = Reihe d. Jur. Fak. Bd. 10; ZUCKMAYER, Carl: Die Brüder Grimm. Ein deutscher Beitrag zur Humanität, in: Aufruf zum Leben, 1976, 249-291.
Im 19. Jahrhundert haben die bewegenden Ideen nicht mehr w i e in früheren Zeiten den ganzen U m k r e i s des Rechtslebens ergriffen, sondern sich mehr auf einzelnen Gebieten entfaltet. Die Rechtslehre nahm ungleichmäßig an den Geistesströmungen der Zeit teil. So blieb schon die historische Schule, ein „Seitentrieb am Baume der R o m a n t i k " (Wilhelm Ebel), im wesentlichen auf das Privatrecht beschränkt, wobei sie allerdings der individualistisch-zivilistischen Denkweise ein wissenschaftliches Ubergewicht verschaffte. Gustav Radbruch hat in seiner noch immer fesselnden Biographie über Paul Johann Anselm Feuerbach (1775-1833) diesen großen Kriminalisten und das Haupt der historischen Rechtsschule, Friedrich Carl von Savigny (1779-1861), einander gegenübergestellt als „die beiden Antipoden, welche die deutsche Rechtswissenschaft in gleichem Maße, aber in entgegengesetztem Sinne beeinflussen sollten, der eine w u r z e l n d in der kantisch fortgebildeten Aufklärung, der R o m a n t i k eng verbunden der andere; jener der vernunftgläubige und tatenfrohe Gesetzgeber, dieser der das geschichtliche Werden ehrfürchtig belauschende Gegner gesetzgeberischer Willkür; jener innerlicher Zerrissenheit und vielfältiger äußerer Lebensnot seine Leistungen abtrotzend, dieser von jung an wunderbar ausgeglichen und von einem freundlichen Geschick pfleglich emporgeleitet — Titan und Olympier!" Wie die Romantik, „diese in sich widerspruchsvolle Sache" (Franz Schnabel), sich nicht einfach definieren, sondern nur geschichtlich be226
2. Historische Rechtsschule und Pandektenwissenschaft greifen läßt, so erschließt sich auch die historische Rechtsschule erst im Blick auf ihre Voraussetzungen und Vorläufer, auf das M i t - und Widereinander ihrer beiden Disziplinen, der Germanistik und der Romanistik, und den Fortgang der letzteren zur Pandektistik. Die historische Schule bietet ein facettenreiches Bild, das sich im Licht der vielen späteren Betrachter mannigfach gewandelt hat. Ihre zahlreichen Repräsentanten w a ren deutsche Professoren und nicht Praktiker. Daraus erklärt sich auch die Heftigkeit der berühmt gewordenen Kritik des liberalen Berliner Staatsanwalts Julius von Kirchmann aus dem J a h r 1848: Die Werthlosigkeit der Jurisprudenz als Wissenschaft. Sein geflügeltes Wort: „drei berichtigende Worte des Gesetzgebers und ganze Bibliotheken werden zu M a k u l a t u r " verhöhnte die Illusionen einer selbstzufriedenen und lebensfremden Jurisprudenz und ihre Vorliebe für die Quellen einer fernen Vergangenheit, wobei er freilich das Vermögen der Legislative überbewertete. Doch auch w e r eine Uberschätzung der historischen Schule vermeiden will, muß den Einfluß sehen, den das Professorenrecht mittelbar über die Pandektendoktrin an den Universitäten und endlich über die Gesetzgebung in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts auf die Praxis ausgeübt hat, nicht zuletzt im Dienste der deutschen Rechtseinheit. „Die Konzeption der Historischen Schule der Rechtswissenschaft fand ihren A u s d r u c k in einer doppelten Lehrbuchtradition sowohl bei Romanisten w i e Germanisten: Eine Privatrechtsdogmatik aus historischem Stoff (,System des heutigen römischen Rechts', Pandektenlehrbuch, Deutsches Privatrecht) und eine historische Darstellung der Rechtsentwicklung einschließlich der Verfassungszustände (Römische Rechtsgeschichte, Deutsche Rechtsgeschichte)" (Gerhard Dilcher). Die historische Schule begriff die — wie sie nun hieß — „Rechtswissenschaft" auf ihre Weise als geschichtliche mit dem Ziel einer erneuerten Rechtsdogmatik. Sie zog N u t z e n aus dem Aufstieg der Philologie und Historiographie, aus den verfeinerten Methoden der Altertumswissenschaften insbesondere, ohne doch die Geschichtsforschung in der Hauptsache u m ihrer selbst willen betreiben zu wollen. Dabei haben sich geschichtlicher Sinn und historische Methode in der Rechtslehre des 19. Jahrhunderts nicht unvorbereitet entfaltet. Wenigstens ein Zeuge sei hierfür benannt: H e r m a n n Conring, der in seinem Buche „De origine iuris Germanici" A n n o 1643 die „Lotharische Legende" historisch widerlegt hat, nach welcher das römische Recht durch ein Gesetz Kaiser Lothars III. in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts eingeführt w o r d e n sein sollte. A u c h die ältere Reichs- und Territorialstaatsrechtslehre hat stets sorgsam die historischen Bezüge im Auge behalten. „Bis z u m Ende des Reichs galt die M a x i m e als selbstverständlich, der ,Publizist' habe theoretisch und praktisch aus der Geschichte zu ermitteln, w a s 227
VII. Die Epoche des Deutschen Bundes (1815-1866) geltendes Recht sei." Bei der Analyse der Reichsverfassung „war nicht juristischer Scharfsinn oder die Erkenntnis einer objektiven Rechtsidee gefragt, sondern positive Geschichtskenntnis" (Michael Stolleis). Die A b k e h r v o m rationalistisch entarteten Naturrecht der A u f k l ä rungsepoche vollzog Savigny nicht als erster. Karl Marx, scharfsichtiger Beobachter auch der Jurisprudenz seiner Zeit, schrieb 1842 in der „Rheinischen Zeitung", veranlaßt wohl durch die Berufung Savignys z u m preußischen Minister für Gesetzgebung: „Die historische Schule hat das Quellenstudium zu ihrem Schibboleth (hebr. - Losungswort) gemacht, sie hat ihre Quellenliebhaberei bis zu dem Extrem gesteigert, daß sie dem Schiffer anmutet, nicht auf dem Strome, sondern auf seiner Quelle zu fahren, sie w i r d es billig finden, daß w i r auf ihre Quelle zurückgehen, auf H u g o s Naturrecht." Gustav Hugo, 1764 in Lörrach geboren, w i r k t e sechsundfünfzig Jahre und damit fast so lange wie sein Lehrer Johann Stephan Pütter als Professor in Göttingen. Staat und Recht galten ihm nicht als Gegenstände einer aprioristisch verfahrenden Vernunft, sondern der Natur, das hieß der Erfahrung. M a n müsse, lehrte Hugo, die Rechtserscheinungen in der Geschichte ebenso unbefangen, objektiv und vorurteilslos beobachten w i e andere Naturphänomene, u m dann auf induktivem Wege ein auch rationell den konkreten Gegebenheiten entsprechendes Recht aufzubauen. Die eigentliche Quelle des Rechts sah H u g o in der dem geschichtlichen Wandel unterworfenen Volksüberzeugung, der „Meinung der Nation". Das Recht eines Volkes, wie überhaupt jede Wissenschaft, sei ein Teil seiner Sprache und bilde sich w i e diese und die Sitten ganz von selbst. Es k o m m e auch beim Privatrecht „nicht darauf an, w a s für Gesetze nun einmahl da sind, ohne daß man sie förmlich aufgehoben hätte, sondern was die Richter, die Sachwalter und die mündlichen und schriftlichen Lehrer von diesen für jetzt geltendes Recht halten", und „Rechtsgelehrte, die ihre Meinung dem Regenten zur Unterschrift (d.h. als Gesetz) vorlegen dürfen, sind im Durchschnitt genommen so klug und nicht klüger als ihre Lehrer und Zeitgenossen". Dabei vertrete jede Regierung nur das Volk, das manches auch selbst bewirken könne; und „höchstwahrscheinlich paßt für die gegenwärtige Lage eines Volkes dasjenige, was sich so von selbst macht, besser, als w a s irgendeine Regierung sich für das Volk ausdenkt". Die Gesetze, urteilte Hugo, schüfen auch kein Recht, sondern könnten nur feststellen, w a s Rechtens sei. Dieses hier nur angedeutete P r o g r a m m mit seinen Sätzen über die Verwandtschaft von Recht und Sprache, die Rolle des Juristen, Charakter und Funktion des Gesetzes zeigt — ähnlich w i e das Denken des Osnabrücker Staatsmanns, Publizisten und Geschichtsschreibers Justus M ö -
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2. Historische Rechtsschule und Pandektenwissenschaft ser (1720-1794) — überraschende Ähnlichkeit mit den Lehren Savignys und Jacob Grimms. In der Ahnengalerie deutscher Rechtsdenker zählt Savignys N a m e zu den glänzendsten. Er hat der deutschen Jurisprudenz europäisches A n sehen erworben; die Gebildeten kennen ihn wegen seiner Beziehungen zur Welt Goethes und zur Romantik. Aus begüterter, einst in Lothringen ansässiger Adelsfamilie stammend, streng reformiert erzogen und an vornehmen Lebensstil gewöhnt, blieb Savigny jedem Uberschwang, allem Revolutionären und Gewaltsamen abgeneigt, „seine geistige Einstellung eine durchaus klassizistische" (Paul Koschaker) mit geringer Bereitschaft zu philosophischer Spekulation. Savigny begann seine akademische Karriere nach der Promotion zu Marburg als Dozent im Herbst des Jahres 1800. Er las zunächst Strafrecht, dann Digesten und ein Kolleg über Juristische Methodologie, deren Grundlinie in dem Leitsatz zusammengefaßt erschien: „Die Rechtswissenschaft ist ja nichts weiter als Rechtsgeschichte." Die Monographie über „Das Recht des Besitzes", die auf die historischen Grundlagen zurückging und 1803 herauskam, brachte ihrem A u t o r ersten R u h m . Es gelang ihm, die historischkritische mit der systematisch-dogmatischen Denkweise zu verbinden, den Quellenstoff zu klären und prinzipiell zu durchdringen. In den folgenden Jahren bereitete sich Savigny auf ein umfassendes Werk über die geschichtliche Entwicklung des römisch-mittelalterlichen Rechtsdenkens vor, vor allem durch eine Studienreise nach Paris 1804/1805, während welcher ihm sein Schüler Jacob G r i m m zeitweise bei den Kollationen assistierte. 1808 folgte Savigny einem Ruf nach Landshut, zwei Jahre später der Einladung Wilhelm von Humboldts, in die neugegründete Universität Berlin einzutreten. Hier erlebte der Gelehrte viele Jahre fruchtbarer und anerkannter Arbeit in Wissenschaft und Lehre. Savign y s früh ausgeprägte Vorliebe z u m klassischen römischen Recht gab der historischen Methode, die sich ganz allgemein im Verständnis der Gegenwart als Gewordenes ausdrückte, eine folgenschwere U m d e u t u n g : Sie führte zur „Verfolgung jedes Stoffes bis zu seiner W u r z e l " und zur Verurteilung des modernen Rechts als wertlose Umgestaltung des römischen. Im Jahr 1814 erschien in Heidelberg die Schrift des dortigen Professors Anton Justus Friedrich Thibaut „Ueber die Nothwendigkeit eines allgemeinen bürgerlichen Rechts für Deutschland", die Savigny mit seinem hinreißenden, programmatischen Buch „Vom Beruf unsrer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft" beantwortete. Thibaut forderte zur „Festigung des bürgerlichen Zustandes" den Erlaß eines einfachen, deutschen, den Bedürfnissen des Volkes entsprechenden und einheitlichen Gesetzbuchs, das an die Stelle des verworrenen, kontroversenrei229
VII. Die Epoche des Deutschen Bundes (1815-1866) chen und fremden Corpus iuris treten, alles veraltete und zersplitterte römische w i e deutsche Recht ablösen sollte. Savigny setzte dem Thibautschen Postulat, das geltende durch besseres Recht zu ersetzen, seine Volksgeistlehre entgegen, aus der die Unmöglichkeit kodifikatorischer Rechtserneuerung folgte. Der Stoff bildet sich allmählich im Volk und ist geschichtlich vorgegeben und kann nicht erst durch Gesetz geschaffen werden. Diese Rechtsentstehungslehre bildet den eigentlichen Glaubenssatz der historischen Schule. N a c h Savignys Ansicht entsteht das Recht bereits vor dem Gesetz. „Die geschichtliche Schule nimmt an", schrieb Savigny im programmatischen Leitartikel der von ihm mit Karl Friedrich Eichhorn und Georg Joachim Göschen zusammen 1815 begründeten „Zeitschrift für geschichtliche Rechtswissenschaft", „der Stoff des Rechts sey durch die gesammte Vergangenheit der Nation gegeben, doch nicht durch Willkühr, so daß er zufällig dieser oder ein anderer seyn könnte, sondern aus dem innersten Wesen der Nation selbst und ihrer Geschichte hervorgegangen." Das Recht wachse mit dem Volk fort, bilde sich mit diesem aus, lesen w i r im „Beruf". Von der Rechtsentstehungslehre gelangt Savigny z u m „Spezialistendogma": M i t fortschreitender Kultur sonderten sich die Tätigkeiten des Volks immer mehr, entwickelten sich einzelne Stände, schließlich entfalte sich auch ein Juristenstand. „Das Recht bildet sich nunmehr in der Sprache aus, es nimmt eine wissenschaftliche Richtung, und w i e es vorher im Bew u ß t s e y n des gesammten Volkes lebte, so fällt es jetzt dem B e w u ß t s e y n der Juristen anheim, von welchen das Volk nunmehr in dieser Function repräsentirt w i r d . Das D a s e y n des Rechts ist von nun an künstlicher und verwickelter, indem es ein doppeltes Leben hat, einmal als Theil des ganzen Volkslebens, was es zu seyn nicht aufhört, dann als besondere Wissenschaft in den Händen der Juristen." Die Summe dieser A n sicht ist, „daß alles Recht auf die Weise entsteht, welche der herrschende, nicht ganz passende, Sprachgebrauch als Gewohnheitsrecht bezeichnet, d.h., daß es erst durch Sitte und Volksglaube, dann durch Jurisprudenz erzeugt wird, überall also durch innere, stillwirkende Kräfte, nicht durch die W i l l k ü h r eines Gesetzgebers". Die von Savigny repräsentierte romantische Volksauffassung betrachtet die Völker individualisierend und nimmt ihr Charakteristisches wahr. Indem sie das Nationale jedoch nicht exklusiv konzipiert, bewahrt sie Züge einer aufklärerisch-kosmopolitischen Gesinnung. „Savignys Lehre vom Volksgeist hat ihre allgemeine Grundlage in der historischen Kulturtheorie des 18. Jahrhunderts. Sie beruht auf den Lehren von Montesquieu, Voltaire und Herder. Durch diese Lehren w a r der Gedanke, eine Kultur als Einheit zu sehen, und z w a r sowohl im Hinblick auf einzelne Epochen w i e (diachron) im Rahmen einer natio230
2. Historische Rechtsschule und Pandektenwissenschaft
nalen Entwicklung, herausgearbeitet worden. Savigny verbindet sie mit der Organismuslehre, in der seine Zeit die Evolution gesellschaftlicher Verhältnisse sich deutlich zu machen versuchte, und wendet diese speziell auf die Lehre von den Rechtsinstituten an" (Helmut Coing). Savigny lehnte die drei großen Gesetzbücher seiner Zeit: das ALR, über das er freilich an der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin Kollegien hielt, den Code civil und das ABGB, sowie den Kodifikationsvorschlag Thibauts schon deswegen ab, weil sie auch materiell neues Recht einführen wollten, was der Volksgeistlehre widersprach. In dieser Absage erschöpft sich der „Beruf" keineswegs, den spätere Autoren viel zu lange im Bann der Schrift Thibauts gesehen haben. Savigny bietet, was Pio Caroni herausgearbeitet hat, eine viel weiter reichende Rechtsquellenlehre, die seine späteren Werke, besonders das „System", dann voraussetzten. Kodifikation bedeutet für Savigny bloße Neuordnung des überlieferten Rechts in organischer Anlage. In entschiedenem Gegensatz zum naturrechtlichen Gesetzesbegriff, der — vom Anspruch auf materielle Vollständigkeit geleitet — die Kodifikation zur ausschließlichen Rechtsquelle erhebt, geht Savigny von einem System der Quellenmehrheit aus. Wenn das Gesetzbuch nicht materiell vollständig sein kann, müssen es subsidiäre Rechtsquellen ergänzen. Der Vorrang des kodifizierten Rechts begründet die Einheit dieses Systems einer Quellenmehrheit. Savigny zieht also aus der Lückenhaftigkeit der Legalordnung die für die Kodifikationstheorie fruchtbare Erkenntnis der notwendigen Quellenmehrheit. Diese Doktrin erhöht die Stellung des Richters, der das Gesetz anwenden, gegebenenfalls mittels subsidiärer Quellen, Sitten und Gebräuchen, ergänzen und durch sein Urteil das Recht fortbilden soll. Sie weist ferner der Rechtswissenschaft eine führende Rolle bei der Vorbereitung, Interpretation und Weiterbildung des kodifizierten Rechts zu. Dabei bleibt Savigny seiner eigenen wissenschaftlichen Vorliebe verpflichtet, die als letzte maßgebende Quelle allein die historische, und das hieß ihm: das klassische römische Recht, anerkennen will. In diesem Sinn versucht Savigny, nach einem Wort Hugos, „die Wissenschaft gegen die Gesetzbücher zu retten". Jacob Grimm fand sich durch Savignys „Beruf", wie er im Oktober 1814 aus Wien an den Autor schrieb, in einigen seiner liebsten Gedanken bestärkt: „Durchgreifend und völlig entscheidend ist die Gleichstellung und Vergleichung des Rechts mit der Sitte und Sprache, trifft nach allen Seiten hin und muß die Annahme eines sog. Naturrechts weiter unmöglich machen. Das Recht ist wie die Sprache und Sitte volksmäß i g , dem Ursprung und der organisch lebendigen Fortbewegung nach. Es kann nicht als getrennt von jenen gedacht werden, sondern diese alle durchdringen einander innigst vermöge einer Kraft, die über dem Men231
VII. Die Epoche des Deutschen Bundes (1815-1866)
sehen liegt. So unsinnig es wäre, eine Sprache oder Poesie erfinden zu wollen, ebensowenig kann der Mensch mit seiner einseitigen Vernunft ein Recht finden, das sich ausbreite frisch und mild, wie das im Boden gewachsene." Auch der Germanist Jacob Grimm begreift das Recht als Element der Kultur, aus dem der Volksgeist spricht. Wie Savigny lehnt er das Vernunftrecht ab und fordert er die Rückkehr zu den Quellen der Geschichte. Doch spürbarer wirkt der romantische Geist in seiner Wissenschaft: „Dasz recht und poesie miteinander aus einem bette aufgestanden waren, hält nicht schwer zu glauben, in ihnen beiden, sobald man sie zerlegen will, stöszt man auf etwas gegebenes, zugebrachtes, das man ein auszergeschichtliches nennen könnte, wiewol es eben jedesmal an die besondere geschichte anwächst; in keinem ist blosze Satzung noch eitle erfindung zu haus, ihr beider ursprung beruhet auf zweierlei wesentlichem, auf dem wunderbaren und dem glaubreichen, unter wunder verstehe ich hier die ferne, worin für jedes volk der anfang seiner gesetze und lieder tritt; ohne diese Unnahbarkeit wäre kein heiligthum, woran der mensch hangen und haften soll, gegründet; was ein volk aus der eignen mitte schöpfen soll, wird seines gleichen, was es mit händen antasten darf, ist entweiht, glaube hingegen ist nichts anders als die Vermittlung des Wunders, wodurch es an uns gebunden wird, welcher macht, dasz es unser gehört, als ein angeborenes erbgut, das seit undenklichen jähren die eitern mit sich getragen und auf uns fortgepflanzt haben, das wir wiederum behalten und unsern nachkommen hinterlassen wollen, nur die gerechtigkeit ist dem volke recht und untrüglich, die aus ,der ältesten frommer kundschaft' genommen wird." Wer so über die Poesie im germanischen Recht sinnierte — mit einer identischen Herkunft von Poesie und Recht aber rechnet die moderne Philologie nicht mehr —, den mußten die juristischen Prinzipienkämpfe um das praktische Recht der Gegenwart gleichgültig lassen. In der Tat: Jacob Grimm, der zusammen mit seinem Bruder Wilhelm die deutsche Philologie begründete, arbeitete vornehmlich als wissenschaftlicher Antiquar, „von dieser Grundhaltung her: die Poesie im alten Recht als das Wichtigste, danach das Etymologisch-Sprachliche, und zuletzt das Juristische" (Wilhelm Ebel). Der rechtshistorischen Wissenschaft hat Grimm vor allem zwei Werke geschenkt, die in ihrem Stoffreichtum für die Forschung bis heute wertvoll geblieben sind: 1828 erschienen, „auf die Rechtskultur in ihrer Ganzheit bezogen" (Ruth Schmidt-Wiegand), die Deutschen Rechtsaltertümer, eine „Sammlung von Materialien für das sinnliche — das will sagen: das sinnenhafte — Element der deutschen Rechtsgeschichte"; seit 1840 kam die umfangreiche Quellenedition der bäuerlichen Weistümer heraus. Grimm entwickelte dabei nicht, 232
2. Historische Rechtsschule und Pandektenwissenschaft erklärte nicht das neue Recht aus der Geschichte des alten, sondern bot rechtliche Altertumswissenschaft. U m die Entwicklung und das Gefüge des heimischen Rechts rangen die eigentlichen Rechtsgermanisten, denen das A u f b l ü h e n der Historiographie ihrerseits zugute kam. Anfangs in friedlichem Wetteifer mit den Romanisten, später in empfindlichem Streit u m Bestand und Geltung der eigenen Materie verfaßten die Germanisten ihre Systeme des Deutschen Privatrechts oder Einführungen dazu: Eichhorn und Mittermaier, Wilda und Beseler, Reyscher, Albrecht und Bluntschli, Gengier und andere. M i t wachsender Energie durchdrangen die Germanisten zugleich das öffentliche Recht. „War doch nichts so tief in der germanischen Rechtsidee gegründet, als die innere Einheit von privatem und öffentlichem Recht" (Otto von Gierke). In der Person Eichhorns werde sichtbar, so Michael Stolleis, „was ,Historische Schule des öffentlichen Rechts' heißen könnte, nämlich eine Vorstellung von der Historizität des geltenden öffentlichen Rechts, die, auf einer konservativen politischen Grundlage, das rationalistisch-legislatorische Element möglichst zugunsten organisch-autonomer Prozesse zurückdrängen möchte, aber gleichzeitig die politischen Veränderungen des Vormärz in der Weise einarbeitet, daß das historische Material nach dem normativen Grundriß der konstitutionellen Theorie dogmatisch genutzt wird. Allerdings entfaltete sich diese Position im wesentlichen im Rahmen einer ,Staatsund Rechtsgeschichte', nicht im positiven Staatsrecht Preußens oder des Deutschen Bundes." Wie die Romanisten schufen auch die Germanisten ein Professorenrecht, das freilich den einheimischen bodenständigen Rechtsgewohnheiten galt und diesen einen möglichst großen R a u m neben dem gemeinen römischen, volksfremden Recht zu erhalten oder zu schaffen suchte und das Deutsche Privatrecht als geltende, revisible Ordnung mit Gesetzeskraft hinstellte. Die Germanisten nahmen — wie Franz Wieacker formuliert — „den Durchbruch des historischen Bewußtseins z u m vitalen Lebensgrund des Rechts von jeher ernster" als ihre romanistischen Fachgenossen. Vielfach politisch engagiert, forderten die konservativen unter ihnen die R ü c k k e h r z u m konkreten historischen Recht der vorabsolutistischen und vorrevolutionären Gesellschaft; die nationaldemokratischen Germanisten suchten den Weg zur souveränen Nation und zur Reform der Gesellschaft mittels volkstümlicher Rechtsetzung. Die Entzweiung innerhalb der historischen Rechtsschule brach offen und heftig aus, als die Romanisten sich z u m rechtswissenschaftlichen Formalismus bekannten, dem das Monopol des gelehrten Pandekten-Juristen entsprach.
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VII. Die Epoche des Deutschen Bundes (1815-1866) Die Entwicklung hin zur Begriffsjurisprudenz der Pandektisten findet sich bereits durch Savigny und seine Idee von der immanenten Lebensgebundenheit des Rechts angelegt. Von der Lehre des organischen Entstehens und Wachsens des Rechts ausgehend, identifizierte er dieses mit der sozialen Wirklichkeit. Die rechtspolitische Frage nach der Eignung eines Rechtsinstituts zur Regelung praktischer Bedürfnisse stellte er darum nicht. Zwischen Recht und Leben vermochte er keine Kluft zu denken, entstand ja das Recht aus dem Leben, nämlich dem Volksgeist. Mit dieser Vorstellung konnte Savigny das Recht aus sich heraus selbständig weiterbilden, ohne das Empfinden haben zu müssen, dadurch der Wirklichkeit und ihren sozialen Ansprüchen nicht gerecht zu werden. Er konnte so Rechtsinstitute und -sätze seines Systems durch induktive Abstraktion gewinnen und damit dem juristischen Formalismus den Weg bereiten. Den strengen Begriffsformalismus der Pandektenwissenschaft — die nach dem Titel ihrer charakteristischen Lehrbücher so hieß — hat erst Savignys Schüler und Nachfolger zur vollen Herrschaft geführt: Georg Friedrich Puchta. In seinem „Gewohnheitsrecht" hat dieser Gelehrte dem wissenschaftlich gebildeten Juristen ein Monopol für Theorie und Praxis des Rechts, die ausschließliche Kompetenz zur Rechtserzeugung zuerkannt. N a c h Puchtas Sicht erscheint der Jurist in der höchsten Entwicklungsstufe des Rechtslebens, die das deutsche 19. Jahrhundert erreicht hatte, als „Organ" des Volkes. Das Volk kennzeichnet Puchta als die „äußere Erscheinung, bei der nur der gemeine ungebildete Verstand stehen bleibt, für den das Unsichtbare nicht vorhanden ist". In diesem Konzept verschwand das Empfinden für die Realität des Volkes und die Bedürfnisse der Gesellschaft, von dem die R o m a n t i k trotz aller geistigen Schwärmerei doch auch getragen gewesen war. In Puchtas „Pandekten" und seinem „Cursus der Institutionen" erscheint das methodische Prinzip der Pandektenjurisprudenz, das den wissenschaftlichen Juristen zur Herleitung neuer Rechtssätze aus den Begriffen im Wege produktiver Konstruktion ermächtigt: „Es ist nun die A u f g a b e der Wissenschaft, die Rechtssätze in ihrem systematischen Zusammenhang, als einander bedingende und von einander abstammende zu erkennen, u m die Genealogie der einzelnen bis zu ihrem Princip hinauf verfolgen, und eben so von den Principien bis zu ihren äußersten Sprossen herabsteigen zu können. Bei diesem Geschäft w e r d e n Rechtssätze z u m Bewußtsein gebracht und zu Tage gefördert werden, die in dem Geist des nationellen Rechts verborgen, weder in der unmittelbaren Ueberzeugung der Volksglieder und ihren Handlungen, noch in den Aussprüchen des Gesetzgebers zur Erscheinung gekommen sind, die also erst als Product einer wissenschaftlichen Deduction sichtbar entstehen. So tritt die Wissen234
2. Historische Rechtsschule und Pandektenwissenschaft
schaft als dritte Rechtsquelle zu den ersten beiden; das Recht, welches durch sie entsteht, ist Recht der Wissenschaft, oder da es durch die Tätigkeit der Juristen ans Licht gebracht wird, Juristenrecht." Diese Doktrin besiegelte die Entfremdung der Jurisprudenz von der gesellschaftlichen, politischen und moralischen Wirklichkeit des Rechts und führte den Formalismus zum Sieg. Bei ihm langte nun eine Erneuerungsbewegung an, die einst mit der Absage an den formalen Rationalismus des Vernunftrechts aufgebrochen war! Die Begriffsjurisprudenz provozierte sogleich lang anhaltenden wissenschaftlichen und politischen Widerspruch gegen den Verzicht der Rechtswissenschaft auf den gesellschaftlichen Wirklichkeitsbezug. Dieser antiformalistische Protest meldete sich in der Zukunft wieder und wieder zu Wort, auch als die Begriffsjurisprudenz auf ihr berechtigtes Maß zurückgeführt war. Wesentliche Impulse gingen dabei vor allem von dem Ururenkel Conrings, dem in Göttingen lehrenden Rudolph von Ihering und seiner 1872 erschienenen Schrift „Der Kampf ums Recht" aus. Zuerst erhoben die Germanisten ihre Stimme: „Die Quelle ihrer Stärke war der nationale Gedanke. Von vornherein faßten sie den Kampf für das deutsche Recht als einen Teil des Ringens der Nation um volle Wiedergewinnung ihres Selbst auf" (Otto von Gierke). Damit verknüpfte sich untrennbar das Postulat größerer Volkstümlichkeit des Rechts. Den Bruch mit den Romanisten signalisierte die Begründung eines eigenen Organs, der „Zeitschrift für das deutsche Recht", durch August Ludwig Reyscher und Wilhelm Eduard Wilda im Jahre 1839: „Zweck der Zeitschrift ist nicht blos", hieß es im Vorwort, „einen Vereinigungspunkt für Untersuchungen im Gebiete des einheimischen deutschen Rechts abzugeben, sondern auch zur Beförderung eines nationalen Rechtsstudiums und damit zur Begründung einer vaterländischen Rechtswissenschaft mitzuwirken. Die Aufgabe, zumal in letzterer Beziehung, ist groß: denn sie setzt nicht blos voraus, daß das Bedürfniß einer Zurückführung des gesammten Rechts auf eine einheimische, der Volkseigenthümlichkeit entsprechende Grundlage erkannt, sondern auch daß die Vorliebe für das fremde, bis jetzt vorzugsweise gepflegte Recht theilweise zum Opfer gebracht werde." 1843 erschien Georg Beselers Kampfschrift „Volksrecht und Juristenrecht". Sie führte aus, daß die Aufnahme des römischen Rechts in Deutschland fast ausschließlich dem Juristenstand zuzuschreiben sei; dadurch habe sich das positive Recht dem Bewußtsein des Volkes ganz entfremdet. Beseler verlangte von den Juristen, ihre isolierte Position aufzugeben und sich mit der Nation zu vereinen. Eine tiefe nationale Bewegung dränge auf eine mehr naturgemäße und volkstümliche Gestaltung des Rechtswesens und werde die
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Vertreter einer dem Leben entfremdeten, wissenschaftlich überholten Lehre überwinden. Der Vergleich mit Savignys „Beruf" macht die Gemeinsamkeiten und die Unterschiede deutlich. Beide bekannten sich zur „Volksgeistlehre"; Beseler lehnte Savignys „Spezialistendogma" ab. Bei den engagierten Romanisten stieß Beselers Werk auf erbitterten Widerspruch und leitete damit einen Klärungsprozeß ein, der das Umschlagen romanistischer Denkweisen in begriffsjuristische förderte. Die Jahre 1846 und 1847 schließlich sahen die großen Germanistentage von Frankfurt und Lübeck. Hier sprach Karl Joseph Anton Mittermaier über die Notwendigkeit, dem deutschen Volk statt des römischen Rechts ein Recht mit nationaler Grundlage zu geben; Reyscher redete über das Streben der neuen germanistischen Richtung, das in Deutschland geltende Recht in seiner Einheit, als ein gemeines Recht aufzufassen, und über die Nachteile der bisherigen vorzugsweisen Beachtung des römischen Rechts. Neben wohlbegründeten Ansprüchen viel Purismus und pathetischer Uberschwang — Jacob Grimm, der Vorsitzende zu Frankfurt, sah sich veranlaßt, zur Mäßigung aufzurufen. Den heftigen Schulenstreit zwischen Romanisten und Germanisten dämpften erst die Enttäuschungen der Paulskirche und endlich die gesetzgeberischen Anstrengungen in der zweiten Jahrhunderthälfte zu einer nun wieder mehr fachwissenschaftlichen Konkurrenz. Bleibt, wenn wir die Leistungen der historischen Schule insgesamt nüchtern abwägen, nicht allzuviel übrig, wie Paul Koschaker urteilt? Gewiß, daß sie die Rechtsgeschichte zum Rang einer von den anderen geistigen Disziplinen anerkannten, in allen europäischen Universitäten berühmten Wissenschaft erhoben hat, liegt nicht auf spezifisch juristischem Gebiet. Und ihre Rechtsdoktrin, die Pandektistik? Ihr gelang es, „die beinahe absterbende Traditionsmasse des Gemeinen Rechts und der partikulären deutschen Privatrechte in einen neuen Prinzipienzusammenhang zu integrieren, der eine bisher nicht erhörte Produktivität neuer juristischer Phantasie freisetzte, den Thesaurus der dogmatischen Modelle unermeßlich vermehrte und dadurch die Mittel der geistigen Ordnung der gesellschaftlichen Realität unermeßlich ausweitete" (Franz Wieacker). Während Deutschland vor 1900 eine Vielzahl partikularer Privatrechte kannte, zu denen subsidiär das gemeine Recht hinzutrat, gab es doch nur eine Rechtswissenschaft: das Werk der deutschen Pandektisten, von Savigny seit Anbeginn als allgemeine deutsche Jurisprudenz gedacht. Dabei mag die alte Reichsidee noch mitgespielt haben. Die Arbeit der Pandektisten und auch die Erträge der Wissenschaft vom Deutschen Privatrecht haben — durchaus im Sinne Savignys — eine wichtige Voraussetzung für die späteren großen Kodifikationen ge236
3. Der Deutsche Bund und die Zivilgesetzgebung schaffen: ein hoch entwickeltes Rechtssystem. Die politischen Bedingungen konnten die Professoren nicht setzen, auch nicht die Rechtsgermanisten unter ihnen, sosehr gerade diese sich in ansehnlicher Zahl in das parlamentarische und tagespublizistische Geschäft einließen. Immerhin haben die Germanisten durch ihr Nein zur Abkehr von den öffentlichen A u f g a b e n des Tages wenigstens einen Teil der H y p o t h e k abgetragen, mit der die Romanisten die „Nachrezeption" des gelehrten Fremdrechts und ihre juristische Produktion erkauften. Wie jede geistige Bewegung entfaltete die historische Rechtsschule einen ganzen Vorrat von Ansätzen und Ideen, teils erneuerten, teils selbst hervorgebrachten, deren wesentliche sich — im Wellengang der Geschichte durch spätere Schulen zurückgedrängt oder umgebildet — gleichwohl als gültige Beiträge z u m Rechtsdenken behaupteten. W i r verdanken der historischen Schule insbesondere das Bewußtsein davon, daß das Recht ein Element der Gesamtkultur bildet und sich mit ihr geschichtlich entwickelt.
3. Der Deutsche
Bund und die
Zivilgesetzgebung
Allgemeines deutsches Handelsgesetzbuch von 1861 — Allgemeine deutsche Wechselordnung von 1848. In den Ausgaben für das Großherzogtum Baden, 1973 = Neudr. privatrechtl. Kod. u. Entw. d. 19. Jahrhunderts Bd. 1; BAPPERT, Walter: Wege zum Urheberrecht. Die geschichtliche Entwicklung des Urheberrechtsgedankens, 1962; BAUMS, Theodor (Hg.): Entwurf eines allgemeinen Handelsgesetzbuches für Deutschland (1848/49), Text und Materialien, 1982; BECKER, Hans-Jürgen: Das Rheinische Recht und seine Bedeutung für die Rechtsentwicklung in Deutschland im 19. Jahrhundert, in: JuS 1985, 338-345; BENÖHR, Hans-Peter: Der Dresdner Entwurf von 1866 und das Schweizerische Obligationenrecht von 1881, in: Hundert Jahre Schweizerisches Obligationenrecht, 1982, 57-89; BERGFELD, Christoph: Preußen und das Allgemeine Deutsche Handelsgesetzbuch, in: Ius Commune 14, 1987, 101-114; BRINCKMANN, Carl Heinrich Ludwig: Würdigung des Entwurfes eines allgemeinen Handelsgesetzbuches für Deutschland, welchen die durch das Reichsministerium der Justiz niedergesetzte Kommission veröffentlicht hat, in: AcP 32, 1849, 356-400, 33, 1850, 67-100; BÜHLER, Diethard: Die Entstehung der allgemeinen Vertragsschluß-Vorschriften im Allgemeinen Deutschen Handelsgesetzbuch (ADHGB) von 1861. Ein Beitrag zur Kodifikationsgeschichte des Privatrechts im 19. Jahrhundert, 1991; CHRIST, Anton: Ueber deutsche Nationalgesetzgebung. Ein Beitrag zur Erzielung gemeinsamer für ganz Deutschland gültiger Gesetzbücher, und zur Abschaffung des römischen und französischen Rechts insbesondere, 2 1842; CoiNG, Helmut u. WILHELM, Walter (Hgg.): Wissenschaft und Kodifikation des Privatrechts im 19. Jahrhundert, 6
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VII. Die Epoche des Deutschen Bundes (1815-1866) Bde., 1 9 7 4 - 1 9 8 2 ; C O N R A D , Hermann: Der Deutsche Juristentag 1 8 6 0 - 1 9 6 0 , in: Hundert Jahre deutsches Rechtsleben. Festschr. zum hundertjährigen Bestehen des Deutschen Juristentages, hg. v. Ernst von C A E M M E R E R , Ernst F R I E S E N H A H N u. Richard L A N G E , Bd. 1 , 1 9 6 0 , 1 - 3 6 ; C O N R A D I , Johannes: Das Unternehmen im Handelsrecht. Eine rechtshistorische Untersuchung vom Preußischen Allgemeinen Landrecht ( 1 7 9 4 ) bis zum Allgemeinen Deutschen Handelsgesetzbuch ( 1 8 6 1 ) , 1 9 9 3 ; D Ö L E M E Y E R , Barbara: Einflüsse von ALR, Code civil und ABGB auf Kodifikationsdiskussionen und -projekte in Deutschland, in: Ius Commune 7 , 1 9 7 8 , 1 7 9 - 2 2 5 ; D Ö L E M E Y E R , Barbara: Bericht über Editionen und Neuausgaben von Gesetzgebungsmaterialien des 19. und 20. Jahrhunderts, in: ZNR 8 , 1 9 8 6 , 5 4 - 6 5 ; E L S E N E R , Ferdinand: Carl Georg von Wächter ( 1 7 9 7 - 1 8 8 0 ) und die Bemühungen Württembergs um eine Vereinheitlichung des Privat- und Prozeßrechtes in der Zeit des Deutschen Bundes ( 1 8 4 7 / 1 8 4 8 ) , in: Festschr. Hermann Bald, hg. v. Kurt E B E R T , 1 9 7 8 , 1 9 3 - 2 0 9 ; E N D E M A N N , Wilhelm: Das Deutsche Handelsrecht, systematisch dargestellt, 2 1 8 6 8 ; Entwurf eines allgemeinen Handelsgesetzbuches für Deutschland. Von der durch das Reichsministerium der Justiz niedergesetzten Commission, mit Motiven, 1849; Entwurf eines für die deutschen Bundesstaaten gemeinsamen Gesetzes über Schuldverhältnisse (nach den in erster Lesung erfolgten Beschlüssen), in: Württembergisches Archiv für Recht und Rechtsverwaltung mit Einschluß der Administrativ-Justiz 7 , 1 8 6 5 , 1 1 5 - 2 1 5 , 8 , 1 8 6 5 , 2 2 5 - 4 0 8 ; F R A N C K E , Bernhard: Entwurf eines allgemeinen deutschen Gesetzes über Schuldverhältnisse, bearb. v. den durch die Regierungen von Oesterreich, Bayern, Sachsen, Hannover, Württemberg, Hessen-Darmstadt, Mecklenburg-Schwerin, Nassau, Meiningen und Frankfurt hierzu abgeordneten Commissaren, und im Auftrage der Commission hg. 1866 (Dresdner Entwurf eines allgemeinen deutschen Gesetzes über Schuldverhältnisse von 1 8 6 6 ) , 1 9 7 3 = Neudr. privatrechtl. Kod. u. Entw. d. 1 9 . Jahrhunderts Bd. 2 ; F U C H S , Walther Peter: Die deutschen Mittelstaaten und die Bundesreform 1 8 5 3 - 1 8 6 0 , 1 9 3 4 ; G E T Z , Heinrich: Die deutsche Rechtseinheit im 1 9 . Jahrhundert als rechtspolitisches Problem, 1 9 6 6 ; G I E S E K E , Ludwig: Die geschichtliche Entwicklung des deutschen Urheberrechts, 1957; G O L D S C H M I D T , Levin: Der Abschluß und die Einführung des allgemeinen Deutschen Handelsgesetzbuchs, in: Zeitschrift f. d. gesammte Handelsrecht 5, 1862, 204-227, 515-584, 6, 1863, 41-64, 388-412; GOLDSCHMIDT, Levin: Handbuch des Handelsrechts, 2 Bde., 1 8 6 4 ( 3 1 8 9 1 ) , 1 8 6 8 ; H A H N , Hans-Werner: Geschichte des Deutschen Zollvereins, 1984 = Kl. Vandenhoeck-Reihe 1 5 0 2 ; H E D E M A N N , Justus Wilhelm: Der Dresdner Entwurf von 1 8 6 6 . Ein Schritt auf dem Wege zur deutschen Rechtseinheit, 1 9 3 5 ; H O L L E R B A C H , Alexander: Vormärz, Revolution und Nachmärz im Spiegel des Wirkens des badischen Juristen Anton Christ ( 1 8 0 0 bis 1 8 8 0 ) , in: Baden-Württembergisches Verwaltungsblatt 1 4 , 1 9 6 9 , 1 - 8 ; H U B E R , Ulrich: Das Reichsgesetz über die Einführung einer allgemeinen Wechselordnung für Deutschland, in: JZ 1978, 7 8 5 - 7 9 1 ; K L I P P E L , Diethelm: Vernünftige Gesetzgebung. Die Philosophie der bürgerlichen Gesetzgebung im 19. Jahrhundert, in: Konflikt und Reform. Festschr. Helmut Berding, hg. v. Winfried S P E I T K A M P U. Hans-Peter U L L M A N N , 1 9 9 5 , 1 9 8 - 2 1 5 ; K Ü P E R , Wilfried (Hg.): Carl Joseph Anton Mittermaier. Symposium 1 9 8 7 in Heidelberg, Vorträge und Materialien, 1 9 8 8 ; L A M M E L ,
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3. Der Deutsche Bund und die Zivilgesetzgebung Siegbert: Zur Entstehung von Handelsrecht. Die Beteiligung des Handelsstandes an der Handelsgesetzgebung in der Freien Stadt Frankfurt am Main im 19. Jahrhundert, 1987; LANDWEHR, Götz: Karl Joseph Anton Mittermaier (1787-1867). Ein Professorenleben in Heidelberg, in: Heidelberger Jahrb. 12, 1968, 29-55; LANDWEHR, Götz: Übergabe (Traditio) und Eigentumserwerb beim Handelskauf im 19. Jahrhundert. Das private Außenrecht der Unternehmen insbesondere beim Versendungskauf in der Diskussion vom preußischen Entwurf (1857) bis zum ADHGB, in: Festschr. Peter Raisch, 1995, 117-146; LAUFKE, Franz: Der Deutsche Bund und die Zivilgesetzgebung, in: Festschr. Hermann Nottarp, 1961, 1-57; LUTZ, Joachim (Hg.): Protokolle der Kommission zur Berathung eines allgemeinen deutschen Handelsgesetzbuches, 9 Bde., 1858-1863; MITTERMAIER, Karl Joseph Anton: Ueber den Zustand der Gesetzgebung in Bezug auf Wechselrecht, über die an den Gesetzgeber in dieser Beziehung zu stellenden Forderungen, und über das Bedürfniß einer gleichförmigen Wechselgesetzgebung für die Staaten des deutschen Zollvereins, in: AcP 25, 1842, 114-150, 284-306, 26, 1843, 114-160, 446-478, 27, 1844, 120-154; MITTERMAIER, Karl Joseph Anton: Die Reichswechselordnung nach ihrer Wichtigkeit, und ihrem Verhältnisse zu den Landesgesetzgebungen, in: AcP 31, 1848, 534-555, 32, 1849, 123-150; Protocolle der zur Berathung einer Allgemeinen Deutschen Wechsel-Ordnung in der Zeit vom 20. October bis zum 9. December 1847 in Leipzig abgehaltenen Conferenz, nebst dem Entwürfe einer Wechsel-Ordnung für die Preußischen Staaten, den Motiven zu demselben und dem aus den Beschlüssen der Conferenz hervorgegangenen Entwürfe, 1848; Protocolle der deutschen Bundesversammlung, 1816-1848, 1851-1866; RAISCH, Peter: Die Abgrenzung des Handelsrechts vom Bürgerlichen Recht als Kodifikationsproblem im 19. Jahrhundert, 1962; RAISCH, Peter: Geschichtliche Voraussetzungen, dogmatische Grundlagen und Sinnwandlung des Handelsrechts, 1965; REHME, Paul: Geschichte des Handelsrechtes, in: Handbuch des gesamten Handelsrechts, hg. v. Victor EHRENBERG, Bd. 1, 1913, 28-259; SCHERNER, Karl Otto (Hg.): Modernisierung des Handelsrechts im 19. Jahrhundert, 1993; STINTZING, Roderich von u. LANDSBERG, Ernst: Geschichte der Deutschen Rechtswissenschaft, Abt. 3, Halbbd.2, Text, 1910, 625-634 (über Heinrich Thöl), 938-949 (über Levin Goldschmidt); STOBBE, Otto: Geschichte der deutschen Rechtsquellen II, 1864, 490-497; THÖL, Heinrich: Zur Geschichte des Entwurfes eines allgemeinen deutschen Handelsgesetzbuches, 1861; THÖL, Heinrich: Das Handelsrecht, 3 Bde., versch. Aufl. 1841-1880; WADLE, Elmar: Der Deutsche Zollverein, in: JuS 1984, 586-592; WADLE, Elmar: Der Zollverein und die deutsche Rechtseinheit, in: ZRG, GA, 102, 1985, 99-129; WADLE, Elmar: Neuere Forschungen zur Geschichte des Urheberund Verlagsrechts, in: ZNR 12, 1990, 51-67; WADLE, Elmar (Hg.): Historische Studien zum Urheberrecht in Europa, 1993; WADLE, Elmar: Schutz gegen Nachdruck als Aufgabe einer bundesweiten „Organisation des deutschen Buchhandels" — Metternichs zweiter Plan einer „Bundeszunft" und sein Scheitern, in: Humaniora, Festschr. f. Adolf Laufs, 2006, 431-457; WESENBERG, Gerhard: Die Paulskirche und die Kodifikationsfrage, in: ZRG, RA, 72, 1955, 359-365; ZIMMERMANN, Roland: Die Bemühungen um eine Privatrechtskodifikation im Herzogtum Nassau, 1806-1866, 1988.
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VII. Die Epoche des Deutschen Bundes (1815-1866) Der Kampf für nationale Rechtseinheit gehört zu den beherrschenden Themen deutscher Geschichte im 19. Jahrhundert. In seiner Schrift „Uber die Nothwendigkeit eines allgemeinen bürgerlichen Rechts für Deutschland" von 1814 lieferte Anton Friedrich Justus Thibaut ein vorbildliches Programm. Joseph Görres verlangte im Rheinischen M e r k u r zur selben Zeit, „daß alle nach dem gleichen Rechte gerichtet werden sollen". N o c h während der Befreiungskriege forderten deutsche Patrioten wie Ernst M o r i t z Arndt wieder eine einheitliche Gerichtsbarkeit und ein allgemeines deutsches Oberreichsgericht. Diese Rufe fanden ihren Niederschlag in § 64 der Paulskirchen-Verfassung, den Ausschuß und Plenum ohne ernsthafte Widerstände verabschiedet hatten: „Der Reichsgewalt liegt es ob, durch die Erlassung allgemeiner Gesetzbücher über bürgerliches Recht, Handels- und Wechselrecht, Strafrecht und gerichtliches Verfahren die Rechtseinheit im deutschen Volke zu begründen." Viele begrüßten diese N o r m als einen „goldenen Artikel", so der badische Jurist und demokratische Parlamentarier Anton Christ in einem Brief an Karl Joseph Anton Mittermaier, der seinerseits als rechtspolitisch engagierter Professor und vielseitiger Fachpublizist für die deutsche Rechtseinheit kämpfte. Das Archiv für die Civilistische Praxis, das Mittermaier in Heidelberg mitherausgab, veröffentlichte eine bedeutende Zahl rechtswissenschaftlicher Aufsätze und Berichte, die sich mit Kodifikationsvorhaben und gesetzgeberischen Initiativen befaßten. Blieb das Reich der Paulskirche auch ein Wunschtraum, so regten sich doch allenthalben schöpferische Kräfte für eine einheitliche deutsche Gesetzgebung. Die Interessen einer mächtig sich entwickelnden Industriewirtschaft geboten ein durchgehendes Verkehrsrecht. Die bürgerliche Unternehmerklasse trieb besonders die Schaffung eines einheitlichen Handelsund Wertpapierrechts in Deutschland voran. Juristen aller Berufszweige engagierten sich für die Rechtseinheit. Die in der Preußischen Gerichtszeitung vom 16. Mai 1860 publizierte Einladung z u m ersten Deutschen Juristentag in Berlin nannte als Leitmotiv den Wunsch, „die Einheit Deutschlands auf dem Gebiete des Rechtes nach Kräften fördern zu helfen". Schon auf seinem ersten Kongreß 1860 setzte der Deutsche J u ristentag, dessen rechtspolitische Beiträge bis zur Gegenwart die öffentliche Diskussion stark beeinflußten, sich z u m Ziel, „eine Vereinigung für den lebendigen Meinungsaustausch und den persönlichen Verkehr unter den deutschen Juristen zu bilden, auf den Gebieten des Privatrechts, des Prozesses und des Strafrechts den Forderungen nach einheitlicher Entw i c k l u n g immer größere Anerkennung zu verschaffen, die Hindernisse, welche dieser Entwicklung entgegenstehen, zu bezeichnen und sich über Vorschläge zu verständigen, welche geeignet sind, die Rechtseinheit zu fördern". 240
3. Der Deutsche Bund und die Zivilgesetzgebung Bis zur Gründung des Norddeutschen Bundes und des Kaiserreiches blieb das Einheitsstreben im wesentlichen auf den Deutschen Bund angewiesen. Trotz seiner inneren Gegensätze und organisatorischen Gebrechen hat der Deutsche Bund vor allem in der letzten Phase seines Bestehens gewichtige Beiträge zur Rechtsvereinheitlichung geleistet: auf dem Felde des Handelsrechts und des Schuldrechts, des Zivilprozesses, des Wechsel-, Patent- und Urheberrechts. Die amtlichen Protokolle der Deutschen Bundesversammlung und die Berichte ihrer Kommissionen weisen den erheblichen Arbeitsaufwand im Dienste der Rechtseinheit nach. Wo den kodifikatorischen Leistungen hervorragender Juristen im Zeichen des Deutschen Bundes der Erfolg versagt blieb, weil die Entw ü r f e aus politischen Gründen nicht Gesetz werden konnten, da schufen sie vielfach die Grundlage, auf welcher das spätere Deutsche Reich als Bundesstaat weiterbaute. Eine zivilrechtliche Gesetzgebungskompetenz konnte der Bund jedenfalls nach 1848 nicht mehr betätigen. In der nachrevolutionären Epoche verstärkten sich die völkerrechtlichen Züge des Deutschen Bundes. Es herrschte die Ansicht vor, der Bund als solcher sei zur Beschlußfassung über Fragen des Zivilrechts unzuständig. Normadressaten der Bundestagsbeschlüsse seien allein die Bundesländer. D a r u m könne der Bund keine zivilrechtlichen Gesetze erlassen, sondern nur Entwürfe ausarbeiten, die erst durch Legislativakte der Einzelstaaten im Einklang mit der jeweiligen Landesverfassung zur Geltung gelangten. Anfangs hielt man noch dafür, die einstimmige A n n a h m e eines Entwurfs durch den Bundestag verpflichte die Länder zur Einführung des Beschlossenen. Doch bald schon behielten sich die Länder bei zustimmendem Votum die Freiheit des Entscheids über die Einführung vor. Es dauerte nicht lange, bis die Vorstellung von der bindenden W i r k u n g einstimmiger Beschlüsse gänzlich schwand; die Bundesbeschlüsse gewannen den Charakter von Empfehlungen. So beschränkten sich die Aktivitäten des Bundes im Grunde auf vorbereitende Arbeiten im Interesse der Rechtseinheit und auf eine zwischen den Ländern vermittelnde Initiative. Nicht die Bundestätigkeit führte also unmittelbar zur Rechtsvereinheitlichung, sondern die parallelen Gesetzgebungsakte der Länder, ähnlich w i e in der heutigen Europäischen Union. Auf solche Weise ließ sich keine formelle, sondern lediglich eine materielle Rechtseinheit erreichen. Sie mußte unvollkommen bleiben, weil ein gemeinsames Obergericht fehlte, das die Einheitlichkeit forensischer Rechtsfortbildung hätte gewährleisten können. A u ß e r d e m ließ die Möglichkeit künftiger einzelstaatlicher Novellen die Rechtseinheit immer als eine bloß vorläufige erscheinen. Gleichwohl bedeutete die Arbeit des Bundes für die Rechts-
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VII. Die Epoche des Deutschen Bundes (1815-1866) einheit viel, weil sie die Fundamente legte und auch die D o g m a t i k in den Dienst nahm. Franz Laufke hat in seinen eindringlichen Studien über den Deutschen Bund und die Zivilgesetzgebung auf den Zusammenhang hingewiesen, der zwischen den politischen Ereignissen, den verfassungsrechtlichen Reformbestrebungen und den Aktionen des Bundes auf dem Gebiet der Gesetzgebung bestand. Die Anträge, die auf Rechtseinheit abzielten, häuften sich zweimal unmittelbar nach schweren Erschütterungen des Bundes: am Ende des Krimkrieges 1856 und nach dem oberitalienischen Waffengang Österreichs und seinem Konflikt mit Frankreich 1859. Die in diesen Krisenzeiten vermehrt eingebrachten Anträge kamen dann auch im Bunde gut voran. In ruhigen Zeiten verlief demgegenüber der Geschäftsgang schleppend. Allgemein litt die U n i f i z i e rungspolitik unter gelegentlichem Widerstand Preußens, das Bismarck in den Jahren 1851 bis 1859 als Gesandter am Frankfurter Bundestag vertrat. Die preußische Politik suchte Macht und Ansehen des Bundes herabzusetzen, sein österreichisches Präsidium zurückzudrängen und staatliche Organisationen außerhalb des Bundes unter der Vorherrschaft des nach der Hegemonie in Deutschland strebenden Hauses Hohenzollern aufzubauen. Osterreich trachtete den Bund als Garanten des M ä c h tegleichgewichts und als B o l l w e r k gegen die Revolution zu konsolidieren und sich selbst dem preußischen Rivalen gegenüber zu behaupten. Die Mittelstaaten, auch sie in mancher Konkurrenz u m den Vorrang untereinander, einte jedenfalls das Interesse am Fortbestand und an der Stärkung des Bundes, der ihre Existenz zwischen den Großmächten gewährleistete. D a r u m w i r k t e gerade bei ihnen die Einsicht, daß im Bund Neues geschehen müsse, u m ihn am Leben zu halten. Motionen mit dem Ziel deutscher Rechtseinheit kamen einem gängigen nationalen Wunsch entgegen und milderten die verbreitete Enttäuschung über die restaurativen Praktiken des Bundes und den Partikularismus vieler seiner Glieder. Vertrug sich eine partielle Rechtseinheit durchaus mit dem Landespatriotismus vieler Politiker, weil sie den Bund als Garanten der Einzelstaaten stärkte, so beflügelte sie ebenso das nationale Empfinden anderer, die in der Gemeinsamkeit des Rechts einen wichtigen Schritt auf dem Wege Deutschlands zur politischen Einheit sahen. Zu den herausragenden kodifikatorischen Leistungen des Bundes zählt das Allgemeine Deutsche Handelsgesetzbuch von 1861, die erste große gemeindeutsche Kodifikation des 19. Jahrhunderts. Das A D H G B bildete den H ö h e p u n k t in der glanzvollen Reihe der europäischen H a n delsrechtskodifikationen, weil es die Elemente vorausgegangener Gesetze und damit deutsches und romanisches Rechtsdenken miteinander verband. Zum Vorbild diente ihm der Entwurf aus Preußen, einem 242
3. Der Deutsche Bund und die Zivilgesetzgebung Land, in dem französisches, gemeines und preußisches Recht galt. Das Gesetzeswerk des Bundes stellte zugleich den Schlußstein einer kodifikatorischen Entwicklung dar: „Mit seiner Verabschiedung läßt sich eine deutlich sichtbare Zäsur zwischen den Handelsrechtskodifikationen des 19. Jahrhunders ziehen. Unmittelbar nach ihm beginnt die Zeit der Vereinheitlichung des bürgerlichen Rechts in den Staaten, die mit einem Handelsgesetzbuch den ersten Schritt der Rechtsvereinheitlichung in ihrem Gebiet vollzogen. Die Rechtsstoffe, die nur vorläufig in diese H a n delsgesetzbücher aufgenommen wurden, u m dem Handel die für ihn notwendigen Grundregeln des Schuld- und Sachenrechts zu geben, w a n derten in die bürgerlichen Gesetzbücher ab" (Peter Raisch). Die Kodifikatoren des Deutschen Bundes konnten bei ihrem Bemühen u m ein Handelsgesetzbuch bei älteren Vorarbeiten anknüpfen. Die Kammern Bayerns, Badens und Württembergs hatten sich mehrfach mit Anträgen auf Beratung eines deutschen Handelsgesetzes befaßt. Diese Motionen belebten sich im Zeichen des 1833 gegründeten Deutschen Zollvereins, der die lange ersehnte wirtschaftliche Einheit für einen großen Teil Deutschlands herstellte. Freilich ü b e r w o g auf der Dresdener Zollvereinskonferenz von 1838 noch immer die Ansicht, „daß zur Vereinbarung über eine das gesamte Handels- und Wechselrecht umfassende gemeinschaftliche Gesetzgebung k a u m zu gelangen sein werde". Inzwischen betrieben die Einzelstaaten selbständig eine Revision ihrer mannigfachen Handels- und Wechselgesetze. Dann nahm sich die Paulskirche der Rechtseinheit auch auf diesem Felde an. Der Reichsjustizminister Robert von M o h l berief eine Kommission, der bereits Professor Heinrich Thöl angehörte, ein glänzender Handelsrechtsdogmatiker, dem auch die späteren Nürnberger und H a m b u r g e r Konferenzen 1857 bis 1861 viel verdankten. Der unvollendete, samt seinen Motiven gedruckte Entwurf dieses Gremiums fiel mit dem Scheitern des Frankfurter Nationalparlaments. Von der öffentlichen Meinung getragen und gedeckt von der Zustimmung der einzelstaatlichen Regierungen, ließ der bayerische A u ß e n m i nister von der Pfordten 1856 beim Bundestag zu Frankfurt beantragen, man möge eine Kommission mit der Abfassung eines allgemeinen deutschen Handelsgesetzbuches betrauen. Auf Beschluß der Bundesversammlung begann eine von fast allen Mitgliedstaaten getragene Kommission im Januar 1857 mit ihren Konferenzen zu Nürnberg. Die Zahl der Mitarbeiter schwankte; während der ersten Lesung beteiligten sich bis zu siebenundzwanzig Köpfe, unter ihnen acht Kaufleute, an den Beratungen. M a n beschloß, den preußischen Entwurf zugrunde zu legen, der auch eine Vereinheitlichung des für den Handel erforderlichen Schuld- und Sachenrechts anstrebte. Dieser Entwurf von 1856/57, den 243
VII. Die Epoche des Deutschen Bundes (1815-1866) der Referent der Bundeskommission, Dr. Friedrich Wilhelm August Bischoff, als preußischer Geheimer Oberjustizrat und Redaktor wesentlich mitbestimmt hatte, nutzte als Quellen — wie es hieß — „neben dem reichen wissenschaftlichen Material der neueren Zeit die Gutachten, Erinnerungen und Anträge der Kaufmannschaften, sowie die in den Sammlungen der Deutschen Gerichtspraxis niedergelegten Entscheidungen der Deutschen Gerichtshöfe und die in auswärtigen Staaten eingeführten Handelsgesetzbücher" — unter diesen vor allem den französischen C o d e de commerce von 1807, ferner das holländische Handelsgesetzbuch von 1838 und den spanischen C ö d i g o de comercio aus dem Jahr 1829, außerdem den Frankfurter Entwurf von 1849 sowie je einen solchen aus Württemberg und Osterreich. Die Bundeskommission beriet in insgesamt drei Lesungen, wobei sie das See- und Versicherungsrecht in H a m b u r g behandelte. Im M ä r z 1861 fand die Kommissionsarbeit ihren Abschluß. Der abstrakte und technische Charakter ihrer verkehrsrechtlichen Materie hatte den Fortgang des Unternehmens begünstigt. N o c h im M a i 1861 hieß der Bundestag das Werk gut. Die meisten Länder beeilten sich, das A D H G B zu übernehmen und übereinstimmend bei sich in Kraft zu setzen. So gewann die Kodifikation als gemeindeutsches Landesrecht Wirksamkeit, ähnlich wie das heutige Wechsel- und Scheckrecht, dessen internationale Geltung auf der Ausführung völkerrechtlicher Verträge durch die Legislative der Staaten beruht. Seit 1869 galt das A D H G B , nunmehr einer einzigen Rechtsquelle entspringend, als Gesetz des Norddeutschen Bundes und seit 1871 als Reichsgesetz bis zur Ablösung durch das nun auf das B G B abgestimmte H G B am 1. Januar 1900. In Österreich stand das A D H G B bis 1939 in Kraft, in Teilen der z u m Deutschen Bunde gehörenden Nachfolgestaaten des Kaiserreiches noch länger bis z u m Jahre 1950. Wie die Wechselordnung w u r d e das A D H G B z u m Stammgesetz einer großen Rechtsfamilie. Die Entstehungsgeschichte der Allgemeinen Deutschen Wechselordnung gleicht derjenigen des Handelsgesetzbuchs. Bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts behinderten zahlreiche partikulare Wechselordnungen mit ihren Unterschieden den Handelsverkehr. Den Bedürfnissen der Wirtschaft ließ sich u m so eher Genüge tun, als es sich bei der Vereinheitlichung auch auf diesem Felde u m eine vorwiegend rechtstechnische, durch die Wissenschaft theoretisch bereits gut vorbereitete A u f g a b e handelte. A n einzelstaatlichen Entwürfen fehlte es nicht; unter ihnen zeichneten sich insbesondere die Arbeiten Bischoffs und Thöls aus. Preußen ergriff eine weiterführende Initiative, als es 1847 im N a m e n des Zollvereins alle deutschen Staaten zu einer Wechselrechtskonferenz einlud. N e u n u n d z w a n z i g Abgeordnete traten daraufhin in Leipzig zu244
3. Der Deutsche Bund und die Zivilgesetzgebung sammen und berieten auf der Grundlage des preußischen Projekts im Spätjahr 1847 eine allgemeine deutsche Wechselordnung. Dieses Werk machte sich das Paulskirchenparlament zu eigen: u m allen Schwierigkeiten der partikulären Publikation zu begegnen, ließ es den Leipziger Entwurf als Reichsgesetz verkünden. Mittermaier feierte den Erlaß des Reichswechselgesetzes als eine „tief eingreifende, Heil verkündende Erscheinung", als „das erste erfreuliche Zeichen des allgemeinen Strebens nach Rechtseinheit". Einzelne Länder hatten das neue Wechselrecht schon vor dem Beschluß des Frankfurter Parlaments eingeführt; fast alle anderen folgten. Später nahm sich der Deutsche Bund des Wechselrechts in positivem Sinne an. Da Unterschiede und Kontroversen bei der praktischen H a n d habung der Wechselordnung die gewonnene Rechtseinheit alsbald w i e der gefährdeten, auch landesgesetzliche Novellen sie bedrohten, betätigte sich der Bundestag. Er übertrug 1857 die A u f g a b e der Harmonisierung der mit dem H G B befaßten Nürnberger Kommission, die dafür einen Unterausschuß mit Bischoff und Thöl bildete. Die Vorschläge der Nürnberger Konferenz fanden die Billigung des Bundestages und dann auch der meisten Länder, die sich grundsätzlich z u m Beitritt — freilich unter mancherlei Reserven und Modifikationen — bereitfanden. Die H G B - K o m m i s s i o n nahm zu den Vorbehalten nochmals Stellung, bis am Ende auf Betreiben des Bundestags-Wechselrechtsausschusses die Regierungen für die A n n a h m e der Nürnberger Novelle gewonnen waren. Im Jahre 1862 zeigten die meisten Länder an, daß die Novelle bei ihnen eingeführt sei. N o c h eine weitere kodifikatorische Leistung des Deutschen Bundes verdient besondere Notiz: Der Entwurf des allgemeinen deutschen Gesetzes über Schuldverhältnisse, den namhafte, von Osterreich, Bayern, Sachsen, Hannover, Württemberg, Hessen-Darmstadt, MecklenburgSchwerin, Nassau, Meiningen und Frankfurt abgeordnete Juristen in Dresden 1866 der Öffentlichkeit vorlegten. Wenngleich Krisis und Ende des Bundes das Inkrafttreten dieses Gesetzesvorschlages vereitelten, w i r k t e er nachhaltig weiter als bedeutendes dogmatisches, freilich in manchem auch doktrinäres Werk. Das Unternehmen, langwierig und immer wieder angefochten, stand unter den wenig günstigen Vorzeichen längst zerbrochener Bundeseinheit, u m sich am Ende doch als „Dresdner Entwurf" zu präsentieren. Die Bundesversammlung beriet drei Jahre lang, von 1859 bis 1862, ehe sie die Dresdner Kommission berief. Weitere dreieinhalb Jahre, von 1863 bis 1866, dauerten die Verhandlungen, die schließlich nach 324 Sitzungen den Entwurf hervorbrachten. Ihre Hauptlast trug als Referent Eduard Siebenhaar, der Schöpfer des Sächsischen BGB. 245
VII. Die Epoche des Deutschen Bundes (1815-1866) Die Grundmotive der Arbeit hatte der liechtensteinische Gesandte Dr. von Linde 1861 gültig umrissen: Neben dem Handels- und Wechselrecht trage auch das Recht des nichtkommerziellen Teiles des Privatverkehrs nahezu universellen Charakter. Es sei in ganz Deutschland w e n n nicht formell, so doch materiell im wesentlichen einheitlich, weil das römische Obligationensystem nicht nur in den Ländern des gemeinen Rechts herrsche, sondern auch darüber hinaus die Grundlage der Gesetzgebung bilde. Die volle Rechtseinheit lasse sich darum leicht herstellen, zumal mehrere gediegene Gesetzentwürfe, w i e etwa die für Sachsen, Hessen und Bayern, vorlägen. Geboten erscheine ein allgemein geltendes Schuldrecht, weil sich nur auf der Basis eines solchen die Einheit des Handels- und Wechselrechts voll erreichen lasse. Im Bereich des Sachenrechts hingegen verböten starke Unterschiede die Vereinheitlichung. Sie sei auch im Familien- und Erbrecht verfehlt, auf Gebieten also, die Formenfülle und Mannigfaltigkeit zeigten. Jede Unifizierung w i r k e hier als Eingriff in Sitte und Gewohnheit. Ihre Bausteine bezog die Dresdner Kommission größtenteils von der Pandektistik. „Hier offenbart sich, echtes 19. Jahrhundert, die außerordentliche Macht des römisch-gemeinen Rechts" (Justus Wilhelm Hedemann). Zwar bestimmte Artikel 1 des Entwurfs: „Für die unter das gegenwärtige Gesetz fallenden Rechtsverhältnisse hat das gemeine Recht keine Gesetzeskraft." Doch w a r dieser Satz nur in die Zukunft hineingeschrieben. In der damaligen Gegenwart der Arbeitsjahre 1863 bis 1866 dominierte das römische Recht — vielfach auf dem U m w e g über die partikulären Gesetze und Entwürfe, die Siebenhaar und seine MitCommissare außer dem Corpus iuris und den Monographien heranzogen. Eine Uberfülle an Material, das die Kommission mit äußerster Genauigkeit durchmusterte! Die Mitglieder, überwiegend hochqualifizierte Justizjuristen, traten bescheiden hinter ihrem Werk zurück. Die Politik schlug ihre Wellen in die stille Arbeit der Kommission nur dann hinein, w e n n das Landesrecht gegenüber der Einheitstendenz sich zu behaupten suchte. Denn die Beteiligten fühlten sich durchaus auch als im Dienst ihrer heimischen Regierungen stehend, und so verlängerte sich die Liste der landesrechtlichen Vorbehalte. A u c h insofern glich die Arbeit derjenigen am BGB, als ihren Trägern Appelle an das Nationalgefühl oder volkstümlich-erzieherische A u f r u f e fernlagen. U m so deutlicher erscheint als Gegenstück zu dieser Reserviertheit in politischen und weltanschaulichen Fragen die spezifisch juristische Leistung der Dresdner Kommission: Ihre Arbeit trägt jene Züge, die in den folgenden Jahrzehnten die deutsche Gesetzgebung immer schärfer und beherrschender ausprägten: Gelehrsamkeit, Logik, Abstraktion, Systematik. H e d e m a n n hat das Dresdner Werk streng, doch wohl zutreffend beurteilt: „Es ist 246
3. Der Deutsche Bund und die Zivilgesetzgebung gepflegt, geschult, verstandesmäßig zugeschliffen und deshalb nicht ohne Wert. A b e r : E s fehlt alles Schöpferische, — Genauigkeit, doch kein Instinkt." D e r Dresdner E n t w u r f , der 1045 Artikel umfaßte und dabei Materien kodifizierte, die das B G B später in seinem Allgemeinen Teil unterbrachte, fand — nachdem der mühselige D r u c k bewerkstelligt war — ein minimales literarisches E c h o . D i e politischen Ereignisse, der Bruderkrieg zwischen Preußen und Osterreich, die Anfänge des zweiten K a i serreiches, überdeckten die Publikation. Sie blieb zunächst — auch von den Professoren — gänzlich unbeachtet, u m dann überraschend ein Wiedererwachen zu erleben. D e r D r e s d n e r E n t w u r f beeinflußte das Schweizer Obligationenrecht von 1881, ferner das Schuldrecht des B G B und — verblüffenderweise — über die B r ü c k e der großen deutschen Kodifikation v o n 1896 das Bürgerliche G e s e t z b u c h des Chinesischen Reiches von 1 9 2 9 / 3 1 . U n m i t t e l b a r wirkten die Inititativen des D e u t s c h e n Bundes für ein einheitliches Urheberrecht. D i e bis z u m J a h r e 1815 von den einzelnen deutschen Staaten erlassenen Vorschriften z u m Schutz des geistigen E i gentums hatten das N a c h d r u c k g e w e r b e nicht entscheidend getroffen. So verlangten die gewählten Deputierten des deutschen Buchhandels in einer Eingabe an den Wiener K o n g r e ß , „daß allen bisherigen sophistischen Discussionen und Verdrehungen über das literarische E i g e n t u m durch feste gesetzliche Bestimmungen ein E n d e gemacht w e r d e " . Ferner überreichten sie eine von August von K o t z e b u e verfaßte „ D e n k schrift über den Büchernachdruck, zugleich Bittschrift u m B e w ü r k u n g eines teutschen Reichsgesetzes gegen denselben". D i e D e u t s c h e Bundesakte trug den offenkundigen Bedürfnissen zunächst mit dem P r o grammsatz des Artikels 18 d Rechnung: „Die Bundesversammlung wird sich bei ihrer ersten Zusammenkunft mit Abfassung gleichförmiger Verfügungen über die Preßfreiheit und die Sicherstellung der R e c h t e der Schriftsteller und Verleger gegen den N a c h d r u c k beschäftigen." M o c h t e das J u n k t i m mit der Pressefreiheit die Einheit des Urheberrechts n o c h erschweren, so erwiesen sich damit doch die R e c h t e der Schriftsteller und Verleger jedenfalls als grundsätzlich anerkannt. I m J a h r e 1819 legte die N a c h d r u c k k o m m i s s i o n der Bundesversammlung den E n t w u r f eines Gesetzes z u m Schutz des literarischen Eigentums vor, der — beeinflußt durch die Verleger Friedrich Perthes und Friedrich A r n o l d Brockhaus — dem Prinzip eines befristeten Nachdruckschutzes folgte. D o c h die Sache geriet beim B u n d ins Stocken, weil insbesondere Metternich befürchtete, mit dem Erlaß eines einheitlichen Nachdruckverbotes werde der Buchhandelsverkehr in Deutschland erheblich zunehmen und damit auch die ungehinderte Verbreitung freiheitlicher Ideen. N a c h d e m die 247
VII. Die Epoche des Deutschen Bundes (1815-1866) Karlsbader Beschlüsse v o m Herbst 1819 für ganz Deutschland die Präventivzensur eingeführt hatten, ließ Metternich vielmehr einen Plan ausarbeiten, der die Zensur mit dem Nachdruckschutz verband und eine Organisation des Buchhandels unter staatlicher Aufsicht vorsah: „Weil aber Präventiv-Beschränkungen der Presse notwendig sind, so ist auch andererseits die beschränkende Behörde z u m Schutz des unter ihrer R e cognition entstehenden literarischen Privat-Eigentums gegen den N a c h druck verpflichtet." Doch dieses rigorose Vorhaben scheiterte, und damit k a m das Bemühen u m ein einheitliches Urheberrecht bis 1829 z u m Stillstand. N a c h einigen weniger bedeutenden Zwischenlösungen und dem Scheitern der Idee, den Nachdruckschutz mit der Organisation von A n bietern, der Buchhändler und Verleger, zu verbinden, beschloß der Bundestag auf Betreiben Preußens am 9. November 1837 eine Regelung, die sich in den Ländern durchsetzte: „Art. 1. Literarische Erzeugnisse aller Art, sowie Werke der Kunst, sie mögen bereits veröffentlicht seyn oder nicht, dürfen ohne Einwilligung des Urhebers, sowie Desjenigen, welchem derselbe seine Rechte an dem Original übertragen hat, auf mechanischem Wege nicht vervielfältigt werden. Art. 2. Das im Art. 1 bezeichnete Recht des Urhebers oder dessen, der das Eigentum des literarischen oder artistischen Werkes erworben hat, geht auf dessen Erben und Rechtsnachfolger über, und soll, insofern auf dem Werke der Herausgeber oder Verleger genannt ist, in sämtlichen Bundesstaaten mindestens w ä h r e n d eines Zeitraumes von zehn Jahren anerkannt und geschützt werden." Viele Länder sahen eine Schutzfrist von dreißig Jahren vor. N a c h preußischem Vorbild beschloß der Bundestag dann am 22. April 1841, dem A u t o r und seinem Rechtsnachfolger Schutz gegen die öffentliche A u f f ü h r u n g eines noch nicht im Druck veröffentlichten dramatischen oder musikalischen Werkes auf die Dauer von zehn Jahren seit der ersten rechtmäßigen Darbietung zu gewähren. A m 19. J u n i 1845 endlich verfügte die Bundesversammlung eine generelle Verlängerung der 1837 eingeführten Schutzfrist von zehn auf dreißig Jahre. Soweit noch erforderlich, führten die einzelnen Länder diesen Beschluß in den folgenden Jahren aus. Damit besaß Deutschland, nach mancherlei A n läufen im Deutschen Bund und dessen gelegentlichen Rückfällen in die alte Privilegienpraxis, ein jedenfalls in den Grundsätzen gleiches allgemeines Recht z u m Schutz der Urheberschaft an Schriftwerken — das erste allgemeine Recht in Deutschland auf dem Gebiet des Privatrechts. Ein durch die territoriale Zersplitterung bedingter Rückstand Deutschlands beim Urheberrechtsschutz im Vergleich zu England und Frankreich nahm damit sein Ende. Während Preußen sich später der Dresdner Kommission versagte und es auch sonst an Vorbehalten nicht fehlen 248
1. Vorspiele: Die Göttinger Sieben. Das Hambacher Fest ließ, beförderte es die Einheit des Urheberrechts wesentlich, insbesondere durch sein vorbildliches Gesetz von 1837. Das vom Deutschen Bund geschaffene positive Recht, vereinheitlicht und weitergebildet durch die Reichsgesetze von 1870, 1876, 1901 und 1907, bot die Grundlage für die im letzten Jahrhundert entfaltete Lehre vom Urheberrecht. N o c h weitere Unternehmen des Deutschen Bundes mit dem Ziel der Rechtseinheit ließen sich anführen, etwa auf den Gebieten der Rechtshilfe, der M a ß - und Gewichtsordnung, des Zivilprozesses und des Patentrechts. A u c h w o diese Initiativen steckenblieben, w o g e n ihr N u t z e n für die spätere Gesetzgebung und ihr dogmatischer Ertrag nicht gering.
VIII. Achtzehnhundertachtundvierzig 1. Vorspiele: Die Göttinger
Sieben. Das Hambacher
Fest
ALBRECHT, Wilhelm Eduard: Rezension über Maurenbrechers Grundsätze des heutigen deutschen Staatsrechts, in: Göttingische gelehrte Anzeigen 1837, 1489-1504, 1508-1515 = Wiss. Buchges. Libelli Bd. LXVIII, 1962; ALBRECHT, Wilhelm Eduard: Die Protestation und Entlassung der sieben Göttinger Professoren, hg. v. Friedrich Christoph DAHLMANN, 1838; BAUMANN, Kurt (Hg.): Das Hambacher Fest, 27. Mai 1832. Männer und Ideen, 2 1982; BESELER, Georg: Zur Beurtheilung der sieben Göttinger Professoren und ihrer Sache, 1838; BORGGRÄFE, Karin: Philipp Jacob Siebenpfeiffer's Besoldungsanspruch nach seiner Entlassung aus dem Staatsdienst, 1994; BORSDORFF, Anke: Wilhelm Eduard Albrecht. Lehrer und Verfechter des Rechts. Leben und Werk, 1993; BUSSMANN, Walter: Zur Geschichte des deutschen Liberalismus im 19. Jahrhundert, in: HZ 186, 1958, 527-557 = Wiss. Buchges. Libelli Bd. CCXCVI, 2 1969; CHRISTERN, Hermann: Friedrich Christoph Dahlmanns politische Entwicklung bis 1848, in: Zeitschrift d. Gesellschaft f. Schleswig-Holstein. Gesch. 50, 1921, 147-392; DAHLMANN, Friedrich Christoph: Zur Verständigung, 1838; DEDNER, Burghard (Hg.): Das Wartburgfest und die oppositionelle Bewegung in Hessen, 1994; DEUCHERT, Norbert: Vom Hambacher Fest zur badischen Revolution. Politische Presse und Anfänge deutscher Demokratie 1832-1848/ 49, 1983; DILCHER, Gerhard: Der Hannoversche Verfassungskonflikt von 1837, in: D e r rechtsgeschichtliche
Grundlagenschein,
1 9 7 9 , 1 7 - 4 4 ; DLLCHER,
Gerhard: Der Protest der Göttinger Sieben. Zur Rolle von Recht und Ethik, Politik und Geschichte im Hannoverschen Verfassungskonflikt, 1988; EBEL, Wilhelm: Jacob Grimm und die deutsche Rechtswissenschaft, 1963; EHMKE, Horst: Karl von Rotteck, der politische Professor, 1964; FEHRENBACH, Elisabeth: Verfassungsstaat und Nationsbildung 1815-1871, 1992; FELDMANN, Roland: Jacob Grimm und die Politik, o.J.; FOERSTER, Cornelia: Der Preß- und 249
VIII. Achtzehnhundertachtundvierzig Vaterlandsverein von 1832/33, 1982; FRIESENHAHN, Ernst: Der politische Eid, 1928 (Nachdr. 1979); GALLO, Theophil: Die Verhandlungen des außerordentlichen Assisengerichts zu Landau in der Pfalz im Jahre 1833, 1996; GERKENS, Gerhard u. RÖHRBEIN, Waldemar R.: König Ernst August von Hannover, das Grandgesetz, der Staatsstreich und die Göttinger Sieben, in: Göttinger Jahrb. 11, 1963, 187-214; GIESSELMANN, Werner: „Die Manie der Revolte". Protest unter der Französischen Julimonarchie (1830-1848), 2 Bde., 1993; GLASER, Hermann (Hg.): Soviel Anfang war nie. Deutscher Geist im 19. Jahrhundert. Ein Lesebuch, 1981; Die Göttinger Sieben. Ansprachen und Reden anläßlich der 150. Wiederkehr der Protestation, 1988 = Göttinger Universitätsreden 85; GREWENIG, Meinrad M. (Hg.): Das Hambacher Schloß. Ein Fest für die Freiheit, o.J. (2005); GRIMM, Jacob: Jacob Grimm über seine Entlassung, 1838 (Neudr. 1985 = Göttinger Universitätsreden 74); Hambach 1832. Anstöße und Folgen, 1984; Das Hambacher Fest. Freiheit und Einheit, Deutschland und Europa. 1832-1982, 1982 = Katalog zur Ausstellung des Landes RheinlandPfalz; HASSELL, W. von: Geschichte des Königreichs Hannover. Unter Benutzung bisher unbekannter Aktenstücke I: Von 1813 bis 1848, 1898; HEIMPEL, Hermann: Zwei Historiker. Friedrich Christoph Dahlmann, Jacob Burckhardt, 1962 = Kl. Vandenhoeck-Reihe 141; HERBART, Johann Friedrich: Erinnerung an die Göttingische Katastrophe im Jahr 1837, 1838, in: Sämtliche Werke, hg. V. G. HARTENSTEIN, 12, 1852, 317-338; HUBER, Ernst Rudolf (Hg.): Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. 1: Deutsche Verfassungsdokumente 1803-1850, 3 1978, 290-322; HUBER, Ernst Rudolf: Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. 2: Der Kampf um Einheit und Freiheit 1830 bis 1850, 3 1988, 91-106; KERN, Bernd-Rüdiger: Die Heidelberger Burschenschaft und das Hambacher Fest, in: Heidelberger Jahrb. 27, 1983, 19-38; KUCK, Hans: Die „Göttinger Sieben". Ihre Protestation und ihre Entlassung im Jahre 1837, 1934; LAUFS, Adolf: Für Freiheit und Einheit: Das Nationalfest der Deutschen zu Hambach 1832, in: JuS 1982, 325-330; LINK, Christoph: Noch einmal: Der Hannoversche Verfassungskonflikt und die „Göttinger Sieben", in: JuS 1979, 191-197; MEINECKE, Friedrich: Drei Generationen deutscher Gelehrtenpolitik, in: HZ 125, 1922, 248-283; MORG, Konrad: Das Echo des hannoverschen Verfassungsstreites 1837-40 in Bayern, iur. Diss. Erlangen, 1930; MÜLLER-DLETZ, Heinz: Das Leben des Rechtslehrers und Politikers Karl Theodor Welcker, 1968; OGRIS, Werner: Jacob Grimm. Ein politisches Gelehrtenleben, 1990; REAL, Willy: Der Hannoversche Verfassungskonflikt vom Jahre 1837 und das deutsche Bundesrecht, in: Hist. Jahrb. 83, 1964, 135-161; REAL, Willy (Hg.): Der hannoversche Verfassungskonflikt von 1837/1839, 1972 = Hist. Texte/Neuzeit, Bd. 12; REAL, Willy: Geschichtliche Voraussetzungen und erste Phasen des politischen Professorentums, in: Darst. u. Quellen z. Gesch. d. deutschen Einheitsbewegung im 19. u. 20. Jahrh., hg. v. Christian PROBST, Bd. 9, 1974, 7-95; SCHIEDER, Wolfgang (Hg.): Liberalismus in der Gesellschaft des deutschen Vormärz, 1983; SCHIRMER, Hans: Das deutsche Nationalbewußtsein bei Friedrich Christoph Dahlmann, in: Zeitschrift d. Gesellschaft f. Schleswig-Holstein. Gesch. 65, 1937, 1-110; SCHÖTTLE, Rainer: Politische Theorien des süddeutschen Liberalismus im Vormärz. Studien zu Rotteck, Welcker, Pfizer, Murhard, 1994; SCHUMACHER, Georg Friedrich: Die
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1. Vorspiele: Die Göttinger Sieben. Das Hambacher Fest sieben Göttinger Professoren nach ihrem Leben und Wirken, 1838; SMEND, Rudolf: Die Göttinger Sieben. Rede zur Immatrikulationsfeier der Georgia Augusta zu Göttingen am 24. Mai 1950, in: Staatsrechtl. Abhandlungen und andere Aufsätze, 3 1994, 391-410; THIMME, Friedrich: Zur Geschichte der „Göttinger Sieben", in: Zeitschrift d. Hist. Ver. f. Niedersachsen 1899, 266293; VALENTIN, Veit: Das Hambacher Nationalfest, 1932 (Neudr. 1978); VON SEE, Klaus: Die Göttinger Sieben, 1997 = Beiträge zur Neueren Literaturgeschichte, 3. Folge, Bd. 155; WADLE, Elmar: Philipp Jakob Siebenpfeiffer (1789-1845). Ein Streiter für Freiheit, Recht und Vaterland, in: JuS 1989, 262267; WADLE, Elmar (Hg.): Philipp Jakob Siebenpfeiffer und seine Zeit im Blickfeld der Rechtsgeschichte, 1991; WAGNER, Jonathan F.: Germany's 19th Century Cassandra. The Liberal Federalist Georg Gottfried Gervinus, 1995; WILLIS, Geoffrey Maiden: Ernst August, König von Hannover, 1961; WLRTH, Johann Georg August: Das Nationalfest der Deutschen zu Hambach. Unter Mitwirkung eines Redaktions-Ausschusses beschrieben, 2 Hefte, 1832; ZLEKOW, Jan: Recht und Unrecht im Verfassungskonflikt zu Hannover, in: Jura 1988, 243-246.
Protest und Widerstand der sieben Göttinger Professoren Albrecht, Dahlmann, Gervinus, Jacob und Wilhelm Grimm, Ewald und Weber im hannoverschen Verfassungskonflikt 1837 bildeten einen H ö h e p u n k t des deutschen „Vormärz", das heißt der Epoche zwischen 1815 und 1848 mit ihrem Widerspiel von progressiver Bewegung und restaurativer Beharrung. Die Auflehnung hervorragender Gelehrter und anerkannter Repräsentanten des politischen Zeitgeistes, die ein gutes Dezennium später in ihrer Mehrzahl der Frankfurter Nationalversammlung angehörten, erregte die deutsche Öffentlichkeit nachhaltig und belebte den Konstitutionalismus stark. Die Göttinger Sieben zeigten sich weniger von den Ideen des Jahres 1789 als von den Vorstellungen des englischen Verfassungsstaats bestimmt. „Frei von den Fesseln der südwestdeutschen Kleinstaaterei waren sie unmittelbar dem nationalen Ganzen zugewandt. Indem sie die nationale Macht auf die Unverbrüchlichkeit des Rechts zu gründen suchten, entwickelten sie die Grundlagen der großen Bewegung des nationalstaatlichen Liberalismus, der das stärkste Element in der Verfassungsbewegung von 1848 werden sollte" (Ernst Rudolf Huber). Im Königreich Hannover galt seit 1833 die von Wilhelm IV. in Kraft gesetzte Verfassung, ein konservativ-liberaler Kompromiß zwischen Regierung und Ständen mit den M e r k m a l e n des konstitutionellen Systems, das die Ordnung von 1819 ablöste. D e m R e f o r m w e r k von 1833 w a r e n einige Unruhen, ein von den Privatdozenten Ahrens, von Rauschenplatt, Schuster, von radikalen Studenten und Bürgern angefachter A u f ruhr in Göttingen 1831 sowie liberale Motionen vorausgegangen. Es 251
VIII. Achtzehnhundertachtundvierzig kannte zwei Kammern: Die Erste blieb eine Adelsvertretung, in der Zweiten saßen Prälaten, städtische und bäuerliche Abgeordnete. D e m Landtag stand die Gesetzgebungs-, Steuer- und Budgetgewalt zu, freilich begrenzt durch königliche Vorrechte. Der König behielt die Kompetenz, seine Minister frei zu ernennen und zu entlassen. Immerhin w a ren die Minister dem Landtag politisch verantwortlich, ohne daß es freilich ein parlamentarisches Mißtrauensvotum gegeben hätte. Das Jahr 1837 brachte die Krise durch einen Thronwechsel, der zugleich die seit 1714 bestehende Personalunion zwischen England und Hannover auflöste. M i t dem Tod König Wilhelms IV. kamen in Großbritannien seine Nichte Viktoria (1819-1901), in Hannover sein Bruder Ernst August, Herzog von Cumberland (1771-1851) zur Herrschaft: In England gilt die weibliche Erbfolge, w e n n beim Tod des Monarchen kein erbberechtigter Sohn lebt; Hannover dagegen folgte dem salischen Recht, welches die weibliche Erbfolge erst eintreten läßt, w e n n alle A g naten des Herrscherhauses weggefallen sind. Der neue Regent in H a n nover, Ernst August, hatte bereits als Thronfolger gegen das Staatsgrundgesetz von 1833 protestiert und sich alle Rechte vorbehalten. Er sah in der neuen Verfassung eine Preisgabe herrscherlicher Rechte, die König Wilhelm IV. nicht ohne seine, des Thronerben, Zustimmung habe zulassen können. Seine Argumentation folgte längst überlebten feudalrechtlichen Gesichtspunkten: ohne Zustimmung der Agnaten sei der Erlaß einer Verfassung, welche eine Verminderung der Hoheits- und Regierungsrechte des Monarchen bedeute, unzulässig und nichtig. Der Thronfolger dürfe zu Unrecht veräußerte Kompetenzen wieder an sich ziehen. Eben darauf zielten bereits die ersten Regierungsmaßnahmen König Ernst Augusts. Zuerst vertagte er im Einvernehmen mit dem Haupt der Adelspartei, dem Freiherrn Georg von Scheie, den Landtag, der zusammengetreten war, u m das grundgesetzlich vorgeschriebene Verfassungsgelöbnis des neuen Landesherrn entgegenzunehmen. Die Vertagung des Landtags bedeutete die Verweigerung des die königliche Pflicht bekräftigenden Verfassungseides und damit den Beginn des Staatsstreichs durch den Monarchen. Der alsbald z u m leitenden Kabinettsminister berufene Scheie unterstützte seinen Herrn bei dessen nun folgenden M a ß n a h m e n gegen das Staatsgrundgesetz. Das Patent z u m Regierungsantritt v o m 5. Juli 1837 erklärte, die Konstitution sei für den König weder in formeller noch in materieller Hinsicht bindend. „Es ist vielmehr Unser Königlicher Wille, der Frage, ob und in wie fern eine Abänderung oder Modification des Staats-Grundgesetzes werde eintreten müssen, oder ob die Verfassung auf diejenige, die bis zur Erlassung des Staats-Grundgesetzes bestanden, zurück zu führen sey, die sorgfältigste Erwägung w i d 252
1. Vorspiele: Die Göttinger Sieben. Das Hambacher Fest men zu lassen, worauf W i r die allgemeinen Stände berufen werden, u m ihnen Unsere Königliche Entschließung zu eröffnen." Diese zweideutige Absage entfachte einen Sturm der Empörung im Königreich H a n nover, in Deutschland und in halb Europa. Mehrere überzeugende Gutachten bestätigten die Rechtsgültigkeit der Konstitution von 1833 und widerlegten das dem monarchischen Prinzip keineswegs entsprechende Argument, die Verfassung sei mangels der erforderlichen Zustimmung der Agnaten u n w i r k s a m geblieben. Allein der Staatsrechtslehrer und Pütter-Schüler Justus Christoph Leist verfocht die Position des Königs, wobei er auch auf die fehlende Zustimmung der Stände zu einigen Verfassungssätzen abhob, die Wilhelm IV. nach Abschluß der Verhandlungen mit seinen ständischen Kontrahenten einseitig und eigenmächtig in die Konstitution eingefügt habe. N u r von Leist juristisch durchaus dürftig gedeckt, wagte Ernst A u gust den Staatsstreich. A m 30. Oktober 1837 löste er den vertagten Landtag auf. Mit Patent v o m 1. November erklärte er die Verfassung für von Anfang an ungültig: „Das Staats-Grundgesetz vom 26. September 1833 können W i r als ein U n s verbindendes Gesetz nicht betrachten, da es auf eine völlig ungültige Weise errichtet w o r d e n ist." „Von dem Aufhören des gedachten Staats-Grundgesetzes ist eine natürliche Folge, daß die, bis zu dessen Verkündigung gegoltene, Landes- und landständische Verfassung wieder in Wirksamkeit trete." Der Grundsatz der vertragsmäßigen Errichtung sei, so verlautbarte das Patent, auf mehrfache Weise verletzt worden: „Denn, mehrere der von der allgemeinen Stände-Versammlung in Beziehung auf das neue Staats-Grundgesetz gemachten Anträge erhielten nicht die Genehmigung der Königlichen Regierung, sondern es w u r d e dasselbe mit den, von dieser für nothwendig oder nützlich gehaltenen Abänderungen am 26. September 1833 v o m Könige verkündet, ohne daß diese zuvor den allgemeinen Ständen mitgetheilt und von ihnen wären genehmigt worden." Doch diese Leistsche Karte stach nicht. Denn offensichtlich hatten die Kammern die königlichen Modifikationen durch stillschweigende Hinnahme sanktioniert; die frühkonstitutionelle Doktrin sah durch stillschweigenden Konsens die Vertragsform gewahrt. Aus der Aufhebung des Staatsgrundgesetzes folgte das Erlöschen des von den hannoverschen Beamten geleisteten Verfassungseides: „Ist nun das bisherige Staats-Grundgesetz von U n s für aufgehoben erklärt, so ergiebt sich daraus von selbst, daß die sämmtlichen Königlichen Diener, von welchen W i r übrigens die pünctlichste Befolgung Unserer Befehle mit völliger Zuversicht erwarten, ihrer, auf das Staats-Grundgesetz ausgedehnten, eidlichen Verpflichtung vollkommen enthoben sind. Gleichw o h l erklären W i r noch ausdrücklich, daß W i r dieselben von diesem 253
VIII. Achtzehnhundertachtundvierzig Theile ihres geleisteten Diensteides hiemit entbunden haben wollen." Die Entbindungsklausel des letzten Satzes w a r freilich in jedem Fall verfehlt. Denn hatte das Patent die Verfassung w i r k s a m außer Kraft gesetzt, dann waren damit auch die Beamteneide von selbst gegenstandslos geworden und weggefallen; hatte aber das Patent die Konstitution von 1833 nicht aufheben können, dann vermochte es auch nichts gegen die Verfassungseide. Immerhin rief das Patent, indem es die Eidesfrage besonders herausstellte, jeden Beamten zur Gewissensentscheidung auf. Die staatsrechtliche und politische Funktion des Verfassungseides trat in der hannoverschen Staatskrise deutlich hervor. Der „typische dreiteilige Beamteneid der konstitutionellen Monarchie" (Ernst Friesenhahn) enthielt als historisch ältestes Element den auf die Person des Landesherrn abgestellten Treueid, zu dem sich der Amtseid, das Versprechen treuer Pflichterfüllung, gesellte; als besonders wichtige Dienstpflicht schließlich erscheint im konstitutionellen Staat die Beobachtung der Verfassung. „Alle Civil-Staatsdiener", postulierte § 161 der hannoverschen Verfassung von 1833, „sind durch ihren auf die getreuliche Beobachtung des Staatsgrundgesetzes auszudehnenden Diensteid verpflichtet, bei allen von ihnen ausgehenden Verfügungen dahin zu sehen, daß sie keine Verletzung der Verfassung enthalten." Der konstitutionelle Verfassungseid w a r zuerst Legalitäts-, dann aber auch Widerstandseid: Er verpflichtete den Beamten zur Befolgung der Verfassung sowie der verfassungsmäßigen Gesetze und dazu, umstürzlerischen Angriffen, Revolutionen und Staatsstreichen, zu widerstehen. Beim konstitutionellen mehrgliedrigen Diensteid fand der Gehorsam des Beamten gegenüber dem Staatsoberhaupt seine Grenze an der Pflicht zur Verfassungstreue. Er unterlag im Unterschied z u m reinen Fidelitätseid auch nicht der Disposition des konstitutionellen Monarchen. M i t ihrem Protest-Schreiben vom 18. November 1837 an das Universitäts-Kuratorium wagten die Göttinger Sieben den Widerstand zur Verteidigung des Staatsgrundgesetzes. Es w a r e n glänzende Namen, die unter dieser mutigen und entschlossenen Adresse standen. Der Staatsrechtslehrer Wilhelm Eduard Albrecht, ein Schüler des Rechtshistorikers Karl Friedrich Eichhorn, lehrte seit 1829 in Göttingen. Er hatte soeben in seiner berühmt werdenden Rezension über R o m a n Maurenbrechers „Grundsätze des heutigen deutschen Staatsrechts" den Staat als juristische Person beschrieben und damit dem Konstitutionalismus eine wirksame wissenschaftliche Stütze geboten. Im Frankfurter Reichsparlament zählte Albrecht nachmals z u m rechten Zentrum der liberalen Mitte, zur „Kasinopartei", w i e sein Mitstreiter, der im damals schwedischen Wismar geborene Friedrich Christoph Dahlmann. Dieser Vorkämpfer des liberalen Konstitutionalismus w i r k t e zuerst als Professor 254
1. Vorspiele: Die Göttinger Sieben. Das Hambacher Fest der Geschichte in Kiel, dann der Staatswissenschaften zu Göttingen. Hier hatte er sich während des Aufstands 1831 gegen den Satz der Radikalen gewandt, daß der Zweck die Mittel heilige: „Auflehnung gegen alles, was unter Menschen hochgehalten und w ü r d i g ist, Hintansetzung aller beschworenen Treue, das sind keine bewundernswerten Taten. Der guten Zwecke rühmt sich jedermann, darum soll man die Menschen nicht nach ihren gepriesenen guten Zwecken, man soll sie nach ihren Mitteln beurteilen. Einen Liberalismus von unbedingtem Wert, das heißt: einerlei durch welche Mittel er sich verwirklicht, kenne ich nicht." A u c h der selbständige und eigenwillige Georg Gottfried Gervinus, der Begründer der neueren deutschen Literaturgeschichte, gehörte zur späteren „Kasinopartei". Gervinus hat hauptsächlich in Heidelberg gewirkt: als Professor und Herausgeber der „Deutschen Zeitung". Von den Brüdern Jacob und Wilhelm Grimm, den Schülern Savignys und gefeierten Germanisten, hat bereits der Bericht über die historische Rechtsschule gehandelt. Als Mitglied der Nationalversammlung rechnete sich Jacob G r i m m gleichfalls zur „Kasinopartei". Heinrich Ewald w i r k t e nach seinem Göttinger Protest als Professor der Philosophie und Theologie in Tübingen, bis er 1848 auf seinen alten Lehrstuhl zurückkehrte. N a c h der Annexion Hannovers durch Preußen verweigerte Ewald den Huldigungseid auf den neuen Landesherrn, w a s ihn w i e derum das A m t kostete. Von 1869-1875 w i r k t e dieser aufrechte und oft allein stehende M a n n als Mitglied des Reichstages. Die Orientalistik verehrt in ihm einen bedeutenden Vertreter ihres Faches. Wilhelm Weber endlich lehrte als Professor der Physik in Göttingen. Die Eingabe der Sieben an die in Hannover bestehende leitende Kollegialbehörde für Universitätssachen trug den Charakter einer Eides- und Pflichtverwahrung, ferner den einer Verrufserklärung gegenüber dem zu wählenden Ständekonvent: „Wenn daher die unterthänigst Unterzeichneten sich nach ernster Erwägung der Wichtigkeit des Falles nicht anders überzeugen können, als daß das Staatsgrundgesetz seiner Errichtung und seinem Inhalte nach gültig sei, so können sie auch, ohne ihr Gewissen zu verletzen, es nicht stillschweigend geschehen lassen, daß dasselbe ohne weitere Untersuchung und Vertheidigung von Seiten der Berechtigten, allein auf dem Wege der Macht zu Grunde gehe. Ihre unabweisliche Pflicht vielmehr bleibt, w i e sie hiemit thun, offen zu erklären, daß sie sich durch ihren auf das Staatsgrundgesetz geleisteten Eid fortwährend verpflichtet halten müssen, und daher weder an der Wahl eines Deputirten zu einer auf andern Grundlagen als denen des Staatsgrundgesetzes berufenen allgemeinen Ständeversammlung Theil nehmen, noch die Wahl annehmen, noch endlich eine Ständeversammlung, die im 255
VIII. Achtzehnhundertachtundvierzig Widerspruche mit den Bestimmungen des Staatsgrundgesetzes zusammentritt, als rechtmäßig bestehend anerkennen dürfen." Seit jeher galt die Eidesfrage als der juristische Nerv der Protestation. Inzwischen hat Wilhelm Ebel wieder darauf aufmerksam gemacht, daß von den sieben Professoren nur einer, nämlich der erst 1835 nach Göttingen berufene Gervinus, wirklich einen Eid auf das Grundgesetz von 1833 geschworen hatte, und z w a r in der Gestalt, w i e sie das „Ausschreiben, die F o r m des Huldigungseides und der Dienst-Eide betreffend" vom 9. Oktober 1833 vorsah. Die übrigen sechs, schon vor 1833 in Göttingen lehrenden Professoren hatten indessen keinen leiblichen Eid auf die Verfassung geleistet. Diese hatte z w a r in § 161 vorgesehen, den Diensteid der Beamten „auf die getreuliche Beobachtung des Staatsgrundgesetzes auszudehnen", also den Staatsdienern einen zusätzlichen Eid abzunehmen. Wilhelm IV. aber hatte dies in seinem Publikationspatent verworfen (26. September 1833, Ziff. 13): „Wir haben ferner auf den Antrag Unserer getreuen Stände durch das Grundgesetz verordnet, daß der Diensteid der Civil-Staatsdienerschaft auf die getreue Beobachtung des Grundgesetzes ausgedehnt werde. Da W i r es indeß nicht angemessen finden, U n sere gesamte gegenwärtige Dienerschaft einen Diensteid nochmals ableisten zu lassen, so verweisen W i r dieselbe hiemit auf den von ihr bereits geleisteten Diensteid und erklären, daß sie in jedem Betracht so angesehen werden soll, als wäre sie auf die getreue Beobachtung des Grundgesetzes eidlich verpflichtet." Dieser einseitige Verweis in absolutistischer Manier konnte den grundgesetzlich gebotenen Eid, d.h. eine persönliche Selbstbindung aus freiem Willensentschluß, durchaus nicht ersetzen. M a n w i r d auch nicht mit Ernst Rudolf Huber sagen können, der Beamten Verbleiben im Dienst nach 1833 sei einer Eidesleistung gleichgekommen. Entscheidend ist vielmehr, daß auch die nicht erneut beeidigten Mitglieder der Sieben als Bürger und Beamte des konstitutionellen Königreichs Hannover der rechtswirksamen Verfassung von 1833 Treue schuldeten. Nicht ein fragwürdiger Als-ob-Eid, sondern die übernommenen A m t e r begründeten das Recht und die Pflicht der Sieben zu ihrem Schritt. Ihre Pflichtverwahrung bedeutete den Vorbehalt der Gebundenheit an die trotz des königlichen Staatsstreichs unverändert fortgeltende Verfassung. A u s diesem Vorbehalt leitete die Protestationsschrift drei praktische Konsequenzen ab, die dem Umstand Rechnung trugen, daß das Patent v o m 1. November die Wahl einer Ständeversammlung nach dem alten Stil des Jahres 1819 angekündigt hatte. Weil der Universität dabei die Funktion einer Wahlkörperschaft zukam, mußte der Lehrkörper zur Frage der Rechtmäßigkeit des ganzen Verfahrens Position beziehen. Die Sieben taten dies mit der Weigerung, ihre subjektiven Wahlrechte auszuüben. Darüber hinaus bestritten sie 256
1. Vorspiele: Die Göttinger Sieben. Das Hambacher Fest einer nach königlicher Order zu bildenden politischen Institution die staatsrechtliche Legalität und erklärten damit alle von dieser Institution ausgehenden staatlichen M a ß n a h m e n für illegal: ein weitreichender A k t des Widerstands. Das Universitäts-Kuratorium suchte den offenen Konflikt zu verhüten und die Sieben zurückzurufen. Die monarchischen Grundsätze seines Bescheides verkannten das Wesen des konstitutionellen Rechtsstaats. Den Untertanen obliege es, „in ruhiger Ergebung zu warten, wie auf dem allein zuläßigen Wege, nämlich auf dem der Berathung mit den jetzt zu convocirenden Ständen die öffentlichen Angelegenheiten U n sere Vaterlandes w e r d e n geordnet werden, nicht aber w i r d ihnen zugestanden werden können, ein jeder nach seiner besondern Absicht zu verfahren, indem dieses einleuchtendermaßen zur offenbaren Anarchie führen würde. Eben so wenig können W i r dafür halten, daß die Staatsdiener hierunter von der allen Unterthanen obliegenden Verpflichtung sich absondern können." Die Beamtenpflicht zur Verfassungstreue beruhe auf einer Dienstanweisung des Königs, dem auch der Diensteid geleistet werde und dem es unbenommen bleibe, Dienstanweisung und -eid aufzuheben. Der Bescheid mahnte schließlich seine Adressaten zu größter Vorsicht und Diskretion. Doch der Protest geriet in Umlauf und auch in die Presse. So erhielt der König Kenntnis von dem Vorfall. Er beschloß sogleich, hart gegen die „revolutionäre, hochverräterische Tendenz" vorzugehen. Durch Reskripte v o m 11. Dezember 1837 entließ Ernst August die sieben Göttinger Professoren, ohne sie zuvor anhören zu lassen. „Die gedachten Professoren", so hieß es in dem Reskript, „haben durch Erklärungen solcher Art, bei denen sie gänzlich verkannt zu haben scheinen, daß W i r ihr alleiniger Dienstherr sind, daß der Diensteid einzig und allein U n s geleistet werde, somit auch W i r nur allein das Recht haben, denselben ganz oder z u m Theil zu erlassen — das Dienstverhältniß, w o r i n sie bisher gegen U n s standen, völlig aufgelöst, w o v o n dann deren Entlassung von dem, ihnen anvertrauten, öffentlichen Lehramte auf der Universität Göttingen nur als eine notwendige Folge betrachtet werden kann". Gegen Dahlmann, Jacob G r i m m und Gervinus verfügte die Regierung außerdem w e g e n des Verbreitens der Protestschrift die Landesverweisung, der sie sich binnen dreier Tage bei Gefahr sofortiger Festnahme zu fügen hatten. Die drei Ausgewiesenen verließen am 17. Dezember 1837 das Land: Dahlmann fand Zuflucht in Leipzig, dann in Jena, Jacob G r i m m in Kassel; Gervinus zog über Darmstadt nach Heidelberg. Die gedruckten Rechtfertigungen Albrechts, Dahlmanns und Jacob Grimms verbreiteten sich schnell und fanden ein außerordentliches Echo. Ein eigens gegründeter Verein zahlte den Entamteten ihr Gehalt 257
VIII. Achtzehnhundertachtundvierzig weiter. Die öffentliche Meinung trug die Sieben und zeigte sich stärker als die Macht der traditionellen Autorität — trotz Pressezensur und Hochschulaufsicht und obwohl das große F o r u m eines nationalen Parlaments noch fehlte. Der Mittelstand, urteilte u m diese Zeit der junge Friedrich Engels nicht ohne Grund, regiere in England und Frankreich direkt, in Deutschland indirekt: durch die öffentliche Meinung. Sie empfand die Entlassungen zu Recht als Willkürakte. Der M o n a r c h konnte z w a r nach damaligem Dienstrecht nichtrichterliche Beamte jederzeit nach seinem Ermessen entlassen, doch galt diese Befugnis nicht uneingeschränkt: „Kein Civil-Staatsdiener", schrieb § 161 Abs. 1 des hannoverschen Staatsgrundgesetzes vor, „kann seiner Stelle willkürlich entsetzt werden". Die Gründe, auf welche sich die Amtsenthebung der Sieben stützte, standen in so offenkundigem Widerspruch zur konstitutionellen Verfassung von 1833, daß die Entlassungsreskripte willkürlich und darum nichtig waren. Denn die Sieben schuldeten nicht „einzig und allein" dem König als dem Dienstherrn, sondern daneben auch dem Staatsgrundgesetz Treue und Gehorsam. Das konstitutionelle Widerstandsrechts der Göttinger Professoren gründete auf Recht und Pflicht des einzelnen, für die verfassungsmäßige Ordnung des öffentlichen Lebens notfalls auch gegen die eigene Obrigkeit aufzutreten. Die Sieben führten keinen Kampf u m die Macht, sondern setzten A m t und Freiheit ein für die positive Verfassungsordnung des Staates, dessen eben begründete Rechtspersönlichkeit das Gemeinwesen v o m Monarchen abhob. Die Gegner der Protestschrift haben den Kampf ums Recht in anderem Licht gesehen. Einer der bedeutendsten unter ihnen, der Philosoph Johann Friedrich Herbart, ist in seiner „Erinnerung an die Göttingische Katastrophe" (1838) auf die rechtliche Grundfrage des Konflikts nicht eigentlich eingegangen. Immerhin hat er die Eidesfrage im Ansatz richtig beschieden: „Der vorige König, als er das Grundgesetz von 1833 publicirte, hatte auf dasselbe den Diensteid der Beamten ausgedehnt. W ä r e diese Ausdehnung unterblieben: nichts desto weniger w ü r d e n die Beamten verpflichtet gewesen sein, sich derjenigen Form anzuschliessen, in welcher nun Ordnung und R u h e im Lande sollte gehandhabt werden. Denn die Pflicht, zur Ordnung m i t z u w i r k e n nach dem Geschäftskreise eines Jeden, entsteht nicht erst durch den Diensteid." Danach aber hat sich Herbart v o m Rechtsproblem abgewandt, u m kritisch nach dem politischen Beruf des akademischen Lehrstandes zu fragen. Das w a r gewiß auch ein aktuelles Thema, denn die Göttinger Ereignisse des Jahres 1837 hatten die politische Machtstellung des Professorentums in Deutschland unter Beweis gestellt, die Möglichkeiten des „politischen Professors" erweitert. A b e r Herbart traf damit doch nicht den Kern des Göttinger Ereignisses, das Widerstandsrecht. 258
1. Vorspiele: Die Göttinger Sieben. Das Hambacher Fest Der Philosoph bestritt dem Hochschullehrer den Beruf, „unmittelbar auf das Zeitalter einzuwirken": „Es ist nicht meine Sache zu beurtheilen, w a s und wieviel an dem politischen Leben der Deutschen zu verbessern sein möge. N u r das sage ich: nach dem politischen Leben darf sich der Geist der Universitäten nicht modeln. Denn die Universitäten haben den Grund ihres Wesens in den Wissenschaften; diese aber sind w i e alte Bäume, deren jährlicher Wachsthum selbst im besten Zunehmen doch immer gering bleibt gegen das, w a s sie längst waren. D a r u m ist es gänzlich falsch zu meinen: voran gehe die Verfassung, hintennach k o m m e die Universität. Nicht also! Sondern die Universität braucht ruhige Müsse und Lehrfreiheit; dass ihr Beides vergönnt bleibe, ist zu bezweifeln, w o die Universitäten für ein Princip der U n r u h e gehalten werden." Herbart unterstreicht zutreffend die Eigenart wissenschaftlicher Arbeit im Unterschied z u m Geschäft des Politikers. Er betont das Erfordernis der Kontemplation für den Wissenschaftler, und er sieht, daß die akademische Freiheit Zurückhaltung in tagespolitischen Fragen erfordert. A b e r er vernachlässigt die besondere Verantwortung des akademischen Lehrers, für die Jacob G r i m m in seiner selbstbewußten Schrift über die Entlassung Zeugnis ablegte. „Der offene, unverdorbne Sinn der Jugend fordert, daß auch die Lehrenden, bei aller Gelegenheit, jede Frage über wichtige Lebens- und Staatsverhältnisse auf ihren reinsten und sittlichsten Gehalt zurückführen und mit redlicher Wahrheit beantworten." Die Entlassung der Göttinger Sieben beendete den hannoverschen Verfassungskonflikt keineswegs. U m die Verfassungsfrage einem Richterspruch zuzuführen, erhoben die Professoren Klage auf Fortzahlung ihres Gehalts vor dem zuständigen ordentlichen Gericht. Der König indessen wies in einem erneut rechtsbrüchigen A k t der Kabinettsjustiz die Justizkanzlei an, die Klage a limine abzuweisen. Eine solche Abweisung hätte indessen den Sieben die Möglichkeit geboten, an den Frankfurter Bundestag heranzutreten. Denn Artikel 29 der Wiener Schlußakte von 1820 bestimmte: „Wenn in einem Bundesstaate der Fall einer Justiz-Verweigerung eintritt, und auf gesetzlichen Wegen ausreichende Hülfe nicht erlangt werden kann, so liegt der Bundesversammlung ob, erwiesene, nach der Verfassung und den bestehenden Gesetzen jedes Landes zu beurtheilende Beschwerden über verweigerte oder gehemmte Rechtspflege anzunehmen, und darauf die gerichtliche H ü l f e bei der Bundesregierung, die zu der Beschwerde Anlaß gegeben hat, zu bewirken." U m dies zu vermeiden, beschloß die Regierung zu Hannover, den Rechtsfall im Wege des Kompetenzkonfliks zu verschleppen: Sie machte geltend, es handle sich nicht u m einen bürgerlichen Prozeß, der Rechtsweg für die Gehaltsklage sei darum nicht eröffnet. Weil mit dem Staatsgrund259
VIII. Achtzehnhundertachtundvierzig gesetz von 1833 auch die Konfliktskommission außer Funktion gesetzt war, schwebte der so begonnene Zuständigkeitsstreit mangels entscheidungsberechtigter Instanz in der Luft. Erst der vom König nach der neuen Verfassung von 1840 berufene, auch für die Entscheidung von Kompetenzkonflikten zuständige Staatsrat entschied im Jahre 1841 — dem Monarchen willfährig — zugunsten der Regierung: Die Entlassung eines Beamten zähle zu den Hoheitsrechten des Landesherrn und sei darum richterlicher Kontrolle nicht unterworfen. Inzwischen freilich w a r die Sache der Sieben doch weiter gediehen. Der Freiburger Rechtslehrer und Politiker Karl Theodor Welcker — auch er gehörte später zu den Männern der Paulskirche — hatte den hannoveranischen Verfassungsbruch im badischen Landtag, in der Hochburg des deutschen Liberalismus, zur Sprache gebracht, ohne Rücksicht darauf, daß die Stände sich mit dieser M o t i o n überhaupt nicht befassen konnten. Als verfassungsgeschichtlich ungleich bedeutsamer erwiesen sich indessen die ständischen Verfassungsbeschwerden an den Bundestag, der sich nach langwierigen Kämpfen 1839 auf die Seite des Unrechts und der das Bundesrecht negierenden Gewalt stellte. Damit untergrub der Bund seine eigene Grundlage und gab den Kräften Auftrieb, die das System des Wiener Kongresses durch eine andere Form der deutschen Einheit zu ersetzen suchten. „Das Versagen des Bundes im hannoverschen Verfassungskonflikt w a r eine der wesentlichen Etappen auf dem Weg zur nationaldemokratischen Revolution" (Ernst Rudolf Huber). In Hannover selbst bewies die neue Verfassung von 1840, daß der Göttinger Widerstand und der Kampf der ständischen Opposition u m das Recht nicht ohne Ergebnis geblieben waren. Zwar hatte der König weder das Patent v o m 1. November aufgehoben, noch das Grundgesetz von 1833 wieder in Kraft gesetzt. Aber der starke und verbreitete Protest gegen den Staatsstreich hatte den Herrscher doch dahin gebracht, eine Konstitution einzuführen, die der aufgehobenen nahekam und dem Königreich im ganzen gesehen den Charakter eines Verfassungsstaats moderner Prägung beließ, auch w e n n das monarchische Prinzip nun wieder stärker betont erschien. Die Restaurationspartei mit ihren absolutistischen Absichten und altständisch-feudalen Plänen hatte damit eine fortwirkende Niederlage erlitten. Als anderes, kräftig ausstrahlendes Vorspiel der bürgerlichen Revolution läßt sich das Hambacher Fest erkennen. A m Sonntag, dem 27. Mai 1832 versammelten sich u m die Schloßruine der Kästenburg bei H a m bach in der N ä h e von Neustadt an der Weinstraße z w a n z i g - bis dreißigtausend Menschen friedlich und festlich, u m im Zeichen von Schwarzrotgold für freiheitliche Bürgerrechte und die politische Einheit 260
1. Vorspiele: Die Göttinger Sieben. Das Hambacher Fest Deutschlands einzutreten. Die Teilnehmer des Nationalfestes wollten, w i e das täglich erscheinende fortschrittliche Volksblatt „Der Wächter am Rhein" schrieb, „daß die Gesinnung deutscher Mitbürger laut werden möge zur Ermuthigung aller durch alle". Mittels des Hambacher Festes brachte sich der demokratisch-liberale und nationale Geist in Deutschland zu vielbeachtetem und lange nachwirkendem Ausdruck. Das Ereignis bezeugt den Verfassungskampf, der sich bereits im studentischen Wartburgfest 1817 angekündigt hatte und der einen Höhepunkt in der bürgerlichen Revolution des Jahres 1848 und der Frankfurter N a tionalversammlung finden sollte. Im hochgestimmten Miteinander einer Vielfalt von Menschen unterschiedlichster Berufe verkörperte sich die Sehnsucht einer Epoche, damit aber zugleich die Opposition zu den Obrigkeiten, die auf dem Wiener Kongreß und danach die in den Freiheitskriegen aufgekommenen nationalen und konstitutionellen H o f f n u n gen weithin enttäuscht hatten. Die freiheitlich und national gesonnenen Hambacher standen in entschlossenem Gegensatz z u m restaurativen Gefüge des Deutschen Bundes, in dem sich die Ideen, denen die Zukunft gehörte, nicht manifestieren ließen. Das Streben nach Kundgabe der demokratisch-liberalen und nationalen Ansprüche führte während der Zeit des Vormärz zu den ersten politischen Festen in Deutschland, die als A k t e der verfassungsoppositionellen Repräsentation gelten können. Diese Feste bürgerlich-oppositioneller Geister gaben w i r k s a m e politische Anstöße in einer von A u f - und Umbrüchen bewegten Zeit. „Soviel Anfang w a r nie", schrieb mit Grund ein Zeitgenosse des 19. Jahrhunderts, in dessen Mitte eine tiefe U n r u h e entstand. Die politische Ordnung des Wiener Kongresses genügte den Bedürfnissen einer sich gründlich verändernden Wirklichkeit immer weniger. Von der Postkutsche zu Eisenbahn, Dampfschiff und Telegraph; v o m Glauben der Kirchen z u m unverhüllt hervortretenden Atheismus und Materialismus; v o m altständischen Regiment z u m konstitutionellen System und zur Repräsentationsidee; von Goethe, der 1832 starb, zu Heine, von Hegel zu M a r x — „eine ungeheure Bewegung der Gesellschaft und des Geistes" (Golo Mann). Teilnehmer aus Polen und Frankreich machten das Hambacher Fest zu einem europäischen Ereignis. In der Adresse der „Societe des amis du peuple, comite de Strassbourg, ä l'assemblee patriotique allemande reunie a H a m b a c h " , hieß es: „Le culte de la liberte est c o m m u n ä tous les peuples civilise. C'est la religion de tous les hommes dont le cceur bat pour la patrie, et qui desirent franchement le bonheur de Fhumanite". Als Urheber und Träger des Hambacher Festes w i r k t e der anderthalb Jahre nach der französischen Julirevolution von 1830 gebildete deutsche 261
VIII. Achtzehnhundertachtundvierzig Preß- und Vaterlandsverein, der seine geistige Mitte in der Pfalz besaß. Als lokale politische Zusammenschlüsse entstanden Preßvereine zu jener Zeit an vielen Orten, u m sich für die bürgerlichen Freiheiten einzusetzen. Der im Januar 1832 zu Zweibrücken bei einem Festbankett pfälzischer Radikaler als Zentralverband ins Leben getretene deutsche Preßund Vaterlandsverein verfocht als Ziel die Wiederherstellung der deutschen Nationaleinheit unter einer demokratisch-republikanischen Verfassung. Die freie Presse galt dem Verein als Mittel des Kampfes. „Der Preß- und Vaterlandsverein ist ein erstes Beispiel für das A u f k o m m e n einer vereinsmäßig organisierten politischen Partei in Deutschland" (Ernst Rudolf Huber). Seine leitenden Köpfe spielten eine führende Rolle beim Hambacher Fest und meist auch bei der bürgerlichen Revolution 1848. Das Zentralkomitee des Vereins bildeten drei Zweibrücker Advokaten: Friedrich Schüler w a r 1831 in die bayerische Zweite Kammer gewählt worden, w o er die radikale Linke führte. Joseph Savoye, gleichfalls Advokat am Oberappellationsgericht in Zweibrücken, verfocht in Wort und Schrift den Grundsatz, daß die Preßfreiheit in der Rheinpfalz gesetzlich gewährleistet sei. Ferdinand Geib, Advokat am Bezirksgericht Zweibrücken, arbeitete am „Westboten" des Juristen und Publizisten Philipp J a k o b Siebenpfeiffer (1789-1845) und an der „Deutschen Tribüne" des Juristen und Schriftstellers Johann Georg A u gust Wirth (1798-1848) mit. Damit sind auch die N a m e n der beiden Nicht-Pfälzer genannt, die dem verfassungspolitischen Radikalismus w i e dem nationalpolitischen Unitarismus weit über den bayerischen Rheinkreis hinaus Widerhall verschafften. A u s allen Reden vor der vieltausendköpfigen bunten Menge klang, oft pathetisch und einfach, der Zorn über die Zerrissenheit Deutschlands und die Fürstenherrschaft, der Arger über bedrückende öffentliche Zustände, das Bekenntnis zu den alten Rechten der Volkshoheit. Freiheit und Einheit des deutschen Volkes sollten gemeinsam Gestalt gewinnen in einem starken Nationalstaat. Der Weg zu diesem großen Ziel freilich blieb undeutlich, auch zeigten sich Widersprüche, insbesondere in den Reden der beiden Hauptakteure Siebenpfeiffer und Wirth, die freilich beide europäische Akzente setzten. Siebenpfeiffer erklärte in seiner Festrede: „Wir selbst wollen, w i r selbst müssen vollenden das Werk, und . . . bald muß es geschehen, soll die deutsche, soll die europäische Freiheit nicht erdrosselt werden von den Mörderhänden der Aristokraten". U n d Wirth: „Es ist einleuchtend, daß . . . die R e f o r m Deutschlands, als die Basis der Reorganisation Europas, eine große gemeinschaftliche Angelegenheit aller Völker unseres Welttheils sey". O b w o h l Enthusiasmus, Erregtheit und oft auch Trunkenheit die Gemüter beherrschten, schienen der Menge Zeit und Gelegenheit zur A k 262
2. Die Paulskirche
tion nicht gekommen, mochten auch einzelne Redner — wie der rhetorisch mitreißende Dr. iur. Daniel Ludwig Pistor in seiner Sozialrevolutionären Anklage — zur Gewalt aufrufen. Die militärische Bereitschaft der königlich-bayerischen Staatsmacht blieb ungeprüft. Auch ein politisches Aktionsprogramm ließ sich bei dem buntbewegten Fest mit seinem stimmungsvollen Durcheinander weder aufstellen noch beschließen. Die Uneinigkeit seiner Veranstalter und Wortführer, seine inneren Widersprüche hatten dem Hambacher Fest keinen Abbruch getan: als volkstümliches Bekenntnis zur Freiheit und zum deutschen Nationalstaat, als leidenschaftlicher Ausbruch neuen Lebensgefühls in Bürgertum und Bauernschaft, als burschikos-jugendfrohes Ereignis fand es bei den Teilnehmern und in der deutschen Öffentlichkeit einen Widerhall, der gar keiner verabschiedeten Programmsätze bedurfte. Mit Grund nahmen die Regierungen die Demonstrationen des Zeitgeistes ernst. Unter dem 4. Juni 1832 schrieb der österreichische Staatsmann Fürst Metternich eigenhändig an seinen Kaiser Franz über den „Scandal" des Hambacher Festes, das sich „wie eine deutsche Nationalversammlung" ausnehme: „Das gute in dem Ereignisse ist, daß die Dinge immer deutlicher werden und daß nun wohl der doktrinairste Doktrinair nicht mehr behaupten kann, die Sache sey Nichts." Die Staatsmacht Österreichs zeigte sich wie die Preußens entschlossen, der Unbotmäßigkeit den Garaus zu machen. Die ermahnte bayerische Regierung entsandte alsbald den Feldmarschall Fürst Wrede als „außerordentlichen Hofcommissär" in den bayerischen Rheinkreis und stellte ihm ein ganzes Armeekorps zu Gebote: die konstitutionelle Staatsgewalt machte erstmals in Deutschland vom Mittel des Ausnahmezustandes Gebrauch. Ein strenges Militär- und Polizeiregiment stellte die durch Tumulte an verschiedenen Orten gestörte allgemeine Ruhe und die wochenlang gelähmte Verwaltung wieder her. Etlichen Hambacher Wortführern gelang die Flucht nach Frankreich und in die Schweiz. Andere kamen vor Gericht.
2. Die
Paulskirche
ADAMS, Willi Paul: Das Gleichheitspostulat in der amerikanischen Revolution, in: HZ 212, 1971, 59-99; BAHNERS, Patrick, ROELLECKE, Gerd (Hgg.): 1848 Die Erfahrung der Freiheit, 1998 = Motive — Texte — Materialien, Bd. 83; BAUER, Sonja-Maria: Die Verfassunggebende Versammlung in der badischen Revolution von 1849. Darstellung und Dokumentation, 1991 = Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der Politischen Parteien, Band 94; BÄVAJ, Riccardo u. FRITZEN, Florentine (Hgg.): Deutschland - ein Land ohne
263
VIII. Achtzehnhundertachtundvierzig revolutionäre Traditionen? Revolutionen im Deutschland des 19. und 20. Jahrhunderts im Lichte neuerer geistes- und kulturgeschichtlicher Erkenntnisse, 2005; BERGSTRÄSSER, Ludwig (Hg.): Die Verfassung des Deutschen Reiches vom Jahre 1849 mit Vorentwürfen, Gegenvorschlägen und Modifikationen bis zum Erfurter Parlament, 1913; BERGSTRÄSSER, Ludwig (Hg.): Das Frankfurter Parlament in Briefen und Tagebüchern, 1929; BEST, Heinrich: Die Männer von Bildung und Besitz. Struktur und Handeln parlamentarischer Führungsgruppen in Deutschland und Frankreich 1848/49, 1990; BIRTSCH, Günter (Hg.): Grund- und Freiheitsrechte im Wandel von Gesellschaft und Geschichte. Beiträge zur Geschichte der Grund- und Freiheitsrechte vom Ausgang des Mittelalters bis zur Revolution von 1848, 1981; BLRTSCH, Günter (Hg.): Grund- und Freiheitsrechte von der ständischen zur spätbürgerlichen Gesellschaft, 1987; BLECK, Wilhelm: Die Politik-Professoren in der Paulskirche, in: KOCKA, Jürgen, PUHLE, Hans-Jürgen u. TEUFELDE, Klaus (Hgg.): Von der Arbeiterbewegung zum modernen Sozialstaat. Festschr. Gerhard A. Ritter, 1994, 276-299; BÖHR, Susanne: Die Verfassungsarbeit der preußischen Nationalversammlung 1848, 1992; BOLDT, Hans: Rechtsstaat und Ausnahmezustand. Eine Studie über den Belagerungszustand des bürgerlichen Rechtsstaates im 19. Jahrhundert, 1967; BOLDT, Hans: Deutsche Staatslehre im Vormärz, 1975; BOLDT, Werner: Konstitutionelle Monarchie oder parlamentarische Demokratie. Die Auseinandersetzung um die deutsche Nationalversammlung in der Revolution v o n 1 8 4 8 , i n : H Z 2 1 6 , 1 9 7 3 , 5 5 3 - 6 2 2 ; BOTZENHART, M a n f r e d : D e u t s c h e r P a r -
lamentarismus in der Revolutionszeit 1848-1850, 1977; COLLIN, Peter: Der Kampf gegen die Schwurgerichte - Preußen 1849-1853/54, in: Z N R 23, 2001, 195-219; CONZE, Werner u. ZORN, Wolfgang (Hgg.): Die Protokolle des Volkswirtschaftlichen Ausschusses der Deutschen Nationalversammlung 1848/ 49, 1992; DEMEL, Walter: Vom aufgeklärten Reformstaat zum bürokratischen Staatsabsolutismus, 1993; DERWEIN, Herbert: Heidelberg im Vormärz und in der Revolution 1848/49, 1958 = Neue Heidelberger Jahrb., N F Jahrb. 1955/ 5 6 ; DILCHER, G e r h a r d , HOKE, R u d o l f , PENE VIDARI, G i a n S a v i n o u . W I N -
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1848/49
im Rhein-Main-Raum. Politische Vereine und Revolutionsalltag im Großherzogtum Hessen, Herzogtum Nassau und in der Freien Stadt Frankfurt, 1989; WIGARD, Franz (Hg.): Stenographischer Bericht über die Verhandlungen der deutschen constituirenden Nationalversammlung zu Frankfurt am Main, hg. auf Beschluß der Nationalversammlung, 9 Bde., 1848, 1849; WOHLERS, Wolfgang: Entstehung und Funktion der Staatsanwaltschaft. Ein Beitrag zu den rechtshistorischen und strukturellen Grundlagen des reformierten Strafverfahrens, 1994; WOHLERS, Wolfgang: Entstehung und Funktion der Staatsanwaltschaft. Ein Beitrag zu den rechtshistorischen und strukturellen Grundlagen des reformierten Strafverfahrens, 1994; WOLLSTEIN, Günter: Das „Großdeutschland" der Paulskirche. Nationale Ziele in der bürgerlichen Revolution 1848/49, 1977; WOLLSTEIN, Günter: Deutsche Geschichte 1848/49. Gescheiterte Revolution in Mitteleuropa, 1986.
Der europäische A u f r u h r gegen das dreiunddreißig Jahre alte „System" des Wiener Kongresses begann zu Anfang des Jahres 1848 in Sizilien und Süditalien. Von dort griff er im Februar über auf Frankreich, w o er das R e g i m e des König-Bürgers Louis Philippe hinwegfegte. Der M y t h o s der Französischen Revolution von 1789/92 tat seine W i r k u n g in Europa. Es folgte in Deutschland die Märzrevolution: Eine Welle von Versammlungen, Demonstrationen und politischen Adressen trug die Führer der liberalen Opposition an die Spitze der Regierungen in zahl268
2. Die Paulskirche reichen deutschen Ländern. Der österreichische Kanzler Fürst Metternich stürzte und entwich nach England. Fünf Tage später erhielten die Bürger auch in Preußen „alles bewilligt". Gleichwohl erlebte Berlin eine blutige Straßenschlacht zwischen Volk und Truppe, bis die Regimenter aus der Stadt zurückgezogen waren; der als Scharfmacher und „Russe" geltende Bruder des Regenten, Prinz Wilhelm, floh, und König Friedrich Wilhelm selbst mußte den gefallenen Barrikadenkämpfern die Reverenz erweisen und einen U m r i t t mit schwarzrotgoldener Schärpe veranstalten. Die an vielen Orten stattfindenden revolutionären Ereignisse lassen sich nach Heftigkeit und Verlauf nicht über einen Leisten schlagen. Das gilt auch für die Wandlungen und U m b r ü c h e der Verfassungen in Europa während der Mitte des f9. Jahrhunderts. Neben der Gleichartigkeit geistiger Grundströmungen und Entwicklungen, neben mancherlei Anleihen und Rezeptionen bestehen doch vielfach auch kulturell begründete Unterschiede und Eigenarten im Blick auf die einzelnen Länder und in den zeitlichen Abläufen. Insgesamt tritt aber doch hervor, „daß die Reformbestrebungen des liberalen Bürgertums und die sozialen Proteste der unterbürgerlichen Schichten, die im M ä r z 1848 explosiv zur Oberfläche drängten, Teil eines umfassenderen Prozesses gesellschaftlichen Wandels gewesen sind und sich die deutsche Entwicklung von den Entwicklungen im übrigen Europa nicht so grundlegend unterschied, w i e man lange angenommen hat" (Wolfgang J. Mommsen). Träger der Revolution w a r das Bürgertum, verstärkt und angetrieben auch von den kleinen Leuten, den Bauern, H a n d w e r k e r n und Arbeitern. Die „Märzforderungen" hießen allerorts: Preßfreiheit, Vereins- und Versammlungsfreiheit, Einrichtung von Schwurgerichten, allgemeine Volksbewaffnung, Verfassungseid des Heeres und nicht zuletzt: Wahl einer Nationalvertretung. Die deutschen Liberalen wollten diese Postulate von der traditionellen Autorität bewilligt sehen im Wege der Reform, des Kompromisses, der „Vereinbarung" zwischen „Krone" und „Volk". Für die Mehrheit der bürgerlichen Politiker hießen die Ziele konstitutionelle Monarchie und deutsche Einheit, friedlich erreicht ohne Bruch der rechtlichen Kontinuität. Die in scharfem Gegensatz zu den Liberalen stehenden Demokraten, Republikaner und Kommunisten, die zu radikalem Bruch mit der alten Legalität sich bereit fanden, blieben eine Minderheit, freilich von erheblichem Einfluß schon alsbald, indem sie die liberale Mitte schwächten und zu den Verteidigern der alten Ordnung hindrängten. Mit den „März-Errungenschaften" w a r noch nichts eigentlich entschieden, vor allem die konservative Macht der Höfe, Armeen und Bürokratien noch unbesiegt. N a c h wie vor blieb Deutschland vielfach 269
VIII. Achtzehnhundertachtundvierzig in sich gespalten: in zählebige Teilstaaten, Parteien, Konfessionen. Die europäischen und dynastischen Verknüpfungen und Gegensätze w i r k t e n fort. „Volkssouveränität gegen historisches oder monarchisches Recht, soziale Demokratie gegen Liberalismus, dynastische Staaten gegen das Bundesreich, Nationalstaat und fremde Nationalitäten, Großmächte gegen die neue Großmacht — keiner dieser Konflikte ist in den Jahren 1848 und 1849 eigentlich zu Ende gedacht und zu Ende durchgefochten worden. In chaotischem Zusammenspiel beherrschten, verwirkten und verdarben sie den großen Versuch" (Golo Mann). Zu den übereinstimmenden Ansprüchen der Liberalen und der Radikalen gehörte das deutsche Nationalparlament. N a c h d e m der Abgeordnete Friedrich Daniel Bassermann am 12. Februar 1848 in der badischen und der Abgeordnete Heinrich von Gagern am 28. Februar 1848 in der hessischen Zweiten Kammer die Berufung eines deutschen Nationalparlaments verlangt hatten, bereiteten am 5. M ä r z in Heidelberg einundfünfzig überwiegend monarchisch gesinnte Politiker aus Preußen, Bayern, Württemberg, Baden, Hessen, Nassau und Frankfurt „die Versammlung einer in allen deutschen Landen nach der Volkszahl gewählten Nationalvertretung" vor: Ein Siebener-Ausschuß lud am 12. M ä r z 1848 „alle früheren oder gegenwärtigen Ständemitglieder und Theilnehmer an gesetzgebenden Versammlungen in allen deutschen Landen (natürlich Ost- und Westpreußen und Schleswig-Holstein mit einbegriffen)" z u m „Vorparlament" nach Frankfurt am Main. N o c h ehe dieses zusammentreten konnte, versuchte der Bundestag, der sich bisher aus sich selbst heraus nicht hatte reformieren lassen und sich nun als das „gesetzliche Organ der nationalen und politischen Einheit Deutschlands" bezeichnete, die Führung in der Verfassungsfrage an sich zu nehmen: Er öffnete den Weg für die Pressefreiheit, erklärte die jahrzehntelang als Zeichen des Umsturzes verfolgten Farben Schwarz-Rot-Gold zu Bundesfarben und forderte am 10. M ä r z die einzelstaatlichen Regierungen auf, alsbald „Männer des öffentlichen Vertrauens" zur Revision des Bundesrechts nach Frankfurt abzuordnen. In diesem verfassungsvorbereitenden Siebzehnerausschuß versammelten sich zögernd berufene Angehörige der bürgerlichen Bewegung, w i e sich denn auch die nationalpolitischen Tendenzen im Bundestag infolge der U m b i l d u n g der einzelstaatlichen Regierungen verstärkten. Mit der Konstituierung des Siebzehnerausschusses von Bundes w e g e n und dem Zusammentreten des Vorparlaments, der Gesamtvertretung der deutschen Revolution, verhandelten drei politische Gremien nebeneinander zu Frankfurt. Die Linke, die im Vorparlament ihre einzige Machtbasis besaß, legte dort ihr Programm in Gestalt eines Antrags des badischen Rechtsanwalts und Republikaners Gustav von Struve vor, der demnächst die ba270
2. Die Paulskirche dischen Aufstände anführte und später im amerikanischen Sezessionskrieg mitkämpfte. Der Struvesche Antrag verlangte u . a . die „Beseitigung des Nothstandes der arbeitenden Klassen", die „Ausgleichung des Mißverhältnisses zwischen Arbeit und Kapital" sowie eine „föderative Bundesverfassung nach dem Muster der nordamerikanischen Freistaaten". Damit drangen die Radikalen indessen nicht durch. Das Vorparlament fand vielmehr einen Kompromiß zwischen den beiden Gruppen, indem es sich über die Wahl der deutschen Nationalversammlung einigte. Ein Fünfzigerausschuß erhielt den Auftrag, einstweilen „die Bundesversammlung bei Wahrung der Interessen der Nation und bei der Verwaltung der Bundesangelegenheiten . . . selbständig zu beraten und die nötigen Anträge . . . zu stellen". In ihm blieb die wiederholt unterlegene äußerste Linke unter dem Mannheimer A n w a l t , Demokraten und Revolutionär Friedrich Hecker ohne Sitz. Inzwischen hatte der Bundestag mit Beschluß vom 2. April alle seit 1819 erlassenen Ausnahmegesetze, also auch die Karlsbader Beschlüsse von 1819, aufgehoben. Neben dem Vorparlament befaßte sich der Bundestag durch zwei Beschlüsse mit der Vorbereitung der Nationalversammlung. Er folgte dabei dem Willen der Vorparlamentarier. Die beiden Bundesgesetze v o m 30. M ä r z und 7. April bildeten die verfassungsändernde Rechtsgrundlage für die Wahl und die Tätigkeit des Nationalparlaments. Danach folgte das Wahlverfahren den Grundsätzen der Allgemeinheit und der Gleichheit. Als wahlberechtigt und wählbar galt „jeder volljährige, selbständige Staatsangehörige", wobei das M e r k m a l der Selbständigkeit Undefiniert blieb. Seine Interpretation w a r Sache der Landesregierungen, welche in ihren Staaten das Wahlrecht im einzelnen verordneten. Die Bundesbeschlüsse stellten den Ländern ferner anheim, das Wahlverfahren öffentlich oder geheim, direkt oder indirekt einzurichten. In den meisten deutschen Ländern galt bereits 1848 das Prinzip der geheimen Wahl. U b e r w i e g e n d folgte man dem indirekten System: die U r w ä h l e r hatten ihr Votum für Wahlmänner abzugeben, die dann ihrerseits die Abgeordneten bestimmten. Die Wahl z u m Frankfurter Parlament trug das Gepräge der Persönlichkeitswahl, denn es w a r in Einmannwahlkreisen nach dem Mehrheitsprinzip zu stimmen. A u ß e r d e m traten durchorganisierte politische Parteien mit besonderem Apparat, ausformuliertem Programm, eigener Presse und geschlossenem Mitgliederstamm noch nicht in Erscheinung. Gewiß w i r k t e n viele Bürgervereine, Gesellschaften und Klubs mit unterschiedlichen Wahlaussagen, doch fehlten die festen Umrisse. Nirgends beherrschten Parteiorganisationen den Wahlkampf; w o sie agierten, blieben sie doch nur Werkzeuge der das politische Leben dirigierenden Persönlichkeiten. Denn vorwiegend beherrschten die Honoratioren 271
VIII. Achtzehnhundertachtundvierzig
der Besitz- und Bildungsschicht in Stadt und Land die Szene, indem sie Vorschläge unterstützten oder selbst kandidierten. Viel geringeren Anteil nahmen Angehörige der niederen sozialen Stände, vor allem aus dem Kleinbürgertum, die man oft abschätzig Agitatoren nannte, weil sie sich ihren gesellschaftlichen Aufstieg erst noch erkämpfen mußten. Die Mehrzahl der Kandidaten und dann auch Abgeordneten betrieb die Politik im Nebenamt. Nicht zuletzt deshalb blieb das Fraktionsgefüge der Paulskirche verhältnismäßig locker und fluktuierend. Die Frankfurter Nationalversammlung hat eine Vielzahl schriftlicher Zeugnisse hinterlassen und eine Fülle an Literatur hervorgerufen. Hervorgehoben seien die neun Bände des „Stenographischen Berichts über die Verhandlungen der deutschen constituirenden Nationalversammlung zu Frankfurt am Main". Uberkommen ist auch die „Bibliothek der deutschen Reichsversammlung". Die Geschicke dieser Bücherei finden sich lehrreich nachgezeichnet in einem ebenso umfangreichen wie spannenden Werk zur Geschichte der Reichstagsbibliothek von Gerhard Hahn. Diese bemerkenswerte Monographie berichtet auch über die Geschichte der Parlamentsakten von 1848/49 und insbesondere über die Odyssee des pergamentenen, von 405 Abgeordneten unterzeichneten Originalexemplars der am 27.3.1849 von der Frankfurter Nationalversammlung verabschiedeten, am 28.3. vom Präsidenten ausgefertigten und im Reichsgesetzblatt verkündeten, freilich nicht ausgeführten Deutschen Reichsverfassung. Während die Materialien des Paulskirchenparlaments Ende 1851 dem wiedererstarkten Deutschen Bund zwangsweise ausgeliefert werden mußten, ließ der Frankfurter liberale Abgeordnete Dr. Friedrich Siegmund Jucho deren Glanzstück, die Verfassungsurkunde, nach England in Sicherheit bringen, von wo es im März 1870 an den Präsidenten des Reichstages des Norddeutschen Bundes Eduard Simson gelangte, der im Frühjahr 1849 — in entscheidender Phase — Präsident der Nationalversammlung gewesen war und der in seiner Person das Bindeglied zwischen der Paulskirche und dem neuen Berliner Parlament darstellte. Im weiteren, hier nicht zu verfolgenden Schicksal der Urkunde spiegelten sich die Ereignisse und Verhängnisse der deutschen Geschichte. Das Frankfurter Parlament umfaßte rund 585 Abgeordnete. Zusammen mit ihren gewählten Ersatzmännern ergab sich eine Gesamtzahl von rund 830 Volksvertretern. Etwa 150 von ihnen zählten zum Adel, verteilten sich indessen auf alle Fraktionen. Die meisten Parlamentarier übten geistige und freie Berufe aus; am stärksten vertreten erschienen hier Professoren und Lehrer, Advokaten, Geistliche, Ärzte und Schriftsteller. Eine zweite, nur wenig schwächere Gruppe bildeten die Staatsund Gemeindediener, unter denen die Richter, Staatsanwälte und hö272
2. Die Paulskirche heren Verwaltungsbeamten ganz überwogen. Die auffallend schwächste Gruppe schließlich machten die Wirtschaftsstände aus; ihr Anteil erreichte gut zwölf Prozent — ein geringer Satz angesichts einer rasch expandierenden Wirtschaft. Blieb schon die Zahl der H a n d w e r k e r minimal, so gab es überhaupt keinen Arbeiter im Parlament, obwohl die Hauptindustrieländer Preußen und Sachsen die Arbeiterschaft unbegrenzt zur Wahl zuließen. Trotz des demokratischen Wahlrechts erwies sich so die Nationalversammlung als Repräsentation der gehobenen bürgerlichen und agrarischen Schichten. O b w o h l die soziale Frage des beginnenden Industriezeitalters sich bereits angemeldet hatte, zeigte sich die Hierarchie der bürgerlichen Gesellschaft des Jahres 48 noch unerschüttert, das Bürgertum, vor allem das akademisch gebildete, in seiner führenden und prägenden Kraft auch durch die niederen Schichten bestätigt. Politisch gliederte sich das erste deutsche Nationalparlament in die drei Hauptrichtungen der konservativen Rechten, der liberalen Mitte und der radikalen Linken, die sich jeweils wieder in die einzelnen lokkeren Zusammenschlüsse der Fraktionen differenzierten. Diese besaßen Programme und Statuten und nannten sich nach den Lokalen, in welchen sie zu tagen pflegten. Trotz zahlreicher Ubergänge und Wechsel lassen sich zehn Gruppen unterscheiden: die Konservativen („Milani"), die beiden liberalen Fraktionen („Kasino" und „Württemberger H o f " ) und ihre Abspaltungen („Landsberg", „Augsburger Hof", „Pariser Hof"), schließlich die beiden demokratischen Fraktionen („Deutscher Hof", „Donnersberg") und ihre Splittergruppen („Westendhall" und „Nürnberger Hof"). N a h e z u ein Drittel der Abgeordneten blieb fraktionslos. Frankfurt am Main: Kein Ort empfahl sich für die Versammlung mehr denn die alte Reichsstadt am Main, in der seit dem Mittelalter die deutschen Könige gewählt und seit 1562 regelmäßig auch gekrönt worden w a r e n und die nun als Symbol jahrhundertealter Bürgerfreiheit erschien. Frankfurt w a r die Hauptstadt des Deutschen Bundes, hier hatte die Bundesversammlung ihren Sitz, mit der auf begrenzte Weise zusamm e n z u w i r k e n eine gewisse Bereitschaft jedenfalls bei der künftigen Mitte und der Rechten im Lager der Revolution aus praktischen Gründen bestand. Die keiner übergeordneten Staatsgewalt unterworfene Stadt lag von Berlin und Wien, den Regierungssitzen der beiden Vormächte des Deutschen Bundes, fast gleich weit entfernt. Die Entscheidung für sie „zielte schließlich und nicht zuletzt auf den Gedanken, das deutsche Parlament praktisch w i e symbolisch unter den Schutz einer freien Bürgergemeinde zu stellen, ihm damit sozusagen das Strukturprinzip für sein Werk, die Errichtung einer neuen politischen und sozia273
VIII. Achtzehnhundertachtundvierzig len O r d n u n g aus dem Geist des liberalen Bürgertums, auch v o n hier aus n o c h einmal m i t z u g e b e n " ( L o t h a r Gall). A m 18. M a i 1848 trat die erst teilweise besetzte Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche zusammen. A m Tage darauf wählte sie mit 305 von 3 9 7 Stimmen den Heidelberger und J e n a e r Burschenschafter, Juristen und hessen-darmstädtischen Märzminister H e i n r i c h von Gagern, einen M a n n des goldenen Mittelweges, zu ihrem Präsidenten. In seiner Eröffnungsansprache n a h m dieser Liberale freilich die verfassunggebende G e w a l t allein für das Parlament in Anspruch, machte also Ernst mit dem G e d a n k e n der Volkssouveränität. N i c h t kraft B u n desauftrags, sondern kraft einer v o m souveränen Volk erteilten Vollmacht sollte das Nationalparlament den pouvoir constituant ungeteilt, also nicht im Wege der Vereinbarung mit den Fürsten, ausüben. U n b e irrt durch Widerstände insbesondere des parlamentarischen Partikularismus in den Ländern entschloß es sich alsbald zur Einsetzung einer nationalen Exekutive: A m 28. J u n i erging, im neuen Reichsgesetzblatt verkündet, das Reichsgesetz über die Einführung einer provisorischen Zentralgewalt für Deutschland. Sie hatte ,,a) die vollziehende G e w a l t zu üben in allen Angelegenheiten, welche die allgemeine Sicherheit und Wohlfahrt des deutschen Bundesstaates betreffen; b) die Oberleitung der gesamten bewaffneten M a c h t zu übernehmen, und namentlich die Oberbefehlshaber derselben zu ernennen; c) die völkerrechtliche und handelspolitische Vertretung Deutschlands auszuüben, und zu diesem E n d e Gesandte und K o n s u l n zu ernennen". Das Gesetz übertrug die provisorische Zentralgewalt einem staatsrechtlich unverantwortlichen, insoweit also einem konstitutionellen M o n a r c h e n vergleichbaren Reichsverweser, dessen Wahl der Nationalversammlung oblag. Sie bestimmte mit großer Mehrheit einen habsburgischen Fürsten, den volkstümlichen E r z h e r z o g J o h a n n von Osterreich, z u m Reichsverweser, ein großdeutsch-monarchisch-unitarischer K o m p r o m i ß , den auch der B u n destag anerkannte. D i e Reichsregierungsgeschäfte übertrug das Gesetz einem v o m Reichsverweser zu berufenden Reichsministerium, das als konstitutionelles Kabinett dem Parlament für die regierungsamtlich gegengezeichneten A k t e des Reichsverwesers wie für die eigenen Regierungsmaßnahmen verantwortlich war. Weil die Reichsexekutive ihren einzigen Rückhalt in der Nationalversammlung besaß, setzte sich in der Verfassungswirklichkeit das zunächst nicht vorgesehene parlamentarische Regierungssystem durch. Wenn die Regierung über keinerlei außerparlamentarische Machtbasis verfügte, mußten die wechselnden Mehrheiten in der Nationalversammlung auch die Zusammensetzung der Reichsministerien verändern. D i e wiederholten Kabinettswechsel spiegelten so die jeweilige parlamentarische Situation. M i t dem G e s e t z über 274
2. Die Paulskirche die vorläufige Zentralgewalt beseitigte das Parlament der Paulskirche den Frankfurter Bundestag. D i e s e r indessen entzog sich der A n e r k e n nung dieses revolutionären Schrittes, indem er am 12. Juli 1848 seine sämtlichen Befugnisse auf den Reichsverweser übertrug und danach seine Tätigkeit einstellte. Indessen blieb die Frankfurter Reichsexekutive ein Schattenregiment, das realer Machtmittel entbehrte und im Innern wie außenpolitisch keine nachhaltige H i l f e und kaum nennenswerte Anerkennung fand. Insbesondere ließ sich auch die militärische Oberleitungsgewalt des Reichsverwesers nicht durchsetzen. D a ß der Reichskriegsminister von Peucker, ein preußischer General, seinen Huldigungserlaß v o m 16. J u l i 1848 nicht durchsetzen konnte, offenbarte die Schwäche der Reichsgewalt. D e r Widerstand vor allem Preußens und Österreichs gegen diesen in einem Rundschreiben an die Kriegsminister der deutschen Staaten enthaltenen Erlaß und dann gegen die Reichsmarinepolitik bildete den Anfang der Gegenrevolution. Bereits im J u n i hatte die europäische und damit auch die deutsche Revolution ihre ersten großen Rückschläge erfahren: in Prag hatte der kaisertreue Österreicher Fürst Windischgrätz durch ein B o m b a r d e m e n t die E i n w o h n e r unterworfen und den Slawenkongreß zerstreut, und General R a d e t z k y hatte seinem kaiserlichen H e r r n Mailand zurückgewonnen. In Paris, w o er sich am stärksten entwickelt hatte, war der Sozialismus in blutiger Stadtschlacht völlig unterlegen. Berlin und Wien, von denen die deutschen Verhältnisse abhingen, bereiteten sich auf die R ü c k k e h r zur alten M a c h t vor. Inzwischen belastete die Krise u m das v o n dänischer militärischer Aggression bedrohte Schleswig-Holstein das n o c h gänzlich ungefestigte R e i c h und sein Parlament. D e r von Preußen unter dem D r u c k Rußlands, Englands und Frankreichs im August abgeschlossene Waffenstillstandsvertrag von M a l m ö bedurfte der Ratifikation durch die Reichszentralgewalt und die Nationalversammlung, die darüber in eine schwere Krise gerieten. A m E n d e beschloß das Parlament die Ratifikation. Sie löste den Aufstand radikaler Kräfte in Frankfurt aus, den österreichische, preußische und hessische Truppen niederschlugen, auf Ersuchen der Reichsregierung, welche den Belagerungszustand über die Stadt verhängte. Erneut erwies sich die O h n m a c h t der Paulskirche. Ihre realen Möglichkeiten zerrannen vollends, als im Spätjahr die militärisch betriebene Gegenrevolution zuerst in Wien, dann in Berlin endgültig siegte. So geriet denn auch der K a m p f u m die Reichsverfassung unter zunehmend ungünstigere Vorzeichen. A n seinem B e g i n n stand der „ E n t wurf des D e u t s c h e n Reichsgrundgesetzes, der D e u t s c h e n Bundesversammlung als Gutachten der siebzehn M ä n n e r des öffentlichen Vertrauens überreicht am 26. April 1 8 4 8 " . Dieser Siebzehnerentwurf bekannte 275
VIII. Achtzehnhundertachtundvierzig sich zur „Volks- und Staatseinheit" Deutschlands und kombinierte miteinander das monarchische, das föderative, das parlamentarisch-repräsentative und das rechtsstaatliche Prinzip. Alle späteren deutschen Gesamtstaatsverfassungen sind trotz vielfacher Modifikationen dem Grundkonzept dieses hauptsächlich auf Friedrich Christoph Dahlmann und Wilhelm Eduard Albrecht zurückgehenden Entwurfs verpflichtet. Er schlug ein durch Parlamentswahl geschaffenes Erbkaisertum an der Spitze eines Bundesstaates mit unitarischem Einschlag vor. Das Zweik a m m e r s y s t e m kannte neben dem Oberhaus, in w e l c h e m von den Landtagen w i e den Regierungen ernannte Reichsräte ein freies Mandat ausüben sollten, das Unterhaus mit v o m Volk nach allgemeinem Wahlrecht auf sechs Jahre gewählten Abgeordneten. Die Minister sollten die Gesetzmäßigkeit und Zweckmäßigkeit aller gegengezeichneten A k t e vor dem Parlament verantworten; ein Vertrauens- oder Mißtrauensvotum des Parlaments freilich sah der Entwurf nicht vor. Sein Grundrechtskatalog umfaßte die wichtigsten Aktivbürger- und Freiheitsrechte des Volkes. Der Siebzehnervorschlag blieb ohne unmittelbaren Erfolg, vornehmlich der Absage des preußischen Königs wegen. Immerhin w i r k t e das Modell in den späteren Verhandlungen fort. A m 24. M a i 1848 bestimmte das Parlament einen dreißigköpfigen Verfassungsausschuß unter den Vorsitzenden Friedrich Daniel Bassermann und M a x von Gagern, ehemaligen Siebzehnern. Es arbeiteten in diesem ständigen G r e m i u m unter anderen mit v o m rechten Zentrum der Greifswalder Rechtsgermanist Georg Beseler, Friedrich Christoph Dahlmann, der Kieler Geschichtsprofessor Johann Gustav Droysen und sein Göttinger Kollege Georg Waitz, der Freiburger Professor für Staatsrecht Karl Theodor Welcker; v o m linken Zentrum kamen der Heidelberger Kriminalist Karl Mittermaier und sein Fakultätskollege, der aus Stuttgart gebürtige Staatsrechtler Robert von Mohl, der dem Parlament die Geschäftsordnung gegeben hatte; die Linke vertrat der Verlagsbuchhändler Robert Blum, der sich im September — bereits tief entmutigt — in das rote W i e n begab, ein Kommando übernahm und nach der N i e d e r w e r f u n g der Demokraten durch Windischgrätz im November standrechtlich erschossen wurde. N o c h im Mai 1848 beschloß der Verfassungsausschuß, mit der Arbeit an den Grundrechten zu beginnen. Bereits im Juni leitete er dem Plenum einen Entwurf zu, der die Nationalversammlung ungefähr ein halbes Jahr lang beschäftigte. Kontrovers verliefen die anspruchsvollen Debatten vor allem zu den Fragen der Wirtschafts- und Sozialverfassung, ferner bei den kirchen- und schulrechtlichen Garantien. Schließlich verabschiedete das Frankfurter Parlament im Dezember 1848 den Grundrechtsteil der Reichsverfassung. Sie beschloß, die 276
2. Die Paulskirche Grundrechte sogleich und gesondert in Kraft zu setzen. D e m g e m ä ß fertigte der Reichsverweser unter Gegenzeichnung der Mitglieder des M i nisteriums H e i n r i c h von Gagern das „Gesetz betreffend die G r u n d rechte des deutschen Volkes" aus. M i t der Verkündung im Reichsgesetzblatt v o m 28. D e z e m b e r beanspruchte es unmittelbare Verbindlichkeit in R e i c h und Ländern. Als Abschnitt V I (§§ 1 3 0 - 1 8 9 ) fanden die G r u n d rechte später A u f n a h m e in die nie in Kraft getretene Verfassung des D e u t s c h e n Reiches v o m 28. M ä r z 1849. I m Zuge der R e a k t i o n h o b ein förmlicher Bundesbeschluß das Gesetz über die Grundrechte am 23. August 1851 wieder auf. D e n n o c h hat dieses grundlegende D o k u m e n t auf die Staatstheorie und das Rechtsempfinden des Volkes einen tiefen Einfluß ausgeübt. In mannigfacher F o r m und überall verbreitet, fanden die neuen Prinzipien des deutschen Rechtsstaats, von einem volksgewählten Nationalparlament niedergelegt, lebhaften Widerhall im Publikum. „ D i e Grundrechte, das heißt solche R e c h t e , welche nothwendig erachtet sind zur Begründung einer freien Existenz für jeden einzelnen deutschen Bürger, eines fröhlichen Aufblühens all der großen und kleinen Gemeinschaften innerhalb der deutschen G r e n z e n ; diese G r u n d rechte werden euch allen, jedem B ü r g e r und Bauer, wie jeder G e m e i n d e in Stadt und Land, zugesichert in der Weise, daß euer Landesherr und eure besonderen Landstände, wenn sie pflichtvergessen solche R e c h t e zu kränken versuchen sollten, davon abgemahnt werden durch die höchste Gewalt der deutschen N a t i o n , daran verhindert, wenn es N o t h thut, durch die Gesammtbürgschaft v o n 40 Millionen freier Deutschen. D e n n dieses sind die Grundrechte nicht der Sachsen oder der Hessen, nicht der Schwaben oder der Preußen, sondern des deutschen Volkes, welches jetzt z u m erstenmal vereinigt wird in eine rechtliche und staatliche Gemeinschaft, und zu dem regen Fleiße des Gewerbes, zu der B e triebsamkeit seiner Schiffer und Kaufleute, zu dem Adel der Wissenschaft und dem S c h m u c k e der Kunst j e t z t die höchste E h r e und das innigste B a n d der deutschen Freiheit und Staatsgemeinschaft sich hinzun i m m t . " So begann ein Anfang 1849 in hoher Auflage a n o n y m erschienenes B u c h über die Grundrechte, geschrieben von einem jungen Leipziger Professor, der bald als Meister der Altertumswissenschaft, als A u t o r einer monumentalen R ö m i s c h e n Geschichte und Literaturnobelpreisträger, als Herausgeber der Digesten Weltruhm gewann: von T h e o dor M o m m s e n . D i e A u f b r u c h s t i m m u n g des neuen Zeitalters, das Pathos der demokratischen Publizisten mögen n o c h die folgenden Sätze des kleinen M o m m s e n s c h e n G r u n d r e c h t e - K o m m e n t a r s für den Staatsbürger belegen: „Achtet diese Grundrechte hoch; aber vergeßt nicht, daß es nur R e c h t e sind, eitel Worte und Papier, wenn man sie nicht geltend macht. 277
VIII. Achtzehnhundertachtundvierzig Das ist eure Pflicht; es muß ein Jeder von Euch dafür w i r k s a m sein, daß diese Rechte zur That und Wirklichkeit werden. Von all den Lasten, welche die Thorheit und die N o t h früherer Geschlechter auf euch vererbt haben, von der polizeilichen Bevormundung durch den Staat, von den Fesseln, welche die Feudalknechtschaft dem Landmann, der Gew e r b s z w a n g dem Städter angelegt hat, von der Gewohnheit des blinden Gehorsams gegen den Herrn A m t m a n n und des albernen Respekts gegen den Herrn Grafen können euch eure Vertreter in Frankfurt nicht befreien; das müßt ihr selber thun . . . U n d nun lest und erwägt die einzelnen Beschlüsse, damit keiner sich ferner w a s einem derselben z u w i derläuft je gefallen lasse, sondern nach Bürgerpflicht, auch w e n n Gefahr dabei wäre, sich solchen Uebergriffen widersetze, im sichern Vertrauen auf den Beistand der deutschen Reichsgewalt und aller guten deutschen Bürger." Der Frankfurter Grundrechtskatalog bedeutete die Übernahme der in den westlichen Verfassungsstaaten bereits zur Tradition gewordenen Verbürgungen. Die miteinander verwandten Errungenschaften der amerikanischen und der französischen Revolution: die virginische Declaration of rights (1776) und die Declaration des droits de l ' h o m m e et du citoyen (1789) bildeten die Fundamente des bürgerlich-rechtsstaatlichen Zeitalters, die ihrerseits ältere gesetzliche Vorbilder und philosophische Wegbereiter besaßen. Die nordamerikanischen Grundrechte entwickelten die Ansätze der berühmten altenglischen Gesetze, der M a g n a Charta Libertatum (1215), der Petition of Rights (1628), der HabeasC o r p u s - A k t e (1679) und der Bill of Rights (1689) machtvoll und in dem neuen Geist weiter, den die Locke'sche Lehre, die Theorien Pufendorfs und die Ideen Montesquieus in Europa geschaffen und ausgebreitet hatten. In Deutschland schufen die Gesetzgeber des späten Naturrechts dem Bürger konstitutionelle Freiheiten. Hatten sich die verfassungsrechtlichen Garantien des Wiener Kongresses noch auf die Artikel 16 und 18 der Bundesakte beschränkt, so nahmen die z u m konstitutionellen System übergehenden Einzelstaaten ausführliche Grundrechtsverbürgungen in ihre Verfassungen auf, so Bayern und Baden 1818, W ü r t temberg 1819, Hessen-Darmstadt 1820, Kurhessen und Sachsen 1831. Festigung und Ausbau dieser Garantien zu einem umfassenden Freiheitsschutz des Bürgers bildeten ein Hauptziel der deutschen Bewegung von 1848. Die Frankfurter Verbürgungen befanden sich im Einklang mit den geistigen und sozialen Grundzügen einer Zeit, die sich von bürgerlicher Freiheits- und Rechtsgesinnung bestimmt zeigte. Sie nahmen auf, auch w a s Deutschland selbst an freiheitlichen Errungenschaften hervorgebracht und entfaltet hatte: durch die preußischen aufgeklärten Reformer 278
2. Die Paulskirche
und den süddeutschen Konstitutionalismus. Als maßgebender Berichterstatter des Verfassungsausschusses erklärte der Greifswalder Rechtsprofessor Beseler vor dem Plenum: „Wir wollen jetzt aus dem herauskommen, was uns der Polizeistaat der letzten Jahrhunderte gebracht hat. Wir wollen den Rechtsstaat auch für Deutschland begründen, und zwar in seiner Consequenz, oder so, wie die Natur unseres Volks — denn unser Volk ist ein Rechtsvolk — und die Bildung der Zeit es fordert. Es soll die Bevormundung entfernt werden, die von oben her auf Deutschland lastet". Die Grundrechte des deutschen Volkes durchzieht die bürgerliche Vorstellung des Gegensatzes von Staat und Gesellschaft als Bedingung der individuellen Freiheit. Indessen wollte der Grundrechtskatalog nicht nur die Privatsphäre des einzelnen vor dem Zugriff der Obrigkeit schützen — ein ebenso notwendiges wie sinnvolles Unterfangen —, sondern auch den Gegensatz selbst überwinden und die bürgerliche Gesellschaft in den Staat einfügen. Ein brennendes Problem der Zukunft aber, den Gegensatz von Kapital und Arbeit, hat der Grundrechtskatalog nicht gelöst, ja nicht einmal aufgegriffen — ungeachtet aller zeitgenössischen, auch parlamentarischen Diskussionen zur sozialen Frage. Der Gesetzgeber ging von der Einheit der bürgerlichen Gesellschaft aus, deren Rechte und Freiheiten volle Sicherheit dem Staate gegenüber finden sollten. Die sich bereits deutlich mehrende materielle und seelische Not der proletarischen Schicht im ausgreifenden Industriekapitalismus blieb ohne Niederschlag, die besondere Lage der Arbeiterklasse ohne Hilfe. Allein § 27 Abs. 2 (= § 157 Abs. 2 der Reichsverfassung) gedachte der sozial Schwachen: „Unbemittelten soll auf allen öffentlichen Unterrichtsanstalten freier Unterricht gewährt werden" — eine wichtige Regel, doch noch kein ausreichender Anfang zur gebotenen sozialstaatlichen Reform. Die Grundrechte des einzelnen Bürgers gewährleisteten die Freiheit der Person, des Denkens, des Glaubens und der Bildung sowie des Eigentums. Außerdem bot der Frankfurter Katalog institutionelle Garantien. Schließlich sollten die Grundrechte, wie der Vorspruch bestimmte (= § 130 der Reichsverfassung), „den Verfassungen der deutschen Einzelstaaten zur Norm dienen, und keine Verfassung oder Gesetzgebung eines deutschen Einzelstaates" sollte „dieselben je aufheben oder beschränken können". An der Spitze des Frankfurter Werkes standen das Reichsbürgerrecht und die Garantie der Freizügigkeit, des vollen Erwerbs- und Verfügungsrechts und der Gewerbefreiheit. Artikel II postulierte sodann die Gleichheit vor dem Gesetz: „Alle Standesvorrechte sind abgeschafft"; „Die öffentlichen Aemter sind für alle Befähigten gleich zugänglich"; 279
VIII. Achtzehnhundertachtundvierzig „Die Wehrpflicht ist für Alle gleich." Artikel III schützte die Freiheit der Person ausführlich und mit besonderem Nachdruck. Die Zulässigkeit der Verhaftung sollte vom Vorliegen eines richterlichen Haftbefehls abhängen, außer bei Festnahme auf frischer Tat. Jeder in Verwahrung Genommene w a r dem Richter innerhalb von vierundzwanzig Stunden vorzuführen. Abgeschafft w u r d e n die Todesstrafe grundsätzlich sowie Pranger, Brandmarkung und körperliche Züchtigung. Ferner garantierte dieser Artikel die Freiheit der Wohnung und das Briefgeheimnis. Die folgende Gruppe von Grundrechten befaßte sich mit dem Schutz der geistigen Freiheit der Reichsbürger: „Jeder Deutsche hat das Recht, durch Wort, Schrift, Druck und bildliche Darstellung seine Meinung frei zu äußern." Die Grundrechte schützten die Preßfreiheit gegen die Zensur, Preßvergehen wiesen sie den Schwurgerichten zu. Die Garantie des Petitionsrechts, der Versammlungs- und der Vereinsfreiheit stand damit in engem Zusammenhang. Das Verhältnis von Staat und Religion bestimmte ein Kompromiß, der für die Zukunft im ganzen Bestand behielt. Alle Deutschen sollten die volle Glaubens- und Gewissensfreiheit genießen, die bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte durch das Bekenntnis weder bedingt noch beschränkt werden. Neben der Autonomie und Freiheit der Kirchen sollte die Gleichheit der Religionsgemeinschaften stehen. Was die Bildungsverfassung betraf, so bestimmte der Katalog: „Die Wissenschaft und ihre Lehre ist frei." Das Erziehungswesen unterstellte er der Oberaufsicht des Staates; Privatschulen ließ er zu. „Für die Bildung der deutschen Jugend", so bestimmte das Grundgesetz, „soll durch öffentliche Schulen überall genügend gesorgt werden"; und: „Die öffentlichen Lehrer haben die Rechte der Staatsdiener." Neben der freien Bildung galt der freie Besitz als Grundlage der bürgerlichen Gesellschaft; neben der liberalen Bildungsverfassung stand darum die liberale Eigentumsordnung. „Das Eigentum ist unverletzlich. Eine Enteignung kann nur aus Rücksichten des gemeinen Besten, nur auf Grund eines Gesetzes und gegen gerechte Entschädigung vorgenommen werden", so begann Artikel IX — mit Enteignungsregeln, die sich bis in unsere Zeit behaupteten. N e b e n der Sicherung vor Eigentumsentziehungen verfügten die Grundrechte das Ende überlieferter Eigentumsbindungen. Die Untertänigkeits- und Hörigkeitsverbände, die Patrimonialgerichtsbarkeit, die grundherrliche Polizei und andere Feudalrechte erklärten sie für aufgehoben, Zehnten und andere Grundlasten für ablösbar. Die abschließenden Artikel des Katalogs beinhalteten Gewährleistungen, die wesentliche staatliche Institutionen — Gerichtsbarkeit, Kommunalverwaltung, Landesverfassungen und Landesvolksvertretungen —, 280
2. Die Paulskirche auch die nationalen Minderheiten sicherten. Diese institutionellen Garantien verbürgten besonders eingehend die Unabhängigkeit der Rechtspflege. Als alleiniger Träger der Gerichtsbarkeit erscheint der Staat. „Die richterliche Gewalt w i r d selbständig von den Gerichten geübt. Cabinetts- und Ministerialjustiz ist unstatthaft." Zur Gewähr der U n a b h ä n gigkeit dient der Satz: „Kein Richter darf, außer durch Urtheil und Recht, von seinem A m t entfernt, oder an Rang und Gehalt beeinträchtigt werden." Das öffentliche und mündliche Gerichtsverfahren soll überall den geheimen und schriftlichen Prozeß ersetzen. In Strafsachen gilt nicht mehr das Inquisitionsverfahren, sondern — nach dem Vorbild des französischen code d'instruction criminelle von 1808 — der die Position des Angeklagten entscheidend verbessernde Anklageprozeß. Jedenfalls in schweren Strafsachen und bei allen politischen Vergehen sollen Schwurgerichte urteilen, ebenso — im Interesse der Meinungsfreiheit, w i e gesagt — über Preßvergehen. Das Schwurgericht, ein Lieblingspostulat der Liberalen, gilt als Bürgschaft der Freiheit, als Schutzwehr des Volks gegen Beamtenwillkür und politische Pression, wie sie sich bei den Demagogenverfolgungen betätigt hatte. Der Lübecker Germanistentag hatte das Schwurgericht außerdem als eine dem deutschen Geist entsprechende Einrichtung gepriesen. Die v o m Nationalparlament verlangte Reform der Strafrechtspflege mit Schwurgerichten und Staatsanwaltschaften, mit öffentlichem und mündlichem Akkusationsprozeß, ist nach 1848 schnell in den meisten deutschen Staaten durchgeführt worden. Weiter verfolgen die institutionellen Garantien der Frankfurter Paulskirche den Grundsatz der Gewaltenteilung: „Rechtspflege und Verwaltung sollen getrennt und voneinander unabhängig seyn." U b e r Kompetenzkonflikte soll ein Gericht entscheiden, außerdem die Verwaltungsrechtspflege nach A r t der älteren Kameralgerichtsbarkeit aufhören: damit ist der Rechtsstaat im Sinne des Justizstaats proklamiert. Der Streit zwischen den Reichsinstanzen und den größeren Einzelstaaten u m die Verbindlichkeit des Grundrechtsgesetzes v o m 27. Dezember 1848 zeigte aufs neue die Machtlosigkeit der Zentralgewalt. Wertvolle Monate w a r e n über der Grundrechtsdebatte ins Land gegangen, ohne daß die drängenden verfassungsorganisatorischen Probleme des Reichsoberhaupts, des Reichsgebiets, des Wahlsystems entschieden und durchgesetzt w o r d e n wären. Mittlerweile erholten sich Osterreich und W i e n von der Schwäche des M ä r z 1848. Die Verfassungsberatungen des Nationalparlaments verliefen wegen der österreichischen Frage überaus schwierig. Das Kaisertum Osterreich setzte sich z u m größeren Teil aus nichtdeutschen Ländern zusammen. Die Wiener Regierung bestand auf der Einheit der Monarchie und erschwerte so die — w i e sie hieß — großdeutsche Lösung: den Anschluß 281
VIII. Achtzehnhundertachtundvierzig der z u m Deutschen Bund gehörenden österreichischen Gebiete an das Reich. Weder eine kleindeutsche Lösung ohne Deutsch-Österreich noch ein Siebzigmillionenreich mit der viele Völker umspannenden österreichischen Gesamtmonarchie entsprach dem Nationalstaatsgedanken. A m Ende setzte sich im Parlament angesichts des Wiener Widerstandes unter Schwarzenberg die kleindeutsch-erbkaiserliche Partei durch. A m 27. M ä r z 1849 nahm die Nationalversammlung die Reichsverfassung an. Diese deklarierte z w a r alle z u m Deutschen Bund gehörenden Gebiete als Teile des Reiches, ging aber andererseits von der einstweiligen Nichtteilnahme der deutsch-österreichischen Lande am Reichstag aus (§§ 1> 87 Abs. 2 der Reichs Verfassung). Sie ordnete das Deutsche Reich als konstitutionellen Bundesstaat mit Ministerverantwortlichkeit, doch ohne ausdrücklich das parlamentarische System einzuführen. Die Verfassung gliederte den Reichstag in zwei Kammern, das föderative Staatenhaus und das unitarisch-demokratische Volkshaus. N a c h dem fortschrittlichen Reichswahlgesetz vom 12. April 1849 galt für die Wahl der Mitglieder des Volkshauses das allgemeine, gleiche, geheime und unmittelbare Wahlrecht. Wegen des Scheiterns der Reichsverfassung blieb auch das Wahlgesetz zunächst ohne praktische Bedeutung. Doch 1866 übernahm es Bismarck für den konstituierenden Reichstag des N o r d deutschen Bundes; seine Prinzipien galten im Reich bis z u m U m s t u r z 1918. A m 28. M ä r z wählte das Frankfurter Parlament schließlich den König von Preußen z u m deutschen Kaiser. N a c h d e m Friedrich Wilhelm IV. die Kaiserkrone definitiv abgelehnt und ebenso endgültig die Reichsverfassung selbst verworfen hatte und nachdem viele Abgeordnete durch rechtswidrige A k t e der Landesregierungen ihrer Mandate enthoben waren, zerfiel das Nationalparlament. Damit w a r ein großer Versuch fürs erste gescheitert. Osterreichische und preußische Truppen, die noch seit dem September-Aufstand im Gebiet der Freien Stadt standen, bedrohten die Restversammlung, deren radikale Mehrheit am 30.5.1849 beschloß, nach Stuttgart auszuweichen, u m dort eine provisorische Reichsregentschaft einzurichten: A k t einer neuen Revolution, die z u m Scheitern verurteilt war. A m 18.6. zersprengten württembergische Truppen den stummen Zug der Abgeordneten durch die Stadt, an ihrer Spitze der Gelehrte, Volksfreund, Dichter und Politiker Ludwig Uhland, aus Tübingen. M i t einer letzten Sitzung von 98 Abgeordneten in einem Stuttgarter Hotel fand die deutsche Nationalversammlung ihr unverdientes Ende. Zurück ließ sie die Opfer unter den Radikalen. Viele Demokraten und Republikaner gingen ins Exil, wanderten aus in die Schweiz, in die U S A . Andererseits kehrten zahlreiche Liberale noch vor Ablauf nur 282
3. Industrielle Revolution und Kommunistisches Manifest z w e i e r J a h r z e h n t e in die deutsche Politik i m Zeichen Bismarcks zurück, u m am A u f b a u des kleindeutschen konstitutionellen Bundesstaates u n ter Vormacht der preußischen Krone m i t z u w i r k e n . Dabei blieb das Werk der Paulskirche w i e später 1918/19 u n d 1949 in v i e l e m Vorbild u n d M a ß s t a b . D a ß die beiden deutschen D i k t a t u r e n i m abgründigen 20. J a h r h u n d e r t , die nationalsozialistische u n d die kommunistische, das rechtsstaatliche Erbe der Paulskirche verraten u n d niedertreten konnten, gehört zu den verhängnisvollsten u n d bösesten Kapiteln unserer Geschichte.
3. Industrielle
Revolution
und Kommunistisches
Manifest
ABEL, Wilhelm: Massenarmut und Hungerkrisen im vorindustriellen Deutschland, 3 1986 = Kl. Vandenhoeck-Reihe 1352; ADLER, Max: Die Staatsauffassung des Marxismus. Ein Beitrag zur Unterscheidung von soziologischer und juristischer Methode, 1922 (Nachdr. 1973); ANGEHRN, Emil u. LOHMANN, Georg: Ethik und Marx. Moralkritik und normative Grundlagen der Marxschen Theorie, 1986; BARION, Jakob: Hegel und die marxistische Staatslehre, 2 1970; BECKER, Martin: Arbeitsvertrag und Arbeitsverhältnis in Deutschland. Vom Beginn der Industrialisierung bis zum Ende des Kaiserreichs, 1995; BENÖHR, Hans-Peter: Soziale Frage, Sozialversicherung und sozialdemokratische R e i c h s t a g s f r a k t i o n ( 1 8 8 1 - 1 8 8 9 ) , i n : Z R G , G A , 9 8 , 1 9 8 1 , 9 5 - 1 5 6 ; BERNSTEIN,
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VIII. Achtzehnhundertachtundvierzig mus, in: Massenwahn in Geschichte und Gegenwart, ein Tagungsbericht, hg. v. W i l h e l m BITTER, 1 9 6 5 , 6 8 - 8 2 ; TREUE, W i l h e l m , PÖNICKE, H e r b e r t u . MANE-
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Geschrieben im Dezember 1847 und Januar 1848 gemeinsam von Karl M a r x und Friedrich Engels, erschien das Manifest der K o m m u n i stischen Partei erstmals als dreiundzwanzigseitige Ausgabe im Februar 1848 zu London. Diese überzeugungskräftige, trotz ihrer verwickelten Gedankengänge w i e aus einem Guß wirkende Kampfschrift enthält das Wesen des Marxismus. Sie lieferte der proletarischen Arbeiterbewegung, w a s diese bis dahin entbehrte: eine umfassende Theorie des Umsturzes, eine wissenschaftliche Lehre von der sozialen Revolution. Immer erneut verteidigt, ökonomisch unterbaut, veranschaulicht und angewandt, eroberte sich die von dieser Flugschrift ausgehende doktrinäre Botschaft die halbe Welt. „Von keinem politischen Pamphlet ist jemals eine stärkere politische W i r k u n g ausgegangen. Unzählige Menschen in aller Welt, die unter Ausbeutung und Unterdrückung litten, haben daraus die Zuversicht geschöpft, ihre Befreiung werde das Werk ihrer selbst und ihresgleichen sein" (Walter Euchner). Engels hat den Kern im Vorwort zur deutschen Ausgabe von 1883 folgendermaßen umrissen und ihn zugleich dem größeren Mitstreiter zugerechnet: „Der durchgehende Grundgedanke des .Manifestes': daß die ökonomische Produktion und die aus ihr mit N o t w e n d i g k e i t folgende gesellschaftliche Gliederung einer jeden Geschichtsepoche die Grundlage bildet für die politische und intellektuelle Geschichte dieser Epoche; daß demgemäß (seit Auflösung des uralten Gemeinbesitzes an Grund und Boden) die ganze Geschichte eine Geschichte von Klassenkämpfen gewesen ist, Kämpfen zwischen ausgebeuteten und ausbeutenden, beherrschten und beherrschenden Klassen auf verschiedenen Stufen der gesellschaftlichen Entwicklung; daß dieser Kampf aber jetzt eine Stufe erreicht hat, w o die ausgebeutete und unterdrückte Klasse (das Proletariat) sich nicht mehr von der sie ausbeutenden und unterdrückenden Klasse (der Bourgeoisie) befreien kann, ohne zugleich die ganze Gesellschaft für immer von Ausbeutung, Unterdrückung und Klassenkämpfen zu befreien — dieser Grundgedanke gehört einzig und ausschließlich M a r x an." Das Kommunistische Manifest enthält die Quintessenz des Marx-Engelsschen Frühwerks. Beide Autoren — der willensstarke Theoretiker 286
3. Industrielle Revolution und Kommunistisches Manifest mit dem unbeugsamen Ausschließlichkeitsanspruch und sein selbstloser, verbindlicher Mitstreiter, der die praktische Anschauung der sozialen Mißstände und der Ö k o n o m i e vermittelte — w a r e n Söhne des 19. Jahrhunderts, in welchem, w i e schon Zeitgenossen notierten, der Sozialismus aus einer Utopie zur politischen Realität wurde. Sie schufen Neues und verdankten doch viel ihren Vorläufern, den Philosophen und Intellektuellen ihrer Zeit, mit denen sie stritten und die sie zu überwinden suchten. Die irreversible Wirklichkeit der industriellen Revolution mit ihren gewaltigen gesellschaftlichen U m b r ü c h e n und Krisen bot der neuen Lehre eine fruchtbare Grundlage und ein unbegrenztes Wirkungsfeld. Die Durchschlagskraft des kommunistischen Programms beruhte zu einem guten Teil auf dem Pathos seiner Anklage, das die rücksichtslose Ausbeutung und — als ihr Gegenstück — das furchtbare Elend und die Sklaverei des Industrieproletariats anprangerte. Insofern jedenfalls blieb das Manifest als echtes Zeugnis von allen Einwänden unberührt. Zwar hatten Massenarmut und Hungerkrisen bereits das vorindustrielle Deutschland heimgesucht, und gewiß verursachte das aufkommende Maschinenwesen den Pauperismus des Vormärz nur z u m Teil, indessen gewann die soziale Frage im Zeitalter der städtischen maschinellen Lohnarbeit eine ganz neue Dimension. Die Technik begann, die Welt tiefgreifend zu verändern: „C'est une revolution toute entiere, c'est le 1789 du commerce et de l'industrie" (so Alphonse de Lamartine 1836 in der Deputiertenkammer). Die industrielle Revolution, ein Ereignis der Städte und der verstädternden Landwirtschaft, begann in England mit seinen nordamerikanischen Kolonien, dann in Frankreich, u m in der Folge die anderen west- und mitteleuropäischen Länder zu erreichen. Sie ließ überall dort begünstigte Regionen zu dynamischen urbanisierten Wirtschaftslandschaften aufwachsen, w o Bodenschätze, Wasserkraft, Verkehrswege, Arbeitskräfte und unternehmerische Findigkeit und Initiative zu Gebote standen. Das Rheinland und Westfalen, Schlesien und Sachsen, dann Berlin verfügten bereits in den vierziger Jahren über eine hochentwickelte, leistungsfähige industrielle Produktion. Das Fabriksystem kombinierte in technischer Hinsicht den maschinellen Betrieb mit der Massenarbeitskraft; ökonomisch charakterisierte es die kapitalistische Unternehmensleitung. Dieses System erweiterte nicht nur die Gewinnchancen des Fabrikanten, sondern auch die Wirksamkeit des Staates — trotz der Grenzen, die ihm konstitutionelle Verfassung und Gesetz zogen. Die wachsende Produktion und Population, ein ungemein verdichteter und beschleunigter Güter- und Personenverkehr, neuartige Nachrichtenmittel und — nicht zuletzt — die Maschinisierung des Militärwesens gaben dem Staat eine Fülle ökonomischer und tech287
VIII. Achtzehnhundertachtundvierzig nischer Machtmittel in die H a n d und steigerten die Abhängigkeit des Staatsbürgers. Einschneidender als der ökonomische und politische Wandel freilich w i r k t e der soziale U m s t u r z , die Existenz eines schnell wachsenden Proletariats besitzloser Arbeiter. Die Herren der maschinellen Betriebsanlagen gewannen eine k a u m mehr begrenzte Macht über die Masse der Besitzlosen, die bei einer Uberzahl an Arbeitskräften und fehlendem Kündigungsschutz fast beliebig auswechselbar blieben. Die Ausbeutung ihrer Arbeitskraft lag dabei in der N a t u r der frühindustriellen Wirtschaft mit ihrem ungehemmten Wettbewerb: das unternehmerische Gebot der Kostenersparnis drückte unerbittlich auf den Lohn, der k a u m das Existenzminimum des Arbeiters und seiner oft genug mitschaffenden Kinder deckte. Gleichwohl entwickelten die Fabrikorte mit ihren städtisch-zivilisatorischen Verlockungen einen mächtigen Sog, der die Zuwanderer in wachsenden Zahlen anzog und sie vielfach von einem Elend in das andere stürzte. „Die Bourgeoisie, w o sie zur Herrschaft gekommen", so beschreibt das Kommunistische Manifest den gesamten Prozeß, „hat alle feudalen, patriarchalischen, idyllischen Verhältnisse zerstört. Sie hat die buntscheckigen Feudalbande, die den Menschen an seinen natürlichen Vorgesetzten knüpften, unbarmherzig zerrissen und kein anderes Band z w i schen Mensch und Mensch übriggelassen, als das nackte Interesse, als die gefühllose ,bare Zahlung'. . . . Die Bourgeoisie kann nicht existieren, ohne die Produktionsinstrumente, also die Produktionsverhältnisse, also sämtliche gesellschaftlichen Verhältnisse fortwährend zu revolutionieren. . . . Die fortwährende U m w ä l z u n g der Produktion, die ununterbrochene Erschütterung aller gesellschaftlichen Zustände, die ewige Unsicherheit und Bewegung zeichnet die Bourgeoisepoche vor allen früheren aus. . . . Die Bourgeoisie hat durch die Exploitation des Weltmarkts die P r o d u k tion und Konsumtion aller Länder kosmopolitisch gestaltet. . . . Die Bourgeoisie reißt durch die rasche Verbesserung aller Produktionsinstrumente, durch die unendlich erleichterten Kommunikationen alle, auch die barbarischsten Nationen in die Zivilisation. . . . Die Bourgeoisie hat das Land der Herrschaft der Stadt unterworfen. . . . Die Bourgeoisie hebt mehr und mehr die Zersplitterung der Produktionsmittel, des Besitzes und der Bevölkerung auf. Sie hat die Bevölkerung agglomeriert, die Produktionsmittel zentralisiert und das Eigentum in wenigen H ä n den konzentriert. Die notwendige Folge hievon w a r die politische Zentralisation. . . . Die Bourgeoisie hat in ihrer k a u m hundertjährigen Klassenherrschaft massenhaftere und kolossalere Produktionskräfte geschaffen als alle vergangenen Generationen zusammen. Unterjochung der Naturkräfte, Maschinerie, A n w e n d u n g der Chemie auf Industrie und Ackerbau, Dampfschiffahrt, Eisenbahnen, elektrische Telegraphen, Ur288
3. Industrielle Revolution und Kommunistisches Manifest barmachung ganzer Weltteile, Schiffbarmachung der Flüsse, ganze aus dem Boden hervorgestampfte Bevölkerungen — welch früheres Jahrhundert ahnte, daß solche Produktionskräfte im Schoß der gesellschaftlichen Arbeit schlummerten . . . " Das Manifest blieb bei seiner rhetorisch bestechenden A n a l y s e nicht stehen, sondern entwickelte daraus ein revolutionäres politisches Programm, das trotz seiner Originalität das vorläufig letzte Stück in der Tradition kommunistischer Pläne bildete. Solche hatten sich in der A n tike, im Mittelalter und zu Beginn der Neuzeit immer wieder gemeldet, ohne doch je über meist als abschreckend empfundene Versuche hinaus gediehen zu sein. Das Gleichheitsprinzip der Französischen Revolution trug kleinbürgerlichen, nicht proletarischen Charakter. F r a n c i s Noel Babeuf, der als Grundbuch-Kommissar das Elend des abhängigen Landvolks kennengelernt und 1796 die „Verschwörung der Gleichen" gewagt hatte, ein Komplott für die völlige Gleichheit auch bei der Arbeit und dem Genuß der erzeugten Güter, endete auf der Guillotine. Doch seine von dem Mitverschwörer Philippe Buonarroti überlieferte Lehre w i r k t e als Zündstoff weiter. In der revolutionären Atmosphäre Frankreichs entwickelten sich weitere frühsozialistische Doktrinen, begünstigt von dem sich ausbreitenden Bewußtsein der sozialen Krise, das den Fortschrittsglauben der industriellen Revolution zerstörte. Die von Saint-Armand Bazard und Barthelemy-Prosper Enfantin ausgearbeitete Lehre von Claude Henri de Saint-Simon, eine „industrielle Religion" mit z u m Teil noch dehnbaren und dem Liberalismus verwandten Vorstellungen, kannte bereits Sätze w i e die folgenden: „Dauerhafte, legitime und dem Gedenken der Menschheit w ü r d i g e Revolutionen sind nur solche, die das Los der zahlreichsten Klasse verbessern; alle, die bis jetzt diesen Charakter trugen, ließen stets die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen geringer werden: Heute kann nur noch eine einzige stattfinden, die die Herzen begeistern und sie mit einem unverlierbaren Dankgefühl zu durchdringen vermag: die Revolution, die dieser Ausbeutung, bis in ihre Wurzeln hinein gottlos geworden, vollständig und in allen ihren Formen ein Ende setzt. Diese Revolution ist nun unvermeidbar geworden . . . " (1829). Zu den genialen Frühsozialisten zählte Charles Fourier, dessen scharfsichtige Gesellschaftskritik insbesondere den Geschlechtsbeziehungen galt und dessen eigenwillige Assoziationspläne („Phalangen", „industrielle A r m e e n " ) die Weltharmonie herstellen sollten. Mit dem aus N o r d w a l e s gebürtigen Robert O w e n , einem praktischen Utopisten, gewann die frühsozialistische Bewegung einen Mann, dessen vielfältige Unternehmungen eine breite öffentliche Aufmerksamkeit fanden. Als Leiter der Fabrik N e w Lanark schuf er ein Vorbild arbeitgeberischer Fürsorge, als Politiker er289
VIII. Achtzehnhundertachtundvierzig k ä m p f t e er die A n f ä n g e einer Arbeiterschutzgesetzgebung. Sein 1825 mit der Siedlung N e w H a r m o n y zu Indiana u n t e r n o m m e n e s Experiment eines k o m m u n i s t i s c h e n Gemeinwesens freilich scheiterte nach einigen Jahren. A u c h der aus Dijon s t a m m e n d e R e c h t s a n w a l t Etienne Gäbet, der in seinem erfolgreichen R o m a n „Die Reise nach Ikarien" (1839) das detaillierte Bild einer gleichheitlich-kommunistischen Gesellschaft e n t w o r f e n hatte, versuchte sich mit einer sozialistischen Kolonie in N o r d a m e r i k a . Pierre-Joseph P r o u d h o n erfand als A n t w o r t auf die Titelfrage seiner Schrift „Qu'est-ce que la propriete" (1840) das z ü n d e n d e S c h l a g w o r t : „Eigentum ist Diebstahl", w o m i t er vor allem das Kapital g e w o r d e n e E i g e n t u m treffen wollte. D e r populäre L o u i s Blanc endlich forderte in seiner P r o g r a m m s c h r i f t „Organisation du travail" (1840) als Gegner der freien, in seinen A u g e n ruinösen K o n k u r r e n z die G r ü n d u n g von Produktivgenossenschaften der Arbeiter mit staatlichem Kredit u n d als Voraussetzung dafür das allgemeine Wahlrecht. Sein S y s t e m der A s soziation ließ den Staat nur noch als endliches Mittel z u m Z w e c k erscheinen; die Genossenschaft sollte den M e n s c h e n aus der v o m Elend diktierten, w e s e n s f r e m d e n A b h ä n g i g k e i t befreien. Alle diese Ideen der Frühsozialisten beschäftigten die G e m ü t e r stark. 1842 sah H e i n r i c h H e i n e von Paris aus gewaltige U m b r ü c h e bevorstehen, den großen übernationalen Z w e i k a m p f der Besitzlosen mit der Aristokratie des Besitzes. Bald darauf traf der junge D o k t o r der Philosophie Karl M a r x in der französischen H a u p t s t a d t ein, u m sich dort in w e n i g e n J a h r e n z u m großen Verkünder der proletarischen R e v o l u t i o n zu entwickeln. Karl M a r x (1818-1883) entstammte einer bürgerlichen, stark in der Tradition der hebräischen Glaubens- u n d Lebenswelt v e r w u r z e l t e n j ü d i schen Familie in Trier, das seit 1814/15 z u m Königreich P r e u ß e n gehörte. Sein Vater, ein strebsamer Rechtsanwalt, bekannte sich, u m seinen Advokatenberuf w e i t e r h i n ausüben zu können, schließlich z u m evangelischen C h r i s t e n t u m u n d ließ später auch F r a u u n d Kinder k o n vertieren. D e r j u n g e M a r x bezog 1835 die Universität Bonn, u m mit d e m R e c h t s s t u d i u m zu beginnen u n d bald auch anderes, vor allem Kollegs über Poesie bei A u g u s t W i l h e l m von Schlegel, zu hören. N o c h in B o n n verlobte er sich mit der Tochter eines hohen J u s t i z b e a m t e n , J e n n y von Westphalen. Im H e r b s t 1836 zog M a r x an die Universität Berlin, w o in der Juristischen Fakultät Friedrich C a r l von Savigny, das H a u p t der historischen Rechtsschule, u n d dessen Gegner, der H e g e l i a n e r E d u a r d Gans, lehrten. Gans ist bekannt g e w o r d e n durch sein vierbändiges Werk ü b e r „Das Erbrecht in weltgeschichtlicher E n t w i c k l u n g " (1824-35, N a c h d r u c k 1963). D a n e b e n betätigte er ein w a c h e s Interesse für die soziale Frage seiner Zeit, deren Gewicht i h m in Frankreich vor A u g e n getreten war. Gans setzte sich in seinem A u f s a t z „Paris i m J a h r e 290
3. Industrielle Revolution und Kommunistisches Manifest 1830" skeptisch mit dem Saint-Simonismus auseinander, wobei er dessen Gesellschaftskritik freilich positiv beurteilte und bemerkte, die zukünftige Historiographie werde „mehr wie einmal von dem Kampfe der Proletarier gegen die mittleren Klassen der Gesellschaft zu sprechen haben". Das Mittelalter habe, so Gans, mit seinen Zünften eine organische Einrichtung für die Arbeit besessen, die nun zerstört sei: „Aber sollte die jetzt freigelassene Arbeit aus der Korporation in die Despotie, aus der Herrschaft der Meister in die Herrschaft der Fabrikherren verfallen?" Klassenkampf und Vergesellschaftung (freie Korporation) — gängige Begriffe der französischen Literaten — erschienen nun auch im Repertoire von Gans. Zu Berlin geriet M a r x in den Bannkreis der Hegeischen Dialektik und der junghegelschen Linken, deren Ausgangspunkt das praktische Bedürfnis der sozialen und politischen, überhaupt der zeitgeschichtlichen Verhältnisse bildete. Die Linkshegelianer wirkten als freie Schriftsteller in materiell brüchiger Existenz unter beständiger Abhängigkeit von Gönnern und Verlegern, P u b l i k u m und Zensoren — eine w a g e m u tige Lebensweise, die Karl M a r x alsbald und dann fast zeitlebens teilte. Die theoretische Einsicht durch praktisches Wollen zur geschichtlichen Existenz zu bringen, dies hielten sie für die Aufgabe der Philosophie. Ihre Manifeste, Programme und Thesen dienten einem kritischen A k t i vismus und der „Veränderung", nicht allein der Interpretation der Welt. „Die prinzipielle und revolutionäre Bedeutung von M a r x beschränkt sich nicht darauf, daß er Hegel vom ,Kopf' auf die ,Füße' stellte und den metaphysischen Historismus in historischen Materialismus verkehrte; sie liegt vielmehr darin, daß M a r x die Philosophie als solche ,aufhob', indem er sie v e r w i r k l i c h e n ' wollte. Diese A u f h e b u n g der Philosophie erfolgte z w a r programmatisch durch Marx, aber vorbereitet und sekundiert von L u d w i g Feuerbach und M a x Stirner, Arnold R ü g e und Moses Hess, Bruno Bauer und Sören Kierkegaard. Sie alle sind, mit dem Titel eines Aufsatzes von Hess über Stirner und Bauer gesagt, die ,letzten Philosophen', weil sie nach der letzten, alles bisher Geschehene und Gedachte umfassenden und es durchdringenden Weltphilosophie eines Hegel am äußersten Rand einer mehr als zweitausendjährigen Uberlieferung stehen, die von Piaton bis zu Hegel den Begriff der Philosophie bestimmt hat" (Karl Löwith). N a c h d e m M a r x 1841 mit einer Dissertation über die „Differenz der demokritischen und epikureischen Naturphilosophie" den philosophischen Doktorgrad der Universität Jena ,in absentia' erworben und sich danach die Aussicht auf eine Habilitation in Bonn zerschlagen hatte, trat der junge Gelehrte im folgenden J a h r als Publizist in den Dienst der liberalen „Rheinischen Zeitung" zu Köln, die der radikale Hegelianer 291
VIII. Achtzehnhundertachtundvierzig Moses Hess mitbegründet hatte. M a r x schrieb hier unter anderem ätzende Artikel zu den Düsseldorfer Landtagsdebatten über die Pressefreiheit und das Holzdiebstahlsgesetz, bei welchem er entschieden Partei für die ärmeren Volksklassen ergriff. Es klang nach Proudhon, w e n n M a r x ausführte: „Wenn jede Verletzung des Eigentums Diebstahl ist, w ä r e nicht alles Privateigentum Diebstahl? schließe ich nicht durch mein Privateigentum jeden Dritten von diesem Eigentum aus? verletze ich also nicht sein Eigentumsrecht?" Der A u t o r verfocht ein „Gewohnheitsrecht der A r m u t in allen Ländern", dessen Form u m so naturgemäßer sei, „als das Dasein der armen Klasse selbst bisher eine bloße Gewohnheit der bürgerlichen Gesellschaft ist, die in dem Kreis der bew u ß t e n Staatsgliederung noch keine angemessene Stelle gefunden hat". N a c h dem Verbot der Rheinischen Zeitung schrieb M a r x w ä h r e n d des Sommers 1843 in Kreuznach seine Kritik des Hegeischen Staatsrechts. „Hegel geht v o m Staat aus und macht den Menschen z u m versubjektivierten Staat; die Demokratie geht v o m Menschen aus und macht den Staat z u m verobjektivierten Menschen. W i e die Religion nicht den M e n schen, sondern wie der Mensch die Religion schafft, so schafft nicht die Verfassung das Volk, sondern das Volk die Verfassung. . . . So ist die Demokratie das Wesen aller Staatsverfassung, der sozialisierte Mensch, als eine besondre Staatsverfassung. . . . Die Demokratie verhält sich zu allen übrigen Staatsformen als ihrem alten Testament. Der Mensch ist nicht des Gesetzes, sondern das Gesetz ist des Menschen w e g e n da, es ist menschliches Dasein, während in den andern der Mensch das gesetzliche Dasein ist." Im Herbst desselben Jahres zog M a r x mit seiner Frau J e n n y nach Paris, u m an den „Deutsch-Französischen Jahrbüchern" des streitbaren Arnold R ü g e mitzuwirken. In dem haßerfüllten Artikel „Zur Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie, Einleitung" schmetterte M a r x sein „Krieg den deutschen Zuständen!" und appellierte an das Proletariat als den Träger einer kommunistischen Revolution: „In Deutschland kann keine Art der Knechtschaft gebrochen werden, ohne jede A r t der Knechtschaft zu brechen. Das gründliche Deutschland kann nicht revolutionieren, ohne von Grund aus zu revolutionieren. Die Emanzipation des Deutschen ist die Emanzipation des Menschen. Der Kopf dieser Emanzipation ist die Philosophie, ihr H e r z das Proletariat. Die Philosophie kann sich nicht verwirklichen ohne die A u f h e b u n g des Proletariats, das Proletariat kann sich nicht aufheben ohne die Verwirklichung der Philosophie." U n d gegen die historische Rechtsschule gerichtet fährt er fort: „Ja, die deutsche Geschichte schmeichelt sich einer Bewegung, welche ihr kein Volk am historischen H i m m e l weder vorgemacht hat oder nachmachen w i r d . W i r haben nämlich die Restauration der modernen Völker geteilt, ohne ihre Revolutionen zu teilen. . . . Eine Schule, 292
3. Industrielle Revolution und Kommunistisches Manifest
welche die Niederträchtigkeit von heute durch die Niederträchtigkeit von gestern legitimiert, eine Schule, die jeden Schrei der Leibeigenen gegen die Knute für rebellisch erklärt, sobald die Knute eine bejahrte, eine angestammte, eine historische Knute ist, eine Schule, der die Geschichte, wie der Gott Israels seinem Diener Moses, nur ihr α posteriori zeigt, die historische Rechtsschule, sie hätte daher die Geschichte erfunden, wäre sie nicht eine Erfindung der deutschen Geschichte." Nach dem alsbaldigen Ende der Jahrbücher arbeitete Marx, auf sich gestellt, seine Ideen aus und schuf ihnen den wirtschaftswissenschaftlichen Unterbau in seinen aufschlußreichen, 1844 in Paris niedergeschriebenen (erst 1932 gedruckten) vier Fragmenten, den ökonomisch-philosophischen Manuskripten. Das Werk befaßt sich wesentlich mit dem Verhältnis von Kapital und Arbeit. „Aus der Nationalökonomie selbst, mit ihren eigenen Worten, haben wir gezeigt" schreibt Marx am Beginn des Abschnitts über die entfremdete Arbeit, „daß der Arbeiter zur Ware und zur elendsten Ware herabsinkt, daß das Elend des Arbeiters im umgekehrten Verhältnis zur Macht und zur Größe seiner Produktion steht, daß das notwendige Resultat der Konkurrenz die Akkumulation des Kapitals in wenigen Händen, also die fürchterlichere Wiederherstellung des Monopols ist, daß endlich der Unterschied von Kapitalist und Grundrentner verschwindet und die ganze Gesellschaft in die beiden Klassen der Eigentümer und der eigentumslosen Arbeiter zerfallen muß." Der Arbeiter werde um so ärmer, je mehr Reichtum er produziere. Die Arbeit produziere nicht nur Waren, sondern sich selbst und den Arbeiter als eine Ware. „Der Gegenstand, den die Arbeit produziert, ihr Produkt, tritt ihr als ein fremdes Wesen, als eine von dem Produzenten unabhängige Macht gegenüber. Das Produkt der Arbeit ist die Arbeit, die sich in einem Gegenstand fixiert, sachlich gemacht hat, es ist die Vergegenständlichung der Arbeit. Die Verwirklichung der Arbeit ist ihre Vergegenständlichung. Diese Verwirklichung erscheint in dem nationalökonomischen Zustand als Entwirklichung des Arbeiters, die Vergegenständlichung als Verlust und Knechtschaft des Gegenstandes, die Aneignung als Entfremdung, als Entäußerung." Doch lag die Entfremdung allein in der Wirtschaftsstruktur des Kapitalismus begründet? Beruhte sie nicht auf der Differenziertheit der modernen arbeitsteiligen Produktionsprozesse? Die Frage blieb offen. Philosophisch-unwirklich erscheint auch das als Alternative gebotene Bild des Kommunismus: „Der Kommunismus als positive Aufhebung des Privateigentums als menschlicher Selbstentfremdung und darum als wirkliche Aneignung des menschlichen Wesens durch und für den Menschen; darum als vollständige, bewußt und innerhalb des ganzen Reichtums der bisherigen
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VIII. Achtzehnhundertachtundvierzig Entwicklung gewordene Rückkehr des Menschen für sich als eines gesellschaftlichen, d.h. menschlichen Menschen." Das Jahr 1844 brachte für M a r x den Anfang einer lebenslangen Freundschaft mit Friedrich Engels (1820-1895), dem Barmener Fabrikantensohn, der sich — gleichfalls von den Linkshegelianern beeinflußt — als sozialkritischer Schriftsteller betätigte. Als solcher begründete er seinen Ruf mit dem 1845 erscheinenden Werk über „Die Lage der arbeitenden Klassen in England", dem Niederschlag seiner Erfahrungen in der Manchester Spinnerei Ermen u. Engels. Es fand bei seinem v o m Weberaufstand beeindruckten deutschen P u b l i k u m starken Widerhall. Interesse und Gewissen vieler Bürger regten sich, die reformerischen Literaten fanden Gehör. „Die A u f g a b e und die Macht der Staatsgewalt der Abhängigkeit der blos arbeitenden, nichtbesitzenden Klasse gegenüber, ist die eigentlich sociale Frage unserer Gegenwart", schrieb der vielgelesene A n a l y t i k e r der bürgerlichen Klassengesellschaft und soziale Reformer Lorenz Stein. Unterdessen hatte M a r x wieder einmal publizistisches Sprachrohr (den „Vorwärts") und R e f u g i u m verloren: Als Ausgewiesener nahm er mit seiner Familie Wohnsitz in Brüssel, w o er 1845/46 mit Engels in dem umfangreichen, gleichfalls erst 1932 gedruckten Gemeinschaftsw e r k „Die deutsche Ideologie" den historischen Materialismus begründete: „Kritik der neuesten deutschen Philosophie in ihren Repräsentanten Feuerbach, B. Bauer und Stirner, und des deutschen Sozialismus in seinen verschiedenen Propheten." Den Kern der Doktrin enthält die Partie über Feuerbach, der — wie die anderen Hegelianer — den Vorwurf erfährt, nicht „nach dem Zusammenhange der deutschen Philosophie mit der deutschen Wirklichkeit" gefragt zu haben. M a r x und Engels wollten ihr Denken nicht mit Dogmen, sondern — radikal diesseitsorientiert — mit „wirklichen Voraussetzungen" beginnen. „Ganz im Gegensatz zur deutschen Philosophie, welche v o m H i m m e l auf die Erde herabsteigt, w i r d hier von der Erde z u m H i m m e l gestiegen. . . . Es w i r d von den wirklich tätigen Menschen ausgegangen und aus ihrem wirklichen Lebensprozeß auch die Entwicklung der ideologischen Reflexe und Echos dieses Lebensprozesses dargestellt. . . . Die Moral, Religion, M e t a p h y s i k und sonstige Ideologie und die ihnen entsprechenden Bewußtseinsformen behalten hiermit nicht länger den Schein der Selbständigkeit. Sie haben keine Geschichte, sie haben keine Entwicklung, sondern die ihre materielle Produktion und ihren materiellen Verkehr entwickelnden Menschen ändern mit dieser ihrer Wirklichkeit auch ihr Denken und die Produkte ihres Denkens. Nicht das Bewußtsein bestimmt das Leben, sondern das Leben bestimmt das Bewußtsein." Die wirtschaftlichen Kräfte innerhalb der Geschichte determinieren nach 294
3. Industrielle Revolution und Kommunistisches Manifest diesem Modell den Menschen und seine Gesellschaft, und die Geistesgeschichte löst sich auf in Ideologien, also in politische, juristische, religiöse und weltanschauliche Denkgebilde als Widerspiegelungen ökonomisch-sozialer Strukturen. M i t ihrem Versuch, die w i r k e n d e n Kräfte der Geschichte auf eine umfassende Ursache zurückzuführen, erweisen sich M a r x und Engels letztlich als Hegelianer, freilich mit dem entscheidenden Unterschied, daß die Weltwirtschaft an die Stelle des verspotteten Weltgeistes tritt (Peter Stadler). Ein geschlossenes, doch einseitiges und dürftiges Bild! Auf den Gedanken, daß sie selbst Ideologen waren, Ideologen des Proletariats und seiner bevorstehenden Revolution, kamen M a r x und Engels nicht. A u ß e r ihrer Theorie betrieben die sendungsbewußten Verfasser der deutschen Ideologie auch organisatorisch-politische Unternehmen. Sie strebten nach der Führung des „Bundes der Gerechten", einer parteiähnlichen kommunistischen Organisation. Engels erreichte beim ersten Kongreß des Gesamtbundes in London 1847 dessen U m b i l d u n g z u m „Bund der Kommunisten", in w e l c h e m die Brüsseler Revolutionäre bald die französischen und englischen Genossen überragten. Der zweite Kongreß des Kommunistenbundes im November und Dezember 1847 anerkannte M a r x und Engels in ihrer Führerrolle. Die „wahren Sozialisten", Moses Hess und Wilhelm Weitling, sahen sich in den Hintergrund gedrückt. Der Kongreß beauftragte M a r x und Engels „mit der Abfassung eines für die Öffentlichkeit bestimmten, ausführlichen theoretischen und praktischen Parteiprogramms", dessen Redaktion Karl M a r x oblag. So entstand das bereits erwähnte vierteilige Kommunistische Manifest, in welchem die beiden Freunde den Ertrag ihrer bisherigen wissenschaftlich-ideologischen Arbeit allgemeinverständlich und sprachlich meisterhaft zusammenfaßten. Es beginnt mit dem berühmten Satz: „Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen." Die zeitgenössische Epoche der Bourgeoisie, der bürgerlichen Industrieherren, habe die Klassengegensätze auf zwei große feindliche Lager reduziert. Tertium non datur. Die Bourgeoisie habe technisch Großartiges geleistet, doch zugleich den Proletarier geschaffen, der sie demnächst vernichten werde. Der Kapitalismus mache alles zur Ware, auch die Arbeitskraft, die der Proletarier auf dem Markt feilbiete und für die er auf die Dauer nie mehr erhalte, als es bedürfe, u m sie zu reproduzieren, das heißt: den Arbeiter am bloßen Leben zu erhalten. Der Proletarier schaffe indessen mehr, und darin bestehe der Gewinn des Kapitalisten. Der M e h r w e r t lasse das Kapital wachsen und wachsen und damit auch das Proletariat — bis zur letzten großen Revolution, welche die Lebensformen der Gesellschaft von Grund auf verändern werde. Denn während alle bisheri295
VIII. Achtzehnhundertachtundvierzig gen revolutionären Klassen sich als Minoritäten darstellten und eben dadurch zu herrschenden Klassen geworden seien, bilde das Proletariat nunmehr „die selbständige Bewegung der ungeheuren Mehrzahl im Interesse der ungeheuren Mehrzahl". „Die wesentlichste Bedingung für die Existenz und für die Herrschaft der Bourgeoisklasse ist die A n h ä u fung des Reichtums in den Händen von Privaten, die Bildung und Vermehrung des Kapitals; die Bedingung des Kapitals ist die Lohnarbeit. Die Lohnarbeit beruht ausschließlich auf der Konkurrenz der Arbeiter unter sich. Der Fortschritt der Industrie, dessen willenloser und widerstandsloser Träger die Bourgeoisie ist, setzt an die Stelle der Isolierung der Arbeiter durch Konkurrenz ihre revolutionäre Vereinigung durch die Assoziation. M i t der Entwicklung der großen Industrie w i r d also unter den Füßen der Bourgeoisie die Grundlage selbst weggezogen, worauf sie produziert und die Produkte sich aneignet. Sie produziert vor allem ihre eigenen Totengräber. Ihr Untergang und der Sieg des Proletariats sind gleich unvermeidlich." Nicht weniger zuversichtlich und visionär schließt der zweite A b schnitt des Manifests, der die Uberschrift „Proletarier und Kommunisten" trägt. Seien im Laufe der Entwicklung die Klassenunterschiede verschwunden und alle Produktionen in den Händen der assoziierten Individuen vereinigt, so verliere die öffentliche Gewalt den politischen Charakter. Die politische Macht bedeute nämlich nichts anderes als die organisierte Gewalt einer Klasse zur Unterdrückung einer andern. „Wenn das Proletariat im Kampfe gegen die Bourgeoisie sich notwendig zur Klasse vereint, durch eine Revolution sich zur herrschenden Klasse macht und als herrschende Klasse gewaltsam die alten Produktionsverhältnisse aufhebt, so hebt es mit diesen Produktionsverhältnissen die Existenzbedingungen des Klassengegensatzes, der Klassen überhaupt, und damit seine eigene Herrschaft als Klasse auf." Damit verhießen die Verfasser mit einiger A n m a ß u n g die Endzeit, im Grunde den Stillstand der Geschichte, die sie zunächst so dynamisch begriffen hatten. Die unbedingte Sicherheit, den Schlüssel zur Zukunft allein zu besitzen, verschloß ihnen die A u g e n vor anthropologischen Gegebenheiten und vor anderen Möglichkeiten der Entwicklung als den selbst begründeten. Ein zweites vergiftendes Element (Golo M a n n ) der kommunistischen Heilslehre enthielt das Manifest in seinem Schlußabschnitt: die Bereitschaft, mit anderen Gruppen, die ihrerseits im Unrecht sind, Zweckbündnisse zu schließen, u m sie danach unerbittlich selbst zu verderben. „In Deutschland kämpft die Kommunistische Partei, sobald die Bourgeoisie revolutionär auftritt, gemeinsam mit der Bourgeoisie gegen die absolute Monarchie, das feudale Grundeigentum und die Kleinbürgerei. Sie unterläßt aber keinen Augenblick, bei den Arbeitern ein möglichst klares 296
3. Industrielle Revolution und Kommunistisches Manifest Bewußtsein über den feindlichen Gegensatz von Bourgeoisie und Proletariat herauszuarbeiten, damit die deutschen Arbeiter sogleich die gesellschaftlichen und politischen Bedingungen, welche die Bourgeoisie mit ihrer Herrschaft herbeiführen muß, als ebenso viele Waffen gegen die Bourgeoisie kehren können, damit, nach dem Sturz der reaktionären Klassen in Deutschland, sofort der Kampf gegen die Bourgeoisie selbst beginnt . . . M i t einem Wort, die Kommunisten unterstützen überall jede revolutionäre Bewegung gegen die bestehenden gesellschaftlichen und politischen Zustände." Der H i n w e i s des Manifests auf die Not des Proletariats und das U n recht, das der Arbeiterschaft widerfuhr, verlieh dem Aufruf sittlichen Rang und fortdauernde Kraft. Vieles analysierten M a r x und Engels richtig, manches sahen sie treffend voraus, vor allem die kapitalistische Weltwirtschaft. Anderes blieb ihnen verstellt, und insgesamt nahm die Geschichte nicht den prophezeiten Lauf. Das Hauptgebrechen des kühnen kommunistischen Entwurfs lag in seiner Ausschließlichkeit und seiner Fixiertheit auf die wirtschaftlich herrschende Klasse. M a r x verkannte die politischen Möglichkeiten, den Kampf der Klassen zu mildern; er verachtete Philosophie und Verfassungstheorie, die Idee der Gewaltenteilung und des Rechtsstaats als ideologische Hirngespinste im Dienst der Herrschenden. So ließ er auch die Frage unbeschieden, wie die Macht des kommunistischen Staates zu beschränken sei: Politische Macht galt ihm als wirtschaftliche Ausbeutung, und w o diese beendet war, konnte es jene nicht geben. Uberhaupt blieb das Ziel der Revolution auffallend unausgeführt — im Unterschied z u m Weg dahin. Der Streit darüber, w a s wahrer Kommunismus sei, dauerte denn auch fort und hörte niemals auf; mit ihm gingen immer wiederkehrende Fraktionsbildungen und Parteispaltungen einher. Indem M a r x die Existenz des Menschen und seiner Gesellschaft allein ökonomisch-materialistisch, also monokausal erklärte, entwarf er ein verhängnisvoll eindimensionales Bild. M a r x und Engels suchten nicht nur als Publizisten, sondern auch als tätige Revolutionäre zu wirken. Eine hoffnungsvoll ergriffene Gelegenheit schien mit den Märzereignissen in Deutschland gegeben. Vom J u n i 1848 bis z u m Mai 1849, bis zu seiner Ausweisung durch die Königliche Regierung, w i r k t e Marx, unterstützt durch Engels, in der Hauptstadt der preußischen Rheinprovinz als Redakteur en chef der „Neuen Rheinischen Zeitung · Organ der Demokratie", eines politischen und organisatorischen Zentrums der äußersten Linken. Das alte Jahr 1848 resümierte er mit den in der letzten N u m m e r wiederholten Worten: „Die Geschichte des preußischen Bürgertums, w i e überhaupt des deutschen Bürgertums vom M ä r z bis Dezember beweist, daß in Deutschland eine rein bürgerliche Revolution und die Gründung einer Bourgeoisherr297
IX. Der konstitutionelle Nationalstaat schaft unter der Form der konstitutionellen Monarchie unmöglich, daß nur die feudal-absolutistische Konterrevolution möglich ist oder die sozial-republikanische Revolution". Die Schlußparole der Zeitung hieß: „Emanzipation der arbeitenden Klasse!" Doch alle Versuche, klassenkämpferischen Widerstand aufzubauen, im Rheinland, zu Frankfurt, in Baden und der Pfalz, schlugen fehl. Im August 1849 zog sich M a r x in das bürgerliche England zurück, dem er jüngst noch Weltkrieg und Untergang gewünscht hatte und das ihm nun Exil gewährte. In London arbeitete er weiter, schuf im Lesesaal der Bibliothek des Britischen Museums, finanziell unterstützt durch seinen vermögenden Freund Friedrich Engels, das monumentale „Kapital", dessen erster Band 1867 erschien. Das E m p o r k o m m e n der Mächte, in denen der Geist seines und seines Weggenossen Manifests während sieben Jahrzehnten am stärksten wirkte, den Aufstieg und Niedergang der kommunistischen Parteien Rußlands und Asiens, hat Karl M a r x nicht mehr erlebt.
IX. Der konstitutionelle Nationalstaat 1. Zur Gründung
des Bismarckschen
Reiches
BAMMEL, Ernst: Die Reichsgründung und der deutsche Protestantismus, 1973; BARTEL, Horst (Hg.): Arbeiterbewegung und Reichsgründung, 1971; BAUMGART, Winfried (Bearb.): Das Zeitalter des Imperialismus und des Ersten Weltkrieges (1871-1918), 2 Teile, 2 1991 = Quellenkunde zur deutschen Geschichte der Neuzeit von 1500 bis zur Gegenwart Bd. 5 I/II; BECKER, Otto: Bismarcks Ringen um Deutschlands Gestaltung, hg. u. erg. v. Alexander SCHARFF, 1958; BIEFANG, Andreas: Politisches Bürgertum in Deutschland 1857-1868. Nationale Organisationen und Eliten, 1994; BINDER, Hans-Otto: Reich und Einzelstaaten während der Kanzlerschaft Bismarcks 1871-1890. Eine Untersuchung zum Problem der bundesstaatlichen Organisation, 1971; BIRKE, Adolf M.: Bischof Ketteier und der deutsche Liberalismus, 1971; BISMARCK, Otto von: Gedanken und Erinnerungen, 1962 = Goldmanns gelbe Taschenbücher 861-863; BISMARCK, Otto von: Werke in Auswahl, Bde. 3 u. 4: Die Reichsgründung, hg. v. Eberhard SCHELER, 1965, 1968; BÖCKENFÖRDE, Ernst-Wolfgang: Staat, Gesellschaft, Freiheit. Studien zur Staatstheorie und zum Verfassungsrecht, 1976 = stw 163; BÖHME, Helmut (Hg.): Probleme der Reichsgründungszeit 18481879, 1968; BÖHME, Helmut: Deutschlands Weg zur Großmacht. Studien zum Verhältnis von Wirtschaft und Staat während der Reichsgründungszeit 18481881, 2 1972; CIOLI, Monica: Pragmatismus und Ideologie. Organisationsfor298
1. Zur Gründung des Bismarckschen Reiches men des deutschen Liberalismus zur Zeit der Zweiten Reichsgründung (18781884), 2003 = Beiträge z u r Politischen Wissenschaft, Bd. 129; ÜEUERLEIN,
Ernst (Hg.): Die Gründung des Deutschen Reiches 1870/71 in Augenzeugenberichten, 1970; DÜLFFER, Jost u. HUBNER, Hans (Hgg.): Otto von Bismarck. Person — Politik — Mythos, 1993; EPPSTEIN, Georg Frhr. von u. BORNHAK, Conrad: Bismarcks Staatsrecht. Die Stellungnahme des Fürsten Otto von Bismarck zu den wichtigsten Fragen des Deutschen und Preußischen Staatsrechts, 2 1923; FEHRENBACH, Elisabeth: Wandlungen des deutschen Kaisergedankens 1871-1918, 1969; FENSKE, Hans (Hg.): Der Weg zur Reichsgründung 1850-1870, 1977; FRANTZ, Constantin: Deutschland und der Föderalismus, 1917; GALL, Lothar (Hg.): Das Bismarck-Problem in der Geschichtsschreibung nach 1945, 1971; GALL, Lothar: Bismarck. Der weiße Revolutionär, Ausg. 1993 = Ullstein Buch Nr. 23286; GREVE, Friedrich: Die Ministerverantwortlichkeit im konstitutionellen Staat unter besonderer Berücksichtigung der Verfahren gegen den Minister von Scheele im Herzogtum Holstein 1855/56, 1977; GROOTE, Wolfgang von u. GERSDORFF, Ursula von (Hgg.): Entscheidung 1870. Der Deutsch-Französische Krieg, 1970; HALLMANN, Hans (Hg.): Revision des Bismarckbildes, 1972; HÄRTUNG, Fritz: Staatsbildende Kräfte der Neuzeit. Gesammelte Aufsätze, 1961; HAUNFELDER, Bernd u. POLLMANN, Klaus Erich: Reichstag des Norddeutschen Bundes 1867 bis 1870, 1989; HERRE, Franz: Jahrhundertwende 1900. Untergangsstimmung und Fortschrittsglauben, 1998; HESSE, Konrad: Der unitarische Bundesstaat, 1962; HILLGRUBER, Andreas: Kontinuität und Diskontinuität in der deutschen Außenpolitik von Bismarck bis Hitler, 1969; HINTZE, Otto: Staat und Verfassung. Gesammelte Abhandlungen zur allgemeinen Verfassungsgeschichte, hg. v. Gerhard OESTREICH mit einer Einleitung v. Fritz HÄRTUNG, 3 1970; HÖFELE, Karl Heinrich (Hg.): Geist und Gesellschaft der Bismarckzeit 1870-1890, 1967 = Quellensammlung zur Kulturgeschichte, Bd. 18; HOLSTE, Heiko: Der deutsche Bundesstaat im Wandel (1867-1933), 2002 = Schriften zur Verfassungsgeschichte, Bd. 65; HUBER, Ernst Rudolf (Hg.): Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. 2: Deutsche Verfassungsdokumente 1851 bis 1900, 1986; HUBER, Ernst Rudolf: Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. 3: Bismarck und das Reich, 3 1988; HUBER, Ernst Rudolf u. HUBER, Wolfgang (Hgg.): Staat und Kirche im 19. und 20. Jahrhundert. Dokumente zur Geschichte des deutschen Staatskirchenrechts, Bd. 3: Staat und Kirche von der Beilegung des Kulturkampfs bis zum Ende des Ersten Weltkriegs, 1983; JOACHIMSEN, Paul: Vom deutschen Volk zum deutschen Staat. Eine Geschichte des deutschen Nationalbewußtseins, bearb. v. Joachim LEUSCHNER, 4 1967; KERN, Bernd-Rüdiger u. SCHROEDER, Klaus-Peter (Hgg.): Eduard von Simson 1810-1899 — „Chorführer der Deutschen" und erster Präsident des Reichsgerichts, 2001; KLIPPEL, Diethelm: Der liberale Interventionsstaat. Staatszweck und Staatstätigkeit in der deutschen politischen Theorie des 18. und der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: Heiner LÜCK (Hg.), Recht und Rechtswissenschaft im mitteldeutschen Raum, Symposion für Rolf Lieberwirth anläßlich seines 75. Geburtstages, 1998, 77-103; KOCKA, Jürgen (Hg.): Bürger und Bürgerlichkeit im 19. Jahrhundert, 1987; KOCKA, Jürgen (Hg.): Bürgertum im 19. Jahrhundert, 3 Bde., 1995 = Kl. Vandenhoeck-Reihe 1573-1575; KOLB, Eber-
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IX. Der konstitutionelle Nationalstaat hard: Der Kriegsausbruch 1870. Politische Entscheidungsprozesse und Verantwortlichkeiten in der Julikrise 1870, 1970; KOLB, Eberhard (Hg.): Europa und die Reichsgründung. Preußen-Deutschland in der Sicht der großen europäischen Mächte 1860-1880, 1980; KOLB, Eberhard: Umbrüche deutscher Geschichte 1866/71, 1918/19, 1929/33. A u s g e w ä h l t e A u f s ä t z e z u m 60. Geb., hg. v. D i e t e r LANGEWIESCHE u . K l a u s SCHÖNHOVEN, 1 9 9 3 ; KRAUS, H a n s - C h r i -
stof: Ursprung und Genese der „Lückentheorie" im preußischen Verfassungskonflikt, in: Der Staat 29, 1990, 209-234; LABAND, Paul: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, 4 Bde., 5 1911-1914 (Nachdr. 1964); LANDAU, Peter: Die Reichsjustizgesetze von 1879 und die deutsche Rechtseinheit, in: Vom Reichsjustizamt zum Bundesministerium der Justiz, 1977, 161-211; LAUFS, Adolf: Die rechtsstaatlichen Züge des Bismarck-Reiches, in: Festschr. Hans Thieme, 1977, 72-95; LILL, Rudolf (Hg.): Der Kulturkampf, 1997; LOWENTHAL-HENSEL, Cecile u. DIETRICH, Richard: Der unbekannte deutsche Staat. Der Norddeutsche Bund 1867-71. Katalog einer Ausstellung des Geheimen Staatsarchivs Preußischer Kulturbesitz, 1970; LÜTGE, Friedrich: Die Grundprinzipien der Bismarckschen Sozialpolitik, in: Gesammelte Abhandlungen, 1970, 47-61; LÜTZ, Heinrich: Österreich-Ungarn und die Gründung des Deutschen Reiches: Europäische Entscheidungen 1867-1871, 1979; MALETTKE, Klaus (Hg.): Die Schleswig-Holsteinische Frage (1862-1866), 1969 = Historische Texte/ Neuzeit, Bd. 5; MOMMSEN, Wolfgang J.: Der autoritäre Nationalstaat. Verfassung, Gesellschaft und Kultur im deutschen Kaiserreich, 1992 = Fischer TB 10525; MÜLLER, Kai: Der Hüter des Rechts. Die Stellung des Reichsgerichts im Deutschen Kaiserreich 1879-1918, 1997 = Hannoversches Forum der Rechtswissenschaften 4; NAUMANN, Friedrich: Demokratie und Kaisertum, 1900 = Werke Bd. II, bearb. v. Wolfgang MOMMSEN, 1966; NlPPERDEY, Thomas: Die Organisation der deutschen Parteien vor 1918, 1961; NlPPERDEY, Thomas: Deutsche Geschichte 1866-1918, Bd. 1: Arbeitswelt und Bürgergeist, Ausg. 1994, Bd. 2: Machtstaat vor der Demokratie, 3 1995; PFLANZE, Otto (Hg.): Innenpolitische Probleme des Bismarck-Reiches, 1983; PFLANZE, Otto: Bismarck. Der Reichsgründer, 1997; PLESSNER, Helmuth: Die verspätete Nation. Über die politische Verführbarkeit bürgerlichen Geistes, 5 1994 = stw 66; POLLMANN, Klaus Erich: Parlamentarismus im Norddeutschen Bund 18671870, 1985; REAL, Willy (Hg.): Katholizismus und Reichsgründung. Neue Quellen aus dem Nachlaß Karl Friedrich von Savignys, 1988; REAL, Willy: Karl Friedrich von Savigny und Otto von Bismarck. Entfaltung und Ausklang einer bedeutsamen Freundschaft, in: Darstellungen und Quellen zur Geschichte der deutschen Einheitsbewegung im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert. Im Auftrage der Gesellschaft für burschenschaftliche Geschichtsf o r s c h u n g h g . v. C h r i s t i a n HÜNEMÖRDER u . a . , B d . 1 5 , 1 9 9 5 , 1 6 9 - 2 1 3 ; RITTER,
Gerhard: Staatskunst und Kriegshandwerk. Das Problem des „Militarismus" in Deutschland, Bd. I: Die altpreußische Tradition 1740-1890, 4 1970, Bd. II: Die Hauptmächte Europas und das wilhelminische Reich 1890-1914, 3 1973; RITTER, Gerhard A. (Hg.): Regierung, Bürokratie und Parlament in Preußen und Deutschland von 1848 bis zur Gegenwart, 1983; RÖHL, John C. G.: Kaiser, Hof und Staat. Wilhelm II. und die deutsche Politik, 1987; ROSENAU, Kersten: Hegemonie und Dualismus. Preußens staatsrechtliche Stellung im Deut-
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1. Zur Gründung des Bismarckschen Reiches sehen Reich, 1986; ROTHFELS, Hans: Bismarck. Vorträge und Abhandlungen, 1970; RUETZ, Bernhard: Der preussische Konservatismus im Kampf gegen Einheit und Freiheit, 2001 = Studien u. Texte zur Erforschung des Konservatismus, Bd. 3; SCHIEDER, Theodor: Das Deutsche Kaiserreich von 1871 als Nationalstaat, hg. u. eingeh ν. Hans-Ulrich WEHLER, 2 1992 = Kl. Vandenhoeck-Reihe 1563; SCHIEDER, Theodor u. DEUERLEIN, Ernst (Hgg.): Reichsgründung 1870/71. Tatsachen, Kontroversen, Interpretationen, 1970; SCHLUMBOHM, Jürgen (Hg.): Der Verfassungskonflikt in Preußen 1862-1866, 1970 = Historische Texte/Neuzeit, Bd. 10; SCHMITT, Carl: Staatsgefüge und Zusammenbruch des zweiten Reiches. Der Sieg des Bürgers über den Soldaten, 1934; SCHOEPS, Hans Joachim: Der Weg ins Deutsche Kaiserreich, 1970; SCHUBERT, Werner: Die deutsche Gerichtsverfassung (1869-1877). Entstehung und Quellen, 1981; SCHUBERT, Werner: Das Gesetz über den Verkehr mit Kraftfahrzeugen vom 3.5.1909, in: ZRG, GA, 117, 2000, 238-289; SCHRAEPLER, Ernst (Hg.): Quellen zur Geschichte der sozialen Frage in Deutschland, Bd. 2: 1871 bis zur Gegenwart, 2 1964; SELLERT, Wolfgang: Ludwig Windthorst als Jurist. „Der Weg des Rechts ist der einzige Weg, der zum Ziele führt", 1991; SIEMANN, Wolfram: Gesellschaft im Aufbruch. Deutschland 1849-1871, 1990 = edition suhrkamp 1537; STAMM-KUHLMANN, Thomas: „Man vertraue doch der Administration!" Staatsverständnis und Regierungshandeln des preußischen Staatskanzlers Karl August von Hardenberg, in: HZ 264, 1997, 613654; STERN, Fritz: Gold und Eisen. Bismarck und sein Bankier Bleichröder, 1978; STOLTENBERG, Gerhard: Der deutsche Reichstag 1871-1873, 1955; STÜRMER, Michael: Regierung und Reichstag im Bismarckstaat 1871-1880. Cäsarismus oder Parlamentarismus, 1974; STÜRMER, Michael (Hg.): Das kaiserliche Deutschland. Politik und Gesellschaft 1870-1918, 2 1976; STÜRMER, Michael: Das ruhelose Reich. Deutschland 1866-1918, 1983; STÜRMER, Michael: Bismarck. Die Grenzen der Politik, 1987; SÜLE, Tibor: Preußische Bürokratietradition. Zur Entwicklung von Verwaltung und Beamtenschaft in Deutschland 1871 bis 1918, 1988; ULLMANN, Hans-Peter: Das deutsche Kaiserreich 1871-1918, 1995 = edition suhrkamp 1546; VIERHAUS, Rudolf (Hg.): Am Hof der Hohenzollern. Aus dem Tagebuch der Baronin Spitzemberg 1865-1914, 2 1979 = dtv 2911; WEBER, Christoph: „Eine starke, enggeschlossene Phalanx". Der politische Katholizismus und die erste deutsche Reichstagswahl 1871, 1992; WEHLER, Hans-Ulrich: Bismarck und der Imperialismus, 1969; WEHLER, Hans-Ulrich: Krisenherde des Kaiserreichs: 1871-1918, 2 1979; WEHLER, HansUlrich: Das Deutsche Kaiserreich 1871-1918, 7 1994 = Kl. Vandenhoeck-Reihe 1380; WEHLER, Hans-Ulrich: Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3: Von der „Deutschen Doppelrevolution" bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges. 18491914, 1995; WEHNER, Norbert: Die deutschen Mittelstaaten auf dem Frankfurter Fürstentag 1863, 1993; WILHELM, Rolf: Das Verhältnis der süddeutschen Staaten zum Norddeutschen Bund (1867-1870), 1978; WUNDER, Bernd: Geschichte der Bürokratie in Deutschland, 1986; ZECHLIN, Egmont: Die deutsche Einheitsbewegung, 3 1979 = Ullstein Buch Nr. 3843; ZORN, Wolfgang: Die wirtschaftliche Integration Kleindeutschlands in den 1860er Jahren und die Reichsgründung, in: HZ 216, 1973, 304-334.
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IX. Der konstitutionelle Nationalstaat Der schwere Winterfeldzug des Deutsch-Französischen Krieges w a r noch unbeendet, Paris noch nicht gefallen, als am 18. Januar 1871, dem preußischen Krönungstag, König Wilhelm I. von Preußen im Spiegelsaal des Schlosses zu Versailles die „Wiederherstellung des Deutschen Reiches" verkündete und die Kaiserwürde erneuerte und übernahm. O b w o h l das Deutsche Reich rechtlich am 1. Januar 1871 in Kraft trat, galt die Kaiserproklamation in Versailles im Bewußtsein der Deutschen als eigentlicher Reichsgründungsakt; der Reichsgründungstag jenseits der eigenen Grenzen im Prunkschloß des besiegten Nachbarlandes blieb akademischer Festtag bis 1933. Die Ereignisse, die in nur wenigen M o naten 1870/71 die lange ungelöste deutsche Frage beschieden und das Fünfmächtesystem des Wiener Kongresses stabilisierten und dann auch wieder beunruhigten, haben die Historiographie seit je in ihren Bann gezogen und ihr — aus dem Abstand von mehr als einem Jahrhundert — vielbesprochene Probleme neu gestellt. So die Frage nach Ort und Rang des Zweiten Reiches im verfassungsgeschichtlichen Gesamtablauf, der trotz seiner tiefen U m b r ü c h e 1918/19, 1933 und 1945 der Kontinuität nicht entbehrt, und die Frage nach der Gültigkeit des Jahres 1871 als Bezugspunkt für deutsche Politik heute. Die Linie von Bismarck zu Hitler w u r d e in der früheren progressistischen Literatur mitunter freilich zu dick und zu gerade gezogen; treffend das Wort Theodor Schieders: „Das ,Dritte Reich', so sehr es sich in den Anfängen auf die Reichstradition berufen mochte, w a r in Wahrheit eine Form der Agonie des Reichs, der Urteilsspruch der Weltgeschichte über den Hitlerstaat w u r d e auch an seiner Vergangenheit, am Reiche Bismarcks, vollstreckt, obwohl die Urteilsbegründungen dazu nicht ausreichten." Als Träger der Kontinuität, als Subjekt des Verfassungsgeschehens erscheint die Nation. Der deutsche Nationalstaat ist ein „europäischer Spätankömmling" gewesen (Hans Joachim Schoeps). Doch kann die deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789 trotz aller Rückschläge auch als Geschichte der u m Verfassung als Fundament staatlicher Selbstverwirklichung ringenden Nation gelten. „Die zentrale Bedeutung der Reichsverfassung von 1871 im Gang der deutschen Verfassungsgeschichte beruht darin, daß sie die nationale Einheit nicht nur vorbereitete (wie der gescheiterte Verfassungsversuch von 1848/49) und nicht nur bewahrte und fortbildete (wie das Verfassungswerk von 1919), sondern daß sie die nationale Einheit begründete. Dieses Zusammenfallen von Staatsgründung und Verfassungsgebung verleiht dem Verfassungsw e r k von 1871 einen besonderen verfassungstypologischen R a n g " (Ernst Rudolf Huber). Das deutsche Reich von 1871 ist eine Schöpfung der preußischen Staatsmacht, die unter Bismarck eine Interessengemeinschaft mit der 302
1. Zur Gründung des Bismarckschen Reiches bürgerlichen Nationalbewegung einging. Der gemäßigte, reformerische Liberalismus hatte sich den nationalen zugleich als starken Staat gewünscht. Das Feuer der Anarchie könne, so hatte der kleindeutsche H i storiker und Politiker Friedrich Christoph Dahlmann in der Debatte der Paulskirche über das Erbkaisertum am 22. Januar 1849 erklärt, nur auf solche Weise gedämpft werden, „daß Ihr eine kraftvolle Einheit einsetzet, und durch diese Einheit die Bahn für die deutsche Volkskraft eröffnet, die zur Macht führt. Die Bahn der Macht ist die einzige, die den gärenden Freiheitstrieb befriedigen und sättigen wird, der sich bisher selbst nicht erkannt hat. Deutschland muß als solches endlich in die Reihe der politischen Großmächte des Weltteiles eintreten. Das kann nur durch Preußen geschehen, und weder Preußen kann ohne Deutschland, noch Deutschland ohne Preußen genesen." Dahlmanns Sätze sind nicht Programm geblieben, sondern politische Wirklichkeit geworden, deren entscheidende Phase 1861-1871 Golo M a n n mit dem zutreffenden Leitsatz kennzeichnet: „Preußen erobert Deutschland". Folgen w i r zunächst den großen Entwicklungslinien der deutschen Geschichte im 19. Jahrhundert. A m Beginn steht der Zusammenbruch des altersschwach gewordenen Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation im Jahre 1806 und — nach der Episode des durch Napoleon dominierten Rheinbundes — die Gründung des Deutschen Bundes, eines staatenbündischen Zusammenschlusses, auf dem Wiener Kongreß 1815. Dieses von Osterreich geführte Kongreß-Europa im kleineren, eine lose Zusammenordnung aller so mannigfaltigen deutschen Länder und Staatsgebilde, bestand ein halbes Jahrhundert, in dem Deutschland ohne ernsthaften Krieg blieb — ein seltener Segen. Doch der Staatenbund, den w a c h s a m auf ihre Souveränität bedachte Mitglieder bildeten, „erwies sich allenfalls als Wächter, als Verhinderer, nicht als Beweger" (Golo Mann). Er ließ die durch den Befreiungskrieg 1813/14 geweckte patriotische Begeisterung ohne A n t w o r t , unerfüllt den Wunsch nach einem neuen deutschen Reich, das ein Staat aller Deutschen sein sollte. Das „ganze Deutschland" sah nicht allein Ernst M o r i t z Arndt in der deutschen Kulturnation, die zur Staatsnation werden sollte — ein Verlangen, das mit der Französischen Revolution (1789) anhob und immer stärker wurde. Trotz des Widerstandes der restaurativen Politik der im Bunde versammelten Obrigkeiten setzte sich der Nationalismus als bestimmende Idee durch, gefördert von der deutschen Zollpolitik, die wirtschaftlichen Notwendigkeiten entsprang und politische Entwicklungen vorwegnahm. Der Deutsche Bund blieb zeit seines Bestehens nicht nur von den mit dem Liberalismus und Parlamentarismus verknüpften nationalstaatlichen Motionen bedrängt, er krankte auch an dem unaus-
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IX. Der konstitutionelle Nationalstaat
getragenen Konflikt der beiden deutschen Vormächte Preußen und Osterreich. Das Mißlingen der Revolution 1848/49 und der von ihr getragenen Frankfurter Nationalversammlung erwies die realpolitische Schwäche der bürgerlichen Verfassungsbewegung und offenbarte, daß sich die Kulturnation nicht zur Staatsnation umformen ließ. Die beiden großen rivalisierenden Mächte reagierten gegensätzlich. Preußen begünstigte eine kleindeutsche Einigung unter seiner Hegemonie; Osterreich betrieb die Wiederherstellung des Bundes, in dem es den Vorzug der Präsidialmacht genoß. Die nach Frankfurter Muster entworfene Erfurter Unionsverfassung von 1849/50 mit dem Ziel eines kleindeutschen Bundesstaates unter preußischer Führung scheiterte an der Intervention des russischen Zaren und der geschickteren Diplomatie Österreichs. Die „Punktation von Olmütz" unter dem Datum des 29. November 1850 erhielt den Frieden und das alte Ordnungsbild in Deutschland aufrecht. Doch am Ende verlor Österreich den Kampf um die Bundesreform und seinen Platz in Deutschland. Diese Entwicklung, und das heißt: die Geschichte Deutschlands und Europas, hat entscheidend geprägt der Mann, der am 23. September 1862 auf einem Höhepunkt des über der Heeresreform aufgebrochenen preußischen Verfassungskonflikts als Ministerpräsident und Chef eines Kampfkabinetts das Steuerruder in Preußen übernahm: Otto von Bismarck. Wenige Tage nach seiner Berufung legte Bismarck der Budgetkommission des Preußischen Landtages seine politischen Ansichten dar: „Nicht auf Preußens Liberalismus sieht Deutschland, sondern auf seine Macht; Bayern, Württemberg, Baden mögen den Liberalismus indulgieren, darum wird ihnen doch keiner Preußens Rolle anweisen; Preußen muß seine Kraft zusammenfassen und zusammenhalten auf den günstigen Augenblick, der schon einige Male verpaßt ist; Preußens Grenzen nach dem Wiener Kongreß sind zu einem gesunden Staatsleben nicht günstig; nicht durch Reden und Majoritätsbeschlüsse werden die großen Fragen der Zeit entschieden — das ist der große Fehler von 1848 bis 1849 gewesen — sondern durch Eisen und Blut." Dieser Satz blieb dem Mißverständnis ausgesetzt, als hätte sein Urheber einer rohen Gewaltpolitik das Wort reden wollen. Im Rückblick hat Bismarck seine politische Methode dem Historiker Friedjung viel differenzierter geschildert und gesagt: „Ich hätte jede Lösung mit Freuden ergriffen, welche uns ohne Krieg der Vergrößerung Preußens und der Einheit Deutschlands zuführte. Viele Wege führten zu meinem Ziele, ich mußte der Reihe nach einen nach dem anderen einschlagen, den gefährlichsten zuletzt."
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1. Zur Gründung des Bismarckschen Reiches Die entscheidenden Jahre Bismarckscher Außenpolitik, die Knotenpunkte deutschen Schicksals heißen 1863, 1866, 1870. Mit dem Frankfurter Fürstentag im August 1863 schlug der letzte Versuch Österreichs fehl, durch Reform des Deutschen Bundes im „Reich" zu verbleiben; Preußens Ablehnung vereitelte den großdeutschen Plan. Der gemeinsame siegreiche Feldzug Österreichs und Preußens gegen Dänemark 1864 verzögerte die gewaltsame Konfrontation der beiden deutschen Großmächte noch, unterstrich aber bereits „Preußens politische A u f gabe". Die Schlacht bei dem Dorf Sadowa vor Königgrätz am 3. Juli 1866 markiert die Wende: das Ende des Deutschen Bundes und damit einer übernationalen Friedensordnung in Europa. Preußens Feldzug gegen Österreich-Deutschland w a r weniger ein Waffengang u m die nordische Beute, als vielmehr ein Krieg u m die deutsche Vorherrschaft. Der 1867 konstituierte Norddeutsche Bund unter der Führung des durch die Annexion von Hannover, Kurhessen, Nassau und Frankfurt beträchtlich erweiterten preußischen Staates w a r als Kernstaat des größeren Deutschland gedacht, das im Augenblick noch Zukunft blieb. Immerhin band Preußen mittels der Schutz- und Trutzbündnisse Bayern, W ü r t temberg, Baden und Hessen-Darmstadt militärisch an sich. Der in Art. IV des Prager Friedens v o m 23. August 1866 stipulierte süddeutsche Bund k a m nicht zustande. Aus den Militärallianzen mußte nach Lage der Dinge vielmehr eine noch engere Bindung zwischen Preußen und Süddeutschland werden. Wieder nahm die wirtschaftliche Entwicklung die politische Entscheidung voraus: Der Zoll-Staatenbund w u r d e 1867 ein Zoll-Bundesstaat, der den deutschen Nationalstaat von 1871 verfassungstypologisch vorwegnahm. Das 1868 in Funktion tretende Zollparlament bildete mit seiner auf der Basis allgemeiner, gleicher und direkter Wahl berufenen Volksvertretung der Bevölkerung aller nordund süddeutschen Staaten eine Vorstufe des späteren Reichstages, auch w e n n die in ihm vertretenen süddeutschen Abgeordneten insgesamt noch mehrheitlich partikularistisch gesonnen waren. Das Bismarck-Reich, durch eine gemeinsame Wirtschafts- und Militärpolitik sowie durch eine starke deutsch-nationale öffentliche M e i nung nördlich und südlich des Mains vorbereitet, eingeleitet durch die „große deutsche Revolution" von 1866 (Jacob Burckhardt) und bezahlt mit dem Ausschluß Österreichs aus Deutschland, dieses von den aufsteigenden Kräften des Nationalliberalismus mitgetragene Reich entstand schließlich im Zuge von Verhandlungen der deutschen Fürsten während des Deutsch-Französischen Krieges. Dieser über der spanischen Thronkandidatur eines süddeutschen Hohenzollern entbrannte Kampf gegen das Frankreich Napoleons III. w u r d e ein nationaler Krieg, der starke patriotische Emotionen entflammte und die diplomati305
IX. Der konstitutionelle Nationalstaat sehen Aktionen trug. „Es w a r das Volk, das die Einigung in irgendeiner Form wollte und längst gewollt hatte. A b e r es w a r nicht das Volk, das die Einigung vollzog" (Golo Mann). Die Verhandlungen der Regierungen im Hauptquartier zu Versailles führten zu den „Novemberverträgen" 1870: Der König von Preußen schloß im N a m e n des Norddeutschen Bundes zunächst mit den Großherzögen von Baden und Hessen einen Vertrag über die Gründung des Deutschen Bundes. Diesem Werk folgten Verträge über den Beitritt Bayerns und Württembergs zur Deutschen Bundesverfassung. Der Vollzug des Verfassungsbündnisses im Dezember 1870 brachte die Einführung der Bezeichnungen „Deutsches Reich" und „Deutscher Kaiser". Der 74jährige König Wilhelm empfing eine Deputation des N o r d d e u t schen Reichstages unter Führung seines Präsidenten, des Königsberger Nationalliberalen Dr. Eduard Simson, der einst — 1849 — als H a u p t der Frankfurter Nationalversammlung dem Vorgänger und Bruder W i l helms I., Friedrich Wilhelm IV., die Kaiserkrone erfolglos angetragen hatte. „Vereint mit den Fürsten Deutschlands", so hieß es in der überbrachten Adresse, „naht der Norddeutsche Reichstag mit der Bitte, daß es Ew. Majestät gefallen möge, durch Annahme der deutschen Kaiserkrone das Einigungswerk zu weihen." Doch diesmal ging es u m eine in Wahrheit von den deutschen Fürsten angebotene Krone! Die am 1. Januar 1871 in Kraft getretene Verfassung des Deutschen Reiches setzte sich aus mehreren Stücken zusammen: der mit Baden und Hessen vereinbarten „Verfassung des Deutschen Bundes", den mit Bayern und Württemberg getroffenen Änderungen und Zusätzen, sowie dem Beschluß über die Titel Kaiser und Reich. Diese Bestandteile bedurften der Zusammenfassung in einem revidierten Verfassungstext. Auf Initiative des Bundesrates nahm der Reichstag am 14. April 1871 das „Gesetz betreffend die Verfassung des Deutschen Reiches" mit allen außer sieben Stimmen an. Das Gesetz w u r d e v o m Kaiser am 16. April 1871 ausgefertigt und am 20. April verkündet. In Kraft trat es am 4. M a i 1871. Im Glanz des deutschen Waffenruhms und im Aufbruch nationaler Gefühle blieben „die Bruchlinien des neuen Reichsbaus" (Theodor Schieder) zunächst verdeckt. Den jungen Nationalstaat, der weniger als drei Viertel aller Angehörigen des deutschen Volkstums oder Sprachraums umfaßte, belastete der Protest der nationalen Minderheiten, der Polen, Dänen und andererseits der annektierten Elsässer und Lothringer. N o c h stieß das Reich auch auf die Reserve vieler Katholiken und deren konfessionelles Minoritätsgefühl. Freilich tilgte der Siebzigerkrieg zu einem guten Teil die politische Resignation, welche das Scheitern der großdeutschen H o f f n u n g e n und die Entscheidung von 1866 ausgelöst 306
1. Zur Gründung des Bismarckschen Reiches hatten. O b w o h l das Zentrum mit seinem Antrag auf A u f n a h m e von Grundrechten in die Verfassung nicht durchgedrungen war, einem A n trag, den die Abgeordneten Bischof von Ketteier, Mallinckrodt, Reichensperger sowie Windthorst als die „Magna Charta des Religionsfriedens in Deutschland" rühmten, stimmte es für die revidierte Reichsverfassung. Doch der Kulturkampf stand Preußen und dem Reich noch bevor. Ungelöst ließ der neue Staat auch die durch den gewaltigen industriellen Aufschwung und das sich ausweitende Fabriksystem aufgeworfene soziale Frage. Die Regierungen sahen sich einer wachsenden, internationalistisch gesonnenen sozialistischen Bewegung mit scharf antibürgerlichen, antikapitalistischen und antimonarchistischen Zielen gegenüber; es gelang nicht, die Arbeiterschaft in den Staat zu integrieren. Viel weniger als dieses Problem überschattete der einzelstaatliche Partikularismus die Zukunft des Kaiserreiches — hier hatte die Verfassung kunstvoll vorgesorgt. A u c h das alte Großdeutschtum verschwand als politische Bewegung schnell. Recht einsam entwickelte der bedeutendste publizistische Widersacher Bismarcks, Constantin Frantz, nach der Reichsgründung sein gegen den Nationalstaat gerichtetes föderalistisches System zu einer weltpolitischen Gesamtschau weiter, in welcher das europäische Schicksal zwischen Rußland und A m e r i k a im Mittelpunkt stand. Zwei Weltkriege und unsere Suche nach Europa haben manche Vision von Frantz inzwischen bestätigt. M i t Beklemmung liest man heute auch die Stimmen anderer Mahner, die damals allein und belächelt blieben, so die des weifischen Reichstagsabgeordneten Heinrich Ewald. W i e Friedrich Christoph Dahlmann einer der Göttinger Sieben von 1837, hatte sich der nach Göttingen zurückgekehrte Professor Ewald geweigert, dem König von Preußen den Eid zu leisten und w a r darum 1867 in Pension gegangen. In der Verfassungsdebatte des Deutschen Reichstages bezweifelte er die Legitimität der N e u g r ü n d u n g und zog die Parallele zu den revolutionären Unternehmen der beiden Kaiser Napoleon. Der große Glanz des glücklichen Krieges überdecke nur, „wie dort bei den beiden bonapartischen Reichen", „die inneren M ä n gel und Gebrechen, an denen dieses Reich von Anfang an schon krankt". Betrachten w i r nun die Verfassungsstruktur des neuen Bundesstaates. A u c h sie kennt Ambivalenzen, und vor allem w a r sie dem Wandel unterworfen. Das N e u e dieser Ordnung lag im Durchbruch z u m bürgerlichen N a tionalstaat, der sich nun, nach vielen Jahrzehnten vergeblicher Anläufe, verwirklichte, ohne daß der Verfassungstext dies unterstrichen hätte. Er betont vielmehr nach dem Vorbild der Bundesakte von 1815 das födera307
IX. Der konstitutionelle Nationalstaat tiv-dynastische Prinzip in der Präambel: „Seine Majestät der König von Preußen im N a m e n des Norddeutschen Bundes, Seine Majestät der König von Bayern . . . usw. schließen einen ewigen Bund z u m Schutze des Bundesgebietes und des innerhalb desselben gültigen Rechtes, sowie zur Pflege der Wohlfahrt des Deutschen Volkes." Diese Formel läßt das Volk eher als Destinatar fürstlicher Gunst erscheinen denn als aktives Subjekt der Verfassunggebung. Doch in Wahrheit handelt es sich bei der Bismarckschen Reichsordnung u m eine vereinbarte Verfassung, u m ein durch Verfassungsvertrag zwischen der Gesamtheit der einzelstaatlichen Souveräne und der durch das Parlament repräsentierten Nation geschaffenes System. A u c h das Staatsvolk der Einzelstaaten, vertreten durch die Landesparlamente, hat am Verfassungswerk teilgenommen. W ä h r e n d in Baden, Hessen und Württemberg die Kammern ihre Zustimmung rasch gaben, k a m es in B a y e r n zu schwierigen parlamentarischen Kämpfen. Das Bismarcksche System steht in wesentlichem Zusammenhang mit der bürgerlichen Verfassungsbewegung und besonders dem Werk der Frankfurter Nationalversammlung. Das Gleichgewicht zwischen den dynastisch-partikularstaatlichen und den bürgerlich-nationalen Kräften — fortwirkendes Ergebnis der Revolution von 1848 — bildete die Basis des Konstitutionalismus und spiegelte sich im A k t der Verfassunggebung 1867 und 1871. Der Geist liberaler Parlamentsmehrheiten und des Deutschen Nationalvereins prägte bereits die Verfassungsvorschläge der Regierungen; man denke an die Rechte der neuen Volksvertretung. N o c h deutlicher zeigt sich die mitgestaltende Kraft der Reichstage an eigenen parlamentarischen Initiativen. Genannt sei die Lex Bennigsen (Art. 17 S. 2 der Norddeutschen Bundesverfassung), welche in die Reichsverfassung von 1871 überging und das Bismarcksche Konzept des Regierungssystems von Grund auf veränderte. Zwar zählte die Regierungsbildung zu den Prärogativen des Kaisers. Die Regierungskontrolle hingegen stand dem Reichstag zu. N a c h der Lex Bennigsen trug der Kanzler gegenüber dem Parlament die volle Verantwortung für die Regierungsgeschäfte. A u c h ohne das Instrument des Mißtrauensvotums, welches den Parlamentarismus kennzeichnet, w a r diese parlamentarische Kanzlerverantwortlichkeit effektiv: als konstitutionelle Ministerverantwortlichkeit durch freie öffentliche Diskussion. Neben dem Reichstag galt den bürgerlichen Kräften seit 1848/49 die kaiserliche Zentralgewalt als Gewähr für nationale Einheit. Gewiß behielten die Gliedstaaten im geeinten Reich ihre staatliche Individualität und gewiß erlangten sie über den Bundesrat erheblichen Einfluß auf den neuen politischen Gesamtwillen. Doch ungeachtet aller Kompetenzvorbehalte und Reservatrechte der Länder entwickelte sich in den zentralen 308
1. Zur Gründung des Bismarckschen Reiches Bereichen des politischen Lebens, in der Wirtschafts-, Sozial- und Rechtsordnung, „ein die überlieferten Gegebenheiten der Einzelstaaten überflutendes, permanentes Vordringen der national-unitarischen Energien" (Ernst Rudolf Huber). In „Geist und Gesellschaft der Bismarckzeit" regte sich ein durch die industrielle H o c h k o n j u n k t u r noch gesteigerter nationaler Geltungsdrang. Die Leistungen des Reichstages und die Aktivität der sich entfaltenden politischen Parteien nivellierten den territorialstaatlichen Partikularismus. Dieser ganze Prozeß lief auf den Typus des „unitarischen Bundesstaats" hinaus, ein Vorgang, der auch unter unserem Grundgesetz w i e d e r u m in Erscheinung trat und von Konrad Hesse gültig beschrieben w o r d e n ist. Die gesetzgebende Funktion des Bismarckschen Bundesrats, die gemeinsam ausgeübte Föderativgewalt der 25 Einzelstaaten, trug ihrerseits zur gesamtstaatlichen Integration bei. A u c h das Kaisertum blieb keine statische Institution, sondern erfuhr tiefe Änderungen. In der verfassungspolitischen Diskussion über das Kaisertum 1870/71 überwogen pragmatische Gesichtspunkte die historischen Ideen: Der Kaisertitel bezeichnete die dem König von Preußen als „primus inter pares" eingeräumte föderativ-hegemoniale Bundespräsidialgewalt. „Der Kaiser ist nicht M o n a r c h des Reiches, d.h. Souverän desselben; die Reichsgewalt steht nicht ihm, sondern der Gesamtheit der Deutschen Bundesfürsten und freien Städte, also einem von ihm begrifflich verschiedenen Subjekt z u " — so lesen w i r im klassischen Werk Paul Labands. Das bundesstaatlich-präsidiale Konzept schlug indessen bald in sein Gegenteil um: in die unitarisch-nationale Kaiseridee, die im Kaisertum ein dem Reich unmittelbar zugeordnetes Verfassungselement sah. „In stetigem Verfassungswandel erhob das Kaisertum sich zu einer echten monarchischen Funktion im Reich. Schon Kaiser Wilhelm I. wuchs dank seiner mit W ü r d e gepaarten weisen Zurückhaltung über seine Mitfürsten weit hinaus. Kaiser Wilhelm II. verwies seine Mitfürsten in die Rolle von Paladinen, u m sich als Oberherr über sie zu erheben" (Ernst Rudolf Huber). Im Zeichen des neuen Bundesstaates und dank außerordentlicher Leistungen des konstitutionellen Parlaments vollendete sich die deutsche Rechtseinheit, die im 19. Jahrhundert ein Dauerproblem gebildet hatte. Was „die bürgerliche Unternehmerklasse" (Franz Wieacker) noch unter der Herrschaft des Deutschen Bundes auf dem Felde des allgemeinen Verkehrsrechts, des Handels- und Wertpapierrechts vorangetrieben hatte, erreichte nun erst eigentlich sein Ziel. N a c h d e m die nationalliberalen Reichstagsabgeordneten Eduard Lasker und Johannes M i q u e l in wiederholten Anläufen 1873 das Amendement des Art. 4 Ziff. 13 der Reichsverfassung und damit die Reichskompetenz für das gesamte bür309
IX. Der konstitutionelle Nationalstaat gerliche Recht gegen die Stimmen von Konservativen und des Zentrums erkämpft hatten, w a r auch der Weg frei für die Kodifikation des BGB. A u s der Fülle der Kodifikationen, in denen sich die wirtschaftliche, soziale und rechtsstaatliche Entwicklung widerspiegelt, seien nur einige wenige genannt: die Gewerbeordnung (1869), das Aktiengesetz (1870), das StGB (1871), die Reichsjustizgesetze (1877), die Sozialversicherungsgesetze (1883-1889), das Genossenschaftsgesetz, das Patent- und das Gebrauchsmustergesetz (1868, 1877, 1891), das B G B (1896), die G B O (1897), das F G G (1898), die Urheberrechtsgesetze (1870/71, 1876, 1901, 1907) und das Verlagsgesetz (1901), die Finanzreformgesetze (1904, 1906, 1909), das U W G (1896, 1909), die Reichsversicherungsordnung, das Angestelltenversicherungs- und das Hausarbeitsgesetz (1911). Beim A u f b a u des Rechtsstaates in Deutschland erwarben sich die Liberalen durch ihre beträchtlichen rechtspolitischen Beiträge Verdienste. Freilich verfehlten sie ihr großes Projekt, eine mächtige Partei der Mitte zu bilden, weniger weil sie es an organisatorischem Einsatz als an einem zeitgerechten Programm fehlen ließen. Die bürgerliche Partei konnte mit der sozialen Herausforderung des heraufziehenden Massenzeitalters nicht fertig werden. Der deutsche Liberalismus „blieb sozusagen in den verfassungsrechtlichen Idealen der Reichsgründung verfangen" (Monica Cioli). Parteispaltungen schwächten ihn. Die pragmatischen Nationalliberalen hatten sich als „Honoratiorenpartei im wahrsten Sinne des Wortes" 1866 von den Fortschrittlichen getrennt. Die w i e d e r u m aus einer Absplitterung 1880 hervorgegangene Liberale Vereinigung, eine nach einer Schrift des liberalen Politikers L u d w i g Bamberger auch Sezession genannte, durchaus homogene Gruppierung verstand sich als Verein, nicht als Partei des Ubergangs zur Gründung einer liberalen Großpartei. Zu den herausragenden Führungspersönlichkeiten gehörte w i e derum Eduard Lasker, der 1881 programmatisch betonte: „Die stetige Entwickelung der Freiheit innerhalb des Rechtsstaates, unter einer festen, geordneten Verwaltung, unter breitester Theilnahme der Selbstverwaltung, die wahrhafte Gleichberechtigung aller Menschen, die Entfaltung der individuellen Selbständigkeit und Thatkraft, die Wegräumung aller Hemmnisse auf den Gebieten des Erwerbes und des Berufes, und über allen diesen Staats- und gesellschaftlichen Zuständen das Ansehen und die schützende Gewalt eines mächtigen Deutschen Reiches . . . " seien die Ziele. Das monarchisch-konstitutionelle im Gegensatz z u m parlamentarischen Regierungssystem kann als das eigenartige preußisch-deutsche Verfassungsprinzip gelten. Der 1871 normierte und bis 1918 praktizierte Konstitutionalismus beruhte auf der Koordination von volksgewählter Legislative und monarchischer Exekutive, auf der Verbindung des Re310
2. Das Bürgerliche Gesetzbuch
präsentativsystems mit dem monarchischen Grundsatz. Die Frage nach der Eigenständigkeit dieser konstitutionellen Verfassungsform, dieses fundamentalen Dualismus, weist auf eine Diskussion, die in ihren Anfängen bis zur Zeit der Paulskirche und des Vormärz zurückreicht. Handelte es sich, so läßt sich heute fragen, bei der konstitutionellen Staatsform, wie sie auch die preußische Verfassung von 1850 verkörperte, um eine ephemere Ubergangserscheinung auf dem Wege zur parlamentarischen Demokratie, letztlich um einen bloßen Scheinsieg der Exekutive? Oder verkleidete nicht umgekehrt das konstitutionelle Gewand einen Spätabsolutismus der Krone, der mit den etablierten Mächten: mit Adel, Militär, Klerus und Großbürgertum herrschte, wofür als Beleg dienen könnten insbesondere das im weitaus wichtigsten Bundesland bis zur Revolution 1918 geltende Dreiklassenwahlrecht und weiter die Staatsstreichgedanken im Bismarck-Reich? Demgegenüber hat Ernst Rudolf Huber überzeugend die These von der Eigenständigkeit der Staats- und Verfassungsform des Konstitutionalismus verfochten und die Legitimität der dreigeteilten Herrschaftsordnung des Bismarck-Reiches begründet. Das Zusammenwirken der zentralen Exekutivgewalt des Kaisers (Art. 11-19, 56, 63-65, 68 der Reichsverfassung), der im Bundesrat zusammengefaßten Föderativgewalt und der vom Reichstag ausgeübten Volksgewalt entsprach sowohl den politischen Gegebenheiten wie den vorherrschenden Ideen der Zeit, deren Ziele nationale Einheit, persönliche Freiheit und gesichertes Recht hießen. Das deutsche Nationalbewußtsein, das den neuen Staat trug, lebte nicht von entliehenem, romantischem Traditionalismus — so sehr historisches Dekor das Reich umgab —, sondern von dem politischen Bewußtsein einer modernen, dem industriellen und wissenschaftlichen Zeitalter zugehörigen Nation. Das wirksame gegenwartsbezogene Machtbewußtsein, das „Deutschlands Weg zur Großmacht" (Helmut Böhme) wies und dem imperialistische Züge nicht fremd blieben, verband sich mit neuem Rechts-, Kultur- und Sozialbewußtsein, das die Kraft besaß, in einer langen Periode des äußeren Friedens, der „guten alten Zeit", die Gegensätze der Interessen und Ideen auszuhalten und die ohne offenen Bruch mit der Geschichte gewonnene staatliche Einheit durch fortschrittliche Gesetze und soziale Reform zu vertiefen.
2. Das Bürgerliche
Gesetzbuch
ADOMEIT, Klaus: Das bürgerliche Recht, das Bürgerliche Gesetzbuch und die bürgerliche Gesellschaft, 1996 = Würzburger Vorträge zur Rechtsphilosophie, 311
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314
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IX. Der konstitutionelle Nationalstaat beitsvertragsrechts und das BGB, 1991; WEYHE, Lothar: Levin Goldschmidt. Ein Gelehrtenleben in Deutschland. Grundfragen des Handelsrechts und der Zivilrechtswissenschaft in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, 1996 = Hamburger Rechtsstudien, Heft 88; WLEACKER, Franz: Das Sozialmodell der klassischen Privatrechtsgesetzbücher und die Entwicklung der modernen Gesellschaft, 1953; WIEACKER, Franz: Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 21967, 468-488; WIEACKER, Franz: Industriegesellschaft und Privatrechtsordnung, 1974; WINDSCHEID, Bernhard: Lehrbuch des Pandektenrechts, 3 Bde., 71891; WINDSCHEID, Bernhard: Gesammelte Reden und Abhandlungen, hg. v. Paul OERTMANN, 1904; WOLF, Erik: Bernhard Windscheid, Otto von Gierke, in: Große Rechtsdenker der deutschen Geistesgeschichte, 41963, 591-621, 669-712; Zusammenstellung der Äußerungen der Bundesregierungen zu dem Entwurf eines Bürgerlichen Gesetzbuchs, gefertigt im Reichsjustizamt, als Manuscript gedruckt, 2 Bde., 1891; Zusammenstellung der gutachtlichen Äußerungen zu dem Entwurf eines Bürgerlichen Gesetzbuchs, gefertigt im Reichs-Justizamt. Als Manuscript gedruckt, 6 Bde., 1890, 1891.
Die wichtigste gesetzliche Quelle des deutschen bürgerlichen Rechts entstand im Zeichen des neu begründeten Kaiserreiches in den Jahren 1874 bis 1896 und trat am 1. Januar 1900 in Kraft: das Bürgerliche Gesetzbuch. Es gilt heute, vielfach novelliert, in der Bundesrepublik Deutschland als Bundesrecht fort (Art. 123 Abs. 1, 125 i.V.m. 74 Nr. 1 GG). Mit Grund nennt Thomas Nipperdey in seiner „Deutschen Geschichte" das BGB ein „Zentralstück der Rechtsverfassung" und „die größte rechtspolitische Leistung der Zeit", die den Geist wie die Spannungen der Rechtskultur und -Verfassung der Epoche widerspiegelt. Es kommen zum Ausdruck das staatlich-bürokratische Interesse am rationalen Recht, das liberale an Vertragsfreiheit und Privatautonomie, das bürgerlich-kapitalistische an Rechtssicherheit, schließlich das allgemeine Interesse an der Vereinheitlichung. Vom Ganzen der Wirtschaftsordnung her gesehen blieb das BGB freilich, wie schon das A D H G B , indifferent: „Es konnte sich sowohl einem vom Freihandelsprinzip geformten Wirtschaftssystem fügen als auch den Wegen der organisierten, mit Merkmalen des Etatismus und Korporatismus besetzten Wirtschaft folgen" (Knut Wolfgang Nörr). Das Attribut im Titel der Kodifikation stammt — wie mancher andere Terminus der juristischen Fachsprache — aus dem römischen Recht: Ursprünglich das Sonderrechtsstatut des römischen Stadtbürgers, bezeichnete das Wort ius civile schließlich das allen Staatsangehörigen gemeinsame Recht, sachlich beschränkt freilich auf den Bereich des ius privatum. Dieser Teil der Rechtsordnung umschloß im Unterschied zum 316
2. Das Bürgerliche Gesetzbuch ius publicum bereits nach römischer Distinktion die N o r m e n , welche die Verhältnisse der einzelnen untereinander und z u m Staate als Fiskus regelten. Als juristischer Kunstausdruck beruht das Wort ius civile also auf der von den R ö m e r n gedachten Scheidung des Rechts in die beiden großen Sachgebiete: Privatrecht und öffentliches Recht und weist auf das erstere. In diesem Sinne drang es auch in die amtliche Gesetzessprache und -titulatur der großen neuzeitlichen Kodifikationen ein, ohne damit noch eine persönliche Gliederung der Menschen in bestimmte soziale Gruppen oder Stände anzeigen zu wollen. Im Gegenteil: von der überkommenen ständisch-hierarchischen Ordnung mit ihren feudalen und zünftigen Fesseln suchten die von den Ideen der Freiheit und Gleichheit aller Menschen getragenen Kodifikationen des 19. Jahrhunderts entschieden abzurücken. So gesehen bedeutet der Begriff bürgerliches Recht mehr als ein bloß technischer Kunstausdruck; er markiert den geschichtlichen Standort eines Rechts, welches das aufstrebende, die Bindungen der altständischen Gesellschaft abstreifende Bürgertum forderte und dann auch selbst hervorbrachte. Die modernen bürgerlichen Kodifikationen beseitigten das „Recht am Menschen" und trennten den gesellschaftlichen Bereich des wirtschaftlichen und familiären Lebens, für den das Privatrecht galt, von der politisch-staatlichen Sphäre. Der liberale Geist dieses Rechtsdenkens erscheint am eindringlichsten in den Grunddokumenten der „bürgerlichen Revolution": den nordamerikanischen Bills of rights und der französischen Declaration des droits de l ' h o m m e et du citoyen. Der Gedanke individueller Selbstverwirklichung, der Privatautonomie, beherrscht das bürgerliche Recht, dessen Säulen Gleichheit, (Gewerbe-)Freiheit und Privateigentum heißen und das den freien Wettbewerb voraussetzt. Die Postulate des bürgerlichen Liberalismus beeinflußten freilich die Gesetzbücher der verschiedenen Staaten unterschiedlich stark. Das deutsche BGB, „ein Spätwerk des Liberalismus" (Thilo R a m m ) , blieb in w e sentlichen Stücken ein Kompromiß zwischen dem 1848 gescheiterten Bürgertum einerseits, dem regierenden Hochadel der Bundesfürsten und den Standesherren andererseits. Gleichwohl gilt, w a s Franz Wieacker über das soziale Modell der west- und mitteleuropäischen Kodifikationen pointierend gesagt hat: Es beruhte „auf der Usurpation einer einzigen Klasse der Wirtschaftsgesellschaft" und machte das besitzende Bürgertum z u m vornehmlichen Repräsentanten der nationalen Rechtsordnungen auf Kosten anderer sozialer Gruppen. Die Ideale der bürgerlichen Rechtsordnung, zugeschnitten auf die Erfordernisse der unternehmungsfreudigen und kapitalhaltenden Pioniere der industriellen Revolution, verkürzten die Möglichkeiten der alten Adelsherren wie der neu entstehenden Lohnarbeiterklasse. 317
IX. Der konstitutionelle Nationalstaat „Der Codificationsgedanke begegnet noch jetzt häufigem und entschlossenem Widerstand", schrieb Rudolph Sohm 1874. „Es gilt zu zeigen, dass die Codification des bürgerlichen Rechts nicht blos die Folge politischer Ereignisse und Motive, sondern umgekehrt die Folge der inneren Entwicklung des deutschen Rechts ist. Es sind die Interessen des Rechtslebens, und zwar der juristischen Praxis, welche die Codification des Privatrechts für ganz Deutschland dringend fordern." In der Tat: das Privatrecht in Deutschland bot ein buntscheckig-zerplittertes Bild, das die Stammlerschen Ubersichtskarten gut veranschaulichen. Neben Preußen und dem außerhalb des Reiches gebliebenen Osterreich besaßen weitere deutsche Länder einzelstaatliche Kodifikationen, so Bayern seinen wohlgeplanten, deutschsprachigen Codex Maximilianeus Bavaricus civilis von 1756, der noch weithin dem gemeinen Recht und dem Aufbau der römischen Institutionen folgte, und Sachsen sein Bürgerliches Gesetzbuch von 1863/65, ein begrifflich und systematisch vorbildlich durchgearbeitetes Werk. In den linksrheinischen Gebieten wie auch im rechtsrheinischen Baden und im ehemaligen Herzogtum Berg galt der dort eingeführte Code civil von 1804. In den übrigen Teilen Deutschlands beanspruchten zahlreiche Stadt- und Landrechte, Partikulargesetze und Gewohnheiten eine räumlich oft eng begrenzte Geltung. Das rezipierte gemeine Recht römisch-kanonischer Herkunft wendeten die Gerichte in einigen wenigen Landstrichen ausschließlich, im größeren Teil seines Geltungsgebietes indessen subsidiär an. Längst entbehrte diese Vielfalt des inneren Grundes; sie folgte vielfach den Zufällen politischer Vorgänge und Grenzen und deckte sich nicht mehr mit stammesmäßigen Eigenarten. Den Bedürfnissen des dichter, schneller und einheitlicher gewordenen Verkehrs, von Handel und Wandel im „unitarischen Bundesstaat" standen die mannigfachen Partikularrechte als Hemmnisse im Wege. Uber ihnen wölbte sich die gemeindeutsche Pandektenwissenschaft — eine Einheit gewiß, doch fern vom Alltag partikularrechtlicher Gerichtspraxis. „Das deutsche Recht muss", so forderte Sohm, „das einzige Recht in Deutschland sein, damit das Recht der Wissenschaft zugleich auch das Recht der Praxis sei. . . . Die Juristen des preussischen, bairischen, sächsischen Landrechts sollen zu der deutschen Wissenschaft in directe Beziehung gebracht, die Juristen des französischen Rechts von der französischen Wissenschaft gelöst und der deutschen zugewandt werden. . . . Es kommt darauf an, dass das gesammte Recht in ganz Deutschland ein zugleich wissenschaftliches und praktisches sei." Dieser Anspruch ließ sich mit einer Kodifikation erfüllen, die den Ertrag der Wissenschaft realisierte. Die gemeindeutsche Pandektenwissenschaft bot nicht nur Institute und System; sie gewährleistete außerdem eine einheitliche Rechtsausbildung und Rechtsfortbildung. 318
2. Das Bürgerliche Gesetzbuch Die Verfassung des Bismarck-Reiches verhieß eine umfassende Kodifikation des bürgerlichen Rechts ursprünglich nicht. Sie maß dem Reich „die gemeinsame Gesetzgebung über das Obligationenrecht, Strafrecht, Handels- und Wechselrecht und das gerichtliche Verfahren" zu (Art. 4 Ziff. 13), hielt die bundesstaatliche Kompetenz also begrenzt. Doch schon bald erkämpften die unitarischen Nationalliberalen unter ihren Führern Eduard Lasker und Johannes Miquel die gesetzgeberische Zuständigkeit des Reiches auch für das Boden-, Familien- und Vereinsrecht. Ein verfassungsänderndes Reichsgesetz vom 20. Dezember 1873 übertrug nach wiederholten Anläufen seit der Zeit des Norddeutschen Bundes und nach lebhaften parlamentarischen Kontroversen dem Reich endlich „die gemeinsame Gesetzgebung über das gesamte bürgerliche Recht, das Strafrecht und das gerichtliche Verfahren". Ein starkes vaterländisches Pathos trug die Motion: „Das nationale Leben", so Miquel im Reichstag, „das Gefühl der nationalen Zusammengehörigkeit, setzt voraus, daß die Nation begriffen hat, daß das Privatrecht unteilbar ist, daß man nicht ein einzelnes Stück der Gesamtheit einräumen kann und dem Grundsatze nach sehr wesentliche und das wichtigste Stück des Rechtslebens ausschließlich den Gliedern überlassen darf." Mit dem Reichsgesetz von 1873 brach sich das rechtsstaatliche Interesse an einem freien Vereins- und Körperschaftswesen Bahn, ferner das kulturliberale an einem säkularen Eherecht: die obligatorische Zivilehe führte alsbald im Zuge des Kulturkampfes das Personenstandsgesetz von 1875 im Reich ein. Nicht zuletzt k a m die erweiterte Reichskompetenz dem wirtschaftsliberalen Bedürfnis nach einem allgemeinen und freizügigen Liegenschafts- und Hypothekenrecht entgegen. Ohne Erfolg hatte demgegenüber die parlamentarische Opposition der Konservativen und des Zentrums auf die „heilige Tradition" eingewurzelter Gewohnheiten, auf die guten alten und wohlerworbenen Rechte hingewiesen. Das Zentrum hatte sich bei seinem Nein von der Sorge vor einem als kirchenfeindlich verstandenen Eherecht leiten lassen, freilich auch prinzipielle Bedenken vorgetragen: „Einheit dort", so der Abgeordnete Reichensperger, „wo es notwendig ist, w o es als notwendig nachgewiesen ist und z w a r im einzelnen nachgewiesen ist; im übrigen streben w i r nach Einklang des Verschiedenen, nach Einigkeit und vor allem nach Freiheit. Zur Freiheit aber . . . gehört wesentlich, daß man die einzelnen Volksstämme, daß man die einzelnen Landesteile in ihren Gewohnheiten, in ihren Lebensanschauungen, in demjenigen, w a s ihnen durch eine jahrhundertelange Geschichte eigen und lieb geworden ist, nicht ohne die äußerste N o t aufrüttelt, daß man sie ruhig ihr Leben fortleben läßt, wie sie es nun einmal leben wollen."
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IX. Der konstitutionelle Nationalstaat Die Bundesratsmehrheit hatte so lange mit ihrer Zustimmung gezögert, weil sie das nächste Ziel der nationalliberalen Politik: den Erlaß volksrechtlicher Einzelgesetze mißbilligte. Sie wünschte vielmehr eine Kodifikation aus der H a n d von Fachleuten. D a r u m gab der Bundesrat den Weg durch einen Doppelbeschluß frei: Er stimmte der Gesetzgebungskompetenz des Reichs für das gesamte bürgerliche Recht zu und ersuchte zugleich seinen Ausschuß für Justizwesen, über die Einsetzung einer Kommission zur Aufstellung des Entwurfs eines deutschen Bürgerlichen Gesetzbuchs „baldthunlichst Vorschläge zu machen". „Man darf vermuten, daß es Preußen und seinem Ministerpräsidenten nie u m etwas anderes gegangen ist als u m dieses Ergebnis, daß die Nationalliberalen ihren Willen bekamen und das deutsche Reich ein Gesetzbuch, dem — von Fachleuten ausgearbeitet — der politische Zahn' ausgebrochen w a r " (Horst Heinrich Jakobs). N a c h d e m die Reichskompetenz begründet war, begannen sogleich die kodifikatorischen Vorarbeiten. Der Bundesrat wählte „fünf angesehene deutsche Juristen", die Plan und Methode des Werkes beraten sollten. In dem kurzen Zeitraum von knapp einem Monat setzte diese Vorkommission der kommenden zwanzigjährigen Arbeit M a ß und Ziel — ein bemerkenswerter Umstand. Die Länder wollten sich entschlossen an dem Kodifikationsvorhaben beteiligen, und so w u r d e n die Mitglieder der Vorkommission nach bundesstaatlichen Rücksichten ausgewählt. Den meisten Einfluß in ihr gewann der einzige Theoretiker dort: Levin Goldschmidt, damals Rat am Reichsoberhandelsgericht, zuvor Professor in Heidelberg, später zu Berlin. Er verfaßte das entscheidende Gutachten, das sich für die bewährten gemeinschaftlichen Institute und Sätze der Zivilrechtssysteme, also für den Anschluß an das gemeine Recht vornehmlich römischen und weniger deutschen Ursprungs aussprach und einen behutsamen Ausgleich empfahl. Dafür faßte man eine Verbindung von Einzel- und Kommissionsarbeit ins Auge. Die Vorkommission verstand das ganze Vorhaben als eine Bestandsaufnahme, nicht als eine eigentlich rechtspolitische Neuordnung. So fehlte jede inhaltliche Bestimmung der Aufgabe. „Die Kodifikation w i r d als ein vorzugsweise technisches Problem aufgefaßt; die Frage, welche Welt geordnet werden soll und zu welchem Ende, also die politisch-weltanschauliche Frage, findet keine A n t w o r t " (Hans Thieme). N a c h dem Plane der Vorkommission erhielt 1874 eine elfköpfige Kommission den positivistischen Auftrag, „das in Deutschland geltende Privatrecht" auf seine „Zweckmäßigkeit, innere Wahrheit und Folgerichtigkeit" zu prüfen und einen Entwurf herzustellen. Dieser Ersten Kommission saß der Präsident des bis 1878 bestehenden Reichsoberhandelsgerichts, Heinrich Eduard Pape vor. Mit Gottlieb Planck stand ein 320
2. Das Bürgerliche Gesetzbuch weiterer hervorragender Praktiker zu Gebote. Er hat nicht nur in der Ersten, sondern auch in der Zweiten Kommission führend mitgearbeitet und darf als einer der geistigen Väter des BGB gelten. Neben den acht Praktikern w i r k t e n in der Ersten Kommission insgesamt drei — aber gleichzeitig höchstens zwei — Professoren mit, unter ihnen der herausragende Theoretiker Bernhard Windscheid, der wohl bedeutendste Pandektist der Zeit. Er prägte den Ersten Entwurf, den „kleinen W i n d scheid", durch persönliche Kommissionsarbeit und in absentia durch sein berühmtes Pandektenlehrbuch. Im Jahr 1887 präsentierte die Kommission ihren Entwurf mit fünf Bänden Motiven der Öffentlichkeit, die das Werk kritisch aufnahm. Hunderte von Stellungnahmen durch die juristische Fachwelt, von Behörden und Verbänden bewiesen ein verbreitetes Interesse an der nationalen Kodifikation. Die Einwände überwogen; sie rügten die gestelzte Sprache und den Doktrinarismus des Gesetzesaufbaus mit seinen vielen Verweisungen. Namhafte Zeitgenossen schalten die Lebensfremdheit des Entwurfs und seine starke Vernachlässigung volkstümlich-deutscher Rechtsgewohnheiten. Zwei Kritiker stachen mit ihren grundsätzlichen Einwänden besonders hervor: Gierke und Menger. Otto von Gierke (1841-1921), ein Schüler der Rechtsgermanisten Georg Beseler und Carl Gustav Homeyer, hatte sich mit seiner 1868 veröffentlichten „Rechtsgeschichte der deutschen Genossenschaft", dem ersten Teil seines lebenslang betriebenen und monumentalen vierbändigen Genossenschaftsrechts, in Berlin habilitiert und w a r 1887 als berühmter Professor an diesen Ausgangspunkt seiner wissenschaftlichen Laufbahn zurückgekehrt. In der Auseinandersetzung mit den Vorarbeiten z u m BGB k a m Gierkes soziales Rechtsdenken zur vollen A u s w i r kung. Im J a h r 1889 erschien — zuerst in Schmollers Jahrbuch für die Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft — seine Streitschrift: „Der Entwurf eines Bürgerlichen Gesetzbuchs und das deutsche Recht", ein Aufruf zur Selbstkritik des Gesetzgeberwillens — nach dieser Absicht und auch im Widerhall Savignys „Beruf" durchaus verwandt. „Wird dieser Entwurf" von 1887, schrieb Gierke, „nicht in diesem oder jenem wohlgelungenen Detail, sondern als Ganzes betrachtet, w i r d er auf H e r z und Nieren geprüft und nach dem Geiste befragt, der in ihm lebt, so mag er manche lobenswerte Eigenschaft offenbaren. N u r ist er nicht deutsch, nur ist er nicht volkstümlich, nur ist er nicht schöpferisch — und der sittliche und sociale Beruf einer neuen Privatrechtsordnung scheint in seinen Horizont überhaupt nicht eingetreten zu sein! Was er uns bietet, das ist in seinem letzten Kern ein in Gesetzesparagraphen gegossenes Pandektenkompendium. . . . Das innere Gerüst des ganzen Baues v o m Fundament bis z u m Giebel entstammt der Gedanken321
IX. Der konstitutionelle Nationalstaat werkstätte einer v o m germanischen Rechtsgeiste in der Tiefe unberührten romanistischen Doktrin. . . . Mit jedem seiner Sätze wendet dieses Gesetzbuch sich an den gelehrten Juristen, aber z u m deutschen Volke spricht es nicht . . . In kahle Abstraktionen löst es auf, w a s von urständigem und sinnfälligem Rechte noch unter uns lebt . . . " Gierkes im selben Jahre vor der Wiener Juristischen Gesellschaft gehaltene Rede über „Die soziale A u f g a b e des Privatrechts" setzte diese Kritik fort. Sie kämpfte gegen die individualistischen Züge der Pandektistik und für die Gemeinschaftsbindung auch der privaten Rechte. „Mit dem Satze ,kein Recht ohne Pflicht' hängt innig unsere germanische Anschauung zusammen, daß jedes Recht eine ihm immanente Schranke hat. Das romanistische System an sich schrankenloser Befugnisse, welche nur von außen her durch entgegenstehende Befugnisse eingeschränkt werden, widerspricht jedem sozialen Rechtsbegriff. U n s reicht schon an sich keine rechtliche Herrschaft weiter, als das in ihr geschützte vernünftige Interesse es fordert und die Lebensbedingungen es zulassen." N o c h schärfer und prinzipiell ablehnender griff der Wiener Professor für Zivilprozeßrecht und Sozialist Anton Menger (1841-1906) den wissenschaftlichen Positivismus des Entwurfs mit seiner Kampfschrift von 1890 an: „Das bürgerliche Recht und die besitzlosen Volksklassen". Das Thema der Mengerschen Kritik kehrt bei Anatole France wieder in dessen berühmtem sarkastischen Satz von der „majestueuse egalite des lois qui interdit au riche comme au pauvre, de coucher sous les ponts, de mendier dans les rues et de voler du pain". Die Benachteiligung der besitzlosen Volksklassen werde, so Menger, meist dadurch bewirkt, „dass die Gesetzgebung von ihrem formalistischen Standpunkt aus für Reich und A r m dieselben Rechtsregeln aufstellt, während die völlig verschiedene soziale Lage beider auch eine verschiedene Behandlung erheischt". Diese Kritik galt dem scheinbar neutralen Zivilrecht mit seinem Grundsatz der Privatautonomie, das beliebige Arbeits- und Mietkontrakte, unbegrenzte Verschuldung, Erb- und Bodenzersplitterung zuließ und damit eine Vorgabe für die wirtschaftlich Starken und Beweglichen bedeutete. Denn bei ungleichen Startbedingungen bringt die unbegrenzte Privatautonomie als bloße Gestaltungschance auf die Dauer die schwächeren Individuen in wirtschaftliche Abhängigkeit und Unfreiheit. „Was ich also hier im Gegensatze zu den bisherigen A n schauungen vertrete", resümierte Menger, „ist im wesentlichen dieses: dass die modernen Privatrechtssysteme sich überall nicht als geistiges Produkt des ganzen Volkes, sondern nur der begünstigten Volkskreise darstellen und von diesen den besitzlosen Volksklassen durch einen Jahrtausende alten Kampf auferlegt w o r d e n sind".
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2. Das Bürgerliche Gesetzbuch Im Unterschied zu der Kritik Gierkes blieb diejenige Mengers ohne unmittelbaren Einfluß auf den Fortgang des kodifikatorischen Unternehmens. Die sozialen Schutzvorschriften, die das Miet- und Dienstvertragsrecht aufnahm, hielten sich in beschränkten Grenzen; sie hatten ihren Ort in Sondergesetzen außerhalb der Kodifikation. Im ganzen setzte sich der Erste Entwurf als Grundlage der weiteren Arbeit durch. Das Reichsjustizamt, das sie leitete und maßgeblich beeinflußte, berief 1890 eine Zweite Kommission, die das deutsche Recht und die wirtschaftlichen Bedürfnisse stärker als bisher berücksichtigen sollte. In dem neuen Gremium wirkten neben zehn ständigen zwölf nichtständige Mitglieder, unter letzteren vornehmlich Männer der Wirtschaft. Die Kommission veröffentlichte 1895 einen Zweiten Entwurf mit „Protokollen", den ergiebigsten Materialien z u m BGB. O b w o h l viele der alten Mängel k a u m gemildert und hartnäckig fortbestanden, fand das Werk diesmal eine freundlichere Aufnahme, so daß es nach kleineren M o d i f i kationen durch den Bundesrat schon im J a h r 1896 als Dritter Entwurf mit einer Denkschrift des Reichsjustizamtes an den Reichstag gelangte. Hier rangen die Abgeordneten weniger u m juristisch-dogmatische, als vielmehr u m aktuelle rechtspolitische Fragen etwa z u m Vereinswesen und zur Ehe. So fand das eigenhändige Testament erst hier A u f n a h m e als N o r m a l f o r m . A u c h berufsständische Sonderinteressen brachten sich noch einmal zur Geltung. Bedeutsam und bezeichnend verlief der Streit u m die landesrechtlichen Vorbehalte des Einführungsgesetzes: er bewies die noch immer vorhandene beharrende Kraft der Konservativen und Erzföderalisten, die einen guten Teil alter ständischer und bürokratischer Traditionen behaupteten. Überspitzt, doch nicht ohne Grund nannten die Unitarier das Einführungsgesetz die „Verlustliste der deutschen Rechtseinheit". A m 18. August 1896 w u r d e das Gesetzbuch schließlich verkündet. Seine abschließende Redaktion begleiteten weitreichende Reformarbeiten an anderen Justizgesetzen, die es der großen Kodifikation des materiellen bürgerlichen Rechts anzupassen galt. So erfuhren die Civilprozeßordnung, die Konkursordnung und das Zwangsversteigerungsgesetz Novellierungen. Das Allgemeine Deutsche Handelsgesetzbuch wandelte sich völlig: seine „Pionierbestimmungen" gingen in den Allgemeinen Teil und das Schuldrecht des BGB über; der Erlaß des H G B beendete die Rechtseinheit mit Österreich. Die neue Grundbuchordnung folgte w i e das materielle Grundbuchrecht des B G B in wesentlichen Zügen dem preußischen Eigentumsgesetz von 1872. Endlich sei noch das Gesetz über die Angelegenheiten der Freiwilligen Gerichtsbarkeit (FGG) genannt. Alle diese Gesetzeswerke traten gleichzeitig mit dem BGB am 1. Januar 1900 in Kraft. 323
IX. Der konstitutionelle Nationalstaat Das B G B trägt die von M a x Weber gültig beschriebenen M e r k m a l e der modernen Kodifikation: eine hochentwickelte abstrakte Begriffssprache, leidenschaftslos-neutrale Sachlichkeit und wissenschaftliche Präzision zeichnen es aus. Volkstümlichkeit und erzieherische Ansprüche gehen ihm ab. A u c h geriet es nicht aus einem Guß. Gesetze einheitlichen Charakters entspringen — w i e geschichtliche Erfahrung lehrt — nur aus der Feder eines einzelnen Meisters. Das Freiburger Stadtrecht des Ulrich Zasius von 1520, die Carolina des Johann von Schwarzenberg, das Allgemeine Landrecht des Gottlieb Svarez, das A B G B des Franz von Zeiller, das Bayerische StGB Paul Johann Anselm Feuerbachs von 1813 und das Schweizerische ZGB des Eugen Huber aus dem J a h r 1907 liefern dafür den Beweis. Das B G B indessen entstand als Kommissionsarbeit, der gewiß Windscheid als großer Gelehrter in vielem das Gepräge gab, die aber doch als Ertrag gemeinsamen Bemühens aller Mitglieder zustande kam. In beiden Kommissionen überwogen die Praktiker, Richter und Ministerialbeamte, also nicht etwa Professoren. Dies entsprach preußischer Tradition, welche die Redaktion von Gesetzen den Ministerien vorbehielt. Schon das A L R w a r im Unterschied z u m A B G B kein Professorenwerk, sowenig übrigens w i e das Allgemeine Handelsgesetzbuch, der Dresdner Entwurf eines Obligationenrechts und das Reichsstrafgesetzbuch. Die professorale und theoretische Anlage des B G B erklärt sich aus dem Umstand, daß die an seiner Redaktion beteiligten Praktiker durch die Pandektenwissenschaft geformt waren. „Niemals hatten die Katheder so stark auf den höheren Richterstand gewirkt w i e in der ersten Jahrhunderthälfte, in der diese Männer alle noch studiert hatten. Diese gewissenhaften Praktiker w a r e n weder kühn noch anmaßend genug, u m sich w i e die Gesetzgeber des A u f k l ä rungsjahrhunderts von ihrer Lehrzeit zu emanzipieren" (Franz W i e acker). Das fünfgliedrige sogeheißene Pandektensystem der Kodifikation, das als gesetzlicher Plan erstmals im Sächsischen BGB von 1863/65 erscheint, beruht teils auf römischen, teils auf späteren Gedanken. R ö m i scher Provenienz ist die begriffliche Scheidung von Schuld- und Sachenrecht nach formalen juristischen Kriterien. Die Verselbständigung des Familien- und Erbrechts geht auf die naturrechtliche Doktrin von der Doppelnatur des Menschen als Individuum und Gemeinschaftsglied zurück: das Familienrecht löste sich nach diesem Ansatz aus dem Personenrecht, zu dem es nach der Institutionenordnung gehörte, und bildete fortan das erste Stück des Gemeinschaftsrechts. A u c h der Vorspann allgemeiner Regeln rührt von den Naturrechtslehrern, deren Systeme die historische Schule, voran H u g o und Savigny, schließlich die Pandektenwissenschaft nachahmten. Als selbständige Teile bringen Familien- und 324
2. Das Bürgerliche Gesetzbuch Erbrecht Ausschnitte des sozialen Lebens zur Anschauung, während die Kategorien Schuld- und Sachenrecht sich nicht an der Wirklichkeit von Lebensvorgängen orientieren, sondern diese zerschneiden. Der Allgemeine Teil des BGB — von vornherein und bis heute in seinem Wert umstritten — bietet nicht leitende M a x i m e n für Rechtsausübung und -anwendung w i e die prinzipiellen Sätze am Anfang des A L R und des schweizerischen ZGB; er versucht vielmehr unter Anlehnung an das Gaianische Schema: personae, res, actiones, allgemeine Regeln über Rechtssubjekte und -objekte, über Rechtsgeschäfte und Rechtsausübung gleichsam vor die Klammer zu setzen (Gustav Boehmer), u m im Interesse logischer Kürze und Geschlossenheit Wiederholungen zu vermeiden. Freilich enthält er über solche Vorwegnahmen hinaus noch verschiedene besondere Materien. Als „juristische Filigranarbeit von außerordentlicher Präzision" (Hellmut Georg Isele) und „begrifflicher Disziplin" (Franz Wieacker) entbehrt die Kodifikation der anschaulichen Lebensnähe und Volkstümlichkeit. Der abstrakten Begrifflichkeit ihres Inhalts entspricht die Gesetzessprache. Seit der Rezeption beherrschten lateinische Kunstausdrücke Jurisprudenz und Rechtspraxis. Eingedeutscht durchziehen sie auch das B G B — mit allen Vorzügen und Nachteilen des römisch-pandektistischen Erbes. Die Klarheit und knappe Genauigkeit des lateinischen Satzbaus bedeutet einen Vorzug dieser Fachsprache, deren N ü c h ternheit und Technik andererseits jedes politische oder erzieherische Pathos und alle einprägsame Eleganz vermeidet. Das BGB spricht an vielen Stellen eine dem Bürger unverständliche Kunstsprache. „Das BGB wollte niemals volkstümlich sein, sondern w a r stolz auf seine spröde Gelehrtheit" (Klaus Adomeit). Zu überschwenglich feierte der Dichter-Jurist Ernst von Wildenbruch das neue Gesetzbuch, w e n n er es auf der Titelseite der Deutschen Juristen-Zeitung vom 1. Januar 1900 unter anderen mit den folgenden Zeilen begrüßte: „ N u n wandelt durch das deutsche Vaterland — Gerechtigkeit im heimischen Gewand. — Sie spricht, und jedem Ohre klingt's vertraut, — Denn in der Muttersprache tönt ihr Laut. — A u s ihres Volkes tiefstem Seelenschatz — Schöpft sie ihr Wort, Wahrspruch und Rechtes Satz . . . " Das P u b l i k u m jedenfalls empfing die Kodifikation ohne große Anteilnahme, w i e Memoiren und zeitgenössische Berichte zeigen. U m so stärker w a r bezeichnenderweise die wissenschaftliche Resonanz, welche das Gesetz in Deutschland und auch im Ausland fand. N a c h seinem Inhalt, seinem Menschen- und Sozialbild, ist das B G B ein Kompromißgeschöpf (Gustav Boehmer), in dem sich die liberalen w i e die obrigkeitlichen Züge des Kaiserreiches widerspiegeln. W i e die konstitutionelle Bismarcksche Reichsverfassung, der das BGB insofern 325
IX. Der konstitutionelle Nationalstaat gleicht, bringt die Kodifikation das Arrangement zwischen der weiter aufstrebenden bürgerlichen Schicht und den alten, noch immer nicht eigentlich besiegten monarchisch-ständischen Kräften z u m Ausdruck, deckt es tiefreichende Bruchlinien in einer zunehmend mobilen und d y namischen Gesellschaft nur zu. Der rasch anschwellende Vierte Stand sieht seine Bedürfnisse und die Probleme der unselbständigen Lohnarbeit in dem neuen Gesetzbuch k a u m geregelt. Uberhaupt findet der u m w ä l z e n d e Wandel der sozialen und wirtschaftlichen Struktur, der Ubergang Deutschlands v o m Agrar- z u m Industriestaat mit seinen k o m m u n a l e n und betrieblichen Zusammenballungen und seinem Massenverkehr, mit der fortschreitenden gesellschaftlichen Emanzipation der Frau und mit den wachsenden Ansprüchen und Einflüssen der öffentlichen H a n d auf das Wirtschaftsleben k a u m einen Niederschlag im bürgerlichen Gesetzbuch. N a c h einem Wort Paul Oertmanns aus dem Jahr 1900 weist das B G B eine „weniger reformatorische als konfirmatorische Grundtendenz" auf. „Die historische gesetzgeberische Entscheidung zwischen Konfliktintegration und Konfliktexklusion fällt insofern überwiegend zugunsten des Ausklammerns aus" (Reinhard D a m m ) . Den Belangen des kleinen Mannes und des Handarbeiters suchte das B G B an einzelnen Stellen gerecht zu werden, etwa mit der Billigkeitshaftung des § 829 und den Schutzvorschriften der §§ 616-619, die noch fürsorglich-patriarchalischen Geist atmeten. Patriarchalische M e r k m a l e bewahrte sich auch das Familienrecht mit seiner altbürgerlichen Bevorzugung des Mannes. Er behielt das Entscheidungsrecht in gemeinschaftlichen ehelichen Angelegenheiten und die ungeteilte elterliche Gewalt, auch den Vorrang im Güterrecht. Wohlfahrtsstaatliche Grundsätze prägten das Vormundschaftsrecht. Die nichteheliche Mutter und ihr Kind blieben diskriminiert. Im Schuld- und Sachenrecht dominierten die Interessen der bürgerlichen Wirtschaftsgesellschaft. Die soziale Kontrolle der Privatrechte hielt sich in den engen Schranken des Liberalismus. Das Grundprinzip der Vertragsfreiheit, in der technischen Formel des § 305 nur angedeutet, galt als selbstverständliche und weitreichende Maxime. Die laesio enormis und das materielle Äquivalenzprinzip, die den Vertragspartner seit dem Mittelalter vor groben Ubervorteilungen schützten, ließ das B G B nach dem Vorbild des A D H G B fallen, wie es die clausula rebus sie stantibus mit den bezeichnenden Ausnahmen der §§ 321 und 610 verwarf. Das alte kanonische Gebot des iustum pretium entsprach der Vertragsfreiheit in den A u g e n des Gesetzgebers nicht, der überhaupt die Gefahren der Privatautonomie für die wirtschaftlich Schwächeren weitgehend übersah. Im Liegenschaftsrecht setzte das BGB die seit Beginn des 19. Jahrhunderts vonstatten gehende Mobilisierung und Kommerzialisie326
2. Das Bürgerliche Gesetzbuch rung der Bodenwerte und des Grundkredits fort. Im Erbrecht blieb der römisch-liberale Grundton vorherrschend: die Testierfreiheit bot das Leitbild. Der privatrechtlichen Gestaltungsfreiheit entsprach ein unerbittliches Vollstreckungsrecht. Im ganzen gab diese bürgerlich-liberale Ordnung der Zuversicht einer Epoche Ausdruck, die an den Bestand ihrer prosperierenden Wirtschaft glaubte und auf Vernunft und Selbstverantwortung der Rechtsgenossen baute. D e m obrigkeitlichen Polizeistaat gab das Vereins- und Stiftungsrecht des BGB Raum. Zwar löste es das Konzessionssystem durch das Prinzip der Normativbedingungen ab, beließ aber der Verwaltungsbehörde die Möglichkeit, die Eintragung eines politischen, sozialpolitischen oder religiösen Vereins durch Einspruch zu hindern: ein verdeckter Konzessionszwang, den erst die Weimarer Reichsverfassung aufhob. Den Verein ohne Rechtsfähigkeit verkürzte das Gesetz, indem es ihn in die unpassende Zwangsjacke der bürgerlichen Gesellschaft nach den §§ 705 ff. steckte (Gustav Boehmer); die Vorschrift des § 54 sollte auf diese Weise die körperschaftlich organisierten Vereine, insbesondere die arbeitsrechtlichen Gewerkschaften und die religiösen Genossenschaften, zur Eintragung nötigen und so staatlicher Kontrolle unterwerfen. Es blieb der Judikatur vorbehalten, in vielen Schritten diese die Rechtswirklichkeit vergewaltigende Regel einzuschränken. Eine ganze Reihe weiterer autoritärer und obrigkeitlicher Relikte hielt sich kraft der landesrechtlichen Vorbehalte. U b e r w i e g t im B G B die römisch-rechtliche Tradition, so finden sich doch in allen Büchern dank der Motionen Gierkes und anderer Germanisten auch Anteile deutschen Rechts. Der Gutglaubensschutz, die Gesamthand, das Grundbuch und weitere, von der deutschen Privatrechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts entfaltete Institute fanden in der Kodifikation ihren Platz. Der Gesetzgeber erstrebte mit dem BGB eine Kodifikation im Sinne einer abschließenden und erschöpfenden Ordnung. Er folgte bei seinem Werk den positivistischen Idealen der Lückenlosigkeit und strenger richterlicher Bindung an das Gesetz. Der Absicht der Gesetzesverfasser, mit ihrem Werk das gesamte Zivilrecht ausschließlich des Handelsrechts zu umfassen, vermochte das BGB indessen nicht zu entsprechen. Gewichtige Materien behielt das Einführungsgesetz den Ländern vor: das bäuerliche Höferecht, das Berg-, Wasser-, Fischerei-, Forst-, J a g d - und Stammgüterrecht. Das Urheber· und das Privatversicherungsrecht sowie den Abzahlungskauf regelten von Anfang an besondere Reichsgesetze außerhalb des BGB. Das 1896 vernachlässigte Arbeitsrecht entwickelte für die kollektiven Bereiche des Tarifvertrags und der Betriebsverfassung seit 1918 eine eigene 327
IX. Der konstitutionelle Nationalstaat Gesetzgebung und gestaltete auch das Arbeitsvertragsrecht eigenartig aus. Die wirtschaftlichen und sozialen Krisen im Gefolge der Weltkriege und der Konjunkturumbrüche hatten eine wahre Sintflut besonderer Gesetze im Gefolge, die den liberalen Grundzug des BGB vielfach verließen und — zumindest temporär — durch ein dichtes öffentlich-rechtliches N e t z ersetzten. N e b e n dem Wirtschaftsrecht gestalteten sich auch das Verkehrs-, das Wohnungs-, Bau-, Pacht- und Siedlungsrecht außerhalb des BGB. Die Rechtsfortbildung durch den Gesetzgeber erfolgte somit weitgehend ohne tiefen Einschitt in das N o r m g e f ü g e der großen bürgerlichen Kodifikation selbst. Ihren Text und Inhalt änderten in größerem U m f a n g familienrechtliche Novellen, namentlich das Ehegesetz (1938, 1946), das Gleichberechtigungsgesetz (1957), das Familienrechtsänderungsgesetz (1961), das Gesetz über die rechtliche Stellung der nichtehelichen Kinder (1969), das Betreuungsgesetz (1990) und weitere Legislationen, in denen sich die gesellschaftlichen Entwicklungen abbilden. Insgesamt haben die vielen bürgerlich-rechtlichen, zuletzt oft von Brüssel angestoßenen Einzelgesetze die geistige Einheit der großen Kodifikation aber geschwächt. Zunächst erwarb sich das B G B das Ansehen unerschütterlicher Stabilität. Seinen Fortbestand gewährleisteten indessen nicht allein die thematisch-stoffliche Begrenztheit und die fachjuristische Gesetzestechnik mit ihrem hohen Abstraktionsgrad, sondern auch die Generalklauseln: ein Zugeständnis des Gesetzespositivismus an die richterliche Eigenverantwortung und an eine überpositive Sozialethik. M i t seinen Verweisungen auf Treu und Glauben, auf die guten Sitten, den wichtigen Grund, die Verhältnismäßigkeit und andere nicht-kasuistische M a x i m e n hat der Gesetzgeber sein Werk anpassungsfähig und elastisch gehalten. Die Generalklauseln bildeten das legale Tor für neue Wertungen und Ideen und bewahrten das B G B vor dem Uberholtwerden durch die Zeitläufe. Freilich leisteten sie — und darin bestand der verhängnisvollste Teil ihrer Kehrseite — auch der Rechtsperversion durch den Nationalsozialismus Vorschub. Mit dem Grundgesetz gewannen die Generalklauseln ihre positive, im gewaltenteiligen Rechtsstaat freilich auch immer begrenzte Funktion zurück, die an das Urteil des Richters höchste Ansprüche stellt. Die wissenschaftlichen und technischen Vorzüge des B G B und seine Abstraktheit erklären auch die A u f n a h m e unserer Kodifikation durch fremde Kulturen und Sozialordnungen. Nicht nur die Zivilgesetzbücher der Schweiz (1907) und — durch sie vermittelt — der Türkei (1926) sowie die Novellen z u m A B G B (1914-1916) standen unter dem Einfluß des BGB. A u c h Japan (1898), Brasilien (1916), Thailand (1925), Peru 328
1. Novemberrevolution 1918 (1936) und Griechenland (1940) folgten Inhalt und System des deutschen Gesetzes auf weiten Strecken. In Ostdeutschland — der ehemaligen D D R — w u r d e das BGB in der Zeit von 1945 bis 1974 stückweise abgebaut und 1975 durch ein sachlich weit engeres, sprachlich und systematisch zu Teilen jedoch besser gelungenes 2 G B ersetzt, dem ein 1966 in Kraft getretenes eigenes Familiengesetzbuch vorausgegangen war.
X. Versuchte Demokratie: Weimar 1. Novemberrevolution
1918
BADEN, Prinz Max von: Erinnerungen und Dokumente, 1927; BARTH, Emil: Aus der Werkstatt der deutschen Revolution, 1919; BENZ, Wolfgang: Quellen zur Zeitgeschichte, 1973 = Deutsche Geschichte seit dem Ersten Weltkrieg Bd. 3; BERNSTEIN, Eduard: Die deutsche Revolution von 1918/19. Geschichte der Entstehung und ersten Arbeitsperiode der deutschen Republik. Hg. u. eingeleitet von Heinrich August WLNKLER und annotiert von Teresa LÖWE, Neuausgabe der Auflage 1921, 1998; BOSL, Karl (Hg.): Bayern im Umbruch. Die Revolution von 1918, ihre Voraussetzungen, ihr Verlauf und ihre Folgen, 1969; DAHN, Horst: Rätedemokratische Modelle. Studien zur Rätediskussion in Deutschland 1918-1919, 1975; Friedrich Ebert und seine Zeit. Ein Gedenkwerk über den ersten Präsidenten der Deutschen Republik, 1928; ELBEN, Wolfgang: Das Problem der Kontinuität in der deutschen Revolution. Die Politik der Staatssekretäre und der militärischen Führung vom November 1918 bis Februar 1919, 1965; ENGEL, Gerhard, HOLTZ, Bärbel u. MATERNA, Ingo (Hgg.): Groß-Berliner Arbeiter- und Soldatenräte in der Revolution 1918/19. Dokumente der Vollversammlungen und des Vollzugsrates. Vom Ausbruch der Revolution bis zum 1. Reichsrätekongreß, 1993; GÖRLITZ, Walter: November 1918. Bericht über die deutsche Revolution, 1968; HAFFNER, Sebastian: Die deutsche Revolution 1918/19. Wie war es wirklich?, 1979 = 2. Aufl. v. Die verratene Revolution, 1969; HEIBER, Helmut: Die Republik von Weimar, 20 1994 = dtv 4003; HOCK, Klaus: Die Gesetzgebung des Rates der Volksbeauftragten, 1987; HUBER, Ernst Rudolf (Hg.): Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. 3: Deutsche Verfassungsdokumente 1900-1918, 3 1990, Bd. 4: Deutsche V e r f a s s u n g s d o k u m e n t e 1919-1933,
31992;
HUBER, E r n s t
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dolf: Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. 5: Weltkrieg, Revolution und Reichserneuerung 1914-1919, 1992; KALLER, Gerhard: Die Revolution des Jahres 1918 in Baden und die Tätigkeit des Arbeiter- und Soldatenrats in Karlsruhe, in: ZGO 114, 1966, 301-350; KLUGE, Ulrich: Soldatenräte und Revolution. Studien zur Militärpolitik in Deutschland 1918/19, 1975; KLUGE, 329
X. Versuchte Demokratie: Weimar Ulrich: Die deutsche Revolution 1918/19, 1985; KOCH, Hans-Jörg: Der 9. November in der deutschen Geschichte. 1918 — 1923 — 1938 — 1989, 2 2000; KOLB, Eberhard: Die Arbeiterräte in der deutschen Innenpolitik 1918-1919, 1962; KOLB, Eberhard (Hg.): Vom Kaiserreich zur Weimarer Republik, 1972; KOLB, Eberhard: Die Weimarer Republik, 2 1988; KOLB, Eberhard: Umbrüche deutscher Geschichte 1866/71, 1918/19, 1929/33. Ausgewählte Aufsätze zum 6 0 . G e b . , h g . v. D i e t e r LANGEWIESCHE U. K l a u s SCHÖNHOVEN, 1 9 9 3 ; KOLB,
Eberhard (Hg.): Friedrich Ebert als Reichspräsident. Amtsführung und Amtsverständnis, 1997 = Schriftenreiche der Stiftung Reichspräsident-FriedrichEbert-Gedenkstätte 4; KOLB, Eberhard u. RORUP, Reinhard (Hgg.): Der Zentralrat der Deutschen Sozialistischen Republik 19.12.1918-8.4.1919. Vom ersten zum zweiten Rätekongreß, 1968 = Quellen z. Gesch. d. Rätebewegung in Deutschland 1918/19 Bd. 1; KuCHINKE, Kurt: Die deutsche Revolution von 1918 und ihre Folgen für das Privatfürstenrecht, in: Vom mittelalterlichen Recht zur neuzeitlichen Rechtswissenschaft. Bedingungen, Wege und Probleme der europäischen Rechtsgeschichte, hg. v. Norbert BRIESKORN, Paul MIKAT, D a n i e l a
MÜLLER U. D i e t m a r
WILLOWEIT,
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330
1. Novemberrevolution 1918 tastrophe von 1918, 1968; RITTER, Gerhard A. u. MILLER, Susanne (Hgg.): Die deutsche Revolution 1918, 1919. Dokumente, 2 1983 = Fischer TB 4300; ROSENBERG, Arthur: Geschichte der Weimarer Republik, 171975; ROSENBERG, Arthur: Entstehung der Weimarer Republik, lz 1977; ROSENBUSCH, Ute: Der Weg zum Frauenwahlrecht in Deutschland, 1998 = Schriften zur Gleichstellung der Frau, Bd. 20; RORUP, Reinhard: Probleme der Revolution in Deutschland 1918/19, 1968; SCHADE, Franz: Kurt Eisner und die bayerische Sozialdemokratie, 1961; SCHEIDEMANN, Philipp: Memoiren eines Sozialdemokraten, 2 Bde., 1928; SCHEYHING, Robert: Landsmannschaftliche Zugehörigkeit als Motiv politischer Handlungen. Der „Württembergische General" Wilhelm Groener in der Novemberkrise 1918, in: ZWLG 40, 1981, 580-602; SCHMIDT, Ernst-Heinrich: Heimatheer und Revolution 1918. Die militärischen Gewalten im Heimatgebiet zwischen Oktoberreform und Novemberrevolution, 1981; SCHÜDDEKOPF, Otto-Ernst (Hg.): Das Heer und die Republik. Quellen zur Politik der Reichswehrführung 1918 bis 1933, 1955; SCHULZE, Hagen: Weimar. Deutschland 1917-1933, 2 1983; STRAUB, Eberhard: Drei letzte Kaiser. Der Untergang der großen europäischen Dynastien, 1998; ToRMlN, Walter: Zwischen Rätediktatur und sozialer Demokratie. Die Geschichte der Rätebewegung in der deutschen Revolution 1918/19, 1954; TROELTSCH, Ernst: Spektator-Briefe. Aufsätze über die deutsche Revolution und die Weltpolitik 1918/22, hg. v. Hans BARON, 1924; WEHLER, Hans-Ulrich: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Vierter Band: Vom Beginn des Ersten Weltkriegs bis zur Gründung der beiden deutschen Staaten 1914-1949, 2003; WETTE, Wolfram: Gustav Noske. Eine politische Biographie, 1987; WINKLER, Heinrich August: Die Revolution von 1918/19 und das Problem der Kontinuität in der deutschen Geschichte, in: HZ 250, 1990, 303-319; WINKLER, Heinrich August: Weimar 1918-1933. Die Geschichte der ersten deutschen Demokratie, 2 1994; WLNKLER, Heinrich August: Der lange Weg nach Westen. 1. Bd.: Deutsche Geschichte vom Ende des Alten Reiches bis zum Untergang der Weimarer Republik, 3 2001; WLRTH, Thomas: Adelbert Düringer — Jurist zwischen Kaiserreich und Republik, 1989; ZUCKMAYER, Carl: Als wär's ein Stück von mir. Hören der Freundschaft, 1966 (1971).
Trotz der tiefen Zäsur, als die sich der Ausbruch der Novemberrevolution in das politische Bewußtsein der Zeitgenossen einprägte, vollzog sich der Ubergang vom Kaiserreich zur Republik in mehreren, sich voneinander abhebenden Perioden. Auf die fünf Wochen der vorrevolutionären parlamentarischen Regierung der Mehrheitsparteien unter der Kanzlerschaft des Prinzen M a x von Baden folgten das revolutionäre Ubergangsregiment der Volksbeauftragten und die nur gut vier Monate währende Amtszeit des am 13. Februar 1919 gebildeten ersten Kabinetts der Weimarer Koalition unter Führung des sozialdemokratischen Ministerpräsidenten Philipp Scheidemann, der am 9. November 1918 v o m Reichstagsgebäude herab die deutsche Republik ausgerufen hatte. Der 331
X. Versuchte Demokratie: Weimar „politisch entscheidende U m b a u der staatlichen Machtfaktoren" war, w i e Friedrich Meinecke pointiert feststellte, „unter dem Drucke der militärisch-politischen Lage schon vor dem 9. November erfolgt", w ä h rend durch die Ereignisse jenes Tages „eigentlich nur noch die republikanische Spitze und das Frauenwahlrecht" hinzugekommen seien. Den zumal durch die außenpolitischen Verhältnisse geforderten Wechsel vom konstitutionellen z u m parlamentarischen System bewirkte die lange verlangte und nun doch überraschend k o m m e n d e Verfassungsreform v o m Oktober 1918. Die sich im Spätsommer jenes Jahres nach den Gegenoffensiven der Entente deutlich abzeichnende Niederlage Deutschlands in dem nun schon seit 1914 dauernden, immer unermeßlichere Opfer fordernden Weltkrieg veranlaßte die mit ihrem alten Kurs brechende militärische Führung unter Erich Ludendorff und die politischen Parteien des Reichstags, einen neuerlichen Kanzlerwechsel bei gleichzeitigem Ubergang zur vollen parlamentarischen Regierungsweise vorzunehmen. Bürgerliche und sozialdemokratische Abgeordnete einigten sich auf die Ernennung des Prinzen M a x von Baden z u m Reichskanzler am 3. Oktober 1918. Der aus einem liberalen Fürstenhaus stammende badische Thronfolger hatte sich nicht zuletzt durch sein Eintreten für einen maßvollen und rechtzeitigen Verhandlungsfrieden empfohlen. Der von ihm gebildeten „Oktoberregierung" gehörten neben Abgeordneten der Nationalliberalen Partei, des Zentrums und der Fortschrittlichen Volkspartei auch führende Sozialdemokraten an. Das Reichsoberhaupt hatte sich seinerseits für eine vom Vertrauen des Volks getragene Regierung erklärt. In seiner Ansprache an die Staatssekretäre des neuen Reichskabinetts bekräftigte Wilhelm II. am 21. Oktober seinen Entschluß, „daß der neuen Zeit eine neue Ordnung entsprechen", der „Bau des Reiches im Innern durch neue und breitere Grundlagen" gesichert werden solle. A m 28. Oktober 1918 schufen verfassungsändernde Gesetze die staatsrechtlichen Grundlagen für den vollen Ubergang von der konstitutionellen zur parlamentarischen Ordnung. Den Kern des neuen Rechts bildeten die dem Artikel 15 der Bismarckschen Reichsverfassung hinzugefügten Sätze: „Der Reichskanzler bedarf zu seiner Amtsführung des Vertrauens des Reichtags. Der Reichskanzler trägt die Verantwortung für alle Handlungen von politischer Bedeutung, die der Kaiser in Ausübung der ihm nach der Reichsverfassung zustehenden Befugnisse vornimmt." Gegebenen Zusagen folgend, veranlaßte Prinz M a x von Baden den Obermilitärbefehlshaber, die Versammlungs- und Pressefreiheit durch einen Erlaß v o m 2. November 1918 in weitem U m f a n g wiederherzustellen. Doch die verfassungsrechtliche Stärkung des 1912 gewählten und längst überständigen Parlaments konnte das Heranreifen der Revolution 332
1. Novemberrevolution 1918 sowenig verhindern wie die Einführung der Verhältniswahl in den großstädtischen Wahlkreisen durch ein Reichsgesetz vom 24. August 1918 und der Beschluß des Berliner Herrenhauses vom 24. Oktober 1918, das Dreiklassenwahlrecht in Preußen endlich abzuschaffen. Die kritische außenpolitische Situation, die Kriegsmüdigkeit im Innern und die Erschöpfung der Fronttruppen deuteten bereits auf den Sturz der Monarchie. Aus den schweren Niederlagen vom August und September 1918 zog die Oberste Heeresleitung die militärisch gebotene Konsequenz, indem sie vom Reichskanzler ein sofortiges Friedensersuchen an die Feindmächte forderte. Dementsprechend wandte sich der deutsche Regierungschef am 3. Oktober an den amerikanischen Präsidenten Wilson, der in zähem Notenwechsel den Entscheid bis zum 5. November 1918 hinzog in dem Bestreben, die militärische Lage Deutschlands zunächst sich weiter verschlechtern zu lassen. In seiner dritten Note vom 23. Oktober 1918 verlangte Wilson unverhüllt die Abdankung des Kaisers. Er betrachte es als seine Pflicht, notifizierte der Präsident, „auszusprechen, daß die Völker der Welt kein Vertrauen in die Worte derjenigen setzen und setzen können, die bisher die Beherrscher der deutschen Politik gewesen sind". Wilsons fast ultimatives Verlangen, der Kaiser möge abdanken, führte zu einem dramatischen Ringen zwischen dem Reichskanzler und der Obersten Heeresleitung. Seitdem der sozialdemokratische Staatssekretär Philipp Scheidemann am 29. Oktober 1918 den Reichskanzler aufgefordert hatte, die Abdankung Wilhelms II. zu erwirken, sah Prinz Max von Baden im Thronverzicht des Kaisers und des Kronprinzen das letzte Mittel, um die Monarchie zu retten. Doch Wilhelm II., der sich ins Große Hauptquartier nach Spa begeben hatte, lehnte — unterstützt vom Chef der Obersten Heeresleitung Hindenburg und dem Ersten Generalquartiermeister Groener — am 1. November 1918 den Thronverzicht ab. Unterdessen hatte während der letzten Oktobertage mit der Meuterei der Matrosen auf der Schillig-Reede vor Kiel die Revolution in Deutschland begonnen. „Die Revolution war in erster Linie eine Militärrevolution, sie ist gleichzeitg an weit auseinanderliegenden Stellen der Front und in der Heimat aufgeflammt. Ihr Verlauf war überall derselbe: ein kampfloses Zusammenbrechen, ein Verschwinden der Offiziere, eine Herrschaft der Soldatenräte und dann ein Durcheinander, während die Soldaten und Matrosen zunächst nur eine Art vergnügten Feriengefühls zeigten." Diese zeitgenössischen Sätze aus der Feder von Ernst Troeltsch kennzeichnen die Vorgänge, die spontan begannen und abliefen. Matrosen aus Kiel und Wilhelmshaven trugen die Umsturzbewegung schnell in die Städte des Küsten-, dann auch des Binnenlandes; an vielen Orten bildeten sich Soldaten- und Arbeiterräte als lokale Träger der Revolu333
X. Versuchte Demokratie: Weimar tion, ohne daß organisierte Verschwörer die Regie geführt hätten, w i e eine hartnäckige Legende behauptete. „Zwar firmierte die Revolution als sozialistische und erkor die rote Fahne zu ihrem Symbol. Aber sie w a r nicht von den sozialistischen Parteien gemacht worden; und der Ruf nach dem Sozialismus, der sich nach dem 9. November überall im Lande erhob, w a r nicht eine Ursache, sondern eine Folge der N o v e m berrevolution. Die Erwartungen der Massenbewegung konzentrierten sich wie selbstverständlich auf die Sozialdemokratie, die als die traditionelle Gegenpartei des kaiserlichen Deutschland im politischen B e w u ß t sein fortlebte, wobei die gegenwärtige Aufspaltung des sozialistischen Lagers nur eine sekundäre Rolle spielte" (Erich Matthias). In seinem bewegenden und überzeugenden Lebensbuch erzählt Carl Zuckmayer, w i e er als junger Offizier, angetan mit einer roten A r m binde und getragen v o m Vertrauen seiner Leute, nach verlorenem Weltkrieg den Rest seiner Truppe über die Rheinbrücke bei Kehl führte: „Haben w i r im J a h r 1918 eine Revolution erlebt? Was ich davon sah, w a r ein Zusammenbruch, der nur vorübergehend revolutionäre Züge trug und dessen N a c h w e h e n fünf Jahre dauerten — bis z u m Ende des Jahres 1923. Es gab keine ,Novemberverbrecher'. Es gab keine allgemeine, große Volkserhebung, auch keinen organisierten Aufstand . . . Was stattfand, w a r die Uberleitung einer militärisch und wirtschaftlich ruinierten Nation aus ihrer historischen in eine der Gegenwart gemäße, demokratische Ordnung . . . Das Volk w a r müde, erschöpft, enttäuscht, und in seiner Mehrheit keineswegs revolutionär gestimmt. ,Friede und Brot' stand auf den Schildern . . . " . Der jahrelange Streit u m die Kriegskredite hatte die deutsche Sozialdemokratie 1916/17 gespalten: in die Mehrheitspartei unter Friedrich Ebert und Philipp Scheidemann und eine oppositionelle Minderheit, die sich zur Unabhängigen Sozialdemokratie unter Eduard Bernstein, dem theoretischen Haupt des Revisionismus, und Kurt Eisner zusammenfand. Als geschlossen und einheitlich konnte keine der beiden Gruppen gelten. Zur U S P D gehörte formell der Spartakusbund mit Rosa L u x e m burg und Karl Liebknecht, eine zunächst am Rand des Kräftefeldes bleibende Organisation aus der Illegalität, die sich Ende Dezember 1918 als Kommunistische Partei Deutschlands endgültig verselbständigte. Zum linken radikalen Flügel der U S P D rechneten auch die revolutionären Obleute, die Vertrauensleute der Berliner Großbetriebe, besonders der Metallindustrie. Diese Gruppe unter Richard Müller und Georg Ledebour vertrat den kompromißlosen sozialistischen Staat und das uneingeschränkte Räteprinzip; sie gewann im November 1918 über den GroßBerliner Vollzugsrat der Arbeiter- und Soldatenräte starkes politisches Gewicht. Mehrheitssozialdemokratie w i e U S P D trachteten danach, ih334
1. Novemberrevolution 1918 ren Einfluß auf die sich ausbreitende Bewegung mit ihren Demonstrationen, Ausständen und lokalen Arbeiter- und Soldatenräten zu gewinnen und zu behalten. Beide Parteien gaben dem wachsenden Druck der Aufstandsbewegung in einem Maße nach, das ihnen die Kontrolle über den Ablauf der Ereignisse und die eigene Anhängerschaft beließ. Die USPD sah sich dabei von ihrem linken Flügel ebenso bedrängt wie die Mehrheitssozialdemokratie von der Konkurrenz der Unabhängigen. Freilich erschien die Ausgangslage für die Mehrheitssozialdemokratie schwieriger, weil die Oktoberparlamentarisierung sie zur Regierungspartei hatte aufsteigen lassen. Am 7. November verlangte sie, deren rechter Flügel noch immer um die Erhaltung der Monarchie mittels einer Regentschaft bemüht blieb, den Rücktritt des Kaisers und des Kronprinzen bis zum Mittag des folgenden Tages, andernfalls werde sie — so hieß es in dem Ultimatum — die sozialdemokratischen Minister aus der Regierung zurückziehen. Auch Prinz Max von Baden drängte auf den Thronverzicht. Seinen Vorschlag lehnte der Kaiser am 8. November erneut brüsk ab. Nachdem die sozialdemokratische Partei ihr Ultimatum bis zum 9. November verlängert hatte, setzten der Reichskanzler und Staatssekretär Solf den Versuch fort, den Kaiser zum Thronverzicht zu bewegen. Am 9. November brach die Revolution in der Reichshauptstadt aus. Die Führung der alten SPD zog nun die Konsequenzen aus ihrem Ultimatum, um die Freiheit zu gewinnen, „bei einer notwendigen Aktion gemeinsam mit den Arbeitern und Soldaten vorzugehen" (Friedrich Ebert). In dem Willen, ihren Einfluß zu behaupten und die Initiative nicht den Unabhängigen und Linksradikalen zu überlassen, adoptierte die Mehrheitssozialdemokratie die Revolution, die sie bis zur letzten Stunde einzudämmen versucht hatte. Dabei wollte Ebert den Bruch mit den bisherigen Koalitionspartnern vermeiden und insbesondere das Weiteramtieren der als Ressortchefs fungierenden Staatssekretäre, also der alten Fachminister, gewährleisten. Um die Mittagsstunde des 9. November 1918 erklärte der sozialdemokratische Parteivorstand gegenüber dem Reichskanzler Prinz Max von Baden: „Damit die Ruhe und Ordnung gewahrt werden, haben unsere Parteigenossen uns beauftragt, dem Herrn Reichskanzler zu erklären, daß wir es zur Vermeidung von Blutvergießen für unbedingt erforderlich halten, daß die Regierungsgewalt an Männer übergeht, die das volle Vertrauen des Volkes besitzen. Wir halten es deshalb für nötig, daß das Amt des Reichskanzlers und das des Oberkommandierenden in den Marken durch Vertrauensmänner unserer Partei besetzt wird. Wir haben in dieser Sache sowohl unsere Partei als auch die Partei der Unabhängigen Sozialdemokraten geschlossen hinter uns. Auch die Truppen 335
X. Versuchte Demokratie: Weimar sind für uns gewonnen. O b die Unabhängigen in die neue Regierung eintreten wollen, darüber sind sie sich noch nicht einig; falls sie sich dazu entschließen, müssen w i r wünschen und verlangen, daß sie aufgenommen werden. W i r haben auch nichts gegen die A u f n a h m e von Vertretern der bürgerlichen Richtung; nur müßten w i r die ausgesprochene Mehrheit in der Regierung behalten. Darüber wäre noch zu verhandeln." Prinz M a x von Baden, der k u r z zuvor — noch ohne ausformulierte Instruktion aus dem Großen Hauptquartier — die A b d a n k u n g Kaiser Wilhelms II. bekanntgemacht hatte, entsprach dem sozialdemokratischen Vorstoß sogleich und übertrug dem Parteivorsitzenden Ebert „die Wahrnehmung der Geschäfte des Reichskanzlers vorbehaltlich der gesetzlichen Genehmigung". Diese Formel sollte die verfassungsmäßige Legalität wahren, obwohl die Unvereinbarkeit der Amtsübergabe mit dem geltenden Reichsrecht außer Zweifel stand. Trotz ihrer rechtlichen Fragwürdigkeit bedeutete die sofortige Ü b e r n a h m e des Kanzleramtes durch Ebert für den weiteren Verlauf des U m b r u c h s viel, weil kein Interregnum entstand, zumal die „Zustimmung der sämtlichen Staatssekretäre", von welcher Ebert in seinem ersten Aufruf an das deutsche Volk sprach, das Weiterfunktionieren des Regierungsapparates verhieß. Die Position der Mehrheitssozialdemokraten verstärkte sich weiter dadurch, daß — w i e d e r u m staatsrechtlich ungedeckt — noch am N a c h mittag des 9. November Philipp Scheidemann, der erst am M o r g e n seinen Rücktritt erklärt hatte, und der Jurist Otto Landsberg in die Regierung eintraten. Damit waren vollendete Tatsachen von Gewicht geschaffen. Friedrich Ebert übernahm sein neues A m t mit zwei Proklamationen, die er am 9. November an das Volk und die deutschen Behörden richtete. Die Bildung des Rats der Volksbeauftragten beendete eine nur kurze Kanzlerschaft, obwohl Ebert sich auch später noch häufig als „Reichskanzler" bezeichnete. „Durch das Aufeinandertreffen der beiden Bewegungen — quasi-legale Machtüberleitung von oben, revolutionäre Machtbildung von unten — k a m Friedrich Ebert, der Führer der Mehrheitssozialisten, in eine Doppelstellung und -funktion hinein, die ihm für die weitere Entwicklung eine zentrale Position verschaffte" (ErnstWolfgang Böckenförde). Im Prozeß der Regierungsneubildung folgte auf die Ablösung des Prinzen M a x durch Ebert als zweiter entscheidender A k t die Koalitionsabrede zwischen Mehrheitssozialdemokraten und Unabhängigen v o m 10. November 1918 über ein paritätisches und „nur aus Sozialdemokraten zusammengesetztes Kabinett" gleichberechtigter Volkskommissare. Gegenstand des Koalitionsvertrags der beiden Parteien bildeten die folgenden Postulate der U S P D : „Die politische Gewalt liegt in den 336
1. Novemberrevolution 1918 Händen der Arbeiter- und Soldatenräte, die zu einer Vollversammlung aus dem ganzen Reiche alsbald zusammenzuberufen sind. Die Frage der Konstituierenden Versammlung wird erst nach einer Konsolidierung der durch die Revolution geschaffenen Zustände aktuell und soll deshalb späteren Eröterungen vorbehalten bleiben." Diese Punkte wie die Parität beider Seiten deuten auf die Unsicherheit der Mehrheitssozialdemokraten im Blick auf die zukünftige Entwicklung der Kräfte und ihr starkes Interesse an der Einigkeit beider Parteien. Mehr in der Form als in der Sache gaben sie nach, wenn sie einer Klausel zustimmten, nach welcher im Kabinett nur Sozialdemokraten sitzen sollten. Denn für „Fachminister", welche die Abmachung „nur als technische Gehilfen des entscheidenden Kabinetts" ansah, galt diese Beschränkung nicht — ein wichtiger Sieg des Ebertschen Konzepts, das auf die Kontinuität des Regierungsprozesses und eine indirekte Fortsetzung der bisherigen Koalition hinauslief. Der unpolitische Charakter der Fachminister blieb eine Fiktion, und um die Souveränität der Arbeiter- und Soldatenräte stand es nicht viel besser, so daß die USPD — und schon gar nicht ihr linker Flügel — durch die Koalitionsabrede keine Macht hinzugewann, eher verlor. Dem neuen Kabinett gehörten von der SPD Ebert, Scheidemann und Landsberg, von der USPD der Königsberger Rechtsanwalt Hugo Haase, Wilhelm Dittmann und Emil Barth an. Es konstituierte sich unmittelbar nach dem Zustandekommen der Einigung und beschloß, die der russischen Revolutionssprache entlehnte Bezeichnung „Volkskommissare" auf „gut deutsch" durch „Volksbeauftragte" zu ersetzen. Während die Kanzlerschaft Eberts durch die Delegation seines Amtsvorgängers noch in gewisser Weise als legitimiert erscheinen mochte, was für die Gefolgschaft der Beamten und Offiziere viel bedeutete, konnte und wollte der Rat der Volksbeauftragten bei keiner Institution der konstitutionellen Monarchie anknüpfen. Uber den Reichstag ließ sich die rechtliche Kontinuität nicht herstellen: sein Zusammentritt wäre als Provokation empfunden worden. So blieb allein die Berufung auf das Recht der Revolution: Das Kabinett ließ sich am 10. November 1918 durch die erste Versammlung der Berliner Arbeiter- und Soldatenräte im Zirkus Busch bestätigen. In diesem Vorgang lag nicht nur die Anerkennung der neuen Regierung durch die Revolution, sondern auch das Einverständnis des Kabinetts mit dem Umsturz der Verfassung, den die Räte betrieben. Räte oder Sowjets hatte zuerst die russische Revolution von 1905 hervorgebracht: neue Kampforganisationen einfachster Art, welche die streikenden und revolutionären Arbeiter und ihre betrieblichen Vertrauensleute zusammenfaßten. Sie kehrten im Oktober 1917 sogleich wieder, ergänzt durch die Sprecher der rebellierenden 337
X. Versuchte Demokratie: Weimar Truppen und der Bauern. Im Rußland des Jahres 1917 entwickelte sich eine eigenartige Doppelregierung, w i e sie sich in Deutschland nach dem 9. November 1918 wiederholen sollte: Auf der einen Seite agierten zunächst noch die Behörden des traditionellen Regierungsapparats, auf der anderen die Sowjets als Organe einer unmittelbaren Volksherrschaft der revolutionären Massen. Die Macht der Bolschewiki, der Funktionäre einer streng disziplinierten Partei, beseitigte indessen schon bald die Rätedemokratie: im Zeichen der bolschewistischen Parteidiktatur führte sie schon 1918 eine kümmerliche Schattenexistenz. „Die Räte, die 1918 im Laufe der Revolution in Deutschland entstanden, w a r e n indessen echte Räte im ursprünglichen Sinn und keine Schattensowjets, so w i e die Bolschewiki sie damals in Rußland duldeten. Denn es gab ja in der deutschen Revolution keine Partei, die imstande gewesen wäre, eine despotische Diktatur über die Räte auszuüben. Sowohl die Mehrheitssozialisten w i e auch die Unabhängigen bekannten sich zur demokratischen Selbstregierung der Arbeiter. Der Spartakusbund wäre viel zu schwach gewesen, u m die deutschen Arbeiter- und Soldatenräte zu tyrannisieren. Überdies hätten seine theoretischen Führer, vor allem Rosa Luxemburg, derartige Experimente einer Parteidiktatur über das Proletariat selbst aufs schärfste zurückgewiesen" (Arthur Rosenberg). Als Wortführer und Gewalthaber einer möglichst direkten Volksherrschaft trugen und verkörperten die Arbeiter- und Soldatenräte überall in Deutschland die Revolution: den offenen Bruch mit dem alten Staatssystem. Politische Geschlossenheit indessen ging ihnen ab. Die große Frage hieß, ob die Räteregierung in dieser oder jener Form bestehen bleiben oder durch die parlamentarische Demokratie abgelöst werden sollte. A n dem Tag, an welchem er den Rat der Volksbeauftragten bestätigte, gab der Berliner Arbeiter- und Soldatenrat durch einen Aufruf „An das werktätige Volk" sein Programm bekannt, das Deutschland als „sozialistische R e p u b l i k " proklamierte. A u ß e r d e m bestellte er am 10. N o v e m ber 1918 noch als sein Organ den „Vollzugsrat der Arbeiter- und Soldatenräte Groß-Berlins", der zwei Tage später in einem Aufruf befahl: „Alle kommunalen, Landes-, Reichs- und Militärbehörden setzen ihre Tätigkeit fort. Alle Anordnungen dieser Behörden erfolgen im Auftrage des Vollzugsrats des Arbeiter- und Soldatenrats. Jedermann hat den A n ordnungen dieser Behörden Folge zu leisten. Alle seit Beginn der Revolution im Bereiche Groß-Berlins provisorisch gebildeten Körperschaften, auch solche, die den N a m e n Arbeiter- und Soldatenrat führen, und bestimmte Verwaltungsmaßregeln ausgeführt haben, treten sofort außer Kraft." Auf ähnliche Weise ordnete der Rat der Volksbeauftragten, der sich hinfort häufig als „Reichsregierung" bezeichnete, das Fortbestehen der Reichsbehörden an. A m 12. November 1918 wandte sich der Rat 338
1. Novemberrevolution 1918 der Volksbeauftragten mit einem „Aufruf" an das deutsche Volk, der — im Reichsgesetzblatt verkündet — Gesetzeskraft beanspruchte. Dieser Erlaß hob den Belagerungszustand auf und stellte das unbeschränkte Vereins- und Versammlungsrecht her. Er gewährte das Recht freier Meinungsäußerung und Religionsausübung. Ferner amnestierte er alle politischen Straftaten. In seinen Aussagen zur Sozialpolitik und zum Wahlrecht trug er die vertraute Handschrift der Sozialdemokratie: „Die Gesindeordnungen werden außer Kraft gesetzt, ebenso die Ausnahmegesetze gegen die Landarbeiter. Die bei Beginn des Krieges aufgehobenen Arbeiterschutzbestimmungen werden hiermit wieder in Kraft gesetzt. Weitere sozialpolitische Verordnungen werden binnen kurzem veröffentlicht werden. Spätestens am 1. Januar 1919 wird der achtstündige Maximalarbeitstag in Kraft treten." „Alle Wahlen zu öffentlichen Körperschaften sind fortan nach dem gleichen, geheimen, direkten, allgemeinen Wahlrecht auf Grund des proportionalen Wahlsystems für alle mindestens 20 Jahre alten männlichen und weiblichen Personen zu vollziehen. Auch für die Konstituierende Versammlung, über die nähere Bestimmung noch erfolgen wird, gilt dieses Wahlrecht." Diese letzten Sätze zeigten bereits deutlich an, daß man sich auf dem Weg zur parlamentarischen Demokratie, nicht zur Rätediktatur, befand. Noch vor seiner Flucht nach Holland am 10. November 1918 hatte Kaiser Wilhelm II. seine militärische Kommandogewalt dem Chef der Obersten Heeresleitung übertragen und damit dem Inhaber des militärischen Oberbefehls die Möglichkeit gegeben, mit den politischen Machthabern zu kooperieren. Schon am 9. November begann die Zusammenarbeit zwischen der Heeresleitung und dem neuen Reichskanzler, „das Bündnis Ebert-Hindenburg". Es gewährleistete eine disziplinierte Zurücknahme der deutschen Armeen. Nachdem am 11. November 1918 der Waffenstillstand in Compiegne zwischen den alliierten und deutschen Bevollmächtigten vereinbart worden war, begann der Rückzug, der das gesamte Westheer innerhalb der vereinbarten Frist geordnet auf das rechte Rheinufer zurückbrachte. Der Sturz des hohenzollerischen Kaisertums — der endgültige und formelle Thronverzicht Wilhelms II. erfolgte am 28. November 1918 — bedeutete das Ende der Monarchie auch in den Ländern. Die meisten deutschen Fürsten dankten noch im November ab. Im Verlauf der folgenden Jahre verloren einige kleinere Territorien ihre Eigenstaatlichkeit: Die Zahl der Länder sank bis 1933 auf siebzehn. Dem übergewichtigen Preußen brachte die Novemberrevolution eine selbständige Regierung. Damit ging die überlieferte Personalunion zwischen der Reichsleitung und dem Vorsitz im preußischen Staatsministerium verloren. Es begann der „Dualismus" zwischen der Reichsregierung und der preußischen 339
X. Versuchte Demokratie: Weimar Staatsregierung, der das spätere Weimarer System verhängnisvoll belastete. Das Verhältnis zwischen den Arbeiter- und Soldatenräten einerseits, der Obersten Heeresleitung und dem Rat der Volksbeauftragten andererseits blieb nicht frei von erheblichen Spannungen und tiefgreifenden Gegensätzen. Der radikale Groß-Berliner Arbeiter- und Soldatenrat bekämpfte insbesondere den Plan der mehrheitssozialistischen Mitglieder des Kabinetts, eine Nationalversammlung nach allgemeinem, gleichem und freiem Wahlrecht einzuberufen: „In der revolutionären Organisation der Arbeiter- und Soldatenräte hat sich die neue Staatsgewalt verkörpert. Diese Gewalt muß gesichert und ausgebaut werden, damit die Errungenschaften der Revolution der gesamten Arbeiterklasse zugute kommen. Diese Sicherung kann nicht erfolgen durch U m w a n d l u n g des deutschen Staatswesens in eine bürgerlich demokratische Republik, sondern in eine proletarische Republik auf sozialistischer Wirtschaftsgrundlage, in der das arbeitende Volk, d.h. nur die H a n d - und Kopfarbeiter öffentliche Rechte ausüben. Das Bestreben der bürgerlichen Kreise, so schnell als möglich eine Nationalversammlung einzuberufen, soll die Arbeiter u m die Früchte der Revolution bringen" (Resolution vom 18. N o v e m b e r 1918). Den drohenden Konflikt zwischen den revolutionären Gewalten legte eine Verabredung vorläufig bei, in welcher die Volksbeauftragten sich dem Groß-Berliner Vollzugsrat als dem provisorischen Inhaber der obersten politischen Gewalt in Deutschland unterordneten. Trotz des Widerstandes des linken Flügels der Unabhängigen Sozialisten und des Spartakusbundes, die den Groß-Berliner Arbeiter- und Soldatenrat beherrschten, entschied sich das Kabinett der Volksbeauftragten für die parlamentarische Demokratie, indem es am 30. November 1918 eine Verordnung über die Wahlen zur verfassunggebenden deutschen Nationalversammlung erließ. Als Wahltag w a r zunächst der 16. Februar 1919 vorgesehen. Die Oberste Heeresleitung, die ihren Sitz vorläufig in Kassel genommen hatte und sich wachsenden Angriffen durch revolutionäre Räte ausgesetzt sah, versuchte ihrerseits, politischen Einfluß zu nehmen. So verlangte Hindenburg von Ebert insbesondere die Einberufung einer Nationalversammlung noch im Dezember, damit der wirtschaftliche Zusammenbruch und das Auseinanderfallen des Reiches verhütet würden. Die radikalen Kräfte der Arbeiter- und Soldatenräte nahmen die Wahlverordnung der Volksbeauftragten nicht hin. Sie legten vielmehr das Kabinett am 9. Dezember 1918 auf eine zweite Vereinbarung fest, die als Ziel der Revolution die „sozialistische R e p u b l i k " postulierte. Die Regierung mußte ferner anerkennen, daß sie „unbedingt an der durch die Revolution gegebenen Verfassung" festhalte und daß diese 340
1. Novemberrevolution 1918 nur mit Zustimmung der Arbeiter- und Soldatenräte geändert werden könne — ein offensichtlicher Widerspruch zur beschlossenen Einberufung einer verfassunggebenden Nationalversammlung. Den Sieg der Mehrheitssozialdemokratie brachte der Reichskongreß der Arbeiter- und Soldatenräte Deutschlands, der am 18. Dezember 1918 in Berlin 514 Delegierte zusammenführte und über den weiteren Kurs der deutschen Revolution entschied. Anders als von der radikalen Linken erwartet, besaßen die Mehrheitssozialisten auf diesem vom Berliner Vollzugsrat einberufenen Konvent eine überwältigende Mehrheit. Der Reichskongreß, der „die gesamte politische Macht" repräsentierte, übertrug „bis zur anderweitigen Regelung durch die Nationalversammlung die gesetzgebende und vollziehende Gewalt dem Rat der Volksbeauftragten". Außerdem bestellte er „einen Zentralrat der Arbeiter- und Soldaten-Räte", der das deutsche und das preußische Kabinett kontrollieren und den Groß-Berliner Vollzugsrat ablösen sollte. Dem siebenundzwanzigköpfigen Zentralrat gehörten nur Mehrheitssozialisten an. A m 19. Dezember 1919 beschied der Kongreß die Hauptfrage: Rätesystem oder parlamentarische Demokratie. Den Antrag des Unabhängigen Sozialisten Däumig, „unter allen Umständen an dem Rätesystem als Grundlage der Verfassung der sozialistischen Republik" festzuhalten, lehnte der Konvent mit 344 gegen 98 Stimmen ab. Der Reichskongreß entschied, die Wahlen zur deutschen Nationalversammlung am 19. Januar 1919 stattfinden zu lassen. Doch während er der Rätediktatur eine Absage erteilte, beschied er die kritische Frage nach der Stellung der Armee im Sinne der radikalen Fraktion. Die Mehrheit beschloß die Abschaffung aller Rangabzeichen, das Verbot außerdienstlichen Waffentragens, die Zuständigkeit des Soldatenrates in Disziplinarsachen und die Wahl der Führer durch die Untergebenen. Indessen verhinderte das Veto der Obersten Heeresleitung wie des Rats der Volksbeauftragten den Vollzug dieser Beschlüsse — ein für den Niedergang des Rätesystems bezeichnender Vorgang. Der Bruch zwischen den Mehrheitssozialisten und den Unabhängigen lag in der Konsequenz der geschilderten Entwicklung. Von Linksradikalen in Berlin entfesselte schwere Unruhen boten den Anlaß. Angehörige der Volksmarinedivision nahmen den Stadtkommandanten Otto Wels, den späteren sozialdemokratischen Parteiführer, und einige seiner Mitarbeiter gefangen, besetzten die Kommandantur sowie das Berliner Schloß und sperrten die Reichskanzlei, den Sitz des Kabinetts, von der Umwelt ab. Der Entschluß der sozialdemokratischen Kabinettsmitglieder, militärisch gegen die Aufrührer vorzugehen, veranlaßte die Unabhängigen Sozialisten Haase, Dittmann und Barth, aus dem Rat der Volksbeauftragten auszuscheiden. An ihrer Stelle traten die Sozialdemokraten Gustav 341
X. Versuchte Demokratie: Weimar Noske, der spätere Reichswehrminister, und der nachmalige Reichswirtschaftsminister Rudolf Wisseil in die Regierung ein, die ihr P r o g r a m m im Reichsanzeiger vom 30. Dezember 1918 wie folgt umriß: „Im Innern gilt es: die Nationalversammlung vorzubereiten und ihre ungestörte Tagung sicherzustellen, für die Ernährung ernstlich Sorge zu tragen, die Sozialisierung im Sinne des Rätekongresses in die H a n d zu nehmen, die Kriegsgewinne in der schärfsten F o r m zu erfassen, Arbeit zu schaffen und Arbeitslose zu unterstützen, die Hinterbliebenenfürsorge auszubauen, die Volkswehr mit allen Mitteln zu fördern, die Entwaffnung Unbefugter durchzusetzen. N a c h außen: den Frieden so schnell und so günstig w i e möglich herbeizuführen und die Vertretungen der deutschen Republik im Ausland mit neuen, von neuem Geist erfüllten Männern zu besetzen." N o c h hatte sich freilich das neue Kabinett im revolutionären Berlin nicht endgültig durchgesetzt. Der Januaraufstand der Linksradikalen in der Reichshauptstadt zeigte, w i e entschlossen und aktiv die „Revolutionären Obleute", große Teile der U S P D und die aus dem Spartakusbund hervorgegangene Kommunistische Partei Deutschlands zu handeln verstanden. Der Aufstand entzündete sich an der am 4. Januar 1919 durch den sozialdemokratischen preußischen Innenminister Eugen Ernst verfügten Entlassung des der U S P D angehörenden Berliner Polizeipräsidenten Emil Eichhorn. Die extreme Opposition rief zur revolutionären Gegenaktion auf: „Marschiert in Massen auf! Es gilt Eure Freiheit, es gilt Eure Zukunft, es gilt das Schicksal der Revolution! Nieder mit der Gewaltherrschaft der Ebert-Scheidemann . . . ! " Ein Revolutionsausschuß unter Ledebour, Liebknecht und Scholze erklärte am 6. Januar den Rat der Volksbeauftragten, „die Regierung Ebert-Scheidemann", für abgesetzt. Die Regierung übertrug die militärische Führung des A b wehrkampfes ihrem Mitglied Noske, den sie z u m „Oberbefehlshaber in den M a r k e n " ernannte. Der Zentralrat der Arbeiter- und Soldatenräte bekannte sich am 7. Januar 1919 öffentlich z u m Kabinett Ebert-Scheidemann. Die in den folgenden Tagen ausgebrochenen blutigen Kämpfe endeten Mitte Januar mit dem Sieg der Regierungstruppen. Damit w u r d e der Weg zur verfassunggebenden Versammlung endgültig frei. Die seit dem 12. Januar flüchtigen Führer des Spartakusbundes Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg w u r d e n am 15. Januar 1919 von Regierungstruppen verhaftet und beim Abtransport aus dem Hotel Eden ermordet. Das Kriegsgericht des Garde-Kavallerie-Schützenkorps Berlin verurteilte dieser Tat w e g e n zwei Offiziere und einen Soldaten am 14. M a i 1919 zu Freiheitsstrafen; sechs Offiziere sprach es frei. N o s k e bestätigte als Gerichtsherr das Urteil, nachdem — w i e er in seinen Memoiren 1920 schrieb — „die ersten Autoritäten der zivilen und der 342
2. Das Verfassungswerk Militär-Gerichtsbarkeit Gutachten erstattet hatten, daß bei einer Wiederholung der Beweisaufnahme eine härtere Strafe für keinen der Angeklagten zu erwarten wäre". Die Mordtat und der milde kriegsgerichtliche Spruch belasteten die junge Republik. In seiner überaus aufschlußreichen „Deutschen Gesellschaftsgeschichte" hat Hans-Ulrich Wehler im Blick auf die Berliner Akteure, Friedrich Ebert zumal, von deren „pragmatischem Denken" geschrieben, von ihrer „Prägung durch die politische Sozialisation im Kaiserreich", ihrer „fatalen Belastung durch die Kontinuität fortbestehender politischer und sozialer Strukturen". Hätte eine entschlossenere, tiefere Revolution Deutschland die Katastrophe unter dem H a k e n k r e u z erspart? Was ließ sich 1917/18 an politischen Notwendigkeiten erkennen? Ziehen w i r ein instruktives Buch zu Rate, das zuerst 1921 und jüngst wieder, gewinnend eingeleitet und sachkundig annotiert, erschien: die Revolutionsgeschichte Eduard Bernsteins. Der Autor, erster sozialdemokratischer Marx-Kritiker und Gegner der Kriegskredite, gehörte zeitweilig der U S P D an, trat nach 1918 für die Wiedervereinigung der gespaltenen Sozialdemokratie ein und bekannte sich zur deutschen Kriegsschuld 1914. Bernstein erklärte den gemäßigten Charakter der deutschen Revolution mit dem bereits erreichten Grad der Industrialisierung und der Demokratisierung. Heinrich August Winkler: „Bernstein mag die Handlungsspielräume der Sozialdemokratie zwischen November 1918 und Januar 1919 unterschätzt haben. Doch w a s er über die Grenzen schrieb, die der Grad der Industrialisierung und der Demokratisierung einer Revolution in Deutschland setzten, zeichnete sich durch ein hohes M a ß an Wirklichkeitssinn aus. Realistisch w a r auch seine Erkenntnis, daß die parlamentarische Demokratie, die aus der Revolution hervorging, noch mehr als zuvor schon der Rat der Volksbeauftragten auf die Zusammenarbeit der gemäßigten Kräfte in Arbeiterschaft und Bürgertum angewiesen w a r " .
2. Das
Verfassungswerk
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344
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Zwei Grundgesetze prägten in den zwanziger Jahren das öffentliche und auch private Leben der gut 60 Millionen Deutschen, die nach furchtbaren Blutopfern in reduzierten Grenzen und der Früchte jahrzehntelanger Arbeit beraubt, ohne Kolonien und Handelsflotte, durch H u n g e r und die große Influenza-Epidemie zermürbt, mit den grauen Überbleibseln des vierjährigen verlorenen Weltkrieges fertig werden und neu beginnen mußten: der als U n g l ü c k und Ungerechtigkeit empfundene Vertrag von Versailles — der in Wahrheit doch kein „karthagischer Friede" w a r — und die Weimarer Verfassung v o m 11. August 1919. U m beide Grunddokumente rang die deutsche Nationalversammlung, die aus den Wahlen vom 19. Januar 1919 hervorging. 347
X. Versuchte Demokratie: Weimar Bei diesen Wahlen gewannen die bürgerlichen Parteien (Zentrum, Demokraten, Deutschnationale, Deutsche Volkspartei) zusammen die Mehrheit gegenüber den Sozialisten, die über nur 185 von insgesamt 421 Mandaten verfügten. Während die Sozialdemokratie mit 163 Sitzen ein gutes Wahlresultat erzielte, blieb die U S P D mit ihren 22 Abgeordneten auffallend schwach. Aus diesem Kräfteverhältnis ergab sich die Konsequenz einer Koalition der Mehrheitssozialisten mit den beiden bürgerlichen Parteien, mit denen die SPD schon in der Kriegszeit zusammengearbeitet hatte. In einer Publikation v o m 4. Februar 1919 verlautbarte der „Zentralrat der deutschen sozialistischen Republik": „In der Erwartung, daß die Nationalversammlung ihre volle Souveränität durchführt, legt der Zentralrat die ihm v o m Reichskongreß der Arbeiter- und Soldatenräte übertragene Gewalt in die Hände der deutschen Nationalversammlung und wünscht ihren Arbeiten jeglichen Erfolg z u m Glück und Heil des gesamten deutschen Volkes und aller im neuen Deutschen Reich vereinigten deutschen Stämme." Bereits am 20. Januar 1919 beschloß der Rat der Volksbeauftragten, die Nationalversammlung nicht in dem noch immer unruhigen Berlin tagen zu lassen, sondern sie alsbald nach Weimar einzuberufen. Dort trat sie am 6. Februar 1919 im Nationaltheater zusammen. Zu ihrem Präsidenten wählte sie den SPD-Abgeordneten Dr. David; nachdem dieser als Minister in das neue Kabinett eingetreten war, folgte ihm am 14. Februar der Zentrumspolitiker Konstantin Fehrenbach, der letzte Präsident des alten Reichstages. Zu den Hauptaufgaben der Nationalversammlung gehörten neben der vorläufigen Neuordnung der öffentlichen Rechtsverhältnisse die Verabschiedung der Reichsverfassung und die Entscheidung über den Friedensvertrag. Daneben übte das Weimarer Parlament bis z u m Zusammentreten des neuen Reichstages die gesetzgebende Gewalt, das Budgetrecht und die Regierungskontrolle aus. Schon am 10. Februar 1919 beschloß die Nationalversammlung das Gesetz über die vorläufige Reichsgewalt, das als oberste Reichsorgane den Reichspräsidenten, das von einem Ministerpräsidenten geleitete Staatsministerium und den Staatenausschuß zur angemessenen Vertretung der Länder vorsah. A m 11. Februar 1919 wählte das Weimarer Parlament den bisherigen Volksbeauftragten Ebert z u m ersten Reichspräsidenten. Dieser berief zwei Tage später z u m ersten Reichsministerpräsidenten den Abgeordneten Scheidemann, der an die Spitze eines Kabinetts trat, das die Parteien der „Weimarer Koalition", nämlich SPD, Zentrum und Deutsche Demokratische Partei bildeten. D e m weiteren Ausbau der vorläufigen Verfassung galt das Ubergangsgesetz vom 4. M ä r z 1919, das einige grundsätzliche Züge der künftigen Ordnung bereits vorwegnahm. Es regelte zuerst die Fortgel348
2. Das Verfassungswerk tung des alten und des v o m Rat der Volksbeauftragten verordneten Rechts. Dann bestimmte es, daß in die bisherigen Funktionen des Reichstags die Nationalversammlung, in die des Bundesrats der Staatenausschuß, in die des Kaisers der Reichspräsident, in die des Reichskanzlers das Kabinett als Ganzes oder jeder einzelne Minister für sein Ressort eintrat. Ahnlich wie im Reich verlief die politische Entwicklung Preußens. Brachten Wahlergebnisse und Uberleitungsgesetze eine deutliche Stabilisierung der Verfassungsverhältnisse und stärkten sie das parlamentarische System, so konnten sie die innere Lage Deutschlands doch nicht umfassend befrieden. In den ersten Monaten des Jahres 1919 erschütterten mannigfache blutige politische Wirren die noch ungefestigte Republik, die sich im Kampf u m Einheit und Freiheit aber am Ende doch behaupten konnte. Ernst Rudolf Huber hat die Dokumente der Krisen in seinem umfassenden Quellenwerk zusammengestellt: z u m März-Aufstand der Spartakisten in Berlin, z u m Generalstreik und Belagerungszustand im Ruhrgebiet, über die Münchener Räteherrschaft, den Belagerungszustand in Braunschweig und die mitteldeutschen Unruhen, z u m A u f r u h r in Bremen und H a m b u r g und z u m rheinischen Separatismus. M i t der neuen Reichsverfassung befaßte sich die Nationalversammlung in drei Lesungen v o m 24. Februar bis z u m 31. Juli 1919. Den Beratungen lag ein vom Reichsminister des Innern, Professor H u g o Preuß, vorbereiteter und von der Reichsregierung in Zusammenarbeit mit dem Staatenausschuß modifizierter und festgestellter Entwurf zugrunde. Der Verfassungsausschuß des Nationalparlaments änderte und erweiterte den Regierungsentwurf erheblich. N a c h einigen letzten Modifikationen nahm das Plenum den Vorschlag des Ausschusses mit den Stimmen der Sozialdemokraten, des Zentrums und der Demokraten an. Eine Volksabstimmung fand nicht statt. Vom Reichspräsidenten am 11. August 1919 ausgefertigt, trat das Verfassungswerk am 14. August 1919 mit seiner Verkündung in Kraft. Maßgeblichen Anteil an seinem Entstehen hatte der Staatsrechtslehrer an der Handelshochschule Berlin und Schüler Otto von Gierkes H u g o Preuß, den das Kabinett der Volksbeauftragten z u m Staatssekretär des Reichsamts des Innern berufen und mit der Vorarbeit beauftragt hatte. Dabei hat Preuß Gedanken aus der Verfassung der Paulskirche, aus England und Amerika, aus der Schweiz und aus Frankreich übernommen. Zu seinen Hauptzielen gehörte der deutsche Einheitsstaat, eine Neugliederung der Länder und die Aufteilung Preußens. Wenn sich diese auch nicht oder nur abgeschwächt durchsetzten, so bildeten die Arbeiten von Preuß doch wesentliche Grundlagen und Beiträge für die
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X. Versuchte Demokratie: Weimar Diskussion. Als Vertreter der Regierung blieb er bis zur Verabschiedung der Verfassung an den Verhandlungen beteiligt. Die enuntiative Präambel der Reichsverfassung gibt den durch die Revolution von 1918 geschaffenen neuen staatsrechtlichen Verhältnissen Ausdruck: „Das Deutsche Volk, einig in seinen Stämmen und von dem Willen beseelt, sein Reich in Freiheit und Gerechtigkeit zu erneuen und zu festigen, dem inneren und dem äußeren Frieden zu dienen und den gesellschaftlichen Fortschritt zu fördern, hat sich diese Verfassung gegeben." Ein Vergleich mit dem Vorspruch der Bismarckschen Konstitution von 1871 macht den Wandel augenfällig. Das Reich erscheint jetzt nicht mehr als ein Bund von Fürsten, sondern als das Gemeinwesen des ganzen deutschen Volkes, das z w a r nicht selbst als Gesetzgeber aufgetreten war, indessen die verfassunggebende Gewalt der von ihm gewählten N a tionalversammlung übertragen hatte. Die Formel „einig in seinen Stämmen" bedeutet ein klares und festes Bekenntnis z u m Gedanken der nationalen Einheit. Die Verfassung hält an dem Wort „Reich" fest, dem herkömmlichen N a m e n des deutschen Gesamtstaats; sie folgt also nicht der im Weimarer Parlament gelegentlich vertretenen Ansicht, „Deutsches Reich" bezeichne eine „bankerotte Firma", die man in das „neue Geschäft" nicht übernehmen dürfe. Schließlich weist die Präambel darauf hin, daß Revolution und Nationalversammlung nicht einen neuen Staat begründeten, einem bestehenden vielmehr eine neue Ordnung gaben. „Das neue und das alte Reich stehen nicht im Verhältnis der Rechtsnachfolge, sondern in dem der Identität" (Gerhard Anschütz). Die 181 Artikel der Weimarer Reichsverfassung gliedern sich in zwei Hauptteile: „Aufbau und A u f g a b e n des Reichs" und „Grundrechte und Grundpflichten der Deutschen". Dieses System — Regeln über die Organisation der Staatsgewalt verbunden mit solchen über das Verhältnis des Bürgers z u m Staat — entspricht der Thematik aller modernen Verfassungen und hat seinen Ursprung in Nordamerika. Der erste H a u p t teil des Weimarer Werkes regelt die Organisation der Reichsgewalt, also die Bildung und Zuständigkeit der obersten Reichsorgane: des Reichstags, des Reichspräsidenten, der Reichsregierung und des Reichsrats; ferner die Gliederung des Reichs als eines zusammengesetzten Staatswesens in partikulare Staatsgebilde und die rechtliche Ordnung des Verhältnisses von Reich und Ländern zueinander. Er beschreibt außerdem die A u f g a b e n des Reiches, das heißt den Wirkungskreis und die Zuständigkeit der Reichsgewalt, sowie die Abgrenzung dieser Kompetenz von derjenigen der Länder. Der zweite Hauptteil greift über die liberal-individualistischen Grundrechte hinaus, die sich in den Konstitutionen des 19. Jahrhunderts eingebürgert hatten. Schon die Titel der fünf A b schnitte: die Einzelperson; das Gemeinschaftsleben; Religion und Reli350
2. Das Verfassungswerk gionsgesellschaften; Bildung und Schule; das Wirtschaftsleben — lassen die traditionellen Freiheitsrechte des Individuums im größeren Rahmen der staatlich organisierten Gesellschaft erscheinen. Mit der Einbeziehung gesellschaftspolitischer Grundsätze in den Rechtsstaatsgedanken bereitete der zweite Hauptteil dem sozialen Rechtsstaat des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland den Weg. In Artikel 1 legt die Verfassung die republikanische Staats- oder Regierungsform des Reiches fest und den Fundamentalsatz aller D e m o k r a tie, das Prinzip der Volkssouveränität: „Das Deutsche Reich ist eine Republik. Die Staatsgewalt geht vom Volke aus." Die Entstehungsgeschichte des zweiten Satzes und Artikel 5 belegen die Landesgewalt als eigenständige — nicht abgeleitete — und damit die Staatlichkeit der Länder. Die Schwäche des föderativen Elements im Verhältnis z u m unitarisch-demokratischen zeigt sich aber in der Aufteilung der legislativen Zuständigkeiten, in der Finanzverfassung, in der Möglichkeit des Reichsgesetzgebers, das Gebiet von Ländern zu ändern oder solche neu zu bilden, schließlich in der Befugnis des Reichspräsidenten zur Exekution gegen Länder, die den Pflichten der Reichsverfassung oder der Reichsgesetze nicht nachkommen (Art. 48 Abs. 1). Das Reich bildete also einen Bundesstaat, dessen Glieder ihre Staatlichkeit in vermindertem U m f a n g bewahrt hatten. Es bestand zuletzt aus 17 Ländern von sehr unterschiedlichem Gewicht: Preußen, Bayern, Sachsen, Württemberg, Baden, Hessen, Thüringen, H a m b u r g , Mecklenburg-Schwerin, Oldenburg, Braunschweig, Anhalt, Bremen, Lippe, Lübeck, Mecklenburg-Strelitz, Schaumburg-Lippe. Reichsunmittelbare Gebiete, also solche, die z u m Reich, aber zu keinem Land gehörten, gab es — im Gegensatz z u m Kaiserreich mit seinem Reichsland Elsaß-Lothringen und seinen Schutzgebieten — nicht mehr. Die Verfassungssätze, die den Anschluß Deutsch-Österreichs an das Reich voraussetzten (Art. 61 Abs. 2), stießen auf den Einspruch der Siegermächte. Die Reichsregierung sah sich gezwungen, in einem Protokoll v o m 22. September 1919 diese Vergewaltigung des Selbstbestimmungsrechts gegen den klar ausgesprochenen Willen der überwältigenden Mehrheit der Deutsch-Osterreicher hinzunehmen. Die Weimarer Nationalversammlung hielt am klassischen System der Gewaltenteilung, der gegenseitigen Kontrolle der obersten Staatsorgane, fest, modifizierte es freilich in einem wesentlichen Punkt. Das parlamentarische Regierungssystem der Weimarer Republik wies dem Reichskanzler und den Reichsministern eine eigenartige Position zwischen Parlament und Staatsoberhaupt zu. Artikel 54 bestimmte: „Der Reichskanzler und die Reichsminister bedürfen zu ihrer Amtsführung des Vertrauens des Reichstags. Jeder von ihnen m u ß zurücktreten, w e n n ihm 351
X. Versuchte Demokratie: Weimar der Reichstag durch ausdrücklichen Beschluß sein Vertrauen entzieht." Artikel 53 beteiligte den Reichspräsidenten wesentlich an der Kabinettsbildung: „Der Reichskanzler und auf seinen Vorschlag die Reichsminister werden v o m Reichspräsidenten ernannt und entlassen." Betrachten w i r im einzelnen zuerst die A u f g a b e n des Reichs und der Länder. Die Reichsverfassung unterschied im Bereich der Legislative zwischen ausschließlicher, konkurrierender, Bedarfs- und Grundsatzgesetzgebung (Art. 6 ff.). Die Masse der für ein modernes Staatswesen wichtigen Gegenstände faßte der Katalog über die konkurrierende Gesetzgebung zusammen. Er enthielt insbesondere das bürgerliche Recht, das Strafrecht, das gerichtliche Verfahren, das Presse-, Vereins- und Versammlungswesen, das Arbeitsrecht, das Recht zur Enteignung und zur Vergesellschaftung von Naturschätzen und wirtschaftlichen Unternehmungen sowie das Recht des Handels und Verkehrs. Die Kompetenz des Reiches stärkte insbesondere seine Zuständigkeit für „die Gesetzgebung über die Abgaben und sonstigen Einnahmen, soweit sie ganz oder teilweise für seine Zwecke in Anspruch genommen w e r d e n " (Art. 8). Die Länder behielten in allen Bereichen, abgesehen von der ausschließlichen Reichskompetenz, die Zuständigkeit z u m Erlaß von Gesetzen, bis das Reich von seinem Gesetzgebungsrecht Gebrauch machte. Die Inanspruchnahme lag im freien Ermessen des Reichsgesetzgebers. Neues Reichsrecht auf diesen Gebieten hob bestehendes und gleichlautendes Landesrecht auf: „Reichsrecht bricht Landesrecht" (Art. 13). Der Vollzug der Reichsgesetze oblag grundsätzlich den Ländern: „Die Reichsgesetze werden durch die Landesbehörden ausgeführt, soweit nicht die Reichsgesetze etwas anderes bestimmen" (Art. 14). Der mit dem Wort „soweit" eingeleitete neuartige Vorbehalt gestattete es, dem Reich innerhalb der ihm durch die Verfassung zugewiesenen Sachgebiete durch einfaches, nicht verfassungsänderndes Reichsgesetz unmittelbar vollziehende Funktionen zu übertragen. Die Reichsregierung übte die Aufsicht in den Angelegenheiten aus, in denen dem Reich das Gesetzgebungsrecht zustand. Sie konnte, soweit die Reichsgesetze von den Landesbehörden auszuführen waren, allgemeine Anweisungen erlassen (Art. 15). Was die Reichsexekution betraf, so trat Artikel 48 Abs. 1 an die Stelle des Artikels 19 der Bismarckschen Reichsverfassung: „Wenn ein Land die ihm nach der Reichsverfassung oder den Reichsgesetzen obliegenden Pflichten nicht erfüllt, kann der Reichspräsident es dazu mit Hilfe der bewaffneten Macht anhalten." A u f g r u n d dieser Bestimmung schritt die Reichsgewalt 1920 gegen Thüringen, 1923 gegen Sachsen ein. Meinungsverschiedenheiten zwischen Bund und Ländern über Mängel bei der Ausführung der Reichsgesetze und Streitigkeiten nichtprivatrechtlicher A r t zwischen verschiedenen Ländern oder zwischen 352
2. Das Verfassungswerk
dem Reich und einem Land sollte der Staatsgerichtshof für das Deutsche Reich entscheiden, über den ein Gesetz 1921 Näheres bestimmte. Eine Ubersicht wie diese, welche die Reichsorganisation vorstellen will, wird mit dem Volk beginnen, obwohl es nicht Organ, sondern Träger der Staatsgewalt war. Die Verfassung behielt dem Volk selbst gewichtige Funktionen vor. Einmal die unmittelbare Teilnahme an der Gesetzgebung. Sie erschien — nach dem Vorbild der Schweiz und der nordamerikanischen Einzelstaaten — in zwei Formen ausgebildet: als Recht der Gesetzesverwerfung (Volksentscheid oder Referendum im engeren Sinne) und als Recht des Gesetzesvorschlags (Volksbegehren oder Volksinitiative). Einen Volksentscheid konnte der Reichspräsident etwa auf Einspruch des Reichsrats gegen einen Beschluß des Reichstags anordnen (Art. 74). Auf den Einspruch des Reichsrats gegen eine Verfassungsänderung — um ein weiteres Beispiel zu nennen — mußte ein Volksentscheid stattfinden, wenn das Vertretungsorgan der Länder ihn verlangte (Art. 76 Abs. 2). Ein Volksbegehren konnte sich auf Erlaß eines Gesetzes oder auf Änderung der Verfassung richten. Im übrigen sei auf die differenzierten Artikel 73 bis 76 und 18 verwiesen. Dem Volk selbst oblag ferner die Wahl und gegebenenfalls die Absetzung des Reichspräsidenten (Art. 41 Abs. 1, 43 Abs. 2). Schließlich wählte das Volk den Reichstag. Der Reichstag bestand aus den Abgeordneten des ganzen deutschen Volkes, die „nur ihrem Gewissen unterworfen und an Aufträge nicht gebunden" waren (Art. 20, 21). Die Grundlinien des Reichstagswahlrechts bestimmte Artikel 22 Abs. 1: „Die Abgeordneten werden in allgemeiner, gleicher, unmittelbarer und geheimer Wahl von den über zwanzig Jahre alten Männern und Frauen nach den Grundsätzen der Verhältniswahl gewählt." Das Neue dieses Rechtes lag in der Herabsetzung des Wahlalters von 25 auf 20 Jahre und in der Zulassung der Frauen — beides alte Postulate der Sozialdemokratie. Neu war endlich die verfassungsmäßig vorgeschriebene Verhältniswahl. Die Verhältniswahlsysteme bezwecken, in der Zusammensetzung des Parlaments das Stärkeverhältnis der bei den allgemeinen Wahlen jeweils beteiligten Parteien zum Ausdruck zu bringen. Das Parlament sollte nach der Absicht des Verfassunggebers 1919 ein möglichst getreues Abbild der parteipolitischen Struktur der Wählerschaft darstellen. Das Nähere regelte das Reichswahlgesetz von 1920. Sein § 30 bestimmte, daß jede Partei oder Wählergruppe auf je 60000 der für ihren Vorschlag abgegebenen Stimmen einen Abgeordnetensitz erringen sollte. Die Zahl der Reichstagsmitglieder schwankte also entsprechend der Wahlbeteiligung, und — noch bedeutsamer — das Wahlsystem begünstigte eine starke Zersplitterung der politischen Kräfte. Uber die Parteien, von denen das politische 353
X. Versuchte Demokratie: Weimar Leben der Weimarer Republik wesentlich abhing, enthielt die Verfassung überhaupt keine Regel. D e r Reichstag beschloß die Gesetze; sie unterlagen dem überwindbaren Einspruch des Reichsrats (Art. 74). Im Reichsrat führte jedes L a n d mindestens eine Stimme. Bei den größeren Ländern entfiel auf 700000 Einwohner eine Stimme (Art. 61 A b s . 1). D a s preußische Ubergewicht minderte die neue Reichsverfassung ähnlich wie die alte dadurch, daß kein L a n d durch mehr als zwei Fünftel aller Stimmen vertreten sein durfte und überdies die preußischen Provinzialversammlungen die H ä l f t e der Stimmen ihres Staates bestellten (Art. 61 A b s . 1, 63 A b s . 1). „ D i e Verfassung kann", so hieß es in Art. 76, „ i m Wege der Gesetzgebung geändert werden. J e d o c h k o m m e n Beschlüsse des Reichstags auf Abänderung der Verfassung nur zustande, wenn zwei Drittel der gesetzlichen Mitgliederzahl anwesend sind und wenigstens zwei Drittel der Anwesenden zustimmen." D e r Reichstag konnte sowohl ausdrückliche Änderungen oder Ergänzungen der Verfassungsurkunde als auch stillschweigende Verfassungsdurchbrechungen beschließen, das heißt Gesetze mit verfassungsändernder Mehrheit. D e r Einspruch des Reichsrats ließ sich durch Volksentscheid überwinden. In der Staatsrechtslehre blieb strittig, ob auch die Grundentscheidungen der Reichsverfassung zur Disposition des Gesetzgebers gestellt seien. Uberzeugte D e m o k r a ten wie Gerhard Anschütz und Richard T h o m a leugneten in paradoxem Positivismus jede inhaltliche Schranke. „ D i e durch Artikel 76 den hier bezeichneten qualifizierten Mehrheiten des Reichstags, des Reichsrats und des Volkes übertragene verfassungändernde G e w a l t " , so Anschütz in seinem berühmten Kommentar, „ist gegenständlich unbeschränkt." D e r berühmte Staatsrechtslehrer an der Berliner Handelshochschule Carl Schmitt verteidigte zu dieser Zeit dagegen vehement die grundsätzlichen Wertentscheidungen der Demokratie gegen positivistische A u f l ö sung. Im dritten Abschnitt des ersten Hauptteiles regelte die Verfassung die Staatsleitung und Exekutive unter dem Titel: „ D e r Reichspräsident und die Reichsregierung". D i e Weimarer Präsidentschaft — plebiszitär und parlamentarisch zugleich — vereinigte Elemente des amerikanischen und des französischen Systems. „ D e r Reichspräsident wird v o m ganzen deutschen Volke gewählt", bestimmte Artikel 41 A b s . 1 — ein Prinzip, das diesem A m t gegenüber dem Reichstag Gewicht und Unabhängigkeit verlieh, den Präsidenten manchen der alten O r d n u n g im H e r z e n treu Gebliebenen als über den Parteien stehenden Ersatzkaiser erscheinen ließ. Als parlamentarisch läßt sich die Präsidentschaft bezeichnen, weil das deutsche Staatsoberhaupt nicht wie das amerikanische selbst und isoliert v o m Parlament regierte, sondern in enger, wenngleich mittelba354
2. Das Verfassungswerk rer Verbindung mit diesem durch die Reichsregierung, also durch Minister, die des Vertrauens des Reichstags bedurften und auf dessen Verlangen zurücktreten mußten (Art. 54). Als das eigentliche Hauptorgan der vollziehenden Gewalt erschien die Reichsregierung, nicht der Reichspräsident, der freilich keineswegs auf die Rolle einer Repräsentationsfigur beschränkt blieb. „Die Verfassung denkt sich den Reichspräsidenten als einen schaffenden und, trotz allem Parlamentarismus, führenden und leitenden, auch keineswegs unverantwortlichen (vgl. Art. 43 Abs. 2, 59) Staatsmann, der weder verpflichtet noch berechtigt ist, sich von den Regierungsgeschäften fernzuhalten, der aus freiem Antriebe den Reichskanzler ernennen und entlassen kann und der — darauf ist Gewicht zu legen — im Falle eines Konflikts mit dem Reichstag, von diesem an die Wähler, an das Volk appellieren darf, indem er den Volksentscheid anruft oder den Reichstag auflöst" (Gerhard Anschütz). Der Reichspräsident vertrat das Reich völkerrechtlich. Er ernannte und entließ die Reichsbeamten und Offiziere, hatte den Oberbefehl über die Reichswehr und übte das Begnadigungsrecht aus (Art. 45, 46, 47, 49). Der Reichskanzler und auf seinen Vorschlag die Reichsminister w u r d e n vom Reichspräsidenten ernannt und entlassen (Art. 53). Artikel 48 Abs. 2 räumte dem Reichspräsidenten eine außerordentliche Diktaturgewalt ein, die auf die altrechtliche Institution des „Belagerungszustandes" zurückging. Der Präsident hatte, w e n n im Deutschen Reich die öffentliche Sicherheit und Ordnung erheblich gestört oder gefährdet w a r — wobei die im Polizeirecht herkömmliche enge Interpretation dieser Begriffe nicht als maßgebend galt —, die Befugnis, die zu ihrer Wiederherstellung nötigen M a ß n a h m e n zu treffen und erforderlichenfalls mit Hilfe der bewaffneten Macht einzuschreiten. Zu diesem Zweck durfte der Reichspräsident vorübergehend gewisse Grundrechte ganz oder teilweise außer Kraft setzen. Diese für Ausnahmesituationen gedachte Kompetenz stand unter der Kontrolle des Reichstages. N a c h d e m die negativen Mehrheiten verfassungsfeindlicher Parteien der extremen Rechten w i e der äußersten Linken den Parlamentarismus gelähmt hatten, bildete die Befugnis des Art. 48 Abs. 2 die Grundlage der allein v o m Vertrauen des Staatsoberhaupts abhängigen Präsidialkabinette. A u f lösungen des Reichstags, die im Ermessen des Reichspräsidenten lagen (vgl. Art. 25), hinderten die parlamentarische Kontrolle. Alle Anordnungen des Reichspräsidenten, auch solche der militärischen Kommandogewalt, bedurften zu ihrer Gültigkeit der Gegenzeichnung durch den Reichskanzler oder den zuständigen Minister, die dadurch die Verantwortung gegenüber der Volksvertretung übernahmen (Art. 50).
355
X. Versuchte Demokratie: Weimar „Der Reichskanzler", so lautete Artikel 56, „bestimmt die Richtlinien der Politik und trägt dafür gegenüber dem Reichstag die Verantwortung. Innerhalb dieser Richtlinien leitet jeder Reichsminister den ihm anvertrauten Geschäftszweig selbständig und unter eigener Verantwortung gegenüber dem Reichstag." Kanzler und Minister bedurften — w i e ausgeführt — zu ihrer Amtsführung des Vertrauens des Reichstags. Den Rücktritt gebot nur ein ausdrücklich erklärter Mißtrauensbeschluß, nicht schon die Verneinung der Vertrauensfrage, wenngleich man sie in der Praxis beachtete. Ein Mißtrauensbeschluß w i r k t e auch dann, w e n n eine heterogene Mehrheit ihn faßte, w e n n also die Majorität aus gegensätzlichen Motiven für den Vertrauensentzug votierte und sich weder willens noch fähig zeigte, das gestürzte Kabinett durch eine neue eigene Koalitionsregierung zu ersetzen. Die Weimarer Verfassung verkoppelte nicht — wie später das Grundgesetz — Mißtrauensvotum und Nachfolgerwahl miteinander, sie kannte nicht das konstruktive, sondern das destruktive Mißtrauensvotum — ein Gebrechen, das zuerst Carl Schmitt bemerkte, eine oft beklagte „Lücke der Verfassung", welche Staatspraxis und Wissenschaft nicht ausfüllen konnten. Wenn der Reichstag w e g e n innerer Zerrissenheit und starker radikaler Flügel sich nicht dazu verstand, einen Kanzler seines Vertrauens mehrheitlich zu unterstützen, brauchte der Reichspräsident bei der Ernennung und Entlassung keine Rücksicht auf das Parlament zu nehmen. A u c h geriet der Regierungschef in die Abhängigkeit von der Politik des Reichspräsidenten, w e n n dieser nach Art. 48 Abs. 2 unter Ausschaltung des Parlaments regierte. In seinem zweiten Hauptteil regelt das Weimarer Verfassungswerk „Grundrechte und Grundpflichten der Deutschen": die Einzelperson; das Gemeinschaftsleben; Religion und Religionsgesellschaften; das Wirtschaftsleben (Art. 109-165). Die A u f n a h m e fundamentaler Rechte des Individuums als Mensch und Bürger in das Staatsgrundgesetz bildet einen typischen Wesenszug fast jeder neuzeitlichen Verfassung. Die jüngere deutsche Entwicklung erscheint geprägt insbesondere durch die „Rechte der Preußen" in den preußischen Verfassungsurkunden der Jahre 1848 und 1850 und durch die „Grundrechte des deutschen Volkes", das Werk der Paulskirche 1848/49. Diese beiden Grundrechtsverzeichnisse beschränken sich — anders als ihre Vorbilder — nicht auf die Verbriefung eines Mindestmaßes persönlicher Freiheit in der Gestalt subjektiver Rechte gegenüber dem Staat, sondern stellen darüber hinaus ein zunächst den Gesetzgeber verpflichtendes umfassendes Reformprogramm auf. Im Unterschied zu den meisten deutschen einzelstaatlichen Konstitutionen enthält die Bismarcksche Reichsverfassung keine Grundrechte: sie regelt ausschließlich A u f b a u und A u f g a b e n des nationalen Bundesstaates und überläßt es dem Reichsgesetzgeber, Staatsgewalt und 356
2. Das Verfassungswerk Einzelfreiheit voneinander abzugrenzen; das Gerichtsverfassungsgesetz, die Strafprozeßordnung und andere Kodifikationen bezeugen den freiheitlichen Geist, mit dem das Parlament des Kaiserreichs dabei zu Werke ging. Die Arbeit am Weimarer Grundrechtskatalog konnte also bei einer reichhaltigen kodifikatorischen und literarischen Tradition anknüpfen. Die Ausschuß- und Plenardebatten verliefen gleichwohl sehr kontrovers. Der nationalsoziale und liberale Politiker Friedrich N a u m a n n wollte nicht bei den wenigen eher herkömmlich formulierten Rechtssätzen des Regierungsentwurfs stehenbleiben, sondern den leitenden Ideen der Umbruchzeit volksverständlichen A u s d r u c k geben. Bezeichnend für N a u m a n n s Vorschlag sind die folgenden mehr politisch-aphoristischen, denn normierenden Sätze: „Volkserhaltung ist Staatszweck. Kinderzuwachs ist Nationalkraft. Das Vaterland steht über der Partei. Einigkeit und Recht und Freiheit sind des Deutschen Vaterland. Ordnung und Freiheit sind Geschwister. Freie Bahn dem Tüchtigen. Volkswirtschaft steht über Privatwirtschaft. Wald bleibt erhalten. Bergschätze sind Volkswerte. Zum demokratischen Industriestaat gehört Industrieparlamentarismus . . . " Der Rechtshistoriker und Abgeordnete der Bayerischen Volkspartei Professor Konrad Beyerle erwarb sich das Verdienst, den Leitgedanken N a u m a n n s so auszugestalten, daß er einen juristisch faßbaren Inhalt gewann. Die Uberschrift des zweiten Hauptteils bezeichnete dessen Gegenstand nur unvollkommen. Die „Grundrechte und Grundpflichten der Deutschen" umschlossen wichtige staatsbürgerliche oder politische Befugnisse wie das Wahlrecht nicht, welche die Verfassung in ihrem ersten Abschnitt regelte. Auf der anderen Seite bot der zweite Teil mehr, als er auf den ersten Blick verhieß: nicht nur Bürgerrechte für die Deutschen, vielmehr Menschenrechte; die Grundrechte bildeten als subjektive öffentliche Rechte prinzipiell nicht einen Ausfluß der Staatsangehörigkeit, sondern der Persönlichkeit. Schließlich enthielt der Katalog Sätze, die Recht nur im objektiven Sinne darstellten, und z w a r sowohl N o r m e n mit aktueller Wirksamkeit als auch bloße Rechtsgrundsätze, die der A k tualisierung durch Ausführungsgesetze bedurften. Insgesamt trug der zweite Hauptteil der Weimarer Reichsverfassung den Charakter eines Kompromisses zwischen bürgerlich-liberalen, christlichen und sozialistischen Postulaten. A n der Spitze stand das Grundrecht der Gleichheit vor dem Gesetz. Bedeutende Vertreter der Staatsrechtslehre w i e Erich Kaufmann und Gerhard Leibholz vertraten die Ansicht, daß der Gleichheitssatz nicht nur die Verwaltung, sondern auch den Gesetzgeber binde. Wenn diese Doktrin sich auch nicht durchsetzte, so bahnte sie doch den Ausbau 357
X. Versuchte Demokratie: Weimar des Gleichheitssatzes zur subjektiv-öffentlichen Rechtsposition des Individuums an, w i e er sich dann im Zeichen des Bonner Grundgesetzes vollendete. Neben die klassischen Freiheitsrechte stellte die Verfassung einzelne Leistungsansprüche gegen den Staat und die Garantie von Rechtsinstituten w i e Ehe, Eigentum und Erbrecht, ferner die Gewährleistung von Institutionen w i e der k o m m u n a l e n Selbstverwaltung und des Berufsbeamtentums. Viele Grundsätze trugen programmatischen Charakter. Die meisten der Pflichten insbesondere sollten „nach M a ß gabe der Gesetze" gelten, bedurften also kodifikatorischer Konkretisierung, w a s die Frage nach den Schranken solcher Gesetze aufwarf. J u d i katur und Wissenschaft sahen sich immer wieder veranlaßt, das Verhältnis der Grundrechte zu den Grundpflichten im einzelnen zu bestimmen, wobei die Lehre von der „Einheit der Verfassung" (Rudolf Smend) eine A b w ä g u n g im Rahmen ihres Gesamtbildes gebot. Im ganzen begründeten die Grundrechte und -pflichten das juristisch differenzierte System eines Rechtsstaates, in dem sich Freiheit und Sozialstaatlichkeit die Waage hielten. Die Lebenskraft seiner Wertentscheidungen hing ab von der Handhabung durch Gerichte und Behörden und ebenso von der Anerkennung durch die überwiegende Mehrheit der Staatsbürger. Die Befürworter eines konsequenten Sozialismus freilich blieben angesichts der liberalen Elemente des Grundrechtskatalogs ebenso reserviert w i e Teile des konservativen Bürgertums w e g e n der sozialrechtlichen Züge der Verfassung. Einschneidende Veränderungen erfuhr die Weimarer Reichsverfassung im ersten Jahrzehnt ihres Bestehens nicht. A u c h die Verfassungsdurchbrechungen hielten sich in Grenzen. Das wichtigste Unternehmen dieser Art, das nach den Angriffen auf die republikanische Staatsform und der Ermordung Walther Rathenaus erlassene erste Republikschutzgesetz vom 21. Juli 1922, lief 1929 aus. Etliche Reichsgesetze haben die Verfassung vervollständigt, so das Reichswahlgesetz, das Gesetz über den Volksentscheid, das preußische Gesetz über die Bestellung von Mitgliedern des Reichsrats durch die Provinzialverwaltungen, die Verordnung über den vorläufigen Reichswirtschaftsrat, das Gesetz über die Wahl des Reichspräsidenten, das Gesetz über den Staatsgerichtshof, die Reichshaushaltsordnung, das Gesetz zur Ausführung des Artikels 13 Abs. 2. A u c h die Geschäftsordnungen des Reichstags, des Reichsrats und der Reichsregierung lassen sich in diesem Zusammenhang anführen. „Vor allem gilt die Reichs Verfassung", schrieb Walter Jellinek im Sommer 1929, „trotz starker Belastungsproben in den ersten Jahren ihres Bestehens. Den Kapp-Putsch v o m Frühjahr 1920 hat sie ebenso überdauert w i e die Münchener Revolte vom Herbst 1923 und das Elend der Inflationszeit. Die zehn Jahre haben sie zusehends gefestigt. 358
2. Das Verfassungswerk Wer heute ihren Rechtsbestand oder ihre Fortdauer anzweifeln wollte, w ü r d e sich lächerlich machen." Doch diese A n n a h m e trog. Jellinek selbst sprach von der „Reformbedürftigkeit der Vorschriften über die parlamentarische Regierungsform" unter dem Eindruck der häufig wechselnden Kabinette. In den knapp vierzehn Jahren ihres Bestehens verbrauchte die Weimarer Republik nicht weniger als zwanzig Regierungen! Diese bittere Erfahrung offenbarte, daß das parlamentarische System ohne die verfassungsrechtliche Sicherung der Regierungsstabilität mittels des konstruktiven Mißtrauensvotums nicht funktionierte. Sie diskreditierte das System und begünstigte die antiparlamentarischen Kräfte der Links- und Rechtsextremen, die sich allein in ihrer Feindschaft der jungen Republik gegenüber trafen. Die fortdauernde, durch die Möglichkeit des destruktiven Mißtrauensvotums wesentlich mitbegründete Schwäche der im Mittelfeld des politischen Spektrums stehenden Parteien der „Weimarer Koalition", des Zentrums, der Liberalen und der Mehrheitssozialdemokraten, an denen noch die Splittergruppen zehrten, bedeutete zugleich einen Hauptmangel des parlamentarischen Systems. Er weckte eine weitverbreitete Sehnsucht nach Ordnung und Einheit beim Publikum, dem die starke Machtposition des Reichspräsidenten und seine Diktaturgewalt nach Artikel 48 weniger gefährlich, denn vielmehr wünschenswert erschienen. Die dem Muster des konstitutionellen Monarchen nachgebildete und durch die Volkswahl gestärkte verfassungsrechtliche Position des Reichspräsidenten schuf einen Repräsentationsdualismus, der die Krise des Parlamentarismus noch vertiefte. „Das Scheitern der Weimarer Republik ist kein datierbares Ereignis. Der Vorgang zieht sich durch Jahre hin. Er ist durch unterschiedliche, nicht immer gleichzeitig w i r k e n d e Faktoren wirtschaftlicher, sozialer, verfassungsrechtlicher, innen- und außenpolitischer Art bedingt" (Karl Dietrich Erdmann). Die Weimarer Republik ist nicht an den Konstruktionsfehlern ihrer Verfassung zugrunde gegangen, wenngleich die Gebrechen des Staatsrechts das Verhängnis durchaus begünstigten. Die erste deutsche Republik krankte an den Vorbehalten vieler ihrer Bürger, Staatsdiener und Soldaten, an Ressentiments, die sich etwa im Streit u m die Reichssymbole äußerten, auch an der „zu k u r z greifenden positivistischen J u risprudenz" (Hans Schneider). Die H y p o t h e k des Versailler Diktats mit seinen Gebietsverlusten, Souveränitätsbeschränkungen, dem völkerrechtlichen N o v u m einer Pflicht zu Kriegsverbrecherprozessen, den gewaltigen Reparationen und die Kriegsschuldfrage belasteten das staatliche Leben ebenso w i e die grollende Reserve derjenigen, die sich mit dem Ende des Kaiserreiches nicht abfinden mochten. Ein Gefühl der Enttäuschung breitete sich aus auch in Anbetracht noch unerfüllten Zu359
X. Versuchte Demokratie: Weimar kunftsrechts, das die Verfassung verheißen hatte. „Der Weimarer Staat w a r seiner Form nach demokratisch, aber nicht seiner Wirklichkeit nach sozialistisch; dies große, vage Versprechen blieb uneingelöst" (Golo Mann). Die mannigfachen politischen, psychischen und wirtschaftlichen Widrigkeiten der zwanziger Jahre nutzten die radikalen Parteien der Rechten und Linken für ihre Zwecke, u m das Verfassungsw e r k von 1919 zu unterhöhlen.
3. Fortschritte
des Arbeits-
und
Sozialrechts
BÄHR, Johannes: Staatliche Schlichtung in der Weimarer Republik. Tarifpolitik, Korporatismus und industrieller Konflikt zwischen Inflation und Deflation 1919-1932, 1989; BAUER, Stephan: Arbeiterschutzgesetzgebung, in: Handwörterbuch der Staatswissenschaften, hg. v. Ludwig ELSTER, Adolf WEBER U. Friedrich WIESER, Bd. 1, 4 1923, 401-700; BENÖHR, Hans-Peter (Hg.): Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversorgung in der neueren deutschen Rechtsgeschichte, 1991; BERNERT, Günther: Arbeitsverhältnisse im 19. Jahrhundert. Eine kritische dogmatische Analyse der rechtswissenschaftlichen Lehren über die allgemeinen Inhalte der Arbeitsverträge und Arbeitsverhältnisse im 19. Jahrhundert in Deutschland, 1972; BEUTIN, Heidi, BEUTIN, Wolfgang, MALTERER, Holger u. MÜLDER, Friedrich (Hgg.): 125 Jahre Sozialistengesetz. Beiträge der öffentlichen wissenschaftlichen Konferenz vom 28.-30. November 2003 in Kiel, 2004 = Bremer Beiträge zur Literatur- und Ideengeschichte, Bd. 45; BISCHOFF, Sabine: Arbeitszeitrecht in der Weimarer Republik, 1987; BOGS, Walter: Die Sozialversicherung in der Weimarer Demokratie, 1981; BOHLE, Thomas: Einheitliches Arbeitsrecht in der Weimarer Republik. Bemühungen um ein deutsches Arbeitsgesetzbuch, 1990; BRAND, Jürgen: Untersuchungen zur Entstehung der Arbeitsgerichtsbarkeit in Deutschland, 1. Teilbd.: Zwischen genossenschaftlicher Standesgerichtsbarkeit und kapitalistischer Fertigungskontrolle, 1990; BRAND, Jürgen: Untersuchungen zur Entstehung der Arbeitsgerichtsbarkeit in Deutschland, Bd. 2: Von der Ehre zum Anspruch, 2002 = Studien zur europ. Rechtsgeschichte, Bd. 151; BRAUCHITSCH, Isabelle von: Staatliche Zwangsschlichtung. Die Aushöhlung der Tarifautonomie in der Weimarer Republik, 1990; BRAUCHITSCH, Isabelle von: Schlichten und Richten. Zur negativen Bilanz der Erfahrungen mit Schlichtungswesen und Arbeitskampfrecht in der Weimarer Republik, in: Vorträge zur Justizforschung. Geschichte und Theorie, Bd. 2, hg. v. Heinz MOHNHAUPT u. Dieter SIMON, 1993, 449-470; CARLEN, Louis: Arbeiterschutz in der Schweiz bis 1800, in: Festschr. Hermann Eichler, 1977, 69-88; DERSCH, Hermann: Arbeitsrecht, in: Handbuch der Staats- u. Wirtschaftskunde, Abt. II: Wirtschaftskunde, hg. v. Karl BRÄUER, Bd. 1, Heft 5, 1926, 58-89; EBEL, Martin u. LILIENTHAL, Adolf: Mieterschutz und Mieteinigungsämter. Mieterschutzgesetz nebst Verfahrensanordnung und der Preußischen Lockerungsverordnungen, 4 1930; ERDMANN, 360
3. Fortschritte des Arbeits- und Sozialrechts Gerhard (Hg.): Die Entwicklung der deutschen Sozialgesetzgebung, 2 1957; Erich: Die Neuordnung des Mietrechts, in: Recht und Wirtschaft 11, 1922, Sp. 129-142; F R Ö H L I C H , Sigrid: Die soziale Sicherang bei Zünften und Gesellenverbänden, 1976; F Ü H R E R , Karl Christian: Arbeitslosigkeit und die Entstehung der Arbeitslosenversicherung in Deutschland 1902-1927, 1990; GENTHE, Max: Reichsmieten-Gesetz vom 24. M ä r z 1922. Handausg. mit eingehenden Erläuterungen, 1922; GIESE, Friedrich: Das Arbeitsrecht in der Reichsverfassung, in: Neue Zeitschrift f. Arbeitsrecht 3, 1923, Sp. 209-224; GRAF, Günter: Das Arbeitsgerichtsgesetz von 1926. Weimarer Verfassungsvollzug auf justizpolitischen Irrwegen des Kaiserreichs?, 1993; G Ü N T H E R , Adolf: Neuordnung der Sozialgesetzgebung in Deutschland, in: Annalen f. soziale Politik u. Gesetzgebung 6, 1919, 370-386; H E D E M A N N , Justus Wilhelm: Kodifikation des Arbeitsrechtes, in: Recht und Wirtschaft 11, 1922, Sp. 247-256; HERKNER, Heinrich: Die Arbeiterfrage. Eine Einführung, Bd. 1: Arbeiterfrage und Sozialreform, Bd. 2: Soziale Theorien und Parteien, 8 1922; KASKEL, Walter: Das neue Arbeitsrecht. Systematische Einführung, 1920; KISSEL, Otto Rudolf: Geschichte der obersten Arbeitsgerichtsbarkeit in Deutschland, in: Residenzen des Rechts, hg. v. Bernhard KLRCHGÄSSNER u. Hans-Peter BECHT, 1993, 87-97; KÖHLER, Peter A. u. Z A C H E R , Hans F. (Hgg.): Ein Jahrhundert Sozialversicherung in der Bundesrepublik Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Osterreich und der Schweiz, 1981; KUMPMANN, Karl: Arbeitslosigkeit und Arbeitslosenversicherung, in: Handwörterbuch der Staatswissenschaften, hg. v. Ludwig ELSTER, Adolf W E B E R U. Friedrich WIESER, Bd. 1, 4 1923, 791824; LEPSIUS, Oliver: Die gegensatzaufhebende Begriffsbildung. Methodenentwicklungen in der Weimarer Republik und ihr Verhältnis zur Ideologisierung der Rechtswissenschaft im Nationalsozialismus, 1994; MARTINY, Martin: Integration oder Konfrontation? Studien zur Geschichte der sozialdemokratischen Rechts- und Verfassungspolitik, 1976; MAYER-MALY, Theo: Vom Kinderschutz zum Arbeitsrecht, in: Arbeiten zur Rechtsgeschichte. Festschr. Gustaf Klemens Schmelzeisen, 1980, 227-235; MESTITZ, Franz: Probleme der Geschichte des Arbeitsrechts. Ein Forschungsbericht für die Jahre 1974 bis 1979, in: Z N R 2, 1980, 47-65; MESTITZ, Franz: H u g o Sinzheimer und das Arbeitsrecht — einst und jetzt, in: Z N R 15, 1993, 35-53; METZLER, Gabriele: Justiz im Schatten der Weltwirtschaftskrise. Das Konzept der Arbeitsbeziehungen und der innerbetrieblichen Ordnung nach der Rechtsprechung des Reichsarbeitsgerichts (1927-1932), in: Vorträge zur Justizforschung. Geschichte und Theorie, Bd. 2, hg. v. Heinz M O H N H A U P T u. Dieter SIMON, 1993, 471-497; M O M M S E N , Wolfgang J.: Die Reichsversicherungsordnung vom Jahre 1911, in: Konflikt und Reform. Festschr. Helmut Berding, hg. v. Winfried SPEITKAMP U. HansPeter U L L M A N N , 1995, 255-264; NIPPERDEY, Hans Carl (Hg.): Die Grundrechte und Grundpflichten der Reichsverfassung. Kommentar zum 2. Teil der Reichsverfassung, 3. Bd.: Artikel 143-165 und „Zur Ideengeschichte der Grundrechte", 1930; NöRR, Knut Wolfgang: Die Weimarer Nationalversammlung und das Privatrecht, in: Gedächtnisschr. Wolfgang Kunkel, 1984, 3 1 7 343; NÖRR, Knut Wolf gang: Grundlinien des Arbeitsrechts der Weimarer Republik, in: ZfA 17, 1986, 403-447; NöRR, Knut Wolfgang: Zur Entwicklung des Aktien- und Konzernrechts während der Weimarer Republik, in: Z H R EYCK,
361
X. Versuchte Demokratie: Weimar 150, 1986, 155-181; NöRR, Knut Wolfgang: Zwischen den Mühlsteinen. Eine Privatrechtsgeschichte der Weimarer Zeit, 1988; NUTZINGER, Hans G.: Die Entstehung des Arbeitsrechts in Deutschland. Eine aktuelle Problematik in historischer Perspektive, 1998; OLEA, Alonso: Von der Hörigkeit zum Arbeitsvertrag, 1981; PETERS, Horst: Die Geschichte der sozialen Versicherung, 2 1973; PETERSEN, Jens-Uwe: Die Vorgeschichte und die Entstehung des Mieterschutzgesetzes von 1923 nebst der Anordnung für das Verfahren vor dem Mieteinigungsamt und der Beschwerdestelle, 1991; POTTHOFF, Heinrich: Freie Gewerkschaften 1918-1933. Der Allgemeine Deutsche Gewerkschaftsbund in der Weimarer Republik, 1987; POTTHOFF, Heinz: Das neue Arbeitsrecht, in: Arbeitsrecht. Jahrbuch f. d. gesamte Dienstrecht d. Arbeiter, Angestellten u. Beamten 6, 1919, 67-72; POTTHOFF, Heinz: Die staatliche Organisation der Arbeiter, Angestellten und Beamten zu wirtschaftlichen und sozialpolitischen Zwecken. Denkschrift im Auftrage des Ministeriums für soziale Fürsorge des Volksstaates Bayern, 1919; POTTHOFF, Heinz: Die Einwirkung der Reichsverfassung auf das Arbeitsrecht, 1925; POTTHOFF, Heinz: Arbeitsrecht. Das Ringen um werdendes Recht, 1928; PRELLER, Ludwig: Sozialpolitik in der Weimarer Republik, 1949; QuANDT, Siegfried (Hg.): Kinderarbeit und Kinderschutz in Deutschland, 1873-1976. Quellen und Anmerkungen, 1978; RAMM, Thilo (Hg.): Arbeitsrecht und Politik. Quellentexte 1918-1933, 1966; RICHTER, Lutz: Sozialversicherungsrecht, 1931; RITTER, Gerhard Α.: Der Sozialstaat. Entstehung und Entwicklung im internationalen Vergleich, 2 1991; R Ü C K E R T , Joachim: Entstehung und Vorläufer der gesetzlichen Rentenversicherung, in: VDR u. RUHLAND, Franz (Hgg.): Handbuch der gesetzlichen Rentenversicherung, 1990, 1-50; RUTH, Rudolf: Das Mietrecht der Wohn- und Geschäftsräume. Ein Lehr- und Handbuch des Mietrechts in seiner Umgestaltung durch das Mieterschutz- und Raumnotrecht, 1926; SACHSSE, Christoph u. TENNSTEDT, Florian: Geschichte der Armenfürsorge in Deutschland, 1980; SCHMOLLER, Gustav: Die soziale Frage. Klassenbildung, Arbeiterfrage, Klassenkampf, 1918; SCHÖPFER, Gerald: Sozialer Schutz im 16.-18. Jahrhundert, 1976; SCHRAEPLER, Ernst: Quellen zur Geschichte der sozialen Frage in Deutschland. 1871 bis zur Gegenwart, 3 1996; SCHUBERT, Werner: Die Diskussion über die Schaffung eines sozialen Dauermietrechts am Ende der Weimarer Republik, in: ZRG, GA, 106, 1989, 143-188; SELLIER, Ulrich: Die Arbeiterschutzgesetzgebung im 19. Jahrhundert, 1998 = Rechts- und Staatswissenschaftliche Veröffentlichungen der Görres-Gesellschaft, Neue Folge, Bd. 82; SIEFART, Hugo: Zur Geschichte der Entstehung eines deutschen Arbeitsgesetzbuchs, in: Neue Zeitschrift f. Arbeitsrecht 1, 1921, Sp. 261-278; SINZHEIMER, Hugo: Über den Grundgedanken und die Möglichkeit eines einheitlichen Arbeitsrechtes für Deutschland, 1914; SLNZHEIMER, Hugo: Das Rätesystem. 2 Vorträge z. Einführung in den Rätegedanken, 1919; SlNZHEIMER, Hugo: Aufgaben einer zukünftigen Koalitionsgesetzgebung nach Aufhebung des § 153 Gewerbeordnung, in: Annalen f. soziale Politik u. Gesetzgebung 6, 1919, 1— 16; SINZHEIMER, Hugo: Grundzüge des Arbeitsrechts. Eine Einführung, 1921; SINZHEIMER, Hugo: Arbeitsrecht, in: Handwörterbuch der Staatswissenschaft e n , h g . v. L u d w i g ELSTER, A d o l f WEBER U. F r i e d r i c h WIESER, B d . 1,
41923,
844-872; STEINDL, Harald (Hg.): Wege zur Arbeitsrechtsgeschichte,
1984;
362
3. Fortschritte des Arbeits- und Sozialrechts STOLLEIS, Michael (Hg.): Quellen zur Geschichte des Sozialrechts, 1976; STOLLEIS, Michael: Die Entstehung des Interventionsstaates und das öffentliche Recht, in: ZNR 11, 1989, 129-147; SYRUP, Friedrich: Hundert Jahre Staatliche Sozialpolitik 1839-1939, hg. v. Julius SCHEUBLE, bearb. v. Otto NEULOH, 1957; TENFELDE, Klaus u. VOLKMANN, Heinrich: Streik. Zur Geschichte des Arbeitskampfes in Deutschland während der Industrialisierung, 1981; TEUTEBERG, Hans Jürgen: Geschichte der industriellen Mitbestimmung in Deutschland. Ursprung und Entwicklung ihrer Vorläufer im Denken und in der Wirklichkeit des 19. Jahrhunderts, 1961; TIMM, Helga: Die deutsche Sozialpolitik und der Bruch der großen Koalition im März 1930, 1953; UHLIG, Richard: Das gesamte Miet- und Wohnrecht mit sämtlichen Gesetzen, Verordnungen, Erlassen, Verfügungen, Anordnungen, Bekanntmachungen und Rundschreiben im Reich und in Preußen, 1931; UMLAUF, Joachim: Die deutsche Arbeiterschutzgesetzgebung 1880-1890. Ein Beitrag zur Entwicklung des sozialen Rechtsstaates, 1980; VEN, Frans van der: Sozialgeschichte der Arbeit, Bd. 3: 19. u. 20. Jh., 1972 = dtv 4083; VORMBAUM, Thomas: Politik und Gesinderecht im 19. Jahrhundert (vornehmlich Preußen 1810-1918), 1980; WEBER, Adolf: Der Kampf zwischen Kapital und Arbeit. Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände in Deutschland, 6 1954; WLCKENHAGEN, Ernst: Geschichte der gewerblichen Unfallversicherung, 1980; WLNKLER, Heinrich August: Der Weg in die Katastrophe. Arbeiter und Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik 1 9 3 0 bis 1 9 3 3 , 1 9 8 7 .
Erst die sozialpolitische Gesetzgebung der Weimarer Republik hat das Arbeitsrecht in Deutschland als eigenes juristisches Fachgebiet geschaffen. Auf ihr baut auch der heutige Gesetzgeber weiter. Die Anfänge des Arbeitsrechts reichen freilich weiter zurück. So hat die Kinderschutzgesetzgebung des 19. Jahrhunderts viele spezifisch arbeitsrechtliche Probleme und Regelungstechniken vorweggenommen. „Der Kinderarbeit — so schrecklich sie w a r — verdankt das entwickelte Arbeitsrecht des Industriezeitalters erheblich mehr, als eine die historischen Dimensionen allzu oft aus den A u g e n verlierende Jurisprudenz gewahr w i r d " (Theo M a y e r - M a l y ) . Das derzeitige Arbeitsrecht gründet auf dem in den zwanziger Jahren Erreichten, und die Probleme und Erfahrungen der Weimarer Zeit bestimmen noch unsere Fragen mit. Ähnliches gilt für die Arbeitsrechtswissenschaft. Sie entwickelte sich im Zeichen der ersten deutschen Republik und beeinflußte deren Gesetzeswerke durch H u g o Sinzheimer und H e i n z Potthoff entscheidend. Sie errang Ansehen weit über die Grenzen des eigenen Landes hinaus. Sinzheimer verband in seinen klassischen „Grundzügen des Arbeitsrechts" die juristische mit der soziologisch-politischen Analyse. Potthoff verfolgte als Mitstreiter und Betrachter das Ringen u m die prinzipielle Gestalt der neuen Disziplin. 363
X. Versuchte Demokratie: Weimar Walter Kaskel bewies mit seinem Lehrbuch, daß sich in dem neuen Fach ebenso begrifflich-systematisch arbeiten ließ w i e im traditionellen Zivilrecht. „ U m so m e r k w ü r d i g e r und beunruhigender", schrieb Thilo R a m m 1966, „ist die geistige Beziehungslosigkeit zu dieser großen Zeit des deutschen Arbeitsrechts und der deutschen Arbeitsrechtswissenschaft. Obschon w i r in ihren Begriffen denken und in ihrer Sprache reden, besteht keine Kontinuität, und es findet noch nicht einmal eine Auseinandersetzung mit ihr statt. Es kann . . . dahingestellt bleiben, w o r a n dies liegt: ob der jähe Bruch des Jahres 1933 noch immer fortw i r k t , ob sich die Verdrängung der nationalsozialistischen Ä r a aus dem geschichtlichen Bewußtsein auch auf Weimar ausdehnt oder ob einer Wohlstandsgesellschaft überhaupt die Kraft zu geistigen Auseinandersetzungen abgeht. Jedenfalls muß zumindest der Versuch unternommen werden, die Brücke zu jener großen Vergangenheit zu schlagen." Die neuere Forschung ist dem gefolgt. Die Novemberrevolution 1918 brachte der Arbeiterklasse die ihr lange vorenthalten gebliebene politische Macht und eröffnete den Weg zu sozialpolitischen Reformen, die seit vielen Jahren z u m P r o g r a m m der sozialistischen Parteien und der Gewerkschaften gehörten, sich im Kaiserreich aber erst in Ansätzen hatten verwirklichen lassen. Einen neuen Anfang setzte bereits der Aufruf des Rats der Volksbeauftragten an das deutsche Volk vom 12. November 1918. Die programmatischen Ansprüche der Arbeiterschaft fanden ihren Niederschlag alsbald in der Weimarer Reichsverfassung, in einem abgeschwächten M a ß e freilich, das die politischen Kräfteverhältnisse nach den Wahlen zur Nationalversammlung widerspiegelte. Den sozialen Gedanken brachte namentlich der Artikel 157 z u m Ausdruck: „Die Arbeitskraft steht unter dem besonderen Schutz des Reichs. Das Reich schafft ein einheitliches Arbeitsrecht." Damit anerkannte das Staatsgrundgesetz den „bevorzugten Schutz" der Arbeitskraft (Gustav Radbruch), den „Vorrang des lebenden Menschen vor Vermögensinteressen", „die Wandlung der Güterverkehrsordnung in eine Gesellschaftsordnung" (Heinz Potthoff). Den demokratischen Gedanken gleichberechtigter Selbstbestimmung führte Artikel 165 in die Arbeitswelt ein: „Die Arbeiter und Angestellten sind dazu berufen, gleichberechtigt in Gemeinschaft mit den Unternehmern an der Regelung der Lohn- und Arbeitsbedingungen sowie an der gesamten wirtschaftlichen Entwicklung der produktiven Kräfte mitzuwirken. Die beiderseitigen Organisationen und ihre Vereinbarungen werden anerkannt." Weiter stellte der Artikel den Arbeitnehmern im Dienste „ihrer sozialen und wirtschaftlichen Interessen" eine gesetzliche Vertretung in Arbeiter- und Wirtschaftsräten in Aussicht. Artikel 161 verhieß „ein umfassendes Versicherungswesen unter maßgebender M i t w i r k u n g 364
3. Fortschritte des Arbeits- und Sozialrechts der Versicherten" zur Erhaltung der Gesundheit und Arbeitsfähigkeit, z u m Schutz der Mutterschaft und zur Vorsorge gegen die wirtschaftlichen Folgen von Alter und Schwäche. „Die politische Demokratie", so kommentierte Potthoff die in die Verfassung eingegangenen Grundgedanken der Arbeiterbewegung, „wäre eine Schale ohne Kern, w e n n sie nicht in alle Bereiche eindränge und erst dadurch lebendig würde. Soziale Selbstverwaltung kann nur auf dem Boden der Gleichberechtigung erfolgen. U n d der Vorrang des Menschen vor dem Vermögen ist nur dann gesichert, w e n n die M e n schen als solche, das heißt ohne Rechtsunterschiede, die Bestimmung von Gesetzgebung und Verwaltung in der H a n d haben." Einen Teil dieses Programms verwirklichte die Weimarer Republik: dem Ubergang zur politischen Demokratie folgte im Wirtschaftsleben die gleichberechtigte M i t w i r k u n g der Arbeitgeber und Arbeitnehmer bei der Festsetzung der Löhne und Arbeitsbedingungen. Kollektive Abschlüsse z w i schen den Tarifpartnern, den „sozialen Gegenspielern", bestimmten anstelle einzelner Verträge den Inhalt der Arbeitsverhältnisse; die Epoche des kollektiven Arbeitsrechts begann. Entscheidenden Anteil bei der Ausbildung des Tarifrechts hatten die Gewerkschaften: Organisationen, mit denen die Arbeiterschaft den sozialen Notständen zu begegnen suchte, die das moderne Fabriksystem unter den Bedingungen des wirtschaftlichen Liberalismus erzeugte. Die Idee des Zusammenschlusses der Arbeitnehmer zur organisierten Wahrnehmung der gemeinsamen Interessen gegenüber der Unternehmerschaft brach sich zuerst in England mit den Trade-Unions Bahn, u m sich bald über Europa und die Welt auszubreiten. Sie erforderte vielfach den Streit u m das allgemeine Koalitionsrecht, bei dem sich die G e w e r k schaften in den politischen Kampf einließen. In Deutschland bildeten sich u m 1848 zahlreiche lokale Arbeiterverbände, die sich nicht allein auf Handwerksgesellen beschränkten: die „Arbeiterverbrüderung" Stephan Borns, der „Allgemeine Deutsche Arbeiterverein" Karl Georg Winkelblechs und andere Verbände. Der Frankfurter Bundestag erstickte 1854 indessen die meisten Ansätze gewerkschaftlicher Arbeit, die erst in den sechziger Jahren einen neuen Aufschwung nahm. Ferdinand Lassalles „Allgemeiner Deutscher Arbeiterverein" von 1863 bezeugte als erster Zweig der späteren Sozialdemokratie den Zusammenhang z w i schen gewerkschaftlicher und sozialistischer Bewegung. Der auf dem Allgemeinen deutschen Arbeiterkongreß Ende 1868 zu Berlin eingerichtete „Allgemeine Deutsche Arbeiterschaftsverband", der die nach dem Plan Johann Baptist von Schweitzers entworfenen „Arbeiterschaften" zusammenfaßte, leitete den für Deutschland typischen Zentralismus der Gewerkschaftsbewegung ein. Auf dem Berliner Kongreß spaltete sich 365
X. Versuchte Demokratie: Weimar ein liberaler Zweig von den sozialistischen Gewerkschaften ab und gründete auf Initiative der Deutschen Fortschrittspartei die nach ihren Gründern benannten „Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereine". A u c h die katholischen Arbeiter organisierten sich in eigenen christlichen Zusammenschlüssen. Die Gewerbeordnung für den Norddeutschen Bund vom 21. J u n i 1869 hob in ihrem § 152 „alle Verbote und Strafbestimmungen gegen Gewerbetreibende, gewerbliche Gehülfen, Gesellen oder Fabrikarbeiter w e g e n Verabredungen und Vereinigung z u m Behufe der Erlangung günstiger Lohn- und Arbeitsbedingungen, insbesondere mittelst Einstellung der Arbeit oder Entlassung der Arbeiter" auf und stellte damit die Koalitionsfreiheit auf diesem Felde grundsätzlich her, die später außerdem der Artikel 159 der Weimarer Reichsverfassung garantierte. Das Bismarcksche Sozialistengesetz von 1878 w i e d e r u m z w a n g die freien Gewerkschaften für zwölf Jahre in die Illegalität. Danach blühten sie mächtig auf. Im Jahre 1890 trat die „Generalkommission der Gewerkschaften Deutschlands", geführt von dem freien Gewerkschafter Carl Legien, ins Leben; sie nannte sich seit 1919 „Allgemeiner Deutscher Gewerkschaftsbund" ( A D G B ) . A u c h die christlichen und liberalen Gewerkschaften bildeten Spitzenverbände. Die drei großen Richtungen der Gewerkschaftsbewegung, von denen der sozialistische (freie) Verband mit Millionen von Mitgliedern deutlich überwog, bestanden nebeneinander bis zur Auflösung 1933. Nach 1918 organisierten sich auch die Angestellten und Beamten; hier gewann das größte Gewicht der „Allgemeine freie Angestelltenbund" ( A f A - B u n d ) . D e m Abschluß kollektiver Arbeitsverträge standen die deutschen sozialistischen Gewerkschafter bis zur Jahrhundertwende überwiegend mißtrauisch gegenüber. Das „collective bargaining" und der Eintritt in Tarifgemeinschaften zuerst im Druckgewerbe erschienen noch als untunlicher Verzicht auf den notwendigen Kampf. Der dritte Kongreß der Gewerkschaften Deutschlands änderte indessen 1899 diesen Kurs. „Tarifliche Vereinbarungen", so beschloß er, „welche die Lohn- und Arbeitsbedingungen für eine bestimmte Zeit regeln, sind als Beweis der Gleichberechtigung der Arbeiter seitens der Unternehmer bei Festsetzung der Arbeitsbedingungen zu erachten und in den Berufen erstrebenswert, in welchen sowohl eine starke Organisation der Unternehmer als auch der Arbeiter vorhanden ist, welche eine Gewähr für Aufrechterhaltung und Durchführung des Vereinbarten bieten. Dauer und U m fang der jeweiligen Vereinbarung lassen sich nicht schematisieren, sondern hängen von der Eigenart des betreffenden Berufes ab." N u n begann ein zäher Kampf der Arbeiter mit den Unternehmern, u m diese grundsätzlich für den Tarifabschluß zu gewinnen. N o c h 1905 sprach
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3. Fortschritte des Arbeits- und Sozialrechts sich der Zentralverband deutscher Industrieller mit aller Schärfe gegen Tarifverträge aus. Der Durchbruch vollzog sich im Ersten Weltkrieg, der das Tarifvertragswesen stark förderte. Seit Kriegsbeginn bemühte sich die Reichsleitung im Interesse der militärischen Rüstung u m eine gewerkschaftsfreundliche Politik. Diese schlug sich in dem Gesetz vom 26. J u n i 1916 nieder, das die Arbeitgeber- und Arbeitnehmerorganisationen von der Subsumtion unter den Begriff des politischen Vereins im Sinn der §§ 3, 17 Reichsvereinsgesetz befreite, das Recht der Berufsverbände also liberalisierte. A u ß e r d e m zog die Administration die Gewerkschaften zu den staatlichen A u f g a b e n heran. Zahlreiche Gewerkschafsführer traten in leitende Amter der Kriegsverwaltung ein. In den Fragen der Sozialund Wirtschaftspolitik der Kriegszeit fanden die Gewerkschaften zunehmend Gehör. Das Kernstück dieser Entwicklung hin z u m Sozialstaat bildete das Gesetz über den vaterländischen Hilfsdienst v o m 5. Dezember 1916, das die Gewerkschaften als berufene Vertreter der Arbeitnehmer anerkannte und in seinen Plan miteinbezog. Mit der Einrichtung staatlicher Schlichtungsausschüsse tat dieses Gesetz einen entscheidenden Schritt auf dem Weg in das kollektive Arbeitsrecht. Zu den weiteren gesetzlichen M a ß n a h m e n im Rahmen der kooperativen Politik gehörte die A u f h e b u n g des § 153 der Reichsgewerbeordnung am 22. Mai 1918, einer viel umstrittenen Norm, nach welcher die mit Drohung oder Beleidigung verbundene Aufforderung z u m Streik hatte bestraft werden können. Den Abschluß bildete die Berufung des Sozialdemokraten und Gewerkschaftsführers Gustav Bauer an die Spitze des 1918 errichteten Reichsarbeitsamts. So nahmen die Gewerkschaften ihre A u f g a b e in und nach der N o vemberrevolution keineswegs unvorbereitet in Angriff. Die Umstellung der Wirtschaft von den Kriegs- auf die Friedensbedürfnisse und die Wiedereingliederung der zurückkehrenden Soldaten in den Produktionsprozeß ließen sich nur bewerkstelligen, w e n n unter der Leitung des Demobilmachungsamts Unternehmer und Gewerkschaften eng zusammenwirkten, die Kooperation der Kriegsjahre sich also unter neuen Vorzeichen fortsetzte. Die beiden Sozialpartner gründeten zu diesem Zweck am 15. November 1918 die „Zentralarbeitsgemeinschaft der industriellen und gewerblichen Arbeitgeber und Arbeitnehmer Deutschlands", ein Unternehmen, das der Rat der Volksbeauftragten staatsrechtlich sanktionierte. Das P r o g r a m m dieser Gemeinschaft wies der Entw i c k l u n g des Arbeits- und insbesondere des Tarifvertragsrechts in der Weimarer Republik den Weg: „Die großen Arbeitgeberverbände vereinbaren mit den Gewerkschaften der Arbeitnehmer das folgende: 1. Die Gewerkschaften w e r d e n als berufene Vertreter der Arbeiterschaft aner367
X. Versuchte Demokratie: Weimar kannt. 2. Eine Beschränkung der Koalitionsfreiheit der Arbeiter und Arbeiterinnen ist unzulässig . . . 6. Die Arbeitsbedingungen für alle Arbeiter und Arbeiterinnen sind entsprechend den Verhältnissen des betreffenden Gewerbes durch Kollektivvereinbarungen mit den Berufsvereinigungen der Arbeitnehmer festzusetzen . . . 7. Für jeden Betrieb mit einer Arbeiterschaft von mindestens 50 Beschäftigten ist ein Arbeiterausschuß einzusetzen, der diese zu vertreten und in Gemeinschaft mit dem Betriebsunternehmer darüber zu wachen hat, daß die Verhältnisse des Betriebs nach M a ß g a b e der Kollektivvereinbarung geregelt werden. 8. In den Kollektivvereinbarungen sind Schlichtungsausschüsse bzw. Einigungsämter vorzusehen, bestehend aus der gleichen Anzahl von Arbeitnehmer- und Arbeitgebervertretern." Damit hatten die beiden Kontrahenten auf dem Arbeitsmarkt und der Staat den Tarifvertrag als Hauptinstrument für die Regelung der Arbeitsverhältnisse anerkannt. Das Tarifvertragswesen erhielt seine rechtliche Grundlage durch die v o m Rat der Volksbeauftragten erlassene Tarifvertragsverordnung v o m 23. Dezember 1918, zuletzt neu gefaßt durch eine Verordnung vom 1. M ä r z 1928. Die Verordnung begründete dem Wesen und Zweck des kollektivvertraglichen Rechtsprinzips entsprechend die unmittelbare und unabdingbare W i r k u n g des Tarifvertrages gegenüber den Einzelarbeitsverträgen. „Sind die Bedingungen", so § 1 der Verordnung, „für den Abschluß von Arbeitsverträgen zwischen Vereinigungen von Arbeitnehmern und einzelnen Arbeitgebern oder Vereinigungen von Arbeitgebern durch schriftlichen Vertrag geregelt (Tarifvertrag), so sind Arbeitsverträge zwischen den beteiligten Personen insofern unwirksam, als sie von der tariflichen Regelung abweichen. Abweichende Vereinbarungen sind jedoch wirksam, soweit sie im Tarifvertrage grundsätzlich zugelassen sind, oder soweit sie eine Änderung der Arbeitsbedingungen zugunsten des Arbeitsnehmers enthalten und im Tarifvertrage nicht ausdrücklich ausgeschlossen sind. A n die Stelle unwirksamer Vereinbarungen treten die entsprechenden Bestimmungen des Tarifvertrages." In verfahrensrechtlicher Hinsicht führte die Verordnung vom 23. Dezember 1918 die bereits im Hilfsdienstgesetz der Kriegszeit enthaltenen Schlichtungsgrundsätze fort, nämlich staatliche, aus unparteiischen Vorsitzenden und Arbeitgeber- w i e Arbeitnehmerbeisitzern bestehende Schlichtungsausschüsse den Tarifvertragsparteien als Hilfe beim A b schluß ihrer Gesamtvereinbarungen zur Verfügung zu stellen. Die aufgrund eines Ermächtigungsgesetzes erlassene Schlichtungsverordnung vom 30. Oktober 1923 novellierte das Schlichtungsrecht: Sie behielt die Grundsätze der alten Verordnung bei, verringerte indessen die Zahl der
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3. Fortschritte des Arbeits- und Sozialrechts Schlichtungsstellen im Zuge der allgemeinen Verwaltungsvereinfachung und ordnete das Verfahren neu. Sowohl die das materielle Tarifrecht regelnde Tarifvertragsordnung wie die das Verfahren bestimmende Schlichtungsverordnung gaben der staatlichen Verwaltung weitreichenden Einfluß auf das Zustandekommen tariflicher Abschlüsse und damit auf den Inhalt der Arbeitsverträge. „ D e r Reichsarbeitsminister kann Tarifverträge", so § 2 der Tarifvertragsverordnung, „die für die Gestaltung der Arbeitsbedingungen des Berufskreises in dem Tarifgebiet überwiegende Bedeutung erlangt haben, für allgemein verbindlich erklären. Sie sind dann innerhalb ihres räumlichen Geltungsbereichs für die Arbeitsverträge, die nach der Art der Arbeit unter den Tarifvertrag fallen, auch dann verbindlich im Sinne des § f, wenn der Arbeitgeber oder der Arbeitnehmer oder beide an dem Tarifvertrage nicht beteiligt sind." D e r durch staatlichen A k t für allgemein verbindlich erklärte Tarifvertrag galt also auch für Außenseiter. I m Schlichtungswesen war die höhere Schlichtungsinstanz — der für größere Wirtschaftsbezirke staatlich bestellte Schlichter oder der Reichsarbeitsminister — ermächtigt, einen v o n den Parteien nicht angenommenen Schiedsspruch für verbindlich zu erklären und damit seine freiwillige Annahme durch behördliche Entscheidung zu ersetzen, wenn die in dem Schiedsspruch „getroffene Regelung bei gerechter A b w ä g u n g der Interessen beider Teile der Billigkeit" entsprach und „ihre Durchführung aus wirtschaftlichen und sozialen Gründen erforderlich" erschien. Beide Rechtsinstitute bildeten als Mittel kollektiver Bestimmung des Inhalts von Arbeitsverträgen durch staatlichen A k t in ihrer rechtsgrundsätzlichen wie wirtschafts- und sozialpolitischen Problematik den G e genstand vielfacher und oft leidenschaftlicher Kontroversen. D i e K o n trollratsgesetzgebung nach dem Zusammenbruch Deutschlands 1945 hat die beiden Rechtsinstitute nicht in das neue Tarif- und Schlichtungsrecht übernommen. D a s 1952 neu gefaßte Tarifvertragsgesetz des parlamentarischen Wirtschaftsrates der westdeutschen Bizone v o m 9. April 1949 ermöglichte jedoch unter schärfer gefaßten Voraussetzungen die Allgemeinverbindlichkeitserklärung von Tarifverträgen wieder (§ 5). Einen weiteren erheblichen Fortschritt im Dienst der vielberufenen Wirtschaftsdemokratie brachte das Betriebsrätegesetz, das am 4. Februar 1920 nach erbitterten innenpolitischen K ä m p f e n erging. E s gebot „zur Wahrnehmung der gemeinsamen wirtschaftlichen Interessen der Arbeitnehmer (Arbeiter und Angestellten) dem Arbeitgeber gegenüber und zur Unterstützung des Arbeitgebers in der Erfüllung der Betriebsz w e c k e " allen Unternehmen mit mindestens zwanzig Beschäftigten die Errichtung von Betriebsräten. A n die Stelle des unternehmerischen D i rektionsrechts trat in einzelnen Bereichen, etwa dem der Dienstvor369
X. Versuchte Demokratie: Weimar Schriften, fortan die Betriebsvereinbarung. Die Betriebsräte erhielten ein gesetzliches Mitwirkungsrecht bei Kündigungen von Arbeitnehmern, was einen spürbaren Kündigungsschutz bedeutete. Denn der Arbeitnehmer konnte gegen die Kündigung durch den Arbeitgeber Einspruch beim Arbeiter- oder Angestelltenrat einlegen, dessen A u f g a b e darin bestand, zwischen den Parteien zu vermitteln. Mißlang dies, so konnten sowohl die Betriebsvertretung w i e der gekündigte Arbeitnehmer den Schlichtungsausschuß, später das Arbeitsgericht, anrufen und eine endgültige Entscheidung über die Rechtswirksamkeit der Kündigung herbeiführen. Die aufgrund des Betriebsrätegesetzes erlassenen Durchführungsgesetze über die Vorlage der Betriebsbilanz und die Betriebsgewinn- und -Verlustrechnung (1921) und über die Entsendung von Betriebsratsmitgliedern in den Aufsichtsrat (1922) erweiterten das Mitwirkungsrecht der Betriebsräte. Das weitgespannte P r o g r a m m des Artikels 165 der Weimarer Reichsverfassung erfüllte sich freilich nur z u m Teil. N a c h Artikel 165 w a r ein Reichswirtschaftsrat als begutachtendes Gremium an der Reichsgesetzgebung zu beteiligen. Den Reichswirtschaftsrat als oberstes Organ sollten Bezirks- und Reichsarbeiterräte einerseits, Vertreter „der Unternehmer und sonst beteiligter Volkskreise" andererseits konstituieren. Der Reichswirtschaftsrat sollte „alle wichtigen Berufsgruppen entsprechend ihrer wirtschaftlichen und sozialen Bedeutung" repräsentieren. Da die Bezirksarbeiterräte und Bezirkswirtschaftsräte nicht entstanden, fehlte dem Reichswirtschaftsrat der notwendige Unterbau. Der statt dessen durch Verordnung der Reichsregierung v o m 4. Mai 1920 geschaffene „Vorläufige Wirtschaftsrat" erhob sich unmittelbar auf den Berufs-, Wirtschafts- und Verbraucherverbänden. Er betätigte sich gutachtlich bei sozial- und wirtschaftspolitischen Gesetzentwürfen. Zu seiner ersten Sitzung trat er Ende J u n i 1921 zusammen. Seit Ende J u n i 1923 beschränkte sich die Wirksamkeit auf die Arbeit seiner Ausschüsse. Zu einem Reichsgesetz über den endgültigen Wirtschaftsrat k a m es nicht mehr. Besonderes sozialpolitisches Gewicht k a m dem Arbeitszeitrecht zu. Der jahrzehntelange Kampf der Arbeitnehmer und ihrer Organisationen u m den gesetzlichen Achtstundentag gelangte in der Novemberrevolution z u m Ziel. Spätestens am 1. Januar 1919 werde der achtstündige Maximalarbeitstag in Kraft treten, verhieß der Aufruf des Rats der Volksbeauftragten an das deutsche Volk vom 12. November 1918 mit Gesetzeskraft. Schon vor diesem Termin einigten sich die Spitzenverbände der Arbeitgeber und Arbeitnehmer darüber, daß der Achtstundentag sogleich eingeführt werden sollte, ein Umstand, der die sozialen Gegensätze erheblich entspannte. A m 23. November 1918 ordnete das 370
3. Fortschritte des Arbeits- und Sozialrechts Reichsamt für wirtschaftliche Demobilmachung den Achtstundentag für die gewerblichen Arbeiter an. Wenige Monate später regelte eine Demobilmachungsverordnung die Arbeitszeit der Angestellten grundsätzlich ebenso. Endgültige Rechtsvorschriften sollten die für die Ubergangszeit gedachten Demobilmachungsverordnungen ersetzen. Die wirtschaftlichen Schwierigkeiten der Inflationszeit indessen gefährdeten den Achtstundentag. Die neue Arbeitszeitverordnung v o m 21. Dezember 1923 hielt z w a r grundsätzlich an ihm fest, ließ aber zahlreiche Ausnahmen zugunsten des Zehnstundentages zu. Die Verordnung stand ganz im Zeichen der Wirtschaftskrise. „Die schwere Not unseres Landes", hieß es in einer Absprache der Reichsregierung mit den Koalitionsparteien, „läßt eine Steigerung der Gütererzeugung dringend geboten erscheinen. Das w i r d nur unter restloser Ausnutzung der technischen Errungenschaften bei organisatorischer Verbesserung unserer Wirtschaft und emsiger Arbeit jedes Einzelnen zu erreichen sein . . . " Die Absprache betonte besonders die Möglichkeit tariflicher Überschreitung der Arbeitszeit. Die Verordnung von 1923 trug dem Rechnung und gab damit den Tarifvertragsparteien die Befugnis, durch private Vereinbarungen in ein staatliches Schutzgesetz einzugreifen. Erst im Jahre 1927 entschloß sich die Reichsregierung dazu, die unter dem Gesichtspunkt des Arbeitsschutzes bedenklichen und mit der ansteigenden Arbeitslosigkeit nicht zu vereinbarenden überlangen Arbeitszeiten wieder einzuschränken, die Arbeitszeitverordnung von 1923 also abzuändern. Ein von der sozialdemokratischen Fraktion im Reichstag eingebrachter Initiativgesetzentwurf wollte jede Mehrarbeit rechtlich ausschließen. Das vierte Kabinett M a r x mochte und konnte so weit nicht gehen. So trug das Gesetz zur Änderung der Arbeitszeitverordnung v o m 14. April 1927 als N o t m a ß nahme deutlich den Stempel des Kompromisses. Es schränkte die A u s nahmen vom Achtstundengebot ein und beseitigte vor allem die Regel, nach der eine an sich ungesetzliche, doch von den Arbeitnehmern freiwillig geleistete Mehrarbeit unter gewissen Voraussetzungen straffrei blieb. N o c h wichtiger war, daß das Arbeitszeitnotgesetz für Uberstunden einen Lohnzuschlag von 25 Prozent vorschrieb. In dem M a ß e freilich, in dem die Arbeitslosigkeit zu einer L a w i n e des sozialen Elends anschwoll, verloren auch die Fortschritte des Arbeitszeitrechts an praktischem Wert. Bereits die Volksbeauftragten versprachen in ihrer Proklamation v o m 12. November 1918, alles zu tun, „um für ausreichende Arbeitsgelegenheit zu sorgen"; außerdem stellten sie „eine Verordnung über die Unterstützung von Erwerbslosen" in Aussicht. Der Artikel 163 Abs. 2 der Reichsverfassung nahm dieses Thema auf, w e n n er verfügte: „Jedem Deutschen soll die Möglichkeit gegeben werden, durch wirtschaftliche 371
X. Versuchte Demokratie: Weimar Arbeit seinen Unterhalt zu erwerben. Soweit ihm angemessene Arbeitsgelegenheit nicht nachgewiesen werden kann, wird für seinen notwendigen Unterhalt gesorgt. D a s N ä h e r e wird durch besondere Reichsgesetze bestimmt." Pionierdienste auf dem Felde der Arbeitsbeschaffung und des Arbeitsnachweises leistete das mit weitreichenden Vollmachten ausgestattete Reichsamt für wirtschaftliche Demobilmachung. I m Jahre 1920 entstand das Reichsamt für Arbeitsvermittlung als selbständige höhere Reichsbehörde unter Aufsicht des Ministeriums. D a s Arbeitsnachweisgesetz v o n 1922, das nach langwierigen parlamentarischen K ä m p f e n vor allem u m das M o n o p o l des öffentlichen Nachweises erging, regelte die A u f g a b e n dieser Institution. D a s Gesetz gebot einen unparteilichen und unentgeltlichen Arbeitsnachweis und schuf einen besonderen, in die allgemeine Verwaltungsorganisation eingeordneten Behördenapparat. Außerdem verbot es die gewerbsmäßige Stellenvermittlung. Eine neue Gestalt gewann dieser Dienst durch das Gesetz über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung v o m 16. Juli 1927, das die „Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung" als selbständige Körperschaft des öffentlichen Rechts mit eigenem Unterbau in der mittleren und unteren Instanz schuf. Mit selten großer Mehrheit entschied sich der Reichstag bei diesem gesetzgeberischen Unternehmen dafür, die traditionelle Einheitlichkeit der Verwaltung durch Herausnahme einer gewichtigen sozialwirtschaftlichen A u f g a b e zu beeinträchtigen, diesen Bereich also der politischen Administration zu entziehen und ihn, ähnlich wie die Sozialversicherung, einer besonderen Fachverwaltung zu übertragen — „ein historisches Ereignis der deutschen Sozialpolitik" (Friedrich Syrup). D i e wirtschaftliche Selbstverwaltung der Institution trugen Vertreter der Unternehmer, der Arbeiter und Angestellten, sowie der öffentlichen Körperschaften. D a s G e s e t z von 1927 beantwortete auch die grundlegende Frage, ob die Arbeitslosenhilfe in F o r m der kommunalen und staatlichen Fürsorge oder der Versicherung durchzuführen sei: der Reichstag entschied sich für eine einheitliche, umfassende Zwangsversicherung. D i e Beiträge der Versicherten und ihrer Arbeitgeber, auch Mittel der öffentlichen H a n d , finanzierten die Leistungen der Reichsanstalt und die Verwaltungsausgaben. Zahlreiche Gesetze und Verordnungen ergingen in den Nachkriegsjahren zur Sozialversicherung, ohne deren alten G e s a m t a u f b a u zu verändern. Der Gesetzgeber erweiterte die Mitwirkungsrechte der versicherten Arbeiter und Angestellten wesentlich. Weitere Personenkreise fanden A u f n a h m e in den verschiedenen Versicherungszweigen. D i e Sozialversicherung der Nachkriegszeit warf im ganzen weniger Struktur-, als vielmehr Finanzprobleme auf.
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3. Fortschritte des Arbeits- und Sozialrechts Das Bestreben, den Arbeitnehmern bei Streitigkeiten mit ihrem Arbeitgeber ein einfaches, rasches und billiges Verfahren vor einer mit den Verhältnissen des Arbeitslebens vertrauten Spruchinstanz zu eröffnen, hatte schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts in einzelnen Teilen Deutschlands, vornehmlich im Rheinland, eine besondere Arbeitsgerichtsbarkeit entstehen lassen. Das arbeitsgerichtliche Verfahren, dessen Grundgedanken auf die Gesetzgebung Napoleons zurückgehen, entwikkelte sich über die von der Gewerbeordnung des Norddeutschen Bundes 1869 vorgesehenen Arbeitsschiedsgerichte mit paritätischer Laienbesetzung und über die 1890 und 1904 erneuerten Gewerbe- und Kaufmannsgerichte. Dieses System blieb unvollkommen, weil es nur einige, allerdings gewichtige Gruppen von Arbeitnehmern erfaßte, allein für größere Gemeinden verbindlich galt und schließlich die Sondergerichtsbarkeit auf die erste Instanz beschränkte. Das Reichsgericht fand nur selten Gelegenheit, in Arbeitssachen zu entscheiden und das sich ausprägende neue Recht einheitlich fortzubilden. Es bedeutete darum einen großen Fortschritt, als das Arbeitsgerichtsgesetz v o m 23. Dezember 1926 die Arbeitsgerichtsbarkeit auf alle Arbeitnehmer und grundsätzlich alle Arbeitsstreitigkeiten, auch solche zwischen den Tarifvertragsparteien, ausdehnte, die noch vorhandenen räumlichen Lücken institutionell ausfüllte und einen besonderen dreigliedrigen Instanzenzug einführte, der mit dem Reichsarbeitsgericht abschloß. Sowohl bei den Arbeits- und den Landesarbeitsgerichten wie beim Reichsarbeitsgericht w i r k t e n Beisitzer aus den Kreisen der Arbeitgeber und Arbeitnehmer mit. Die Judikatur der Arbeitsgerichtsbehörden bewährte sich in den folgenden Jahren als wesentlicher Beitrag z u m Ausbau und zur Vertiefung der noch jungen Rechtsmaterie mit ihren vielen neuen und oft schwierigen Gesetzen. Wenngleich der Reichsgesetzgeber der Weimarer Republik das von Artikel 157 der Verfassung versprochene „einheitliche Arbeitsrecht" nicht schuf und das „Gesetzbuch der Arbeit" ein Zukunftstraum blieb, dürfen die kodifikatorischen Teilstücke des Parlaments auf dem Felde der Wirtschafts- und Gerichtsverfassung sowie des Arbeitsschutzes, von denen dieser Bericht eine A u s w a h l vorstellte, als bedeutende Leistungen gelten. Besondere N o t i z verdient auch das Aufblühen der arbeitsrechtlichen Wissenschaft. Das Arbeitsrecht eroberte sich den Rang einer selbständigen juristischen Disziplin, die — durch eigene Lehrstühle an den Universitäten vertreten — ihren Platz im akademischen Unterricht gewann. N e b e n die älteren Vorkämpfer des Arbeitsrechts w i e Potthoff und Sinzheimer traten jüngere Gelehrte, Walter Kaskel, Alfred Hueck, Hans Carl Nipperdey, Erwin Jacobi und andere, die in wegweisenden Monographien und Lehrbüchern und in aktuellen Beiträgen zu den 373
X . Versuchte Demokratie: Weimar neuen arbeitsrechtlichen Zeitschriften die Tätigkeit des Gesetzgebers und der Gerichte anregten, begleiteten und vertieften. Leider k o n n t e n die gesetzgeberischen, rechtspflegerischen und wissenschaftlichen F o r t schritte die sozialen Gegensätze nicht befrieden, die sich immer wieder in Arbeitskämpfen entluden. D i e schweren Krisen des Wirtschaftslebens, Inflation und Arbeitslosigkeit, behinderten die partnerschaftliche Entwicklung ebenso wie der oft fehlende ernsthafte Wille z u m Ausgleich. D i e daraus folgenden häufigen staatlichen Eingriffe bereiteten die autoritäre O r d n u n g mit vor, die der nationalsozialistische Staat bald über das Arbeitsleben verhängte. D a s Arbeitsleben bildete nicht das einzige Feld, auf dem der Staat im Interesse der sozial Schwächeren in das freie, privatautonome Spiel der Kräfte eingriff. A u c h im Wohnungswesen etwa genügte das h e r k ö m m l i che Privatrecht den gewandelten Verhältnissen nicht mehr. Eine Zeit gesellschaftlicher U m b r ü c h e und wirtschaftlicher Krisen erforderte auch hier eine Vielzahl staatlicher M a ß n a h m e n der Wohlfahrtspflege, welche die Regeln des Bürgerlichen Gesetzbuchs überlagerten und die Vertragsfreiheit empfindlich einschränkten. N a c h beiden Weltkriegen gebot die Wohnungsnot in Deutschland eine sozialpolitische Zwangswirtschaft, der im wesentlichen drei große Aufgaben oblagen. D i e Vorschriften des Wohnungsmangelrechts suchten die vorhandene Kapazität gerecht zu verteilen und Wohnungslose unterzubringen. D i e Bestimmungen des Mieterschutzrechts sollten den Mieter v o r dem Verlust seiner R ä u m e bewahren. D a s Mietpreisrecht endlich befaßte sich mit der Bildung eines sozial und volkswirtschaftlich gerechten Mietzinses. A m E n d e des ersten Weltkrieges standen A n g e b o t und Nachfrage auf dem Wohnungsmarkt in krassem Mißverhältnis. Insbesondere der kriegsbedingte Rückgang der Bautätigkeit und ein starker Anstieg der Zahl der Haushalte ließen eine bisher unbekannte Wohnungsnot entstehen, der das Wohnungsmangelgesetz von 1920 mit seinen Bewirtschaftungsvorschriften zu steuern suchte. Das 1922 ergangene Reichsmietengesetz folgte einem K o m p r o m i ß zwischen staatlich gelenkter und freier Wirtschaft, wenn es eine „gesetzliche M i e t e " postulierte, den Vertragsparteien aber R a u m für abweichende Vereinbarungen ließ. U b e r Streitigkeiten sollten die Mieteinigungsämter entscheiden, die bereits seit der Kriegszeit bei den Gemeinden bestanden. Das Mieterschutzgesetz des Jahres 1923 verfolgte den Z w e c k , die Mieter vor wirtschaftlich nicht gerechtfertigten Mietsteigerungen und Kündigungen abzusichern, soweit dies mit den berechtigten Interessen des Vermieters n o c h vereinbar erschien. E s führte die Mietklage ein, die der Vermieter zu erheben hatte, wenn seine Kündigung dem widerstrebenden Mieter gegenüber durchdringen sollte. 374
1. Machtergreifung 1933 U m dem Mangel an Wohnraum abzuhelfen, suchte der Staat die private Bautätigkeit und das Siedlungswesen durch gesetzgeberische Maßnahmen anzuregen. Bausparkassen und gemeinnützige Wohnungsunternehmen erfuhren öffentliche Förderung. Bereits 1919 erging die Verordnung über das Erbbaurecht mit dem Ziel, wohnungsbedürftige „unbemittelte Bevölkerungskreise" besonders zu begünstigen. Das Reichssiedlungsgesetz und das Reichsheimstättengesetz traten dieser Novelle zum B G B alsbald zur Seite; sie sollten insbesondere Kriegsveteranen begünstigen. Das Arbeitsrecht begleitete und steuerte wie das Wohnungsrecht wirtschaftliche und gesellschaftliche Vorgänge von starker Dynamik. Richtunggebend war vor allem der Durchbruch des kollektiven Arbeitsrechts, das den Dualismus von Staat und Individuum grundlegend veränderte. Das neue Recht entwickelte sich überwiegend außerhalb der großen eingeführten Kodifikationen, insbesondere des B G B . In der Ordnung des Arbeitslebens wie des Wohnungswesens durchdrangen sich privates und öffentliches Recht. Die Gesetze und mehr noch die häufigen Verordnungen trugen vielfach den Charakter aktueller und unbeständiger Maßnahmen. Die Mobilität des Rechts, sein sozialstaatlicher Charakter und die oft gebrauchten Generalklauseln stellten erhöhte Ansprüche an Behörden und Gerichte und erweiterten ihren Dienst im Sinne einer gestaltenden Daseinsvorsorge.
X I . Die nationalsozialistische Rechtsverwüstung
1. Machtergreifung
1933
ÄLLERT, Tilman: „Der deutsche Gruß". Geschichte einer unheilvollen Geste, 2005; BECKER, Josef u. BECKER, Ruth (Hgg.): Hitlers Machtergreifung. Vom Machtantritt Hitlers 30. Januar 1933 bis zur Besiegelung des Einparteienstaats 14. Juli 1933, 2 1992 = dtv 2938; BENZ, Wolfgang, BUCHHEIM, Hans u. MOMMSEN, Hans (Hgg.): Der Nationalsozialismus. Studien zur Ideologie und Herrschaft, 1995 = Fischer TB 11984; BIESEMANN, Jörg: Das Ermächtigungsgesetz als Grundlage der Gesetzgebung im nationalsozialistischen Staat, 1988; B L O M E Y E R , Peter: Der Notstand in den letzten Jahren von Weimar, 1999 = Schriften zur Verfassungsgeschichte, Bd. 57; BRACHER, Karl Dietrich: Die Auflösung der Weimarer Republik. Eine Studie zum Problem des Machtverfalls in der Demokratie, 6 1984; BRACHER, Karl Dietrich: Die deutsche Diktatur. Entstehung, Struktur, Folgen des Nationalsozialismus, 7 1993; BRACHER, Karl 375
XI. Die nationalsozialistische Rechtsverwüstung Dietrich, FUNKE, Manfred u. JACOBSEN, Hans-Adolf (Hgg.): Deutschland 1933-1945. Neue Studien zur nationalsozialistischen Herrschaft, 1992; BRACHER, Karl Dietrich, SAUER, Wolfgang u. SCHULZ, Gerhard: Die nationalsozialistische Machtergreifung. Studien zur Errichtung des totalitären Herrschaftssystems in Deutschland 1933/34, 2 1962; BROSZAT, Martin: Der Staat Hitlers, L4 1995 = dtv 4009; BRUSTEIN, William: The logic of evil. The social origins of the Nazi Party 1925-1933, 1996; BULLOCK, Alan: Hitler. Eine Studie über Tyrannei, Ausg. 1971; CONZE, Werner: Die politischen Entscheidungen in Deutschland 1929-1933, in: Werner CONZE u. Hans RAUPACH (Hgg.): Die Staats- und Wirtschaftskrise des Deutschen Reichs 1929/33, 1967, 176-252; DOHNANYI, Klaus von: Hat uns Erinnerung das Richtige gelehrt? Eine kritische Betrachtung der „Vergangenheitsbewältigung", 2003 = Reinhold FrankGedächtnisvorlesung; DOMARUS, Max: Hitler. Reden und Proklamationen 1932-1945, kommentiert von einem deutschen Zeitgenossen, 4 Bde., 2 1965; DREIER, Horst: Die deutsche Staatsrechtslehre in der Zeit des Nationalsozialismus, W D S t R L 60, 2001, 10-72; FALTER, Jürgen W : Hitlers Wähler, 1991; FAUST, Anselm: Der Nationalsozialistische Deutsche Studentenbund in der Weimarer Republik, 2 Bde., 1973; FEDER, Gottfried: Der deutsche Staat auf nationaler und sozialer Grundlage. Neue Wege in Staat, Finanz und Wirtschaft, 18/19 1935; FEST, Joachim C.: Hitler. Eine Biographie, Ausg. 1989; FEST, Joachim C.: Das Gesicht des Dritten Reiches. Profile einer totalitären Herrschaft, "1994 = Serie Piper 1842; FEST, Joachim: Der Untergang. Hitler und das Ende des Dritten Reiches. Eine historische Skizze, 2002; FRANK, Hans: Rechtsgrundlegung des nationalsozialistischen Führerstaates, 2 1938; FRANZWILLING, G e o r g : U r s p r u n g d e r H i t l e r b e w e g u n g
1919-1922,
21974;
FRANZ-
WLLLING, Georg: Krisenjahr der Hitlerbewegung 1923, 1975; FRANZ-WILLING, Georg: Putsch und Verbotszeit der Hitlerbewegung 1923 — Februar 1925, 1977; FREHSE, Michael: Ermächtigungsgesetzgebung im Deutschen Reich 1914-1933, 1985; GRITSCHNEDER, Otto: Der Hitler-Prozeß und sein Richter Georg Neithardt. Skandalurteil von 1924 ebnet Hitler den Weg, 2001; GRUND, Henning: „Preußenschlag" und Staatsgerichtshof im Jahre 1932, 1976; HAFFNER, Sebastian: Anmerkungen zu Hitler, 10 1990 = Fischer TB 3489; HAMZA, Gabor: Die Idee des „Dritten Reichs" im deutschen philosophischen und politischen Denken des 20. Jahrhunderts, in: ZRG, GA, 118, 2001, 321-336; HATTENHAUER, Hans: Von Weimar zu Hitler — „Machtergreifung", Verfassungsbruch und Kontinuität, in: Jura 1984, 281-295; HITLER, Adolf: Mein Kampf, 17. Aufl. der Volksausg., 1933; HOEGNER, Wilhelm: Der politische Radikalismus in Deutschland 1919-1933, 1966; HUBER, Ernst Rudolf (Hg.): Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. 4: Deutsche Verfassungsdokumente 1919-1933, 3 1992; HUBERT, Peter: Uniformierter Reichstag. D i e G e s c h i c h t e d e r P s e u d o - V o l k s v e r t r e t u n g 1 9 3 3 - 1 9 4 5 , 1 9 9 2 ; HÜTTENBERGER,
Peter: Bibliographie zum Nationalsozialismus, 1980; JACOBY, Fritz: Die nationalsozialistische Herrschaftsübernahme an der Saar. Die innenpolitischen Probleme der Rückgliederung des Saargebietes bis 1935, 1973; JÄCKEL, Eberhard u. KUHN, Axel: Hitler. Sämtliche Aufzeichnungen 1905-1924, 1980 = Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte, Bd. 21; JASPER, Gotthard (Hg.): Von Weimar zu Hitler 1930-1933, 1968; KERSHAW, Ian: Hitlers Macht. Profile der
376
1. Machtergreifung 1933 NS-Herrschaft, 1992 = dtv 4582; KERSHAW, Ian: Hitler, Bd. 1: 1889-1936, 1998; Bd. 2: 1936-1945, 2000; KOENEN, Andreas: Der Fall Carl Schmitt. Sein Aufstieg zum „Kronjuristen des Dritten Reiches", 1995; KURZ, Achim: Demokratische Diktatur? Auslegung und Handhabung des Artikels 48 der Weimarer Verfassung 1919-25, 1992; KURZ, Achim: Zur Interpretation des Artikels 48 Abs. 2 WRV 1930-33, in: Offene Staatlichkeit. Festschr. Ernst-Wolfgang Bökkenförde zum 65. Geb., hg. v. Rolf GRAWERT, Bernhard SCHLINK, Rainer WAHL U. Joachim WIELAND, 1995, 395-413; LEONHARD, Joachim-Felix (Hg.): Bücherverbrennung. Zensur, Verbot, Vernichtung unter dem Nationalsozialismus in Heidelberg, 1983; LEPSIUS, Oliver: Gab es ein Staatsrecht des Nationalsozialismus?, in: ZNR 26, 2004, 102-116; LÖSCH, Anna-Maria von: Der nackte Geist: Die Juristische Fakultät der Berliner Universität im Umbruch von 1933, 1999 = Beiträge zur Rechtsgeschichte des 20. Jahrhunderts, Bd. 26; LONGERICH, Peter: Die braunen Bataillone. Geschichte der SA, 1989; MANSTEIN, Peter: Die Mitglieder und Wähler der NSDAP 1919-1933. Untersuchungen zu ihrer schichtmäßigen Zusammensetzung, 3 1990; MASER, Werner: Adolf Hitler. Legende, Mythos, Wirklichkeit, 12 1989. MATTHIAS, Erich u. MORSEY, Rudolf (Hgg.): Das Ende der Parteien 1933. Darstellungen und Dokumente, 1979; MAU, Hermann: Die „Zweite Revolution". Der 30. Juni 1934, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 1, 1953, 119-137; MEINCK, Jürgen: Weimarer Staatslehre und Nationalsozialismus. Eine Studie zum Problem der Kontinuität im staatsrechtlichen Denken in Deutschland 1928-1936, 1978; MEISSNER, Otto: Staatssekretär unter Ebert, Hindenburg, Hitler. Der Schicksalsweg des deutschen Volkes von 1918-1945, wie ich ihn erlebte, 1950; MOMMSEN, Hans: Der Reichstagsbrand und seine politischen Folgen, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 12, 1964, 351-413; MOMMSEN, Hans: Die nationalsozialistische Machteroberung: Revolution oder Gegenrevolution, in: Christof DIPPER, Lutz KLINKHAMMER U. Alexander NUTZENADEL (Hgg.), Europäische Sozialgeschichte, Festschrift für Wolfgang Schieder, 2000, 41-56; MORSEY, Rudolf (Hg.): Das „Ermächtigungsgesetz" vom 24. März 1933, 1968 = Historische Texte/Neuzeit Bd. 4; MORSEY, Rudolf (Hg.): Das „Ermächtigungsgesetz" vom 24. März 1933. Quellen zur Geschichte und Interpretation des „Gesetzes zur Behebung der Not von Volk und Reich", 1992; MORSEY, Rudolf: Woran scheiterte die Weimarer Republik?, 1998 = Kirche und Gesellschaft, Nr. 254; MOSSE, George L.: Ein Volk, ein Reich, ein Führer. Die völkischen Ursprünge des Nationalsozialismus, 1979; MÜLLER, Hans (Hg.): Katholische Kirche und Nationalsozialismus. Dokumente 1930-1935. Eingel. v. Kurt SONTHEIMER, 1963; NEUROHR, Jean F.: Der Mythos vom Dritten Reich. Zur Geistesgeschichte des Nationalsozialismus, 1957; NOLTE, Ernst: Der Faschismus in seiner Epoche. Die Action fran£aise. Der italienische Faschismus. Der Nationalsozialismus, 6 1984; OLENHUSEN, Albrecht Götz von: Zur Entwicklung völkischen Rechtsdenkens. Frühe rechtsradikale Programmatik und bürgerliche Rechtswissenschaft, in: Festschr. Martin Hirsch, 1982, 77-108; QuARITSCH, Helmut (Hg.): Complexio Oppositorum. Über Carl Schmitt, 1988; REPGEN, Konrad: Hitlers Machtergreifung und der deutsche Katholizismus. Versuch einer Bilanz, 1967; REVERMANN, Klaus: Die stufenweise Durchbrechung des Verfassungssystems der Weimarer Republik in den Jahren 1930 bis 377
XI. Die nationalsozialistische Rechtsverwüstung 1933. Eine staatsrechtliche und historisch-politische Analyse, 1959; RICHARDI, Hans-Günther: Schule der Gewalt. Das Konzentrationslager Dachau 19331934. Ein dokumentarischer Bericht, 1983; ROLOFF, Ernst-August: Bürgertum und Nationalsozialismus 1930-1933. Braunschweigs Weg ins Dritte Reich, 1961; ROSENBAUM, Ron: Die Hitler-Debatte. Explaining Hitler. Auf der Suche nach dem Ursprung des Bösen, 1999; RUDOLPH, Karsten: Nationalsozialisten in Ministersesseln. Die Machtübernahme der NSDAP und die Länder 19291933, in: Christian JANSEN, Lutz NIETHAMMER U. Bernd WEISBROD (Hgg.): Von der Aufgabe der Freiheit. Politische Verantwortung und bürgerliche Gesellschaft im 19. und 20. Jahrhundert. Festschr. Hans Mommsen, 1995, 247266; SCHMITT, Carl: Staat, Bewegung, Volk. Die Dreigliederung der politischen Einheit, 2 1934; SCHMITT, Carl: Der Führer schützt das Recht, in: DJZ 1934, 945-950; SCHMITT, Carl: Uber die drei Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens, 2 1993 (1934); SCHOLDER, Klaus: Die Kirchen und das Dritte Reich, 2 Bde., 1977, 1985 (Neudr. 1986, 1988); SCHULZ, Gerhard: Aufstieg des Nationalsozialismus. Krise und Revolution in Deutschland, 1975; SCHWARZWÄLDER, Herbert: Die Machtergreifung der NSDAP in Bremen 1933, 1966; SCHWIERSKOTT, Hans-Joachim: Arthur Moeller van den Bruck und der revolutionäre Nationalismus in der Weimarer Republik, 1962; SEIBERTH, Gabriel: Anwalt des Reiches. Carl Schmitt und der Prozess „Preußen contra Reich" vor dem Staatsgerichtshof, 2001 = Zeitgeschichtliche Forschungen, Bd. 12; SHIRER, William Lawrence: Aufstieg und Fall des Dritten Reiches, 1961; SMELSER, Ronald u. ZITELMANN, Rainer (u. SYRING, Enrico) (Hgg.): Die braune Elite, 2 Bde., 3 1994, 1993; STRIEFLER, Christian: Kampf um die Macht. Kommunisten und Nationalsozialisten am Ende der Weimarer Republik, 1933; TIMPKE, Henning (Hg.): Dokumente zur Gleichschaltung des Landes Hamburg 1933, 1964; TOBIAS, Fritz: Der Reichstagsbrand. Legende und Wirklichkeit, 1962; TREUE, Wilhelm (Hg.): Deutschland in der Weltwirtschaftskrise in Augenzeugenberichten, 1967; TREUE, Wolfgang (Hg.): Deutsche Parteiprogramme seit 1861, 4 1968 = Quellensammlung zur Kulturgeschichte, Bd. 3; TURNER, Henry Α.: Die Großunternehmer und der Aufstieg Hitlers, 1985; TYRELL, Albrecht (Hg.): Führer befiehl ... Selbstzeugnisse aus der „Kampfzeit" der NSDAP. Dokumentation und Analyse, 1969; ULE, Carl Hermann: Vor fünfzig Jahren: 30. Januar 1933, in: DVBl. 1983, 101-111; VEZINA, Birgit: „Die Gleichschaltung" der Universität Heidelberg im Zuge der nationalsozialistischen Machtergreifung, 1982; VOGELSANG, Thilo: Reichswehr, Staat und NSDAP. Beiträge zur deutschen Geschichte 1930-1932, 1962; VORMBAUM, Thomas (Hg.): Das Ermächtigungsgesetz („Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich") vom 24. März 1933. Reichstagsdebatte, Abstimmung, Gesetzestext. Mit einer Einführung von Adolf LAUFS, 2003 = Juristische Zeitgeschichte, Kleine Reihe, Bd. 9; WADLE, Elmar: Das Ermächtigungsgesetz. Eine Erinnerung, in: JuS 1983, 170-176; WELS, Otto: Rede zur Begründung der Ablehnung des „Ermächtigungsgesetzes" durch die Sozialdemokratische Fraktion in der Reichstagssitzung vom 23. März 1933 in der Berliner Krolloper, 1993; WINKLER, Heinrich August: Mittelstand, Demokratie und Nationalsozialismus. Die politische Entwicklung von Handwerk und Kleinhandel in der Weimarer Republik, 1972; WINKLER, Heinrich A. (Hg.): Die deutsche Staatskrise 1930-1933. 378
1. Machtergreifung 1933 Handlungsspielräume und Alternativen, 1992; WINTER, Jörg: Der NS-Studentenbund und die unpolitische Universität. Eine Bochumer Seminararbeit, in: Zeitschrift f. Recht u. Verwaltung der wissenschaftlichen Hochschulen u. der wissenschaftspflegenden u. -fördernden Organisationen u. Stiftungen 4, 1971, 68-74; WISSER, Thomas: Die Diktaturmaßnahmen im Juli 1930 — Autoritäre Umwandlung der Demokratie?, in: Offene Staatlichkeit. Festschr. Ernst-Wolfgang Böckenförde zum 65. Geb., hg. v. Rolf GRAWERT, Bernhard SCHLINK, Rainer WAHL U. Joachim WIELAND, 1995, 415-434; WOLGAST, Eike: Die Universität Heidelberg in der Zeit des Nationalsozialismus, in: ZGO 135, 1987, 359-406; ZENTNER, Christian (Hg.): Adolf Hitlers Mein Kampf. Eine kommentierte Auswahl, 1974; ZLTELMANN, Rainer: Adolf Hitler. Eine politische Biographie, 3 1990.
Die nationalsozialistische Herrschaft in Deutschland dauerte v o m 30. Januar 1933 bis z u m 8. Mai 1945. Das zwölfjährige, verhängnisvolle Naziregime begann mit der Ü b e r n a h m e des Reichskanzleramtes durch Adolf Hitler (1889-1945), den Führer der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei ( N S D A P ) . Es endete mit der bedingungslosen Kapitulation der Wehrmacht nach einem verlorenen totalen Weltkrieg im Chaos eines zertrümmerten und ausgebluteten Landes. Der Staat Hitlers z w a n g seinen Bürgern und Soldaten gewaltige Gemeinschaftsleistungen ab; er forderte Millionen deutscher und ausländischer M e n schenleben, pervertierte das Recht auf unerhörte Weise und verspielte die Einheit für lange und weite Gebiete des Reiches. Die im Zeichen des Hakenkreuzes w i r k e n d e n Kräfte irrationalen Aufbegehrens und eines im Grunde anarchischen Aktivismus bestimmten das zuzeiten macht- und glanzvolle System mit und verliehen der nationalsozialistischen Herrschaftsform ihr widersprüchliches, schwer faßbares Gefüge. Staat und Partei, Führerdiktatur und Reichsregierung, autoritäre Gesetze und Polizeiwillkür, Regierungszentralismus und Parteipartikularismus: diese und andere Gegensätze kennzeichneten den nationalsozialistischen Staat, der ebensowenig zur Geschlossenheit fand, wie der Inhalt seiner ihm zugrundeliegenden „Weltanschauung" sich klärte. Der Nationalsozialismus blieb stets eine „Bewegung", auf Kampf angewiesen und ausgerichtet, ohne ein durchdachtes Programm mit tragfähigem theoretischen Grund. Seine U n r u h e und Maßlosigkeit entfesselten starke Energien, zerstörten aber zwangsläufig die Bewegung selbst und den von ihr durchdrungenen und deformierten Staat. Der Nationalsozialismus anerkannte keine Vorläufer, sondern verstand sich als eine durchaus neue und revolutionäre Bewegung. Dennoch folgte er keiner eigenständigen Doktrin; vielmehr v e r w o b er vorhandene — teils gängige, teils absonderliche — Ideen zu einem großen379
XI. Die nationalsozialistische Rechtsverwüstung teils verschwommenen Konzept. „Wie beim Einzelmenschen der Traum die Erlebnisse der Vergangenheit willkürlich zerschneidet und zu phantastischen Bildern zusammenfügt, in denen die gelebte Wirklichkeit k a u m noch zu erkennen ist, bietet sich die nationalsozialistische Ideologie wie ein A l p t r a u m der Ideengeschichte des 19. Jahrhunderts dar" (Otto Kimminich). Im N a m e n der neuen Bewegung erschienen nur zwei Komponenten, freilich die mächtigsten Triebkräfte des 19. Jahrhunderts: Nationalismus und Sozialismus. Daneben wirkten andere: Leitbilder der Romantik, ein naiver Fortschrittsglaube, die Organologie, eine eurozentrische Sicht der Weltpolitik, der Darwinismus, die Rassenlehre und der Antisemitismus. Verführerisch w i r k t e besonders der v o m Nationalsozialismus „stark betonte Gedanke der Volksgemeinschaft als eines zu wechselseitiger Förderung verpflichtenden Bandes zwischen allen Volksschichten, eine Idee, die, zusammen mit dem Kult des Naturhaften, Heroischen und Tüchtigen, vor allem die Jugend faszinierte und deren rücksichtslosen Einsatz für den nationalsozialistischen Staat z u m Teil erklärt" (Rudolf Gmür). Vorstellungen solcher Art, meist in popularisierter Form, verbanden sich im Kopf des Autodidakten Hitler, der die Nazipartei begründete, prägte und ihr Führer blieb. Hitler k a m aus dem Zwielicht der zerfallenden Habsburgermonarchie. In Wien, der Metropole des Vielvölkerstaates Österreich-Ungarn und der Grenzstadt des Deutschtums, w o Volkstumsangst und -Überheblichkeit dicht nebeneinander gediehen, sog er den H a ß gegen Slawen und J u d e n in sich ein, der sein politisches Handeln später bestimmte und sich im P r o g r a m m der N S D A P von 1920 niederschlug: „Staatsbürger kann nur sein, w e r Volksgenosse ist. Volksgenosse kann nur sein, w e r deutschen Blutes ist, ohne Rücksichtnahme auf Konfession. Kein J u d e kann daher Volksgenosse sein. Wer nicht Staatsbürger ist, soll nur als Gast in Deutschland leben können und muß unter Fremdengesetzgebung stehen. Das Recht, über Führung und Gesetze des Staates zu bestimmen, darf nur dem Staatsbürger zustehen. Daher fordern wir, daß jedes öffentliche Amt, gleichgültig welcher Art, gleich ob im Reich, Land oder Gemeinde, nur durch Staatsbürger bekleidet werden darf." N a c h einem Leben als Bohemien der untersten Stufe in W i e n und M ü n c h e n zog Hitler als Freiwilliger in den Ersten Weltkrieg. N a c h dessen Ende geriet er als demobilisierter Soldat in das dunkle Treiben der Münchener Nachkriegspolitik. In der Rolle eines nationalen „Bildungsoffiziers" bei der Reichswehr entdeckte Hitler sein Rednertalent und die Zugkraft seiner gegen die „Novemberverbrecher" und die „Judenrepublik" gerichteten Agitation. In einem ersten schnellen Aufstieg entwickelte sich der verkommene Wiener Kunstmaler von einst zu ei380
1. Machtergreifung 1933 ner berühmt-berüchtigten Figur der bayerisch-deutschen Politik. Der gescheiterte theatralische Gewaltstreich des Münchener Novemberputsches 1923 trug Hitler weitere Publizität und eine nur knapp einjährige Gentlemans-Haft auf der Festung Landsberg ein, w o er sein Buch „Mein Kampf" diktierte. In dieser achthundert Seiten starken Schrift mit dem bezeichnenden Titel, die in den folgenden Jahrzehnten höchste Auflagen erreichte, bot der A u t o r sein politisches Glaubensbekenntnis dar, egozentrisch und unverhüllt. Breit entfaltete er die Hauptthemen der „neuen nationalsozialistischen Weltanschauung": den Rassegedanken und das Führerprinzip. „Somit ist der höchste Zweck des völkischen Staates die Sorge u m die Erhaltung derjenigen rassischen Urelemente, die, als kulturspendend, die Schönheit und W ü r d e eines höheren Menschentums schaffen. Wir, als Arier, vermögen uns unter einem Staat also nur den lebendigen Organismus eines Volkstums vorzustellen, der die Erhaltung dieses Volkstums nicht nur sichert, sondern es auch durch Weiterbildung seiner geistigen und ideellen Fähigkeiten zur höchsten Freiheit führt." M i t dem „völkischen Staatsgedanken" verband Hitler das „Persönlichkeitsprinzip": „Eine Weltanschauung, die sich bestrebt, unter Ablehnung des demokratischen Massengedankens, dem besten Volk, also den höchsten Menschen, diese Erde zu geben, muß logischerweise auch innerhalb dieses Volkes wieder dem gleichen aristokratischen Prinzip gehorchen und den besten Köpfen die Führung und den höchsten Einfluß im betreffenden Volke sichern. Damit baut sie nicht auf dem Gedanken der Majorität, sondern auf dem der Persönlichkeit auf." Hitler erteilte dem „parlamentarischen Prinzip der demokratischen Majoritätsbestimmung", das er als Kennzeichen völkischen Verfalls ansah, eine deutliche Absage. Statt dessen verkündete er für den A u f b a u des ganzen Staates den Grundsatz: „Autorität jedes Führers nach unten und Verantwortlichkeit nach oben." A u ß e r diesen durchaus verfassungsfeindlichen Leitsätzen standen in Hitlers Buch „Mein Kampf" zahlreiche gefährliche Absichten, vermischt mit H a l b Wahrheiten und schlauen Beobachtungen, schwarz auf w e i ß zu lesen: Daß Krieg immerzu herrsche und alles erlaube; daß höherstehende Völker sich auf Kosten minderwertiger ausbreiten dürften; daß die Deutschen sich z u m Herrn über die Erde machen könnten, w e n n sie nur wollten; daß der Masse des Publikums alles immer und immer wiederholt werden müsse. Uberhaupt sprachen die Nazis offen aus, w a s sie dachten, planten und taten. So erklärten sie, sich der demokratischen Institutionen bedienen zu wollen, u m das Weimarer System zu stürzen; hätten sie sich auf demokratischem Weg die Macht einmal erobert, w ü r d e n sie diese nicht mehr hergeben. 381
XI. Die nationalsozialistische Rechtsverwüstung Die unbändige Kraft, die Hitler „ein Leben lang vorwärtstrieb, w a r allein die vorkulturelle M a x i m e vom Recht des Stärkeren. N u r sie beschreibt Anfang und Ende dessen, w a s er als seine Weltanschauung ausgab". In den „Tischgesprächen" und „Monologen im Führerhauptquartier" „hat sich Hitler rücksichtsloser als irgendwo sonst offenbart und, sooft sich die Gelegenheit ergab, jedwede Moral, Religion und Menschlichkeit mit höhnischen Ausfällen bedacht" (Joachim Fest). O b w o h l die N S D A P in Hitler einen willensstarken Führer, außerdem zahlreiche fähige Propagandisten besaß, blieb sie über lange Zeit im politischen Leben der Weimarer Republik auf den Platz beschränkt, der ihrem dürftigen Programm entsprach und den die Amerikaner den „närrischen Randstreifen" nennen. Bei den Reichstagswahlen im Mai 1924 errang die Nazipartei 6,6 Prozent der Stimmen und 32 Mandate. Im Dezember desselben Jahres fiel ihr Anteil auf 3,0 Prozent, die Zahl ihrer Abgeordneten auf 14, und der Urnengang z u m vierten Reichstag 1928 ließ die N S D A P noch weiter auf 2,6 Prozent und 12 Sitze zurückfallen. Die entscheidende Wende brachten die Wahlen z u m fünften Reichstag im September 1930: aus ihnen ging die Bewegung Hitlers mit einem Stimmenanteil von 18,3 Prozent und 107 Mandaten als zweitstärkste Partei nach der auf 143 Sitze zurückgegangenen SPD hervor; es folgten dann die Kommunisten mit 77, das Zentrum mit 68 Abgeordneten. Die Wahlen z u m sechsten Reichstag im Juli 1932 schließlich machten die Nationalsozialisten zur weitaus stärksten Partei mit einem Stimmenanteil von 37,4 Prozent und 230 Mandaten; hinter der N S D A P kamen die SPD mit 133, die KPD mit 89 und das Zentrum mit 75 Sitzen. Damit sah sich die nationalsozialistische Partei nach zehnjähriger Existenz als kleine rechtsradikale Minderheit plötzlich zur nationalen Massen- und Sammlungsbewegung herangewachsen. In ihrem Erfolg spiegelte sich der Niedergang der Weimarer Republik, die seit 1929/30 an einer fast jede Familie berührenden wirtschaftlichen Not mit Millionen von Arbeitslosen und an einer damit einhergehenden, indes weiter zurückreichenden Krise des staatlichen Lebens krankte. Der plötzliche, seit 1929/30 einsetzende Massenzustrom zur N S D A P überstieg nach seinem A u s m a ß bei w e i t e m alle anderen Fluktuationen zwischen den Parteien der Weimarer Republik. Er beruhte fast ausschließlich auf der Mobilisierung der bisherigen Nichtwähler und der Masse der depossedierten mittelständischen Wähler, die in ihren locker gefügten Interessenparteien eine weniger feste politische Heimat besessen hatten als die Anhänger des Zentrums und des Sozialismus. Tonangebende bürgerliche und konservative Kräfte begünstigten den U m schwung, der wesentlich von dem in Krisenzeiten leicht zu entfachen-
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1. Machtergreifung 1933
den Verlangen nach entschlossener Aktion, dem Ruf nach einer wirksameren, notfalls zu erzwingenden Sanierung der Verhältnisse lebte. Die freiheitlich-demokratischen Prinzipien der Weimarer Verfassung erwiesen sich in den führenden Schichten der Gesellschaft als wenig verankert. „Egalitäre Grundrechtsdemokratie, Parteienpluralismus und Parlamentarismus galten auch in weiten Kreisen der Staatsrechtslehre als diskreditiert" (Horst Dreier). Von einer Staatsrechtslehre des Nationalsozialismus läßt sich überdies nur reden, „wenn man ihre rechtszerstörerische Wirkung gerade zu ihrem Gegenstand erklärt" (Oliver Lepsius). Die NSDAP erschien weniger als revolutionäre denn als Ressentiments geschickt ausnutzende Kraft: sie war „agitatorisch wirksamste Potenz zur Restauration autoritärer Ordnungsvorstellungen in Staat und Gesellschaft und zugleich die militante, plebiszitäre Gegenkraft gegen Sozialismus und Kommunismus" (Martin Broszat). Zustatten kam der Nazipartei besonders, daß sie sich von den mißlichen Zuständen der Republik distanzieren und alte Ressentiments gegen Weimar wie die Enttäuschungen über die zutage getretenen Schwächen des Parlamentarismus für ihre Zwecke nutzen konnte. Alle anderen bürgerlichen Parteien, selbst die Konservativen und Deutschnationalen, hatten sich durch ihre gelegentliche Teilnahme an den wechselnden Kabinetten mitkompromittiert. „Nicht so die Nazis. Die hatten zehn Jahre lang angeklagt, gehaßt, verhöhnt, verflucht, nichts weiter. Sie konnten angreifen, ohne sich selber mit einem einzigen Wort verteidigen zu müssen. Wo war nun, was die anderen Parteien, rechte wie linke, zehn Jahre lang versprochen hatten? Wo die soziale Republik, der gebrochene Kapitalismus der Linken? Wo die blühende Industrie und Landwirtschaft der Rechten? An ihren Früchten sollte man das ,System' erkennen, und zum System gehörten alle, die sich nicht zum Führer der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei bekannten. Er allein hatte gewarnt, er allein das, was nun war, vorausgesagt und die Gründe durchleuchtet: das Verbrechen vom November 1918, den internationalen Marxismus und sein Bündnis mit dem internationalen Großkapital, die korrupte Parteienwirtschaft, den Wahnwitz der Reparationen, die diabolischen Absichten des Judentums . . . " (Golo Mann). Diese Agitation, zunehmend protegiert von den etablierten Kräften des antirepublikanischen nationalkonservativen Lagers, tat ihre Wirkung. Potente Geldgeber stellten sich ein. Hitler machte die sozialistischen Elemente der 25 Programmpunkte des Jahres 1920 vergessen, die den mittelständischen Interessen ohnedies breiteren Raum gegeben hatten. Bei den Arbeitern fand denn auch die Hitlerei wenig Anklang. Die Weltwirtschaftskrise, der durch die parteilichen Schutz- und Kampfverbände drohende Bürgerkrieg und die Nazilawine bildeten den 383
XI. Die nationalsozialistische Rechtsverwüstung düsteren Hintergrund für das Intrigenspiel u m den greisen Reichspräsidenten Hindenburg, an dessen beiden Rechten, dem der Notverordnungen und dem der Parlamentsauflösung, das politische Schicksal der letzten Kabinette hing, für die sich keine Koalitionsmehrheiten im Parlament mehr fanden. Brüning, von Papen, von Schleicher und am Ende Hitler: der Präsident ernannte nach längerem Widerstreben den von ihm wenig geschätzten „böhmischen Gefreiten" am 30. Januar 1933 z u m Kanzler. Die Nationalsozialisten feierten diesen Tag als „die Machtergreifung". N o c h regierte Hitler freilich nicht als Alleinherrscher. N u r drei N S - P o litiker gehörten dem Kabinett an: neben Hitler der Innenminister W i l helm Frick und der Minister ohne Geschäftsbereich H e r m a n n Göring. So glaubten die übrigen Beteiligten, etwa der Vizekanzler Franz von Papen, Alfred Hugenberg als Chef der verbündeten DNVP, Franz Seldte v o m Frontkämpferverband des „Stahlhelm", genügend Vorsorge gegen ein Ubergewicht der N S D A P getroffen zu haben. A u c h meinten sie, durch den Oberbefehl des Reichspräsidenten über die Reichswehr und die Befehlsgewalt des z u m Reichskommissar für Preußen ernannten Vizekanzlers von Papen über die preußische Polizei seien die Machtmittel des Reiches w i e seines größten Gliedstaates hinlänglich gegen den nationalsozialistischen Zugriff abgeschirmt. Hitlers Kabinett verfügte im Reichstag z u d e m noch nicht über die Mehrheit. Der „Führer" indessen zeigte sich entschlossen, die Macht nicht wieder aus der H a n d zu geben, sie vielmehr auszudehnen. Die Nationalsozialisten im Kabinett sorgten dafür, daß Parteigenossen in Schlüsselpositionen der Ministerien und Polizeipräsidien einrückten. Auf Verlangen des neuen Regierungschefs verordnete der Reichspräsident am 1. Februar 1933: „Nachdem sich die Bildung einer arbeitsfähigen Mehrheit als nicht möglich herausgestellt hat, löse ich auf Grund des Artikels 25 der Reichsverfassung den Reichstag auf, damit das deutsche Volk durch Wahl eines neuen Reichstags zu der neugebildeten Regierung des nationalen Zusammenschlusses Stellung nimmt." In dem sich anschließenden Reichstagswahlkampf setzte Hitler den Staatsapparat rücksichtslos für seine Zwecke ein. Die Regierung nahm den Brand des Reichstagsgebäudes am 27. Februar 1933 z u m Anlaß, gewaltsam gegen politische Gegner vorzugehen. N o c h in der Nacht des Reichstagsbrandes ließ sie zahlreiche Kommunisten verhaften. Bereits am folgenden Tag erging die auf Artikel 48 der Verfassung gestützte „Verordnung des Reichspräsidenten z u m Schutz von Volk und Staat", die „zur A b w e h r kommunistischer staatsgefährdender Gewaltakte" die wichtigsten Grundrechte außer Kraft setzte. In ihrem § 2 räumte die Notverordnung ferner der Reichsregierung die Möglichkeit ein, die Befugnisse der obersten Landesbe384
1. Machtergreifung 1933
hörde vorübergehend wahrzunehmen, wenn in einem Lande „die zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung nötigen Maßnahmen" unterblieben. Nicht allein die Kommunisten, die das Weimarer System ebenso haßerfüllt bekämpft hatten wie die Nationalsozialisten, bekamen nun das heraufziehende Ende des Rechtsstaats am eigenen Leib zu spüren. Entgegen ihrer Einleitungsformel bildete die Reichstagsbrand-Verordnung alsbald die Grundlage für politische Maßnahmen gegen alle Kräfte, die dem herrschenden Regime Widerstand zu leisten suchten. Der Hitler-Biograph Ian Kershaw spricht in seinem meisterlichen Buch im Zusammenhang mit der Terrorwelle vom Februar 1933 in Preußen, bei welcher der Staat unmenschlichen Aktionen nicht mehr wie bisher Einhalt gebot, von dem „Zivilisationsbruch", „der dem Dritten Reich seinen besonderen historischen Charakter geben sollte". Der Autor führt dem Leser vor Augen die Geschwindigkeit der Veränderungen „auf dem Weg zur Diktatur" und die Schwäche der im Januar 1933 noch unentbehrlichen traditionellen Machtgruppen, „als an die Stelle der beabsichtigten Gegenrevolution der nationalsozialistische Versuch einer Rassenrevolution in Europa trat und den Weg zu weltweitem Krieg und Völkermord freimachte". Die Reichstagswahlen vom 5. März 1933 brachten der Hitlerkoalition die absolute Mehrheit. Die NSDAP erreichte einen Stimmenanteil von 43,9 Prozent, die Kampffront Schwarz-Weiß-Rot (DNVP und Stahlhelm) 8,0 Prozent. Indessen behaupteten sich SPD und Zentrum mit 18,3 und 11,2 Prozent. Aller Verfolgung zum Trotz errang die KPD noch knapp 5 Millionen oder 12,3 Prozent der Stimmen. Im Kabinett erklärte Hitler zwei Tage später, er betrachte die Ereignisse des 5. März als Revolution. Am Ende werde es in Deutschland keinen Marxismus mehr geben. Notwendig sei nun ein mit Zweidrittel-Mehrheit beschlossenes Ermächtigungsgesetz. Er sei fest davon überzeugt, daß der Reichstag ein solches Gesetz beschließen werde. Die Abgeordneten der KPD würden bei der Eröffnung des Reichstags nicht in Erscheinung treten, weil sie sich in Haft befänden . . . An Ermächtigungsgesetze hatte sich die deutsche Staatspraxis gewöhnt, lange bevor die „Regierung der nationalen Erhebung" die Macht ergriff. Das erste große Gesetz dieser Art ermächtigte im August 1914 den Bundesrat, die zur Abhilfe wirtschaftlicher Schäden erforderlichen legislativen Maßnahmen anzuordnen — eine Vollmacht, kraft deren ihr Inhaber wie ein Diktator rechtsetzende Gewalt ausübte. Damit kündigte sich das Ende des gewaltenteilenden Konstitutionalismus bereits an. Der Ubergang zur Republik vergrößerte die Zahl der gesetzlichen Delegationen. Es galt als statthaft, daß der Reichstag in Notzeiten 385
XI. Die nationalsozialistische Rechtsverwüstung durch Gesetz der Exekutive die Blankoermächtigung erteilte, die Legislativgewalt für bestimmte A u f g a b e n und befristete Zeiträume im Verordnungsweg auszuüben. Von Anfang 1919 bis Ende 1923 ergingen sieben solcher Ermächtigungsgesetze, von denen das letzte die Reichsregierung sachlich unbeschränkt dazu berechtigte, „die M a ß n a h m e n zu treffen, die sie im Hinblick auf die Not von Volk und Reich für erforderlich und dringend" erachtete. Während der folgenden Jahre drängte die präsidiale Notverordnungspraxis nach Artikel 48 Abs. 2 der Weimarer Reichsverfassung den parlamentarischen Gesetzgeber mehr und mehr in den Hintergrund: 1931 ergingen 42 Notverordnungen des Reichspräsidenten gegenüber 34 Reichtstagsgesetzen; 1932 verschlechterte sich dieses Verhältnis gar auf 60 zu 5. Die Notverordnungen räumten der Regierung häufig die Unterermächtigung ein, ihrerseits ergänzende oder gar abändernde Rechtsvorschriften zu erlassen. Die Gewöhnung an das Ausnahmerecht begünstigte Hitlers Pläne ebenso w i e der düstere wirtschaftliche Hintergrund. Ende Januar 1933 gab es über sechs Millionen Arbeitslose. N a c h allgemeiner Ansicht erforderte diese Notlage außerordentliche und einschneidende Maßnahmen. „Im Bewußtsein, im Sinne des Willens der Nation zu handeln", erklärte Hitler am 21. M ä r z 1933 beim Staatsakt in der Potsdamer Garnisonkirche vor dem neuen Reichstag, „erwartet die Nationale Regierung von den Parteien der Volksvertretung, daß sie nach fünfzehnjähriger deutscher N o t sich emporheben mögen über die Beengtheit eines doktrinären, parteimäßigen Denkens, u m sich dem eisernen Zwang unterzuordnen, den die N o t und ihre drohenden Folgen uns allen auferlegen." Was der inzwischen v o m Kabinett beschlossene Entwurf für ein Ermächtigungsgesetz dem Parlament auferlegte, überraschte außerhalb der N S D A P allgemein. Er ging weit über seine Vorgänger aus dem Jahre 1923 hinaus. Den Kern des Antrags der N S D A P - und D N V P - F r a k t i o n bildete der Satz: „Reichsgesetze können außer in dem in der Reichsverfassung vorgesehenen Verfahren auch durch die Reichsregierung beschlossen werden." Die Initiative sollte die Regierung Hitlers von den rechtsstaatlichen Schranken der Weimarer Reichsverfassung auf die Dauer von zunächst vier Jahren befreien. Bei der entscheidenden Plenarsitzung des Reichstags, die am 23. M ä r z in der Kroll-Oper zu Berlin stattfand und bei welcher das Naziregime es an bedrohlichen Anzeichen seiner Gewalttätigkeit nicht fehlen ließ, bekannte sich Hitler selbst zu dem Verfassungsumbruch, den das Ermächtigungsgesetz besiegelte. Die nationalsozialistische Bewegung habe, so führte er aus, „im Verein mit den anderen nationalen Verbänden nunmehr innerhalb weniger Wochen die seit dem November 1918 herrschenden Mächte beseitigt und in einer Revolution die öffentliche Ge386
1. Machtergreifung 1933
wait in die Hände der nationalen Führung gelegt". In der Tat: das Regime hatte die Reichstagsbrand-Notverordnung bedenkenlos als Mittel im politischen Kampf eingesetzt, den permanenten Ausnahmezustand in seinem Sinne genutzt und die Grenzen des Rechtsstaats mit seiner polizeistaatlichen Willkür längst hinter sich gelassen. „Um die Regierung in die Lage zu versetzen, die Aufgaben zu erfüllen ...", so Hitler weiter in seiner wirkungsvoll-demagogischen Rede, „hat sie im Reichstag durch die beiden Parteien der Nationalsozialisten und der Deutschnationalen das Ermächtigungsgesetz einbringen lassen. Ein Teil der beabsichtigten Maßnahmen erfordert die verfassungsändernde Mehrheit. Die Durchführung dieser Aufgaben beziehungsweise ihre Lösung ist notwendig. Es würde dem Sinn der nationalen Erhebung widersprechen und dem beabsichtigten Zweck nicht genügen, wollte die Regierung sich für ihre Maßnahmen von Fall zu Fall die Genehmigung des Reichstags erhandeln und erbitten. Die Regierung wird dabei nicht von der Absicht getrieben, den Reichstag als solchen aufzuheben; im Gegenteil, sie behält sich auch für die Zukunft vor, ihn von Zeit zu Zeit über ihre Maßnahmen zu unterrichten oder aus bestimmten Gründen, wenn zweckmäßig, auch seine Zustimmung einzuholen. Die Autorität und damit die Erfüllung der Aufgaben der Regierung würden aber leiden, wenn im Volke Zweifel an der Stabilität des neuen Regiments entstehen könnten. Sie hält vor allem eine weitere Tagung des Reichstags im heutigen Zustand der tiefgehenden Erregung der Nation für unmöglich. Es ist kaum eine Revolution von so großem Ausmaß so diszipliniert und unblutig verlaufen wie die der Erhebung des deutschen Volks in diesen Wochen." Für die SPD sprach deren Fraktionsvorsitzender Otto Wels in einer mutigen, vom Hohngelächter der Nationalsozialisten begleiteten Rede die letzten Worte einer parlamentarischen Debatte des Weimarer Reichstags. Wels appellierte gegen die „machtpolitische Tatsache" der Naziherrschaft an das Rechtsbewußtsein des Volkes und bekannte sich zu den „Grundsätzen des Rechtsstaates, der Gleichberechtigung, des sozialen Rechtes". Er schloß mit den Worten: „Wir grüßen die Verfolgten und Bedrängten. Wir grüßen unsere Freunde im Reich. Ihre Standhaftigkeit und Treue verdienen Bewunderung. Ihr Bekennermut, ihre ungebrochene Zuversicht verbürgen eine hellere Zukunft." Anders als die Sozialdemokraten votierten die Abgeordneten der bürgerlichen Mittelparteien. Nach schwerem Ringen gab die Zentrumsfraktion unter Prälat Kaas ihr verhängnisvolles Ja, dem Hitler besonderen Wert beigemessen hatte. Ebenso stimmten die Bayerische Volkspartei, die Deutsche Staatspartei, der Christlich-Soziale Volksdienst, die Deutsche Bauernpartei und die Deutsche Volkspartei. Auch liberale Demokraten wie Theodor Heuss, der spätere erste Bundespräsident, und 387
XI. Die nationalsozialistische Rechtsverwüstung Reinhold Maier, der erste Ministerpräsident Baden-Württembergs, w a ren unter den Zustimmenden. Die zustimmenden Abgeordneten glaubten, angesichts der Machtverhältnisse so noch am ehesten möglichst viel v o m Weimarer Rechtsstaat in eine bessere Zukunft hinüberretten zu können. Diese Hoffnung indessen trog. Von den 538 anwesenden Abgeordneten des 647 Mitglieder umfassenden Reichstags stimmten 444 für die Annahme des Ermächtigungsgesetzes, das damit die erforderliche Zweidrittel-Mehrheit fand. N o c h am Abend des 23. M ä r z 1933 trat der Reichsrat zusammen, dessen Mitglieder auf eine Diskussion verzichteten und einstimmig beschlossen, von dem Gesetzentwurf Kenntnis zu nehmen, ohne Einspruch zu erheben. Daß sich im Reichsrat keine Gegenstimme vernehmen ließ, verwundert nicht. Denn die Bevollmächtigten folgten den Weisungen ihrer Landesregierungen, die sich alle bereits in der H a n d der Nationalsozialisten befanden. In den Ländern, in welchen die „Machtübernahme" Anfang M ä r z 1933 noch nicht vollzogen war, hatte die Reichsregierung Reichskommissare eingesetzt. Diese auf § 2 der Reichstagsbrand-Notverordnung gestützte M a ß n a h m e hatte mit der Länderpolizei auch die gesamte Exekutive und damit praktisch die politische Landesführung in volle Abhängigkeit von der Reichsregierung gebracht. So gewährleistete die Gleichschaltung aller Länderregierungen von vornherein das glatte Passieren des Ermächtigungsgesetzes im Reichsrat. Zutreffend kennzeichnete Carl Schmitt das — w i e es hieß — „Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich" v o m 24. M ä r z 1933, w e n n er in der Deutschen Juristenzeitung alsbald schrieb: „Zunächst w i r d ein neuer Reichsgesetzgeber geschaffen, der nicht nur Rechtsverordnungen erläßt, sondern auch Reichsgesetze im formellen Sinne schafft. Damit ist der überlieferte Gesetzesbegriff des parlamentarischen Gesetzgebungsstaates, für welchen die M i t w i r k u n g der Volksvertretung z u m Begriff des Gesetzes gehörte, überwunden. Ein Wendepunkt von verfassungsgeschichtlicher Bedeutung! . . . Die zweite kennzeichnende Besonderheit des neuen Gesetzes liegt darin, daß die Reichsregierung Verfassungsgesetze im formellen Sinne erlassen kann, die neues, von dem bisherigen Verfassungsrecht abweichendes materielles Verfassungsrecht schaffen. . . . Endlich zeigt die Übertragung der außerordentlichen Befugnisse auf die Reichsregierung auch rechtslogisch eine ganz andere Struktur, als sie typischen Ermächtigungsgesetzen entspricht. Es w i r d nicht, w i e sonst, der Rahmen der Ermächtigung irgendwie abgrenzbar und meßbar inhaltlich umschrieben, sondern eine inhaltlich unbegrenzte Ermächtigung für vier Jahre unter Vorbehalten erteilt." Carl Schmitt, der das neue Gesetz als „Ausdruck des Sieges der nationalen Revolution" begrüßte, nahm diese Vorbehalte freilich ebenso388
1. Machtergreifung 1933
wenig ernst, wie viele juristische Schriftsteller überhaupt und das nationalsozialistische Regime insbesondere es taten. Der Artikel 2 des Ermächtigungsgesetzes garantierte institutionell sowohl den Reichsrat wie den Reichstag — doch nur vorläufig und auf dem Papier. Eine seinen Wesenskern vernichtende Umgestaltung erfuhr der Reichsrat, der doch eine Vertretung der Länder sein sollte, durch die Gleichschaltungsgesetze vom 31. März und 7. April 1933. Sie hoben die Landesregierungen als Träger einer selbständigen Politik auf und vernichteten damit den Reichsrat als ein Organ politischer Willensbildung. Das Neuaufbaugesetz vom 30. Januar 1934 hob die Länderparlamente überhaupt auf, beseitigte die Länder als Träger eigener Hoheitsrechte und unterstellte die als Verwaltungsinstanzen fortbestehenden Landesregierungen den Weisungen der Reichsregierung. Es besiegelte nicht nur den Einheitsstaat, sondern verkündete auch lapidar: „Die Reichsregierung kann neues Verfassungsrecht setzen" (Art. 4). Den förmlichen Schlußstrich zog das Regierungsgesetz vom 14. Februar 1934, das den Reichsrat nunmehr ganz beseitigte. Auch der Reichstag büßte seine Funktion schon bald vollends ein. Ein Regierungsgesetz vom 14. Juli 1933 ließ die N S D A P als einzige politische Partei zu und verbot jede andere. Nachdem das Regime die kommunistischen Mandate bereits kassiert hatte, strich es durch Verordnung vom 7. Juli 1933 alle Zuteilungen von Sitzen für die Sozialdemokratische Partei und die Deutsche Staatspartei ersatzlos. Als der Einparteienstaat hergestellt war, bestand der Reichstag allein noch aus Angehörigen der NSDAP, die nicht mehr parlamentarisch arbeiteten, sondern sich nur noch gelegentlich versammelten, um den Führerreden einen Rahmen zu bieten und das Ermächtigungsgesetz immer wieder zu verlängern. Da die Abgeordneten dabei das Deutschland- und das Horst-Wessel-Lied sangen, nannte der Volksmund das ehemalige Parlament den „Reichsgesangsverein". Wenn schließlich der Artikel 2 des Ermächtigungsgesetzes „die Rechte des Reichspräsidenten unberührt" ließ, so trog auch dieser Satz. Das Ermächtigungsgesetz beließ dem Reichspräsidenten keinerlei rechtliche Handhabe mehr, durch die Verweigerung seiner Unterschrift das Zustandekommen eines Regierungsgesetzes zu verhindern. Das präsidiale Notverordnungsrecht nach Art. 48 Abs. 2 der Weimarer Reichsverfassung bestand zwar de jure fort; Hitler hätte es indessen vereiteln können, indem er die Gegenzeichnung versagte. Nach dem Tode Hindenburgs entfiel der Vorbehalt zugunsten der Rechte des Reichspräsidenten völlig, weil ein Regierungsgesetz vom 1. August 1934 das Amt des Reichspräsidenten mit dem des Reichskanzlers vereinigte. Es versteht sich von selbst, daß unter allen diesen
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XI. Die nationalsozialistische Rechtsverwüstung Umständen die Befristetheit des Ermächtigungsgesetzes die W i l l k ü r des Regimes nicht ernstlich limitierte. Die Reichsregierung nützte die ihr verliehene Legislativgewalt von vornherein im größten M a ß e aus. Der Reichtstag spielte als Gesetzgeber sowenig eine Rolle mehr wie der Reichspräsident als Notverordnungsgeber. N a c h dem 24. M ä r z 1933 verabschiedete der Reichstag nur noch sieben Gesetze, von denen zwei das Ermächtigungsgesetz verlängerten; die übrigen w a r e n das erwähnte Neuaufbaugesetz (1934), das Reichsflaggengesetz, das Reichsbürgergesetz und das „Gesetz z u m Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre" (1935), ferner das Gesetz zur Wiedervereinigung Danzigs mit dem Deutschen Reich (1939). Demgegenüber ergingen 1933 insgesamt 218 Regierungsgesetze, 1934 noch 190 und 1935 weitere 149. In den folgenden Jahren drängte ein üppig wucherndes Verordnungswesen die Zahl der Regierungsgesetze zurück. Das Ermächtigungsgesetz vereinigte die Legislativgewalt mit der R e gierungsmacht und stellte so den gesamten Behörden- und Gerichtskörper in den Dienst der Naziherrschaft. „Mit dem Ermächtigungsgesetz hatte Hitler die Beamten- und die Richterschaft auf seine Linie g e z w u n gen" (Hans Schneider). Denn ein Staatsstreich, der sich im Gewände der Legalität vollzog, der die offenkundige Verletzung von Verfassung und Gesetz vermied und den „Führer" nicht als Usurpator erscheinen ließ, brauchte den geschlossenen Widerstand der Richter und Beamten nicht zu befürchten, zumal die Gebrechen des Weimarer Systems vor aller A u g e n standen. N a c h Hitlers verfassungskonformer Ernennung durch den rechtmäßigen Reichspräsidenten und nach Annahme des Ermächtigungsgesetzes durch die erforderliche Parlamentsmehrheit schien es für das Heer der Staatsdiener keine andere Wahl zu geben, als den neuen Herren zu gehorchen. Das Ermächtigungsgesetz wirkte, w i e Carl Schmitt treffend formulierte, als „große Pauschal-Legalisierung sowohl nach rückwärts, für die Vorgänge des Februar und M ä r z 1933, wie auch für alle zukünftigen Aktionen". Hitler legte besonderen Wert auf die oft wiederholte Feststellung, er sei legal zur Macht gekommen. Die äußere Legalität des Vorgangs bestätigten auch einzelne dem Nationalsozialismus durchaus abgeneigte Rechtswissenschaftler, von denen Heinrich Triepel das Wort von der „legalen Revolution" prägte: Der Inhalt des Ermächtigungsgesetzes stand in vollem Widerspruch zu den Grundsätzen der Weimarer Verfassung, w ä h r e n d es — äußerlich betrachtet — in formeller Legalität erging, wobei sich freilich auch in dieser Hinsicht durchaus Bedenken erheben.
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1. Machtergreifung 1933
Die Weimarer Verfassung sah in Artikel 76 die Möglichkeit von Verfassungsänderungen vor. Nach ganz überwiegender Ansicht gab diese Regel der Reichslegislative plenitudo potestatis zu Entscheidungen von größter Tragweite, zu Dispositionen etwa über die rechtliche Natur des Reichsganzen, über die Staats- und Regierungsform des Reiches, über den republikanischen, demokratischen und parlamentarischen Charakter der Verfassung. Tiefreichende Einschnitte in die Verfassungsstruktur, wie sie der Artikel 79 des Bonner Grundgesetzes verwehrt, galten allgemein als zulässig — eine verhängnisvolle Doktrin. Nur wenige Gelehrte, unter ihnen Carl Schmitt, wollten bei dem Verfahren nach Artikel 76 der Weimarer Konstitution die Identität und Kontinuität der Verfassung als eines Ganzen gewahrt wissen. Was das Verfahren betrifft, in dem das Ermächtigungsgesetz erging, bleibt zuerst auf den Umstand hinzuweisen, daß die Regierung einundachtzig kommunistische Reichstagsabgeordnete ungesetzlich und zwangsweise von der Teilnahme an der entscheidenden Plenarsitzung fernhielt. Außerdem schränkte sie die Freiheit des Parlaments durch Drohungen und Täuschungsmanöver ein. Ein durchschlagender Rechtsbruch lag in der Beteiligung des fehlerhaft zusammengesetzten Reichsrates, als dessen Mitglieder zum Teil nicht die Beauftragten unabhängiger Landesregierungen erschienen, sondern Vertrauensleute der in den ersten Märztagen eingesetzten nationalsozialistischen „Reichsbeauftragten für Sicherheit und Ordnung". Baden, Bayern und Sachsen waren darum ebensowenig ordnungsgemäß vertreten wie Preußen, dessen dreizehn Stimmen ein Reichskommissar instruierte. Bei der Berechnung der nach Artikel 76 auch im Reichsrat erforderlichen Zweidrittel-Mehrheit hätten danach 34 der insgesamt 66 Stimmen nicht mitgezählt werden dürfen; sonach hat das Ermächtigungsgesetz im Reichsrat die erforderliche Mehrheit nicht erreicht. In der Kette der Ereignisse, welche die Machtergreifung Hitlers herbeiführten, wog das Ermächtigungsgesetz als scheinlegaler Akt verschleierten Verfassungsbruchs besonders schwer. Es galt allen Legalitätsmängeln zum Trotz kraft der — vom Reichsgericht einst (RGZ 100, 26 f.) und viele Jahre später vom Bundesgerichtshof (BGHZ 5, 96 f.) beschworenen — normativen Kraft des Revolutionsrechts, das sich durch den Beschluß des Reichstags, die öffentlich Zeugnis ablegende Unterschrift des Reichspräsidenten, die Akklamation durch die juristische Fachpresse sowie weite Teile der Öffentlichkeit und nicht zuletzt auch durch das Ausland anerkannt sah. Die nationalsozialistische Gewaltherrschaft konnte sich letztlich durchsetzen, weil zu vielen Bürgern, Beamten und Politikern die Weimarer Staatsordnung als unbefrie-
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XI. Die nationalsozialistische Rechtsverwüstung digend angelegt oder im Laufe der Notjahre diskreditiert und also nicht verteidigungswert erschien. Die H o f f n u n g e n unzähliger Deutscher richteten sich im Frühjahr 1933 auf den ausstrahlungskräftigen „Führer". Dessen Diktatur w a r eine charismatische Herrschaft, verkörpert auch durch die unheilvolle allgemeine Geste des „deutschen Grußes" (Tilman Allert): das sichtbarbekennerhafte, stilistisch altertümliche w i e radikal moderne „Heil Hitler" mit ausgestrecktem rechten A r m und offener Hand.
2. Perversion
des Rechts
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398
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XI. Die nationalsozialistische Rechtsverwüstung das Elend der Geschichtsschreibung. Ein grundlegender Forschungsbericht, 1991; WÜLLNER, Hermine (Hg.): „... kann nur der Tod die gerechte Sühne sein". Todesurteile deutscher Wehrmachtsgerichte. Eine Dokumentation, 1997; WULFF, Arne: Staatssekretär Prof. Dr. Dr. h.c. Franz Schlegelberger. 18761970, 1991; WYSOCKI, Gerhard: Die Geheime Staatspolizei im Land Braunschweig, Polizeirecht und Polizeipraxis im Nationalsozialismus, 1997.
Die Verkehrung von Unrecht in Recht, von Recht in Unrecht bildet, w i e Fritz von Hippel in seinem eindrucksvollen Buch über die Perversion von Rechtsordnungen gezeigt hat, „eine ständige stille Gefahr des Menschen im allgemeinen w i e des Juristen im besonderen". Im Zeichen des Hakenkreuzes verwirklichte sie sich in den Jahren 1933 bis 1945 auf unerhörte Weise. H e r m a n n Weinkauff, der erste Präsident des Bundesgerichtshofes, beginnt seine eindringende A n a l y s e der nationalsozialistischen Rechtsverwüstung mit folgenden treffenden Sätzen: „Fragt man, w a s der Nationalsozialismus für das Recht bedeutete, so muß man antworten: Rechtsbarbarei, Rechtsunsicherheit, Rechtlosigkeit, Unrecht und schließlich Verbrechen, und z w a r Verbrechen von bisher ungekanntem A u s m a ß und bisher unbekannter Furchtbarkeit. U n d das alles gesetzt von den Trägern der Staatsmacht selbst und gesetzt mit dem A n spruch, es sei Recht. Die deutschen Juristen und vorab die deutschen Gerichte haben das nicht verhindern können; ja sie w u r d e n in einem gewissen Ausmaße als Werkzeuge dieser Entwicklung mißbraucht; zu einem gewissen Bruchteil haben sie sich mißbrauchen lassen." Der Diktator und seine Parteijuristen, Werner Best, Hans Frank, R o land Freisler, Georg Thierack und w i e sie hießen, mißachteten das Recht mit Worten und Taten. In offiziellen Reden verhüllte Hitler seine nihilistische Rechtsfeindschaft oder deutete sie nur an. Untergründige Vorbehalte gegen hergebrachte rechtsstaatliche Grundsätze erschienen indes früh und auch vor Sachkundigen, etwa in seiner Rede vor dem — das „vielleicht eindrucksvollste Zeugnis der geistigen Kapitulation des deutschen Juristenstandes gegenüber einem schon damals in seiner Praxis rechtsverachtenden R e g i m e " (Peter Landau) bildenden — Deutschen Juristentag im Herbst 1933 zu Leipzig: „Der totale Staat w i r d keinen Unterschied dulden zwischen Recht und Moral. N u r im Rahmen seiner gegenwärtigen Weltanschauung kann und muß eine Justiz unabhängig sein." Der totale Staat Hitlers und seiner „Bewegung", der sich begreifen läßt als eine Art permanenter Kriegserklärung der zur Herrschaft gelangten Einheitspartei und ihres Führers an alle nicht zugehörigen Mitbürger und dazu die weitere Welt, durchdrang alle Lebensbereiche und anerkannte keine rechtlichen Schranken. Die wiederkehrenden 400
2. Perversion des Rechts „Säuberungs"-Wellen einer fortgesetzten Revolution und Aggression erzeugten Scharen von Verfolgten und Geschlagenen, von unschuldigen Todesopfern und Gefangenen, zu denen sich Hitler im vertrauten Kreise unbedenklich bekannte. Seinen Widerwillen gegen das Recht und die Juristen beweisen besonders augenfällig die Tischgespräche im Führerhauptquartier 1941 bis 1942. „Kein vernünftiger Mensch", so erklärte Hitler nach der Niederschrift des Gewährsmannes H e n r y Picker, „verstehe überhaupt die Rechtslehren, die die Juristen sich zurechtgedacht hätten. Letzten Endes sei die ganze heutige Rechtslehre nichts anderes als eine einzige große Systematik der A b w ä l z u n g der Verantwortung. Er werde deshalb alles tun, u m das Rechtsstudium . . . so verächtlich zu machen w i e nur irgend möglich. . . . Als Richter brauche er Männer, die zutiefst davon überzeugt seien, daß das Recht nicht den einzelnen dem Staat gegenüber sichern, sondern in erster Linie bewirken solle, daß Deutschland nicht zugrunde gehe. . . . Solange er selbst noch da sei, drohten von den J u risten ja keine Gefahren, da er sich, w e n n nötig, unbedenklich über ihre Auffassungen hinwegsetze. . . . Wenn früher der Schauspieler auf dem Schindanger begraben w o r d e n sei, so verdiene es heute der Jurist, dort begraben zu werden. N i e m a n d e m k o m m e der Jurist näher als dem Verbrecher, und auch in ihrer Internationalität gebe es zwischen den beiden keinen Unterschied." In der Tat: w o das Prinzip der bewußten Parteilichkeit herrscht und das Gerichtswesen im Dienst der Diktatur steht, verliert der rechtsgelehrte Jurist seine Aufgabe. Gegen ihn insbesondere richtete sich auch die Sondervollmacht, die Hitler in der Rede v o m 26. April 1942 vor dem Großdeutschen Reichstag beanspruchte und sich anerkennen ließ: „Es kann in dieser Zeit keiner auf seine wohlerworbenen Rechte pochen, sondern jeder muß wissen, daß es heute nur Pflichten gibt. Ich bitte deshalb den Deutschen Reichstag u m die ausdrückliche Bestätigung, daß ich das gesetzliche Recht besitze, jeden zur Erfüllung seiner Pflichten anzuhalten, beziehungsweise denjenigen, der seine Pflichten nach meiner gewissenhaften Einsicht nicht erfüllt, entweder zur gemeinen Kassation zu verurteilen oder ihn aus A m t und Stellung zu entfernen ohne Rücksicht, w e r er auch sei oder welche erworbenen Rechte er besitze. . . . Ebenso erwarte ich, daß die deutsche Justiz versteht, daß nicht die Nation ihretwegen, sondern daß sie der Nation w e g e n da ist, das heißt, daß nicht die Welt zugrunde gehen darf, in der auch Deutschland eingeschlossen ist, damit ein formales Recht lebt, sondern daß Deutschland leben muß, ganz gleich, w i e immer auch formale Auffassungen der Justiz dem widersprechen mögen. . . . Ich werde von jetzt ab in diesen Fällen eingreifen und Richter, die ersichtlich das Gebot der 401
XI. Die nationalsozialistische Rechtsverwüstung Stunde nicht erkennen, ihres Amtes entheben. . . . In dieser Zeit gibt es keine selbstheiligen Erscheinungen mit wohlerworbenen Rechten, sondern w i r alle sind nur gehorsame Diener an den Interessen unseres Volkes." Die Polemik gegen das Formaljuristische indiziert ein gebrochenes Rechtsbewußtsein. Sie glaubt an die Einheit aller wohlverstandenen Interessen. Der juristische Formalismus hingegen setzt die Anerkennung eines unaufhebbaren, wenngleich nicht antagonistischen Gegensatzes von allgemeinem und privatem Interesse voraus. Wo die unmittelbare Identität der Interessen gilt, tut keine Gerechtigkeit mehr not, welche divergierende Ansprüche ausgleicht. Es bedarf nach dieser utopischen Annahme keiner gegenüber verschiedenen Inhalten neutralen und von der jeweiligen Person unabhängigen Verfahrensregeln mehr, denn es gibt nur noch einen Inhalt, nämlich das „Interesse des Volkes", das sich — durch den Diktator festgestellt — souverän und direkt geltend machen soll. Robert Spaemann hat auf bemerkenswerte Weise wieder daran erinnert, daß solche unmittelbaren Identitätsthesen gleichbedeutend sind mit Terror. Der Perversion des Rechts durch die nationalsozialistischen Inhaber der staatlichen Macht leistete der extreme Rechtspositivismus Vorschub, eine Doktrin, die in der Weimarer Zeit als Ergebnis relativistischer und skeptischer Erschöpfung vorherrschte und die große Zahl der Juristen den nationalsozialistischen Geboten folgen ließ. N a c h positivistischer Lehre gilt allein als Recht, w a s der Staat, der Inhaber der Staatsmacht, der Gesetzgeber kraft seines Willensentschlusses als Recht setzt. Der Gesetzgeber selbst erscheint an kein ihm vorgegebenes übergeordnetes, ihn selber bindendes ungesetztes Recht gebunden. Als Gesetzgeber in diesem Sinne gilt der tatsächliche Inhaber der Staatsmacht, auch der die Herrschaft ausübende Usurpator. Ein dem positiven, staatlichen Rechte übergeordneter, aus sich selbst heraus geltender, unmittelbarer Bestand von letzten, grundlegenden N o r m e n , eine Naturrechtsordnung, anerkannte diese Doktrin nicht, der sich die meisten Rechtsdenker der Weimarer Epoche verschrieben, unter ihnen so bedeutende wie Gustav Radbruch. Dessen „Rechtsphilosophie" bezeichnete es noch im Jahre 1932 als Berufspflicht des Richters, den Geltungswillen des Gesetzes unbedingt zu vollstrecken, das eigene Rechtsempfinden dem autoritativen Rechtsbefehl zu opfern, nur zu fragen, w a s von Rechts w e g e n gelte und niemals, ob dies auch gerecht sei. Verehrung verdiene der Richter, der sich durch sein widerstrebendes Rechtsgefühl in seiner Gesetzestreue nicht beirren lasse. Unter dem Eindruck der nationalsozialistischen Rechtsverwüstung schrieb der Gelehrte Radbruch 1947: „Neben der Wiederherstellung der 402
2. Perversion des Rechts
Achtung vor dem Gesetz hat der deutsche Jurist noch eine zweite Aufgabe, die zu jener ersten fast in einem Gegensatz zu stehen scheint. Vielfältig haben die Machthaber der zwölfjährigen Diktatur dem Unrecht, ja dem Verbrechen die Form des Gesetzes gegeben. Sogar der Anstaltsmord soll durch ein Gesetz untergründet gewesen sein, freilich in der monströsen Form eines unveröffentlichten Geheimgesetzes. Die überkommene Auffassung des Rechts, der seit Jahrzehnten unter den deutschen Juristen unbestritten herrschende Positivismus und seine Lehre ,Gesetz ist Gesetz', war gegenüber einem solchen Unrecht in der Form des Gesetzes wehrlos und machtlos; die Anhänger dieser Lehre waren genötigt, jedes noch so ungerechte Gesetz als Recht anzuerkennen. Die Rechtswissenschaft muß sich wieder auf die jahrtausendalte gemeinsame Weisheit der Antike, des christlichen Mittelalters und des Zeitalters der Aufklärung besinnen, daß es ein höheres Recht gebe als das Gesetz, ein Naturrecht, ein Gottesrecht, ein Vernunftrecht, kurz ein übergesetzliches Recht, an dem gemessen das Unrecht Unrecht bleibt, auch wenn es in die Form des Gesetzes gegossen ist, — vor dem auch das aufgrund eines solchen ungerechten Gesetzes gesprochene Urteil nicht Rechtsprechung ist, vielmehr Unrecht, mag auch dem Richter, eben wegen seiner positivistischen Rechtserziehung, solches Unrecht nicht zur persönlichen Schuld angerechnet werden." Jedoch gab — anders als Radbruch meinte — der Rechtspositivismus nur eine und nicht einmal die wichtigste Grundlage für die nationalsozialistische Rechtsperversion ab. Verhängnisvoller wirkte die Bereitschaft eines großen Teiles der deutschen Juristen — nicht aller —, in willig vorauseilendem Gehorsam den nationalsozialistischen Vorgaben auch gegen noch gültige Gesetze zum Erfolg zu verhelfen. Zu welchen Rechtsperversionen das nationalsozialistische Regime fähig war, zeigte sich bei der planmäßig betriebenen staatlichen Judenverfolgung. Dieses Unrecht suchte die von ihm Betroffenen zurückzusetzen, zu berauben, zu vertreiben und schließlich mit kaum noch verhohlener Kraßheit zu vernichten. Der Diktator und seine Gefolgsleute haben ihre rassistischen Wahnideen, ein radikales und umstürzendes, also revolutionäres Programm, mit mörderischer Konsequenz verfolgt. Karl Dietrich Bracher hat überzeugend dargestellt, daß im Grundgedanken einer rassischen Abstufung der Menschheit eine extreme Alternative nicht nur zur freiheitlichen und menschlichen Idee der Weltzivilisation, sondern auch zur gängigen Nationalstaatsidee liege. Der tätige Rassismus als weltrevolutionäres Prinzip, von den gewalttätigen Horden der SA und den Schergen der SS exekutiert und vom Wegsehen vieler Mitmenschen begleitet, bestimmte die nationalsozialistische Innen- wie Außenpolitik. An ihm er403
XI. Die nationalsozialistische Rechtsverwüstung
wies sich eine Rechtsfeindschaft, wie sie sich in Deutschland und der zivilisierten Welt noch nie gezeigt hatte, auch nicht im Archipel Gulag. Der Abgrund sich steigernden staatlichen Mordens, der sich in den Konzentrationslagern auftat, ist das Signum der nationalsozialistischen Bewegung. Deren Danziger Gefolgsmann und spätere Renegat Hermann Rauschning veröffentlichte schon 1938 im Schweizer Exil ein Buch, das die „Tendenz der dynamischen Revolution" auf beklemmende Weise offenlegt, „die Tendenz zum polaren Gegensatz jeder Rechtsordnung, nämlich zur fortschreitenden Auflösung aller historischen Werte bis zum totalen Nihilismus". Hunderte von Gesetzen, Verordnungen und Erlassen, mitunter „geheim" und „vertraulich", überwiegend aber förmlich in Gesetz- und Amtsblättern verkündet, begleiteten und kennzeichneten den Leidensweg der Juden. Das „Reichsbürgergesetz" vom 15. September 1935 schränkte ihre politischen Rechte ein, das „Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre" vom selben Tage verbot unter strengen Freiheitsstrafen Eheschließungen „zwischen Juden und Staatsangehörigen deutschen oder artverwandten Blutes" sowie den außerehelichen Verkehr zwischen Personen dieser Gruppen. Die „Verordnung über die Anmeldung des Vermögens von Juden" vom 26. April 1938 ermächtigte den Beauftragten für den Vierjahresplan, „den Einsatz des anmeldepflichtigen Vermögens im Einklang mit den Belangen der deutschen Wirtschaft sicherzustellen". Das „Gesetz zur Änderung der Gewerbeordnung" vom 6. Juli 1938 untersagte „Juden und jüdischen Unternehmungen mit eigener Rechtspersönlichkeit" eine ganze Reihe von Gewerben. Eine Verordnung vom 17. August 1938 dekretierte (§ 2): „Soweit Juden andere Vornamen führen, als sie nach § 1 Juden beigelegt werden dürfen, müssen sie vom 1. Januar 1939 ab zusätzlich einen weiteren Vornamen annehmen, und zwar männliche Personen den Vornamen Israel, weibliche Personen den Vornamen Sara." Neuerliche Musterbeispiele frecher Rechtsverkehrung brachte der Herbst desselben Jahres. Nachdem die nationalsozialistischen Führer selbst durch bestellte Kommandos sämtliche Synagogen hatten einäschern, zahlreiche Geschäfte und Wohnungen jüdischer Mitbürger hatten demolieren lassen — Tausende wurden mißhandelt und verhaftet, etliche getötet —, erschien unter dem 12. November 1938 im Reichsgesetzblatt die „Verordnung zur Wiederherstellung des Straßenbildes bei jüdischen Gewerbebetrieben", die folgendes bestimmte: „§ 1. Alle Schäden, welche durch die Empörung des Volkes über die Hetze des internationalen Judentums gegen das nationalsozialistische Deutschland am 8., 9. und 10. November 1938 an jüdischen Gewerbebetrieben und Wohnungen entstanden sind, sind von dem jüdischen Inhaber oder jüdi404
2. Perversion des Rechts sehen Gewerbetreibenden sofort zu beseitigen. § 2. Die Kosten der Wiederherstellung trägt der Inhaber der betroffenen jüdischen Gewerbebetriebe und Wohnungen. Versicherungsansprüche von J u d e n deutscher Staatsangehörigkeit werden zugunsten des Reichs beschlagnahmt." Die „Verordnung über eine Sühneleistung der J u d e n " vom selben Tage erlegte „den J u d e n deutscher Staatsangehörigkeit in ihrer Gesamtheit" die Zahlung einer „Kontribution" von einer Milliarde Reichsmark auf, und eine weitere, gleichzeitig erlassene Verordnung verfügte die „Ausschaltung der J u d e n aus dem deutschen Wirtschaftsleben". Die durch Anmeldepflichten bereits vorbereitete „Verordnung über den Einsatz des jüdischen Vermögens" vom 3. Dezember 1938 machte den seit dem U m b r u c h entfesselten R a u b z u g auf alle nur erdenklichen Werte endgültig offiziell. Weitere nur scheinbar rechtsetzende M a ß n a h m e n drückten die noch immer zahlreich in ihrer deutschen Heimat lebenden Juden, von denen sich viele als Wissenschaftler und Kaufleute, als Rechtsanwälte und Ärzte, als Künstler und Literaten, als Offiziere und Beamte hervorragend u m ihr Land verdient gemacht hatten, zu rechtlosen Opfern des Rassenwahns herab: die Polizeiverordnungen „über das Auftreten der J u d e n in der Öffentlichkeit" und „über die Kennzeichnung der Juden", das Gesetz über Mietverhältnisse mit ihnen, die „Verordnung über die Beschäftigung von J u d e n " und andere ihr Leben einschnürende Akte; selbst die Benutzung von Parkbänken w u r d e ihnen verwehrt. Ein „Führererlaß" v o m 1. M ä r z 1942 bezeichnete die „Juden" als „die Urheber des jetzigen gegen das Reich gerichteten Krieges" und legitimierte neuerliche Einbrüche in jüdische „kulturelle Einrichtungen aller Art". Eine dreizehnte Verordnung z u m Reichsbürgergesetz vom folgenden Jahr ließ — nunmehr nahezu unvermeidlich gewordene — „strafbare Handlungen von J u d e n " „durch die Polizei ahnden" und konfiszierte jüdische Nachlässe: Etappen auf dem nationalsozialistischen Weg zur „Gesamt- oder Endlösung der Judenfrage im deutschen Einflußgebiet in Europa", die in den Todesfabriken der Konzentrationslager Millionen Menschenleben kostete. Das nationalsozialistische Regime zerstörte die 1600 jüdischen Gemeinden Deutschlands, die im Jahre 1933 bestanden, völlig. Von den ungefähr 600000 Personen jüdischen Glaubens überlebten nur ganz wenige das Kriegsende in Deutschland. Vergegenwärtigen w i r uns das Unfaßliche der so geheißenen „Endlösung" am Beispiel des Massakers „Erntefest" im Distrikt Lublin, Herbst 1943, einer der größten Einzelaktionen der Deutschen zur Vernichtung der J u d e n mit 42000 Opfern. Der Augenzeuge, ein Wachtposten berichtet: „Von meinem Standpunkt konnte ich nun beobachten, w i e von anderen Angehörigen unseres Bataillons die J u d e n nackend aus 405
XI. Die nationalsozialistische Rechtsverwüstung
den Baracken herausgetrieben wurden. ... die Schützen des Exekutionskommandos, die unmittelbar vor mir am Grubenrand saßen, (waren) SD-Angehörige ... Hinter jedem Schützen standen in einigen Abständen einige weitere SD-Angehörige, die laufend die Magazine für die Maschinenpistolen füllten und sie dem Schützen zureichten. An jeder Grube waren mehrere solcher Schützen eingesetzt ... Mit Sicherheit erinnere ich, daß die nackten Juden direkt auf die Gruben zugetrieben wurden und sich dann regelrecht auf die bereits erschossenen Vorgänger legen mußten. Auf diese liegenden Opfer schoß der Schütze dann jeweils eine Salve ab". Der Bericht findet sich in dem Buch des amerikanischen Professors für Geschichte Christopher R. Browning: Ganz normale Männer, Das Reserve-Polizeibataillon 101 und die „Endlösung" in Polen. Der Autor erkennt als ausschlaggebende Faktoren für die Teilnahme der Polizei-Einheit am Völkermord Gruppendruck und Untertanengeist vor dem Hintergrund einer autoritären Tradition in Deutschland. Dabei mäßigte er die zentrale Anti-Semitismus-Theorie im Werk seines Kollegen Daniel Jonah Goldhagen: Hitlers willige Vollstrecker. Unkritische Botmäßigkeit einer rechtsfeindlichen Obrigkeit gegenüber, unselbständige Autoritätsgläubigkeit in Verbindung mit antisemitischen Ressentiments — ohne diese Bürgerschwächen hätten die Aberhunderte von Gesetzen, Verordnungen, Richtlinien und Erlassen zur Entrechtung der Juden durch unzählige Vollstrecker nicht Wirklichkeit werden können. Die Rechtsperversion beschränkte sich nicht auf staatliche Akte im Gewand von Gesetzen, Regierungsverordnungen und Führererlassen; sie drang zugleich in die Rechtspflege ein. Auch dabei fehlte es den nationalsozialistischen Machthabern nicht an Rechtswissenschaftlern, die dem Regime ihre Reverenz erwiesen und ihm das erwünschte juristische Instrumentarium anboten. Im Wege richterlicher Gesetzesablehnung und „unbegrenzter Auslegung" (Bernd Rüthers) gelangte das revolutionäre Denken in der Justiz zum Zuge. „Das gesamte heutige deutsche Recht, einschließlich der weitergeltenden, positiv nicht aufgehobenen Bestimmungen, muß ausschließlich und allein vom Geist des Nationalsozialismus beherrscht sein", schrieb Carl Schmitt in der Juristischen Wochenschrift 1934. Das braune Justizprogramm fand seinen Niederschlag in den „Leitsätzen über Stellung und Aufgaben des Richters", die im Auftrag des Reichsministers Frank zur Beilegung der Meinungsverschiedenheiten über die Bindung des Richters an alte Gesetze von renommierten Rechtsprofessoren beraten und formuliert, auf einem großen Juristenkongreß feierlich verkündet und 1936 in der Zeitschrift „Deutsche Rechtswissenschaft" gedruckt wurden. Darin hieß es: „Grundlage der 406
2. Perversion des Rechts Auslegung aller Rechtsquellen ist die nationalsozialistische Weltanschauung, wie sie insbesondere im Parteiprogramm und in den Ä u ß e rungen des Führers ihren Ausdruck findet." Ferner: „Gesetzliche B e stimmungen, die vor der nationalsozialistischen R e v o l u t i o n erlassen sind, dürfen nicht angewandt werden, wenn ihre Anwendung dem heutigen gesunden Volksempfinden ins Gesicht schlagen w ü r d e . " In diesem Leitsatz gewann das Streben nach einer Generalklausel zur Aufhebung von Widersprüchen zwischen den alten Vorschriften und dem neuen Rechtsdenken eine für die Praxis berechnete F o r m e l . N o c h allgemeiner ausgeprägt erschien dieser G e d a n k e bei den Verfechtern der D o k t r i n , die jeder Gesetzesregel einen inneren Vorbehalt der U b e r e i n s t i m m u n g mit den Grundprinzipien der Gesamtordnung beilegte. D i e Kampfklausel zur Normbeseitigung erfüllte ihren Z w e c k auch als Instrument der Rassenpolitik. E i n Beispiel von vielen mag dies belegen. D e r richterlichen D e r o g a t i o n des gesetzlichen Mieterschutzes z u m Nachteil jüdischer M i t b ü r g e r diente zunächst der dem Mieterschutzgesetz von 1923 unbekannte Begriff der „Hausgemeinschaft", eine mehr als fragwürdige Erstreckung des „konkreten O r d n u n g s - und Gestaltungsdenkens" auf das Rechtsverhältnis zwischen Vermieter und Mieter. D i e Kernthese des konkreten Ordnungsdenkens ging dahin, daß die Wirklichkeit ihre O r d n u n g in sich trage, die den einzelnen R e c h t s n o r men vorausgehe. N o r m oder Regel schüfen also die O r d n u n g nicht, sondern besäßen nur ein relativ kleines M a ß unabhängigen Geltens. Verschiedene Amtsgerichte ließen sich von dieser Ansicht leiten und verweigerten jüdischen Wohnungsinhabern den Mieterschutz nach § 2 des Gesetzes, weil dieser die Zugehörigkeit zur Hausgemeinschaft voraussetze, die ihrerseits einen Ausschnitt der Volksgemeinschaft darstelle. Wegen des Rassenunterschieds k ö n n t e n Juden schlechterdings u n m ö g lich zur Hausgemeinschaft gehören. M a n dürfe dem Vermieter sowenig wie den Mitmietern arischer A b s t a m m u n g zumuten, mit J u d e n in derselben Hausgemeinschaft zu leben. K o m m e ein jüdischer Mieter dem Räumungsverlangen des arischen Vermieters nicht nach, so störe er die unter den Ariern bestehende Hausgemeinschaft und mache sich einer Belästigung nach § 2 des Mieterschutzgesetzes schuldig. J e d e r andere Entscheid verstoße gegen „unabdingbare Rechtsvorstellungen des deutschen Volkes" — eine F o r m e l , die andeutet, daß es sich bei dieser Praxis nicht mehr u m die Auslegung, sondern u m die richterliche Beseitigung des gesetzlichen Mieterschutzes mittels einer politisch begründeten Kampfklausel handelte. D i e Interpretation von Rechtstexten war mehr H i n e i n - als Auslegung. D e n n der „Geist des Nationalsozialismus" galt nach herrschender Lehre als oberste ungeschriebene N o r m , die als vorrangige Rechtsquelle 407
XI. Die nationalsozialistische Rechtsverwüstung dazu diente, Aussagen der überkommenen Gesetze u m z u w e r t e n . So bestanden die Vorschriften des B G B z w a r fort, doch erhielten sie — w i e ein Aufsatz über die nationale Revolution und das bürgerliche Recht 1933 ausführte — „durch die zentrale Rechtsidee der siegreichen B e w e gung eine neue Zielsetzung". Ein offenes Einfallstor bildeten die Generalklauseln, das „Zugeständnis des Gesetzespositivismus an die richterliche Eigenverantwortung und an eine überpositive Sozialethik" (Franz Wieacker). Die Vorliebe des NS-Gesetzgebers für Vorsprüche, Grundund Auslegungsregeln bestärkte den Trend zur Interpretation alter Regeln im neuen Geist. D e m 1942 erschienenen Entwurf für ein als Nachfolger des BGB gedachtes, bezeichnenderweise aber unvollendet gebliebenes Volksgesetzbuch stellten seine nationalsozialistischen Autoren f ü n f u n d z w a n z i g typische „Grundregeln" voran, die insbesondere von den „Grundsätzen des völkischen Gemeinschaftslebens", von „Rechtsanwendung und Rechtsfortbildung" handelten und deren eminent politische Funktion kein Richter und kein A n w a l t übersehen konnte. Parteiprogrammatische Sentenzen und Präambeln dieser A r t wirkten als Werturteile des neuen Gesetzgebers auf die Auslegungstätigkeit deutscher Gerichte oft stark ein. Weil die Exekutive im Parlament kein Gegengewicht mehr fand, verlor auch das Verwaltungsrecht die ihm wesentliche begrenzende Funktion. Die nationalsozialistischen Machthaber verwarfen die Gewaltentrennung offiziell. Damit verlor die herkömmliche Unterscheidung z w i schen Gesetz und Einzelakt ihren Sinn. Das Verwaltungsrecht w u r d e z u m Diener des Führerwillens. Das Straf- und das Strafprozeßrecht verwilderten unter der nationalsozialistischen Diktatur auf beispiellose Weise. Nach der Machtergreifung w i e nach der blutigen Röhm-Affaire (1934) gewährte das Regime Amnestien „für Straftaten im Kampfe für die nationale Erhebung des Deutschen Volkes", ferner „für Straftaten, zu denen sich der Täter durch Ubereifer im Kampfe für den nationalsozialistischen Gedanken hat hinreißen lassen". Das R e g i m e stellte den ursprünglichen Sinn der „Vorbeugungshaft" auf den Kopf, indem es auf der Grundlage der Reichstagsbrandverordnung seit 1933 zunehmend exzessiv die „politische Schutzhaft" nicht im Interesse des einzelnen, sondern im Dienste des Staates verhängte und außerdem die gerichtliche Nachprüfung durch Gesetz für unzulässig erklärte. Eine politische Vorbeugungshaft besonders in Kriegszeiten hatten Deutschland und auch ausländische Rechtsstaaten in begrenztem U m f a n g schon gekannt. Die nationalsozialistischen Machthaber indessen gingen hinsichtlich der Zahl der Inhaftierten, der Dauer der Gefangenschaft und der Art ihrer Durchführung weit über die übliche Praxis hinaus. 408
2. Perversion des Rechts Eine Novelle z u m Strafgesetzbuch vom 28. J u n i 1935 belebte das Analogieverbrechen neu, indem sie den § 2 StGB w i e folgt faßte: „Bestraft wird, w e r eine Tat begeht, die das Gesetz für strafbar erklärt oder die nach dem Grundgedanken eines Strafgesetzes und nach gesundem Volksempfinden Bestrafung verdient. Findet auf die Tat kein bestimmtes Strafgesetz unmittelbar A n w e n d u n g , so w i r d die Tat nach dem Gesetz bestraft, dessen Grundgedanke auf sie am besten zutrifft." Ein weiteres Regierungsgesetz v o m selben Tage beseitigte das Verbot der reformatio in peius: Von nun an bedeutete es für den Angeklagten ein Risiko, ein Rechtsmittel einzulegen; denn er mußte damit rechnen, in der zweiten Instanz eine härtere Strafe zu erfahren als in der ersten. Ferner ermächtigte dieses Gesetz das Reichsgericht ausdrücklich dazu, bei der Entscheidung über eine Rechtsfrage von eigenen früheren Erkenntnissen und damit von seiner bisherigen rechtsstaatlichen Tradition abzuweichen. Dadurch sollte dieses Gericht „dem durch die Staatserneuerung eingetretenen Wandel der Lebens- und Rechtsanschauung" Rechnung tragen und sich nicht „durch die Rücksichtnahme auf die aus einer anderen Lebens- und Rechtsanschauung erwachsene Rechtsprechung der Vergangenheit" behindert sehen. Das Regime schränkte die Rechtsmittel radikal ein. Gegen die Urteile der sich seit 1933 ausbreitenden Sondergerichte und gegen die erstinstanzlichen Urteile des Reichsgerichts, des 1934 von der Reichsregierung „zur Aburteilung von Hochverrats- und Landesverratssachen" eingerichteten Volksgerichtshofs und der Oberlandesgerichte stand dem Verurteilten überhaupt kein Rechtsmittel zu Gebote. Im übrigen gab es — bis z u m Jahre 1939 in der Regel und danach ausnahmslos — nur ein Rechtsmittel: entweder die Berufung oder die Revision. Ein Führererlaß bestimmte 1942, daß diese spärlich verbliebenen Rechtsmittel von einer besonderen Zulassung abhängig gemacht w e r d e n konnten. Während die ordentlichen Rechtsmittel in der Strafjustiz nahezu aufhörten, durchbrachen die nationalsozialistischen Machthaber die Rechtskraft gerichtlicher Erkenntnisse und damit eine wesentliche Garantie der Rechtssicherheit. Die zu diesem Zweck geschaffenen Instrumente hießen: die Nichtigkeitsbeschwerde und der außerordentliche Einspruch. Beider Behelfe konnte sich nicht der Verurteilte, sondern allein der Oberreichsanwalt bedienen. Der 1939 geschaffene außerordentliche Einspruch gegen jedes rechtskräftige Strafurteil hing von keinerlei tatsächlichen oder rechtlichen Voraussetzungen ab; es genügte, w e n n der Oberreichsanwalt„wegen schwerwiegender Bedenken gegen die Richtigkeit des Urteils eine neue Verhandlung und Entscheidung in der Sache für notwendig" hielt. Mit diesem schrankenlosen Rechtsbehelf konnte
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XI. Die nationalsozialistische Rechtsverwüstung das R e g i m e im Sinne seiner politischen Absichten nach Gutdünken in die Strafrechtspflege eingreifen. Von dem Gerichtsverfassungs-, Verfahrens- und Richterrecht aus der Zeit des Bismarck-Reiches und der Weimarer Republik blieben in der Endphase der Hitler-Diktatur nur noch wenige Stücke unverändert. „Die Justiz w a r ausgeschaltet, w o sie den NS-Machthabern lästig war. N e b e n ihr lief die gewaltige Inquisitions- und Vernichtungsmaschinerie der Geheimen Staatspolizei, jedoch geräuschlos und geheim, so daß selbst die meisten Strafrichter das volle A u s m a ß der Rechtlosigkeit im NS-Staat erst nach Kriegsende erkannt haben dürften" (Albrecht Wagner). Wo die Justiz unentbehrlich blieb, büßte sie ihre Unabhängigkeit mehr und mehr ein. Parteidienststellen befanden über die Ernennung und Beförderung von Richtern. „Politisch unzuverlässige" Richter sahen sich stets in der Gefahr, durch dem Regime willfährige ersetzt zu werden. Die nationalsozialistischen Machthaber schüchterten besonders die Strafjustiz ein, gängelten und bespitzelten sie. Ministerium, Staatsanwaltschaft und Gerichtspräsidenten wirkten auf richterliche Erkenntnisse ein. Millionen von Menschen unterstanden der ordentlichen Strafjustiz überhaupt nicht mehr, vor allem die Angehörigen der Wehrmacht sowie — seit Kriegsausbruch — der SS und der Polizei, ferner die Täter, deren Handlungen von den Verwaltungsbehörden endgültig durch Ordnungsstrafen oder von der Polizei geahndet wurden. Besonders die W i l l k ü r der Polizei bewirkte tiefe Einbrüche in die Strafrechtspflege. Innerhalb der so eingeschränkten Zuständigkeit der ordentlichen Strafjustiz galt kein einheitliches Verfahren, vielmehr eine gefährliche Mehrgleisigkeit: Neben dem Verfahren nach der StPO standen ein rigoroseres Verfahren nach der am 17. August 1938 erlassenen Kriegssonderstrafrechtsverordnung (KSSVO) und der nahezu willkürliche Prozeß gegen Polen und J u d e n in den eingegliederten Ostgebieten nach der Strafrechtspflegeverordnung vom 4. Dezember 1941. Zu nennen sind in diesem Zusammenhang auch die zunächst als nationalsozialistische Terrorinstrumente konzipierten Sondergerichte, die im Laufe des Krieges aber immer mehr gewöhnliche Kriminalität zu bewältigen hatten. Die Strenge der Strafen wie der Grad der Willfährigkeit variierten bei den verschiedenen Sondergerichten durchaus. Gegen apologetische Bestrebungen früherer M i litärrichter hat die neuere Forschung (Fritz W ü l l n e r ) aufgrund reichen, bisher teils unbekannten Quellenmaterials nachgewiesen, daß auch die Militärjustiz sich dem NS-Terror anpaßte und eine Vielzahl unverhältnismäßig harter Strafen verhängte. In allen Verfahren verkürzten die Machthaber den Rechtsschutz des Angeklagten auf ein M i n i m u m . Gegenüber dem Angeschuldigten erhiel410
2. Perversion des Rechts ten Richter und Staatsanwälte eine Machtfülle, die schwere Gefahren barg, vor allem angesichts der drakonischen Strafdrohungen, die das Regime eingeführt hatte. Die Zahl der mit Todesstrafe bedrohten Tatbestände w a r von drei auf sechsundvierzig emporgeschnellt! Zugleich gew a n n die Justizverwaltung einen bedeutenden M a c h t z u w a c h s gegenüber dem Richter, den sie — etwa in Gestalt der seit 1942 einmal pro Monat an die Gerichte verteilten „Richterbriefe" — anweisen, außerdem rügen oder ablösen konnte. Ihre Spitze, das Reichsjustizministerium, beugte sich zunehmend dem rechtsfeindlichen Willen Hitlers, des Polizeichefs Heinrich H i m m l e r und ihrer Gehilfen. Neue, absichtlich unscharf gefaßte Straftatbestände und Strafnormen mit z u m Teil r ü c k w i r k e n d e r Kraft vermehrten die allgemeine Rechtsunsicherheit, die — wenngleich weniger drückend — auch auf dem Feld der bürgerlichen Rechtspflege herrschte. Alles in allem bildete das Recht des NS-Staates — exemplarisch das „Heimtücke"-Gesetz der Reichsregierung von 1934 als bis in die Privatsphäre reichendes Mittel strengster Ü b e r w a c h u n g — nach dem Willen seiner Inhaber ein Instrument zur totalen Herrschaft und zugleich zur möglichen Beseitigung jeder formalen und materialen juristischen Machtschranke. „Es w a r U n - R e c h t im umfassenden Sinne der Verneinung jeder normativen Bindung" (Bernd Rüthers). In der deutschen Rechtsvergangenheit kennt diese Vorstellung der absoluten Instrumentalität des Rechts für den Gewalthaber ohne jede Bindung kein Vorbild. „Es gibt nur ein Recht in der Welt, und dieses Recht liegt in der eigenen Stärke", hatte Hitler vor Parteiführern 1928 erklärt, und 1937 vor dem politischen Führernachwuchs auf der Ordensburg Sonthofen: „Es ist nun so, daß das letzte Recht immer in der Macht liegt . . . " Die nationalsozialistische Rechtsperversion durchsetzte nicht alle Bereiche des staatlichen Lebens gleich stark. Sie stieß durchaus nicht überall auf Gleichgültigkeit oder Bereitwilligkeit, sondern auch auf Widerstände unterschiedlicher Art und Intensität. Den Fällen, in denen etwa die Justiz vor allem durch exzessive Todesurteile Schuld auf sich lud, standen einige wenige gegenüber, in denen rechtstreue und mutige Richter sich bewährten. Die Praxis des Volksgerichtshofs, der eher einer Behörde zur Vernichtung politischer Gegner als einem Gericht glich und dem fanatische Nationalsozialisten präsidierten, besagt nichts über die gewiß unterschiedliche Haltung der Richterschaft insgemein. Sie konnte die Rechtsnot unter der Diktatur und in den Bedrängnissen des Weltkrieges nicht wenden. Doch nach den Zeugnissen aus jener Zeit kann vielen Richtern und Beamten der Vorwurf nicht erspart bleiben, zu w e nig Kritik und M u t an den Tag gelegt, sich auch ohne Zwang angepaßt zu haben. 411
XI. Die nationalsozialistische Rechtsverwüstung Wie gewissenhafte Bürger empfanden, zeigen uns als rühmliches Beispiel aus einer verirrten Epoche die Grundsätze des Kreisauer Kreises für die Neuordnung Deutschlands vom 9. August 1943, deren erstes Ziel hieß: „Das zertretene Recht m u ß wieder aufgerichtet und zur Herrschaft über alle Ordnungen des menschlichen Lebens gebracht werden. U n t e r dem Schutz gewissenhafter, unabhängiger und von Menschenfurcht freier Richter ist es Grundlage für alle zukünftige Friedensgestaltung."
3. Der Widerstand gegen
Hitler
AICHER-SCHOLL, Inge (Hg.): Sippenhaft, Nachrichten und Botschaften der Familie in der Gestapo-Haft nach der Hinrichtung von Hans und Sophie Scholl, 1993; ANGERMAIR, Rupert u. WEINKAUFF, Hermann: Widerstandsrecht, in: Staatslexikon d. Görres-Gesellschaft, Bd. 8, 6 1963, Sp. 670-683; BENZ, Wolfgang u. PEHLE, Walter H. (Hgg.): Lexikon des Widerstandes, 1994; BEYREUTHER, Erich (Hg.): Die Geschichte des Kirchenkampfes in Dokumenten 1933/ 45, 1966; BOVERI, Margret: Der Verrat im 20. Jahrhundert, 4 Bde., 1956-1960 = rowohlts deutsche enzyklopädie 23, 24, 58, 105/106; BRAUBACH, Max: Der Weg zum 20. Juli 1944. Ein Forschungsbericht, 1953; BRETSCHNEIDER, Heike: Der Widerstand gegen den Nationalsozialismus in München 1933 bis 1945, 1968; BUSSMANN, Walter: Der deutsche Widerstand und die „Weiße Rose", 1968; CARTARIUS, Ulrich u. ARETIN, Karl Otmar Frhr. von: Opposition gegen Hitler. Deutscher Widerstand 1933-1945, 1994; DELP, Alfred: Gesammelte Schriften, Bd. 4: Aus dem Gefängnis, hg. v. Roman BLEISTEIN, 1984; DEUTSCH, Harold C: The Conspiracy against Hitler in the Twilight War, 1968; DÖNHOFF, Marion Gräfin: „Um der Ehre willen". Erinnerungen an die Freunde vom 20. Juli, 1994; DÖSCHER, Hans J.: Das Auswärtige Amt im Dritten Reich. Diplomatie im Schatten der „Endlösung", 1987; EHLERS, Dieter: Technik und Moral einer Verschwörung. 20. Juli 1944, 1964; ESTERS, Helmut u. PELGER, Hans: Gewerkschafter im Widerstand, 2 1983; FAUST, Anselm (Hg.): Verfolgung und Widerstand im Rheinland und in Westfalen 1933-1945, 1992; FEST, Joachim: Staatsstreich. Der lange Weg zum 20. Juli, 1994; GOLLWITZER, Helmut, KUHN, Käthe u. SCHNEIDER, Reinhold (Hgg.): Du hast mich heimgesucht bei Nacht. Abschiedsbriefe und Aufzeichnungen des Widerstandes 1933-1945, 7 1985; GOTTO, Klaus u. REPGEN, Konrad (Hgg.): Die Katholiken und das Dritte Reich, 1990; HAMMERSEN, Nicolai: Politisches Denken im deutschen Widerstand — Ein Beitrag zur Wirkungsgeschichte neokonservativer Ideologien 1914-1944, 1993; HASSELL, Ulrich von: Aufzeichnungen vom Anderen Deutschland. Die Hassell-Tagebücher 1938-1944, hg. v. Friedrich Frh.
HILLER VON GAERTRINGEN,
1988;
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von:
Der
Kreis
schließt sich. Aufzeichnungen in der Haft 1944, hg. v. Malve von HASSELL, 1994; HEUSINGER, Adolf: Befehl im Widerstreit. Schicksalsstunden der deut-
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3. Der Widerstand gegen Hitler sehen Armee 1923-1945, 1951; HOCHMUTH, Ursel (Bearb.): Faschismus und Widerstand 1933-1945. Ein Verzeichnis deutschsprachiger Literatur, 1973; HOFFMANN, Peter: Widerstand gegen Hitler und das Attentat vom 20. Juli 1944, 4 1994; HÜRTEN, Heinz: Widerstand, in: Staatslexikon d. Görres-Gesellschaft, Bd. 5, 7 1989, Sp. 986-989; JACOBSEN, Hans-Adolf (Hg.): 20. Juli 1944. Die deutsche Opposition gegen Hitler im Urteil der ausländischen Geschichtsschreibung, 1969; KARPEN, Ulrich u. SCHOTT, Andreas (Hgg.): Der Kreisauer Kreis. Zu den verfassungspolitischen Vorstellungen von Männern des Widerstandes um Helmuth James Graf von Moltke, 1996; KAUFMANN, Arthur (Hg.): Widerstandsrecht, 1972; KLEMPERER, Klemens von, SYRING, Enrico u. ZLTELMANN, Rainer (Hgg.): „Für Deutschland". Die Männer des 20. Juli, 1994; KLUKE, Paul u. STRUBEL, Georg W : Widerstandsbewegungen, in: Staatslexikon d. Görres-Gesellschaft, Bd. 8, 6 1963, Sp. 659-670; KRUGER, Herbert: Allgemeine Staatslehre, 2 1966, 940-988; KUGLER, Martin: Die frühe Diagnose des Nationalsozialismus. Christlich motivierter Widerstand in der österreichischen Publizistik, 1995; LANGBEIN, Hermann: ... nicht wie die Schafe zur Schlachtbank. Widerstand in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern 1938-1945, 1980; LEBER, Annedore, BRANDT, Willy u. BRACHER, Karl Dietrich: Das Gewissen steht auf, 1954; LEYEN, Ferdinand (Prinz) von der: Rückblick zum Mauerwald. Vier Kriegsjahre im OKH, 1965; LILL, Rudolf (Hg.): Hochverrat? Die „Weiße Rose" und ihr Umfeld, 1993; LILL, Rudolf u. KISSENER, Michael (Hgg.): 20. Juli 1944 in Baden und Württemberg, 1994; LILL, Rudolf u. OBERREUTER, Heinrich (Hgg.): 20. Juli. Porträts des Widerstands, 1994; LUTHER, Christian: Das kirchliche Notrecht, seine Theorie und seine Anwendung im Kirchenkampf 1933-1937, 1969; MEHLHAUSEN, Joachim (Hg.): Zeugen des Widerstands. Ehemalige Studenten der Universität Tübingen, die im Kampf gegen den Nationalsozialismus starben, 2 1998; MEINCKE, Jens Peter: Adam von Trott zu Solz vor dem Volksgerichtshof — ein Jurist im Widerstand gegen Hitler, in: N J W 1994, 1838-1843; MEYER, Alexander: Berthold Schenk Graf von Stauffenberg (1905-1944), Völkerrecht im Widerstand, 2001 = Tübinger Schriften zum internationalen und europäischen Recht, Bd. 57; MOHR, Philipp: Hans von Dohnanyi (1902-45) — ein Jurist im Widerstand gegen Hitler, in: N J W 1995, 1259-1267; MOLTKE, Freya von, BALFOUR, Michael u. FRISBY, Julian: Helmuth James von Moltke 1907-1945. Anwalt der Zukunft, 1975; MOLTKE, Helmuth James Graf von: Letzte Briefe aus dem Gefängnis Tegel, s 1959; MOMMSEN, Hans: Alternative zu Hitler. Studien zur Geschichte des deutschen Widerstandes, 2000; MÜLLER, Klaus-Jürgen (Hg.): Der deutsche Widerstand 1933-1945, 2 1990; RAUTENBERG, Erardo Cristoforo: Gedanken zum 20. Juli 1944, in: N J W 2002, 2153-2155; REICH, Ines: Carl Friedrich Goerdeler. Ein Oberbürgermeister gegen den NS-Staat, 1997; RINGS, Werner: Leben mit dem Widerstand. Anpassung und Widerstand in Hitlers Europa 1939-1945, 1979; RITTER, Gerhard: Carl Goerdeler und die deutsche Widerstandsbewegung, 4 1984; ROON, Ger van: Neuordnung im Widerstand. Der Kreisauer Kreis innerhalb der deutschen Widerstandsbewegung, 1967; ROON, Ger van: Widerstand im Dritten Reich. Ein Überblick, 6 1994; ROTHFELS, Hans: Die deutsche Opposition gegen Hitler. Eine Würdigung, Ausg. 1986 = Fischer TB 4354; SCHADT, Jörg (Bearb.): Verfolgung und Wider-
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XI. Die nationalsozialistische Rechtsverwüstung stand unter dem Nationalsozialismus in Baden. Die Lageberichte der Gestapo und des Generalstaatsanwalts Karlsruhe 1 9 3 3 - 1 9 4 0 , 1 9 7 6 ; SCHEURIG, Bodo: Henning von Tresckow. Eine Biographie, Ausg. 1990 = Ullstein Buch Nr. 3 3 1 3 0 ; SCHLABRENDORFF, Fabian von: Offiziere gegen Hitler. Nach einem Erlebnisbericht von Fabian von Schlabrendorff bearb. u. hg. v. Gero von S. GAEVERNITZ, Ausg.
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(Hgg.): Der Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Die deutsche Gesellschaft und der Widerstand gegen Hitler, 3 1 9 9 4 ; SCHMIDT, Walter A. (Hg.): Damit Deutschland lebe. Ein Quellenwerk über den deutschen antifaschistischen Widerstandskampf 1 9 3 3 bis 1 9 4 5 , 2 1 9 5 9 ; SCHMITTHENNER, Walter u. B u C H HEIM, Hans (Hgg.): Der deutsche Widerstand gegen Hitler. Vier historischkritische Studien, 1 9 6 6 ; SCHNEIDER, Hans: Widerstand im Rechtsstaat, 1 9 6 9 ; SCHOLL, Inge: Die weiße Rose, Ausg. 1 9 9 3 = Fischer TB 1 1 8 0 2 ; SCHÜLER, Barbara: „Im Geiste der Gemordeten ...": Die „Weiße Rose" und ihre Wirkung in der Nachkriegszeit, 2 0 0 0 = Politik- und Kommunikationswissenschaftliche Veröffentlichungen der Görres-Gesellschaft, Bd. 19; STARCK, Christian: Widerstandsrecht, in: Staatslexikon d. Görres-Gesellschaft, Bd. 5, 7 1 9 8 9 , Sp. 9 8 9 - 9 9 3 ; STEINBACH, Peter u. T u C H E L , Johannes (Hgg.): Widerstand gegen den Nationalsozialismus, 1994; UEBERSCHÄR, Gerd R. (Hg.): Der 20. Juli 1944. Bewertung und Rezeption des deutschen Widerstandes gegen das NSRegime, 1 9 9 4 ; WEINKAUFF, Hermann: Über das Widerstandsrecht, 1 9 5 6 ; WOLGAST, Eike: Widerstand im Dritten Reich, in: Heidelberger Jahrb. 26, 1 9 8 2 , 1 - 2 2 ; ZELLER, Eberhard: Geist der Freiheit. Der 2 0 . Juli, 4 1 9 6 3 ; ZELLER, Eberhard: Oberst Claus Graf Stauffenberg. Ein Lebensbild, 1994.
Die Frage nach dem Recht oder gar der Pflicht des einzelnen zum Widerstand gegen staatliches Unrecht gehört seit der griechisch-römischen Antike zu den anspruchsvollsten, in der Geschichte je und je wiederkehrenden Themen. Im terroristisch-totalitären Staat der Moderne gewann die Widerstandsproblematik theoretisch wie praktisch noch an Gewicht. Das Widerstandsrecht gibt dem Individuum die Möglichkeit, an letzten Maßstäben zu prüfen, ob im Verhältnis zur Staatsgewalt seine Unterworfenheit überhaupt oder der Gehorsam im einzelnen Fall nicht höheren Normen widersprechen; es verleiht gegebenenfalls die Befugnis, die Macht der Obrigkeit zu brechen oder ihr den Gehorsam zu verweigern. Uber die Voraussetzungen, die Aktivlegitimation und die Mittel des Widerstandsrechts entwickelten Philosophie und Rechtsdenken im Laufe der Jahrhunderte durchaus unterschiedliche Auskünfte. Johann Calvin und Johannes Althusius etwa beschränkten das Recht des aktiven Widerstandes auf Staatsrepräsentanten, auf öffentliche Wächter; Privatleute müßten fliehen oder dulden. Was die Wahl der Mittel angeht, so erlaubte vor allem Martin Luther in enger Exegese von Römer 13 und entgegen alter deutscher Tradition dem Untertan nur den passiven 414
3. Der Widerstand gegen Hitler Ungehorsam — A u s d r u c k christlicher Ergebung in den unerforschlichen Ratschluß Gottes, der sich des Gewaltherrschers w o h l auch als Zuchtrute bedienen mag. In derselben Epoche der Glaubenskämpfe verfochten die Monarchomachen das Gegenteil: die Pflicht zu aktivem W i derstand, der bis zur Absetzung des rechtsbrüchigen oder irrgläubigen Fürsten und bis z u m Tyrannenmord gehen konnte. Denker der A u f k l ä rungszeit, unter ihnen vor allem Immanuel Kant, verwiesen darauf, daß das Widerstandsrecht — zur M a x i m e angenommen — alle rechtliche Verfassung unsicher mache. In der Tat läßt sich der Widerstand nicht als regulärer Behelf, sondern nur als ultima ratio verstehen. Das Problem der unrechten Staatsgewalt und des unrichtigen Befehls kann der Gesetzgeber im Grunde nicht vorsorglich und befreiend lösen. „Der Widerstand muß einen elementaren Charakter behalten, w e n n er nicht u m seinen sittlichen Wert und damit u m die Möglichkeit seiner Rechtfertigung gebracht w e r d e n soll. Er ist seinem Wesen nach ein ursprünglicher Aufstand der sittlichen Persönlichkeit in ihrer letzten Gewissensnot. Ein solcher Vorgang ist in seinem Kern nicht zu erfassen. Diese seine N a t u r verbietet es, ihn zu instituieren und zu normieren: Widerstand kann nicht als Vollziehung eines staatlichen Gesetzes gegen ein anderes staatliches Gesetz begriffen werden. Als letzte und eigenste Entscheidung der sittlichen Persönlichkeit hat er seinen Standort notwendig außerhalb von Staat, Verfassung und Gesetz" (Herbert Krüger). Das Widerstandsrecht gilt im äußersten Fall. Darauf hinzuweisen, verlangt der nicht selten modisch-leichtfertige U m g a n g mit dem Wort. „Widerstand im totalitären Staat ist . . . kein bloßer Kampf u m Machtteilhabe oder Machtgewinn, . . . er bezweckt nicht lediglich einen Wechsel der Machtinhaber, sondern steht im Zeichen der Auflehnung gegen die Prinzipien und M a x i m e n der bestehenden Herrschaftsordnung" (Eike Wolgast). Die hochdifferenzierte Herrschafts- und Friedensordnung des demokratischen Rechtsstaats, der — auf durchgängige Gesetzlichkeit angelegt — seine Legitimität auf die Uberzeugung der großen Mehrheit seiner Angehörigen von der Zweckmäßigkeit oder jedenfalls Erträglichkeit dieses Systems gründet, bietet bei der Vielzahl ihrer Rechtsbehelfe die klassische Grenzsituation des Widerstandes nicht. Diese der Gegenwart vertrauten Züge des Rechtsstaats indessen hatte das Naziregime während seiner zwölfjährigen Herrschaft nahezu ausgetilgt. Der in verdecktem Staatsstreich zur Macht gelangte Nationalsozialismus hatte in einem sich folgerichtig steigernden Prozeß durch Lüge, Hetze, Gewalt und organisiertes Verbrechen die absolute Führerdiktatur aufgerichtet, das Volk politisch entmündigt, es der Grundrechte und überhaupt des Rechtsschutzes beraubt, ihm terroristisch eine Einheitsgesinnung verordnet — w a s der obrigkeitlich dekretierte allgemeine 415
XI. Die nationalsozialistische Rechtsverwüstung „Heil H i t l e r " - G r u ß versinnbildlichte —, und es schlechthin entwürdigt. Der Staatsführer hatte — verantwortungslos angreifend — den Weltkrieg begonnen, in ihm maßlose Greuel begehen lassen und schließlich das Volk in seinen eigenen Untergang mit hineinzureißen gesucht. Diese U m s t ä n d e begründeten eine Widerstandslage, zumal der nationalsozialistische Staats- und Parteiaufbau keinerlei legale Möglichkeit der Abhilfe eröffnete. Die Bundesrepublik Deutschland hat denn auch die Erlaubtheit des Widerstandes gegen den Nationalsozialismus grundsätzlich anerkannt. So hat der Bundesgesetzgeber im Rahmen der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts den Widerstand gegen Hitlers Gewaltregime honoriert. Das Bundesentschädigungsgesetz von 1953 ist nach seiner Präambel beschlossen w o r d e n „in Anerkennung der Tatsache, . . . daß der aus Uberzeugung oder u m des Glaubens oder Gewissens willen gegen die nationalsozialistische Gewaltherrschaft geleistete Widerstand ein Verdienst u m das Wohl des Deutschen Volkes und Staates w a r " . Die Anerkennung geleisteten Widerstands als Grundlage für Wiedergutmachungsansprüche hat der Bundesgerichtshof in einem Urteil v o m 14. Juli 1961 mit dem Hinweis darauf legitimiert, daß der Widerstandskämpfer „im Sinne der wahren, an ihrer Verwirklichung gewaltsam verhinderten übergesetzlichen Rechtsordnung" gehandelt habe. Das Urteil hält die Widerstandstat für rechtmäßig „im Sinne einer Offenbarmachung und Verwirklichung des wahren Rechts". Das Naturrecht, auf das der Bundesgerichtshof auch sonst gelegentlich zurückgriff, erscheint hier als der letztlich tragende Grund des Widerstandes gegen staatliches Unrecht. In der Nachkriegsgeschichte seit 1945 blieb der zeithistorische Blick auf den deutschen Widerstand gegen Hitler lange sowohl im In- als auch und besonders im Ausland getrübt und beengt. Die Atmosphäre des Getarnten und Verfemten, in welcher der Widerstand gewirkt hatte, w a r dafür ebenso mitursächlich w i e der verzerrende Einfluß des Parteienstreits, der Leidenschaft, des Ressentiments und der politischen Propaganda. Inzwischen hat die zeitgeschichtliche Arbeit deutscher und auch ausländischer Forscher zu geklärten Einsichten geführt. Es gilt den Widerstand in allen seinen Richtungen von seinen zeitgebundenen politischen Voraussetzungen aus zu verstehen. Nach einer wesentlichen und gesicherten Erkenntnis w a r die deutsche Opposition gegen Hitler zahlenmäßig verbreiteter als vielfach zunächst zugestanden. Es verschrieben sich ihr nicht allein Mitglieder alter Adelsfamilien, ebensowenig blieb sie — w i e eine Gegenthese hieß — von der N ä h e z u m Kommunismus abhängig. Die deutsche Opposition gegen Hitler w i r k t e breit gestreut und ausgedehnter, als die Gegebenheiten eines terroristischen Regimes 416
3. Der Widerstand gegen Hitler es erwarten ließen. „Sie entwickelte sich nicht nur durch verschiedene Stufen der Nicht-Gleich-Schaltung und Nicht-Ubereinstimmung hindurch: von der Feindseligkeit, die hinter Gefängnismauern und Stacheldraht erstickt w u r d e — aber auch da bis z u m Ende hin ihre bestimmten lagerbedingten Ausdrucksformen fand —, v o m Abseitsstehen, Sich-integer-Halten und von dem Schweigen einer potentiellen Opposition, v o m humanitären Protest und von der geheimen Hilfe, die Opfern der Verfolgung gewährt wurde, zur Gegenpropaganda der Illegalen, zu ihrer Untergrundtätigkeit, z u m geistig-religiösen Angriff auf die Grundgedanken aller totalitären Systeme, zu aktivem Planen und politischem Widerstand" (Hans Rothfels). Nicht erst die drohende militärische Niederlage Deutschlands trieb die Opposition z u m Handeln. Sie nahm vielmehr lange vor dem Krieg ihren Widerstand auf und erreichte ihren ersten H ö h e p u n k t mit den Versuchen, dem Krieg vorzubeugen. Führende Widerstandskämpfer hielten einen Sieg Hitlers, des „Erzfeindes der ganzen Welt" und „Antichristen", für die größte aller möglichen Katastrophen. „Ein Ende muß diesem Unstaat bald bereitet werden", forderte ein Flugblatt der Geschwister Scholl und ihres Freundeskreises der „Weißen Rose", „ein Sieg des faschistischen Deutschland in diesem Kriege hätte unabsehbare, fürchterliche Folgen. Nicht der militärische Sieg über den Bolschewismus darf die erste Sorge für jeden Deutschen sein, sondern die Niederlage der Nationalsozialisten. Dies muß unbedingt an erster Stelle stehen." W ä h r e n d Offiziere den militärischen A r m der Widerstandsbewegung bildeten, bemaß sich das P r o g r a m m vom Politischen und Ethischen her, gaben den Anstoß zur Tat im wesentlichen moralische und religiöse Beweggründe. A m planvollen Widerstand beteiligten sich bürgerliche und militärische, aristokratische und proletarische, geistliche und weltliche Kräfte. Zur Massenbewegung konnte die Opposition gegen Hitler in dessen Polizeistaat sich nicht entwickeln. Doch sie brachte aus ihren Reihen eine hinreichende Zahl von Persönlichkeiten hervor, welche die Regierung verantwortlich hätten übernehmen können, und sie unterhielt ein weites N e t z w e r k von Verbindungen und Stützpunkten. Der deutsche Widerstand gegen Hitler, ein politischer Prozeß und Lernvorgang, verband Liberale, Sozialisten und Konservative in ihrer gemeinsamen Grundabsicht, Freiheit und Menschenwürde, „das Bild des Menschen im Herzen unserer Mitbürger" (Helmuth James Graf von M o l t k e ) wieder herzustellen. Er hinterließ Anstöße und Imperative, die weder an Lokalität noch an Nationalität gebunden blieben und vorausweisenden Charakter besaßen. Letzteres gilt gewiß nicht im Blick auf den Widerstandsvorbehalt, den der Bundestag 1968 als juristisch nicht unzweifelhafte Kompensation für die Notstandsgesetze dem Arti417
XI. Die nationalsozialistische Rechtsverwüstung kel 20 des Grundgesetzes als vierten Absatz anfügte, sondern angesichts des gültigen Beitrags der deutschen Opposition zu einer Aufgabe, die sich aus der Bedrohung des Menschen durch totalitäre Systeme der einen oder anderen A r t im technischen Zeitalter ergibt. Die Antriebe und Imperative der Widerstandsbewegung haben, wie Hans Rothfels zu Recht betont, „jene Uberzeugungsgemeinschaften über Landesgrenzen hin möglich gemacht, die das christliche Mittelalter gekannt hat und in ihrer Weise auch noch die Zeit der Aufklärung, die aber — von der kommunistischen Internationale abgesehen — einem wesentlich nationalstaatlich und bürgerlich gestimmten Jahrhundert fremd gewesen w a ren". Die führenden Männer der deutschen Opposition dürfen als die Vorhut eines neuen, von der nationalen Zerrissenheit und von jeder Gewaltherrschaft freien Europa gelten. A u s dem Dilemma vieler deutscher Widerstandskämpfer, die im Dienste von Freiheit und Menschenwürde die militärische Niederlage des Vaterlandes herbeisehnen mußten, bot sich nur dieser Weg, der über den Sturz des Naziregimes hinausführte zu dem positiven und allgemeineren Ziel einer übernationalen Rechtsund Friedensordnung. Die Geschichte des Widerstands gegen den Nationalsozialismus läßt sich nicht auf eine einfache Formel bringen. Der Widerstand bildete sich vielmehr aus als Gegenstück zur jeweiligen Form des Regimes und durchlief alle Stufen von der parteipolitischen Opposition und der illegalen Propaganda über den Nichtkonformismus der „inneren Emigration", den persönlichen Protest aus empörtem Gewissen, die bedingte Kollaboration im Interesse des „geringeren Übels" bis hin z u m Staatsstreich und z u m Attentat. N a c h der Machtübernahme setzten die großen verbotenen Parteien der Linken, SPD und KPD, den Kampf gegen die N S D A P im Untergrund fort. Die SPD konnte ihre Parteizentrale noch vor der Auflösung ins Ausland verlegen; von Prag und später von Paris aus suchte sie ihren verbliebenen Mitgliederstamm zusammenzuhalten, zu informieren, zu reorganisieren und dadurch dem Naziterror entgegenzuwirken. Diese illegale Parteitätigkeit erlahmte seit 1935 w e g e n ihrer Erfolglosigkeit und der vielen Opfer, welche die Konzentrationslager forderten. Außerdem erschwerte der Wirtschaftsaufschwung im Gefolge der Hitlerschen Kriegsrüstung die Arbeit auf breiter Grundlage. Eine größere Welle öffentlichen Widerstandes ging zuerst von den christlichen Kirchen aus. Der Protestantismus sah sich von der B e w e gung der „Deutschen Christen" unterwandert, welche die Gleichschaltung von Staat und Kirche verlangten, einen Reichsbischof forderten und das Arierprinzip verfochten. Dagegen wehrten sich — geistig geführt von Karl Barth und Martin Niemöller — ein Pfarrernotbund und 418
3. Der Widerstand gegen Hitler die Bekennende Kirche, die sich außerhalb der teilweise v o m Nationalsozialismus durchdrungenen landeskirchlichen Behörden zusammenfand und nach eigenem Notrecht lebte. Im Kirchenkampf bewährte sich die Bekennende Kirche als Trägerin eines Widerstandsgeistes, der zugleich im politischen Bereich die Gewissen schärfte. A u c h in der katholischen Kirche entzündete sich der Widerstand gegen Hitler, der das Reichskonkordat nach Kräften aushöhlte, obwohl dessen Abschluß seiner Regierung im In- und Ausland politischen Anfangskredit verschafft hatte. Der Leiter der Katholischen Aktion, Erich Klausener, protestierte auf dem Berliner Katholikentag unmißverständlich gegen Rassenpolitik und nationale Überheblichkeit. Kurz darauf, am 30. J u n i 1934, dem Tag der „großen Bereinigung", an dem Hitler aus Anlaß der sogeheißenen Röhm-Revolte in Bayern gewaltsam gegen die Kräfte der Opposition vorging, fiel dieser M a n n des christlichen Widerstands in seinem Amtszimmer des Reichsverkehrsministeriums der Kugel eines gedungenen Mörders z u m Opfer. Der Bischof von Münster, Clemens August Graf von Galen, trat öffentlich dem nationalsozialistischen Euthanasieprogramm entgegen. Andere Geistliche taten es ihm gleich, so der Berliner Dompropst Bernhard Lichtenberg, der sich gegen die nationalsozialistischen Verbrechen an Geisteskranken und an jüdischen Mitbürgern auflehnte und dafür nach zweijährigem Gefängnis auf dem Transport in das Konzentrationslager Dachau starb. Im Staatsdienst, aus w e l c h e m seit dem sinnverkehrten „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums" v o m 7. April 1933 die nach nationalsozialistischem Maßstab politisch unzuverlässigen und nichtarischen Mitarbeiter hatten ausscheiden müssen, begann der Widerstand oft mit fachlichen Bedenken gegen die Mißwirtschaft Hitlers. Finanzund Verwaltungssachverständige befürchteten früh einen allgemeinen Zusammenbruch des Staatslebens, so der Leipziger Oberbürgermeister und Reichspreiskommissar Carl Friedrich Goerdeler, der langjährige Wirtschaftsminister und Reichsbankpräsident Hjalmar Schacht, der preußische Finanzminister Johannes Popitz, der Polizeipräsident Fritz Dietlof Graf von der Schulenburg. Angehörigen des diplomatischen Dienstes gab die abenteuerliche Außenpolitik Hitlers den Anstoß zur Opposition: Ulrich von Hassell, der deutsche Botschafter in Rom, Friedrich Werner Graf von der Schulenburg, Botschafter in Moskau, die Legationsräte A d a m von Trott zu Solz und Hans-Bernd von Haeften verdienen neben anderen genannt zu werden. Viele dieser Männer setzten alsbald ihr Leben gegen das als verbrecherisch erkannte R e g i m e ein. Andererseits hat das Auswärtige A m t als Institution durchaus die verbrecherische Politik Hitlers mitgetragen.
419
XI. Die nationalsozialistische Rechtsverwüstung Eine Schlüsselposition im Gegeneinander der Kräfte gewann das Heer, das sich die Geschlossenheit seiner führenden Offiziere lange bewahrte. Die Ü b e r n a h m e des unmittelbaren Oberbefehls durch Hitler im Februar 1938 zerbrach sie. Zugleich enthüllte sich die z u m Krieg treibende Expansionspolitik des „Führers". Dagegen lehnte sich der Chef des Generalstabes des Heeres L u d w i g Beck aus militärpolitischen und ethischen Gründen auf. D e m Angriffsplan Hitlers gegen die Tschechei trat der Generalstabschef mit Entschiedenheit entgegen. „Es ist ein Mangel an Größe und an Erkenntnis der A u f g a b e " , so führte Beck gegenüber dem Oberbefehlshaber des Heeres, Walter von Brauchitsch, aus, „wenn ein Soldat in höchster Stellung in solchen Zeiten seine Pflichten und A u f g a b e n nur in dem begrenzten Rahmen seiner militärischen Aufträge sieht, ohne sich der höchsten Verantwortung vor dem gesamten Volk bewußt zu werden. Außergewöhnliche Zeiten verlangen außergewöhnliche Handlungen." Damit hatte Beck das Problem der militärischen Gehorsamspflicht und des Widerstandes angesprochen, die Staatsstreichplanung in Gang gesetzt. Sein Nachfolger Franz Halder führte sie im Spätsommer 1938 fort, im Einvernehmen mit hohen Offizieren, w i e dem über den Truppeneinsatz entscheidenden Kommandeur des Berliner Wehrkreises, General Erwin von Witzleben, und einer Gruppe jüngerer Diplomaten. Wenn die Politik des Regimes sich in den A u g e n der Öffentlichkeit als unzweifelhaft z u m Kriege treibend erwies, so nahmen die seit 1937 einander nähergekommenen Gruppen von Verschwörern einmütig an, dann werde der Zauber weichen, den die Erfolge Hitlers — von der R ü c k k e h r zur Wehrfreiheit über die Rheinlandbesetzung bis hin z u m Anschluß Österreichs — auf viele Bürger ausgeübt hatten, dann werde sich die Naziherrschaft stürzen lassen. Die Verschwörer setzten auf ein Zusammenwirken mit der englischen Regierung. Die Schwäche ihres Plans lag freilich in der Annahme, die westlichen Demokratien w ü r d e n sich Hitlers Vorgehen gegen die Tschechoslowakei widersetzen und dadurch die drohende Gefahr eines allgemeinen Krieges sichtbar machen. Diese Hoffnung erfüllte sich trotz der kühnen politischen Initiativen nicht, welche die Widerstandskreise im Auswärtigen A m t und in der A b w e h r u m General Hans Oster ergriffen. Mit dem verhängnisvollen Münchener A b k o m m e n vom September 1938 zerrann die Möglichkeit eines Staatsstreichs, der zur Entmachtung Hitlers hatte führen sollen. Damit entfiel die Grundlage für ein Unternehmen, das Europa befrieden und das Recht im zwischen- w i e im innerstaatlichen Bereich wiederherstellen wollte. Der Beginn des Krieges belastete den Widerstandswillen durch die Problematik des Zusammenwirkens mit dem äußeren Feind. Je offenkundiger indes der Krieg den verbrecherischen Charakter des Hitler420
3. Der Widerstand gegen Hitler Regimes machte, u m so notwendiger erschien der Opposition ein entschlossenes Handeln. Die Empörung fand weithin sichtbaren A u s d r u c k im Widerstand der „Weißen Rose" an der Universität München, w o die Geschwister Hans und Sophie Scholl und ihre Freunde 1942/43 in Flugblättern z u m Kampf gegen die Gewaltherrschaft aufriefen. Professor Kurt Huber, der zu diesem Kreis gehörte und mit ihm für seine Uberzeugung in den Tod ging, erklärte in seinem Schlußwort vor dem Volksgerichtshof: „Was ich bezweckte, w a r die Weckung der studentischen Kreise, nicht durch eine Organisation, sondern durch das schlichte Wort, nicht zu einem A k t der Gewalt, sondern zur sittlichen Einsicht in bestehende schwere Schäden des politischen Lebens. R ü c k kehr zu klaren, sittlichen Grundsätzen, z u m Rechtsstaat, zu gegenseitigem Vertrauen von Mensch zu Mensch, das ist nicht illegal, sondern umgekehrt die Wiederherstellung der Legalität. . . . Es gibt für alle äußere Legalität eine letzte Grenze, w o sie unwahrhaftig und unsittlich wird. Dann nämlich, w e n n sie z u m Deckmantel einer Feigheit wird, die sich nicht getraut, gegen offenkundige Rechtsverletzung aufzutreten. Ein Staat, der jegliche freie Meinungsäußerung unterbindet und jede, aber auch jede sittlich berechtigte Kritik, jeden Verbesserungsvorschlag als ,Vorbereitung z u m Hochverrat' unter die furchtbarsten Strafen stellt, bricht ein ungeschriebenes Recht, das ,im gesunden Volksempfinden' noch immer lebendig w a r und bleiben m u ß . . . " Daß Professor Huber die Wirklichkeit des Dritten Reiches nicht zu düster beschrieb, mag ein Urteil des Volksgerichtshofs vom 23. August 1943 belegen: ein Beispiel für viele. Es erkannte „für Recht" gegen einen Regierungsrat und Doktor des Rechts: „Theodor Korselt hat in Rostock in der Straßenbahn k u r z nach der Regierungsumbildung in Italien gesagt, so müsse es hier auch kommen, der Führer müsse zurücktreten, denn siegen könnten w i r ja nicht mehr und alle wollten w i r doch nicht bei lebendigem Leibe verbrennen. Als M a n n in führender Stellung und mit besonderer Verantwortung hat er dadurch seinen Treueid gebrochen, unsere nationalsozialistische Bereitschaft zu mannhafter Wehr beeinträchtigt und damit unserem Kriegsfeind geholfen. Er hat seine Ehre für immer eingebüßt und w i r d mit dem Tode bestraft . . . " In der deutschen Opposition gegen Hitler entfaltete der Kreisauer Kreis starke und in die Zukunft gerichtete geistige Kräfte. Im Mittelpunkt stand Helmuth James Graf von Moltke, ein glänzender Jurist, der während des Krieges beim O b e r k o m m a n d o der Wehrmacht als Sachverständiger für Kriegs- und Völkerrecht diente und von dessen Gut Kreisau in Schlesien der Widerstandskreis seinen N a m e n empfing. U n t e r den Mitgliedern befanden sich noch einige weitere Aristokraten und Träger alter preußischer N a m e n wie Peter Graf Yorck von Warten421
XI. Die nationalsozialistische Rechtsverwüstung burg. Aktiv neben ihnen standen entschiedene Sozialisten: Carlo M i e rendorff, sozialdemokratischer Reichstagsabgeordneter und von 1933 bis 1937 im Konzentrationslager, der sozialdemokratische Journalist Theodor Haubach, der nach der „Machtergreifung" gleichfalls im Konzentrationslager litt, der Pädagoge Adolf Reichwein und der ehemalige Führer der Lübecker Sozialdemokratie und Reichstagsabgeordnete J u lius Leber. Das religiöse Element des Kreisauer Kreises verkörperten unter anderen der Münchener Jesuitenpater Alfred Delp, von Seiten der Bekennenden Kirche Harald Poelchau und Eugen Gerstenmaier. Zum Kreise zählte ferner der Breslauer Rechtsprofessor Hans Peters. Die Verbindung mit Carl Goerdeler lief über Fritz-Dietlof Graf von der Schulenburg, diejenige zur Opposition im Auswärtigen A m t über den Legationsrat Hans-Bernd von Haeften und dessen Freund A d a m von Trott zu Solz. Die Fäden zur militärischen Opposition spannen Peter Graf Yorck von Wartenburg und Claus Graf Schenk von Stauffenberg. Angesichts der Leistungen und Opfer, welche die Männer und Frauen des Widerstandes brachten, erscheint jede A u s w a h l von N a m e n willkürlich. Die hier genannten stehen zugleich für viele andere gleichen Ranges. Das anspruchsvolle Denken und Planen der Kreisauer Gruppe belegen zahlreiche überlieferte Dokumente: „Wir können nur erwarten", schrieb M o l t k e 1942 an einen englischen Freund, „unser Volk z u m Sturz dieser Regierung des Schreckens und Grauens zu bewegen, w e n n w i r imstande sind, ein Ziel jenseits der lähmenden und hoffnungslosen nächsten Zukunft zu zeigen. . . . Für uns ist Europa weniger ein Problem von Grenzen und Soldaten, von wasserkopfartigen Organisationen und großartigen Planungen. Die eigentliche Frage, vor die Europa nach dem Krieg gestellt sein wird, ist die, wie das Bild des Menschen im Herzen unserer Mitbürger wiederhergestellt werden kann. Dies aber ist eine Frage der Religion und der Erziehung, der organischen Verbundenheit mit Beruf und Familie, des rechten Verhältnisses zwischen Verantwortung und Anspruch." Die Leitideen der Kreisauer galten — w i e ihr Erforscher Ger van Roon herausgearbeitet hat — dem Versuch der Uberw i n d u n g überholter Gegensätze und einer zukunftsorientierten Erneuerung der sozialwirtschaftlichen und politischen Struktur mit dem Menschen als Mittelpunkt. Der Wiederaufbau sollte sich auf „die freiheitlich gesonnene Arbeiterschaft" und auf die christlichen Kirchen stützen. Den totalitären Anspruch des Staates sollte die Hingabe an letzte und unbedingte sittliche Forderungen überwinden. Peter Graf Yorck von Wartenburg bezeugte diese Gegenposition, w e n n er vor dem Volksgerichtshof unerschrocken nannte, w a s ihn in Konflikt mit dem Nationalsozialismus gebracht hatte: „Das Wesentliche ist der Totalitäts422
3. Der Widerstand gegen Hitler anspruch des Staates gegenüber dem Staatsbürger unter Ausschaltung seiner religiösen und sittlichen Verpflichtungen vor Gott." In diesem Satz liegt ein Kernstück des Programms der Kreisauer beschlossen. Die prinzipiellen Punkte ihrer Arbeit erschienen in unterschiedlichen Versionen, die der Kreis nie endgültig formulierte und beschloß. Die Grundgedanken freilich blieben sich gleich. Der Entwurf vom 9. A u gust 1943 gab ihnen unter anderem folgenden Ausdruck: „Die Regierung des Deutschen Reiches sieht im Christentum die Grundlage für die sittliche und religiöse Erneuerung unseres Volkes, für die U b e r w i n dung von H a ß und Lüge, für den N e u a u f b a u der europäischen Völkergemeinschaft. Der Ausgangspunkt liegt in der verpflichtenden Besinnung des Menschen auf die göttliche Ordnung, die sein inneres und äußeres Dasein trägt. Erst w e n n es gelingt, diese Ordnung z u m M a ß stab der Beziehungen zwischen Menschen und Völkern zu machen, kann die Zerrüttung unserer Zeit ü b e r w u n d e n und ein echter Friedenszustand geschaffen werden. Die innere Neuordnung des Reiches ist die Grundlage zur Durchsetzung eines gerechten und dauerhaften Friedens. Im Zusammenbruch bindungslos gewordener, ausschließlich auf die Herrschaft der Technik gegründeter Machtgestaltung steht vor allem die europäische Menschheit vor dieser Aufgabe. Der Weg zu ihrer Lösung liegt offen in der entschlossenen und tatkräftigen Verwirklichung christlichen Lebensgutes. . . . Die Arbeit muß so gestaltet werden, daß sie die persönliche Verantwortungsfreudigkeit fördert und nicht verkümmern läßt. Neben der Gestaltung der materiellen Arbeitsbedingungen und fortbildender Berufsschulung gehört dazu eine w i r k s a m e Mitverantw o r t u n g eines jeden an dem Betrieb und darüber hinaus an dem allgemeinen Wirtschaftszusammenhang, zu dem seine Arbeit beiträgt. Hierdurch soll er am Wachstum einer gesunden und dauerhaften Lebensordnung mitwirken, in der der einzelne, seine Familie und die Gemeinschaften in ausgeglichenen Wirtschaftsräumen ihre organische Entfaltung finden können. Die Wirtschaftsführung muß diese Grunderfordernisse gewährleisten. Die persönliche politische Verantwortung eines jeden erfordert seine mitbestimmende Beteiligung an der neu zu belebenden Selbstverwaltung der kleinen und überschaubaren Gemeinschaften. In ihnen verwurzelt und bewährt, muß seine Mitbestimmung im Staat und in der Völkergemeinschaft durch selbstgewählte Vertreter gesichert und ihm so die lebendige Uberzeugung der Mitverantwortung für das politische Gesamtgeschehen vermittelt werden." Im Herbst 1943 trat eine neue Persönlichkeit in den Kreis der Widerstandskämpfer: der schwäbischem Adel entstammende, hochbegabte Berufsoffizier Claus Graf Schenk von Stauffenberg. „Es waren gerade die staatlichen Morde, insbesondere die Judenverfolgung und der Kommis423
XI. Die nationalsozialistische Rechtsverwüstung
sartötungsbefehl, die den Brüdern Stauffenberg die Augen für die Natur Hitlers und für die des Krieges öffneten: ohne Auschwitz kein Zwanzigster Juli" (Wolfgang Graf Vitzthum). „Wir haben uns vor Gott und unserem Gewissen geprüft, es muß geschehen, denn dieser Mann ist das Böse an sich", erklärte Stauffenberg gegenüber dem christlichen Gewerkschafter und späteren Bundesminister Jakob Kaiser, als er ihm darlegte, daß nach seiner und seiner nächsten Berater Ansicht alles gewagt und versucht werden müsse, Hitler zu beseitigen. Als sich Stauffenberg zehn Monate vor der Tat des 20. Juli 1944, dem letzten tragischen Höhepunkt des deutschen Widerstandes, dazu entschloß, selbst die Ausführung des jahrelang erwogenen und mehrfach bis ins einzelne vorbereiteten Attentats auf den Diktator in die Hand zu nehmen, stand er im Alter von 36 Jahren. Er dachte sein Unternehmen als Initiative für einen gelenkten Umsturz, bei dem das Militär für kurze Zeit die Gewalt übernehmen sollte zur Ausschaltung der SS, während danach alsbald zivile Gewalt die neue Ordnung einzuleiten und — bei nach Möglichkeit gehaltenen Fronten — den Frieden herbeizuführen hätte. Am 1. Juli 1944 brachte den entschlossenen, bei Fronteinsätzen schwer verwundeten und zum Invaliden gewordenen Offizier seine neue Funktion als Chef des Generalstabes beim Oberbefehlshaber des Ersatzheeres in unmittelbare Nähe von Hitler. Als Deckmantel für die Vorbereitungen des Anschlages auf den „Führer" dienten die „Walküre"-Pläne des Ersatzheeres gegen innere Unruhen. Verbindungen zu den Kreisen um Goerdeler und Beck, zu Leber und Friedrich Werner Graf von der Schulenburg waren hergestellt. Das Attentat, das er sich selbst vorbehalten hatte, konnte Stauffenberg bei einem Lagevortrag im Hauptquartier Rastenburg am 20. Juli 1944 ausführen, um dann sogleich nach Berlin zurückzufliegen. Das Attentat war „eine gebotene Tat, weil Hitler zu dieser Zeit längst als Massenmörder in Erscheinung getreten war und es galt, durch seinen Tod weitere Massenmorde zu verhindern" (Erardo Cristofor Rautenberg). Der in der Reichshauptstadt ausgelöste Staatsstreich schlug indessen nach wenigen Stunden fehl, weil Stauffenbergs Zeitbombe Hitler nur leicht verletzt hatte, der zentrale Nachrichtenapparat seines Hauptquartiers intakt blieb und der Propagandaminister und spätere Generalbevollmächtigte für den totalen Kriegseinsatz Joseph Goebbels in Berlin das Wachbataillon gegen die Verschwörer einzusetzen wußte. Auch ließen die Verschwörer unter dem Schock der Nachricht vom Uberleben des Diktators die notwendige Entschlossenheit vermissen, die vielleicht noch alles hätte retten können. Der Aufstand des Gewissens mißlang. Hitlers Strafjustiz ließ aus dem Kreis der unmittelbar Beteiligten etwa zweihundert Todesurteile vollstrecken. Das deutsche Verhängnis ging weiter, forderte neue unermeßliche Opfer, ehe nach der 424
1. Rechtsentwicklungen im Zeichen des Grundgesetzes völligen Niederlage des Reiches im Weltkrieg S t a u f e n b e r g s Leitmotiv und Vermächtnis sich vorerst wenigstens im westlichen und alsbald wieder freien Teil Deutschlands erfüllen konnte: „Wir wollen eine neue O r d n u n g , die alle D e u t s c h e n zu Trägern des Staates macht und ihnen R e c h t und Gerechtigkeit verbürgt." Letztlich ging es also u m die „Wiederherstellung der Politik, damit der Fähigkeit und Bereitschaft der Bürger, jenseits des Zynismus voraussetzungsloser G e w a l t - und Machtpolitik sowie extremer M e n s c h e n verachtung wieder zur H o c h s c h ä t z u n g des Gemeinwesens zurückzufinden und gemeinschaftsfähig zu w e r d e n " (Hans M o m m s e n ) .
XII. Nachkriegsdeutschland
1. Rechtsentwicklungen
im Zeichen
des
Grundgesetzes
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Nachkriegsdeutschland
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Das Ende der nationalsozialistischen Diktatur legte eine Erneuerung des staatlichen Lebens und eine Rückbesinnung auf das Wesen des Rechts und die A u f g a b e des Juristen nahe. Es ging u m die Wiederherstellung des Rechtsstaates: u m die Herrschaft des Rechts und der Gesetze, die Mäßigung der Staatsgewalt, die Sicherung der Bürgerfreiheit. Als A u f g a b e galt außerdem die Läuterung des Rechtsdenkens im Geiste des Naturrechts. Das Naturrecht läßt sich definieren als „ein für alle Völker und Zeiten gültiges Idealrecht, das seine Entstehung nicht der Rechtsetzung durch die Staatsgewalt oder eine andere Sozialautorität verdankt, sondern von N a t u r aus ebenso für den einzelnen w i e auch für den Staat und jede sonstige Gemeinschaft vorgegeben ist" (Adolf Süsterhenn). Naturrechtsgedanken finden sich seit der Antike mannigfach abgewandelt in den Lehren der Rechts- und Staatsphilosophen, in den Dichtungen der Weltliteratur wie in den Verkündungen der Religionen: die Idee eines Rechts, das mit dem Menschen geboren ist und in den Sternen wohnt, eines ungeschriebenen Gesetzes, einer lex aeterna, die nicht im schwankenden Willen des Menschen, sondern im Transzendentalen und Absoluten wurzelt. Die Suche nach konkreten Inhalten des Naturrechts und damit auch den festen Ausgangspunkten für den Gesetzgeber, das Bemühen u m die Rechtsidee prägte die juristische Diskussion der ersten Nachkriegsjahre. Das Recht hat die Funktion, Konflikte im menschlichen Zusammenleben zu vermeiden oder sie befriedend zu lösen. Es besteht aus N o r 430
1. Rechtsentwicklungen im Zeichen des Grundgesetzes men, die das menschliche Verhalten in der Gemeinschaft regeln. Die Rechtsnorm zeichnet sich dadurch aus, daß sie allgemeinverbindlich gilt und daß regelmäßig Sanktionen ihre Geltung erzwingen. Die Rechtsnorm oder der Rechtssatz ist „eine innerhalb einer organisierten menschlichen Gemeinschaft geltende, auf ihrem Willen beruhende Verhaltensnorm, die unter gewissen Voraussetzungen ein bestimmtes äußeres Verhalten bindend vorschreibt, das heißt mit einem v o m Willen der U n t e r w o r f e n e n unabhängigen Geltungsanspruch" (Heinrich Lehmann). Das Recht bedarf sittlicher Grundlagen. Jegliche Freiheit hat ihre ethisch immanenten Grenzen. Das Recht soll der guten Ordnung w i e der Gerechtigkeit dienen. Beständigkeit und Kraft des Rechts hängen von dem M a ß e ab, in dem es der Gerechtigkeit A u s d r u c k verleiht. Das Recht bildet einen wesentlichen Teil der menschlichen Kultur, ist von deren anderen Kräften und Ausprägungen abhängig und selbst w i r k s a m in ihr. Es befindet sich in fortwährendem Wandel, den Gesetzgeber, richterliche Spruchpraxis und wissenschaftliche Lehre vollziehen, wobei sie stets der Rechtsidee verpflichtet bleiben sollen. Im Abendland entwickelte sich das Recht „als Element der europäischen Kultur" (Helmut C o i n g ) durchaus eigenständig: empirisch durch A u f n a h m e der gesellschaftlichen Sachverhalte, für die es ordnende Regeln zu finden galt, und rational durch deren A n a l y s e im Lichte von Gerechtigkeit und Zweckmäßigkeit. Seit dem Spätmittelalter liegen in Europa die öffentlichen Angelegenheiten überwiegend in den Händen von Juristen. Seit der Antike gilt das Recht als das entscheidende Steuerungsmittel in Staat und Gesellschaft. N a c h der Perversion des Rechts und des Rechtsdenkens unter der nationalsozialistischen Diktatur setzte das Grundgesetz v o m 23. Mai 1949 die festen und unverrückbaren Pfeiler einer gerechten Ordnung neu, wobei es bewährte Elemente deutscher Rechtskultur, insbesondere naturrechtliche Ideen einbezog. A u c h nach einem tiefen Zusammenbruch bilden Trümmer des Zerschlagenen Teile des neuen Baues. Die bedingungslose Kapitulation der Wehrmacht am 8. M a i 1945 besiegelte einen Zusammenbruch in Ruinen, Grauen und Elend nach einem zerstörerischen Krieg, der vielen Millionen Soldaten und Zivilisten den Tod auf den Schlachtfeldern, in den bombardierten Städten und in den nationalsozialistischen Vernichtungslagern Europas gebracht hatte. Millionen von Wehrmachtsangehörigen gerieten in eine oft lange und leidvolle Gefangenschaft. Die Siegermächte teilten Deutschland und dessen Hauptstadt Berlin in vier Zonen auf. Es herrschten bittere Armut und Hunger. Ein großer Teil des Volkes zog mit Flüchtlingstrecks von Ost nach West. Sowjetrußland annektierte das nördliche Ostpreußen mit Königsberg und das Memelland. Die Gebiete östlich der Oder 431
XII. Nachkriegsdeutschland und Neiße fielen an Polen. Etwa zwölf bis dreizehn Millionen Deutsche w u r d e n aus ihrer Heimat vertrieben, Hunderttausende getötet; von den Flüchtlingen gelangten mehr als zwei Drittel in die westdeutschen Länder der Bundesrepublik Deutschland. Zunächst beherrschte fast jeden Deutschen die Sorge u m das nackte Uberleben. Angesichts der Not erschien vielen Menschen der Anfang aus dem Nichts als ein Beginn der Stunde Null. Der unter unerhörten M ü h e n schrittweise gelingende Neuaufbau, die solidarische Eingliederung der Flüchtlinge und Vertriebenen durch den Lastenausgleich, die beginnende Wiedergutmachung zugunsten der Opfer des Unrechtsstaats, die allmähliche R ü c k k e h r zur rechtsstaatlichen Demokratie in der amerikanischen, englischen und französischen Besatzungszone, die Außerkraftsetzung nationalsozialistischer Vorschriften und die „Entnazifizierung" des öffentlichen Dienstes w i e des wirtschaftlichen und kulturellen Lebens erschienen den Zeitgenossen als Ereignisse einer neuen Epoche deutscher Geschichte, die damit „zum Erstaunen vieler am ausgebrannten Krater der Machtpolitik vorbei über das Katastrophenjahr 1945 hinaus weiterlief" (Friedrich Meinecke). Im Jahre 1947 begann eine der rechtlich wie moralisch bedeutendsten Leistungen der späteren Bundesrepublik: die Wiedergutmachung. Diese Sühne nationalsozialistischen Unrechts umfaßte einmalige Geldleistungen — sie sind inzwischen praktisch abgeschlossen — w i e die Zusprechung von Renten; deren finanzielles Gesamtvolumen läßt sich auf 9 0 100 Milliarden D M schätzen. Ein mehrbändiges gewichtiges Sammelw e r k dokumentiert diese große legislative und judizielle Leistung: Tausende von nachgewiesenen Rechtsprechungsfundstellen bieten einen anschaulichen Einblick in die Wirklichkeit der Verfolgung während des Dritten Reichs. Gestützt auf eine Vielzahl von Rechtsquellen aus dem Völkerrecht, dem Besatzungsrecht, Bundes- und Landesrecht entschieden international besetzte Gerichte in Herford und Berlin über Rückgabeansprüche und Entschädigung von im Zeichen des Hakenkreuzes verfolgten Personen und Institutionen. „So konnte es geschehen, daß ein A n w a l t aus Illinois, ein früherer Gerichtspräsident in Khartum und ein Generalstaatsanwalt in Algier gemeinsam mit deutschen Richtern unter dem Vorsitz eines Stockholmer Oberrichters in einem der Obersten Rückerstattungsgerichte zusammensaßen, u m über das Schicksal einer Fabrik in Dortmund zu befinden" (Walter Schwarz). Rückerstattet w u r d e n grundsätzlich die im Deutschen Reich widerrechtlich entzogenen Vermögenswerte; Grundbesitz erhielten die Entrechteten in natura zurück. Für andere Güter wie Edelmetall, Schmuck, Kunstgegenstände und Wertpapiere leistete der Staat in der Regel Wertersatz. Die zweite und mit achtzig Prozent der bisherigen Leistungen 432
1. Rechtsentwicklungen im Zeichen des Grundgesetzes umfangreichste Kategorie bildete die der Entschädigungen. Sie sollten ausgleichen Nachteile im beruflichen F o r t k o m m e n durch Kapitalentschädigung, zumeist aber Renten, Todesfälle zugunsten der Hinterbliebenen, auch Einbußen an Freiheit und an Versicherungsansprüchen durch Ersatzleistungen. Zwar k a m es zu mancher Engherzigkeit und gefühllosen Buchstabenreiterei der Behörden und Gerichte, auch zu Betrügereien und mißbräuchlichen Leistungserschieichungen durch nur vorgeblich Verfolgte; dennoch rechtfertigt die Gesamtbilanz ein positives Urteil. N o c h nie zuvor in der Rechtsgeschichte hat ein Staat Unrecht und Terror seiner Vergangenheit, vornehmlich zugunsten der Judenheit, so umfassend zu sühnen unternommen. Einen vergleichbaren Entschädigungstatbestand für Verfolgungen in der ehemaligen SBZ und D D R hat später das auf Art. 17 des Einigungsvertrages beruhende Gesetz über die Rehabilitierung und Entschädigung von Opfern rechtsstaatswidriger Strafverfolgungsmaßnahmen im Beitrittsgebiet vom 29. Oktober 1992 geschaffen. M ö g e n Verwaltung und Rechtsprechung, so steht zu hoffen, aus der Rechtsgeschichte der Wiedergutmachung in Westzonen und Bundesrepublik zugunsten der Verfolgten ihre Lehren ziehen können und einen befriedenden Abschluß erreichen. Bei allem U m b r u c h und Neubeginn machten sich Kontinuitäten geltend. Schon bis z u m Jahre 1947 setzte sich die Annahme durch, das geschlagene und geteilte Deutsche Reich habe als Staat den Zusammenbruch überdauert. Im Jahre 1973 stellte das Bundesverfassungsgericht verbindlich fest: „Das Grundgesetz — nicht nur eine These der Völkerrechtslehre und der Staatsrechtslehre! — geht davon aus, daß das Deutsche Reich den Zusammenbruch 1945 überdauert hat und weder mit der Kapitulation noch durch Ausübung fremder Staatsgewalt in Deutschland durch die alliierten Okkupationsmächte noch später untergegangen ist." Eine bemerkenswerte, durch sachliche Notwendigkeiten erzwungene Kontinuität bewies die Verwaltung in den Kommunen, bei den Kreisen und Regierungspräsidenten sowie in den Zentralinstanzen. Die dringenden Alltagssorgen verlangten aktive und verantwortliche deutsche Verwaltungsstellen, denen gegenüber die Besatzungsmächte sich mehr und mehr auf Kontrolle und Zustimmung beschränkten, wenngleich Konflikte nicht ausblieben. A u c h in der Rechtspflege fanden sich die Kräfte, die dazu fähig und willens waren, die rechtsstaatlichen Traditionen w i e deraufzunehmen, die seit 1933 in Verfall geraten waren. Viele Richter glaubten ihre Handlungen zwischen 1933 und 1945 verdrängen zu dürfen. W ä h r e n d die sowjetische Obrigkeit in ihrer Zone durch eine Revolution von oben den alten Juristenstand entfernte, eine neue, der k o m 433
XII. Nachkriegsdeutschland munistischen Partei SED ergebene Funktionselite einrücken ließ und eine Diktatur durch die andere ersetzte, strebten die Westmächte den Bruch mit der Tradition teils nicht an, teils ließ er sich gegen den Berufsstand auch nicht durchsetzen. „Der durch gemeinsame Ausbildung, Fachlichkeit und tradiertes Elitebewußtsein zusammengehaltene Juristenstand blieb im wesentlichen unangetastet. N u r allzu belastete Einzelne, die nicht zu halten waren, w u r d e n fallengelassen" (Michael Stolleis). In einem komplizierten Vorgang setzten die Militärverwaltungen, der Alliierte Kontrollrat und später die wiedererstandenen Parlamente nationalsozialistische Gesetze und Verordnungen außer Kraft. Den Richtern oblag es, ihren Teil zur Bereinigung beizutragen und mittels traditioneller Methoden in neuem Geist zu urteilen. Eine neuere Studie gelangt zu einem überaus kritischen Befund: „Die in mehreren — inhaltlich unterschiedlichen — alliierten Verlautbarungen formulierte und dann in der Tätigkeit des Kontrollrates konkretisierte Absicht zur Entnazifizierung des deutschen Rechts verfehlte im Endeffekt ihr Ziel. Denn den Aufhebungen k a m in großem U m f a n g e lediglich deklaratorischer Charakter zu, die eigentlich breiter angelegte, konstitutive Beseitigung hingegen scheiterte oder w u r d e . . . nur fehlerhaft durchgeführt. Sie erfaßte letztlich also nur wenige Bereiche und diese meist nur bruchstückhaft. Ein Großteil der NS-Gesetzgebung rettete sich so in die neue Bundesrepublik hinüber und bestand lange Zeit fort" (Matthias Etzel). Kontrovers diskutiert werden die Frage nach dem A u s m a ß der Mitverantwortlichkeit der Juristen an der nationalsozialistischen Rechtsperversion und die sich anschließende Frage, ob nach 1945 die gebotenen Konsequenzen aus dem Versagen des Rechtswahrerstandes gezogen w o r d e n seien. Letztere w i r d — bei aller Anerkennung für den Widerstand und die Rechtstreue einiger Richter und Beamten — w o h l zu verneinen sein. Das öffentliche Leben normalisierte und reorganisierte sich unter Duldung und auf Geheiß der Militärbehörden allmählich von unten nach oben, wobei sich die Spaltung Deutschlands zunehmend vertiefte. Seit Ende 1946 betrieben die Vereinigten Staaten und Großbritannien die Bildung des Vereinigten Wirtschaftsgebiets, der Bizone; sie faßte die amerikanische und die englische Zone ökonomisch zusammen. Sie besaß einen Wirtschaftsrat als Legislative mit Abgeordneten aus den acht Länderparlamenten sowie mehrere Verwaltungen, an deren Spitze Direktoren standen. Schließlich waren es wieder die Amerikaner, die zuerst eine deutsche Regierung für die drei Westzonen forderten. Die Ministerpräsidenten der elf westdeutschen Länder durften und sollten eine verfas434
1. Rechtsentwicklungen im Zeichen des Grundgesetzes sunggebende Versammlung einberufen. Der von den Parlamenten der Länder gewählte parlamentarische Rat schuf und beschloß das Grundgesetz. Unter einem ungleich glücklicheren Stern als zu Weimarer Zeiten stand die deutsche Rechtskultur im Zeichen des Grundgesetzes von 1949, das die Herrschaft des Rechts über die Politik neu und fest begründete und das politische Leben wie die inneren Geschicke Westdeutschlands, auch mit den großen Novellen: A u f n a h m e der Wehrverfassung (1956), Einführung der Notstandsverfassung (1968), R e f o r m der Finanzverfassung (1969), bestimmte w i e keine andere Verfassung zuvor. Konkreten Inhalt gewannen die Verfassungen des unitarischen Bundesstaates w i e der Länder durch ihre Kontrolleure und Wächter: die Verfassungsgerichte. Die Wirkungskraft vornehmlich des Bundesverfassungsgerichtes auf allen Gebieten von Recht und Politik läßt sich k a u m überschätzen. Trotz heftiger Kritik an einzelnen Entscheidungen hat das Gericht hohes Ansehen auch im P u b l i k u m gewonnen. Es hat das Parlament gegenüber der Exekutive gestärkt durch die z u m Vorbehalt des Gesetzes entfaltete Wesentlichkeitslehre, nach der gewichtige Entscheidungen in Grundrechtsnähe stets der Gesetzgeber zu treffen hat. Aus einzelnen Grundrechten leitete das Bundesverfassungsgericht nicht allein staatliche Schutzpflichten, sondern auch Teilhabepositionen ab. Bahnbrechend w i r k t e das Lüth-Urteil (BVerfGE 7, 198), nach dem sich im bürgerlichen Recht der Gehalt der Grundrechte mittelbar durch die privatrechtlichen Vorschriften, vor allem die Generalklauseln, entfaltet, und nach dem weiter der Zivilrichter durch sein Urteil Grundrechte verletzen kann, w e n n er deren Einwirkung auf das bürgerliche Recht verkennt. Dagegen kann sich der beschwerte Bürger nach Erschöpfung des ordentlichen Rechtswegs mit der Verfassungsbeschwerde wehren. Die Wertentscheidungen des GG und die dazu ergangene Judikatur des BVerfG haben das Privatrecht tiefgreifend verändert. Genannt sei das Institut des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts: des „Rechts des Einzelnen auf Achtung seiner Menschenwürde und auf Entfaltung seiner individuellen Persönlichkeit, das sich nicht nur gegen den Staat und seine Organe richtet, sondern auch im Privatrechtsverkehr gegen jedermann gilt" ( B G H Z 24, 7). N e u e Rechtsgebiete w i e das Arztrecht und das Datenschutzrecht entwickelten sich wesentlich im Zeichen einer durch die Grundrechte geleiteten richterlichen Spruchpraxis. Der Ausbau des Individualschutzes und der Freiheitsrechte führte freilich auch zu manchen Übersteigerungen, etwa beim A u s m a ß der erlaubten Meinungsäußerungen auf Kosten des Ehrenschutzes. Die Verbindlichkeit auch einer Verfassung kann letztlich nur in objektiven Werten begründet liegen. D a r u m hat sich der Grundgesetzgeber 435
XII. Nachkriegsdeutschland z u m sittlichen Wert der Menschenwürde bekannt: „Die W ü r d e des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt" (Art. 1 Abs. 1 GG). Diese beiden ersten Sätze des Grundgesetzes haben nach Wortlaut und Systematik den C h a rakter eines obersten Konstitutionsprinzips allen objektiven Rechts erhalten, das dann schrittweise zugunsten des einzelnen Rechtsträgers seine Realisation erfährt. Jeder Mensch ist Person kraft seines Geistes, der ihn abhebt von der unpersönlichen N a t u r und ihn aus eigenem Entschluß dazu befähigt, seiner selbst bewußt zu werden, sich selbst zu bestimmen und sich wie die U m w e l t zu gestalten. Der allgemein menschliche Eigenwert der W ü r d e besteht unabhängig von der Konstitution des konkreten Menschen. N i e m a n d darf bloßes Objekt oder Mittel für fremde Zwecke sein. Selbst in Herrschafts- und Abhängigkeitsverhältnissen muß der Personenwert des einzelnen gewahrt bleiben. Nach Art. 2 Abs. 1 GG bildet das Sittengesetz für den einzelnen eine Grenze der Freiheit seines Handelns. Das Recht kann sich nur im Rahmen sittlicher Bindungen entfalten. Während die Bundesrepublik Deutschland ihren äußeren Frieden im westlichen Verteidigungsbündnis der Nato gewann, behauptete sie den inneren Frieden wesentlich durch ihre Rechtskultur, die oft genug den Ausgleich auf mittleren Linien, die Schonung der Unterlegenen und aufwendige Begründungen gebietet. Indessen warf der Kalte Krieg seine Schatten, auch auf die politischen Prozesse, in denen der Rechtsstaat sich durchaus nicht immer bewährte. Im StGB und seinen mehr als hundert Novellen seit 1949 spiegelt sich der Kulturzustand eindrucksvoll, bildet sich der Geist deutlich ab, der in unserem Staate herrscht. Das StGB betrifft unmittelbar jeden einzelnen, indem es ihm Schutz gewährt, aber auch Grenzen setzt. Es ist tief mit dem Charakter des Volkes verbunden und erscheint diesem als das Recht schlechthin. In der Beschränkung auf die elementaren Pflichten, mittels seines „fragmentarischen Charakters" (Karl Binding, Hellmuth Mayer), erfüllt das Strafrecht eine gewichtige sittenbildende Funktion, indem es für ein unabdingbares ethisches M i n i m u m sorgt. Das Strafrecht setzt die Existenz und Verbindlichkeit sittlicher Pflichten voraus, desgleichen die Freiheit des Menschen z u m rechtlichen Handeln. „Der Mensch ist, weil er auf freie, sittliche Selbstbestimmung angelegt ist", so der 1950 in Karlsruhe errichtete Bundesgerichtshof, „auch jederzeit in die verantwortliche Entscheidung gerufen, sich als Teilhaber der Rechtsgemeinschaft rechtmäßig zu verhalten und das U n recht zu vermeiden." Das Verbrechen erscheint seinem Wesen nach nicht bloß als Herbeiführung eines realen Schadens, sondern auch als eine Verfehlung gegen persönliche Pflichten (Wilhelm Gallas). Unser hoch436
1. Rechtsentwicklungen im Zeichen des Grundgesetzes technisiertes, arbeitsteiliges und vernetztes Gemeinwesen stellt strenge Ansprüche an Willenskraft, Rücksichtnahme und Hilfsbereitschaft des Bürgers, die das Strafrecht widerspiegelt. „Das Strafrecht hat in unserer Zeit nicht nur eine Güterschutzfunktion zu erfüllen, sondern ist zugleich A u s d r u c k der Erwartung sozialer Anspannung von jedermann zugunsten des Mitmenschen" (Hans-Heinrich Jescheck). Das Schuldprinzip legitimiert und begrenzt die Strafe. Der Schutzz w e c k des Strafrechts läßt sich freilich mit dem Mittel der dem Schuldprinzip unterworfenen Strafe allein nicht hinreichend erfüllen. Im zweispurigen (dualistischen) Gefüge des StGB bilden gegenüber der Strafe die Maßregeln den zweiten Grundtypus der strafrechtlichen Folgen. W ä h r e n d die Strafe durch das Schuldprinzip ihre Grenzen erfährt und die Verfolgung präventiver Zwecke nur in beschränktem U m f a n g zuläßt, dient die Maßregel dem Schutz der Allgemeinheit vor dem gefährlichen Täter. Je nach dem gesetzlichen Inhalt der Maßregel und den Umständen des Einzelfalls verfolgt die Strafrechtspflege diesen Schutz teils durch therapeutische Verfahren oder psychologische Einflüsse mit dem Ziel der Besserung des Täters und teils durch Isolierung aus der Gesellschaft oder Ausschluß von bestimmten Tätigkeiten mit dem Ziel der Sicherung. „Die Vielschichtigkeit des Strafbegriffs, der auch die Verhütung künftiger Taten einschließt, macht eine systematisch reine, am Vorbeugungszweck orientierte Trennung von Strafe und Maßregel unmöglich" (Karl Lackner). Die Gesamtreform des deutschen Strafrechts ist seit der Wende v o m 19. z u m 20. Jahrhundert im Gange und dauert noch fort. Sie hatte und hat sich mit den Ideen verschiedener Epochen v o m Liberalismus bis zur modernen Kriminalpolitik auseinanderzusetzen und verkörpert so ein Stück deutscher Geistesgeschichte. A u c h zeigen sich in ihr die Spuren der politischen Geschicke Deutschlands, der Katastrophen, Neuanfänge und U m b r ü c h e in der jüngsten Vergangenheit. Zunächst verfolgte der Strafgesetzgeber in der Bundesrepublik das Ziel, den Text des StGB zu bereinigen und klarzustellen, nationalsozialistische Relikte zu tilgen, übertriebene Eingriffe der Besatzungsmächte zu korrigieren, die Rechtseinheit wiederzugewinnen, das Strafrecht an das Grundgesetz anzupassen und die dringlichsten Reformen durchzuführen. Das Grundgesetz brachte z u m Allgemeinen Teil des Strafrechts zwei den Geist des Ganzen bezeichnende Neuerungen: Art. 102 schaffte die Todesstrafe ab, die in der Zeit zwischen 1945 und 1949 noch verhängt und vollstreckt w o r d e n war; Art. 103 Abs. 2 gab dem Grundsatz der gesetzlichen Bestimmtheit von Verbrechen und Strafe Verfassungsrang. Das erste Gesetz zur Sicherung des Straßenverkehrs führte 1952 mit der Entziehung der Fahrerlaubnis die seitdem am häufigsten ver437
XII. Nachkriegsdeutschland hängte Maßregel ein. Das dritte Strafrechtsänderungsgesetz von 1953 brachte die R e f o r m des Allgemeinen Teils zu einem erstem Abschluß: das Kernstück bildete die Einführung der Strafaussetzung und Entlassung zur Bewährung. Das Jugendgerichtsgesetz aus demselben J a h r entwickelte das Jugendkriminalrecht weiter, wobei es überkommene Grundlagen wahrte, indem es nicht der Devise „Heilen statt Strafen" folgte, vielmehr einen Ausgleich zwischen Tatverantwortung und Erziehungszweck suchte. Das Gesetz über Ordnungswidrigkeiten von 1952 hat — wie danach auch das Wirtschaftsstrafgesetz — damit begonnen, die Übertretungen aus dem materiellen Strafrecht auszuscheiden und sie als geringeres Unrecht der Bußgeldkompetenz der Verwaltungsbehörden zu unterwerfen. Das neue O W i G von 1968/87 hat die Trennung des Ordnungs- vom Kriminalrecht weiter vorangebracht. Die Gesamtreform des Strafrechts setzte das Bundesjustizministerium im Jahre 1952 wieder in Gang. Eine große Strafrechtskommission erarbeitete in den Jahren 1954 bis 1959 einen vollständig neuen Vorschlag, der als Entwurf 1962 im Druck erschien und schließlich in die beiden ersten Gesetze zur Reform des Strafrechts von 1969 einmündete. Im Jahr 1975 trat an die Stelle der Einleitenden Bestimmungen und des Ersten Teils des StGB ein neuer Allgemeiner Teil (2. StrRG). Seine Schwerpunkte liegen auf dem Gebiet der Kriminalpolitik. Das Reformgesetz führte eine einheitliche Freiheitsstrafe ein, gestaltete die Geldstrafe nach dem Vorbild des skandinavischen Tagessatzsystems um, erweiterte die Strafaussetzung zur Bewährung, brachte die Verwarnung mit Strafvorbehalt und veränderte das System der Maßregeln grundlegend. W ä h r e n d der Gesetzgeber damit für den Allgemeinen Teil zu einem gewissen Abschluß gelangte, ließ sich die Reform des Besonderen Teils bisher nur stückweise erreichen. Der neue Allgemeine Teil des StGB sucht den Schutz der Gesellschaft durch Wiedereingliederung des straffällig gewordenen Menschen und eine am Gedanken der Schuldstrafe ausgerichtete, maßvolle Generalprävention zu verwirklichen. Das R e f o r m w e r k ergänzen weitere wichtige Legislationen: das Gesetz über die freiwillige Kastration zur Verhütung, Heilung oder Linderung von Krankheiten, seelischen Störungen oder Leiden, die mit einem abnormen Geschlechtstrieb zusammenhängen (1969); das Bundeszentralregistergesetz, welches das Strafregister- und Straftilgungswesen neu ordnete (1971); ferner das Gesetz über die Entschädigung für Strafverfolgungsmaßnahmen (1971), das großzügig Ausgleich vorsieht für alle Arten des Freiheitsentzugs, für die Beschlagnahme und den vorläufigen Entzug der Fahrerlaubnis, sofern sich diese M a ß n a h m e n nachträglich als materiell nicht gerechtfertigt erweisen. 438
1. Rechtsentwicklungen im Zeichen des Grundgesetzes Wichtige Anstöße im Sinne einer neuartigen Kriminalpolitik verdankt die Strafrechtsreform Alternativ-Entwürfen, die deutsche und schweizerische Strafrechtslehrer als Privatarbeiten vorlegten. A u c h der A E z u m Allgemeinen Teil hält am Schuldprinzip und an der Zweispurigkeit fest. Aber er versteht das Schuldprinzip nur als eine aus rechtsstaatlichen Gründen erforderliche Beschränkung der Strafe, die der Richter innerhalb dieses Rahmens allein nach Präventionsgesichtspunkten zumessen soll. Im Maßregelsystem des AE spielte die sozialtherapeutische Anstalt eine überragende Rolle, ein Umstand, der auch das 2. StrRG erheblich beeinflußte: § 65 StGB sah die Unterbringung bestimmter, kriminell besonders gefährdeter Tätergruppen vor mit dem Ziel ihrer sozialtherapeutischen Behandlung. Die sehr umstrittene Maßregel sollte nach zweimaliger Suspension erst am 1. Januar 1985 in Kraft treten, w u r d e aber w e g e n vorheriger A u f h e b u n g nie geltendes Recht. Während der Allg emeine Teil des StGB im wesentlichen die Grundsätze festlegt, welche die A n w e n d u n g des Besonderen Teils und des N e benstrafrechts präzisieren, erweitern oder einschränken, außerdem das System der Strafen, der Maßregeln und der übrigen M a ß n a h m e n (Verfall und Einziehung) darstellt, beschreibt der viel umfänglichere Besondere Teil die strafrechtlich erheblichen Handlungen abstrakt und verbindet sie jeweils mit einer Strafdrohung. A u c h diese Materie befindet sich in ständigem Fluß. Einige Stichworte mögen ihn wenigstens andeuten. Das 8. StrÄG (1968) entschärfte das Staatsschutzstrafrecht. Das 1. StrRG (1969) beseitigte die Strafbarkeit des Ehebruchs, der gleichgeschlechtlichen U n z u c h t zwischen erwachsenen Männern und der U n zucht mit Tieren, ordnete den schweren Diebstahl neu und führte den Strafschutz für technische Aufzeichnungen ein. Das 3. StrRG (1970) milderte die Strafnormen z u m Schutz des Gemeinschaftsfriedens und antwortete damit ad hoc auf die vorausgegangenen Demonstrationen einer aufbegehrenden Jugend, ohne den rechtspolitischen Streit u m das rechte M a ß zu beenden. Das 11. und das 12. StrÄG (1971) brachten neue Strafvorschriften gegen Geiselnahme und Luftpiraterie. Das 14. StrÄG (1976) führte z u m wirksameren Kampf gegen den Terrorismus neue oder erweiterte Tatbestände ein gegen das Androhen, Vortäuschen, Befürworten und Billigen von Gewalttaten und gegen das Anleiten zu ihrer Begehung. Die beiden Gesetze zur Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität (1976/86) ergänzten vor allem den Abschnitt über Betrug und Untreue durch wichtige Vorschriften. Das 16. StrÄG (1979) bestimmte die Unverjährbarkeit des Mordes, das 17. StrÄG (1979) schränkte den Strafschutz staatlicher Geheimnisse zur besseren Gewährleistung der Pressefreiheit ein, und das 18. StrÄG (1980) gestaltete den strafrechtlichen U m w e l t s c h u t z neu. Durch das Gesetz zur Bekämpfung 439
XII. Nachkriegsdeutschland des illegalen Rauschgifthandels und anderer Erscheinungsformen der Organisierten Kriminalität (1992) w u r d e das international bedeutsame Ziel verwirklicht, durch Strafdrohung gegen die sogenannte Geldwäsche der Einschleusung rechtswidrig erlangter Vermögenswerte in den Wirtschaftskreislauf entgegenzuwirken. Ihr Ende hatte die Abfolge der N o vellen damit noch längst nicht gefunden. Kaum ein rechtspolitisches Thema hat während der letzten Jahrzehnte die juristische Fachwelt w i e die Öffentlichkeit so leidenschaftlich bewegt w i e der Streit u m die Strafbarkeit der Abtreibung. Die Reformer, die das altüberkommene Abtreibungsverbot durch differenziertere Regeln zu dem nun so geheißenen Schwangerschaftsabbruch ablösen wollten, stießen von Anfang an auf erbitterten Widerstand nicht nur von Christen. Die 1974 eingeführte Fristenregelung erklärte das Bundesverfassungsgericht im folgenden Jahr als im Kern für verfassungswidrig. Das 1976 Gesetz gewordene Indikationenmodell hielt am grundsätzlichen Verbot des Schwangerschaftsabbruchs fest, anerkannte indessen die schon jahrelang diskutierten Indikationen bis hin zur ausgreifenden sozialen, u m die verfassungsrechtlich verbliebenen Möglichkeiten der Entkriminalisierung auszuschöpfen. Eine rechtspolitische Befriedung freilich trat nicht ein, im Gegenteil: die Fronten des Meinungskampfes verhärteten sich. Der Beitritt der D D R brachte den gesamtdeutschen Gesetzgeber erneut in die Pflicht: Das Schwangeren- und Familienhilfegesetz des J a h res 1992 sah eine Fristenregelung mit Beratungspflicht vor und erklärte den im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften vorgenommenen Schwangerschaftsabbruch mit der Folge seiner A u f n a h m e in den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung für nicht rechtswidrig. A u c h dieses Gesetz hielt der Prüfung durch das Bundesverfassungsgericht nicht stand, das in seinem — in der Begründung weithin den Grundsätzen des ersten Urteils folgenden — Spruch von 1993 dem Gesetzgeber den Ubergang zu einem Beratungssystem mit dem Kern einer Fristenregelung nur unter der Einschränkung eröffnete, daß der beratene Schwangerschaftsabbruch nicht für rechtmäßig erklärt werde und die Rahmenbedingungen den höchstmöglichen Schutz des ungeborenen Lebens gewährleisteten. Schließlich erging im J u n i 1995 mit breiter Mehrheit das Schwangeren- und Familienhilfeänderungsgesetz, das in wesentlichen Stücken den verfassungsgerichtlichen Vorgaben folgt, ohne sie doch in aller Strenge einzulösen. Damit hat ein qualvoller Weg, den Halden juristischer, politischer und polemischer Literatur säumten und der die alten Strafsanktionen wie in vielen anderen Staaten immer weiter hinter sich zurück ließ, sein wenig überraschendes Ziel für absehbare Zeit gefunden. Längst w a r das 440
1. Rechtsentwicklungen im Zeichen des Grundgesetzes
strafrechtliche Schwert stumpf geworden und in der Scheide geblieben: Schon das strikte Verbot von einst hatte massenhafte Abtreibungen nicht verhindern können. So ging es denn letztlich mehr um die Verbotenheit als um die Bestrafung des Schwangerschaftsabbruchs. Ob durch das komplizierte neue Artikelgesetz die verfassungsgerichtlich eingeforderten Rahmenbedingungen im Dienste des Lebensschutzes sich werden einrichten lassen, erscheint ebenso zweifelhaft wie die Wirksamkeit des Β eratungssystems. Auch das Strafprozeßrecht erfuhr eine Reihe gewichtiger Teilreformen, die sich auf diesen knappen Seiten nicht vorführen lassen. Der Gesetzgeber stand vor der Aufgabe, das Gleichgewicht zwischen dem Strafverfolgungsinteresse des Staates und den Freiheitsrechten des Bürgers im Sinne des Grundgesetzes zu bewältigen, die Notwendigkeit eines energischen und möglichst effektiven Schutzes der Gesellschaft vor dem Rechtsbrecher in Einklang zu bringen mit dem ebenfalls rechtsstaatlichen Gebot, möglicherweise Unschuldige zu schonen. Die Unschuldsvermutung zugunsten des noch nicht rechtskräftig Verurteilten verbietet Zwangseingriffe zu Lasten der Freiheitsrechte eines Beschuldigten in einem Ausmaß, das allein gegenüber einem Schuldigen, nicht aber auch gegenüber einem Unschuldigen gerechtfertigt erschiene. Das Strafverfahren also hat das materielle Strafrecht gegenüber dem Delinquenten durchzusetzen und ebenso den unschuldigen Verdächtigten vor einer Verurteilung zu bewahren. Die Zusammenhänge des Strafrechts mit den Entwicklungen des Gemeinwesens zeigen sich ferner darin, daß in der Strafjustiz Abreden zwischen den Verfahrensbeteiligten im Vordringen begriffen sind: Verhandlungssysteme breiten sich generell im Verhältnis von Staat und Gesellschaft aus, und die Strafrechtspflege nimmt an diesem Vorgang teil, worauf jüngst Dieter Grimm unter Hinweis auf die Bedenken dagegen aufmerksam machte. Die gesellschaftlichen Umbrüche des Strafrechts wie die wissenschaftlich-technischen Innovationen werfen im fortschreitenden 21. Jahrhundert zunehmend und wie nie zuvor die Frage nach der Eigenständigkeit und der Funktion des Rechts auf. Dabei führen die vorausliegenden sittlichen Probleme immer in das Recht hinein. Neue biologische Paradigmen erheben den Anspruch auf die Definitionshoheit über die Begriffe. Eine allgemeine Theorie des evolutionären Wandels werde, so eine Voraussage, wie eine universelle Säure in alle Disziplinen eindringen und das Bild vom Menschen, von der Natur und der Schöpfung zersetzen. Mit Macht schreitet der Werte- und Strukturwandel offenkundig und exemplarisch im Gesundheitswesen voran: Der umworbene, medizineingebundene Patient wird zum Klienten, zum Kunden mit dem Willen 441
XII. Nachkriegsdeutschland
zur Selbstbestimmung und dem Streben nach Selbstverwirklichung. In einer hedonistischen Gesellschaft, weithin ohne moralgebietende Transzendenz, ohne gattungsgeschichtlichen Auftrag, vielfach ohne allgemeinverbindliche sittliche Imperative, erfahren die Fragen um Leben und Tod andere Antworten als die traditionell gebotenen. Die Pluralität der individuellen Lebens- und Verhaltensstile verändert auch den Gesundheitsdienst. Neue medizinische Methoden stoßen immer auf eine Nachfrage, die ihrerseits Anbieter jenseits aller Grenzen stimuliert. Juristen tun sich schwer, die schnellen Entwicklungen rechtlich zu fassen und zu begrenzen. Wenn der Gehalt dessen, was die Rechtsnormen auch der Verfassung inhaltlich festgelegt haben, nicht ein für allemal gewiß ist, sondern abhängt von den in der Gesellschaft wirkenden Ideen und Konsensen, dann bedeuten Zerklüftetheit und Wandel des Wertebewußtseins, wie sie sich gerade beim Gebrauch medizinischer Verfahren zeigen, Veränderungen des Gebotenen und Verbotenen nach Art der Wanderdünen im Gezeitenstrom, es sei denn, außerkonsensuale Kriterien dämmten den Positivismus der Tageswertungen ein. „Im Zeitalter der Bio-Macht" gilt es, solche Kriterien zu finden, den Fortschritten der Medizin Grenzen zu setzen, letztlich zum Schutz der Menschenwürde — auf den Spuren, die der Jurist Günter Dürig schon 1958 in seinem berühmten Grundgesetz-Kommentar zu Art. 1 und der Philosoph Hans Jonas in seinen keineswegs überholten Bedenken legten. Die Applikation umstoßender biologischer Erkenntnisse aus Vorstößen in bisher verschlossene Innenwelten geschieht vielfach außerhalb des natürlichen Blickfeldes und darum auf noch gefährlichere Weise. Die Abhängigkeit des Privatrechts von der Verfassungslage erwies sich auch nach dem Inkrafttreten des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland, das die liberalen, rechtsstaatlichen Traditionen wiederaufnahm und zugleich die sozialen Bindungen und Pflichten vertiefte. Die Grundrechte wirken über die Generalklauseln im Privatrecht und prägen die Wirtschaftsordnung. Die Sozialstaatsklausel enthält einen Auftrag an den Gesetzgeber und dient ihrerseits als Auslegungsgrundsatz. Der Aufbau des sozialen Rechtsstaats und eine tiefgreifende Fortbildung des bürgerlichen Rechts gingen Hand in Hand mit einem kraftvollen Aufschwung der Volkswirtschaft und dem raschen Fortschritt der Technik. Das BGB gewann in wesentlichen Stücken neue Inhalte und andere Gestalt, ein Wandel, an dem etwa zu gleichen Teilen der Gesetzgeber und die Gerichte, insbesondere der auf den Leistungen des Reichsgerichts weiterbauende Bundesgerichtshof mit seinen inzwischen weit mehr als hundert Entscheidungsbänden und das Bundesarbeitsgericht, teilhatten. Legislative und Judikative wirkten zusammen, 442
1. Rechtsentwicklungen im Zeichen des Grundgesetzes beide angeregt w i e gefördert durch eine üppig publizierende Jurisprudenz und die rechtspolitische Diskussion etwa im Standesparlament des Deutschen Juristentages. Trotz der im gewaltenteiligen Rechtsstaat geltenden Grenze zwischen Legislative und Jurisdiktion verwischte sich der Unterschied zwischen Gesetzesrecht und Richterrecht. „Das Richterrecht ist keine materielle Rechtsquelle mit eigener Normierungsdomäne, es bildet vielmehr Teile des ,Gesetzes', die in vielen Fällen zusätzlich (und nicht nur ,lückenfüllend' im hergebrachten Sinn) den Normbestand erweitern, in den meisten Fällen jedoch integrierender Bestandteil der im Gesetzestext formulierten N o r m sind" (Josef Esser). Der Bundesgerichtshof hat die ihm gezogenen Grenzen durchaus bedacht und erkannt, daß eine Fortbildung des Rechts (vgl. § 132 Abs. 4 G V G ) durch höchstrichterlichen Spruch dort nicht in Betracht kommt, w o die Neugestaltung überholten Gesetzesrechts von einem politischen Grundentscheid abhängt und dieser zu sachlich unterschiedlichen Regeln führen kann. Allerdings sind die Gerichte letzter Instanz mehr und mehr dort, w o die Legislative schweigt, zu einer Art Ersatzgesetzgebern geworden. Kritiker sprechen gar vom „Richterstaat", von „einer schleichenden, unkontrollierten Machtverschiebung von der Gesetzgebung auf die Gerichte", oft über die objektive Theorie zur Norminterpretation (Bernd Rüthers). Einen Ruhmestitel unter den bürgerlichrechtlichen Legislationen der Nachkriegszeit stellt das Wohnungseigentumsgesetz von 1951 dar, das den tragenden B G B - G r u n d s a t z der Sonderrechtsunfähigkeit von Grundstücksbestandteilen durchbricht und an älteres Recht (Stockwerkseigentum, geteiltes Eigentum) anknüpft. Das Wohnungseigentum geht zunächst vom Eigentumsbegriff des allgemeinen bürgerlichen Rechts aus, verbindet dann aber das Alleineigentum an einer Wohnung oder sonstigen Raumeinheit (Sondereigentum) mit dem Bruchteilsmiteigentum am Grundstücksrest (Miteigentum). Das juristisch erfinderische Gesetz hat einem weiten Personenkreis den Erwerb einer eigenen Wohnung und die Teilhabe an Grund und Boden erlaubt, auch dem Städtebau und seiner Finanzierung — wie der Spekulation — zusätzliche Möglichkeiten eröffnet. Alsbald durchgesetzt hat sich ein anderes soziales R e f o r m w e r k , das Gesetz zur Regelung des Rechts der Allgemeinen Geschäftsbedingungen (1976). Doch entzog es eine Vielzahl von Rechtsgeschäften der Herrschaft des B G B und nahm dessen Vertragsrecht damit an Gewicht. Das A G B - G e s e t z beruhte auf den Einsichten einer jahrzehntelangen Diskussion, die mit L u d w i g Raisers grundlegender Monographie (Das Recht der Allgemeinen Geschäftsbedingungen, 1935) begann, und den Erkenntnissen der höchstrichterlichen Judikatur zur Inhaltskontrolle 443
XII. Nachkriegsdeutschland einseitig vorformulierter Klauseln. M i t diesem Werk hat der Gesetzgeber die Probleme des rechtsgeschäftlichen Massenverkehrs umfassend aufgenommen und im ganzen auch gelöst. Das auf eine EG-Richtlinie zurückgehende Verbraucherkreditgesetz von 1990 knüpfte an die Regelungen des Abzahlungsgesetzes von 1894 an, erweiterte dessen Schutzbereich aber beträchtlich und regelte auch Verzugsfolgen und Verbraucherdarlehen neu. Weitere Schritte zur Auflösung des BGB-Vertragsrechts stellten das Haustürwiderrufsgesetz und das Gesetz z u m Schutz der Teilnehmer am Fernunterricht dar, das hauptsächlich Form und Inhalt des verbreiteten Rechtsgeschäfts regelte. „Neben der äußeren Einheit zerfällt auf diese Weise die innerliche, welche die Grundbedingung einer systematischen Interpretation ist" (Alexander Lüderitz). Das Reisevertragsgesetz von 1979 ist indes in das B G B eingearbeitet. Zweispurig stellt sich ferner das im Zeichen der Wohnungsnot oft novellierte Mietrecht dar. Zwingende Kündigungsschutzvorschriften im B G B haben das alte Mietrecht abgelöst. Nach § 564b BGB von 1974 durfte der Wohnraumvermieter grundsätzlich nur aus berechtigtem Interesse kündigen. Kraft der Sozialklausel des § 556a BGB von 1960 konnte der Mieter, auch w e n n der Vermieter aus berechtigtem Interesse gekündigt hatte, die Fortsetzung des Mietverhältnisses verlangen, w e n n dessen vertragsmäßige Beendigung eine nicht zu rechtfertigende Härte bedeutete. Das Gesetz zur Regelung der Miethöhe (1974) enthielt das Verbot der Änderungskündigung und die Regeln des Mieterhöhungsverfahrens. Das komplizierte System von Kündigungsschutz und Mietpreisbindung schränkte die Dispositionsfreiheit des Grundeigentümers in seiner Eigenschaft als Vermieter stark ein. Zahlreiche und einschneidende Novellen betrafen das Familienrecht, wobei der Gesetzgeber die neuen Stücke wieder in das BGB einfügte. Sie spiegeln den sozialen und weltanschaulichen Wandel besonders deutlich. Das herausragende Thema bilden die Rechte der Frau. Nachdem die Weimarer Verfassung der Frau nur „grundsätzlich dieselben staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten" gewährt hatte, gestand ihr das Grundgesetz in Art. 3 Abs. 2 auch die privatrechtliche Gleichberechtigung zu. Das im Bundestag einstimmig verabschiedete Gleichberechtigungsgesetz (1957) beseitigte die Prärogative des Mannes und strich § 1354 BGB, der dem M a n n „die Entscheidung in allen das gemeinschaftliche eheliche Leben betreffenden Angelegenheiten" zugebilligt hatte. Im Unterhaltsrecht stellte es die volle Gegenseitigkeit her, wobei es — dem Bild der Hausfrauenehe folgend — in der Haushaltsführung den regelmäßigen Unterhaltsbeitrag der Frau erkannte. Weiter modifizierte das Gleichberechtigungsgesetz im ehelichen Vermögensrecht die Gütertrennung durch einen — im Todesfall meist mittels Erhöhung des 444
1. Rechtsentwicklungen im Zeichen des Grundgesetzes gesetzlichen Erbteils pauschalierten — Zugewinnausgleich: ein ebenso neu geschaffenes Institut w i e die Vinkulierung sowohl des Gesamtvermögens jedes Ehegatten w i e der ihm gehörigen Haushaltsgegenstände (§§ 1365, 1369 BGB). Das Eherechtsgesetz von 1976 führte die Gleichberechtigung weiter, indem es zwischen den Funktionen von M a n n und Frau nicht mehr unterschied. Im Scheidungsrecht verdrängte das Zerrüttungsprinzip den Verschuldensgrundsatz, w o b e i in der Unterhaltsfrage Bedürftigkeit und Leistungsfähigkeit das M a ß bestimmen. Der Zugewinnausgleich erhielt eine Parallele im Versorgungsausgleich, der öffentlich-rechtliche Ansprüche mit einbezieht. M i t der durch bundesverfassungsgerichtlichen Entscheid herbeigeführten Neuregelung des Ehenamenrechts im Jahre 1993 entfielen die subsidiäre Geltung des Mannesnamens als Familiennamen sowie die Pflicht zur Führung eines gemeinsamen Familiennamens. A u c h die elterliche Gewalt unterlag einem — lange nicht abgeschlossenen — Wandel. Den durch das Gleichberechtigungsgesetz dem Vater zugesprochenen Stichentscheid erklärte das Bundesverfassungsgericht für nichtig. Bei gewichtigem Streit der Eltern entscheidet nun das Vormundschaftsgericht. Inhaltlich veränderte sich die subjektive Kompetenz der elterlichen Gewalt z u m Pflichtrecht. Das Gesetz über die rechtliche Stellung der nichtehelichen Kinder (1969) erfüllte ein Gebot des Grundgesetzes. Es erkennt die natürliche Verwandtschaft zwischen dem nichtehelichen Kind und seinem Vater rechtlich an, der mindestens einen schematisch festzusetzenden Regelunterhalt schuldet. Beim Tod des Vaters steht dem Kind ein Erbersatzanspruch zu; die Mutter erhielt die elterliche Gewalt von Rechts wegen. Schließlich: auch das Adoptivkind gewann durch die Novelle des Jahres 1976 einen verbesserten Rechtsstatus. Die Volljährigkeitsgrenze nahm der Gesetzgeber 1974 von 21 Jahren auf 18 Jahre zurück. Das J a h r 1998 brachte einen weiteren Modernisierungsschub. Drei Reformgesetze galten dem Kindschaftsrecht: Das Kindschaftsrechtsreformgesetz, das Beistandschaftsgesetz und das Kindesunterhaltsgesetz. Das neue einheitliche Kindschaftsrecht unterwirft eheliche und nichteheliche Kinder grundsätzlich gleichen Regeln und differenziert nur noch in Einzelfragen. Im Zusammenhang mit diesem Programm steht die Einführung gleichen Erbrechts für alle A b k ö m m l i n g e durch das Erbrechtsgleichstellungsgesetz. Das gleichfalls 1998 in Kraft getretene Eheschließungsrechtsgesetz holte, unter gründlichen Veränderungen, das Eheschließungsrecht ins B G B zurück. Damit gehört das Ehegesetz von 1938 der Geschichte an. Eine Novellierung des Betreuungsrechtsgesetzes, das 1990 die Rechtsinstitute der Entmündigung, der Vormundschaft über Volljährige und der Pflegschaft über Gebrechliche (§ 1910 B G B 445
XII. Nachkriegsdeutschland a. F.) abgeschafft und durch das neue Institut der Betreuung ersetzt hatte, folgte wie auch das „Minderjährigenhaftungsbeschränkungsgesetz". Im Schuldrecht, insbesondere auf dem Felde der gesetzlichen Schuldverhältnisse, haben sich vornehmlich Spruchpraxis und Jurisprudenz als rechtsfortbildende Kräfte betätigt. Dabei fallen die Wandlungen des Deliktsrechts besonders ins Auge. Neben der allgemeinen vorbeugenden Unterlassungsklage lassen sich weitere kennzeichnende Züge der Entw i c k l u n g des Rechts der unerlaubten Handlungen erkennen. Zahlreiche typische Deliktstatbestände gerieten in die Zonen der Vertragshaftpflicht, weil das Prinzip des § 278 B G B samt seiner vorteilhaften längeren Verjährungsfrist den als unzulänglich geltenden § 831 B G B ersetzen sollte. Als kennzeichnendes Attribut des Deliktsrechts hat das freiheitsverbürgende Verschuldensprinzip, eingeschränkt durch die Objektivierung des Sorgfaltsmaßstabes und relativiert durch die sich im Zeichen unserer technisierten Zivilisation ausweitenden, außerhalb des B G B gesetzlich statuierten Gefährdungshaftungen für Eisen- und Straßenbahnen, Kraft- und Luftfahrzeuge, Arzneimittel, Leitungen, Atomanlagen, ferner für Umweltschäden, auf gentechnischen Arbeiten beruhende Einbußen und noch weitere Bereiche, sein Gewicht weithin eingebüßt. Ferner hat die J u d i k a t u r das dreigliedrige System des deutschen Deliktsrechts wesentlich umgestaltet. „Das ist geschehen durch die Herausarbeitung der sogenannten Verkehrssicherungspflichten, durch den Ausbau des Deliktsschutzes für das gewerbliche Unternehmen und durch die Anerkennung eines allgemeinen Persönlichkeitsrechts. Hier sind im Grunde drei Generalklauseln geschaffen, die das deutsche Recht im Ergebnis den Systemen des allgemeinen Deliktstatbestandes, nach dem jede schuldhafte Schädigung eines anderen ersatzpflichtig macht, weitgehend annähern" (Ernst von Caemmerer). Als geschmeidiges Instrument in der H a n d des Richters erwies sich mehr und mehr das Beweisrecht, besonders dort, w o der Gesetzgeber schwieg, etwa bei der deliktischen Produzentenhaftung, auch in der Berufshaftpflicht beispielsweise des Arztes. M i t der Haftungsverlagerung durch beweisrechtliche Mittel antwortet die Justiz auf neue Bedürfnisse, ohne sich ausdrücklich vom Gesetzestext abzuwenden. A n diesen weitreichenden Verschiebungen hat sich auch durch das auf europarechtlichen Vorgaben beruhende Produkthaftungsgesetz von 1989 mit seiner nach vorherrschender Ansicht in das Recht der Gefährdungshaftungen einzureihenden neuartigen Einstandspflicht des Herstellers für fehlerhafte Produkte nichts geändert. Zum vertraglichen Schuldrecht verdient das am 1. Januar 1991 in Kraft getretene Wiener U N - K a u f r e c h t (Convention on Contracts for 446
1. Rechtsentwicklungen im Zeichen des Grundgesetzes the International Sale of G o o d s — C I S G ) N o t i z , das in der Praxis allmählich durchdrang und als Legislation von h o h e m wissenschaftlichen R a n g und vielfach zukunftsweisendem Charakter auch die R e f o r m ü b e r legungen z u m deutschen Schuldrecht beeinflußt hat. D i e bislang von nahezu 4 0 Staaten ratifizierte K o n v e n t i o n löste die mit ihr weithin inhaltsgleichen, international j e d o c h nur in geringem M a ß e wirksamen Haager K a u f a b k o m m e n aus dem J a h r e 1973 ab. D e r stürmische Wirtschaftsaufschwung mit seinen Wechselfällen, sein e m harten Wettbewerb und E x i s t e n z k a m p f hat das im B G B eher widersprüchlich und unzulänglich angelegte R e c h t der Mobiliarsicherheiten sich dynamisch, doch keineswegs problemlos entwickeln lassen — kraft Richterspruchs und Wissenschaft, die den Weg „durch den deutschen Rechtsdschungel" (Wilhelm R ö t e l m a n n ) zu weisen hatten. M i t der frühen Anerkennung der Sicherungsübereignung und der Vorauszession durch das Reichsgericht war es noch längst nicht getan. Innerhalb des Themenkreises der Verlängerungs- und Erweiterungsformen von Eigentumsvorbehalt wie Sicherungsübertragung und bei FactoringGeschäften stellen sich schwerwiegende Kollisionsfragen. Sich überschneidende Verarbeitungsklauseln und mehrfache Vorauszessionen lassen schwierig lösbare K o n f l i k t e entstehen. H o h e n R a n g hat sich auf diesem Felde R o l f Sericks mehrbändiges Werk errungen, die größte zivilistische Monographie der neueren Zeit (Eigentumsvorbehalt und Sicherungsübertragung, 6 Bde., 1 9 6 3 - 1 9 8 6 ) . M e h r n o c h als im Bereicherungsrecht bei Dreiecksverhältnissen umgibt im R e c h t z u m Mobiliarkredit ein dichtes, üppiges R a n k e n w e r k von Judikaten und fachschriftstellerischen Vorschlägen die gesetzlichen Stützen. Es erlaubt Flexibilität und läßt der Kreditwirtschaft Dispositionsfreiheit. A m 1. Januar 1999 ist die neue Insolvenzordnung in Kraft getreten und hat ein einheitliches Insolvenzverfahren gebracht. D a s K e r n s t ü c k der R e f o r m bildet der Insolvenzplan, der den Beteiligten die M ö g l i c h keit eröffnen soll, Insolvenzen flexibel und wirtschaftlich effektiv abzuwickeln; bemerkenswert ist auch die Restschuldbefreiung. Von nicht zu überschätzender praktischer Relevanz ist die Schuldrechtsreform oder Schuldrechtsmodernisierung, die ihr Z u s t a n d e k o m men, zuletzt einer — welches Wortungetüm! — Verbrauchsgüterkaufrechtsrichtlinie der E U verdankte. Das Gesetz zur Modernisierung des Schuldrechts trat am 1. J a n u a r 2 0 0 2 in Kraft. Es geht u m Verbraucherschutz: u m die Verbesserung der Rechtsposition des Letztverbrauchers von beweglichen Sachen und Krediten. E i n weiteres Ziel war die Beseitigung von Lücken, Widersprüchen und Fehlbewertungen des bisherigen Rechts. Schließlich wollte der Gesetzgeber den R a n g unserer zentralen Kodifikation erhöhen. A n kritischen Stimmen zu der weitreichen447
XII. Nachkriegsdeutschland den Gesetzesproduktion fehlt es nicht. „Man mußte", so H a r m Peter Westermann, „an ein Jahrhundertwerk in wenigen Monaten herangehen, und das heißt, daß das neue Gesetz gewiß kein J a h r h u n d e r t w e r k sein wird, sondern ein Zwischenstadium, aus dessen Entstehungsgeschichte und rechtstechnischer Problematik w i r Warnungen gegenüber forschen und kurzfristig verordneten Vereinheitlichungsbestrebungen aus Europa ableiten sollten". D e m B G B entwuchs das Arbeitsrecht: das Sonderrecht derer, die fremdbestimmte Arbeit erbringen. Ein privatrechtlicher Vertrag begründet das Rechtsverhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Das Arbeitsrecht enthält indessen nicht nur privatrechtliche, sondern auch öffentlich-rechtliche Bestandteile, weil bestimmte Vertragsinhalte nicht von den Beteiligten abhängen, sondern unmittelbar in staatlicher Verantwortlichkeit stehen sollen w i e der Gefahren-, der Arbeitszeit-, der Mutter- und der Jugendarbeitsschutz. N o c h gibt es kein einheitliches Gesetzbuch der Arbeit. Das Arbeitsrecht blieb vielmehr zersplittert in nahezu unübersehbar viele gesetzliche Sonderregeln. Weil eine Kodifikation, ein umfassendes systematisches Gesetzeswerk fehlt, oblag es den Gerichten, die maßgebenden Grundsätze auszuformen. Trotz der hohen Zahl arbeitsrechtlicher Gesetze erweist sich das Arbeitsrecht weithin als Richterrecht. Das Arbeitskampfrecht ist sogar überhaupt Richterrecht. Daraus folgen hohe Ansprüche an die Unabhängigkeit der Arbeitsgerichte. M i t dem Straf- und dem Zivilrecht hat diese kurze Ubersicht nur zwei Rechtsgebiete angesprochen. A u c h auf den anderen Feldern des Rechts vollzog sich vielfacher Wandel. Ungebrochen schwillt auch das öffentliche Recht weiter an. Die Fülle der Rechtsquellen, die Vielgestaltigkeit der Materien und ein U b e r m a ß an Sekundärliteratur erschweren selbst dem Juristen den Uberblick. Uber der großen und weiter w a c h senden Zahl von Einzelregeln drohen die tragenden Grundsätze an A u genfälligkeit und Prägekraft zu verlieren. Die unaufhörliche Flut von Gesetzen, Verordnungen und immer wieder Novellen — mehr und mehr auch von Brüssel angestoßen — erzeugt die Suggestion von der beliebigen Machbarkeit des Rechts. Längst ist die Renaissance des N a turrechts der ersten Nachkriegszeit abgeklungen. Skeptische und relativistische Denkweisen machen sich geltend. Nicht vereinzelt blieben die Stimmen, die den gewaltenteiligen, parlamentarischen Rechtsstaat prinzipiell anfochten. Gelegentlich erschweren z u d e m verbreitete emotionale Strömungen die nüchterne rechtspolitische Arbeit. Nicht selten „wird heute der Legalität der Staatsorgane die Legimität der direkten Aktion entgegengesetzt und unter Berufung auf das Widerstandsrecht nicht nur ein großer Gedanke der Rechtsgeschichte umfunktioniert, 448
2. Recht und Unrecht der DDR sondern auch eine Erosion des Rechtsbewußtseins betrieben, über deren Konsequenzen sich viele — wohl auch die jungen Richter — nicht hinreichend im klaren sind" (Rudolf Wassermann). Das immer dichtere Netz von Verboten und Geboten stößt da und dort auf eine nachlassende Bereitschaft, dem Recht zu folgen. Besorgnisse kann auch der Blick auf das Rechtsstudium wecken, das an den Gebrechen des Bildungswesens teilhat, sich zersplittert und überfüllt darbietet. Dennoch haben das Recht und die Juristen, Theoretiker wie Praktiker, im ganzen ihre Aufgabe erfüllt und mit dem gesellschaftlichen Wandel Schritt gehalten im Geist der Verfassung. Die Spaltung Deutschlands auch und gerade im Recht aufzuhalten oder nur zu mildern, lag nicht in der Macht der Deutschen. Nachdem sie die lange entbehrte staatliche Einheit am 3. Oktober 1990 durch den Beitritt der Deutschen Demokratischen Republik zur Bundesrepublik Deutschland nach Art. 23 S. 2 GG a. F. unverhofft zurückgewonnen haben, gilt es, die Einheit der Lebens- und Rechtsverhältnisse durch opferbereite und geduldige Arbeit herzustellen. Das Grundgesetz wehrt dem Individualismus wie dem Kollektivismus. Mit Recht erklärt das Bundesverfassungsgericht: „Das Menschenbild des Grundgesetzes ist nicht das eines isolierten souveränen Individuums, das Grundgesetz hat vielmehr die Spannung Individuum — Gemeinschaft im Sinne der Gemeinschaftsbezogenheit und Gemeinschaftsgebundenheit der Person entschieden, ohne dabei deren Eigenwert anzutasten." Vor dem Hintergrund der zeitgeschichtlichen Erfahrungen hat die staatliche Gewalt der Bundesrepublik Deutschland einen Ausgleich gefunden, den es im Wandel der Verhältnisse stets fortzuentwickeln gilt.
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449
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2. Recht und Unrecht der DDR X YZ ZAHNERT, Doreen: Das Recht der Bodenreform der sowjetischen Besatzungszone — unter besonderer Berücksichtigung der zivilrechtlichen Fragen im Zusammenhang mit dem Einigungsvertrag und den Folgegesetzen, 2000 = Hallesche Schriften zum Recht, Bd. 14; ZEUNER, Albrecht: Grundelemente privatrechtlicher Ordnung und sozialistisches Rechtssystem (ein Vergleich am Beispiel der ehemaligen D D R ) , 1991; ZIEGER, Gottfried u. WESTEN, Klaus:
Das Zivilrecht in beiden deutschen Staaten, 1990.
Zweimal w ä h r e n d des vergangenen letzten Jahrhunderts, in der Zeitspanne nur eines Menschenlebens, haben deutsche Diktaturen unermeßliches Leid verursacht und die seit der A u f k l ä r u n g in den westlichen Kulturstaaten geltenden Grundrechte mißachtet, das Recht schlechthin instrumentalisiert und seines Eigenwerts beraubt. Zweimal standen und stehen die Uber- und Nachlebenden vor den Opfern und Trümmern massenhaften staatlichen Unrechts der zusammengebrochenen Zwangsherrschaften. Wenn w i r die unabschüttelbaren zeithistorischen H y p o theken mit Einsicht tragen und Klarheit über unsere Identität gewinnen wollen, müssen w i r in die A b g r ü n d e der jüngsten deutschen Geschichte blicken, das Geschehene ermessen, seine Ursachen aufdecken. Ohne zutreffende zeitgeschichtliche Aufschlüsse läßt sich auch die Vergangenheitsbewältigung im eigentlichen juristischen Sinne nicht b e w e r k stelligen, also das Treffen verbindlicher Entscheidungen in rechtlich geregelten Verfahren, u m Verfolgte wieder in ihr Recht einzusetzen, u m Schäden auszugleichen, schuldig Gewordene aus ihren A m t e r n zu entfernen, Täter zu bestrafen. Wenn in der zeithistorischen Debatte die Emotionalität die Rationalität nicht beeinträchtigen soll, müssen — wie Ralf Dreier dargetan hat — sprachlich-begriffliche Klarheit, sachliche Informiertheit, Vorurteilslosigkeit und Rollentauschbereitschaft vorherrschen. Es gilt, sich der Beurteilungsmaßstäbe kritisch zu versichern und zu differenzieren. So lassen sich die Naziherrschaft und das SED-Regime gewiß nicht auf eine Stufe stellen. Das blutige Gewalt- und W i l l k ü r s y s t e m Hitlers, die Angriffskriege des Diktators und seiner Helfer mit sechzig Millionen Toten im Gefolge, Rassenwahn und Holocaust im Zeichen des deutschen Hakenkreuzes haben nicht ihresgleichen. Aber auch die D D R hat immerhin die Freiheit ihrer Bürger und jede politische Opposition planmäßig unterdrückt. Ihre Staatsgewalt hat in unzähligen Fällen unverhältnismäßig eingreifende Zwangsakte und ungerechte Urteile erlassen, ein Spitzelsystem unterhalten, die Lebenschancen vieler verkürzt, Lebensläufe gebrochen, an der Grenze Hunderte von Menschen getötet. 461
XII. Nachkriegsdeutschland M i t Grund gab das Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen seiner einschlägigen, von 1952 bis 1962 erschienenen Publikation den Titel: „Unrecht als System. D o k u m e n t e über planmäßige Rechtsverletzungen im sowjetischen Besatzungsgebiet". Artikel 17 des Vertrages zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik von 1990 gedenkt der „Opfer des SED-Unrechts-Regimes". Die fruchtbare, sich in achtzehn umfänglichen Teilbänden widerspiegelnde Arbeit der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages trägt den Titel: „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SEDDiktatur in Deutschland". Anders als nach der vollständigen militärischen und politischen Niederlage des Dritten Reiches hat nach dem durch eine unblutige und unvollendete Revolution herbeigeführten Fall der D D R die zeitgeschichtliche Auseinandersetzung sogleich und in voller Breite unter Historikern, Journalisten, Politikern und nicht zuletzt unter Juristen begonnen. Eine Fülle neuer Quelleneditionen und Abhandlungen steht zu Gebote. Freilich hat die Öffnung der Archive von Partei und Staat umstürzende Neuinterpretationen der DDR-Geschichte nicht erfordert. Seriöse westdeutsche und Westberliner Wissenschaftler w i e Publizisten haben in ihrer großen Mehrzahl im Deutschland-Archiv und an anderen Stellen das diktatorische Herrschaftssystem und die gesellschaftlichen Uberlebensmechanismen der D D R im Grunde weitgehend richtig erfaßt, lediglich den wirtschaftlichen Niedergang, den die SED zu verschleiern vermochte, unterschätzt. Die 45 Jahre der S B 2 / D D R werden neben den 12 Jahren des Dritten Reiches, so läßt sich bereits heute aufgrund der Archivlage und des Publikationseifers absehen, zu den bestuntersuchten Epochen der jüngeren deutschen Geschichte gehören. Dabei w i r d manche Kontroverse noch lange fortdauern. A u c h das forensische Ringen u m Gerechtigkeit in den rechtsstaatlichen Prozessen wegen der Mauerschüsse, der Rechtsbeugungen und w e g e n Landesverrats, nicht zuletzt die I M - U b e r p r ü f u n g e n werden weitere Zeit beanspruchen. In dem instruktiven Sammelband von Kaelble, Kocka und Zwahr zur Sozialgeschichte der D D R hat der Soziologe M . Rainer Lepsius die Grundordnung des politischen Herrschaftssystems im zweiten deutschen Staat prägnant beschrieben: „durch das Machtmonopol der SED, die Verstaatlichung der Wirtschaft und die Ersetzung von Markt durch Plan, die hierarchisch und bürokratisch organisierten Anweisungs- und Zuteilungsverfahren in Partei und Staat, Unternehmen und Betrieben, Verbänden und Territorialeinheiten, die Einschränkung der Bürgerrechte, die mangelnde Öffentlichkeit und die rechtsstaatlich nicht kontrollierbaren Sanktionsmittel in der H a n d des Partei- und Staatsapparates". Eine relative Selbständigkeit behauptete als einziges Feld das der 462
2. Recht und Unrecht der DDR Religion. Das zentralistische, v o m Prinzip der Einzelleitung geprägte Organisationsmodell der D D R entdifferenzierte die Institutionen, besaß keine intermediären Einheiten mit eigener Willensbildung und folgte dem Nomenklaturprinzip, das gebot, alle in einer N o m e n k l a t u r aufgeführten Positionen durch die zuständigen Kaderabteilungen der Partei besetzen zu lassen. Wie in der NS-Diktatur, so galt auch in der D D R ein Bestand an Rechtsnormen, an denen sich nicht Anstoß nehmen läßt, fanden private w i e behördliche Rechtsakte in großer Zahl statt, deren Gültigkeit außer Zweifel steht. Die Rechtsordnung der D D R kannte durchaus auch Normen zukunftsweisenden und vorbildlichen Charakters. So hat etwa § 326 des ZGB von 1975 in der westdeutschen juristischen Literatur Anklang gefunden, weil eine Vorschrift dieser A r t hier eine Lücke schloß, die sich sonst nur mit bemühten juristischen Konstruktionen ausfüllen ließ. „Bürger", so diese D D R - N o r m , „die bei Unglücksfällen oder Katastrophen Hilfe leisten oder die zur A b w e h r von Gefahren für Leben und Gesundheit von Bürgern oder im Interesse der öffentlichen Ordnung und Sicherheit gehandelt haben", können Erstattung ihrer A u f w e n d u n g e n verlangen. Das Familiengesetzbuch der D D R von 1965 enthielt — u m ein weiteres Beispiel zu nennen — eindrucksvolle Bestimmungen z u m Schutz von Ehe und Familie, zur Gleichberechtigung von M a n n und Frau, die keinen Vergleich zu scheuen brauchten. Die Gemengelage von Staatsunrecht und Recht prägte das Bild. Der ideologische Vorbehalt, unter dem jede Rechtsvorschrift stand, machte sich je nach Materie und Zeit unterschiedlich stark geltend. Die Rechtspolitik verlief, w i e überhaupt die innere Geschichte der D D R , nicht kontinuierlich-gleichförmig. A u c h in der Theorie offenbarten sich Sprünge und Brüche. Die Entwicklung zeigte sich immer abhängig von äußeren Triebkräften, von der Temperatur des Kalten Krieges, nicht zuletzt von den Vorgaben der Sowjetunion, die als Besatzungsmacht und großer Bruder dem Satellitenstaat ihre Muster aufprägte. Doch bei allen Schwankungen in Theorie und Praxis blieb die marxistisch-leninistische Rechtslehre wirksam. In ihrem Kern bedeutete sie die Indienstnahme des Rechts als Mittel des Klassenkampfes, der Diktatur des Proletariats. Als Werkzeug des Kampfes der Arbeiterklasse mußte das Recht seinen Eigenwert verlieren. Vergessen w i r freilich nicht: A u c h anspruchsvollen und kritischen Uberlebenden der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft und des Holocaust w i e etwa dem deutsch-jüdischen Gelehrten Victor Klemperer galt der Kommunismus als einzige Alternative für eine bessere, gerechte Zukunft. Der rote Antifaschismus schien am ehesten das Versprechen einlösen zu können, die Reste der braunen Flut auszutrocknen. Überle463
XII. Nachkriegsdeutschland bende Kommunisten sahen in der deutschen Katastrophe die Bestätigung ihrer Warnungen vor der Gefahr von rechts während der Weimarer Republik. Im Zeichen des Antifaschismus gewann das Regime an seinem Beginn Zugkraft und auch Glaubwürdigkeit, wenngleich es sich nicht überall von ehemaligen Nationalsozialisten trennte. Andrej Wyschinski, der spätere sowjetische Außenminister und einer der führenden Rechtstheoretiker des Marxismus-Leninismus, in den dreißiger Jahren Generalstaatsanwalt und oberster Ankläger, hat den Begriff des Rechts in einer berühmten, in allen kommunistischen Staaten bis weit nach dem Zweiten Weltkrieg geltenden Definition folgendermaßen gefaßt: „Recht ist die Gesamtheit der Verhaltensregeln, die den Willen der herrschenden Klasse ausdrücken und auf gesetzgeberischem Wege festgelegt sind, sowie der Gebräuche und Regeln des Gemeinschaftslebens, die von der Staatsgewalt sanktioniert sind. Die A n w e n dung dieser Regeln w i r d durch die Zwangsgewalt des Staates gewährleistet zwecks Sicherung, Festigung und Entwicklung der gesellschaftlichen Verhältnisse und Zustände, die der herrschenden Klasse genehm und vorteilhaft sind." Dieser normative, legalistisch-positivistische Begriff erinnert an den bürgerlichen Staat des 19. Jahrhunderts. Als neues rechtsetzendes Subjekt freilich erscheint die herrschende Klasse. Das Grundproblem der marxistischen Rechtstheorie: die sachliche Verknüpftheit des Rechts mit der ökonomischen Basis, seine fortwährende inhaltliche Bestimmtheit durch die sich weiterbildenden gesellschaftlichen Verhältnisse, klingt in der Definition allenfalls schwach an. Schubkraft gewann die Lehre von Basis und Uberbau erst durch die Schrift Stalins über Marxismus und Sprachwissenschaft, die der dem Uberbau zugehörigen Sprache eine gewisse Eigenständigkeit zuerkannte. Dieser Denkschritt erlaubte es, Theorie und Praxis auch auf dem Felde des Rechts wieder in Übereinstimmung zu bringen. Stalin lehrte: „Der Überbau w i r d von der Basis hervorgebracht. Aber das bedeutet keineswegs, daß er die Basis lediglich widerspiegelt, daß er passiv, neutral, gleichgültig gegenüber dem Schicksal seiner Basis, dem Schicksal der Klassen, dem Charakter der Gesellschaftsordnung ist. Im Gegenteil, einmal auf die Welt gekommen, w i r d er zu einer gewaltigen aktiven Kraft, trägt er aktiv dazu bei, daß seine Basis ihre bestimmte F o r m annimmt und sich festigt, trifft er alle Maßnahmen, u m der neuen Gesellschaftsordnung zu helfen, der alten Basis und der alten Klasse den Rest zu geben und sie zu beseitigen. . . . Der Überbau w i r d von der Basis ja gerade dazu geschaffen, u m ihr zu dienen, u m ihr aktiv zu helfen, ihre bestimmte F o r m anzunehmen und sich zu festigen, u m aktiv für die Beseitigung der alten, überlebten Basis samt ihrem Überbau zu kämpfen."
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2. Recht und Unrecht der DDR Diese Doktrin machte das die Basis nicht mehr bloß reflektierende Recht zu einer Waffe im Kampf u m den Sieg des Sozialismus. Die „aktive Rolle" des juristischen Uberbaus aufzeigen heiße darum, so ein anderer sowjetischer Autor, seine Rolle als die „eines Instruments im Kampf für die Errichtung des Sozialismus und Kommunismus auf den verschiedenen Etappen des sozialistischen A u f b a u s " darzulegen. Die kommunistische Rechtstheorie folgte dem, auch in der D D R . In der Zeitschrift „Staat und Recht" erklärte ein Jenenser Jurist 1963, das sozialistische Recht könne „nicht als bloße Widerspiegelung der Basis aufgefaßt und direkt aus ihr abgeleitet oder lediglich als eine F o r m des ökonomischen Inhalts der sozialistischen Gesellschaft betrachtet werden". Seine objektiven Grundlagen seien „die politische Macht der Arbeiterklasse im Bündnis mit den Genossenschaftsbauern, der Intelligenz und den anderen Schichten der Werktätigen, das sozialistische Eigentum an den Produktionsmitteln und die systematische, gesetzmäßige Entw i c k l u n g der sozialistischen Gesellschaft". Das sozialistische Recht müsse „Ausdruck der planmäßig zu entwickelnden sozialistischen Verhältnisse sein". Es sei „deshalb M o m e n t der objektiven Gesetzmäßigkeit selbst, Ausdrucksform der objektiven gesellschaftlichen Praxis". In derselben Zeitschrift findet sich 1973 der Satz: „Das sozialistische Recht ist Mittel zur Verwirklichung der Politik der marxistisch-leninistischen Partei, es steht nicht neben oder gar über der Politik." Ihr gebührt der Vorrang. Er gilt gegenüber allen anderen Maßstäben für gesellschaftliches Handeln und also auch im Verhältnis z u m Recht: „Das Recht ist eine der Politik untergeordnete Kategorie." Diese Zitate bringen die beiden Grundaussagen der marxistisch-leninistisch-stalinistischen Rechts- und Staatstheorie treffend z u m Ausdruck: den Instrumentalcharakter des Rechts und die führende Rolle der Partei. Diese H a u p t m a x i m e n hatten ihre Einschärfung erfahren bereits durch die Babelsberger Konferenz des Jahres 1958, eine v o m Zentralkomitee der SED einberufene Tagung, auf der Walter Ulbricht das Hauptreferat hielt: „Die Staatslehre des Marxismus-Leninismus und ihre A n w e n d u n g in Deutschland". Der Redner bekämpfte die „Restpositionen bürgerlicher Ideologie in der Staats- und Rechtswissenschaft". Er bestimmte das sozialistische Recht durch dessen Zweck, nämlich die Entwicklung des Sozialismus. Weil es ihm u m eine vollständige Instrumentalisierung des Rechts und der Rechtswissenschaft ging, verzichtete er auf den hinderlichen Versuch, das Spezifische des Rechts zu bestimmen. Die „staatlichen und rechtlichen Einrichtungen" beschreibt Ulbricht als „Hebel" und „Instrumente" der „gesellschaftlichen U m w ä l z u n g " . Der radikal instrumentalistische Rechtsbegriff erscheint in k a u m zu überbietender Deutlichkeit auch in dem folgenden Satz: „Das Kriterium für die Wissen465
XII. Nachkriegsdeutschland schaftlichkeit unserer Staats- und Rechtslehre ist ihr N u t z e n für die Praxis des sozialistischen Aufbaus." Der Rechtsinstrumentalismus bleibt eingebettet in den dialektischen Materialismus. Nicht mehr das Recht als solches entscheidet, sondern der „dialektische Entwicklungsgang", den die „geschichtlichen Kräfte" in den Klassenkämpfen definieren. Mit der A u f g a b e des Eigenwerts des Rechts erhält auch die juristische Methode ihren Abschied. A n die Stelle der begrifflich-systematischen Durchdringung des Rechtsstoffs soll die Erforschung der gesellschaftlichen Entwicklung als Aufgabe der Rechtswissenschaft treten. Ernst-Wolfgang Böckenförde hat schon 1967 die M e r k m a l e des k o m munistischen Rechtsbegriffs, wie er die Theorie der D D R bestimmte, in fünf markanten Punkten zusammengefaßt: 1. Der kommunistische Rechtsbegriff kennt keinerlei festen, überzeitlichen Maßstab für seinen Inhalt. Allgemein ist dem Recht nur ein Kennzeichen: sein Klassencharakter. 2. Das Recht ist nicht nur die juristische F o r m ökonomischer Gegebenheiten, sondern hat selbst basisbezogene Lenkungsfunktion. Die juristische Fakultät Halle erklärte: „Das sozialistische Recht nimmt die objektiven Gesetzmäßigkeiten der sozialistischen Gesellschaft in sich auf und w i r k t so als Hebel für deren bewußte Durchsetzung." 3. Das Recht ist seinem Wesen nach ausnahmslos Teil und gestaltendes Mittel der Politik. Es hat dieser gegenüber keine begrenzende, sondern eine dienende Funktion. Das Recht w i r d Werkzeug und M o m e n t des revolutionären politischen Prozesses. „Das sozialistische Recht", so der Rechtspflegeerlaß von 1963, „ist ein wichtiges Instrument unseres Staates, u m die gesellschaftliche Entwicklung zu organisieren." 4. Das Recht trägt nach kommunistischem Verständnis in hohem M a ß e materialen, nicht formalen Charakter. Formale Elemente müssen im Konfliktfall zurücktreten. Als materiales Recht hat es — wie alle sozialistische Politik — das Bewußtsein der Menschen zu verändern und ist damit zugleich moralisches Recht, das die bürgerliche Trennung von innen und außen verleugnet. 5. Zu den bezeichnenden M e r k m a l e n gehört schließlich das Fehlen von Beständigkeit, Dauer, Gewißheit und Vorhersehbarkeit. Das Recht muß sich vielmehr immerzu verändern, dem gesellschaftlichen Prozeß und den von der Partei festgestellten Erfordernissen folgen. Die abgeschwächte Normativität des Rechts zeigt sich auch in den verbreiteten deklaratorischen und appellativen Wendungen, die sich durch die Gesetze der D D R ziehen. Weil die permanente Revolution neben Phasen des U m b r u c h s und des A u f b a u s auch solche relativer Konsolidierung kennt, verläuft auch die Entwicklung des Rechts zu Zeiten dynamisch, dann wieder stabilisierend. Das bürgerliche Rechtsdenken und das Juristenmonopol sollten nach dem Willen der Kommunisten folgerichtig verschwinden. Unter dem 466
2. Recht und Unrecht der D D R programmatischen Titel der Entnazifizierung und auf Befehl der S o w j e tischen Militäradministration in Deutschland tauschte die D e u t s c h e Zentralverwaltung für J u s t i z das alte Justizpersonal gegen politisch zuverlässige neue Kader aus. D i e Radikalmaßnahme erreichte ihr Ziel in den J a h r e n 1 9 5 0 / 5 1 . Von insgesamt 1319 R i c h t e r n und Staatsanwälten der Sowjetischen Besatzungszone waren z u m Jahresende 1950 805, also mehr denn 60 Prozent, Absolventen von Volksrichterlehrgängen. D i e meisten R i c h t e r und Staatsanwälte gehörten der S E D an. A n die Stelle der durch lange Ausbildung erzogenen Juristen traten die Volksrichter. Politische Bereitschaft und Lebenspraxis sollten juristisches Fachwissen überflüssig machen. Indessen erwies sich das in den J a h r e n 1946 bis 1951 mit Hilfe von Schnellkursen u n t e r n o m m e n e E x p e r i m e n t als F e h l schlag. D e r hohe Personalschwund infolge fachlichen oder politischen Versagens widerlegte die Theorie. Einer Bankrotterklärung gleich kam die Anordnung, die Absolventen der Volksrichterkurse m ü ß t e n bis 1960 n o c h einmal lernen und nachstudieren, u m Diplomjuristen zu werden. D i e Rechtsfakultäten gewannen ihre Zuständigkeit voll zurück. Es bestätigte sich die Erfahrung, daß im R i c h t e r a m t politisches Bewußtsein und gesellschaftliche K o m p e t e n z das Fachwissen nicht ersetzen können. E i n moderner Staat kann auf sorgfältig und aufwendig ausgebildete J u risten nicht verzichten. D i e kommunistische Rechtsideologie spiegelte sich auch im Text der Verfassungsurkunde. Artikel 4 7 Abs. 2 der Verfassung von 1968 bestimmte: „ D i e Souveränität des werktätigen Volkes, verwirklicht auf der Grundlage des demokratischen Zentralismus, ist das tragende Prinzip des Staatsaufbaus." D e r demokratische Zentralismus, nach sowjetischem Vorbild 1952 durchgesetzt unter Aufgabe der Reste k o m m u n a l e r Selbstverwaltung und der Länder, bedeutete die doppelte K o n t r o l l e der örtlichen R ä t e und ihrer Fachorgane durch die Volksvertretung auf h o r i z o n taler E b e n e sowie durch das übergeordnete Staatsorgan auf vertikaler Linie. Gegenüber beiden war das örtliche Staatsorgan „verantwortlich und rechenschaftspflichtig". D a m i t bestand eine volle Garantie für das einheitliche W i r k e n aller staatlichen Stellen. Diese K o n z e p t i o n schloß die auf Straf- und Zivilsachen beschränkte Gerichtsbarkeit mit ein. D i e Grundzüge dieses Gefüges gehen auf Lenin zurück, der das Prinzip sowohl für den A u f b a u des Staates wie auch für die Organisation „der Arbeiterklasse und ihrer marxistisch-leninistischen Partei" verfocht. A u c h für die zuletzt über zwei Millionen Mitglieder zählende S E D galt der demokratische Zentralismus. D a b e i dominierte die zentralistische K o m p o n e n t e über die demokratische von Anbeginn. D i e S E D , eine bürokratisch zentralisierte, von hauptamtlichen Funktionären beherrschte Apparatpartei, ersetzte Wahlen durch K o o p t a t i o n e n und Er467
XII. Nachkriegsdeutschland nennungen, verwandelte demokratische Verfahren zu einem gehaltlosen Ritual und ließ nachgeordnete Parteiorgane nur als Vollzugsinstanzen, die Parteimitglieder nur als Befehlsempfänger gelten. Die straff geleitete Partei selbst erschien durchaus zutreffend bereits in Artikel 1 der Verfassung von 1968 als die führende Kraft des sozialistischen Staates. Ein Verfassungsstaat im modernen Sinn ist die D D R weder erklärtermaßen noch der Sache nach gewesen. Die französische „Declaration des droits de l ' h o m m e et du citoyen", das Grundgesetz des bürgerlichen Zeitalters von 1789, bestimmte in ihrem Artikel 16 das Folgende: „Toute societe dans laquelle la garantie des droits n'est pas assuree, ni la Separation des pouvoirs determinee, n'a pas de constitution." Die marxistisch-leninistische Doktrin verleugnete diesen seit dem Ende des 18. Jahrhunderts in den europäischen und nordamerikanischen Verfassungsstaaten geltenden Hauptsatz. Garantien konnte ihr Recht nicht gewähren, schon gar nicht grundrechtliche. U n d anstelle der Gewaltenteilung herrschte SED-Zentralismus. Totalitarismus bedeutet eine alles durchdringende, perennierende Staatsorganisation. Das System totalitärer Herrschaft kennzeichnen ein monistisches Gewaltzentrum mit unbegrenztem und ausschließlichem Machtanspruch und -bereich sowie eine Ideologie mit Ausschließlichkeitscharakter. Ein weniger auf die A r t der Durchsetzung als vielmehr auf den Anspruch und flexible Vollzugsformen abstellender Totalitarismusbegriff relativiert die Bedeutung von Terror und Gewaltverbrechen und zielt stärker auf die Latenz von Terror und Gewalt und den Ausschluß von Pluralität. Der totalitären Diktatur fehlen jedenfalls die M e r k m a l e der Rechtsstaatlichkeit, sie kennt die Einparteienherrschaft (in der D D R notdürftig verdeckt durch das Blocksystem), staatlich verwaltete Ideologie, ein in deren Interesse mißbrauchtes Recht sowie eine extensive und intensive Staatsschutzpraxis. Der systematische Bruch selbstgesetzten Rechts, dessen aufs äußerste gesteigerte Instrumentalisierung gehören historisch z u m Bild totalitärer Diktaturen. Die D D R bot es in verhängnisvoller Weise auf dem Feld der Strafrechtspflege. Darüber geben neuere Untersuchungen mittels seit der Wende der Wissenschaft zugänglichen Quellen insbesondere des Zentralen Parteiarchivs der SED im einzelnen Aufschluß. Zu den eindrucksvollen Publikationen rechnen die Werke, die das Bundesministerium der Justiz förderte und jüngst herausgab. Die Verfassungsurkunden der D D R von 1949, 1968 und 1974 kannten justitielle Grundrechte, die nach ihrem Wortlaut vielfach der rechtsstaatlichen Tradition folgten: so die Unabhängigkeit der Richter, Schöffen und Mitglieder der gesellschaftlichen Gerichte, das Gesetzlichkeitsprinzip, die richterliche Entscheidung über Festnahmen und Hausdurchsu468
2. Recht und Unrecht der DDR chungen, die M a x i m e des gesetzlichen Richters, das Verbot von Ausnahmegerichten. Doch diese Garantien bestimmten die Strafrechtspflege nur dort, w o sie dem politischen Interesse der u m die Sicherheit ihrer Herrschaft und u m die Transformation der Gesellschaft bemühten SED nicht im Wege standen. Schon die Gesetzestexte selbst schwächten oder konterkarierten den rechtsstaatlichen Gehalt. Die Verfassungsurkunde von 1968 etwa verband bezeichnenderweise in der Uberschrift des 4. Abschnitts die Rechtspflege mit der „sozialistischen Gesetzlichkeit". Die Strafprozeßordnung von 1952 betonte schon an ihrem Anfang „die erzieherische A u f g a b e des Strafverfahrens": „Das Strafverfahren soll zur Achtung vor dem sozialistischen Gesetz, zur Achtung vor dem sozialistischen Eigentum, zur Arbeitsdisziplin und zur demokratischen Wachsamkeit erziehen." Hier klingt die Funktion der Justiz als „Hebel der gesellschaftlichen U m w ä l z u n g " bereits an. Die Machthaber ihrerseits sprachen diese Funktion deutlich aus. Josef Streit, zuerst langjähriger Sektionsleiter „Justiz" im Apparat des Zentralkomitees der SED, 1962 dann z u m Generalstaatsanwalt der D D R berufen, brachte die Doppelfunktion des Strafrechts 1959, in einem Jahr forcierter Zwangskollektivierung der Landwirtschaft, auf die Formel: „Die Rechtsprechung und auch die Aufsichtstätigkeit der Staatsanwaltschaft eines sozialistischen Staates dienen nicht nur dem Schutz der Gesellschaftsordnung, sondern haben im besonderen als wichtige Hebel für die gesellschaftliche U m w ä l z u n g zu wirken." In der ersten Phase der DDR-Justizgeschichte haben die Machthaber die Grundlagen für alles Weitere gelegt. Sie haben mit einer Gewaltsamkeit, die sich in der Folge minderte, das Gebäude der Parteijustiz errichtet, „dessen Zimmer", w i e Wolfgang Schuller formulierte, „dann später etwas freundlicher tapeziert wurden, denn der Bau stand". Das Grundmodell der Justizerneuerung zeigte sich — bereits unter der Geltung der ersten, noch stark dem Weimarer Vorbild folgenden Verfassung — bei den Waldheimer Prozessen des Jahres 1950 gegen aus sowjetischer Internierung Entlassene mit weit über dreitausend Opfern, wenngleich sich ein solches Massen- und Schnellverfahren, von Thomas M a n n in einem Brief an Ulbricht als „Blutschauspiel" bezeichnet, mit massivsten Eingriffen in den Rechtsgang zu DDR-Zeiten nicht wiederholte. Der Mittel des politischen Eingriffs in Justizverfahren bediente sich die SED-Führung freilich auch nach den Prozessen zu Waldheim in verschiedenartiger Kombination und Verfeinerung. Zu diesen Steuerungs- und Eingriffsmechanismen gehörte das in A b weichung von allgemeinen gesetzlichen Zuständigkeitsregeln ad hoc zur Entscheidung bestimmter Einzelfälle gebildete Ausnahmegericht, die A u s w a h l der Richter durch zentrale Parteigremien nach dem Kriterium 469
X I I . Nachkriegsdeutschland der Parteilichkeit, die K o n t r o l l e über das Verfahren von der Anklage über das Urteil bis z u m Vollzug durch übergeordnete Parteiinstanzen, der Ausschluß der Öffentlichkeit, das Operieren mit willkürlichen „Deliktfabrikaten" ( O t t o Kirchheimer), die Maßregelung von J u s t i z funktionären und R i c h t e r n auch über die S E D - P a r t e i k o n t r o l l k o m m i s sion, das Fernhalten unabhängiger Verteidiger und damit der A b b a u des kontradiktorischen Elements im P r o z e ß . D a s S E D - R e g i m e schränkte die freie Advokatur ein, überwachte und steuerte die Anwaltschaft als „gesellschaftliche Einrichtung sozialistischer Rechtspflege", kollektivierte sie auch z u m überwiegenden Teil in Kollegien, „mit einigen genossenschaftlichen Strukturelementen" (Franz N o r b e r t O t t e r b e c k ) . Das Ministerium ließ frei praktizierende E i n z e l anwälte nur n o c h ausnahmsweise zu, vornehmlich dann, wenn diese besondere Aufgaben übertragen erhalten und durch den Vorstand eines Kollegiums nicht über die Revision der Handakten kontrolliert werden sollten. T r o t z allen D r u c k e s gelang es der O b r i g k e i t aber nicht, eine h o m o g e n e sozialistische Rechtsanwaltschaft zu formieren. D i e relativ geringe Zahl der Anwälte sank von 840 im J a h r e 1953 auf 606 im J a h r 1988. Ihre Mehrheit fand sich mit den gegebenen U m s t ä n d e n ab und leistete ihren verhältnismäßig gut bezahlten Dienst. B e i engagierter Parteinahme gegen die verordneten Staatsinteressen drohten Disziplinierung und Berufsverbot. Als Mittel der R e v o l u t i o n von oben diente die J u s t i z der D D R bei der „ A k t i o n R o s e " , die im F r ü h j a h r 1953 an der mecklenburgischen Küste und auf R ü g e n zahlreiche kleine Eigentümer von H o t e l s , Pensionen, T a x i - U n t e r n e h m e n und anderen gewerblichen Betrieben erfaßte. F ü n f Einsatzgruppen überprüften über siebenhundert Betriebe mit dem Ziel der Enteignung. Weit über vierhundert Personen gerieten in U H a f t , vierhundert schließlich wurden zu Gefängnis- und Zuchthausstrafen von einem J a h r bis zu zehn J a h r e n verurteilt. M e h r als zweihundert Verfolgte retteten sich durch Republikflucht. B e i der „ A k t i o n R o s e " k a m es, soweit ersichtlich, z u m letzten M a l zur Bildung eines Ausnahmegerichts. D i e Partei k o n n t e sich fortan darauf verlassen, so einer der besten K e n n e r der Quellen: F a l c o Werkentin, „daß sie im Prinzip alle R i c h t e r fest im G r i f f hatte, in jedem Einzelfall eingreifen konnte und der Generalstaatsanwalt über die Festlegung des Gerichtsstandes auch die für ein bestimmtes Verfahren als besonders geeignet eingeschätzten R i c h t e r auswählen k o n n t e " . D a s S E D - R e g i m e begegnete dem Volksaufstand des 17. J u n i 1953 strafpolitisch mit aller Härte, angeleitet — wie zuvor schon bei der Festlegung des N e u e n Kurses — durch das P o l i t b ü r o der K P d S U . A u c h wenn die Partei keine Ausnahmegerichte einsetzte, so gab es 470
2. Recht und Unrecht der DDR doch eine Sonderprozedur der Anleitung für Prozesse gegen die Insurgenten, in ihrer großen Mehrheit Arbeiter. Die Justizfunktionäre Hilde Benjamin und Ernst Melsheimer berichteten ihrem Politbüro: Es „bestehen sowohl bei der Obersten Staatsanwaltschaft wie beim Justizministerium Instrukteurbrigaden, die regelmäßig nach festen Plänen die Bezirke und in jedem Bezirk auch gegebenenfalls einige Kreise aufsuchen, Weisungen der zentralen Stellen übermitteln, die Arbeit laufend beobachten und über die von ihnen gemachten Beobachtungen und Feststellungen den zentralen Stellen Signale geben". Bei den Verfahren gegen die Aufständischen des 17. Juni behauptete das Politbüro der SED insgesamt seine Position als Oberster Ankläger und „Oberstes Gerichts-Kollegium" trotz seines dem Aufstand vorausgegangenen Beschlusses, die demokratische Gesetzlichkeit zu achten. Das Politbüro faßte Beschluß über die „Aburteilung der bei Ausschreitungen Verhafteten", betätigte sich als Gnadeninstanz, diktierte dem Obersten Gericht und der Generalstaatsanwaltschaft Richtlinien, verwarf und bestätigte Todesurteile. Im System der D D R galten Recht und Gesetz nur als der juristische A u s d r u c k der historischen Gesetzmäßigkeit beim A u f b a u zuerst des Sozialismus und dann des Kommunismus. Ein Funktionär im ZK der SED, verantwortlich für Justiz, Polizei und Staatssicherheit, erklärte 1952: „Die Organe der Justiz sind Teile des Staatsapparates, und deshalb gelten alle die Anweisungen, Maßnahmen, Beschlüsse der Partei, die sich auf den Staatsapparat beziehen, unmittelbar auch für die Genossen im Justizapparat." Unverbrämt bestimmte der Arbeitsplan des Obersten Gerichts aus dem Jahre 1958: „Die gesamte Rechtsprechung muß noch mehr durchdrungen werden von der Erkenntnis, daß sie eine wichtige Methode zur Durchsetzung und Realisierung der Politik von Partei und Regierung ist." Das Oberste Gericht lenkte die Rechtspflege nach dem staatsorganisatorischen Grundprinzip des sowjetischen Zentralismus im Dienste der Partei. Die Abhängigkeit von den M a ß g a b e n der SED-Führung zeigte sich augenfällig in den Schauprozessen der Frühphase, bei denen die Machthaber die Öffentlichkeit manipulierten und über Presse, R u n d funk und Film das Gericht als eine Tribüne der Agitation benutzten, u m Gegner zu entlarven. Die Abhängigkeit erwies sich auch bei den Geheimprozessen, in denen das Regime seine Gegner unschädlich machte. Der Ausschluß der Öffentlichkeit folgte politischem Kalkül. Generalstaatsanwalt Ernst Melsheimer, Mitglied des ZK der SED, erklärte auf einer Arbeitstagung 1953: „Die Öffentlichkeit soll wissen, w a s verhandelt w o r d e n ist, w e n n dieses Wissen uns in unserer Entwicklung vorantreibt. . . . Es kann Fälle geben, . . . in denen es wünschenswert 471
X I I . Nachkriegsdeutschland ist, in breiter Öffentlichkeit zu verhandeln; aber solche Fälle müssen . . . ausgesucht werden, da muß U b e r e i n s t i m m u n g zwischen dem J u s t i z minister, dem Generalstaatsanwalt und dem Minister für Staatssicherheit bestehen . . . " W ä h r e n d der siebziger und achtziger J a h r e führten vermeintliche Sicherheitsinteressen in Verfahren wegen Grenzvergehen, Staatsverleumdung, Widerstandes gegen die Staatsgewalt und R o w d y t u m zunehmend z u m Ausschluß der Öffentlichkeit. I m Verlauf seines vierzigjährigen Bestehens setzte das O b e r s t e G e richt mannigfache Mittel ein, u m die Rechtspflege anzuleiten und zu kontrollieren: Sie reichten von Meldungen, Richtlinien und Inspektionen bis hin zur Kassation rechtskräftiger Entscheidungen auf Antrag des Generalstaatsanwalts und des O G - P r ä s i d e n t e n , auch auf Anregung des Ministeriums. Wo es u m den Schutz des Regimes ging, lenkten die zentralen politischen Vorgaben die gesamte Justiz mit Erfolg. H i e r vor allem brachte sich die Parteiführung über die zentralen J u s t i z - und Sicherheitsorgane zur Geltung. A n den mehrmals im J a h r stattfindenden Leiterberatungen nahmen neben dem Präsidenten des O b e r s t e n G e richts der J u s t i z - und der Innenminister, ein ranghoher Vertreter des Ministeriums für Staatssicherheit, ein Vertreter des Z K der S E D sowie der Generalstaatsanwalt teil, u m aktuelle Fragen zu regeln und die K a derauswahl zu treffen. Z u den düsteren Kapiteln der jüngeren Unrechtsgeschichte gehört die Verhaftung und Aburteilung v o n Justizfunktionären, insbesondere v o n Richtern, die für ihre U n b o t m ä ß i g k e i t im Dienste gerechter Urteile bitter zu büßen hatten. Diese Vorgänge haben nicht einmal in der nationalsozialistischen D i k t a t u r ihresgleichen. D i e harte Praxis der fünfziger J a h r e mäßigte sich später. Das System der Richterwahl und -abwahl b o t die Möglichkeit, weniger auffällig zu sanktionieren und vorauseilenden G e h o r s a m zu erzwingen. A b e r auch die späte D D R kannte n o c h harsche Abberufungsverfahren gegen R i c h t e r aus politischen Gründen, w o bei schon relativ harmlose Äußerungen genügten. Beispielhaft erscheint der Fall Peter Peukert. D e r R i c h t e r am Kreisgericht Potsdam-Stadt k a m vor dem Hintergrund der Raketendiskussion Anfang der achtziger J a h r e in Gewissensnöte: E r k ö n n e sich nicht vorstellen, gegen einen friedlichen D e m o n s t r a n t e n , der dem Postulat „Schwerter zu Pflugscharen" folgte, einen Haftbefehl erlassen zu müssen, nur weil sich der Protest auch gegen die sowjetischen R a k e t e n richtete. E r weigerte sich, für seine anstehende Wiederwahl zu kandidieren. Weil er seine Äußerungen trotz mehrfacher E r m a h n u n g e n der Parteileitung nicht zurücknahm, wurde er 1984 als R i c h t e r abberufen, nachdem ihn zuvor die S E D im Eilverfahren ausgeschlossen hatte.
472
2. Recht und Unrecht der DDR Ü b e r Kaderpolitik und Anleitung setzte die politische Führung die je aktuelle Parteilinie in der gerichtlichen Spruchpraxis durch. Im Laufe der Jahrzehnte verlagerte sich freilich die politische Repression von der Justiz stärker auf das Ministerium für Staatssicherheit, dessen Apparat mehr und mehr an Personal und Gewicht gewann. Ein Kenner spricht von der größer werdenden Scham, die das Regime veranlaßte, oppositionelles Auftreten im Vorfeld von Strafverfahren zu kontrollieren und zu unterbinden. Doch an der prinzipiellen Suprematie der Parteiführer über Gesetz und Recht bis hin z u m Eingriff im Einzelfall änderte sich bis z u m Zusammenbruch der D D R nichts. Wer die Quellen auf sich w i r k e n läßt, dem drängt sich der Eindruck auf, daß die Steuerung der Rechtspflege in der D D R eine Perfektion, eine Intensität erreichte, hinter der die Justizlenkung der N a z i s zurückbleibt, so effektiv auch sie im Einzelfall wirkte. Die kommunistische Ideologie in ihrer Geschlossenheit, Dichte, Unduldsamkeit und Dauerhaftigkeit durchdrang alle Felder des öffentlichen und staatlichen Lebens, gerade auch die Rechtspflege, in einem Höchstmaß. Nicht allein nackte J u s t i z w i l l k ü r führte zu Unrechtsurteilen, die den Maßstäben des Rechtsstaates H o h n sprechen. Viel mehr noch entsprangen Unrechtsurteile „jener juristischen Entscheidungsfindung, . . . in der den Weisungen der SED gemäß die Wahrung der .sozialistischen Gesetzlichkeit' und die Parteilichkeit ihrer A n w e n d u n g eine dialektische Einheit bilden sollten" (Karl Wilhelm Fricke). Es bleibt der Opfer und Leiden zu gedenken, die der Strafvollzug forderte. N a c h vielen Zeugnissen w a r der Strafvollzug in den Händen der SED menschenunwürdig. Er blieb der offenen und öffentlichen Diskussion entzogen, und die Qualen der in Bautzen, Waldheim, Brandenburg, Bützow, Hoheneck, Cottbus oder Torgau Eingesperrten w a r e n ein kalt kalkulierter Faktor der Machtpolitik des Regimes. Die meisten politischen Häftlinge empfanden die Bevorzugung der kriminellen Straftäter im Alltag des Vollzugs. U m g e k e h r t fühlten sich die nicht politisch Verurteilten durchaus in unfairer Weise von der Chance z u m Freikauf in den Westen ausgeschlossen, über den gegen immer neue Warenlieferungen zwischen 1964 und 1989 mehr als dreißigtausend Gefangene in die Freiheit der Bundesrepublik Deutschland gelangten. Gewiß durchlief auch der Strafvollzug der D D R eine Entwicklung, die allmählich gewisse Verbesserungen brachte. So betonte das Strafvollzugsgesetz von 1977, das freilich an der „sozialistischen Gesetzlichkeit" festhielt, den erzieherischen Zweck der Freiheitsstrafe. Doch die Reformansätze schufen keinen tiefgreifenden Wandel. Bezeichnenderweise unterstand der Strafvollzug dem Minister des Inneren und Chef der Deutschen Volkspolizei. Starken Einfluß nahm das Ministerium für 473
X I I . Nachkriegsdeutschland Staatssicherheit, das auch eigene Untersuchungshaftanstalten betrieb. D e r e n Personal hatte, wie die Dienstanweisung befahl, — „erfüllt mit einem h o h e n Klassenbewußtsein" — „in den Häftlingen Verbrecher und Feinde des Friedens und des Fortschritts zu sehen". Unabhängig v o n wechselnden kriminalpolitischen Absichten behielt der Strafvollzug seine F u n k t i o n als letztes Mittel politischer Selbstbehauptung des Regimes, wenn es in den fünfziger Jahren darum ging, die Verstaatlichung durchzusetzen, in den Sechzigern die „ G r e n z v e r l e t z e r " und „Republikflüchtlinge" zu bekämpfen, während der siebziger und achtziger J a h r e die Ausreisebegehren und die oppositionellen Bürgerbewegungen niederzuhalten. J e und je zeigte sich die Doppelgleisigkeit der obrigkeitlichen M a ß nahmen. W ä h r e n d die D D R spätestens seit ihrem Beitritt zur U N O 1973 Wert auf das Bild eines der Rechtssicherheit und der Resozialisierung verpflichteten Strafvollzugs legte, ließ der Innenminister in den Anstalten die berüchtigten „Tigerkäfige", gesteigert gesicherte Arrestzellen für die exzessive Anwendung der Hausstrafen, einrichten. A u c h die sich oft wiederholenden Schübe massenhafter Gnadenerweise und Amnestien, Justizkorrekturen großen Stils, belegen die Doppelgleisigkeit der S E D - P o l i t i k , die zwischen ideologischem Voluntarismus und zynischem Pragmatismus schwankte (Brigitte Oleschinski). D i e Härte des räumlich unzulänglichen, die Arbeitskraft der Gefangenen ausbeutenden Vollzugs hatte ihre Wurzeln wie manch anderer U b e l s t a n d in den frühen Jahren der D D R . Als die sowjetische Regierung am Beginn des Jahres 1950 über zehntausend Speziallagergefangene der Volkspolizei als „ N a z i - und Kriegsverbrecher" überstellte, überforderte sie die deutschen Gefängnisse, in denen eine feindselige A t m o s p h ä r e entstand. Viele der übergebenen Gefangenen waren verhaftete Sozialdemokraten, oppositionelle K o m m u n i s t e n , enteignete „Klassenfeinde" und bekennende Gläubige verschiedener Konfession, auch als vermeintliche Werwölfe verhaftete Jugendliche. D a s kommunistische Feindbild u m s c h l o ß sie wie die im D r i t t e n R e i c h mehr oder weniger schuldig G e w o r d e n e n . D i e schreiende Ungerechtigkeit seiner Anfänge hat der D D R - S t r a f v o l l z u g nie abzustreifen vermocht. H a t es in der D D R gesetzliches U n r e c h t gegeben im Sinne der F o r mel, die der große Heidelberger Rechtsdenker Gustav R a d b r u c h erdachte, u m an ihr nationalsozialistische N o r m e n zu messen? D a n a c h n i m m t extreme Ungerechtigkeit ordnungsgemäß gesetzten und sozial wirksamen N o r m e n den Rechtscharakter und die Geltung. O d e r n o c h kürzer gefaßt: ein extrem ungerechtes Gesetz schafft kein R e c h t . D e r fünfte Strafsenat des Bundesgerichtshofes hat dieses Kriterium auf § 2 7 Abs. 2 Satz 1 des D D R - G r e n z g e s e t z e s angewandt und die Regel über 474
2. Recht und Unrecht der D D R den Schußwaffengebrauch „wegen Verletzung vorgeordneter, auch von der D D R zu beachtender allgemeiner Rechtsprinzipien und wegen eines extremen Verstoßes gegen das Verhältnismäßigkeitsprinzip bei der Rechtsfindung" verworfen ( B G H S t 39, 1 ff.). R o b e r t A l e x y hat in der Diskussion über die Rechtswidrigkeit der Todesschüsse an der D D R G r e n z e w o h l das Richtige getroffen, indem er ausführte: „Wenn . . . alles z u s a m m e n k o m m t : ein ganzes und einziges Leben, das man führen soll, wie man nicht will, die U n m ö g l i c h k e i t , sich mit Argumenten dagegen zu wehren, das Verbot, dem zu entfliehen, und der Todesschuß für den, der das nicht hinnimmt, dann kann an dem Urteil, daß extremes U n recht geschah, als das L e b e n der zumeist jungen M e n s c h e n ausgelöscht wurde, die ihre K o n z e p t i o n des guten und richtigen Lebens, ganz gleich wie immer diese aussah, selbst u m den Preis ihres Todes realisieren wollten, kein Zweifel sein." D i e D D R war gewiß kein Rechtsstaat, wie er sich in Deutschland n o c h im Zeichen des Konstitutionalismus während des 19. Jahrhunderts entfaltete und wie er sich als Daueraufgabe unter dem Grundgesetz stellt. D i e D D R wollte auch kein Rechtsstaat in diesem Sinne sein. D i e Kontroverse geht darum, o b sie die Klassifikation als Unrechtsstaat verdiene. In der politischen D e b a t t e wie in der zeithistorischen und der juristischen Literatur steht der umfassend negative Begriff für den ostdeutschen Staat im Gebrauch. Freilich bleibt Vorsicht geboten. D i s t i n k tionen, Abstufungen, Vergleichsmöglichkeiten dürfen über dieser Klassifikation nicht verloren gehen. Sie darf auch den B l i c k dafür nicht verstellen, daß der Unrechtsstaat das R e c h t keineswegs schlechthin verdrängt. A u c h ein Unrechtssystem, so hat das Bundesverfassungsgericht geurteilt und damit die D D R gemeint, k ö n n e nicht umhin, „alltägliche Fragen des Gemeinschaftslebens auf weite Strecken in einer Weise zu lösen, die sich äußerlich von einer formal rechtsstaatlichen Lösung fast nicht unterscheidet". Ernst Fraenkel hat das N S - R e g i m e in diesem Sinne als Doppelstaat charakterisiert, ein Begriff, der sich auch zur Kennzeichnung der D D R empfiehlt. Typisch für das Nazireich sei der Vorbehalt des Politischen, unter dem alles R e c h t stand. D i e gesamte Rechtsordnung stand zur Disposition der politischen Gewalt. Soweit j e d o c h die Gewalthaber von ihren Machtbefugnissen keinen G e b r a u c h machten, regelte sich das private und öffentliche L e b e n nach den N o r men des ü b e r k o m m e n e n oder neugeschaffenen Rechts. Es bestand also ein Nebeneinander von N o r m e n s t a a t und Maßnahmestaat, von G e s e t z lichkeit und politischem Terror. D e r Generalvorbehalt des S E D - R e g i m e s hieß „die sozialistische G e setzlichkeit". D e r D D R - R e c h t s w i s s e n s c h a f t l e r H e r m a n n K l e n n e r bestimmte sie wie folgt: „Die sozialistische Gesetzlichkeit ist . . . eine M e 475
X I I . Nachkriegsdeutschland thode der D i k t a t u r des Proletariats und seiner staatlichen Tätigkeit, die in glänzender Weise den Zwang mit der bewußten Disziplin vereinigt, w o b e i auch der Zwang n o c h (im Gegensatz z u m Z w a n g des bürgerlichen Staates) zur echten Erziehung der M e n s c h e n beiträgt. D a ß die sozialistische Gesetzlichkeit Autorität auch da genießen muß, w o die Uberzeugungsarbeit versagt, hat für die Gesetzlichkeit eines Arbeiterund Bauernstaates in seiner ersten Phase erhöhte Bedeutung. D i e sozialistische Gesetzlichkeit ist der juristische Ausdruck der historischen G e setzmäßigkeit b e i m A u f b a u des Sozialismus und des K o m m u n i s m u s . " In dieser juristischen Zauberformel mit sowjetischen Panzern als Hintergrund lag der Ausgang für alle Verirrungen. M o c h t e das revolutionäre Begriffsinstrument im Lauf der J a h r z e h n t e an sichtbarer Virulenz verlieren, so stand es den D i k t a t o r e n doch stets und bei geeigneten Anlässen zu G e b o t e . D i e Rechtsregeln blieben Wachs in den H ä n d e n der Parteigewaltigen, die Worte des Gesetzes oft genug nur Fassade, über die verdrehende M e t h o d e der unbegrenzten Auslegung pervertiert oder ganz beiseite geschoben. Weil das totalitäre R e g i m e das öffentliche wie — über ein perfektes Spitzelsystem — auch das private L e b e n zu durchdringen vermochte, war die D D R ein G e m e i n w e s e n mit zwei G e sichtern, ein doppelbödiger Staat: in seinem K e r n geprägt durch U n recht, in vielen äußeren Zügen hingegen unauffällig, rechtschaffen. U n ter dem B o d e n des Rechts befand sich ein Abgrund des Unrechts. Wer dies unter dem E i n d r u c k erdrückender Beweise unbeschönigt konstatiert, verurteilt damit nicht schlechthin die M e n s c h e n , die in diesem Staat lebten, die ihm dienten oder deren Idealismus das S E D - R e g i m e auf tragische Weise mißbrauchte. Wer feststellt, daß die D D R in ihrem G r u n d oder K e r n ein Unrechtsstaat war, bezeichnet freilich eine historische Gegebenheit, die es bei der Beurteilung auch der Vorgänge und Handlungen im einzelnen bewußt zu halten gilt. Von der Aufgabe, das Rechtssystem der D D R zu analysieren, ist die andere zu unterscheiden, menschliches Verhalten unter diesem System im Einzelfall an den M a ß s t ä b e n des geltenden Rechts, insbesondere nach den N o r m e n des versöhnlichen Einigungsvertrags, zu messen. D e r Einigungsvertrag wies unseren Gerichten einen mühsam-skrupulösen Weg rechtsstaatlicher Aufarbeitung der D D R - V e r g a n g e n h e i t . A u f diesem Weg stellen sich vielfältige Probleme, vornehmlich dasjenige der individuellen Verantwortlichkeit, das w o h l regelmäßig auf der E b e n e des Schuldvorwurfs zu lösen ist. „ N u r ein sehr kleiner Teil des D D R U n r e c h t s hat zu einer Verurteilung geführt. In einer großen A n z a h l der Fälle bestanden Ermittlungs- und Beweisschwierigkeiten. A b e r auch rechtlich wurden die G r e n z e n der Verfolgbarkeit von der Rechtsprechung eng gezogen" (Friedrich-Christian Schroeder, 2000). A u c h F r e i 476
2. Recht und Unrecht der D D R Sprüche aus subjektiven Gründen in rechtsstaatlichen Verfahren können und dürfen uns das Unheil aber nicht vergessen lassen, das eine verfehlte Rechtstheorie für ungezählte Deutsche heraufbeschworen hat. Diese Theorie hat das Recht der marxistischen Ideologie dienstbar gemacht mit dem Ziel der Aufrichtung eines unumschränkten Gemeinwesens, das die rechtsstaatlichen Prinzipien zur Limitation von Herrschaft entschieden verwarf. Wenn sich auch die Verletzungen und Einbußen, die das S E D - R e g i m e seinen O p f e r n an Seele, Leib und G u t zufügte, nicht im eigentlichen Sinne ausgleichen lassen, so kann und soll die Rechtsgemeinschaft sie doch lindern. So haben Gesetzgeber und J u s t i z viel geleistet, u m politisch Verfolgte strafrechtlich zu rehabilitieren. D i e strafrechtliche Rehabilitation begann schon A n f a n g des Jahres 1990 noch im Zeichen der D D R durch Kassationsverfahren. D a s Erste SED-Unrechtsbereinigungsgesetz v o n 1992 enthielt nach einer Vorgabe des Einigungsvertrages zwischen den beiden deutschen Regierungen von 1990 als wesentlichen Bestandteil das Gesetz über die Rehabilitierung und Entschädigung von O p f e r n rechtsstaatswidriger Strafverfolgungsmaßnahmen im Beitrittsgebiet (StrRehaG, neu gefaßt 1997). D i e strafrechtliche Rehabilitierung begründet einen Anspruch auf soziale Ausgleichsleistungen, auf Erstattung gezahlter Geldstrafen, K o s t e n des Strafverfahrens, notwendiger Auslagen und auf Rückübertragung oder Rückgabe eingezogener Gegenstände oder Vermögen. D a s Zweite SED-Unrechtsbereinigungsgesetz von 1994 eröffnete die Möglichkeit, rechtsstaatswidrige Entscheidungen über Freiheitsentzug außerhalb eines Strafverfahrens anzufechten. D a s Zweite Gesetz zur Verbesserung rehabilitierungsrechtlicher Vorschriften von 1999 brachte neue Vorschriften zur Fristverlängerung, zur Vereinheitlichung der Entschädigung, zur Vererbbarkeit des Anspruchs, zur Härteregelung und z u m Kreis der Berechtigten. Keineswegs weniger schwer fiel es dem Gesetzgeber und den Gerichten, die eigentums- und vermögensrechtlichen Konflikte im Dienste des Rechtsfriedens zu lösen. D i e rechtsverbindliche Grundlage bot die „ G e m e i n s a m e E r k l ä r u n g " als Anlage z u m Einigungsvertrag der beiden deutschen Regierungen von 1990. Darauf beruhen das dem Gedanken der Wiedergutmachung verpflichtete Gesetz zur Regelung offener Vermögensfragen (VermG) von 1990 ( N J W 1990, 2799-2803) sowie das Entschädigungs- und Ausgleichsleistungsgesetz von 1994. D i e „ G e meinsame E r k l ä r u n g " ließ — durchaus problematisch — die Enteignungen auf besatzungsrechtlicher oder besatzungshoheitlicher Grundlage (1945 bis 1949) fortbestehen; (gebilligt durch das BVerfG, N J W 1991, 1597). A u c h sonst ließ sie eine Wiederherstellung der ursprünglichen Eigentumsordnung nicht einfach zu. D a s VermG löste den Konflikt 477
XIII. Europäisches Erbe und Integration zwischen Wiedergutmachung und Vertrauensschutz mittels Regeln über den gutgläubigen Erwerb, über den Wertausgleich, über das Bestehenbleiben dinglicher und schuldrechtlicher Miet- und Nutzungsrechte und über das Vorkaufsrecht von Mietern und Nutzern. Die Rechtsprechung tat ein Übriges, u m das Unrecht sozialistischer Enteignungen weitgehend wieder gutzumachen. Freilich blieb manche Frage, zumal das U n recht der Bodenreformenteignungen, nicht oder unbefriedigend gelöst — auch z u m Vorteil des Bundeshaushalts, w a s Unbehagen zur Folge haben muß. Die N o t w e n d i g k e i t von Detailkorrekturen durch Gesetzgebungsakt und Richterspruch ergab und ergibt sich aus fortlaufend neuen Erkenntnissen und Anforderungen im Interesse der Gerechtigkeit und des Rechtsfriedens. Deutschland w i r d noch Jahrzehnte benötigen, bis in Ost und West wirklich „zusammengewachsen ist, w a s zusammengehört" ( W i l l y Brandt). U n d „um zu verstehen, w a r u m es so langsam geht, müssen w i r die Geschichten der westlichen und östlichen Teile studieren" (Michael Stolleis). Der „Juristischen Zeitgeschichte" bleibt noch manches zu tun.
XIII. Europäisches Erbe und Integration
1. Europäische
Traditionen
ADENAUER, Konrad: Erinnerungen 1945-1953, 1965; BLUNTSCHLI, Johann Caspar: Denkwürdiges aus meinem Leben, 3. Teil, 1884; BÖHMER, Alexander: Die Europäische Union im Lichte der Reichsverfassung von 1871. Vom dualistischen zum transnationalen Föderalismus, 1999 = Veröffentlichungen des Walther-Schücking-Instituts für Internationales Recht an der Universität Kiel, Bd. 127; BORCHARDT, Klaus-Dieter: Die europäische Einigung: die Entstehung und Entwicklung der Europäischen Union, 1995; CAVALLAR, Georg: Johann Caspar Bluntschlis europäischer Staatenbund in seinem historischen Kontext, in: ZRG, GA, 121, 2004, 504-518; CoiNG, Helmut (Hg.): Handbuch der Quellen und Literatur der neueren europäischen Privatrechtsgeschichte, Bde. I-III/5, 1973-1996; CoiNG, Helmut: Europäisches Privatrecht, Bd. I: Älteres Gemeines Recht (1500 bis 1800), 1985, Bd. II: 19. Jahrhundert, Überblick über die Entwicklung des Privatrechts in den ehemals gemeinrechtlichen Ländern, 1989; CoiNG, Helmut: Von Bologna bis Brüssel. Europäische Gemeinsamkeiten in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, 1989 = Kölner Juristische Gesellschaft, Bd. 9; FEBVRE, Lucien: L'Europe, Genese d'une civilisation. Cours professe au College de France en 1944-1945, etabli, presente et annote par Therese Charmasson et Brigitte Mazon, avec la collaboration de Sarah Lüde478
1. Europäische Traditionen mann. Preface de M a r c Ferro, 1999; FOERSTER, R o l f Hellmut: Europa. G e schichte einer politischen Idee, mit einer Bibliographie von 182 Einigungsplänen aus den Jahren 1306 bis 1945, 1967; HABERMAS, Jürgen: D e r gespaltene Westen, 2004 = edition suhrkamp 2383; HALLSTEIN, Walter: D i e Europäische Gemeinschaft, 5 1 9 7 9 ; HATTENHAUER, Hans: Europäische Rechtsgeschichte, 4 2 0 0 4 ; KIRCHHOF, Paul, ISENSEE, Josef, SCHÄFER, Hermann und TIETMEYER Hans (Hg): Europa als politische Idee und als rechtliche F o r m , 2 1 9 9 4 ; KIRSCH, Martin u. SCHIERA, Pierangelo (Hg.): Verfassungswandel um 1848 im europäischen Vergleich, 2001 = Schriften zur Europäischen Rechts- u. Verfassungsgeschichte, Bd. 38; KÖBLER, Gerhard: L e x i k o n der europäischen Rechtsgeschichte, 1997; KÖHLER, Claus: Beschlüsse zu einer fehlentwicklungsfreien Entwicklung in der E W U , 2000; KRAUSE, Karl Christian Friedrich: E n t w u r f eines europäischen Staatenbundes als Basis des allgemeinen Friedens und als rechtliches Mittel gegen jeden Angriff wider die innere und äußere Freiheit Europas, 1814 (neu herausgegeben u. eingeleitet von Hans Reichel, 1920 = Philosophische Bibliothek, B d . 98); LE GOFF, Jacques: D i e Geburt Europas im Mittelalter, 3 2 0 0 4 ; LENZ, Carl O t t o : Gemeinsame Grundlagen und G r u n d werte des Rechts der Europäischen Gemeinschaften, in: ZRP, 1988, 4 4 9 - 4 5 3 ; LÜTZELER, Paul Michael: D i e Schriftsteller und Europa. Von der R o m a n t i k bis zur Gegenwart, 2 1 9 9 8 ; MOHNHAUPT, H e i n z : Europäische Rechtsgeschichte und europäische Einigung: historische Beobachtungen zu Einheitlichkeit und Vielfalt des Rechts und der Rechtsentwicklungen in Europa, in: L ü c k , Heiner u. Schildt, Berndt (Hgg.): Recht, Idee, Geschichte. Beiträge zur Rechts- u. Ideengeschichte, für R o l f Lieberwirth, 2000, S. 6 5 7 - 6 7 9 ; MÜLLER-GRAFF, PeterChristian (Hg.): Perspektiven des Rechts in der Europäischen U n i o n , 1998; OPPERMANN, T h o m a s : Europarecht. E i n Studienbuch, 2005; RATZINGER, J o seph Kardinal (Papst Benedikt X V I . ) : Werte in Zeiten des U m b r u c h s . D i e Herausforderungen der Zukunft bestehen, 2005; ROSENSTOCK-HUESSY, Eugen: D i e europäischen Revolutionen und der Charakter der Nationen, 3 1 9 6 0 (Nachdr. 1987); SAINT-SIMON, Claude-Henri, comte de u. THIERRY, Augustin: D e la reorganisation de la societe europeenne ou de la necessite et des moyens de rassembler les peuples de l'Europe en un seul corps politique en conservant ä chacun son independance nationale, 1814 (Nachdr. hg. v. Rieben, Henri, 1967); SCHMALE, Wolfgang: Geschichte Europas, 2000; SCHULZE, Reiner: E u ropäische R e c h t s - und Verfassungsgeschichte. Ergebnisse und Perspektiven der Forschung, 1991 = Schriften zur Europäischen R e c h t s - und Verfassungsgeschichte, Bd. 3; STOLLEIS, Michael: Europa - seine historischen Wurzeln und seine künftige Verfassung, 1997; TIEDTKE, Andreas, MAGIERA, Siegfried u. MERTEN, D e t l e f (Hg): Demokratie in der Europäischen U n i o n . Eine Untersuchung der demokratischen Legitimation des europäischen Integrationsprozesses v o m Vertrag von Amsterdam bis zum E n t w u r f einer Europäischen Verfassung, 2005; ZIEGERHOFER-PRETTENTHALER, Anita: Botschafter Europas. Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi und die Paneuropa-Bewegung in den zwanziger und dreißiger Jahren, 2004; ZIMMERMANN, Reinhard: Savignys Vermächtnis. Rechtsgeschichte, Rechtsvergleichung und die Begründung einer Europäischen Rechtswissenschaft, 1998 = Tübinger Universitätsreden, Reihe der Juristischen Fakultät, B d . 10.
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XIII. Europäisches Erbe und Integration Die Satzung des Europarates v o m 5. M a i 1949 läßt ihren Artikel 1 beginnen mit dem Satz: „Der Europarat hat zur Aufgabe, eine engere Verbindung zwischen seinen Mitgliedern z u m Schutze und zur Förderung der Ideale und Grundsätze, die ihr gemeinsames Erbe bilden, herzustellen und ihren wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt zu fördern". Die v o m Europäischen Rat am 7. Dezember 2000 in N i z z a feierlich proklamierte Charta der Grundrechte der Europäischen U n i o n stellt an den Anfang der Präambel die folgenden Sätze: „Die Völker Europas sind entschlossen, auf der Grundlage gemeinsamer Werte eine friedliche Zukunft zu teilen, indem sie sich zu einer immer engeren U n i o n verbinden. In dem Bewußtsein ihres geistig- religiösen und sittlichen Erbes gründet sich die U n i o n auf die unteilbaren und universellen Werte der W ü r d e des Menschen, der Freiheit, der Gleichheit und der Solidarität". Das europäische Erbe zu bedenken, geben die Krisen Anlaß, die das Bemühen u m den Einigungsprozeß je und je begleiten, jüngst die Kontroversen u m den Irak-Krieg, die Erweiterungs- insbesondere die Türkei-Frage, den Verfassungstext, nicht zuletzt u m das Ziel der Integration: Freihandelszone oder politische U n i o n mit gerechter Lastenverteilung und mit Gewicht auch nach außen. J ü r g e n Habermas hat die „historischen Wurzeln eines politischen Profils" bestimmt, indem er an negative gemeineuropäische Erfahrungen erinnerte: an die Religionskriege, die Konfessions- und Klassengegensätze, den Abstieg von Imperien und den Verlust von Kolonialreichen, die destruktive Kraft des N a tionalismus, die Shoah, nämlich die Ermordung der europäischen Juden, in die das N S - R e g i m e auch die eroberten Länder verstrickte. Habermas betont die Chancen, die mit einer Verarbeitung der bitteren Erfahrungen verknüpft sein können. Die Europäische U n i o n selbst sei ein Beispiel dafür, wie die europäischen Nationalstaaten ihre kriegerische Vergangenheit produktiv verarbeitet haben. „Wenn dieses Projekt, das nun in die Phase der Verfassungsgebung eingetreten ist, nicht scheitert, könnte die E U sogar als Modell für Formen des ,Regierens jenseits des Nationalstaates' dienen". A b e r es gilt auch, die positiven gemeinsamen Erfahrungen der Rechtsgeschichte w a c h zu halten. Die Europäische Gemeinschaft ist nicht nur eine Wirtschafts-, sondern zugleich eine Rechtsgemeinschaft. Die Streichung des W im N a m e n der E W G durch den Maastricht-Vertrag vom 7. Februar 1992 „über die Europäische U n i o n " bringt dies symbolisch z u m Ausdruck. Die A u f g a b e n der Gemeinschaft, ihre Institutionen mit der Befugnis zu eigener Rechtsetzung, die unmittelbar in die nationalen Rechtsordnungen hineinwirkt, und ihr Gerichtshof mit der Aufgabe, das Recht zu wahren, geben der Rechtsgemeinschaft be480
1. Europäische Traditionen redten Ausdruck. Sie entstand nicht durch einen großen Schöpfungsakt, sondern in einem langwierigen und verwickelten Prozeß einer durch viele Kräfte geförderten Genese mit tiefen historischen Wurzeln. In seiner „Europäischen Rechtsgeschichte" hat Hans Hattenhauer den Kern der europäischen Rechtstradition bezeichnet: „Europa hat im Laufe seiner Geschichte viel Unrecht begangen und ist an der Welt in Kreuzzügen, Kolonialismus und kommunistischem w i e kapitalistischem Imperialismus immer wieder schuldig geworden. Es hat sich selbst immer wieder zur A b k e h r von der Herrschaft des Rechts verführen lassen und immer wieder den Preis dafür gezahlt. Es hat aber immer neu zurückgefunden zu der bezwingenden Idee von einem Recht, das allem menschlichen Willen Grenzen setzt, zuletzt im ehemaligen s o z i a l i s t i schen Lager', w o man wieder vom Rechtsstaat und von den Menschenrechten redet. Wenn Europa der Welt im Recht etwas Gültiges hinterlassen hat, so die aus dem abendländischen Dualismus geborene Lehre von den Grundrechten". Das Abendland, R ö m e r wie Christen, kennzeichnet ein Dualismus, der das europäische Recht prägte: Gott und die Welt, Glaube und Recht, fides und ratio, Theologie und Jurisprudenz, Kaiser und Papst, regnum und sacerdotium, civitas coelestis und civitas terrena — das ganze Leben stand im Zeichen eines Gegenüber und Gegeneinander zweier das Dasein ordnender Instanzen, einer aufwendigen und fruchtbaren Konkurrenz. Sie erzeugte Mäßigung und die Eigenständigkeit des Rechts. Nicht zuletzt behauptete sich seit der römischen Antike der europäische Dualismus von lokalem oder ständischem Sonderrecht und einem übergreifenden allgemeinen Recht, das Zusammenspiel zwischen örtlich-regionaler und großräumigerer Rechtsentstehung. A u c h daraus ergaben sich Beständigkeit, Angemessenheit und Freiheit. Die vielhundertjährige Friedensordnung des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation liefert trotz ihrer oft erörterten Schwächen anschauliche Beweise dafür. Mit dem Blick auf den im Weltmaßstab eher kleinen Kontinent ist für das Verständnis Europas und seine sich historisch wandelnde Gestalt wenig gewonnen. „Europa ist kein geographisch deutlich faßbarer Kontinent, sondern ein kultureller und historischer Begriff" (Joseph Kardinal Ratzinger). Der etymologische Ursprung Europas liegt östlich des heutigen Erdteils in einem älteren Kulturland, und die altüberlieferte Sage der Europa weist nach Osten, auf das Land der Phöniker, aus dem der göttliche Zeus in Stiergestalt die Königstochter Europa nach Kreta entführte. Die hellenistischen Staaten und das Römische Reich schufen die Grundlage des späteren Europa, freilich mit noch ganz anderen 481
XIII. Europäisches Erbe und Integration Grenzen, rund u m das Mittelmeer, durch Kultur: Verkehr, Sprache und Handel miteinander verbunden. Der Siegeszug des Islam zog sodann im siebten und achten Jahrhundert eine Grenze durch dieses mediterrane politische System. Asien, A f r i k a und Europa sonderten sich im Zuge dieser neuen Teilung der Welt. Während die Südseite des Mittelmeeres dem alten Europa verloren ging, gewann dieses nach Norden weit über den Limes hinaus Raum. „In diesem Prozeß der Verschiebung der Grenzen w u r d e die ideelle Kontinuität mit dem vorangehenden, geographisch anders bemessenen mittelmeerischen Kontinent durch eine geschichtstheologische Konstruktion gewahrt: Im Anschluß an das Buch Daniel sah man das durch den christlichen Glauben erneuerte und verwandelte Römische Reich als das letzte und bleibende Reich der Weltgeschichte überhaupt an und definierte daher das sich konstituierende Völker- und Staatengebilde als das bleibende Sacrum Imperium R o m a n u m " (Joseph Kardinal Ratzinger, Papst Benedikt XVI.). Die byzantinische Osthälfte des antiken Römischen Reiches überstand die Stürme der Völkerwanderung und der islamischen Invasion und dehnte sich seinerseits weit nach N o r d e n aus in die slawischen Gebiete hinein. Diese griechisch-römische Welt unterschied sich vom lateinischen Europa des Westens durch eine andere Liturgie, Kirchenverfassung, Schrift und Sprache. Der oströmische Kaiser amtete zugleich als Haupt der Kirche. In der alten Reichshauptstadt R o m konnte sich im Gefolge der A b w a n d e r u n g des Kaisertums nach B y z a n z seit Konstantin die selbständige Stellung des römischen Bischofs als Nachfolger Petri und Oberhaupt der Kirche entfalten. Trotz ihrer Gemeinsamkeiten — der Bibel, grundlegender Rechtsvorstellungen, des kulturtragenden Mönchtums — konkurrierten R o m und B y z a n z . In R o m nahm die transnationale, christlich geprägte Kaiseridee des Mittelalters Gestalt an. Hier krönte der Papst den fränkischen Herrscher Karl den Großen am Weihnachtstag des Jahres 800 z u m Kaiser. Das alte Wort Europa k a m als Bezeichnung für das Reich Karls des Großen in neuerlichen Gebrauch. Die Erinnerung an das karolingische Europa, das übrigens geographisch weithin mit der „Sechsergemeinschaft" der Jahre 1952-1973 zusammenfiel, lebt in der jährlichen Verleihung des Aachener Karlspreises an einen hervorragenden meist europäischen Staatsmann fort. Den kulturellen Boden bereitete für Europa das Christentum. „Während des ganzen Mittelalters (ein Mittelalter, das viel weiter in die Neuzeit hineinreichen sollte) hat der mächtige Einfluß des Christentums, das ständig große, vom Boden abgelöste Strömungen christlicher Zivilisation über die ungefestigten Grenzen kaleidoskopischer Königreiche trug, daran mitgewirkt, den Menschen im Abendland ungeachtet 482
1. Europäische Traditionen aller Trennungslinien ein gemeinsames Bewußtsein zu verleihen, ein Bewußtsein, das, nach und nach säkularisiert, ein europäisches Bewußtsein geworden ist" (Lucien Febvre in der ersten Vorlesung, die er 1944/45 am College de France hielt und aus der Jacques Le Goff zitiert). Das biblische Erbe w a r dabei von größter Tragweite: „Uberliefert w i r d es den Menschen des Mittelalters nicht durch die Juden, von denen sich die Christen sehr schnell und immer weiter entfernen, sondern durch die frühen Christen. Das Alte Testament blieb trotz der vermehrt antijüdischen Gefühle bis z u m Ende des Mittelalters eines der stärksten und reichsten Elemente nicht nur der Religion, sondern der gesamten zeitgenössischen Kultur . . . M a n könnte sagen, daß Gott mit Hilfe des Christentums in die Gedankenwelt und die Geschichte Europas Eingang fand" (Jacques Le Goff). Neben dem Alten Testament, einer kulturgeschichtlichen Enzyklopädie und Proklamation des Monotheismus, schuf nicht weniger die Heilsbotschaft des N e u e n Testaments den geistigen Boden Europas. A u ß e r der christlichen Religion w i r k t e als verbindendes europäisches Element das römische Recht der Kirche und der weltlichen Obrigkeiten. Nicht von ungefähr deckt sich das moderne Gebiet der Europäischen Gemeinschaft mit dem europäischen Teil des römischen Reiches. Uber lange Jahrhunderte stand das Recht des untergegangenen R ö m i schen Reiches, das „ius commune", in ganz Europa bei den Gerichten, Regierungen und H o h e n Schulen in Geltung: Die spätmittelalterliche und frühneuzeitliche Rezeption des römischen Rechts im Zuge der Renaissance und des H u m a n i s m u s verlief als europäischer Prozeß der Verwissenschaftlichung des Rechtsdenkens und der Rechtspraxis. Eine der ersten, im 12. Jahrhundert gegründeten Universitäten, Bologna, gewann ihr Ansehen nicht von ungefähr hauptsächlich als juristische Lehrstätte. Es „hat z u m mindesten bis z u m Ausgang des 18. Jahrhunderts eine in ihren Grundlagen einheitliche Rechtswissenschaft auf dem europäischen Kontinent bestanden. Sie hatte ihre Grundlage in den Lehren der Legisten und Kanonisten von Bologna und, nach deren Vorbild, der mittelalterlichen Rechtsschulen überhaupt und erhielt durch H u m a n i s m u s und Naturrecht neue gemeinsame Impulse" (Helmut Coing). Die Gemeinsamkeit der Rechtsquellen und der lateinischen Fachsprache verband die juristischen Fakultäten in den abendländischen Universitäten. A u c h im übrigen ähnelten sich die akademischen Systeme und Unterrichtsprogramme nach dem Vorbild von Bologna und Paris. Diesen ersten Universitäten folgten bald weitere in Italien, Spanien, Portugal, Frankreich, dann auch in Deutschland, Irland, Schottland, U n g a r n und Polen. U m das Jahr 1500 bestanden bereits etwa sechzig Universitäten, in regem Austausch miteinander als übernationale kulturelle 483
XIII. Europäisches Erbe und Integration Bindeglieder wie vordem und noch immer die Klöster. Zum glanzvollen Erblühen Europas im 13. Jahrhundert trugen neben den Universitäten und der Scholastik auch die Städte bei und die gotische Baukunst mit ihren Kathedralen. Ein gemeinsames Kennzeichen der europäischen Länder im Mittelalter bis weit in die Neuzeit hinein lag in der uralten Idee einer funktionalen Dreiteilung, einem Ordnungsprinzip, das in der gelingenden menschlichen Gemeinschaft drei Funktionen oder Stände unterschied: Die Geistlichen (oratores), die beten, die Krieger oder Ritter (bellatores), die militärisch kämpfen, und die Bauern und H a n d w e r k e r (laboratores), die produktiv arbeiten. N o c h weitere kontinentale innere Gemeinsamkeiten ließen sich anführen, die zur kollektiven Identität beitrugen. Nicht zu vergessen sind die Gegensätze zu anderen. A u c h sie vermittelten Identität. So erwies sich die Türkengefahr im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit als dauerhaftes Bindemittel. Der Fall Konstantinopels 1453 erschütterte die europäischen Eliten. Paradoxerweise bedeutete aber der Zusammenbruch der byzantinischen Welt auf lange Sicht zugleich die Aufhebung eines Hindernisses für die europäische Einheit. „Die Freiheit des einzelnen, sein Verhältnis zu Gott nach bestem Wissen und Gewissen zu gestalten und deshalb auch dafür verantwortlich zu sein, und die Gleichheit aller Menschen vor Gott sind . . . die großen Beiträge, die das Christentum an unsere Rechtsordnung geleistet hat" (Carl Otto Lenz). Auf dieser Grundlage konnte die gemeineuropäische Geistesbewegung der A u f k l ä r u n g weiter bauen. Sie erweiterte das Recht auf freie Religionsausübung z u m Recht auf freie Entfaltung des Individuums — begrenzt durch die Rechte anderer, die verfassungsmäßige Ordnung und das Sittengesetz. Die Aufklärer traten weiter ein für das Recht auf Teilhabe an der politischen Gestaltung des Gemeinwesens. Die freiheitlichen Ideen haben die Amerikanische Unabhängigkeitsbewegung und die Französische Revolution bestimmt und in dem Postulat „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit" ihren prägnanten Ausdruck gefunden. Diese Grundsätze haben die Verfassung aller Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaften ohne Ausnahme und stark — freilich auf im einzelnen durchaus unterschiedliche Weise — beeinflußt. Der jahrhundertelange U m g a n g mit dem Recht hat die europäischen Gesellschaften über kriegerische Katastrophen hinweg tief geprägt. „Legitimierung und Begrenzung von Herrschaft — das w a r das Doppelantlitz juristischer Begründungskunst. M a n konnte dem Absolutismus in den Sattel helfen, ihm aber gleichzeitig vorhalten, daß er an göttliches Recht, Naturrecht und vor allem an die ,Leges fundamentales' gebunden sei. M a n konnte Eingriffe in wohlerworbene Rechte begründen, aber auch unantastbare Schutzräume für das Individuum aufbauen, 484
1. Europäische Traditionen aus denen sich die Grundrechtskataloge bildeten" (Michael Stolleis, in einem FAZ-Beitrag). Die längst selbstverständlichen tragenden Institute und Institutionen vornehmlich der westlichen Rechtsordnung haben alle ihre mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Wurzeln und sind kennzeichnender europäischer Gemeinbesitz: das Mehrheitsprinzip, der Parlamentarismus, die Volkssouveränität, der Gesetzesbegriff, die Bestimmung der Herrschaft durch eine Verfassung, die Gewaltenteilung, die Unabhängigkeit der Justiz. U b e r vielfache Krisen und Verwerfungen hinweg hat sich der Rechtsgedanke als konstitutives Element der europäischen Kultur erwiesen und feste Traditionen erzeugt. In einem Beschluß aus dem Jahr 1987 ( N J W 1988, 1459, 1462) hat das Bundesverfassungsgericht dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften ( E u G H ) die Methode richterlicher Rechtsfortbildung zugestanden. Es könne kein Zweifel daran bestehen, „daß die Mitgliedstaaten die Gemeinschaft mit einem Gericht ausstatten wollten, dem Rechtsfindungswege offenstehen sollten, w i e sie in jahrhundertealter gemeineuropäischer Rechtsüberlieferung und Rechtskultur ausgeformt w o r d e n sind". Die Gemeinschaftsverträge seien „auch im Lichte gemeineuropäischer Rechtsüberlieferung und Rechtskultur zu verstehen". Die Bewahrung w i e die Fortbildung des Rechts erfordern kritischen Geist. Ein wesentlicher Teil der europäischen Großtaten beruhe auf der Fähigkeit zu strenger Kritik, so pointiert Eugen Rosenstock-Huessy: „Andere Erdteile, der Orient, Amerika, ertragen die rücksichtslose Kritik nicht, weder an sich noch gegen andere geübt, auf der Europas Fortschritte begründet w o r d e n sind: Kritik am Bestehenden, am Staat, an der leiblichen Natur, Kritik an Vorurteilen, Kritik am Menschen, Kritik an Gott, als ernstgemeinte, bohrende, zweifelnde, forschende Kritik — das ist ein Element europäischen Lebens, ohne das es undenkbar ist". In allen Jahrhunderten europäischer Geschichte seit dem Mittelalter haben bedeutende Denker über die Gemeinsamkeiten und eine Friedensordnung des Kontinents nachgesonnen und haben dafür Visionen und Pläne entwickelt. So hat Dante Alighieri in seiner „Monarchia" von 1308 den Reichsgedanken in gesamteuropäischem Sinne gegen die emporsteigenden partikularen Territorialmächte verteidigt. William Penn (1644-1718), der Begründer des freiheitlichen Kolonialstaates Pennsylvanien, w a r b für einen umfassenden europäischen Parlamentarismus, der Kriege vermeiden, Freizügigkeit, Handelsfreiheit und öffentliche Sicherheit gewähren sollte. Jean-Jacques Rousseau (1712-1778) sah visionär alle Mächte Europas durch einen Friedensbund miteinander vereinigt, durch ein eigens politisches System, dieselbe Religion, durch
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XIII. Europäisches Erbe und Integration übereinstimmendes Völkerrecht, durch Wissenschaft und Handel, durch eine Art von Gleichgewicht liiert. Trotz seiner Zerklüftetheit und seiner Verschiedenheiten w u r d e Europa im Mittelalter durch den religiösen Glauben als Corpus Christian u m zusammengehalten. Seit der Epoche des H u m a n i s m u s und verstärkt seit der A u f k l ä r u n g verschob sich die Gemeinsamkeit hin zur Idee der natürlichen Vernunft. Das ius publicum Europaeum stellte ideell eine auf das Naturrecht gegründete Rechtsgemeinschaft Europa dar, deren Regeln trotz mancher Unbestimmtheit Geltung beanspruchten, im Grunde über den Kontinent hinaus. Der Aufstieg der Nationalstaaten zerstörte die europäischen Gemeinsamkeiten, die „europäische Idee" keineswegs. Die nun einsetzenden Pläne, Vorschläge und diplomatischen Bemühungen galten einer europäischen Friedensordnung und dem „Europäischen Gleichgewicht" der staatlichen Mächte. Zu den berühmten Traktaten gehört der Immanuel Kants „Zum ewigen Frieden" von 1795, der in weltbürgerlicher Gesinnung für eine allgemeine Konföderation der europäischen Staaten unter republikanischer Verfassung warb. Die monarchische Konferenzdiplomatie der Heiligen Allianz und das „Europäische Konzert" der fünf Großmächte England, Frankreich, Osterreich, Preußen und Rußland dienten dem Gleichgewicht der Mächte und dem Frieden in Europa, auch w e n n sie diesen nicht stets zu erhalten vermochten. In der politischen Publizistik mehrten sich damals die Stimmen, die eine institutionalisierte Organisation der europäischen Staaten verlangten. Nicht von ungefähr erschien zur Zeit des Wiener Kongresses, 1814, Karl Christian Friedrich Krauses „Entwurf eines europäischen Staatenbundes". Widerhall fand auch die zukunftweisende Schrift von Claude Henri de Rouvroy, Graf von Saint-Simon und von Alexandre Thierry: „De la reorganisation de la societe europeenne ou de la necessite et des moyens de rassembler les peuples de l'Europe en un seul corps politique en conservant ä chacun son independance nationale". Einen viel beachteten Beitrag zur Popularisierung der Europaidee w i e später Bertha von Suttner (1843-1914) oder Rene Marie Girard (18151906) leistete Victor H u g o (1802-1885). Seine Rede auf dem Pazifistenkongreß 1849 in Paris faßte die zeitgenössischen Ideen einprägsam zusammen. Sie erklärte die europäischen Staaten zu Vorkämpfern der Zivilisation, die es vermöchten, „Kriege durch Schiedsgerichte zu ersetzen". H u g o s Idee der Vereinigten Staaten von Europa gründete auf Fortschrittsoptimismus und der Zuversicht, die zwischenstaatliche Anarchie werde ihr unvermeidliches Ende finden. W i e viele andere Autoren sah er die inner- und die zwischenstaatliche Friedensstiftung als analoge Prozesse an. 486
1. Europäische Traditionen Der Heidelberger Rechtsgelehrte Johann Caspar Bluntschli unterbreitete 1878 „den Vorschlag eines europäischen Statenbundes ( C o n f e d e r a tion), . . . dessen Organe sein w ü r d e n a) ein Bundesrat bestehend aus 21 Delegierten, je 2 von einer jeden der 6 Grossmächte, je einer von den 9 übrigen Staten-Regierungen frei ernannt, und b) ein Repräsentantenhaus (Senat) bestehend aus 105 Mitgliedern, je 10 von der Volksvertretung einer jeden Großmacht, je 5 von den Kammern der übrigen Staten erwählt". Bluntschlis Europaplan zeigt einen Kompromiß zwischen normativem Idealismus und politischem Realismus. Die staatliche Souveränität bleibt anerkannt. „Die völkerrechtlichen Entwicklungen seines Jahrhunderts verführten ihn zur unbegründeten Uberzeugung, daß die Gefahr eines europäischen Krieges weitgehend gebannt und Integration und Interdependenz im Wachsen seien. Richtig gesehen hat er hingegen, daß auch Völkerrechtler über das geltende Recht hinausgehen und an die Zukunft denken sollen" (Georg Cavallar). Als weitschauend erwies sich der preußische Finanzminister Friedrich Christian von Motz, der den Deutschen Zollverein 1833 mit ins Leben rief und in einer Denkschrift des Jahres 1829 die folgende Einsicht bekundete: „Wenn es staatswissenschaftliche Wahrheit ist, daß Zölle nur die Folge politischer Trennung verschiedener Staaten sind, so muß es auch Wahrheit sein, daß die Einigung dieser Staaten zu einem Zoll- und Handelsverbande zugleich auch die Einigung zu einem und demselben politischen Systeme mit sich führt". In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts begann die Epoche des Aufbaus internationaler Organisationen im Wege völkerrechtlicher Zusammenarbeit der Staaten. A n den beiden von Zar N i k o l a u s II. einberufenen Haager Friedenskonferenzen (1899, 1907) beteiligten sich alle europäischen Staaten, u m Verfahren friedlicher Streitbeilegung zu vereinbaren und das Kriegsrecht zu verbessern. Die Urkatastrophe des Ersten Weltkrieges aber zerstörte die Hoffnungen auf ein Europa versöhnter und zusammenrückender Staaten. Gewiß fand die Europa-Idee auch in der Zwischenkriegszeit 1919 bis 1939 ihre Wortführer. Das idealistische Paneuropa-Projekt des Grafen Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi freilich erwies sich als Illusion. Der französische Ministerpräsident Aristide Briand und der deutsche Außenminister Gustav Stresemann brachten ihre verfeindeten Nachbarstaaten einander näher, und der deutschfranzösische Nichtangriffsvertrag des Jahres 1925, ein Teil der LocarnoVerträge, w i e die A u f n a h m e Deutschlands in den Völkerbund bildeten Vorstufen für eine europäische Einigung. Doch der 1930 dem Völkerbund vorgelegte Briand-Plan: „L'Organisation d'un regime d'union federale europeenne" erfüllte sich nicht, wies aber in die Zukunft w i e
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XIII. Europäisches Erbe und Integration W a l t h e r Rathenaus Eintreten für eine „Verschmelzung der Wirtschaft u n d Politik Europas z u r Gemeinschaft" (1913).
2. Europäischer
Zusammenschluß
BECKMANN, Klaus, DIERINGER, Jürgen u. HUFELD, Ulrich (Hg): Eine Verfassung für Europa, 2 2005; BIEBER, Roland (Red.): Europarecht. Textausgabe mit einer Einführung von Roland Bieber, begründet durch Hans-Joachim Glaesner, 17 2005; BÖCKENFÖRDE, Ernst-Wolfgang: Welchen Weg geht Europa?, 1997; BÖGDANDY, Armin von: Konstitutionalisierung des europäischen öffentlichen Rechts in der europäischen Republik, in: JZ 2005, 529-540; CLASSEN, Claus Dieter (Hg): Europa-Recht (Quellen), 2o 2005; DAHRENDORF, Ralf: Der Wiederbeginn der Geschichte. Vom Fall der Mauer zum Krieg im Irak. Reden und Aufsätze, 2004; ESER, Albin (Hg): Biomedizin und Menschenrechte. Die Menschenrechtskonvention des Europarates zur Biomedizin. Dokumentation und Kommentare, 1999; FISCHER, Klemens H.: Der Vertrag von Nizza. Text und Kommentar einschließlich der konsolidierten Fassung des EUV und EGV sowie des Textes der EU-Charta der Grundrechte, 2 2003; FISCHER, Klemens H.: Konvent zur Zukunft Europas. Texte und Kommentar mit einem Geleitwort von Benita Ferrero-Waldner, 2003; GRUNDMANN, Stefan: Der Optionale Europäische Kodex auf der Grundlage des Acquis Communautaire - Eckpunkte und Tendenzen, in: Festschrift Erik Jayme, hg. v. Heinz-Peter Mansel, Thomas Pfeiffer u.a., 2004, Bd. 2, 1259-1275; HESS, Burkhard: Die Konstitutionalisierung des europäischen Privat- und Prozessrechts, in: JZ 2005, 540552; HESSE, Joachim Jens u. GROTZ, Florian: Europa professionalisieren. Kompetenzordnung u. institutionelle Reform im Rahmen der Europäischen Union, 2005 = Abh. z. Staats- u. Europawissenschaft, Bd. 2; HILF, Meinhard u. PACHE, Eckhard: Der Vertrag von Amsterdam, in: N J W 1998, 705-713; HIRSCH, Günter: Nizza: Ende einer Etappe, Beginn einer Epoche?, in: N J W 2001, 2677-2678; HOBE, Stephan u. MÜLLER-SARTORI, Patrick: Rechtsfragen der Einbindung der EG/EU in das Völkerrecht, JuS 2002, 8-13; HOFFMANN, Lutz (Hg.): Erweiterung der EU, 2000; HOFMANN, Rainer u. ZIMMERMANN, Andreas: Eine Verfassung für Europa. Die Rechtsordnung der Europäischen Union unter dem Verfassungsvertrag, 2005 = Veröffentlichungen des WaltherSchücking-Instituts für Internationales Recht an der Universität Kiel, Bd. 154; HOHLOCH, Gerhard (Hg): Richtlinien der EU und ihre Umsetzung in Deutschland und Frankreich, 2001 = Arbeiten zur Rechtsvergleichung, Bd. 200; KHAN, Daniel-Erasmus (Hg): EU-Vertrag (Quellen), 5 2001; KOHL, Helmut: Erinnerungen 1982-1990, 2005; KÜHNHARDT, Ludger: Europa - quo vadis?, 2005 = Kirche und Gesellschaft Nr. 322; LECHELER, Helmut: Einführung in das Europarecht, 2 2003 = JuS Schriftenreihe, Bd. 147; LECHELER, Helmut: Die Fortentwicklung des Rechts der Europäischen Union durch den Amsterdam-Vertrag, in: JuS 1998, 392-397; LENZ, Carl Otto u. BORCHARDT, KlausDieter: Vertrag über eine Verfassung für Europa. Einführung, Text der Verfassung, Protokolle und Erklärungen, 2005; LIGETI, Katalin: Strafrecht und straf488
2. Europäischer Zusammenschluß rechtliche Zusammenarbeit in der Europäischen Union, 2005 = Strafrechtliche Abhandlungen, Neue Folge, Bd. 164; MÄHNER, Tobias: Der Europäische Gerichtshof als Gericht, 2005 = Beiträge zum Europäischen Wirtschaftsrecht, Bd. 32; MONTAG, Frank u. BONIN, Andreas von: Die Entwicklung des europäischen
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MOLLER-GRAFF, Peter-Christian: Europäisches Gemeinschaftsrecht und Privatrecht. Das Privatrecht in der europäischen Integration, NJW 1993, 13-23; MULLER-GRAFF, Peter-Christian: Die zivilj ustizielle Zusammenarbeit im „Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts" im System des Europäischen Verfassungsvertrages, in: Festschrift Erik Jayme, hg. v. Heinz-Peter Μ ansei,
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XIII. Europäisches Erbe und Integration Der Zweite Weltkrieg zerstörte nicht nur Deutschland, sondern schwächte alle europäischen Staaten. „Der Niedergang der europäischen Nationalstaaten am Ende des Zweiten Weltkrieges w u r d e gleichzeitig zur Stunde der allgemeinen Besinnung auf die N o t w e n d i g k e i t einer Einigung Europas" (Thomas Oppermann). Im Frühherbst 1946 gab W i n ston S. Churchill in einer Rede in der Universität Zürich den H o f f n u n gen der Zeit wirkungsvoll Ausdruck. „Ich hielt dort", so die Erinnerung im Epilog z u m monumentalen Werk über den Zweiten Weltkrieg, „eine Rede über die Tragödie Europas und die mißliche Lage, in die es geraten war, wobei ich nachdrücklich zur Schaffung einer Art Vereinigter Staaten von Europa mahnte, oder zumindest zu dem, w a s in dieser Richtung getan werden konnte". Zahlreiche nichtstaatliche Organisationen setzten sich in der Folge für die Europäische Einigung im Westen des Kontinents ein w i e die Europa-Union, die U n i o n Europeenne des Federalistes, der Conseil F r a n c i s pour l'Europe Unie, die Europäische Parlamentarierunion mit Coudenhove-Kalergi als Generalsekretär. Ein großer Europa-Kongreß in Haag 1948 gab der Föderierung Europas einen nachhaltigen Schub. A m Ende dieses Jahres konstituierte sich dank Leon Blum, Winston Churchill, Alcide de Gasperi und Paul-Henri Spaak die Europäische Bewegung mit Sitz in Brüssel. In den folgenden Jahren gewann auch das von Jean Monnet gegründete Aktionskomitee für die Vereinigten Staaten von Europa inspirierenden Einfluß. Den Anfang institutionalisierter Kooperation der europäischen Staaten setzten zwei noch im Jahr 1948 gegründete Organisationen, deren Tätigkeit sich auf bestimmte Felder der Politik konzentrierte: die Westeuropäische U n i o n ( W E U ) mit militärischen und die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit in Europa (OEEC, später O E C D ) mit ökonomischen Zielen. Der zur Bereinigung der Kriegsfolgen und zur Durchführung des großzügigen amerikanischen Hilfsprogramms nach dem Marshall-Plan geschlossene OEEC-Vertrag vereinte alle sechzehn nicht-kommunistischen Staaten Europas, die unter der Bedrohung durch die Sowjetunion standen. Der Zusammenschluß sollte die Produktion steigern, Zoll- und Handelsschranken abbauen sowie den Zahlungsverkehr erleichtern. Die O E E C beförderte zusammen mit der europäischen Zahlungsunion (EZU) von 1950 und dem ihr folgenden Europäischen W ä h r u n g s a b k o m m e n (EWA) von 1955/59 die handelspolitische Liberalisierung Westeuropas. Der gleiche Kreis völkerrechtlicher Vertragspartner schloss sich 1949 im Europarat zusammen zu dem Zweck umfassenden politischen Zusammenwirkens. „Jedes Mitglied des Europarates erkennt den Grundsatz der Vorherrschaft des Rechts und den Grundsatz an, daß jeder, der seiner Hoheitsgewalt unterliegt, der Menschenrechte und Grundfreihei490
2. Europäischer Zusammenschluß ten teilhaftig werden soll" (Art. 3 der Satzung). Die Organe des Europarates sind das Ministerkomitee und die Beratende Versammlung. Diesen zur Seite steht das Sekretariat. Jedes Mitglied hat im Ministerkomitee einen Vertreter mit je einer Stimme. Die Beratende Versammlung besteht aus unterschiedlich vielen Vertretern jedes Mitglieds, die von dessen Parlament aus seiner Mitte gewählt oder nach einem vom Parlament bestimmten Verfahren aus seiner Mitte ernannt werden. Sie tritt alljährlich zu einer ordentlichen Sitzungsperiode zusammen. Der Europarat hat seinen Sitz in Straßburg. Seine Amtssprachen sind Französisch und Englisch. Zu den herausragenden Leistungen des Europarates gehört die Europäische Konvention z u m Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten aus dem Jahr 1950 mit ihren späteren ergänzenden Zusatzprotokollen. M i t der Europäischen Kommission für Menschenrechte und dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte entstanden zwei weitere europäische Institutionen. A u c h Einzelpersonen können in gewissem U m f a n g Menschenrechtsschutz begehren: „Der Gerichtshof kann von jeder natürlichen Person, nichtstaatlichen Organisation oder Personengruppe, die behauptet, durch eine der Hohen Vertragsparteien in einem der in dieser Konvention oder den Protokollen dazu anerkannten Rechte verletzt zu sein, mit einer Beschwerde befasst werden. Die H o hen Vertragsparteien verpflichten sich, die w i r k s a m e Ausübung dieses Rechts nicht zu behindern" (Art. 34). In der Möglichkeit von Individualbeschwerden liegt durchaus ein überstaatliches Element des völkerrechtlich verfaßten Europarats. A n die Seite der Menschenrechtskonvention trat 1961/65 die Europäische Sozialcharta. In ihr verpflichteten sich die Unterzeichnerstaaten zu einem anspruchsvollen P r o g r a m m mit den Rechten auf: Arbeit, gerechte, sichere und gesunde Arbeitsbedingungen, ein gerechtes Entgelt, Vereinigung der Arbeitnehmer und Arbeitgeber, Kollektivverhandlungen, Schutz der Kinder und Jugendlichen und Arbeitnehmerinnen, Berufsberatung, berufliche Ausbildung, Schutz der Gesundheit, soziale Sicherheit, Fürsorge, Inanspruchnahme sozialer Dienste, berufliche und soziale Eingliederung oder Wiedereingliederung der körperlich, geistig oder seelisch Behinderten, sozialen, gesetzlichen und wirtschaftlichen Schutz der Familie, sozialen und wirtschaftlichen Schutz der Mütter und Kinder, Ausübung einer Erwerbstätigkeit im Hoheitsgebiet der anderen Vertragsparteien, Schutz und Beistand für die Wanderarbeitnehmer und ihre Familien. Die Wirksamkeit des Kontrollverfahrens blieb freilich begrenzt. Die Bundesrepublik Deutschland trat der Sozialcharta 1964 bei, allerdings nahm sie einige Artikel nicht an.
491
XIII. Europäisches Erbe und Integration A u c h die Menschenrechtskonvention des Europarates zur Biomedizin von 1997 stößt auf Einwände in Deutschland, das ihr (noch) nicht beitrat. Wo es u m den Inhalt der W ü r d e des Menschen und u m die Reichweite des Lebensschutzes geht, scheint das moralische und rechtliche europäische Erbe zweifelhaft oder umstritten. Wie kein anderes Ereignis in seiner Geschichte hat den Europarat die Erweiterung u m die Reformstaaten nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Ostblocks 1989/1990 herausgefordert und verändert. „Das politische Ziel einer ,Rückkehr nach Europa' ließ sich für die mittel- und osteuropäischen Staaten in der jüngsten Vergangenheit beim Europarat leichter erreichen als auf dem dornigen Weg in die EG" (Helmut Lecheler). Der Europarat und die Europäische U n i o n bieten verschiedene, doch sich wechselseitig unterstützende Instrumente der Einigung, wobei das politische Gewicht letzterer deutlich größer ist. Als triebkräftig erwies sich das Programm sektoraler Integration, zuerst auf dem Felde der Wirtschaft. A m 9. Mai 1950 verkündete der französische Außenminister Robert Schuman den Plan zur Schaffung einer Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS). M i t dem Verbund der beiden französischen und deutschen Schlüsselindustrien durch den Vertrag zur Gründung einer Montanunion 1951 erhielt die politische Integration Europas einen nachhaltigen ökonomischen Anschub. Mit wirtschaftlichem Realismus gründeten Deutschland, Belgien, Frankreich, Italien, Luxemburg und die Niederlande kraft des Montanvertrages das „Europa der Sechs", das den Kern der Europäischen Integration für lange Jahre bilden sollte. Die EGKS hatte ihren Sitz in Luxemburg, ihr Erster Präsident w u r d e Jean Monnet, der geistige Vater des Schuman-Planes. Hohe Verdienste u m die europäische Einigung erwarb sich Bundeskanzler und Außenminister Konrad Adenauer. Von der Montanunion erwartete er mit Grund, w i e er in seinen Erinnerungen festhielt, „daß der kommende, von staatlichen Hindernissen und privaten monopolistischen Schranken freie, große, gemeinsame Markt für Kohle und Stahl die internationale Arbeitsteilung vervollkommnen, die Kreditwürdigkeit der westeuropäischen Wirtschaft erhöhen, die Exportchancen vergrößern und die Kosten für Produktion und Verteilung auf lange Sicht senken w ü r d e . . . Die größere Bedeutung des Schuman-Planes bestand jedoch darin, daß aus der gemeinsamen Arbeit an diesem Werk überstaatlichen Charakters Vertrauen erwuchs, das unser europäisches Leben von Grund auf verändern würde. Der Schuman-Plan w a r ein Anfang". Den entschlossenen Europäern und Verfechtern einer fortschreitenden Teilintegration blieben Rückschläge nicht erspart. Der Vertrag über eine Europäische Verteidigungsgemeinschaft scheiterte 1954 im französi492
2. Europäischer Zusammenschluß sehen Parlament. Im Zeichen der kommunistischen Bedrohung erfolgte der militärische Zusammenschluß transatlantisch über das 1949 in Washington gegründete Verteidigungsbündnis der N o r t h Atlantic Treaty Organization ( N A T O ) , dem 1955 die inzwischen durch die Pariser Verträge des Jahres 1954 aus dem Besatzungsregime entlassene Bundesrepublik Deutschland beitrat. In Europa versprach das Gebiet der Wirtschaft am ehesten den Fortgang des Einigungsprozesses. Der belgische A u ß e n minister Paul-Henri Spaak setzte sich kraftvoll für eine wirtschaftliche Gesamtintegration mit Sonderregeln für die friedliche N u t z u n g der Atomenergie ein. Nach langwierigen Verhandlungen k a m die „Relance Europeenne" 1957 mit der Unterzeichnung der Römischen Verträge zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft ( E W G ) und der Europäischen Atomgemeinschaft (EAG) zustande. Sonderinteressen im C o m m o n w e a l t h hielten Großbritannien, Neutralitätspflichten Österreich und die Schweiz fern, denn die Römischen Verträge zielten über eine bloß wirtschaftliche Kooperation hinaus auf eine politische Integration. Als erster Präsident leitete Walter Hallstein die E W G - K o m m i s s i o n in Brüssel. Von Anbeginn bestanden institutionelle Verknüpfungen z w i schen den drei Gemeinschaften EGKS, E W G und E A G in Gestalt eines gemeinsamen Gerichtshofes ( E u G H ) und einer gemeinsamen „beratenden Versammlung" (des späteren Europäischen Parlaments). Der Fusionsvertrag schuf dann 1965 eine gemeinsame Kommission sowie einen gemeinsamen Rat, sodaß seither die drei Gemeinschaften dieselben Organe besaßen. Europa ist — w i e einst das Alte Reich — ein Verband mit vielen Hauptstädten: Brüssel kann als das eigentliche Zentrum gelten als Sitz von Rat, Kommission, Wirtschafts- und Sozialausschuß, Ausschuß der Regionen, Parlamentsausschüssen. Das Europäische Parlament tagt monatlich in Straßburg, dessen Generalsekretär sitzt in Luxemburg. Hier residieren auch der E u G H , „in den vergangenen Jahren der eigentliche M o t o r von deregulierenden Reformen in Deutschland" (Ludger Kühnhardt), die Europäische Investitionsbank und der Rechnungshof; ferner findet dort ein Teil der Ministerrats- und Parlamentssitzungen statt. In Frankfurt a . M . fand die Europäische Zentralbank ihren Ort. Das europäische Polizeiamt (Europol) hat seinen Sitz in Den Haag. Die Römischen Verträge wiesen den Kurs fortschreitender sektoraler Teilintegration. Die „nie versagende Sachlogik" (Walter Hallstein), der „Spill-over-effect", so nahmen die Europapolitiker an, werde die p s y chologische Kettenreaktion der Integration nicht an den Grenzen der Wirtschafts- und Sozialpolitik Halt machen lassen, A u ß e n - und Verteidigungspolitik müßten folgen, denn alle Politik sei eine Einheit. A b e r historische Abläufe ergeben sich nicht zwangsläufig, sondern hängen 493
XIII. Europäisches Erbe und Integration immer wieder von politischen Entschlüssen ab. Von dem politischen Ö k o n o m e n A n d r e w Shonfield rührt ein Gedanke, der im Rückblick treffender als Kataloge von Direktionen und Regeln die Errungenschaften der europäischen Integration resümiert: der Gedanke der „Gewohnheit der Zusammenarbeit". Ralf Dahrendorf, Europa-Kommissar in den frühen 1970er Jahre, folgte diesem A u t o r 1996: „ A n d r e w Shonfield gab seinen Reith Lectures den Titel ,Europa-Reise zu einem unbekannten Ziel'; das beschreibt auch meine Absichten. Die ganze Debatte über Föderalismus und das Europa der Vaterländer und die Vereinigten Staaten von Europa und den Leviathan Brüssel und sogar die Europäische U n i o n ist im Grunde sinnlos. W i r wissen nicht, w o die europäische Zusammenarbeit enden wird, aber w i r können die nächsten Schritte als A n t w o r t auf reale Herausforderungen tun und erwarten, daß das Ergebnis eine ,immer engere U n i o n ' ist". Doch greifen w i r mit diesem Urteil nicht vor, sondern folgen w i r dem zu Zeiten stockenden weiteren Gang der europäischen Ereignisse. In den Jahren 1958 bis 1965 gelang der heikle Ausgleich zwischen dem Gemeinschaftsinteresse und dem Willen der Mitgliedstaaten, zwischen der Kommission als dem M o t o r und M a k l e r des Verbundes und dem im nationalen Verständnis demokratisch verantwortlichen Ministerrat, der die Endbeschlüsse faßte. Der freie Warenverkehr wie eine gemeinsame Agrarpolitik und die Freizügigkeit des Personenverkehrs w u r d e n Wirklichkeit, außerdem die Gemeinschaft zu geschlossenem Auftreten in ihren Außenbeziehungen befähigt. Doch darauf folgte wieder eine Phase der Stagnation in den sechziger Jahren: der französische Staatspräsident Charles de Gaulle verkündete das „Europa der Vaterländer". Die Realitäten und Eckpfeiler Europas seien die souveränen Staaten. Es k o m m e an auf ein organisiertes, regelmäßiges Einvernehmen der verantwortlichen Regierungen und auf die Tätigkeit von diesen unterstellten Spezialorganisationen auf jedem der gemeinsamen Gebiete. Frankreich stemmte sich gegen qualifizierte Mehrheitsentscheidungen im Ministerrat und verschob die politischen Gewichte zugunsten des Rates und zu Lasten der Kommission und des Europäischen Parlaments. Wegen des französischen Widerstandes auch konnte Großbritannien erst im vierten Anlauf mit Dänemark und Irland 1973 in die Gemeinschaft gelangen. Erst Ende 1969 setzte die Haager Gipfelkonferenz der Regierungschefs der EG-Staaten dem Stillstand des Zusammenwachsens ein Ende. Die Konferenz bekannte sich zu einer Finanzverfassung der Gemeinschaft mit eigenen EG-Einnahmen, zur Schaffung einer Wirtschaftsund Währungsunion sowie zur Europäischen Politischen Zusammenarbeit (EPZ) und neuerlichen Beitrittsverhandlungen. Während sich das System der Eigenmittel seit 1970 fortschreitend verwirklichte, ließ sich 494
2. Europäischer Zusammenschluß die Wirtschafts- und Währungsunion zunächst nicht erreichen. Immerhin gelang 1978 die Gründung des Europäischen Währungssystems (EWS) mit festem Wechselkursverbund. Im J a h r 1976 beschloß der Rat die Einführung allgemeiner, unmittelbarer, freier und geheimer Wahlen der Abgeordneten des Europäischen Parlaments nach dem Verhältnisw a h l s y s t e m im Fünfjahresrhythmus. Damit erfuhr die Gemeinschaft ansatzweise die längst unentbehrliche zusätzliche demokratische Legitimation durch eine europaweite Volkswahl der „EG-Bürger", wobei freilich die meist nur konsultative Zuständigkeit des Parlaments zunächst unverändert blieb. „Die Gemeinschaft ist in demokratischer Hinsicht Kostgängerin der Mitgliedstaaten" (Josef Isensee). Die nächsten historischen Abschnitte der europäischen Entwicklung werden markiert durch die Einheitliche Europäische Akte (EEA) 1986 sowie durch die Verträge von Maastricht 1992, von Amsterdam 1997 und von N i z z a 2001. Diese Vertragswerke konsolidierten die Einigung w i e d e r u m auf durchaus verschlungene und wenig übersichtliche Weise. In der nach mancherlei Anläufen erreichten Einheitlichen Europäischen A k t e verpflichteten sich die EG-Mitgliedstaaten dazu, den gemeinsamen M a r k t bis z u m 1. Januar 1993 endgültig zu einem Binnenmarkt fortzuentwickeln. „Der Binnenmarkt umfaßt einen R a u m ohne Binnengrenzen", so Art. 8 a Abs. 2 E W G V i.d.F. d. EEA, „in dem der freie Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital gemäß den Bestimmungen dieses Vertrags gewährleistet ist". Das europäische Binnenmarktprogramm setzte einen weitreichenden Rechtsetzungsprozeß in Gang, dem sich die mitgliedstaatliche Transformation anschloß. Die Kommission erließ nicht weniger als 282 EG-Rechtsakte zu den technischen Handelshemmnissen, z u m öffentlichen Auftragswesen, zur Telekommunikation, zu den Grenzkontrollen, z u m Kapital- und Dienstleistungsverkehr, z u m Verkehrs- und z u m Steuerrecht. Die Einheitliche Europäische A k t e schuf den „Europäischen R a t " der Staatsund Regierungschefs der Mitgliedstaaten, unterstützt von ihren A u ß e n ministern, unter Beteiligung des Präsidenten der Kommission der Europäischen Gemeinschaften. A u ß e r d e m änderte Titel II der Akte die Gründungsverträge der Gemeinschaften, indem er neue A u f g a b e n und Befugnisse festlegte. „Nach dreißig Jahren w a r die Wirtschaftsgemeinschaft der Römischen Verträge von 1957 politische Wirklichkeit geworden. Ein Ende der Stagnation w a r greibar nahe, und die vielzitierte ,Eurosklerose' endlich ü b e r w u n d e n " (Helmut Kohl). Der Vertrag von Maastricht über die Europäische U n i o n (EUV) ist die gewichtigste Ergänzung und Erweiterung des Gemeinschaftsrechts seit den Römischen Verträgen von 1957/58. „Dieser Vertrag stellt eine neue Stufe bei der Verwirklichung einer immer engeren U n i o n der 495
XIII. Europäisches Erbe und Integration Völker Europas dar, in der die Entscheidungen möglichst offen und möglichst bürgernah getroffen werden. Grundlage der U n i o n sind die Europäischen Gemeinschaften, ergänzt durch die mit diesem Vertrag eingeführten Politiken und Formen der Zusammenarbeit. Aufgabe der U n i o n ist es, die Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten sowie z w i schen ihren Völkern kohärent und solidarisch zu gestalten" (Art. 1 Abs. 2 u. 3 Ε U V ) . Der Vertrag führte eine Unionsbürgerschaft ein, freilich nicht im Sinne einer neuen Staatsangehörigkeit, sondern als Sammeltitel für z u m Teil schon bisher bestehende europäische Rechtspositionen, die jedem EG-Angehörigen über seine nationale Staatsbürgerschaft zuwachsen. N e u hinzu k a m das aktive und passive kommunale Wahlrecht jedes Unionsbürgers an seinem Wohnort innerhalb der EG. Jeder Unionsbürger hat auch das Wahlrecht z u m Europaparlament an seinem jeweiligen Wohnort. Der Vertrag gewährleistet zudem die Freizügigkeit und das Recht der freien Niederlassung jedes Unionsbürgers. Der mit dem Vertrag von Maastricht eher deklaratorisch eingeführten Unionsbürgerschaft hatte der E u G H längst vorgearbeitet. Art. 220 EGV hatte dem E u G H eine allgemein gefaßte Rechtswahrungsaufgabe übertragen. Als Verfassungsgericht der Gemeinschaft sollte er die im Vertrag vorhandenen Ansätze ausbauen, u m das Gemeinschaftsprojekt zu stärken und mit Leben zu erfüllen. In einer grundlegenden Entscheidung aus dem J a h r 1963 — Fall van Gend u. Loos — hat der E u G H die einzelnen Bürgerinnen und Bürger der Mitgliedstaaten zu Inhabern einklagbarer Rechte unmittelbar aus dem EWG-Vertrag erklärt und sie damit neben den Mitgliedstaaten zu Mitsubjekten und Mitträgern der Gemeinschaft erhoben. Im Fall G r z e l c z y k (EuGH, Slg. 2001, 1-6193; vgl. Montag u. v. Bonin) hat der Gerichtshof den Rang der Unionsbürgerschaft herausgestellt: „Die Unionsbürgerschaft ist dazu bestimmt, der grundlegende Status der Angehörigen der Mitgliedstaaten zu sein, der denjenigen unter ihnen, die sich in der gleichen Situation befinden, unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit und unbeschadet der in soweit ausdrücklich vorgesehenen Ausnahmen Anspruch auf die gleiche rechtliche Behandlung gibt". Diese Spruchpraxis gilt der teilhabebegründenden Funktion der Unionsbürgerschaft im Hinblick auf mitgliedstaatliche Sozialleistungen. Der Vertrag bekennt sich zu Demokratie und Menschenrechten unter Hinweis auf die Europäische Menschenrechtskonvention und bekräftigt damit allgemeine Prinzipien, die der E u G H bis dahin schon als Bestandteil der Gemeinschaftsrechtsordnung anerkannt hatte. Der Vertrag stärkt das Parlament, dem er, erstmals bei der materiellen Rechtsetzung, echte Mitbestimmungsbefugnisse auf den bürgernahen Feldern des Bin496
2. Europäischer Zusammenschluß nenmarktes in einem neuen Mitentscheidungsverfahren einräumt. Verstärkte Befugnisse erhalten Parlament und K o m m i s s i o n in der gemeinsamen A u ß e n - und Sicherheitspolitik der U n i o n . D i e Neuberufung der E G - K o m m i s s i o n bedarf fortan der Zustimmung des Parlaments — eine gewichtige Ergänzung des schon bestehenden Mißtrauensvotums und ein J a z u m parlamentarischen Prinzip, allerdings n o c h ohne das R e c h t zur Gesetzesinitiative. D i e von der europäischen N o r m e n f l u t p r o v o zierte Frage nach den G r e n z e n der Gemeinschaftskompetenz soll über den Subsidiaritätsgrundsatz eine A n t w o r t erfahren. D e n K e r n des Maastrichter Vertragswerks bilden die Kompetenzerweiterungen zugunsten der E G auf dem G e b i e t von Wirtschaft und Währung. D e n n o c h bleibt die Europäische Gemeinschaft oder U n i o n eine zwischenstaatliche Einrichtung im Sinne von Art. 24 Abs. 1 G G nach dem langjährigen Verständnis des B V e r f G . „Entgegen mancherlei H o f f n u n g e n oder Befürchtungen — v o r allem auch der deutschen Staatsrechtslehre — stellt Maastricht keinen qualitativen Sprung in R i c h t u n g auf einen europäischen Bundesstaat dar, sondern entwickelt lange bestehende integrationspolitische Ansätze im Lichte aktueller Herausforderungen ein Stück weiter. N o c h deutlicher als bisher wird erkennbar, daß die E G sich nicht auf wirtschaftliche Fragen beschränkt" ( O p p e r m a n n / C l a s sen). Das zukunftweisende Vertragswerk „begründet einen Staatenverbund zur Verwirklichung einer immer engeren U n i o n der — staatlich organisierten — V ö l k e r Europas (Art. A E U V ) " , so das B V e r f G in sein e m Maastricht-Urteil von 1993 ( B V e r f G Ε 89, 155), „keinen sich auf ein europäisches Staatsvolk stützenden Staat". I m m e r h i n steht der Verbund auf drei Säulen: der Wirtschaftspolitik, der A u ß e n - und Sicherheitspolitik sowie der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit. N i c h t z u m ersten M a l hat das B V e r f G in seinem Maastricht-Urteil die verfassungsrechtlichen Maßstäbe des deutschen Grundgesetzes dargetan, an denen sich die europäische Integration messen lassen muß: O b e n a n steht das Demokratieprinzip. Es hindert die Bundesrepublik Deutschland gewiß nicht an einer Mitgliedschaft in einer supranationalen zwischenstaatlichen Gemeinschaft. Voraussetzung der Mitgliedschaft ist aber, daß eine v o m Volk ausgehende Legitimation und Einflußnahme auch innerhalb des Staatenverbundes gewährleistet bleibt. N i m m t ein Verbund demokratischer Staaten hoheitliche Aufgaben und Befugnisse wahr, so haben zuvörderst die Staatsvölker der Mitgliedstaaten dies über die nationalen Parlamente demokratisch zu legitimieren in einem P r o z e ß der R ü c k k o p p l u n g des Handelns europäischer O r g a n e an die einzelnen Volksvertretungen. H i n z u k o m m t , zunehmend nach dem M a ß weiteren Zusammenwachsens, die Vermittlung demokratischer L e gitimation durch das Europäische Parlament. Vermittelten, wie im J a h r 497
XIII. Europäisches Erbe und Integration 1993, die Staatsvölker über die nationalen Parlamente demokratische Legitimation, so das BVerfG weiter, so seien „der Ausdehnung der A u f gaben und Befugnisse der Europäischen Gemeinschaften vom demokratischen Prinzip her Grenzen gesetzt. D e m Deutschen Bundestag müssen A u f g a b e n und Befugnisse von substantiellem Gewicht verbleiben". A k t e öffentlicher Gewalt einer supranationalen Organisation betreffen die Grundrechtsberechtigten in Deutschland und berühren damit die grundgesetzlichen Gewährleistungen und die Kompetenz des BVerfG, die den Grundrechtsschutz nicht nur gegenüber deutschen Staatsorganen u m faßt. Dabei steht das BVerfG in einem „Kooperationsverhältnis" z u m EuGH. Die Bundesrepublik Deutschland unterwerfe sich mit der Ratifikation des Maastricht-Vertrages, so das höchste deutsche Gericht, nicht einem unüberschaubaren, in seinem Selbstlauf nicht mehr steuerbaren A u t o matismus zu einer Währungsunion. Der Vertrag eröffne vielmehr den Weg „zu einer stufenweisen weiteren Integration der europäischen Rechtsgemeinschaft, der in jedem weiteren Schritt entweder von gegenwärtig für das Parlament voraussehbaren Voraussetzungen oder aber von einer weiteren, parlamentarisch zu beeinflussenden Zustimmung der Bundesregierung abhängt". Der im Zusammenhang mit dem Vertrag in das Grundgesetz eingeführte Art. 23 spricht von der Entwicklung der Europäischen Union, die demokratischen, rechtsstaatlichen, sozialen und föderativen Grundsätzen und dem Prinzip der Subsidiarität verpflichtet bleibe. Der nach langwierigen Regierungsverhandlungen 1997 z u m Abschluß gelangte Vertrag von Amsterdam (AV) verfolgte das Ziel, den Maastrichter Abschluß zu vervollkommnen und behutsam fortzuentwickeln. Der AV sollte für mehr Demokratie, Transparenz und Effizienz sorgen und die E U auf die Osterweiterung vorbereiten. Das diplomatische Werk, eine Mischung aus Bescheidenheit und Komplexität, umfaßt nicht w e n i ger als 591 Druckseiten: zu 145 Seiten Vertragstext k o m m e n 18 Seiten Ubereinstimmungstabellen im Anhang, 42 Seiten Protokolle, 10 Seiten Schlußakte sowie 72 Seiten von der Konferenz an- oder zur Kenntnis genommene Erklärungen. Als „Illustration" beigefügt ist dem Vertragstext je ein Exemplar des novellierten und neu durchnumerierten E U und des EG-Vertrages. Diese Bereinigung des Vertragswerkes schien nach den zahlreichen vorausgegangenen Änderungen unumgänglich, obw o h l sich damit ein gewisser Identitäts- und Orientierungsverlust einstellte. Die Endgestalt der E U läßt das w i e d e r u m juristisch komplizierte Vertragswerk weiterhin offen. Der Vertrag stärkt das Europäische Parlament beträchtlich: Er führt die bisher zahlreichen Beteiligungsformen zurück auf die drei Verfahren 498
2. Europäischer Zusammenschluß der Anhörung, der Zustimmung und der Mitentscheidung, deren Feld eine deutliche Erweiterung erfährt. A u ß e r d e m erhält das Parlament das Recht der Zustimmung zur Benennung des Präsidenten der Kommission. Der AV gibt Mehrheitsentscheidungen im Rat mehr Raum, bleibt aber weit davon entfernt, die qualifizierte Mehrheit als die Regel und das Verfahren der Einstimmigkeit als Ausnahme erscheinen zu lassen. Neben dem Ausbau der demokratischen Legitimation nahm das Vertragswerk im wesentlichen noch die folgenden Gegenstände auf: die Uberführung weiter Teile der früheren dritten Säule der EU, die Zusammenarbeit in der Justiz- und Innenpolitik, auch des „Schengen-Besitzstandes" z u m Wegfall der Binnengrenzen, in das Gemeinschaftsrecht; die Verbesserung der A u ß e n - und Sicherheitspolitik; die Förderung der Bürgernähe etwa durch einen neuen Titel Beschäftigung; schließlich die Zulassung der Möglichkeit differenzierter Integration nach dem Motto „Flexibilität". Der „Vertrag von N i z z a zur Änderung des Vertrags über die Europäische Union, der Verträge zur Gründung der Europäischen Gemeinschaften sowie einiger damit zusammenhängender Rechtsakte" aus dem J a h r 2001 beschränkt sich im Wesentlichen darauf, die so geheißenen „Leftovers" von Amsterdam abzuarbeiten, u m die E U auf die bevorstehenden Beitritte vorzubereiten. Der „Erweiterungsgipfel" brachte denn auch keinen Zukunftsentwurf hervor. So überwogen danach die negativen Stimmen in der Kritik: Die notwendigen institutionellen Reformen blieben zaghaft, die Fragen nach der Finalität der europäischen Integration ungestellt und die Signale für die europäische Idee zu schwach. Aber es begann doch mit der vom Europäischen Rat am 7. Dezember 2000 in N i z z a feierlich proklamierten — freilich nicht in die Verträge aufgenommenen — „Charta der Grundrechte der Europäischen U n i o n " die Verfassungsdiskussion in der Gemeinschaft. Dabei zeichnete sich ein dritter Weg ab zwischen einem bloßen Staatenbund und einem europäischen Bundesstaat. „Die Gemeinschaft befand sich von Anfang an in einem dynamischen Integrationsprozeß auf der Achse zwischen einer Konföderation völkerrechtlicher Natur und einem (teil-)souveränen föderalen Staatswesen aus eigenem Recht" (Günter Hirsch). Dieser dynamische Prozeß enthält auch die Option, die rein völkerrechtliche Ebene zu verlassen. Doch auch der mittlere Weg zu einer nicht in das überlieferte verfassungsrechtliche Schema passenden Ordnung gebietet A n t w o r t auf offene Fragen, wenngleich der Endzustand der Integration sich noch nicht bestimmen läßt. Ziele, A u f g a b e n und institutionelle Architektur des Verbundes bedürfen der Klärung. Als fortwährende Herausforderung besteht die N o t w e n d i g k e i t des Ausgleichs der unterschiedlichen 499
XIII. Europäisches Erbe und Integration Partikularinteressen weiterbestehender Nationalstaaten. Das Staatsrecht hat europäische Realitäten anzuerkennen: Der klassische, voll souveräne Staat existiert in Europa nicht mehr. Die Mitgliedstaaten der E U haben einen Teil ihrer Hoheitsrechte auf die Gemeinschaft übertragen, u m als Glieder des Verbundes zusätzliche politische und wirtschaftliche M ö g lichkeiten zu gewinnen, Deutschland auf der Grundlage des Art. 23 GG. Neben einer Reihe kleinerer Vertragsänderungen modifizierte der A b schluß von N i z z a die Zusammensetzung der Organe und die Entscheidungsverfahren im Blick auf die Erweiterung der Union, die Stimmengewichtung im Rat, die Abstimmung mit qualifizierter Mehrheit, die Regeln über die verstärkte Zusammenarbeit, die gemeinsame Handelspolitik, ferner die Maßgaben für das intergouvernementale Feld der gemeinsamen A u ß e n - und Sicherheitspolitik (GASP) w i e der Justiz und des Inneren. In der 23. (!) Erklärung zur Schlußakte von N i z z a wünschte die Konferenz „die A u f n a h m e einer eingehenderen und breiter angelegten Diskussion über die Zukunft der Europäischen U n i o n " . Damit begann der „Post-Nizza-Prozeß". Im Rahmen dieses Prozesses sollten, wie es in der Erklärung heißt, „folgende Fragen behandelt werden: die Frage, wie eine genauere, dem Subsidiaritätsprinzip entsprechende Abgrenzung der Zuständigkeiten zwischen der Europäischen U n i o n und den Mitgliedstaaten hergestellt und danach aufrecht erhalten werden kann; der Status der in N i z z a verkündeten Charta der Grundrechte der Europäischen U n i o n gemäß den Schlußfolgerungen des Europäischen Rates von Köln; eine Vereinfachung der Verträge mit dem Ziel, diese klarer und verständlicher zu machen, ohne sie inhaltlich zu ändern; die Rolle der nationalen Parlamente in der Architektur Europas". In der Tat: Die Europäische U n i o n leidet an einem Demokratiedefizit und an Legitimationsschwäche. Sie braucht mehr Durchsichtigkeit und weniger N o r m e n . Die Wirksamkeit der Gemeinschaft muß aufrechterhalten bleiben, zugleich aber der Subsidiaritätsgedanke mehr R a u m gewinnen. Es geht u m ein Europa der Bürger, nicht der Institutionen und Bürokraten, und u m die Geltung der Grundrechte überall. U m die A b grenzung der A u f g a b e n wie der Zuständigkeiten zwischen den weiterbestehenden Nationalstaaten und der U n i o n werden die Verantwortlichen weiter ringen müssen; die Kernfrage nach der Machtverteilung erheischt eine A n t w o r t . Walter Hallstein, 1958 bis 1967 Präsident der Kommission der E W G , hat im Rückblick seines monumentalen, 1978 in erweiterter fünfter A u f lage erschienenen Werkes über „Die Europäische Gemeinschaft" geurteilt: „Der U m f a n g des europäischen Phänomens ist im unvorhergesehe500
2. Europäischer Zusammenschluß nen M a ß e gewachsen. Das ist nicht nur eine quantitative, sondern auch eine qualitative Feststellung. Die Gemeinschaft hat in mindestens drei Richtungen einen kräftigen Ausdehnungsprozeß durchlaufen. Er w a r nicht so geplant. Aber er verlief doch auch nicht .automatisch'. Es w a r eine Kette von Impulsen, denen w i r ausgesetzt waren, Einladungen, Aufforderungen, die die politische Lage an uns richtete und die w i r frei waren, zu befolgen oder auszuschlagen. Es macht die Eigendynamik der Gemeinschaft aus, ihren Charakter als einer Bewegung, daß w i r diese Gelegenheit durch politische Willensakte annahmen. Sie betrafen die Motive der Integration, ihren W i r k u n g s r a u m und ihre Gegenstände". Die europapolitische ratio umfaßte die Selbstbehauptung Europas und den Frieden in Europa, schließlich auch weltpolitische Motivationen. Die Gemeinschaft erweiterte sich räumlich über den Gründungsplan hinaus und legte u m ihre wirtschaftliche Kernlandschaft einen Kranz von Handelsabkommen und Assoziationen im Mittelmeerraum und in Afrika. Endlich hat die Gemeinschaft sich gegenständlich ergänzt weit über die ihr vertraglich aufgetragenen wirtschaftspolitischen Kompetenzen hinaus, etwa durch die Europäische Politische Zusammenarbeit. Eindrucksvoll erweist Walter Hallstein die Europäische Gemeinschaft in vierfacher Hinsicht als ein Phänomen des Rechts: als eine Schöpfung des Rechts, als Rechtsquelle, als Rechtsordnung und als ein Feld der Rechtspolitik. Die von den Mitgliedstaaten abgeschlossenen völkerrechtlichen Verträge zur Gründung und Ausgestaltung der Europäischen U n i o n haben als primäres Gemeinschaftsrecht sowohl objektives Recht vornehmlich bei der Einrichtung und Ausgestaltung der Gemeinschaftsorgane als auch N o r m e n geschaffen, die den einzelnen Gemeinschaftsbürger begünstigen wie etwa die Regeln zur Warenverkehrsfreiheit und zur Freizügigkeit. Zum sekundären Gemeinschaftsrecht gehören die Verordnungen; sie gelten allgemein und unmittelbar, also ohne weiteren mitgliedstaatlichen Umsetzungsakt in allen Mitgliedstaaten. In dieser unmittelbaren und gleichen Geltung in allen Mitgliedstaaten liegt einer der Gründe, w a r u m das Gemeinschaftsrecht Anwendungsvorrang vor jedem nationalen Recht beanspruchen muß (vgl. Art. 249 Abs. 2 EGV). A u ß e r den Verordnungen erlassen das Europäische Parlament und der Rat gemeinsam, der Rat und die Kommission Richtlinien. „Die Richtlinie ist für jeden Mitgliedstaat, an den sie gerichtet wird, hinsichtlich des zu erreichenden Zieles verbindlich, überläßt jedoch den innerstaatlichen Stellen die Wahl der Form und der Mittel" (Art. 249 Abs. 3 EGV). Im Erlaß von — nur mittelbar legitimierten — Richtlinien durch die Gemeinschaftsorgane und ihre U m s e t z u n g durch die Legislative der Mitgliedstaaten liegt ein Vorgang zweistufiger Rechtsetzung, der im A n 501
XIII. Europäisches Erbe und Integration satz an die Rahmengesetzgebung im Bundesstaat nach Art. 75 GG denken läßt, aber doch eine eigenständige europäische Rechtsquelle darstellt. Die Gemeinschaft verkörpert ein gewachsenes, geschlossenes System von Rechtssätzen, welche die Verträge selbst und die Organakte, insbesondere die Verordnungen des aus Mitgliedern der nationalen Regierungen bestehenden Rats, auf der Grundlage der Verträge geschaffen haben. Die europäische Rechtsordnung hat sich von Anbeginn nicht auf das gute Funktionieren des gemeinsamen Marktes beschränkt, sondern zugleich die Gesetzmäßigkeit des Handelns der Organe und den Rechtsschutz der den N o r m e n Unterworfenen gewährleistet. Die Mitgliedstaaten haben durch die Gründung der Gemeinschaft ihre eigene Hoheit oder Souveränität beschränkt und dadurch einen eigenständigen Rechtskörper geschaffen, der für ihre Angehörigen und sie selbst verbindlich ist. M i t gutem Grund gibt Walter Hallstein einem Kapitel seines Buches die Uberschrift: „Die Verfassung". Denn jeder Verband, sei es von M e n schen oder von privaten und öffentlichen Gemeinwesen, hat eine Verfassung. Sie ordnet die Glieder einander zu, bestimmt die gemeinsamen Ziele und organisiert den Verband. Seit die „efforts createurs" in Gang kamen, zu denen der französische Außenminister Robert Schuman am 9. M a i 1950 aufgerufen hatte, läuft der Prozeß der Konstitutionalisierung Europas nach dem Vorsatz eines „immer engeren Zusammenschlusses". Die Gemeinschaft besitzt seit ihren Anfängen eine sich mehr und mehr erweiternde und verdichtende Verfassung: eine Summe von Regeln oder Grundurteilen, an die sich die Verantwortlichen halten. Diese N o r m e n stehen in den Gründungs- und Erweiterungsverträgen, auch in den Verordnungen. Gewohnheiten bringen sie ihrerseits z u m Ausdruck. Die Spruchpraxis des E u G H ist dafür eine Erkenntnisquelle. Für den weder unitarisch noch international verfaßten europäischen Staatenverbund fand sich zunächst das treffende Wort „Gemeinschaft" nach dem Vorschlag von Carl Friedrich Ophüls. „Ii n ' y a que l'individue et l'Etat", lehrte die unitarische Französische Revolution. Die deutsche föderale und konföderale Erfahrung fand leichter zu differenzierten Formen des Zusammenschlusses. Bei der supranationalen Lösung legen die Mitgliedstaaten einen Teil ihrer Hoheitsrechte zusammen, verschmelzen ihn und unterstellen ihn gemeinschaftlichen Organen, in denen sie selbst mitentscheiden. Anders als der allzuständige Staat genießt die Gemeinschaft allein die vertraglich zugestandenen Kompetenzen. Die Gemeinschaft „bewahrt, w a s an Verschiedenheit und Eigenständigkeit der überkommenen nationalen Einheiten Erhaltung verdient, und sie schafft doch die großräumige Organisation, die der 502
2. Europäischer Zusammenschluß kontinentale Maßstab des globalen Zeitalters fordert", so noch einmal der erste Kommissionspräsident. N a c h dem Zusammenbruch des Sowjet-Systems und des Warschauer Pakts strebten in den neunziger Jahren Estland, Lettland, Litauen, Polen, die Slowakei, Slowenien, Tschechien und U n g a r n in die EU. Malta und Zypern hatten ihre Beitrittsanträge 1990 gestellt. Im Dienste der Osterweiterung entwickelten die verantwortlichen Politiker der Gemeinschaft eine Strategie des Heranführens, u m den planwirtschaftlich heruntergekommenen Beitrittsländern den Ubergang zur M a r k t w i r t schaft zu ermöglichen. Die w i e d e r u m schwierigen Verhandlungen kamen im Jahre 2003 in Athen zu erfolgreichem Abschluß. M i t W i r k u n g z u m 1. Mai 2004 erweiterte sich die E U von fünfzehn auf fünfundzwanzig Mitglieder, wobei lange Ubergangsfristen die große A u s w e i tung erleichtern sollen. Damit hat sich die Idee Robert Schumans erfüllt: die U n i o n hat sich zu einem gesamteuropäischen Verbund entwikkelt. U m so dringlicher stellte sich danach die Frage nach Konsistenz und Verfassung. Der europäische Transformationsprozeß steht seit der Präambel des EWG-Vertrages von 1957 unter der Zielvorgabe eines „immer engeren Zusammenschlusses der europäischen Völker". Die seither kräftig fortgeschrittene Integration verlangt — so ein verbreitetes Postulat — nach einer die U n i o n bestärkenden und ausrundenden Verfassungsurkunde, die nach wiederholter politischer Kraftanstrengung den europäischen Zusammenschluß auf eine neue, solidere und dauerhafte Grundlage mit erhöhter Legimität stellen soll: „Europa benötigt — heute mehr denn je — ein klares Profil und eine gemeinsame Identität" (Benita FerreroWaldner). Bedürfen w i r nicht neuer Entwürfe „des produktiven Weiterentwickelns staatstheoretischer Schlüsselbegriffe zu Leitbegriffen der Welt jenseits des Staates?" (Rainer Wahl). N a c h d e m die vom Europäischen Rat eingesetzten Mitglieder des „Konvents zur Zukunft Europas" den Entwurf einer Verfassung im N a men der Bürgerinnen und Bürger und der Staaten Europas erarbeitet hatten, unterzeichneten am 29. Oktober 2004 in R o m die Oberhäupter der inzwischen f ü n f u n d z w a n z i g Mitgliedstaaten der U n i o n nach einigen Modifikationen den Vertrag über eine Verfassung für Europa. Das Europäische Parlament hat dem Entwurf eines „Verfassungsvertrages" zugestimmt, der in seinem ersten Abschnitt den „eigentlichen Verfassungsteil" enthalten soll. „Der Übergang v o m Terminus .Vertrag' z u m Terminus .Verfassung' in der Bezeichnung des grundlegenden Rechtsdokuments des europäischen Zusammenschlusses symbolisiert angesichts der einschlägigen rechtswissenschaftlichen Auseinandersetzungen der letzten 15 Jahre sowie der öf503
XIII. Europäisches Erbe und Integration fentlichen Debatten, welche die Arbeiten des Konvents begleitet haben und seine Inkraftsetzung weiter begleiten, den Willen der repräsentativen Institutionen der europäischen Völker, in einen neuen Zustand des Zusammenschlusses überzugehen, in dem die Unionsbürger in neuer Art und Weise verbunden sind" ( A r m i n von Bogdandy). Indessen deckt sich der europäische nicht mit dem historisch gewachsenen, im Konstitutionalismus des 19. Jahrhunderts ausgeprägten staatsrechtlichen Verfassungsbegriff. H e r k ö m m l i c h weist eine Verfassung auf Dauer und Kontinuität; sie begründet eine in ihrem Kernbestand gesicherte, in der erschwerten Abänderbarkeit verstetigte Körperschaft. Hingegen soll die Integration der U n i o n binnen- wie außenpolitisch fortschreiten. Für das Zustandekommen der Grundordnung halten die Urheber am „Verfassungsvertrag" fest: die Mitgliedstaaten sollen je auf ihre Weise zustimmen, ein europäisches Staatsvolk als verfassunggebende Gewalt soll indessen nicht in Erscheinung treten. Eine Verfassung beansprucht Vorrang gegenüber allen in sie eingebetteten N o r m e n . In der E U aber bleiben nationalstaatliche Vorbehalte w i r k s a m . Herkömmliche Staatsverfassungen wollen Hoheitsgewalt legitimieren, ausbilden und mäßigen. Die Europäische Verfassung freilich hat anderes z u m Gegenstand. Die E U kann z w a r unmittelbar verbindliche Rechtsakte setzen, allgemein gültiges Gesetzesrecht schaffen, durch Beschlüsse den einzelnen einseitig verpflichten. Aber sie verfügt k a u m über eine eigene Vollzugsgewalt und über keine eigenen Zwangsbefugnisse. „Der geschichtsbeladene Kontinent — reich beladen w i e keiner — besitzt tiefere Wurzeln und ältere Loyalitäten, als der Fassadenanstrich mit Hilfe der wendigen Formeln des Rechts durchscheinen läßt" (Rüdiger Bubner). In der Tat darf die neue Verfassungsurkunde nicht den Blick darauf verstellen, daß die Europäische Grundordnung aus geschichtlichem Wissen, aus der Wirklichkeit eines weltoffenen Marktes, grenzüberschreitender Informationssysteme und freien Verkehrs und schließlich aus rechtsetzendem Willen eines Staatenverbundes — keines Staates — erwächst, wie Paul Kirchhof dargetan hat: „Die Grundordnung ist A u s d r u c k eines gefestigten Rechtswissens, das aus europäischer, bewährter Rechtskultur schöpft, historische Erfahrungen des Christentums, des H u m a n i s m u s und der A u f k l ä r u n g aufnimmt, bewährte Institutionen, erprobte Werte, politische Erfahrungen verbindlich an die Zukunft weitergibt, Erkenntnisse der Wissenschaft berücksichtigt. Im Mittelpunkt dieses Rechtswissens steht die Idee der Staatlichkeit und die der Menschenrechte, in denen die Europäische U n i o n fundiert ist". Diese Gesichtspunkte bleiben für das Verständnis der europäischen Verfassunggebung bedeutsam. Das w i e d e r u m sehr umfangreiche Verfassungswerk des unter dem Vorsitz des ehemaligen französischen Staats504
2. Europäischer Zusammenschluß chefs Valery Giscard D'Estaing tagenden, einhundertfünf Mitglieder — deutlich mehr Parlamentarier als Regierungsvertreter — zählenden Konvents erweitert die Kompetenzen der E U nur unerheblich und läßt die grundlegenden verfassungsrechtlichen und politischen Strukturen der Mitgliedstaaten unangetastet. Es bleibt beim Prinzip der „begrenzten Einzelermächtigung", einer Ursache für die Intransparenz des bestehenden Systems. N a c h der Verfassung erreicht der europäische Zusammenschluß nicht das Stadium der Staatswerdung. Die europäische Mehrebenenordnung läßt vielmehr die Glieder in ihrer Nationalität und Kultur Staaten bleiben und verweigert der Union, der Gesellschaft und Zivilisation zugeordnet werden, die Staatsqualitität. Die Stärkung des Mehrheitsprinzips, eine „Flexibilitätsklausel" und die Personalisierung der U n i o n durch die Einführung eines Präsidenten des Europäischen Rates, die Stärkung des Kommissionspräsidenten und die Schaffung des Amtes eines Außenministers sollen den Zusammenschluß wirksamer und sichtbarer machen. Der Eingangsartikel I der EU-Verfassung 2004 betont den Bürgerwillen und den dualen Charakter des Staatenverbundes: „Geleitet von dem Willen der Bürgerinnen und Bürger und der Staaten Europas, ihre Zukunft gemeinsam zu gestalten, begründet diese Verfassung die Europäische Union, der die Mitgliedstaaten Zuständigkeiten zur Verwirklichung ihrer gemeinsamen Ziele übertragen. Die U n i o n koordiniert die diesen Zielen dienende Politik der Mitgliedstaaten und übt die ihr von den Mitgliedstaaten übertragenen Zuständigkeiten in gemeinschaftlicher Weise aus" (1-1). Bleiben die Möglichkeiten zu integrativer Fortentwicklung der E U bestehen, so zieht die Verfassung doch Grenzen für den weiteren Vereinigungsprozeß. „Der Leitspruch der U n i o n " lautet: „In Vielfalt geeint" (1-8). „Die nationale Identität der Mitgliedstaaten, die in deren grundlegender politischer und verfassungsrechtlicher Struktur einschließlich der regionalen und k o m m u n a l e n Selbstverwaltung z u m A u s druck k o m m t " , bleibt gewahrt (1-5); die Subsidiaritätskontrolle w i r d verstärkt (1-11). Die U n i o n ist Wertegemeinschaft (1-2, GrundrechteKatalog) und Demokratie (1-45 ff.). Ihre Symbole (Flagge, H y m n e , Feiertag: 9. M a i — zur Erinnerung an Robert Schumans Plan) gleichen denen eines Staates, ohne doch einen solchen auszuweisen. Das Ringen u m die einzelstaatliche Ratifizierung der Verfassung mit ihren Vorzügen und Schwächen geht — belastet durch die negativen Plebiszite in Frankreich und den Niederlanden — einher mit den Kontroversen u m den künftigen Beitritt der Türkei, die gemeinsame Agrarpolitik ( G A P ) ä l'image de la France, die Defizitverfahren w e g e n Verstößen gegen den Stabilitäts- und Wachstumspakt, bis hin zu der Frage, inwieweit Angehörige von Mitgliedstaaten der E U das Recht haben, 505
XIII. Europäisches Erbe und Integration steuerfinanzierte Sozialleistungen in einem anderen Mitgliedstaat in A n spruch zu nehmen. Ein ernsthaftes Problem bleibt nicht zuletzt die Aufrechterhaltung der Währungsunion von zwölf Staaten mit dem gemeinsamen Euro ohne staatliche Einheit. In seinem umfangreichen Beitrag zu dem Sammelband von H o f mann/Zimmermann hat Thomas Giegerich die Grundlinien einer fünfzigjährigen europäischen Verfassungsdiskussion von der Montanunion zur Europäischen Verfassung nachgezogen und am Ende die Frage gestellt: „Corpus monstro simile oder Stupor mundi et immutator mirabilis?" Von den fünf Grundkontroversen der fünfzigjährigen europäischen Verfassungsdiskussion sei keine klar im Sinne eines Entweder-oder entschieden worden. Das Erfolgsgeheimnis der Integration sei vielmehr die Kunst des Sowohl-als-auch: Vertrag und Verfassung, Staatenverein und Völkerverein, D y n a m i k und Konsolidierung, A u t o n o m i e und Heteronomie des Europarechts, nationale und europäische Konstitutionalität. J e nach sachlichen Zusammenhängen und Zeitumständen sei das Pendel mehr in die eine oder die andere Richtung ausgeschlagen. „Per Saldo hat sich eine dynamische konstitutionelle Evolution abgespielt, die das Integrationsprojekt ein erhebliches Stück in Richtung auf eine autonome Verfassung, einen Völkerverein und eine europäische Konstitutionalität hin getragen hat, ohne daß die Komponenten des Vertrags, des Staatenvereins, der Konsolidierung, der Heteronomie und der nationalen Konstitutionalität dabei verloren gegangen wären". Teil II der Verfassung enthält die Charta der Grundrechte der Union. Diese werden trotz aller Krisen der Konstitutionalisierung das europäische Privat- und Verfahrensrecht nachhaltig überformen. Rechtsetzung und Spruchpraxis werden sich an diesem Prinzipien- und Wertekanon orientieren. Es geht u m die Ausstrahlung von Grund- und Menschenrechten auf das Zivil- und Zivilprozeßrecht. Die Konstitutionalisierung des europäischen Privat- und Prozeßrechts erfolgt auf zwei Wegen: einmal über die Grundfreiheiten und Grundrechte des vorrangigen Gemeinschaftsrechts, z u m anderen über die völkerrechtlichen Garantien der Europäischen Menschenrechtskonvention. Die inhaltliche W i r k s a m keit der europäischen Grundrechte auf die ihnen nachgeordneten Privatund Prozeßrechte entfaltet sich auf beiden Wegen in ähnlicher Weise. „Gemeinschaftsprivatrecht bezeichnet die kraft Gemeinschaftsrechts in allen oder für alle Mitgliedstaaten verbindlichen Privatrechtsregeln" (Peter-Christian Müller-Graff). Diese können in N o r m e n unterschiedlicher Rechtsnatur erscheinen, insbesondere in Vorschriften des Primärrechts, in unmittelbar geltenden Verordnungen oder umzusetzenden Richtlinien der Gemeinschaft. Neben dem Gemeinschaftsprivatrecht stehen das völkerrechtlich begründete Konventionsprivatrecht, das ge506
2. Europäischer Zusammenschluß meineuropäische Privatrecht nach den in den Einzelstaaten übereinstimmenden Traditionen, schließlich die internationalen Standards ohne Rechtssatzqualität w i e Allgemeine Geschäftsbedingungen, technische Regeln, berufliche Maßgaben, lex mercatoria. Die europäischen Richtlinien — groß an Zahl und von oft einschneidender Wirksamkeit — enthalten inhaltliche Vorgaben insbesondere im Vertragsrecht etwa für die Haustürgeschäfte, die Verbraucherkreditverträge, die Pauschalreisen und die Handelsvertreterverträge. Zu den Eigenheiten des europäischen Richtlinienprivatrechts gehört sein fragmentarischer Charakter. Nicht eine große Kodifikation, sondern einzelne, verstreute Rechtsquellen bestimmen seinen Inhalt. „Statt das Europäische Privatrecht aus seinem Kern heraus zu entwickeln, scheinen die nationalen Privatrechte gleichsam von ihren Rändern her ,aufgerollt' zu werden — ein Effekt, der keineswegs allein A u s d r u c k einer bestimmten rechtspolitischen Konzeption der Kommission ist, sondern vor allem auch auf den mitgliedstaatlichen Widerständen gegen umfassendere europäische Regelungskonzepte beruht" (Thomas Pfeiffer). Die oftmals detailfreudige Regelungstechnik erscheint jedenfalls aus deutscher Sicht nicht als rechtskultureller Fortschritt. D e m privatrechtlichen europäischen Richtlinienrecht liegen mit dem Binnenmarkt und anderen Zielen der Gemeinschaftspolitiken überindividuelle, utilitaristische Konzepte zugrunde, bei denen das Subjekt und die subjektiven Rechte systemwidrig nur noch als Reflexe, nicht mehr als Ausgangspunkte bestehen. Trotz aller rechtskulturellen Ubereinstimmung unserer einzelnen europäischen Zivilrechtsordnungen zeigen sich Unterschiede, die bei der nationalstaatlichen Transformation der Richtlinien zu A b weichungen und auch zu dogmatischen Brüchen führen. Darunter leidet die für den grenzüberschreitenden Rechtsverkehr erforderliche Transparenz, die doch ein Ziel der Vereinheitlichung bildet. Diese strukturellen Schwächen kann auch der E u G H nicht aufheben. U n d die Verfechter einer europäischen Kodifikation des Privatrechts stoßen jedenfalls derzeit noch auf unüberwindliche Hindernisse. Für ein solches herkömmlich mit dem Nationalstaat verbundenes Werk scheint dem europäischen „Staatenverbund" (BVerfG) die Berufung schlechthin zu fehlen. Ein europäisches Volk, das repräsentiert werden und damit die Basis eines europäischen Gesetzgebungsverfahren bilden könnte, gibt es nicht. Im Ganzen zeigt der zeithistorische Uberblick ein trotz mancher Rückschläge und Aufenthalte kräftiges Fortschreiten der europäischen Integration, eine weit über Wirtschaft und U m w e l t hinausgreifende Entw i c k l u n g eines eigenen gemeineuropäischen Rechts, das Teile der nationalen Systeme aufsaugt und verschmelzt. Der A u f b a u kann nur schritt507
XIII. Europäisches Erbe und Integration weise erfolgen und verläuft kasuistisch, nicht systematisch. Dabei stellt sich immer drängender die Frage, ob die historisch überlieferten Paradigmen des Verfassungsstaates noch gültig bleiben können und sollen. W i e andere europäische Staaten sucht auch die Bundesrepublik Deutschland ihre verfassungsrechtlich fixierte Identität zu behaupten. Die Struktursicherungsklausel des Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG soll dies gewährleisten. Die Rechtsentwicklungen in Deutschland stehen seit alters in europäischen Zusammenhängen, in einem Prozeß des Nehmens und Gebens. Doch seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs vollziehen sie sich zunehmend europaweit, aus einer Quelle. „Der gegenwärtige Zustand ist gekennzeichnet durch eine Zweiteilung der Rechtsordnung: auf der einen Seite das Europarecht, welches das nationale Recht überwölbt und dominiert, dem nationalen Recht vorgeht, jedoch auf den europarechtlichen Zuständigkeitsbereich beschränkt bleibt, der sich allerdings immer mehr ausweitet; auf der anderen Seite der verbleibende R a u m nationalen Rechts, der v o m Europarecht (zunächst) unberührt bleibt. Spannend bleibt, wie sich die Grenzen zwischen diesen beiden H e m i sphären des Rechts in Zukunft verändern w e r d e n " (Fritz Ossenbühl). A u c h diese Zukunft ist offen, also der menschlichen Vernunft und der politischen Entscheidung zugänglich. Dabei müssen die demokratischen Elemente, die Zustimmung der Bürger w i e das Wählerinteresse und die europäische Identität eine Stärkung erfahren, w e n n die Integration — freilich unter Wahrung des Subsidiaritätsprinzips — weiter vorankommen soll. Der ebenso umfängliche w i e unhandliche „Vertrag über eine Verfassung für Europa", ein Konvolut aus unterschiedlichen Materien, vermag die Bürger — w i e es scheint — wenig zu gewinnen, obwohl er deren Rechte betont. Das Ringen u m eine Verfassungsurkunde der Europäischen Union, u m den Inhalt und die Grenzen des Zusammenschlusses w i r d weitergehen, so viel folgt w o h l aus der Geschichte. Das große Projekt kann nur gelingen, w e n n Europa nicht länger nur als technisch-pragmatisches Konstrukt ökonomischer Rationalität und als juristisch ausgeklügeltes Vertragssystem erscheint. Es muß vielmehr eine Ordnungsidee z u m Leuchten bringen. Dafür gilt es, den Schwerpunkt für die weitere Integration auf das Feld von Bildung und Kultur zu verlagern. „Die europäische Einigung muß ein kulturelles Projekt werden. Das kann nur geschehen, w e n n europäische Einigung als Teil der europäischen kulturellen Entwicklung verstanden w i r d " (Günter Verheugen). „Nicht u m eine uniforme europäische Bildungslandschaft zu schaffen, sondern u m gerade in der kulturellen Vielfalt, die die europäischen Völker kennzeichnet, ein gemeinsames europäisches Bewußtsein heranzubilden und heranwachsen zu lassen, die gemeinsame geistig-kulturelle 508
2. Europäischer Zusammenschluß Grundlage Europas lebendig zu erhalten und fortzutragen" (ErnstWolfgang Böckenförde). Damit stellt sich die Frage nach Inhalt und Reichweite der geistig-kulturellen Grundlage, zu der gewiß das Recht gehört. Dessen alteuropäische Wurzel, das römisch-kanonische ius commune gründet sich auf die Rezeption des römischen Rechts im mittelalterlichen Europa. A u s dieser Wurzel wuchs — in den Worten Friedrich Carl von Savignys — eine „organisch fortschreitende Rechtswissenschaft". U n d „wir können fragen, ob nicht, der nationalen Fragmentierung von Recht und Rechtswissenschaft z u m Trotz, hinter den verwirrenden Verästelungen unserer modernen Rechtsregeln auch heute noch gemeinsame systematische, begriffliche, dogmatische und ideengeschichtliche Grundlagen verborgen sind" (Reinhard Zimmermann). Die gemeinsamen europäischen Grundlagen: das Christentum, das Auseinandergetretensein von Staat und Kirche, der Rationalismus, die Aufklärung, die Bürgergesellschaft, das ius commune bedeuten freilich Scheidelinien zwischen unterschiedlich geprägten Kulturen, zwischen den Europäischen Staaten und ihren Nachbarn. O b sich das europäische B a u w e r k auf Dauer w i r d konsolidieren lassen ohne gerade diese ideelle geschichtliche Basis, als bloßes Produkt pragmatischer Politik im Interesse vornehmlich wirtschaftlicher Vorteile? Die Geschichte lehrt, „dass sich die großen Friedensordnungen in Europa stets mit föderativen Strukturen verbanden, für deren Zerbrechen letztlich immer das Hegemonialstreben eines einzelnen Staates oder Staatslenkers verantwortlich zeichnete, so dass die Chance für ein zukünftig friedliches Europa nur in einer Föderation ohne Hegemonie erkannt werden kann" (Hans O t t o m e y e r im Vorwort zu dem höchst eindrucksvollen Katalogbuch zur gleichnamigen Ausstellung des Deutschen Historischen M u s e u m s in Berlin: Idee Europa. Entwürfe z u m „Ewigen Frieden". Ordnungen und Utopien für die Gestaltung Europas von der pax romana zur Europäischen Union, 2003).
509
Register"" Orts-,
Personen-
Aachen 24, 78, 176, 482 Abendland 55, 62, 109, 431, 481 ff. Abgaben 43, 45, 100 f., 121-124, 126, 128, 191, 352 Ablaß 110 Abschreckungsgedanke 30 Absolutismus 68, 112, 128, 139, 185-188, 195, 200, 233, 256, 260, 296, 298, 311, 484 Abzahlungsgesetz (1894) 327, 444 Accursius 56 f. Acht 23, 28, 29, 95, 98 f., 114, 156, 170, 172 Adenauer, Konrad 492 Advocatus urbis 42 Advokat 69, 73, 192, 201, 262, 272, 290, 470 Aequitas 84 f. AGB-Gesetz (1976) 443 Agrarstaat 38, 194, 326, 494, 505 Ahrens, Heinrich 251 Akkusationsprinzip 140, 281 Aktiengesetz (1870) 310 Aktion Rose 470 Alarich II., westgotischer König 53 f. Albrecht II., deutscher König 169 Albrecht, Wilhelm Eduard 233, 251, 254 f., 257, 276 Alciat(us), Andreas 76
und
Sachregister Allgemeine Deutsche Wechselordnung ( A D W O , 1848) 215, 244 f. Allgemeiner Deutscher Gewerkschaftsbund ( A D G B ) 366 Allgemeiner freier Angestelltenbund ( A f A - B u n d ) 366 Allgemeines Bürgerliches Gesetzbuch für die gesamten Deutschen Erbländer der Osterreichischen Monarchie (ABGB, 1811) 186, 196-206, 231, 324, 328 Allgemeines Deutsches Handelsgesetzbuch ( A D H G B , 1861) 215, 242-244, 316, 323 f., 326 Allgemeines Gesetzbuch für die Preußischen Staaten (AGB, 1791) 189 f., 190, 203 Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten (ALR, 1794) 1 7 , 1 7 9 - 1 9 6 , 2 0 0 , 2 0 2 , 205 f., 231, 324 f. Altes Testament 16, 27, 292, 482 f. Althusius, Johannes 414 Amicabilis compositio 117, 157, 171 Ammann, Jost 74 Amsterdam 144, 495, 498 f. Analogieverbrechen 144, 409 Anarchie 257, 303, 486 Angestelltenversicherungsgesetz (1911) 310
* bearbeitet v o n Stefan D r a c k e r t 511
Register Anhalt 17, 351 Anhalt, Heinrich von 8, 10 Anstaltsmord 403 Antifaschismus 463 f. Antisemitismus 380, 406 (s. a. Judenverfolgung) Antwerpen 97 Appellation 72, 99 f., 174, 262 Arbeiterbewegung 273, 286-298, 364-366 Arbeiterklasse (s.a. Proletariat) 279, 317, 340, 364, 463, 465, 467 Arbeiterräte 333-341, 348, 364, 370 Arbeiterschutzgesetzgebung 290, 339, 371, 373, 448 Arbeiter- und Bauernstaat 476 Arbeitervereinigungen 327, 365 f. Arbeitsgerichtsbarkeit 370 f., 442, 448 Arbeitsgerichtsgesetz (1926) 373 Arbeitskampfrecht 448 Arbeitslosigkeit 371, 374 Arbeitsnachweisgesetz (1922) 372 Arbeitsrecht 327, 352, 363-375, 448 Arbeitsschiedsgerichte 373 Arbeitsschutz 371, 373, 448 Arbeitsvertrag 328, 366, 368 f. Arbeitszeitverordnung (1923) 371 f. Aristoteles 114 Armer Konrad 122 Arndt, Ernst Moritz 210, 240, 303 Arnim, Achim von 195 Articuli reprobati 15 Artikelbrief der Schwarzwälder Bauern (1525) 127 Aschaffenburg 176 Askanier 10 Assessor 102, 173 512
Auetor vetus de benefieiis (12211224) 11 Aufgeklärter Absolutismus 187 Aufklärung XII, 186 f., 192, 199, 205, 210, 226, 403, 418, 461, 484, 486, 504, 509 Aufopferungsanspruch 194 f. Augsburg 1 3 , 4 2 , 4 5 , 8 0 , 9 7 , 1 1 2 , 114, 150, 176 Augsburger - Konfession 112-114, 117, 127, 157-159 - Reichstag (1500) 102 - Reichstag (1530) 112, 114 - Reichstag (1555) 99, 173 - Religionsfriede (IPA, 1555) 115 f., 154, 158 Augustinus, Aurelius 15 Auschwitz 424 Ausnahmegerichte 469-471 Ausnahmezustand 263, 387 Austrägalverfahren 216 Auswärtiges Amt 419-422 Authentica „Habita" (1155) 57 Azo 56 Azzoni, Joseph
201
Babelsberger Konferenz (1958) 465 Babeuf, Frangois Noel 289 Baden 75, 176, 178, 193, 243, 270, 278, 298, 304-306, 308, 314, 318, 351, 388, 391 Baldus de Uhaldis 49, 64, 68, 85 Baltringer Haufen 126 Bamberg 136, 138 f. Bamberger, Ludwig 310 Bann (Exkommunikation) 23, 99, 114, 116 Bartenstein-Vertrag (1807) 211 Barth, Emil 337, 341 Barth, Karl 418
Register Bartolus de Saxoferratis 63 f., 68 Basel 45, 48, 70, 77, 92 £., 97 Basler Konzil (1431-1437) 93 Bassermann, Friedrich Daniel 270, 276 Bauer, Bruno 291, 294 Bauer, Gustav 367 Bauernbefreiung 192-194 Bauernkrieg 73, 120-130 Bautzen 473 Bayerisches Strafgesetzbuch (1813) 324 Bayerische Volkspartei (BVP) 357, 387 Bayern 24, 45, 67, 175 f., 178, 245 f., 270, 278, 304-306, 308, 318, 351, 391, 419 Bazard, Saint-Armand 289 Beamteneid 254-258, 307 Beecaria, Cesare 142 Beck, Christian August von 170 Beck, Ludwig 420, 424 Bedarfsgesetzgebung 352 Befreiungskriege 210, 240, 261, 303 Begnadigungsrecht 355 Begriffsjurisprudenz 234 f. Beichtsummen 138 Beicht- und Bußpraxis 61 Beirut, Rechtsschule von 52 Bekennende Kirche 4 1 9 , 4 2 2 , 4 7 4 Belagerungszustand (altrechtliche Institution) 355 Bellinghausen, Peter von 84 Benjamin, Hilde 471 Berg, Herzogtum 194, 318 Bergen 47 Berlichingen, Götz von 124 Berlin 13, 186, 229, 231, 240, 269, 273, 275, 287, 290 f., 320 f., 341 f., 348 f., 365, 386, 424, 431 f.
Berliner Stadtbuch (1397) 13 Bern 45, 97, 122 Bernstein, Eduard 334, 343 Besatzungszonen 432, 467 Beschreien der handhaften Tat 17 Beseler, Georg von 233, 235 f., 276, 279, 321 Best, Werner 400 Betreuungsgesetz (1990) 328 Betriebsrätegesetz (1920) 369 f. Betriebsvereinbarung 370 Betriebsverfassung 327 Beweis 136, 140, 446 Beyerle, Konrad 357 BGB-Kommissionen 320 f., 323 f. Bibel 7, 10, 15 f., 27, 62, 81, 84, 110 f., 121, 123, 125-127, 414, 482 f. Billigkeitslehre 84 Bill of Rights (1689) 278, 317 Bio-/Medizinethik 441 f., 492 B i s c h o f f , Friedrich Wilhelm August 244 f. Bismarck, Otto von 242, 282, 302, 304 f., 307 Bizone 369, 434 Blanc, Louis 290 Blocksystem 468 Blum, Leon 490 Blum, Robert 276 Bluntschli, Johann Kaspar 233, 487 Böhmen 24 f., 95 f., 150 f., 175 f., 199, 384 Bologna 7, 13, 54-58, 70, 82, 483 Bolschewiki 338 Bonaparte, Napoleon, Kaiser von Frankreich XI, 175, 178, 192 f., 206, 209, 303, 307, 373 Bonifatius VLIL., Papst 59 Bonn 290 f. Bopfingen 151 Born, Stephan 365 513
Register Bourgeoisie 286, 288, 295-297 Brandt, Willy 478 Brandenburg 24, 45, 80, 82, 150, 152, 175 f. Brandenburg an der Havel 473 Brandschatzung 128 f. Brant, Sebastian 77, 138 Braunschweig 47, 150, 349, 351 Breisach 160 Bremen 45, 150, 160, 176, 349, 351 Brenz, Johannes 127 Breslau 188, 422 Breslauer Landrecht (1356) 13 Breviarium Alaricianum (506) 53 Briand, Aristide 487 Brockhaus, Friedrich Arnold 247 Brügge 47 Brüning, Heinrich 384 Brunner, Otto 27, 153 Brüssel 294 f., 328, 448, 490, 493 f. Bucer, Martin 84 Buch, Johann von 13 Buchau am Federsee 151 Budaeus (Bude, Guillaume) 76, 84 Bukowina 203 Bulgarus 55 Bund der Gerechten 295 Bund der Kommunisten 295 Bundesentschädigungsgesetz (1953) 416 Bundesexekution 217, 220 Bundesfarben 270 Bundesfürsten 309, 317 Bundesgerichtshof 391, 400, 416, 436, 442 f., 474 Bundeshilfe 80, 217 Bundeskriegskasse 216 Bundesland 311 Bundesministerium der Justiz 468 Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen 462 Bundespräsident 387 514
Bundespräsidialgewalt 309 Bundesrat 306, 308 f., 311, 320, 323, 349, 385, 487 Bundesrecht 214, 217 f., 260, 270, 316 Bundesrepublik Deutschland 316, 351, 416, 432-434, 436 f., 442, 449, 462, 473, 491, 493, 497 f., 508 Bundesschiedsordnung 216 Bundesstaat 113, 178, 211, 214220, 241, 248, 259, 274, 282 f., 304 f., 307, 309, 318-320, 351, 356, 435, 497, 499, 502 Bundestag (Deutscher Bund): siehe Bundesversammlung Bundesverfassungsgericht (BVerfG) 426, 433, 435, 440 f., 445, 449, 475, 477, 485, 497 f., 507 Bundesversammlung (Deutscher Bund) 213-217, 241-243, 245, 247 f., 259, 270 f., 273, 275, 365 Bundeszentralregistergesetz (1971) 438 Bündnisrecht 152 f., 155 f. Bundschuh 122 Buonarroti, Philippe 289 Bürgereid 39 Bürgerfreiheit 44 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB 1896) 17 f., 53, 204, 206, 244, 246 f., 310, 316-329, 375, 408, 442-448 Bürgerliches Recht 240-242, 316322, 352, 408, 435, 466 Bürgerrechte 81, 211, 260, 279, 357, 462 Bürgerschaft 39, 42, 45, 55, 81, 496 Burgund 94-96, 173 Büsch, Johann Georg 189 Bußbücher 138 Bußenstrafrecht 28 f., 39
Register Bützow 473 Byzanz 482 Byzantinisches Kaiserreich 53 f., 482, 484 Cabet, Etienne 290 Calvin, Johannes 414 Carmer, Johann Heinrich Kasimir von 188 Causae mere spirituales 59 f. Causae spiritualibus annexae / mixtae 60 Charta der Grundrecht der EU 480, 499 f., 506 China XI, 247 Christ, Anton 240 Christlich-Sozialer Volksdienst 387 Churchill, Winston Leonard Spencer 490 Cicero 138 f. Cittadino, Paolo 75 Civilprozeßordnung (CPO, 1877) 323 Civitas Dei 22 Clausula rebus sie stantibus 326 Clementinen (1317) 59 Code civil (Code Napoleon, 1804) 186, 194, 205 f., 231, 318 Code de commerce (1807) 244 Code d'instruction criminelle (1808) 281 Codex - Iuris Canonici (CIC, 1917, 1983) 59 (s.a. Kanonistik) - Iustinianus (534) 52-54, 57 £. - Maximilianeus Bavaricus civilis (1756) 318 - Theodosianus (438) 53 - Theresianus (1766) 201, 202 Codices picturati 12 Codigo de comercio (1829) 244 Collective bargaining 366
Colloredo (österreichisches Adelsgeschlecht) 172 Colmar 97 Comes urbis 42 Compiegne 339 Confessio Augustana (s.a. Augsburger Konfession) 112 f., 116 f., 159 Confoederatio cum prineipibus ecclesiasticis (1220) 9 f. Conring, Hermann 227, 235 Constitutio Criminalis Bambergensis (Bambergische Halsgerichtsordnung, 1507) 137 f., 142 f. Constitutio Ciminalis Carolina (CCC, 1532) 135-145, 324 Consules 44 Contarini, Alvise 149 Corpus - Christianum 156, 486 - evangelicorum/catholicorum 157, 172 - iuris canonici (1582) 59 (s.a. Kanonistik) - iuris civilis/Justiniani (1583) 5258, 59, 62, 71, 76, 85, 230, 246 Correctores Romani 59 Cottbus 473 Coudenhove-Kalergi, Richard Nikolaus Graf von 487, 490 Crimen laesae maiestatis 95 Crimen magiae 141 Cuius regio eius religio 116 Curia solemnis 10 Dachau 419 Dahlmann, Friedrich Christoph 251, 254 f., 257, 276, 303, 307 Dalmatien 199, 212 Danckelmann, Carl Ludolph Freiherr von 190 Dänemark 113,212,305,494 515
Register Dante Alighieri 58, 485 Danzig 47, 390, 404 Darjes, Joachim Georg 188 Darwinismus 380 Däumig, Ernst 341 David, Lukas 348 Declaration des droits de l'homme et du citoyen (1789) 278, 317, 468 Declaration of rights (1776) 278, 317 De concordantia catholica (1433) 93 De Gaulle, Charles 494 Decretum Gratiani (um 1140) 58 f. Delictum mixti fori 141 Deliktsrecht 446 Delp, Alfred 422 Demobilmachungsamt 367, 371 f. Demobilmachungsverordnung (1918) 371 Demokratie 112,221,270,292, 338-340, 351, 353 f., 365, 383, 432, 496, 498, 500, 502 Demokratiedefizit 500 Demokratischer Zentralismus 467 Den Haag 493 Deputationstage 150 Dernburg, Heinrich 196 Dessau 9 Deutsch-Französischer Krieg (1870/71) 302, 305 Deutsche - Bauernpartei 387 - Bundesakte (1815) 212-217, 247, 278, 307 - Bundesfürsten: siehe Bundesfürsten - Bundesverfassung: siehe Verfassung des Deutschen Bundes - Bundesversammlung: siehe Bundesversammlung 516
- Christen 418 - Demokratische Partei (DDP) 348 - Demokratische Republik (DDR) VII, 129, 329, 433, 440, 449, 461-478 - Fortschrittspartei 366 - Staatspartei (DStP) 387, 389 - Volkspartei (DVP) 348, 387 - Volkspolizei 473 f. - Zentralverwaltung für Justiz 467 Deutscher - Bund 196, 215, 212-221, 241245, 247-249, 261, 282, 303-306, 309 - Fürstenbund 172 - Gruß 392 - Juristentag 240, 400, 443 - Nationalverein 308 - Orden 80, 175 f. - Zollverein 220, 243 f., 487 Deutsches Privatrecht 32 f., 233, 236 f., 327 Deutschenspiegel (1274/75) 13 f. Deutschnationale Volkspartei (DNVP) 348, 383-387 Dialektischer Materialismus 466 Diensteid 253-257, 307 Digesten (533) 52-54, 229, 277 Diktatur 283, 338 f., 355, 359, 385, 401, 408, 411, 430 f., 434, 461463, 468, 472 Diktatur des Proletariats 463, 476 Dingleute 7 Diplomatischer Dienst 419 Diplomjurist 467 Dissensiones 56 Distinktionsstil 13, 56 f. Dittmann, Wilhelm 337, 341 Doctor iuris utriusque 61 Dogmengeschichte XI Donauwörth 45
Register Doppelstaat 475 Drei-Instanzenzug 216 Dreiklassenwahlrecht 311, 333 Dreißigjähriger Krieg 115, 149 Dresden 245 Dresdener - Bilderhandschrift (Sachsenspiegel) 12 - Entwurf eines Obligationenrechts (1866) 245-247, 324 - Kommission 245 f., 248 - Zollvereinskonferenz 243 Drittes Reich (s. a. Diktatur, Nationalsozialismus) 302, 385, 462, 421, 432, 474 Droysen, Johann Gustav 276 Dualismus, abendländischer 481 Durantis, Guillelmus 60 Eberhard im Barte, Graf und Herzog von Württemberg 75, 78 f., 97 Ebert, Friedrich 334-337, 339 f., 342 f., 348 Ehe(-recht) 39, 59 f., 191, 204 f., 319, 323, 368, 404, 463 Eherechtsgesetz (1976) 445 Eheschließungsrecht 445 Eichhorn, Karl Friedrich 230, 233, 254 Eichstätt 42 f. Eid 17, 39, 136, 140, 155, 252-258, 269, 307, 421 Eidgenossenschaft (s.a. Schweiz) 45, 101, 112, 122, 160 Einheit, deutsche 210 f., 217, 260 f., 269, 302-304, 308, 311, 349, 449 Einheitliche Europäische Akte (EEA) 495 Einheitspartei 400, 401, 433 f. Einheitsstaat 349, 389
Einigungsvertrag (1990) 433, 476 f. Einkindschaft 76 Einparteienherrschaft 468 Einparteienstaat 389 Einstimmigkeitsprinzip 214, 499 Einung 38 f., 46 f., 79 f., 101, 113, 124, 150, 167, 214 Eisenacher Rechtsbuch (13841387) 14 Eisner, Kurt 334 Electus Romanorum imperator semper augustus, Germaniae rex 169 Elsaß 45, 123 f., 128, 160, 306, 351 Enfantin, Barthelemy-Prosper 289 Engels, Friedrich 258, 286, 294 f., 297 f. England 25, 113, 176, 209, 212, 248, 251 f., 258, 269, 272, 278, 287, 294, 298, 349, 365, 486 Entnazifizierung 432, 434, 467 Erbbaurechtsverordnung (1919) 375 Erbenlaub (Zustimmung der Erben zur Grundstücksveräußerung) 32 Erbmonarchie 25, 92, 276, 282, 303 Erbrecht 27, 60, 191, 205, 246, 290, 324, 444 f. Erbuntertänigkeit 191-193 Erfolgshaftung 31 Erfurt 70, 80 Erfurter Unionsverfassung (1849/ 50) 304 Ermächtigungsgesetz (1933) 385391 Ernst August, König von Hannover, Herzog von Cumberland 252 f., 257 Ernst, Eugen 342 Erzämtertheorie 25 517
Register Eudämonis mus 186 Europa 9, 40, 42, 51, 56, 62-64, 112, 149, 153, 189, 192, 212, 221, 262, 268 f., 278, 303-305, 307, 365, 385, 405, 418, 420, 422, 431, 448, 480-488, 490-509
Europa-Union 490 Europarat 480, 490 £., 492 Europäische - Atomgemeinschaft (EAG) 493 - Bewegung 490 - Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) 492 f. - Gemeinschaften 480, 490-492, 496, 498 f. - Kommission 491, 493 f., 495, 497, 499, 501, 503, 505, 507 - Kommission für Menschenrechte 491 - Menschenrechtskonvention: siehe Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten - Rechtsentwicklung XI-XVII, 13, 42, 507 f. - Sozialcharta 491 - Union (EU) 220, 241, 447, 480, 492, 494-501, 503-509
- Verteidigungsgemeinschaft (EVG) 492 - Zahlungsunion (EZU) 490 Europäischer - Föderalismus 160, 494 - Gerichtshof (EuGH) 480, 485, 493, 496 - Gerichtshof für Menschenrechte 491 - Rat 480, 495, 499, 503 Europäisches - Parlament 493-499, 501, 503 - Polizeiamt (Europol) 493 518
- Währungsabkommen (EWA) 490 Euthanasieprogramm 419 Ewald, Heinrich 251, 255, 307 Ewiger Landfrieden (1495) 78 f., 98 f., 103, 154 Exekutionsordnung (1512) 102 Exekutive 94, 102, 219, 274, 310 f., 354, 386, 388, 408, 435 Extravagantes communes (Ende 15. Jh.) 59 Extravagantes Ioannis XXII. (Ende 15. Jh.) 59 Fahrnis 33 Falkenstein, Hoy er von 11 Familienfideikommiß 18 Familiengesetzbuch der DDR (1965) 329, 463 Familienrecht 18, 191, 204 f., 246, 319, 324-326, 328 f., 440, 444 f.,
463 Fastnachtshuhn 44 Fehde 27-29, 39, 92-95, 98, 130 Fehrenbach, Konstantin 348 Feme 94 Ferdinand I , deutscher Kaiser 115 Ferdinand II., deutscher Kaiser 151 Ferdinand III., deutscher Kaiser 154 Feuerbach, Ludwig 291, 294 Feuerbach, Paul Johann Anselm von 144, 226, 324 Feuerbacher, Matern 125 Fichte, Johann Gottlieb 210 Finanzreformgesetze (1904, 1906, 1909) 310 Finanzverfassung 116, 351, 435, 494 Föderation 47, 212, 486 f., 490, 499, 509
Register Folter 14, 125, 140-142 Formalismus 33, 233-235, 402 Förster, Franz August Alexander 196 Fortschrittliche Volkspartei 310, 332 Fourier, Charles 289 Fraenkel, Ernst 475 France, Anatole 322 Frank, Hans 400, 406 Franken 123 f., 127, 136, 173 Frankenhausen 129 Frankenspiegel: siehe Kaiserrecht, kleines Frankfurt am Main 40, 45, 78, 93, 97, 99, 101, 150, 176, 236, 245, 270, 273, 298, 305, 493 Frankfurt an der Oder 82 f., 188 Frankfurter - Bundestag: siehe Bundesversammlung - Entwurf zum Handelsgesetzbuch (1849) 244 - Fürstentag (1863) 305 - Grundrechtskatalog (1848) 276281 - Nationalparlament (s.a. Nationalversammlung, Paulskirche) 243, 245, 251, 254, 261, 270-277, 281 f., 304, 306, 308 - Reichstag (1338) 23 - Reichstag (1442) 94 - Reichstag (1486) 78, 95 - Reichstag (1539) 114 Frankreich 25, 45, 53 f., 70, 96, 98, 111, 113, 149, 151-153, 160, 174 f., 177 f., 186, 192 f., 209, 242, 248, 258, 261, 263, 268, 275, 287, 289, 290, 305, 349, 483, 486, 492, 494, 505 Frantz, Constantin 307 Franz /., deutscher Kaiser 169
Franz IL, letzter Kaiser des alten Reiches, als Franz I. erster Kaiser von Osterreich 175, 177 f., 204 Französische Julirevolution (1830) 261 f. Französische Revolution (1789) 18, 177, 186, 190, 192, 202, 210, 268, 278, 289, 303, 484, 502 Freiburg im Breisgau 40, 70, 75, 77, 260, 276 Freiburg im Uechtland 97 Freiburger Reichstag (1497/98) 101, 139 Freiburger Stadtrecht (1520) 40, 75 f., 324 Freihandel 316, 480 Freiheitsstrafe 29, 143 f., 342, 404, 438, 473, 477 Freiheitsrechte 116, 173, 211, 276, 351, 358, 435, 441 Freising, Ruprecht von 41 Freisinger Rechtsbuch (1328) 14 Freisler, Roland 400 Freiwillige Gerichtsbarkeit 41, 310, 323, Freizügigkeit 63, 69, 216, 279, 485, 494, 496, 501 Frtck, Wilhelm 384, 473 Friedjung, Heinrich 304 Friedrich L, Barbarossa, deutscher Kaiser 12, 26, 57 Friedrich II., deutscher Kaiser 10, 58 Friedrich III., deutscher Kaiser 78, 94 f. Friedrich, Markgraf von Brandenburg 80 Friedrich I., Kurfürst von der Pfalz 73 Friedrich II., der Große, König von Preußen 123, 172, 185, 187-189 519
Register Friedrich Wilhelm /., König von Preußen 187 Friedrich Wilhelm IL, König von Preußen 190 Friedrich Wilhelm III., König von Preußen 186, 193 Friedrich Wilhelm IV., König von Preußen 269, 282, 306 Frondienst 43, 126, 192 Frühsozialisten 289 f. Fuchs, Ernst 73 Fuggerei 128 Führerhauptquartier 382, 401 Führerprinzip 381 Fünfzigerausschuß 271 Fürsprecher 13, 32, 74 Fürst und Kupferberg, Carl Joseph Maximilian von 188 Fürsten (Reichs-) 9 f., 24-26, 39, 48, 71 f., 79 f., 91 f., 94, 97, 9 9 101, 150 f., 154, 158 f., 172, 174176, 185, 187, 211 f., 218-220, 262, 274, 305 f., 309, 317, 339, 350 Fürstenbund (1785) 172 Fürstenrat 45, 150, 171, 176, 221 Fürstenspiegel 83 Fürstenstadt 42 Fürstentag, Frankfurt (1863) 305 Gagern, Heinrich von 270, 274, 277 Gagern, Max von 276 Gaismair, Michael 125 Gaispeter, aus Beutelsbach 122 Galen, Clemens August Graf von 419 Galizien 203, 211 f. Gandinus, Albertus 138 Gans, Eduard 290 f. Garantien, institutionelle 279, 281, 389 520
GASP siehe: Gemeinsam Außenund Sicherheitspolitik Gasperi, Alcide de 490 Geblütsrecht 24 f. Gebrauchsmustergesetz (1891) 310 Gefährdungshaftung 446 Gegenrevolution 275, 385 Geheime Staatspolizei 410 Geheimprozesse 471 Geib, Ferdinand 262 Geistlicher Vorbehalt 115,158 Geldern 176 Geldwäsche 440 Gemeiner Pfennig 100 f. Gemeines Recht: siehe ius commune Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) 500 Gemeinsame Erklärung der beiden deutschen Regierungen 477 Gemeinschaftsprivatrecht 506 f. Generalklauseln 194, 328, 375, 407 f., 435, 442, 446 Generalprävention 438 Generalstaaten 160 Generalstreik 349 General-Vorbehalt 218 Gengier, Heinrich Gottfried Philipp 233 Genossenschaft 7, 33, 39, 43 f., 47, 55, 121, 290, 321, 327, 470 Genossenschaftsgesetz (1868) 310 Gentz, Friedrich von 218 Georg III., Bischof von Bamberg 137 Gerichtsbarkeit 26, 55, 59 f., 69, 80, 102, 138, 140, 174, 216, 240, 280 f., 373, 467 Gerichtsbuch 41 Gerichtshoheit 169 Gerichtsordnung 94
Register Gerichtsstand 16, 43, 57, 69, 100, 470 Gerichtsverfassung 69, 373, 410 Gerichtsverfassungsgesetz (GVG, 1877) 357 Germanisten XIII, 18, 121, 227, 232, 233-237, 255, 276, 321, 327 Germanistentage, Frankfurter und Lübecker (1846/47) 2 3 6 , 2 8 1 Germanistik 227 Gerstenmaier; Eugen 422 Gervinus, Georg Gottfried 251, 255-257 Geschäftsfähigkeit 32 f. Gesellschaftliche Gerichte 468 Gesellschaftsvertrag 187 f., 195 Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb ( U W G , 1896, 1909) 310 Gesetz über - Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung (1927) 372 - den vaterländischen Hilfsdienst (1916) 367 - die Entschädigung für Strafverfolgungsmaßnahmen (1971) 438 - die rechtliche Stellung des nichtehelichen Kindes (1969) 328, 445 - die Rehabilitierung und Entschädigung von Opfern rechtsstaatswidriger Strafverfolgungsmaßnahmen im Beitritts gebiet (1992) 433 Gesetz zum Schutz(e) - der Teilnehmer am Fernunterricht (1976) 444 - des deutschen Blutes und der deutschen Ehre (1935) 390, 404 Gesetz zur Änderung - der Arbeitszeitverordnung (1927) 371 - der Gewerbeordnung (1938) 404
Gesetz zur Regelung - der Miethöhe (1974) 444 - offener Vermögensfragen (VermG, 1990) 477 f. Gesetz zur Sicherung des Straßenverkehrs (1952) 437 Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums (1933) 419 Gesetz zur Wiedervereinigung Danzigs mit dem Deutschen Reich (1939) 390 Gesetze zur Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität (1976/86) 439 Gesetzespositivismus (s.a. Rechtspositivismus) 328, 408 Gesetzgebung, ausschließliche 234, 352 Gesetzgebung, konkurrierende 352 Gesetzlichkeitsprinzip (s.a. nulla poene sine lege) 468 Gewaltenteilung 218 f., 281, 297, 328, 351, 385, 408, 443, 448, 468, 485 Gewerbefreiheit 194, 279 Gewerbeordnung (1869) 310, 366 f., 373 Gewerbe- und Kaufmannsgerichte 373 Gewerkschaften 327, 364-367 Gewissensfreiheit 159, 280 Gewohnheitsrecht 6 f., 15, 17, 52, 71 f., 74, 93, 121 f., 137, 140, 149, 205, 230, 233 f., 246, 292, 318 f., 321, 502 Geyer, Florian 124 Gierke, Otto von 47, 79, 233, 235, 321-323, 327, 349 Gilde 47 Giscard D'Estaing, Valery 505 Girard, Rene Marie 486 Glaubensfreiheit 157, 159, 279 f. 521
Register Gleichberechtigung (Mann/Frau) 60, 444 f., 463 Gleichheitssatz 357 f. Gleichschaltung 388 f., 418 Glossa ordinaria 56 Glossatoren 54, 56-58, 60-64, 76 Glosse zum Sachsenspiegel 12 £., 15, 33 Godofredus, Dionysius 52 Goebbels, Joseph 424 Goerdeler, Carl Friedrich 419, 422, 424 Goethe, Johann Wolf gang von 169, 173, 229, 261 Goldene Bulle (1356) 25, 150, 154, 169 Goldschmidt, Levin 320 Göring, Hermann 384 Görlitzer Rechtsbuch (um 1300) 11, 13 Görres, Joseph 210, 240 Göschen, Georg Joachim 230 Goßer, Christoph 189 Gottesfrieden 28 Gottesrecht 403 Gottesstaat 22 Gottesurteil 140 Göttingen 228, 235, 251, 254-258, 276, 307 Göttinger Sieben 251-260, 307 Göttliche Ordnung 423 Göttliches Recht 123, 126 f., 484 Gratian 58 Gregor IX., Papst 59 Gregor XL, Papst 15 Greifswald 82, 276, 279 Grenzgesetz der DDR (1982) 474 Grimm, Jacob XVIII, 121, 229, 231-233, 236, 251, 255, 257, 259 Grimm Wilhelm 232, 251, 255 Groener, Wilhelm 333 Großbritannien 252, 434, 493 f. 522
Großdeutsche Lösung 281, 305 f. Grotius, Hugo 82 Grundbuchrecht 41, 323, 327 Grundbuchordnung (GBO, 1897) 310 Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland (GG, 1949) 178, 309, 328, 351, 356, 358, 391, 418, 431, 433, 435-437, 441 f., 444 f., 449, 475, 497 f. Grundgesetze (s.a. Staatsgrundgesetz) 153 f., 167, 177, 186, 213 f., 275, 280, 217, 347 Grundpflichten 350, 356-358 Grundrechte 188, 216 f., 276-280, 307, 350, 355-358, 384, 415, 435, 442, 461, 468, 480 f., 499 f., 505 f. Grundsatzgesetzgebung 352 Haager Europakongreß (1948) 490 Haager Friedenskonferenzen (1899, 1907) 487 Haager Kaufabkommen (1973) 447 Haase, Hugo 337, 341 Habeas-Corpus-Akte (1679) 278 Habsburg 24, 79, 95, 121 f., 150 f., 156, 169, 176, 199, 211, 274, 380 Haeften, Hans-Bernd von 419, 422 Häftlingsfreikauf 473 Hagenau 45, 97 Halberstadt 9 f. Halder, Franz 420 Halle 9, 142, 189, 466 Haller, Karl Ludwig von 212 Hallstein, Walter 493, 500-502 Hambach 260 Hambacher Fest 260-263 Hamburg 45, 82 f., 176, 189, 243 f., 349, 351
Register Handelsgesetzbuch (HGB, 1897) 244 f., 323 Handelsrecht 63, 189, 240-243, 246, 309, 319, 327 Handfeste 40 Handhabung des Friedens und Rechtes (1495) 100, 102 Hannover 172, 176, 212, 245, 251253, 255 f., 259 f., 305 Hannoverscher Verfassungskonflikt (1837): siehe Göttinger Sieben Hansa 47 Hanse 47 f. Hardenberg, Karl August von 193 Häresie 115, 141 f. Hasse II, Ulrich von 419 Haubach, Theodor 422 Hausarbeitsgesetz (1911) 310 Haustürwiderrufsgesetz (1986) 444 Hecker, Friedrich 271 Heer 420 Heerschilde 16, 26 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 261, 291 f. Hegelianer 290 f., 294 f. Heidelberg 12, 70, 79, 229, 240, 255, 257, 270, 274, 276, 320, 474 Heidelberger Bilderhandschrift (Sachsenspiegel) 12 Heilbronn 80 Heiliges Römisches Reich deutscher Nation (s. a. Sacrum Imperium) 72, 81, 86, 91 f., 97 f., 100-105, 112, 135, 149-152, 154 f., 159, 160, 166-179, 303, 481 „Heimtücke"-Gesetz 411 Heine, Heinrich 261, 290 Heinrich V., deutscher Kaiser 43 Heinrich VF, deutscher Kaiser 9 Heinrich (VIF), deutscher König 10
Henneberg, Berthold von, Kurfürst und Erzbischof von Mainz 95, 97, 100 Herbart, Johann Friedrich 258 f. Herder, Johann Gottfried 210, 230 Herrenhaus, preußisches 333 Hess, Moses 291 f., 295 Hessen 14, 84, 246, 270, 277, 306, 308, 351 Hessen-Darmstadt 245, 274, 278, 305 Hessen-Kassel 152, 175 f. Heuss, Fheodor 387 Hexenhammer (Malleus maleficarum, 1487) 141 Hexenprozeß 141 f. Heyden, Conrad 72, 138 Hilfsdienstgesetz (1916) 368 Himmler, Heinrich 411 Hindenburg, Paul von 333, 339 f., 384, 389 Hipler, Wendel 125 Hirsch-Dunckersche Gewerkvereine 366 Historische Rechtsschule 62, 195, 206, 226 f., 226-237, 255, 290,
292 f., 324 Historischer Materialismus 291, 294 Historismus XII, XIV, 291 Hitler, Adolf 302, 379-387, 389392, 400 f., 406, 410 f., 416-421, 424, 461 Hoch- und Deutschmeister 175 f. Hofgericht 54, 68, 78, 94, 136 Hofgerichtsordnung, kurpfälzische (1572/82) 72 Hofpfalzgrafen 78, 169 Hoheneck 473 Hohenstaufen: siehe Staufer Hohenzollern 242, 305, 339 Holland (s. a. Niederlande) 339 523
Register Holländischer Sachsenspiegel (Ende 15. Jh.) 13 Holländisches Handelsgesetzbuch (1838) 244 Holocaust (s. a. Judenverfolgung) 461, 463 Holstein 17, 212 Holzinger, Conrad 79 Homey er, Carl Gustav 321 Homo politicus / oeconomicus 48 Honorius III., Papst 55 Honorius, Augustodunensis 8 Hörige 43 Horten, Johann Bernhard 202 Huber, Eugen 324 Ηüber, Kurt 421 Hueck, Alfred 373 Hugenberg, Alfred 384 Hugo 55 Hugo, Gustav 228, 231, 324 Hugo, Victor 486 Huldigungseid 255 f. Humanismus 74-77, 80-82, 84, 135, 138, 483, 486, 504 Humboldt, Wilhelm von 211, 219 f., 229 Ηus, Johannes 121 Hussitenbewegung 93 Hutten, Ulrich von 104, 110 Hypothekenrecht 189, 319 Ihering, Rudolph von 235 Immerwährender Reichstag 97, 156 f., 170-172, 169
Industrielle Revolution 287-289, 317 Innozenz III., Papst 24, 140 Innozenz VIII., Papst 141 Inquisitionsverfahren 140-143, 281 Insolvenzordnung (1999) 447 Institor, Henricus (Heinrich Kramer) 141 524
Institutionen (533) 52, 75, 82, 202, 205, 234, 318, 324 Instruktionsmaxime 140 Instrumentum Pacis Osnabrugense (IPO, 1648) (s.a. Westfälischer Friede) 152-159, 170 lnteressenjurisprudenz 85 Internationale, kommunistische 418 Interpolation 53 Interregnum 14, 336 Investiturstreit 22 Ioannis XXII., Papst 59 Irak 480 Irnerius 54, 58 Isidor von Sevilla 15 f. Islam 482 Isny 151 Istrien 212 Italien 7, 13, 26, 40, 47, 51, 53-55, 57, 62-64, 68-70, 78, 85, 96, 98, 135-138, 211, 242, 268, 421, 483, 492 Itio in partes 117,157,172 Iura comitialia 152 Iura regalia 57 Ius - canonicum: siehe kanonisches Recht - civile 61, 70, 81, 109, 137, 316 f. - commune (gemeines Recht) 18, 42, 54, 62 f., 71 f., 84 f., 93, 191, 201, 204, 236, 243, 246, 318, 320, 483, 509 - emigrandi 116, 159 - Magdeburgense 40 - publicum 151, 317, 486 - reformandi 115, 158 f. - terrae 42 - territoriale 45, 116, 154 - urbanum 42 - utrumque 61, 109, 138
Register Iustum pretium 326 Jacobus 55 Japan XI, 328 Jellinek, Walter 358 f. Jena 257, 274, 291 Jesus Christus 16, 126 Joachim, Graf von Ottingen 80 Johann der Beständige, Kurfürst von Sachsen 113 Johann von Buch 13 Johann von Osterreich, Erzherzog und Reichsverweser 274 Johann Eberlin von Günzburg 123, 125 Johann Georg, Kurfürst von Sachsen 151 Joseph II., deutscher Kaiser 170, 172, 193, 205 Josephinisches Gesetzbuch (1786) 202, 204 Joß, Fritz 122 Jucho, Friedrich Sigmund 272 Juden 27, 80 f., 101, 105, 128, 136, 194, 380, 383, 404-407, 410, 433, 480, 483 Judenverfolgung 403-407, 423, 433, 480 Judisten 62 Jugendgerichtsgesetz (1953) 438 Jülich 176 Julirevolution, französische (1830) 261 Jüngster Reichsabschied (JRA, 1654) 156, 172 Jüngstes Gericht 16 Juristenrecht 52, 235 Jus eundi in partes 170 Justinian /., oströmischer Kaiser 26, 52-54, 56 f., 205 Justizgewalt 219 Justizkatastrophe, preußische 188
Justizstelle, Oberste 201 Justizverweigerung 216, 259 Kaas, Ludwig 387 Kabbala 77 Kabinettsjustiz 203, 216, 259 Kaderpolitik 473 Kaiser (-tum) 22-24, 44 f., 47, 5658, 71, 78, 93, 95, 103 f., 110114, 150-152, 154 f., 160 f., 166173, 178 f., 211 f., 276, 282, 302, 306, 308 f., 333, 335, 339, 349, 481 Kaiserreich 53, 241, 244, 247, 307, 316, 325, 331, 343, 351, 357, 359, 364 Kaiser, Jakob 424 Kaiserrecht : siehe Schwabenspiegel Kaiserrecht, Kleines (1330-1342 oder 1344-1350) 14 Kalis ch-Auf ruf (1813) 211 Kalter Krieg 436, 463 Kameralgerichtsbarkeit 281 Kammerrichter 99 Kammerzieler 99 Kampffront Schwarz-Weiß-Rot 385 Kanonisches Recht (s. a. Kirchenrecht) 5, 7, 10, 12-15, 31, 58-64, 71, 73, 77, 80-82, 111, 135 f., 138, 141, 318, 326, 509 Kanonistik 58-61, 69 Kant, Immanuel 187, 200, 204, 226, 415, 486 Kapitalismus 194,279,287,293, 295, 297, 316, 383, 481 Kapitularien 5, 14 Kapp-Putsch 358 Karl der Große, fränkischer König und Kaiser 12, 24, 482 Karl IV., deutscher Kaiser 25 525
Register Karl V., deutscher Kaiser 102 f., 112, 135 Karl VI., deutscher Kaiser 187 Karl VII., deutscher Kaiser 169 Karl VII., König von Frankreich 98 Karlsbader Beschlüsse (1819) 214, 217, 221, 248, 271 Karlstadt, Andreas 121 Kasinopartei 254 f., 273 Kaskel, Walter 364, 373 Kastrationsgesetz (1969) 438 Katholische Aktion 419 Kaufbeuren 80 Kaufmann, Erich 357 Kaunitz, Wentzel Anton Graf von 202 Ketteier, Wilhelm Emanuel Frhr. von 307 Ketzer 23, 141, 143 Ketzerbewegung 141 f. Kiel 255, 276, 333 Kierkegaard, Sören 291 Kinderschutzgesetzgebung 363 Kindschaftsrecht 445 Kirchenkampf 419 Kirchenrecht (s.a. kanonisches Recht) 58-60, 109, 116, 138, 190, 276 Kirchenreform 92 f., 114, 158 f. Kirchenväter 7, 58, 81 Kirchenvogtei 92, 111 Kirchmann, Julius von XV, 227 Klagspiegel 72 Klagspiegel (um 1425) 138 Klassenkampf 291-298, 322, 463, 466 Klausener, Erich 419 Klein, Ernst Ferdinand 189 Klemperer, Victor 463 Klenkok, Johannes 15 Kleve 176
526
Koalitionskrieg, dritter 178 Koalitionsrecht 365, 368 Koch, Christian Friedrich 196 Kodifikationen 33, 52 f., 57, 59, 85 f., 93, 139, 144, 154, 186, 188190, 195, 199 f., 202-204, 231, 236, 240-245, 247, 310, 317-321, 323-328, 357 f., 373, 375, 447 f., 507 Kodifikationstheorie 231 Kohl, Helmut 495 Kollektivvereinbarungen 368 Köln 24, 42, 47, 70, 78, 80, 82-84, 97, 102, 150, 176, 291, 500 Kölner Schreinsbücher 41 Kommentatoren: siehe Postglossatoren Kommissartötungsbefehl 423 f. Kommunismus 128, 269, 283, 287, 289-293, 295-297, 383-386, 391, 416, 463 f., 465, 471, 473 f., 476, 481, 492 f. Kommunistische - Internationale 418 - Partei der Sowjetunion (KPdSU) 298, 470 - Partei Deutschlands (KPD) 286, 296, 334, 342, 382, 385, 418 - Rechtstheorie /-ideologie 465467 Kommunistisches Manifest (1848) 286-289, 291, 295-298 Kompositionensystem 28 f. Konfessionelle Gleichheit 45, 112, 115 f., 157-160 König 5, 9 f., 17, 23-27, 39 f., 44 f., 48, 78, 91-102, 115, 136, 150, 168, 176, 178, 186, 188-190, 211-213, 219, 252 f., 257-260, 268 f., 276, 302, 306-309 Königgrätz 305
Register Königsberg XIV, 200, 306, 337, 431 Königswahl/-recht 14, 23-25, 27, 156, 170, 273 Konkretes Ordnungsdenken 407 Konkursordnung (1898) 323 Konservative 218, 233, 269, 273, 310, 319, 323, 358, 382 f., 417 Konsiliatoren: siehe Postglossatoren Konsilienliteratur 63 Konstantinopel 52, 95, 484 Konstanz 45, 75 Konstanzer Konzil (1414-1418) 92 f. Konstanzer Reichstag (1507) 102 Konstitutionalismus 251, 254, 279, 308, 310 f., 385, 475, 502, 504, 506 Konsulat 44, 62, 495 Kontingentsheer 216 Kontrollratsgesetzgebung Konvention
369, 434
- zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (Europäische Menschenrechtskonvention, 1950) 491, 496, 506 - zur Biomedizin (1997) 492 Konventionsprivatrecht 506 Konzentrationslager 404 f., 418 f., 422 Konzessionszwang 327 Kopfsteuer 100 f. Korea XI Korporatismus 316 Kotzebue, August von 217, 247 Krafft, Ulrich 75 Krause, Karl Christian Friedrich 486 Kreis (Reichskreis) 94, 102 f., 105, 150, 156, 170, 173 Kreis (BRD) 433
Kreisauer Kreis 412, 421-423 Kreisanschläge 46 Kreisorganisation: siehe Kreis Kreistag (Reichskreise) 150, 173 Kreisversammlungen 103 Kreuznach 292 Kriegssonderstrafrechtsverordnung (KSSVO, 1938) 410 Kriegsverbrecherprozeß 359 Krimkrieg 242 Kroatien 211 f. Kronprinzenvorträge 188 Kues, Nikolaus von (Cusanus) 93 f. Kulturkampf 307, 319 Kündigungsschutz 288, 370, 444 Kur 24 f. Kurfürsten 23-25, 73, 79, 82, 9 2 97, 102, 113, 150-152, 154, 158 f., 169, 171, 176, 178 Kurfürstenkollegium 25, 103, 175 Kurhessen 278, 305 Kuriatstimme 150,171,213 Kurie 14, 45, 97, 110, 149 f., 171 f. Laband, Paul 309 Laesio enormis 326 Laienrichter 143 Laienspiegel (1509) 72, 138 Lamartine, Alphonse de 287 Landau-Germersheim 216 Landesherr 40, 46 f., 68, 73 f., 79, 104, 111, 116, 128, 150, 157, 159, 177, 195, 218 f., 252, 254 f., 260, 277 Landesherrschaft, -hoheit 10, 14, 41, 45, 47, 68, 92, 99, 101, 104, 115 f., 121, 136, 150, 153 f., 194, 260 Landesstadt 44, 46, 97, 151 Landfriede 5, 10, 14, 27 f., 30, 39, 78 f., 93-95, 98-100, 103, 154 f.
527
Register Landrecht 9, 11 f., 22 f., 39, 72, 75 Landrechte der Territorien 75, 318 Landsberg, Otto 336 £. Landschaft 45, 124, 129 Landshut 229 Landstände 122, 128, 185 f., 217219, 253, 277 Langenstein, Heinrich von 93 Langobarden 53 f. Lasker, Eduard 309 f., 319 Lassalle, Ferdinand 365 Lastenausgleich 432 Laterankonzil, IV. (1215) 9 Lauenburg 17, 212 Lebensschutz 441, 492 Leber, Julius 422, 424 Ledebour, Georg 334, 342 Legien, Carl 366 Legislative 178, 213 f., 219 f., 227, 241, 244, 310, 351 f., 385 f., 390 f., 432, 434, 442 f., 501 Legistik 55, 61, 137 Legisten 58, 68, 75, 483 Lehnsherr 1 1 , 2 5 , 1 6 9 Lehnswesen 11 f., 17, 23, 26, 98, 169, 190 Leibeigenschaft 15, 44, 117, 121 f., 127, 192 f., 200, 293 Leibholz, Gerhard 357 Leipzig 70, 244, 257, 277, 400, 419 Leipziger Entwurf zum Wechselrecht (1847) 244 f. Leipziger Völkerschlacht 209 Leist, Justus Christoph 253 Lenin (Uljanow, Wladimir Iljitsch) 467
Leopold I., deutscher Kaiser 170 Leopold II., deutscher Kaiser 202 Leumundszeuge 140 Lex - Bennigsen (1867) 308 - fundamentalis 154
528
- Miquel-Lasker (1873) 319 - romana Visigothorum (506) 53 f. Liber - extra (1234) 59 - sextus (1298) 59 Liberale Vereinigung 310 Liberalismus 193, 221, 251, 255, 260, 270, 289, 303-305, 310, 317, 326, 365, 367, 437, 490 Licet iuris, Reichsgesetz (1338) 23 Lichtenberg, Bernhard 419 Liebknecht, Karl 334, 342 Liegenschaftsrecht 33, 41, 76, 189, 319, 326 Linde, Carl von 246 Linkshegelianer 291, 294 Linz 78 Lippe 351 Livländischer Rechtsspiegel (14. Jh.) 13 Locarno-Verträge (1925) 487 Locke, Thomas 278 Lombardisten 54 Lombardo-Venetien 212 L o n d o n 47, 286, 295, 298 Lörrach 228 Lothar III., deutscher Kaiser 227 Lotharische Legende 227 Lothringen 45, 229, 306, 351, 169 Lotzer, Sebastian 126 Louis Philippe, König von Frankreich 268 Lübeck 40 f., 44 f., 47, 83, 150, 176, 236, 281, 422 Ludendorff, Erich 332 Ludwig IV., der Bayer, deutscher Kaiser 14, 23 Luneville, Frieden von (1801) 175 Lupoid von Bebenburg 23 Lüth-Urteil 435
Register Luther, Martin 82 f., 109-114, 117, 123, 125, 127-129, 137, 159, 414 Luxemburg 92, 212, 216, 492 £. Luxemburg, Rosa 334, 338, 342 Luzern 122 Maastrichter Vertrag 480, 495-498 Maastricht-Urteil 497 Machtergreifung, national-sozialistische 379, 384-392, 408, 422 Magdeburg 9 f., 12 f., 40 f., 45, 93 Magdeburger Schöppenstuhl 41 Magister artium liberalium 54 Magna Charta Libertatum (1215) 278 Maier, Reinhold 388 Mailand 94, 97, 275 Mainz 10, 24, 42, 80, 95-97, 100, 102, 150, 175 f., 216 f. Mainzer (Reichs-)Landfrieden (1235) 10, 27 f. Mallinckrodt, Hermann von 307 Malmö-Waffenstillstandsvertrag (1848) 275 Malteserorden 176 Manchester 294 Mann, Thomas 469 Marburg 84, 229 Maria Theresia, Königin von Ungarn und Böhmen, Gemahlin Kaiser Tranz I. 169, 187, 201 Marshall-Plan 490 Martini, Karl Anton Trhr. von 193, 202 f. Martinus 55 Marx, Karl 228, 261, 286, 290-295, 297 f., 343, 371 Marxismus XVII, 127, 196, 286, 383, 385, 464 f. Marxistisch-leninistische Rechtslehre 463-465, 467 f., 477
März-Aufstand der Spartakisten (1919) 349 Märzrevolution (1848) 268 f., 297 Massaker „Erntefest" (1943) 405 Materialismus 2 6 1 , 2 9 1 , 2 9 4 , 4 6 6 Matrikularanschläge 45 Matrikularbeiträge 216 Max, Prinz von Baden 331-333, 335 f. Maximilian /., deutscher Kaiser 72, 80, 95 f., 98, 102, 136 Mayer, Otto 219 Mayno, Jason de 75 Mecklenburg 82, 470 Mecklenburg-Schwerin 245, 351 Mecklenburg-Strelitz 351 Mediatisierung 45, 174-176, 178, 212 Mehrheitsprinzip 25, 100, 171, 271, 485, 505 Mehrheitssozialdemokraten 334337, 341, 359, 336 Meiningen 245 Meißen 9 Meißner Rechtsbuch (1357-1387) 14 Melanehthon, Philipp 84, 127 Melsheimer, Ernst 471 Menger, Anton 321-323 Menschenbild 449 Menschenrechte 185,357,481, 490 f., 496, 504, 506 Menschenrechtskonvention des Europarats zur Biomedizin 492 Menschenwürde 200, 417 f., 435 f., 442, 492 Metternich, Klemens Lothar Fürst von 211 f., 218, 247 f., 263, 269 Metz 45, 160 Mierendorff, Carlo 422 Mieterschutzgesetz (1923) 374 Mieterschutzrecht 374, 407, 444 529
Register Ministeriale 8, 10, 26, 43 Ministerium für Staatssicherheit (MfS) 471-474 Ministerrat: siehe Rat der Europäischen Union Ministerverantwortlichkeit 218, 252, 282, 308 Miquel, Johannes 309,319 Mißtrauensvotum 252, 276, 308, 356, 359, 497 Mittermaier, Karl Joseph Anton 233, 236, 240, 245, 276 Mohl, Robert von 243, 276 Moltke, Helmuth James Graf von 417, 421 f. Mommsen, Theodor 277 Monarchie, konstitutionelle: siehe Konstitutionalismus Monarchisches Prinzip 200, 203, 218-220, 253, 260, 276 Monarchomachen 415 Monnet, Jean 490, 492 Monopol 128, 293, 492 Montanunion 492, 506 Montesquieu, Charles de Seeondat 230, 278 Montpellier 7, 56 Mopha, Gribaldus 57 Mos gallicus 76 Mos italicus 57 Moser, Johann Jakob 168 Moser, Justus 228 f. Mühlhausen 9 Mühlhäuser Reichsrechtsbuch (1224-1230) 9, 41 Müller, Richard 334 Müller-Arnold-Prozeß 188 München 380, 421 f. Münchener Abkommen (1938) 420 Münchener Novemberputsch (1923) 358, 381 Münchener Räteherrschaft 349 530
Mündlichkeit des Verfahrens 10, 69 Münster 148 f., 152, 167, 419 Müntzer, Thomas 121, 125 Münzwesen 173 Nachdruckkommission 247 Nachrezeption 237 Näfels 122 Namensrecht 445 Napoleon /.: siehe Bonaparte Napoleon III., Kaiser von Frankreich 305, 307 Nassau 245, 270, 305 Nationalbewußtsein 230,311 Nationalismus 221, 303, 380, 480 Nationalliberale Partei 305 f., 309 f., 319 f., 332 Nationalsozialismus 283, 328, 357, 364, 374, 379-381, 383-386, 389391, 400, 402-408, 415 f., 418 f., 422 Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP) 379 f., 382-387, 389, 416, 418 Nationalstaat 51, 149, 153, 167, 210-212, 217, 221, 251, 262 f., 270, 282, 302 f., 305-307, 403, 418, 480, 486, 490, 500, 504, 507 Nationalversammlung 112, 251, 255, 261, 263, 271-276, 282, 304, 306, 308, 340-342, 347-351, 364 NATO (North Atlantic Treaty Organization) 436, 493 Naturrecht XII, 82, 84 f., 187 f., 194 f., 199 f., 202-205, 228, 231, 278, 324, 402 f., 416, 430 f., 448, 483 f., 486 Naumann, Friedrich 357 Neapel 56, 97 Neiße 432 Neue Rheinische Zeitung 297
Register Neues Testament 483 Neuaufbaugesetz (1934) 389 f. Neuenburg 212 Neustadt an der Weinstraße 260 Nichtehelichenrecht 16, 326, 328, 445 Nichtkonformismus 418 Nichtigkeitsbeschwerde 99, 409 Niederlande 96, 149, 212, 239, 492, 505 Niem (Nieheim), Dietrich von 93 Niemöller, Martin 418 Nietzsche, Friedrich XIII Nikolaus II., Zar 487 Nipperdey, Hans Carl 373 Nizza 480, 495, 499 f. Nomenklatur 463 Norddeutscher Bund 241, 244, 272, 282, 305 f., 308, 319, 366, 373 Norddeutscher Reichstag 306 Nördlingen 138 Normaljahresregelung 159 Noske, Gustav 341 f. Notare, öffentliche 169 Notstandsverfassung 435 Notverordnungen 384, 386, 389 f. Novellen (6. Jh.) 52, 54 Novemberrevolution (1918) 331— 343, 364, 367, 370, 383, 386 Novemberverträge (1870) 306 Novgorod 47 Nulla poene sine lege (s.a. Gesetzlichkeitsprinzip) 144 Nürnberg 40, 45, 97, 102, 136, 150, 176, 245, 273 Nürnberger - Reichstag (1438) 94 - Reichstage (1466/67) 95 - Reichstag (1532) 114 - und Hamburger Konferenzen (1857-1861) 243, 245
Obergericht 99 f., 241 Oberhof 40 f. Oberitalienischer Waffengang Österreichs (1859) 242 Oberreichsanwalt 409 Oberreichsgericht 240 Oberrheinischer Revolutionär (1490-1510) 104 Oberstes Gericht der DDR 471 Oberverwaltungsgericht, preußisches 194 Obligationenrecht (s.a. Schuldrecht) 247, 319, 324 Obligationensystem 246 Ockham, Wilhelm von 23 Oder 40, 431 OEEC (Organisation for European Economic Co-operation) 490 OECD (Organisation for Economic Co-operation and Development) 490 Offenburg 97 Öffentliches Recht (s.a. Publizistik) 4 7 , 2 0 3 , 2 2 0 , 2 3 3 , 317,340, 348, 357 f., 372, 375, 448 Öffentliche Strafen 27-30 Offizialgrundsatz 140 Oktoberregierung (1918) 332, 335 Oldendorp, Johann 82-85 Ophüls, Carl Friedrich 502 Ordnungswidrigkeitengesetz (1952, 1968/87) 438 Orleans 56, 77 Osnabrück 148 f., 152, 154, 156, 159, 167, 228 Oster, Hans 420 Österreich 24, 45, 78, 94, 96, 112, 122, 160, 169, 172 f., 178, 186 f., 193, 199-206, 209, 211-213, 215, 218, 242, 244 f., 247, 263, 269, 531
Register 274 f., 281 f., 303-305, 318, 323, 351, 380, 420, 486, 493 Ostpreußen 431 Ostrom 52 f., 482 Otto /., deutscher Kaiser 168 Owen, Robert 289 Oxford 56 Padua 56, 63, 70 Pandekten: siehe Digesten Pandektensystem 324 Pandektenwissenschaft 204 f., 227, 234, 236, 246, 318, 321 f., 324 Paneuropa-Projekt 487 Pape, Heinrich Eduard 320 Papen, Franz von 384 Papst, Papsttum 9 f., 15, 22-24, 55, 58, 60, 64, 97, 110-113, 141, 168, 481 f. Paris 7, 77, 80, 93, 229, 273, 275, 290, 292 f., 302, 418, 483, 486 Pariser Friede (1814) 211 f. Pariser Verträge (1953) 493 Parität 23,45,112,115-117 Parlament 171, 258, 270-277, 281 f., 308 f., 332, 348-351, 353 f., 356 f., 373, 384, 386, 389, 391, 408. 434 f., 491, 493-501, 503 Parlamentarismus 218, 303, 308, 310, 332, 353-355, 357, 359, 381, 383, 485 Parteidiktatur 338 Parteien, bürgerliche 310, 348, 383, 387 Parteimaxime 140 Partikularismus 153, 242, 274, 305, 307, 309, 379 Patentgesetz (1877) 310 Patentrecht 241, 249 Patrimonialgerichtsbarkeit 192, 280 532
Paulskirche (s. a. Frankfurter Nationalparlament, Nationalversammlung) 236, 240, 243, 245, 260, 272, 274 f., 281, 283, 303, 311, 349, 356 Pauperismus 287 Pavia 7, 54 Pazifistenkongreß 486 Peinliche Frage 141 f. Peinliche Strafe 28-30, 39, 144 Penn, William 485 Pennsylvanien 485 Personalunion 199, 252, 339 Personenstandsgesetz (1875) 60, 319 Perthes, Friedrich 247 Perugia 63 Petition of Rights (1628) 278 Peucker, Eduard von 275 Peukert, Peter 472 Pfalz 73, 176, 262, 298 Pfarrernotbund 418 Pfefferkorn, Johannes 80 Pfeiffer, Heinrich 125 Pfizer, Paul Achatius 220 Pfordten, Ludwig Karl Heinrich Frhr. von der 243 Pforzheim 77, 79 f., 125 Philipp /., Landgraf von Hessen 84 Philipp der Aufrichtige, Kurfürst von der Pfalz 79 Philipp von Schwaben, deutscher König 9 Philippsburg 160 Picker, Henry 401 Pisa 63 Pistor, Daniel Ludwig 263 Planck, Gottlieb 320 Piaton 291 Poelchau, Harald 422 Poitiers 78
Register Polen
12, 42, 261, 306, 406, 410,
432, 483, 503
316 f., 322,
326 f., 374
P o l i t b ü r o der S E D
471
P o l i t b ü r o der K P d S U
Privatrecht 32 f., 59 f., 62, 68, 186,
470
190 f., 195, 200, 203-206, 2 2 6 -
Polizeiliche Generalklausel Polizeirecht
Privatautonomie
194
355
228, 233, 236, 240, 248, 317-322, 326 f., 374, 435, 442, 448, 506 f.
Polizeistaat 279, 327, 387, 417
Privilegien 9, 40-43, 57, 99, 154,
Polizeiverwaltungsgesetz (1931) 194
174, 190, 248 P r o d u k t h a f t u n g s g e s e t z (1989)
Polizeiwesen 47, 156, 170, 172 f. Polnische Teilung, z w e i t e Popitz, Johannes Portugal Posen
293 f.
190
Produktionsgenossenschaft
419
212
Produzentenhaftung
m e n t a t o r e n , Konsiliatoren)
60,
Prokurator
69, 73, 79, 82
194, 279, 286-292, 295-297, 338,
386, 472 Heinz
446
P r o f e s s o r e n r e c h t 227, 233 Proletariat (s.a. Arbeiterklasse)
62-64, 68, 75 f. Potsdam
129,
290
63, 483
P o s t g l o s s a t o r e n (Praktiker, K o m -
Potthof,
363-365, 373
463, 476
P r a g 70, 199, 201, 275, 418
P r o p o s i t i o n 97, 152, 171, 169
P r a g e r Friede (1635)
151
Prorogation
60
P r a g e r Friede (1866)
305
Protestanten
82, 112-115, 151,
Präsidialmacht
158, 418
213, 304
Präventivzensur
248
Proudhon,
P r e ß b u r g e r Friede (1805)
178
Pressefreiheit 217 f., 247, 270, 292,
Hugo
Preußen
Recht) Puchta,
258
P r e ß - u n d Vaterlandsverein Preuß,
Pierre-Joseph
290, 292
Publizistik (s. a. Ö f f e n t l i c h e s 157, 168, 210, 227, 237,
277
332, 439 Pressezensur
446
P r o d u k t i o n , industrielle 287 f.,
262
Pufendorf,
Georg Friedrich Samuel
234
149, 188, 191,
278
349
17, 113, 172, 176, 1 8 6 -
188, 193 f., 196, 205, 209, 2 1 1 213, 218, 233, 242, 244, 247 f., 255, 263, 269 f., 273, 275, 277, 282, 290, 302-309, 318, 320, 333,
P u n k t a t i o n v o n O l m ü t z (1850) 304 Pütter; Johann
Stephan
168, 228,
253 P y r e n ä e n f r i e d e n (1659)
153
339, 349, 356, 384 f., 391, 486 Preußisch-österreichischer B r u d e r -
Quadrupelallianz
krieg ( D e u t s c h - d e u t s c h e r Krieg
Q u a t t u o r doctores
1866)
Quedlinburg
247
Princeps legibus solutus
55, 57
11
26
Prinzipalkommission /-kommissar 170 f.
209
Radbruch,
Gustav
137, 226, 364,
402 f., 474
533
Register Radetzky von Radetz, Josef Graf 275 Raiser, Ludwig 443 Rassenlehre 380 f. Rassismus 385, 403-407, 461 Rastatt 216 Rastenburg 424 Rat der Europäischen Union (Ministerrat) 493-495, 499-502 Rat der Volksbeauftragten 331, 336-343, 348 f., 364, 367 f., 370 f. Rat, parlamentarischer 435 Rätedemokratie 338 Rätediktatur 339, 341 Rätesystem 334, 341 f. Rathenau, Walther 358, 488 Rathgeb, Jörg 125 Rationalismus 193, 235, 509 Ratsmannenspiegel (1530) 83 Ratsobrigkeit 45 Ratsverfassung 44 Rauschning, Hermann 404 Rauschenplatt, Ernst Johann Hermann von 251 Raymundus de Penaforte 59 Realerbteilung 194 Rechtlose 16 Rechtsaltertümer XVIII, 16, 232 f. Rechtsanwaltschaft 470 Rechtsaufzeichnung 7, 9, 13, 41 Rechtsbesserung 6 Rechtsbuch 6-9, 11-15, 17 f., 23 f., 26, 28, 30-32, 41, 54 f., 137 Rechtseinheit 8, 204, 215, 227, 240-243, 245 f., 249, 309, 323, 437 Rechtsformalismus 33 Rechtsgebot 186 Rechtsmittel 409 f. Rechtsperversion 328, 400-412, 431, 434 534
Rechtspflegeerlaß (1963) 466 Rechtspositivismus (s.a. Gesetzespositivismus) 354, 402 f. Rechtssprichwort 12, 16, 44 Rechtsstaat 186, 188, 190, 202, 212, 257, 276-279, 281, 283, 297, 310, 328, 351, 358, 385-388, 400, 408 f., 415, 421, 430, 432 f., 436, 439, 441-443, 449, 462, 468 f., 473, 475, 477, 481, 498 Rechtssymbolik 33 Rechtszersplitterung 84, 136 Rechtszug 40 f. Reformatio in peius 409 Reformation 46, 82-84, 104, 109118, 120 f., 126, 130, 137 Reformatio Sigismundi (1439) 93 f., 104 Reformtraktate 110 Regalienkatalog 57 Regensburg 97, 169 f., 172, 175 f. Regensburger Reichstag (1532) 139 Regensburger Reichstag (1653/54) 156, 170-172 Regensburger Stillstand (1684) 171 Regimentstraktate 83 Regnum Italiae 54 Regnum Teutonicum 105, 160 Regulierungsedikt (1811) 193 Rehabilitation 433, 477 Reichensperger, August und Peter Franz 307, 319 Reichsabschied (recessus Imperii) 97, 111, 156, 171 f. Reichsamt für Arbeitsvermittlung 372 Reichsanschläge 45 f., 102, 156, 170 Reichsarbeitsamt 367 Reichsarbeitsgericht 373 Reichsbischöfe 97, 418
Register Reichsbürgergesetz (1935) 390, 404 f. Reichsdeputation 156, 175 Reichsdeputationshauptschluß (1803) 45, 175-178 Reichserzkanzler 96, 176 Reichsexekutive 101, 274 £., 352 Reichsflaggengesetz (1935) 390 Reichsfreiheit 45, 176 Reichsfürsten: siehe Fürsten Reichsfürstenrat 150, 175 f. Reichsgericht 18, 373, 391, 409, 442, 447 Reichsgerichte (altes Reich) 44, 73, 99, 154, 169, 172, 192 Reichsgesetzblatt 272, 274, 277, 339, 404 Reichsgewalt 95, 103, 105, 151, 240, 275, 278, 348, 350, 352 Reichsgrundgesetz 25, 150, 154, 177, 275 Reichshaushaltsordnung (1922) 358 Reichsheer 93, 95 Reichsheimstättengesetz (1919) 375 Reichshofrat 73, 102 Reichsjustizamt 323 Reichsjustizgesetze (1877) 310 Reichsjustizministerium 411 Reichskammergericht 71 f., 79 f., 85, 99 f., 102 f., 105, 115, 156, 170, 173 f., 188 Reichskammergerichtsordnung (1495) 42, 71 f., 99 Reichskammergerichtsordnung (1548/55) 73 Reichskanzler 332 f., 335 f., 339, 349, 351 f., 355 f., 379, 389 Reichskirche 97, 174, 177 Reichsklöster 97 Reichskonkordat (1933) 419
Reichskreis: siehe Kreis Reichslandfrieden 10, 27, 78, 95, 100 Reichslehen 169 Reichsmatrikel 102, 156, 170, 172 Reichsoberhandelsgericht (ROHG) 320 Reichspolizeiordnungen 104 Reichspräsident 348-356, 358 f., 384, 386, 389-391 Reichsrat 100, 102, 350, 353 f., 358, 388 f., 391 Reichsreform 91-105 Reichsregierung 103, 150, 274 f., 338 f., 349-352, 354 f., 358, 370 f., 379, 384, 386, 388-390, 409, 411 Reichsregiment 100, 102 f., 139 Reichsritterschaft 151, 158 f., 174, 176 Reichssatzung 158, 173 Reichsschatzmeister 101 Reichsschluß (conclusum Imperii) 157, 171 Reichssiedlungsgesetz (1919) 375 Reichsstadt 45-48, 97, 99, 101, 151, 158, 171, 175 f. Reichsstandschaft 45, 171 Reichssteuer 93, 101 f., 171 Reichstage (Heiliges Römisches Reich): siehe Ubersicht am Ende des Registers Reichstag (nach 1806) 272, 282, 305-309, 311, 323, 331 f., 337, 348-356, 358, 371 f., 382, 384391, 401 Reichstag von Trier und Köln (1512) 102 Reichstagsbrand-Verordnung (1933) 385, 387 f., 408 Reichstagswahlrecht 353 535
Register Reichsunmittelbarkeit 122, 151, 176 f. Reichsversammlung (s.a. Reichstag) 57, 79, 93, 97, 99, 150, 156, 170, 272 Reichsversicherungsordnung (1911) 310 Reichsverweser 274 f., 277 Reichswahlgesetz (1849) 282 Reichswahlgesetz (1920) 353, 358 Reichswirtschaftsrat 358, 370 Reichszentralgewalt 275 Reichwein, Adolf 422 Reinigungseid 17, 136, 146 Reisevertragsgesetz (1979) 444 Religion 45, 82, 111, 114-117, 159 f., 171, 176 f., 280, 292, 294, 350, 356, 382, 422, 430 Religionspartei 112-117, 150, 169 f. Religionsprozeß 115 Repgow, Eike von 6, 8-12, 14-17, 23-28, 30, 32 f., 136 Reppichau 9 Repräsentativsystem 218 Republik 331, 338, 340 f., 349, 385 Republikflucht 470, 474 Republikschutzgesetz (1922) 358 Restauration 193, 205, 212, 218, 260, 292 Reuchlin, Johannes 77-82 Revision des A L R 189, 196 Reyscher, August Ludwig 233, 235 f. Revolution von oben 175, 199, 433, 470 Rezeption XI, 13 f., 31, 33, 42, 51-64, 68-86, 137, 237, 325, 483, 509 Rhein 24, 97, 150, 160, 171 Rheinbund 178, 303 Rheinbundakte (1806) 178 536
Rheinische Bank 45, 150 Rheinische Zeitung 228 Rheinischer Städtebund 46 Rheinland 194, 287, 298, 373 Rheinlandbesetzung 420 Rheinpfalz 262 Rhens 23 Richelieu, Armand Jean du Plessis Due de 152 Richter 7, 13, 17, 25 f., 42, 69, 7174, 77, 79 f., 85, 93, 114, 128, 135-137, 140, 142-145, 188-191, 205, 216, 219, 228, 231, 272, 281, 324, 328, 390, 401-403, 406 f., 408, 410-412, 432-435, 439, 443, 446, 467-470, 472 Richterbriefe 411 Richterrecht 195,407,410,443, 338, 485 Richtlinien (EU) 501, 506 f. Richtsteig Landrechts (1325-1334) 13 Röhmaffaire 408, 419 Rohrbach, Jäcklein 125 Rom 1 6 , 2 3 , 5 6 , 8 0 , 1 1 0 , 4 1 9 , 4 8 2 , 503 Romania 53 Romanistik 76, 227, 233-237 Romantik 210, 226, 229 f., 232, 234, 380 Romidee 86 Römisches Recht (s.a. ius commune) XI, 5, 10, 12-14, 18, 31, 33, 40, 42, 51-59, 61-63, 68-73, 75-78, 80-82, 85 f., 121, 136138, 189, 195, 202, 204 f., 227, 229-231, 233, 235 f., 246, 316318, 320, 324 f., 327, 483, 509 Römische Verträge 493, 495 Ronkalischer Reichstag (1158) 57 f. Rostock 70, 82 f., 421
Register Rottweil 39, 45, 97 Rousseau, Jean-Jacques 212, 485 Rückerstattungsgerichte 432 Rudolf von Habsburg, deutscher König 24 Rüge, Arnold 291 f. Rügen 470 Rußland 42, 175, 209, 275, 298, 307, 338, 431, 486 Saale 9 Saarbrücken 176 Sachenrecht 33, 202, 204 f., 243, 246,324-326 Sachs, Hans 74 Sachsen 9, 17, 24, 27, 113 f., 150 f., 172, 175 f., 245 f., 273, 277 f., 287, 318, 351 f., 391 Sachsenspiegel (1224-1230) 5-33, 121, 137 Sächsisches BGB (1863/65) 17, 245, 318, 324 Sächsische Weltchronik (um 1620) 11 Sachwalter 73 f., 137, 228 Sacrum imperium (s.a. Heiliges Römisches Reich deutscher Nation) 58, 109, 149, 482 Sadowa 305 Saint-Simon, Claude Henri de Rouvroy, Graf von 289, 486 Saint-Simonismus 291 Säkularisation 115,174-178,212, 483 Salamanca 56 Salier 23, 42 f. Salzburg 122, 176 Sanctio pragmatica 158 Sand, Karl Ludwig 217 Satzung 5, 7, 18, 38-40, 41, 47, 85, 98, 100, 115, 135, 139, 140, 144, 149, 154, 158, 167, 173, 186, 480
Savigny, Friedrich Carl von 92, 135, 195, 226, 228-232, 234, 236, 255, 290, 321, 324, 509 Savoye, Joseph 262 Savoy en 94, 192 Schacht, Hjalmar 419 Schadenzauber 141 Schaffhausen 45 Schard, Simon 104 Schattenkönige 14 Schaumburg-Lippe 351 Schauprozesse 471 Scheckrecht 244 Scheidemann, Phillip 331, 333, 336 f., 342, 348 Scheinbuße 16 Scheie, Georg von 252 Schiedsgerichte 46, 80, 98 f., 373, 486 Schiedsgerichtsordnung (1834) 214 Schiedsrichter 9, 74 Schilter, Johann XVII Schisma (1378) 91 Schlegel, August Wilhelm von 290 Schleicher, Kurt von 384 Schlesien 13, 287, 421 Schleswig-Holstein 270, 275 Schlichtungsauschüsse 367 f., 370 Schlichtungsverordnung (1923) 368 f. Schmalkaldischer Bund 113 Schmalkaldischer Krieg 114 Schmid, Ulrich 125 Schmitt, Carl 354, 356, 388, 390 f., 406 Schöffe 7, 10, 69, 137, 468 Schöffenbar Freie 26 Scholaren 55, 57, 68, 70, 136 Scholarenprivileg 57 Scholastik 15, 57 f., 76, 141, 484 Scholl, Hans und Sophie 417, 421 Scholze, Paul 342 537
Register Schreinsbücher 41 Schriftlichkeit des Prozesses 69, 74 Schriftlichkeit des Rechts 12, 33, 41 Schuldhaftung 144 Schuldprinzip 437, 439 Schuldrecht (s.a. Obligationenrecht) 76, 241, 243, 246 f., 323326, 446 f. Schuldrechtsreform 447 f. Schulenburg, Friedrich Werner Graf von der 419, 424 Schulenburg, Fritz-Dietlof Graf von der 419, 422 Schüler, Friedrich 262 Schuman, Robert 492, 502 f. Schuman-Plan 492, 505 Schuster, Theodor 251 Schutzherrschaft 45, 178 Schwaben 9, 123 f., 126, 150, 173, 277 Schwaben- oder Schweizerkrieg 102
Schwabenspiegel (1275/76) 12-14, 23, 141 Schwäbische Bank 45, 150 Schwäbischer Bund 79 f., 98, 101, 124 Schwäbischer Städtebund 46 Schwäbisch Hall 72, 138 Schwangeren- und Familienhilfeänderungsgesetz (1995) 440 Schwangeren- und Familienhilfegesetz (1992) 440 Schwangerschaftsabbruch 440 f. Schwarzenberg, Felix Fürst zu 282 Schwarzenberg und Hohenlandsberg, Johann von 84, 135-140, 142 f., 324 Schweden 149, 151 f., 156 f., 160 Schweidnitz 188 538
Schweitzer, Johann Baptist von 365 Schweiz 102, 112 f., 122 f., 263, 282, 349, 353, 404, 439, 493 Schweizer - Bauernkrieg 121 f. - Obligationenrecht (1881) 247 Schweizerische Eidgenossenschaft 45, 101, 160 Schweizerisches ZGB (1907) XI, 205 f., 324 f., 328 Schwurgenossenschaft 39 Schwurgericht 269, 280 f. Sechsergemeinschaft 482, 492 SED-Parteikontrollkommission 470 SED-Regime 461, 470-477 SED-Unrechtsbereinigungsgesetze (1992, 1994) 477 See- und Versicherungsrecht 244 Selbstbestimmung 210-212, 351, 364, 436, 442 Selbsthilfe 28, 93 Selbstverwaltung 42, 47, 55, 173, 175, 310, 358, 365, 372, 423, 467, 505 Seldte, Franz 384 Sempach 122 Sessio et votum 171 Sezessionskrieg, amerikanischer 271 Shoah 480, 405 Siebenbürgen 212 Siebener-Ausschuß 270 Siebenhaar, Fduard 245 f. Siebenpfeiffer, Phillipp Jakob 262 Siebzehnerausschuss 270 Siegermächte 351, 431 Siena 56, 138 Sigismund von Luxemburg, scher Kaiser 92 Simmern 176
deut-
Register Simplifizierung der Gesetze 189 Simson, Eduard 272, 306 Sinzheimer, Hugo 363, 373 Sizilien 268 Slawen 210, 380, 482 Slawenkongreß (1848) 275 Slawonien 212 Stüter, Joachim 82 Sohm, Rudolph 318 Soldatenräte 333-335, 337 f., 340342, 348, Solf, Wilhelm 335 Solothurn 97, 122 Sondergerichte 409 f. Sondergerichtsbarkeit 373 Sonthofen 411 Souverän 185 f., 188, 212, 218-220, 308 f. Souveränität (s. a. Volkssouveränität) 166,174,178,211,219,303, 337, 348, 359, 467, 487, 500, 502 Sowjet 337 f., 503 Sowjetische Besatzungszone (SBZ) 462, 467 Sowj etische Militäradministration in Deutschland (SMAD) 433, 467 Sowjetunion 431, 463, 490 Sozialdemokratie 332-337, 339, 343, 348, 353, 365, 422 Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) 335-337, 348 f., 382, 385, 387 389, 418 Sozialismus 275, 287, 294, 334, 358, 380, 382 f., 465, 471, 476 Sozialisten 295, 348, 417, 422 Sozialistengesetz (1878) 366 Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED) 434, 462, 465, 467-471, 473 f. Sozialistische Gesetzlichkeit 468 f., 473, 475 f.
Sozialistische Parteien 334, 364 Sozialistisches Recht 465-467 Sozialrecht 33, 387 Sozialstaat 279, 358, 367, 375, 442 Sozialtherapeutische Anstalt 439 Sozialversicherungsgesetze (1883— 1889) 310 Spa 333 Spaak, Paul-Henri 490, 493 Spanien 53 f., 63, 97, 149, 153, 483 Spartakusbund 334, 338, 340, 342, 349 Spätabsolutismus 311 Speculum - ecclesiae (12. Jhd.) 8 - iudiciale (1271) 60 Spee, Friedrich von 142 Speyer 43 f., 96 f., 99, 176 Speyer, Rüdiger von, Bischof 43 Speyerer - Reichsabschied (1526) 111 - Reichstag (1526) 114 - Reichstag (1529) 114 - Reichstag (1544) 114 Spezialistendogma 230, 236 Sponheim 176 Sprenger, Jakob 141 SS (Schutzstaffeln) 403, 410, 424 Staat, totalitärer (s. a. Totalitarismus) 400, 414 f., 417 f., 422 Staatenausschuß 348 f. Staatenbund 211, 219 f., 303, 486, 499 Staatenhaus 282 Staatsanwaltschaft 281, 410, 469, 471 Staatsgerichtshof 353, 358 Staatsgewalt 46, 159 f., 177, 218 f., 263, 273, 294, 340, 350 f., 353, 356, 414 f., 430, 461, 464, 472 539
Register Staatsgrundgesetz (s.a. Grundgesetze) 252-256, 258, 260, 356, 364 Staatsgründungsvertrag 188 Staatsrat 202, 260 Staatsrecht 8, 23, 98, 109, 115, 168, 178, 187, 227, 233, 254, 292, 354, 357, 359, 383, 433, 497, 500, 504 Staatsstreich 218, 252-254, 256, 260, 311, 390, 415, 418, 420, 424 Stabilitätsprinzip 212 Stabreim 17, 33 Stadtbuch 41 Städtebund 46, 94, 113 Städtekollegium 45, 171 Stadtherr 40, 42, 44 Stadtluft macht frei 43 Stadtrecht 6, 12 f., 38-48, 63, 7577, 324 Stadtrechtsbuch 14, 41 Stadtrechtsfamilie 40 Stadtrechtsreformation 40, 77 Stadtregiment 39, 46 Stalin, Jossif Wissarionowitsch 464 Stammesrechte: siehe Volksrechte Stammlersche Ubersichtskarten 318 Stände 7, 15, 26, 45, 68, 80, 94-99, 101-103, 112, 114, 116, 122, 127 f., 139, 149-152, 154-160, 166-174, 176-178, 185, 185 f., 189-193, 210, 218 f., 251, 253, 255 f., 257, 260, 270, 272, 277, 317, 484 Ständebuch 74 Statuta stricte sunt interpretanda 71 Statuten 39, 55, 62 f., 71 f., 273 Statutenbuch 41 Statutentheorie 63 Statutum in favorem principum (1232) 9 540
Staufer 9, 14 f., 23 f., 41, 58, 71, 92, 96, 104 Stauffenberg, Berthold Graf Schenk von 424 Stauffenberg, Claus Graf Schenk von 422-425 Stein, Karl Reichsfreiherr, vom und zum 193,211 Stein, Lorenz 294 Stephani, Joachim und Matthias 116 Stirner, Max 291,294 Stockwerkseigentum 443 Strafe 28-31, 39, 41, 95, 141-145 Strafgesetzbuch (1871) 310, 324, 409, 436-439 Strafprozeßordnung (1877) 357, 410 Strafprozeßordnung der DDR (1952) 469 Strafprozeßrecht 140-143, 281, 408, 441, 469 f. Strafrecht 5, 8, 27-32, 39, 63, 129, 131, 135-145, 185, 190, 196, 229, 240, 280 f., 319, 352, 408-411, 436-441, 448, 469, 477 Strafrechtsänderungsgesetze (19521992) 438 f. Strafrechtskommission, große 438 Strafrechtspflegeverordnung (1941) 410 Strafrechtsreform 139, 437-440 Strafrechtsreformgesetze (1969/70) 438 f. Strafvollzug 473 f. Strafvollzugsgesetz der DDR (1977) 473 Straßburg XVII, 43-45, 73, 97, 261, 491, 493 Streit, Josef 469 Stresemann, Gustav 487 Struve, Gustav von 270 f.
Register Stuttgart 80, 276, 282 Stuttgarter Rumpfparlament 282 Subsidiaritätsprinzip 61, 497 f., 500, 505, 508 Süddeutscher Bund 305 Sühne 28-30, 140 Suppenessergericht 99 Supplikation 69 Suttner, Bertha von 486 Svarez, Carl Gottlieb 186, 188190, 202, 324 Synodalbeschlüsse 5 Tagessätze 438 Talionsprinzip 30, 144 Tarifgemeinschaft 366 Tarifrecht 365, 369 Tarifvertrag 327, 367-369 Tarifvertragsgesetz (1949) 369 Tarifvertragsparteien 368, 371, 373 Tarifvertragsverordnung (1918/28) 368 f. Tengler, Ulrich 72, 138 Teplitz-Bündnisvertrag (1813) 211 Territorialfürst/-herr 10, 46, 68, 121, 149 Territorialhoheit, -gewalt 9 f., 28, 45, 91, 95, 97, 100, 103, 116, 171 Territorialstaat 51, 69, 78, 92, 100, 121, 127 f., 155, 167, 227, 309 Territorium 7, 41, 45, 47, 72 f., 85 f., 91, 99, 102, 104, 111 f., 115, 121 f., 129, 150, 156, 159, 173 f., 176, 178, 211, 339 Testament 60, 323 Thailand XI, 328 Theodosius II., oströmischer Kaiser 53 Thibaut, Anton Justus Friedrich 229-231, 240 Thierack, Georg 400 Thierry, Alexandre 486
Thöl, Heinrich 243-245 Thomasius, Christian 142 Thronfolge 24 Thun-Hohensteinsche Reform (1855) 205 Thüringen 17, 123-125, 351 f. Tischgespräche im Führerhauptquartier 382, 401 Tirol 122 Tocqueville, Alexis de 184 f. Todesschüsse an der DDR-Grenze 475 Todesstrafe 28-39, 143, 280, 411, 437 Todi 63 Toke, Heinrich 93 Toleranz 81, 160, 177 Torgau 473 Tortur (s.a. Folter) 141 f. Toskana 176 Totalitarismus (s.a. Staat, totalitärer) 458 Totschlagsühne 140 Toul 45, 160 Toulouse 56 Tractatus de maleficiis (1298) 138 Tradition X V f., 7, 15, 17, 27, 33, 54, 58, 61, 64, 71, 76, 109, 121, 168, 215, 227, 236, 278, 302, 319, 323, 327, 357, 406, 414, 433 f., 468, 481, 485, 507 Traditionalismus XVI, 104, 311 Translatio imperii 16, 71, 168 Tribunus urbis 43 Trier 24, 102, 150, 176, 290 Trimberg, Hugo von 61 Trott zu Solz, Adam von 419, 422 Tschechoslowakei 420 Tübingen 70, 78, 80, 255, 282 Tübke, ferner 129 Türkei XI, 45, 328, 480 541
Register Türkenkriege 95, 98, 160 f., 166 f., 170, 173 Uhland, Ludwig 220, 282 Ukraine 12 Ulbricht, Walter 465, 469 Ulm 75, 97, 150, 216 Ulrich, Herzog von Württemberg 124 Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands (USPD) 334-337, 342 f., 348 Ungarn 96, 199, 211 £., 483, 503 Ungefährwerke 31 Unifizierung 189, 242 Unionsbürgerschaft 496 Unitarischer Bundesstaat 309, 318, 435, Unitarismus 262, 276, 502 Universitas magistrorum et scoliarum/studentium 55 UNO (United Nations Organization) 430 Unrechtsbereinigungsgesetz (1992, 1994) 477 Unrechtsstaat 475-478 Untertanengebiet 45 Untertanenprozesse 100, 192 Urheberrecht 241, 247-249 Urheberrechtsgesetze (1870/71, 1876, 1901, 1907) 310 Urteiler 7, 69, 72, 99, 137, 141 Urteilsschelte 17 Utrecht 13, 44 UWG (1896, 1909) 310 Venedig 97 Verbraucherkreditgesetz (1990) 444, 507 Verdun 45, 160 Vereinigte Staaten von Amerika 271, 307, 349, 350, 434, 485 542
Vereinigte Staaten von Europa 486, 490, 494 Vereinigtes Wirtschaftsgebiet (Bizone) 369, 434 Vereinsrecht 319, 327, 367 Vereins- und Versammlungsfreiheit 269, 280, 339, 352 Verfahrensrecht 8, 136, 196, 319, 368, 410, 506 Verfassungen der DDR (1949, 1968, 1974) 468 f. Verfassung des - Deutschen Bundes (1870) 306 - Deutschen Reiches (1849) 277 - Deutschen Reiches (1871) 306, 308, 332, 350, 352, 356 Verfassungseid 252-254, 269 Verfassungskonflikt, - hannoverscher (1837) 251-260 - preußischer (1862-1866) 304 Verfassungsschutz 217 Verfassungsstaat 251, 260, 278, 468, 508 Verfassungstreue 254, 257 Verfassungsvertrag 308, 503 Vergenhans, Johannes 78, 80 Vergesellschaftung 291, 352 Verhältniswahl 333, 353, 495 Verkehrsrecht 240, 309 Verkehrssicherungspflichten 446 Verlagsgesetz (1901) 310 Vermögensgesetz (VermG) 477 f. Vermögenssteuer 93, 100 Vernunftrecht 186, 191, 200, 205, 232, 235, 403 Verordnung über - den Einsatz des jüdischen Vermögens (1938) 405 - die Anmeldung des Vermögens von Juden (1938) 404 - eine Sühneleistung der Juden (1938) 405
Register Verordnung zur Wiederherstellung des Straßenbildes bei jüdischen Gewerbebetrieben (1938) 404 Versailler Friedensvertrag (1919) 347, 359 Versailles 302, 306, 347 Verschuldensprinzip 446 Vertragsfreiheit 316, 326, 374 Vertreibung 432 Vielvölkerstaat 211,380 Vierter Stand 326 Vierwaldstätter See 121 Viktoria, Königin von Großbritannien und Irland 252 Virilstimme 150,176,213 Vogesen 123 Völkerbund 487 Völkerrecht 152 f., 160, 187, 214 f., 219 f., 241, 244, 274, 355, 359, 421, 432, 433, 486 f., 491, 499, 506 Völkischer Staatsgedanke 381 Volksabstimmung 349 Volksaufstand (17. Juni 1953) 470 Volksbeauftragte: siehe Rat der Volksbeauftragten Volksbegehren 353 Volksentscheid 353-355, 358 Volksgeist 33, 230, 232, 234 Volksgeistlehre 230 f., 236 Volksgemeinschaft 380, 407 Volksgerichtshof 409, 411, 421 f. Volksgesetzbuch (1942) 408 Volksgewalt 311 Volkshaus 282 Volksinitiative 353 Volkskommissare 336 f. Volksrechte (leges barbarorum) 5, 11, 17, 28 f., 39, 52, 136 Volksrichter 467 Volkssouveränität 185,206,270, 274, 351, 485
Volkstum 210, 306, 380 f. Volksüberzeugung 228 Volksvertretung 2 1 1 , 2 2 0 , 2 8 0 , 3 0 5 , 308, 355, 388, 467, 487, 497 Volkswahl 218, 359, 495 Vollzugsrat 334, 338, 340 f. Voltaire (Arouet, Frangois-Marie) 230 Vorbeugungshaft 408 Vorkommission 320 Vormärz 218, 233, 251, 261, 287, 311 Vorparlament 270 f. Vorpommern 160 Vorsatz 144 Votum decisivum 46, 171 Vulgarrecht 52 f. Vulgata 15, 19 Waffenrecht 125 Wahlkapitulation 103, 149 f., 154, 156, 169 f. Wahlkönigtum 24 f. Wahlmänner 271 Wahlrecht 24 f., 175, 271, 273, 276, 282, 290, 311, 332 f., 339 f., 353, 357, 496 Währungsunion 494 f., 498, 506 Waitz, Georg 276 Waldburg, Georg Tmehseß von (Bauernjörg) 124 Waldheim 473 Waldheimer Prozesse (1950) 469 Walther von der Vogelweide 9 Wartburgfest (1817) 217, 261 Wartenburg, Peter Graf Yorck von 422 Wartrecht 32 Weber, Wilhelm 251, 255 Weberaufstand 294 Wechselrecht 240, 243-246, 319 Wechselrechtskonferenz (1847) 244 543
Register Wehrfreiheit 420 Wehrverfassung 435 Weichbild 39 Weigandt, Friedrich 125 Weimarer Koalition 331, 348, 359 Weimarer Reichs Verfassung (1919) 18, 178, 194, 327, 347-360, 364, 366, 370, 383, 386, 389 f., 391, 444
Wien 60, 102, 170, 199, 202, 209, 217, 231, 273, 275 f., 281 f., 322, 380
Weimarer Republik 331-343, 3 4 7 360, 363-375, 382, 410, 464 Weinkauff Hermann 400 Weiße Rose 4 1 7 , 4 2 1 Weistümer 6 f., 121, 232 Weitling, Wilhelm 295 Welcher, Karl Theodor 260, 276 Weifen 24 Wels, Otto 341
- N e u s t a d t 95, 141
Weltkriege 204, 307, 328, 332, 334, 347, 367, 374, 379 f., 411, 416, 425, 487, 490 Weltwirtschaft 295, 297, 383 Wergeid 16, 28 f., 39, 143 Wertpapierrecht 240, 309 Westeuropäische U n i o n ( W E U ) 490 Westfalen 193, 287 Westfälischer Friede (1648) 44 f., 97, 102, 115, 117, 148-161, 170172, 176 f., 215 Westgalizisches Bürgerliches G e setzbuch (1797) 203 f. Wetzlar 97, 99, 174 Wiclif, John 121 Widerspiegelungstheorie X V I I Widerstandsbewegung 414-425 Widerstandsrecht 26, 113 f., 125, 127, 258, 414 f., 448 Widerstandsvorbehalt 417 Wied, Hermann von 83 Wiedergutmachung 416, 432 f., 477 f. 544
Wiener Kongreß (1814/15) 212, 247, 260 f., 268, 278, 302-304, 486 Wiener - Ministerialkonferenzen (1819/ 20) 217 - Schlußakte (1820) 2 1 3 , 2 1 5 - 2 1 9 , 259 - Stadtrechtsbuch (um 1350) 41 - U N - K a u f r e c h t (1980/91) 446 Wilda, Wilhelm Eduard 233, 235 Wildenbruch, Ernst von 325 Wilhelm I., deutscher Kaiser u n d König v o n P r e u ß e n 269, 302, 306, 309 Wilhelm II., deutscher Kaiser u n d König v o n P r e u ß e n 309, 332 f., 336, 339 Wilhelm IV., König v o n G r o ß b r i tannien u n d Irland, König v o n H a n n o v e r 251-253, 256 Wilhelmshaven 333 Willkür 38 f. Wilson, Thomas Woodrow 333 Windischgrätz, Alfred Fürst zu 275 f. Windscheid, Bernhard 321, 324 Windthorst, Ludwig 307 Winkelblech, Georg 365 Wirth, Johann Georg August 262 Wirtschaftsdemokratie 369 Wirtschaftsrat 369 f., 434 Wirtschaftsstrafgesetz (1954) 438 Wismar 254 Wissell, Rudolf 342 Wittelsbacher 169 Wittenberg 125, 127 Witzleben, Erwin von 420
Register Wladislaw V., König von Böhmen 95 Wohlfahrtspflege 213, 215, 374 Wohnungseigentumsgesetz (1951) 443 Wohnungsmangelgesetz (1920) 374 Wohnungsrecht 375 W o l f f , Christian 188, 191, 195, 203 f. Wolfgang, Graf von Ottingen 80 Wöllner, Johann Christoph von 190 Worms 40, 43, 96, 98-101, 176 Wormser - Reformation (1498) 40, 138, 143 - Reichstag (1495) 71, 79, 85, 96102 - Reichstag (1521) 103, 114, 139 Wrede, Karl Philipp 263 Wullenwever, Jürgen 83 Württemberg 78 f., 81, 97, 122124, 175 f., 178, 243-245, 270, 273, 278, 304-306, 308, 351, 388 Württemberger Landtag 220 Würzburg 43, 125, 136 Wyschinski, Andrej 464 Zahlenmythologie 16 Zar 211, 304, 487 Zasius, Udalricus (Zäsy, Ulrich) 75-77, 81 f., 324 Zehnt 60, 126 f., 280 Zeiller, Franz Anton Felix von 199-201, 203-205, 324 Zeitgeschichte des Rechts VII, XVII Zell am Harmersbach 151 Zensualität 43 Zensur 217, 248, 258, 280 Zentralarbeitsgemeinschaft der industriellen und gewerblichen Arbeitgeber und Arbeitnehmer Deutschlands 367
Zentralgewalt 30, 153, 274 f., 281, 308 Zentralrat der Arbeiter- und Soldaten-Räte 341 f. Zentralrat der deutschen sozialistischen Republik 348 Zentrichter 136 Zentrum 307, 310, 319, 332, 348 f., 359, 382, 385, 387 Zeremonialwesen 79, 152, 169 f., 172 f.
Zinsverbot 60, 105 Zivilgesetzbuch der DDR (ZGB, 1975) 329,463 Zivilgesetzbuch der Schweiz: siehe Schweizerisches Zivilgesetzbuch Zivilisationsbruch 385 Zivilprozeßrecht 140, 189, 241, 249, 322, 506 Zivilrecht XI, 60, 62, 205, 241, 320, 322, 327, 364, 448, 507 Zoll-Bundesstaat 305 Zollparlament 305 Zoll-Staatenbund 305 Zoll- und Handelsschranken 490 Zollverein 220, 243 f., 487 Zunft 44, 46, 174, 291 Zurechnungsfähigkeit 31, 144 Zürich 45, 490 Zürichsee 122 Zwangskollektivierung 469 Zwangsversteigerungsgesetz (1897) 323 Zweibrücken 176, 262 Zweikammersystem 276 Zweikampf, gerichtlicher 17 Zwei-Schwerter-Lehre 16, 22 f. Zweispurigkeit im StGB 437, 439 Zwingli, Huldrych 123, 129 Zwölf Artikel gemeiner Bauernschaft (1525) 126 f. 545
Register
Register Reichstage (s. a. Allgemein 45, 96, 100, 103-105, 114, 116, 150, 152, 155-157, 169, 171 f., 175 Augsburg (1500) 102 (1530) 112,114 (1555) 99, 173 Frankfurt (1338) 23 (1442) 94 (1486) 78, 95 (1539) 114 Freiburg (1497/98) 101, 139 Konstanz (1507) 102 Nürnberg (1438) 94 (1466/67) 95
546
Reichsversammlung) Regensburg (1532) 139 (1653/54) 156 f., 170-172 Immerwährender (1663-1806) 97, 156 f., 170-172, 169 Roncaglia (Ronkalischer Reichstag) (1158) 57 f. Speyer (1526) 114 (1529) 114 (1544) 114 Trier und Köln (1512) 102 Worms (1495) 71, 79, 85, 96-102 (1521) 103, 114, 139