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German Pages 422 Year 2015
Wilfried Heinzelmann Sozialhygiene als Gesundheitswissenschaft
2010-01-18 13-36-56 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 034c231606613106|(S.
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) T00_01 schmutztitel - 1144.p 231606613114
Wilfried Heinzelmann (Dr. PH Dr. med., MPH, exam. ev. Theol., Facharzt für Innere Medizin) betätigt sich freiberuflich und publizistisch als Gesundheitswissenschaftler mit den Schwerpunkten Prävention, Gesundheitsförderung und Schulgesundheit.
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) T00_02 seite 2 - 1144.p 231606613122
Wilfried Heinzelmann
Sozialhygiene als Gesundheitswissenschaft Die deutsch/deutsch-jüdische Avantgarde 1897-1933. Eine Geschichte in sieben Profilen Mit einem Geleitwort von Prof. Dr. med. Ulrich Laaser
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) T00_03 titel - 1144.p 231606613138
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© 2009 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung aus: A. Grotjahn/I. Kaup: Handwörterbuch der Sozialen Hygiene, 2 Bände, Berlin 1912 Satz: Justine Haida, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1144-1 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
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) T00_04 impressum - 1144.p 231606613146
Isabella und Jonathan Brinkmann Chiara Heinzelmann-Sanchez Gertrud Heinzelmann
Inhalt
Geleitwort. Von Prof. Dr. med. Ulrich Laaser ..............................................
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Vorwort ............................................................................................................
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Einleitung ........................................................................................................
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Teil I: Geschichtlicher Werdegang 1848-1900 1.
Gesundheitswissenschaften (Health Sciences, Public Health) in Deutschland – Creatio ex nihilo oder Frucht spezifischer Tradition? .................................................................. 1.1 Zur Traditionsberufung deutscher Gesundheitswissenschaftler auf die Sozialhygiene ...................................................................... 1.2 Wissenschaftstheoretische und historische Traditionsverpflichtung .................................................................. 1.3 Vom Traditionsanliegen zur Auffassung der Sozialhygiene als Ausdruck deutsch/jüdischer Konsensualität auf speziellem Wissenschaftsgebiet ........................................................................ 1.4 Bildungsgeschichtliche Voraussetzungen für die deutsch/deutsch-jüdische Konformität beim Kulturkonzept der Sozialhygiene .........................................
2. Der Geschichtsrahmen: Gesundheit und Krankheit im Deutschland des 19. Jahrhunderts – die sozialpolitische Lage in Preußen und im frühen Kaiserreich ..................................................................... 2.1 Bevölkerungsexplosion, Urbanisierung und Rettung in letzter Not: revolutionäre Industrialisierung ........................... 2.2 Latenter Explosionsherd: Arbeitermassen in Slums ...................
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2.3 Ordnungsfaktor in der Massengesellschaft: Der Munizipalsozialismus. Gratwanderung zwischen Industriearbeitsplatz und Armut ................................................... 2.4 Krankheit und Armut aus der Sicht des deutschen Bürgertums bis zur Bismarck’schen Sozialgesetzgebung ............................................ 2.5 Circulus vitiosus von Krankheit und Armut im Zivilisationszeitalter – Pauperismus als »gleitende« Armut in der industriellen Massengesellschaft ....................................... 2.6 Sozialintegrative Lösungsansätze von der Medizinalreformbewegung bis zur Sozialreform Bismarcks .................................. 2.7 Bismarcks staatssozialistische Intervention ................................. 2.8 Die Sozialhygiene im Nachhall der reichseinheitlichen Sozialreform ....................................................................................
3. Postrevolutionäre Volksgesundheitsbewegungen in Preußen/ Deutschland in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts .............................. 3.1 Revolution und Säkularisation ....................................................... 3.1.1 Bürgerliches Dilemma zwischen Staat und Industriemacht ............................................................. 3.1.2 Staat und bürgerliche Selbstverwaltung (Kommunen) als Träger des öffentlichen Gesundheitswesens ............... 3.1.3 Das medizinische Wissenschaftsfach Hygiene als Initiator einer komplexen öffentlichen Gesundheitsanschauung .................................................... 3.1.4 Exkurs 1: Gesundheitswissenschaften in Deutschland im 19. Jahrhundert und früher? ......................................... 3.1.5 Die Historikergruppe um Alfons Labisch ......................... 3.1.6 Gesundheit als säkularer Wert ........................................... 3.1.7 Exkurs 2: Motive für öffentliche Gesundheit im absolutistischen und bürgerlichen Zeitalter ..................... 3.1.8 Volksgesundheitsbewegungen und gesellschaftliche Epiphanie der Gesundheit .................................................. 3.1.9 Die Apotheose der fremdzweckfreien Volksgesundheit .. 3.2 Späte Einschaltung der Sozialhygiene in den Gesundheitsboom –Leistungen und Irrwege ..............................
4. Die klinische Hygiene: Geburt der sozialen Hygiene aus dem Geiste von Asepsis und Antisepsis .................................................................... 4.1 Die Entwicklung der Hygiene in Deutschland als Leitwissenschaft der »öffentlichen Gesundheit« .................... 4.2 Die 1. Phase im akademischen Formierungsprozess der Hygiene ......................................................................................
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4.3 Die 2. Phase im akademischen Formierungsprozess der Hygiene ...................................................................................... 4.4 Die geistigen Innovationen der Hygiene und ihre Bedeutung für das Zeitalter ...............................................................................
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5. Entstehung der Sozialhygiene als Wissenschaft durch Verselbständigung aus der allgemein-klinischen Hygiene ................. 99 5.1 Praktizierte soziale Hygiene im Übergang zum leitwissenschaftlichen Konzept ............................................ 99 5.2 Der 20-jährige Weg von der wissenschaftlichen Inauguration bis zur Konstitution der Sozialhygiene als universitäres ordentliches Lehrfach ..................................................................... 102
Teil II: Theoriebildung, Gestaltung und Blüte 1897-1933 6-11 Die Triumvirn der Gründergeneration − ihr Leben und Werk als Inbegriff moderner Gesundheitsforschung in Deutschland am Anfang des 20. Jahrhunderts
6. Alfred Grotjahn (1869-1931) – praktischer Arzt und Stammvater der Sozialhygiene als Wissenschaftsfach .............................................. 6.1 Opponent und Außenseiter ............................................................ 6.2 Zeit der politischen, sozialpolitischen und parteipolitischen Orientierung .................................................................................... 6.3 Praktischer Arzt und Wissenschaftsautor – Vorarbeiter am Rohbau der Sozialhygiene .................................... 6.4 Hochschullauf bahn in Hygiene und Verwaltungspraxis als Kommunalmediziner – Durchbruch des Wissenschaftsfachs Sozialhygiene im neuen Universitäts-Ordinariat ........................ 6.5 Realpolitisches Intermezzo ............................................................ 6.6 Die Zeit der Bücher – das Desaster einer (operativ) heilbaren chronischen Erkrankung .................... 6.7 Der Eugeniker Grotjahn und das Dritte Reich – Verharmlosen und Verschweigen. Eine Literatur-Analyse .........
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7. Auswahl aus Grotjahns monographischem Werk ................................ 125 7.1 Grotjahns »Der Alkoholismus« von 1898 als Meilensteinbuch ........ 125 7.1.1 Nichtinfektiöse Erkrankungen im Beziehungsfeld der Epidemiologie – das Lehrbeispiel der chronischen Alkoholintoxikation ......................................................................... 125
7.1.2 Kritische Bewertung ............................................................ 7.2 Alfred Grotjahns »Soziale Pathologie« nach der 3. Auflage von 1923 .......................................................... 7.2.1 Sozialhygiene als Leitwissenschaft der Volksgesundheit (theoretische Grundlegung) ............................................... 7.2.2 Sozialpathologische Stellung ausgewählter Volkskrankheiten – Inhalt des 1. (speziellen) Teils ............................................. 7.2.3 Akute Infektionskrankheiten ............................................. 7.2.4 Chronische Infektionskrankheiten und andere Volkskrankheiten als Dauerproblem der Gesellschaft .............. 7.2.5 Akute infektiöse Krankheiten des Säuglingsund Kindesalters (W. Salomon) .......................................... 7.2.6 Frauenkrankheiten (R. Lewinsohn) ................................... 7.2.7 Die Komplexität sozialer und endogener Faktoren in Sozialätiologie und -diagnostik ...................................... 7.2.8 Soziale und hereditäre Konstitution als Faktoren des sozialen Abstiegs ........................................................... 7.2.9 Das Zusammenspiel von medizinischem Gesundheitswesen und Sozialhygiene in der Sozialtherapie ............................................................ 7.2.10 Fortpflanzungshygiene – Eugenik .................................... 7.2.11 Kritische Bewertung ............................................................ 7.3 Das eugenische Hauptwerk »Die Hygiene der menschlichen Fortpflanzung«, 1926 ...................................... 7.3.1 Internationale der Eugenik und Rassenhygiene ............... 7.3.2 Eugenik als Planungsprojekt im sozialisierten Volksstaat .............................................................................. 7.3.3 Kritische Schlussbewertung der Grotjahnschen Eugenik: Von der Analyse zur qualitativen Steuerung der Bevölkerungsgesundheit ..............................................
8. Adolf Gottstein (1857-1941) – Verwaltungsmediziner als Vollender der Sozialhygiene in der Gesundheitsfürsorge .................................................................... 8.1 Gedenken und Gedächtnis in der Schwerpunkts-Historiographie .......................................... 8.2 Forscher und praktischer Arzt – eine »fachtypische« Konstellation ................................................. 8.3 Zwischen bakteriologischer Laborforschung und epidemiologisch-statistischer Analyse .................................. 8.4 Umstieg in die Verwaltungsmedizin – Gesundheitsfürsorge als Umsetzung sozialhygienischer Vorstellungen ..................................................
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8.5 Schaffenszeit im Ruhestand – ingeniöses geistiges Feuerwerk vor der politischen Katastrophe ..................................................... 186
9. Gottstein – Aus 40 Jahren literarischer Produktion ............................. 9.1 Gottstein: Allgemeine Epidemiologie, 1897 ................................. 9.1.1 Konstitution des Einzelnen und einer Bevölkerung – der Weg von der Epidemiologie zur Sozialhygiene .......... 9.1.2 Kritische Bewertung ............................................................ 9.2 Gottstein et al.: Sozialärztliches Praktikum 1918 ......................... 9.2.1 Ärztliche Sozialhygiene und Fürsorge .............................. 9.2.2 Gesundheitsfürsorge: Überforderung als Beispiel nicht nur ökonomisch definierter Bedarfslage .................................. 9.2.3 Krankenfürsorge .................................................................. 9.2.4 Statistik (»Observationes et numerandae sunt et perpendendae«) ....................................................... 9.2.5 Biometrie (Anthropometrie) .................................................. 9.2.6 Kritische Bewertung: Die Formierung einer professionalisierten und einheitlich organisierten kommunalen Gesundheitsfürsorge ..................................... 9.3 Gottsteins Hauptschriften über Fragen der Sozialen Hygiene 1920 bis 1926 – praktische Umsetzung der Feststellungen der Sozialhygiene in der Gesundheitsfürsorge ............................ 9.3.1 Gesundheitswissenschaft im Einvernehmen mit der Massengesellschaft ................................................ 9.3.2 Sozialhygienische Hauptperspektive: Der Mensch als Gesellschaftswesen .................................. 9.3.3 Das Reich der Mitte im gesellschaftlichen Krankheitsspektrum ........................................................... 9.3.4 Die Bedeutung demographischer Parameter .................... 9.3.5 Gesundheitsfürsorge als erweitertes (ganzheitliches) Prophylaxekonzept ................................... 9.3.6 Die Schulgesundheitspflege als Musterbeispiel der Gesundheitsförderung aus dem Geist der Sozialhygiene ................................................................. 9.3.7 Sozialhygienisches Thema der Zeit: Eugenik ................... 9.3.8 Kritische Bewertung ............................................................ 9.4 Unentwegter Richtstern »Epidemiologie«: die letzte Monographie des 80-Jährigen aus dem Deutschland des Jahres 1937 ........................................... 9.4.1 Infektionistische Epidemiologie als Modell für die Verursachung von Volkskrankheiten überhaupt ..
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9.4.2 Letztes Wort zur Eugenik aus dem Blickwinkel des Epidemiologen ............................................................... 235 9.4.3 Kritische Bewertung ............................................................ 238
10. Alfons Fischer (1873-1936) – Gestalter der Sozialhygiene als Wissenschaft durch Systemauf bau ................................................. 10.1 Karrierescheu eines Vielseitigen – Wissenschaftstätigkeit auf dem Existenzhintergrund der Arztpraxis .................................................................................. 10.2 Strategisches Konzept zur Durchsetzung der Sozialhygiene in Wissenschaft und Gesundheitspolitik ..................................... 10.3 Im Alleingang: Begründung der Sozialhygiene als wissenschaftliches System ....................................................... 10.4 Gesundheitspolitik und gesundheitliche Volksaufklärung ........ 10.5 Kulturhygiene ..................................................................................
11. Coup d’Éclat: Erstes systematisches Lehrbuch des Wissenschaftsfachs – Fischers »Grundriss der sozialen Hygiene« 1913, 2. Auflage 1925 ..................... 11.1 Vollendung des Wissenschaftsanspruchs der Sozialhygiene im literarischen System .................................................................. 11.2 Ökonomischer Aspekt: Beruf, Einkommen und Lebenshaltung des Industriearbeiters ..................................................................... 11.3 Kultureller Aspekt: Beispiel Wohnung, Ernährung .................... 11.4 Janusköpfiges Phänomen Arbeit: Das Bedürfnis des Arbeiters auf Erholung und gesellschaftliches Prestige .............................. 11.5 Sonderfall der Hygiene: Erhaltung des zukünftigen qualitativen und quantitativen Bevölkerungsstands durch Regulierung der Fortpflanzung ........................................................................... 11.6 Soziales Elend I: Beispiele aus der Gesundheitsfürsorge ............ 11.7 Ausweitung des Fürsorgegedankens – ein Schritt auf dem Weg in den Versorgungsstaat? ............................................................... 11.8 Soziales Elend II: Chronische Krankheiten als Kulturmakel in der kulturhygienischen Krankheitslehre ................................. 11.9 Übergeordnete gesellschaftliche Initiativen zur Erfüllung kulturhygienischer Zielsetzungen ................................................ 11.10 Kurzer Vergleich zwischen der 1. und 2. Auflage des »Grundrisses« .......................................................................... 11.11 Kritische Bewertung .......................................................................
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12. Zusammenfassung und Schlussbetrachtung ....................................... 12.1 Bevölkerungslehre .......................................................................... 12.2 Das Modell »Arztpraxis und Sozialhygiene« ............................... 12.3 Die Herauf kunft einer kollektivistischen Denkweise im Massenzeitalter .......................................................................... 12.4 Übergang von »Krankheit und soziale Lage« auf Bevölkerungsgesundheit .......................................................... 12.5 Wissenschaftliche Ansätze der Sozialhygiene ............................. 12.6 Ätiologisches Mehrfaktorenmodell ............................................... 12.7 Volksseuchen als Herausforderung an die nationale Kultur – Bekämpfung bis zur totalen Eliminierung ........................ 12.8 Soziale Gleichheit durch gleiche Gesundheitsbedingungen .............................................................. 12.9 Der Untergang ................................................................................. 12.10 Grotjahns Beitrag zum Niedergang ..............................................
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Teil III: Existenzkampf im Terror der NS-Machtübernahme 13. Zur historiographischen Problematik der Verfolgung von Ärzten und Sozialhygienikern in der Zeit des Nationalsozialismus .......................................................................... 13.1 Ärzteemigration aus Berlin und dem Reich 1933-1938 ................ 13.2 Identifi kation der emigrierten wissenschaftlichen Sozialhygieniker mit den Hauptemigrationszielen USA und Palästina .......................................................................... 13.3 Die biographische Forschungslage zum Personenkreis speziell der wissenschaftlichen Sozialhygiene nach 1933 .................................................................
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14-17 Exemplarische biographische Profile der jüdischen Sozialhygieneemigration seit 1933 14. Benno Chajes (1880-1938): Altmeister der Kriegsund Nachkriegsgeneration der Sozialhygiene – Vom Hochschullehrer zum Auf baupionier im Exil ............................. 14.1 Arzt und Hochschullehrer in Berlin bis 1933 ............................... 14.2 Chajes in der Emigration, Exkurs: Die Lage im Gesundheitswesen des Ziellands Eretz Isreal/Palästina zur Zeit der »deutschen Flut« ............................ 14.3 Chajes als Gesundheitspionier in Palästina 1933-1938: Zwischen Gesundheitssozialismus und »Freier Arztwahl« ....................................................................
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14.4 Ergographischer Überblick: Der Berliner Universitätslehrer Chajes als Verfechter der Einheit von Berufs-/Gewerbehygiene und Sozialhygiene ........................................................................... 342 14.4.1 Berufshygiene ...................................................................... 343 14.4.2 Sozialhygiene ....................................................................... 344
15. Georg Wolff (1886-1952): Konzeptionswandel in der Sozialhygiene – vom Medizinalstatistiker und Hochschullehrer zum Outdoor-Epidemiologen in den USA ............................................. 15.1 In Berlin bis 1937: Stadtschularzt – Abteilungsleiter im Hauptgesundheitsamt, Habilitation bei Grotjahn als Epidemiologe ............................................................................. 15.2 Tod und Todesursachen unter den Berliner Juden – Spätemigration in die USA ............................................................. 15.3 Ergographischer Überblick ............................................................ 15.3.1 Aufschwung in Statistik durch deutsch-englische Kooperation: Greenwood und Wolff über »Einige methodisch-statistische Studien zur Epidemiologie der Tuberkulose« 1928 ......................................................... 15.3.2 Die theoretischen Voraussetzungen der Sozialen Hygiene 1929 ..................................................
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16. Franz Goldmann (1895-1970): Avantgardist der praktischen Umsetzung von Sozialhygiene in der Gesundheitsverwaltung. Transfer von Bausteinen für eine gesetzliche Krankenversicherung in die USA ................................................................................................. 365 16.1 Ein Generationenalter im Exil: Lehre und Forschung in Yale und Harvard 1937-1957, Emeritus Prof. 1958-1970 ................................................................ 366 16.2 Ergographischer Überblick: Beispiel eines fast gelungenen Kulturtransfers (»Mr. Medicare«) .................................................. 368
17. Max Hodann (1894-1946): Einzug der Sexualwissenschaft in die Sozialhygiene – Literat einer repressionsfreien Sexualpädagogik .................................. 17.1 Pionierarbeit in der Reichshauptstadt – Arzt für Sexualmedizin im sozialen Brennpunkt – Publizist im Dienste der Sexualpädagogik und Sexualreform ....................................... 17.2 Exil 1933-1946: Rastlose Irrfahrt eines Asthmakranken durch Europa ................................................................................... 17.3 Ergographischer Überblick ............................................................
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18. Statt eines Rückblicks: Ludwig Teleky (1872-1957) über die Gesundheitsfürsorge in den westlichen Industrieländern ... 377
19. Ausklang und Retrospektive: Sozialhygiene als erste deutsche Gesundheitswissenschaft – der neue Denkstil ihrer deutsch/deutsch-jüdischen Avantgarde 1897-1933 ................................ 381
Anhang ............................................................................................................ Siglenverzeichnis ........................................................................................... Gedruckte Quellen ......................................................................................... Literaturverzeichnis ....................................................................................... Tabellen ........................................................................................................... Grafi ken .......................................................................................................... Abbildungen ................................................................................................... Personenregister .............................................................................................
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Geleitwor t
Die deutsche Sozialhygiene trägt – nicht ohne Mitschuld – einen zweifachen Makel in Gestalt ihrer nachträglichen Vereinnahmung durch den Nationalsozialismus als Rassenhygiene und durch den ostdeutschen Überwachungsstaat als sozialistische Frühform einer kommunistischen Gesundheitskonzeption. Der 1988 in Bielefeld begonnene Auf bau der Gesundheitswissenschaften1 konnte sich nach dem historischen Hiatus eines halben Jahrhunderts anfangs nur begrifflich auf die Formulierung einer »Gesundheitswissenschaft« zu Beginn des 20. Jahrhunderts berufen.2 Auch die nach dem 2. Weltkrieg von Hans Schäfer und Maria Blohmke wieder belebte Sozialmedizin3 bildete keine Brücke in die Vergangenheit und als noch weniger tragfähig erwies sich die ideologisch belastete Fortführung des Namens Sozialhygiene in der DDR. 4 So wurden die wichtigsten Impulse Anfang der achtziger Jahre durch deutsche Stipendiaten aus den USA re-importiert5 und damit eine modernere Variante in Gestalt eines epidemiologisch begründeten Public Health. Die seinerzeitige Suche nach einem entsprechenden deutschen Begriff führte im Kreis zurück zur tödlich missbrauchten »Volksgesundheit«, z.B. im Serbo-Kroatischen unverfänglich als »Javnog Zdravlja«. Diese Rückbesinnung ist im Deutschen verbaut und damit symbolisch der Verlust der historischen Wurzeln angezeigt. Wir verwenden heute den (amerikanischen) Public Health Begriff. Der Autor des vorliegenden Buches geht weit und kritisch reflektierend über die bisherigen eher fragmentarischen Arbeiten zur Geschichte der deutschen Sozialhygiene hinaus, indem er nicht nur integrativ die Personen- und 1 | Laaser, U.; P. Wolters: Das Gesundheitswissenschaftliche Graduiertenstudium an der Universität Bielefeld im Rahmen vergleichbarer Bestrebungen, Soz. Praeventivmed. 34/5 (1989), 223-226. 2 | Gottstein, A.; A. Schlossmann; L. Teleky: Handbuch der Sozialen Hygiene und Gesundheitsfürsorge, 6 Bd., Berlin (1925 ff ), hier Band 1, Vorwort, V ff. 3 | Schaefer, H.; M. Blohmke: Handbuch der Sozialmedizin, Stuttgart 1972. 4 | Beyer, A.; K. Winter: Lehrbuch der Sozialhygiene, Berlin 1959. 5 | Keil, U.; U. Laaser: Epidemiologie und gesundheitliche Versorgung der Bevölkerung. Theorie und Praxis der sozialen Arbeit 31 (1980), 164.
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Werksgeschichte darstellt, sondern sie angesichts der Zahl und Bedeutung der jüdischen Vertreter auch als Ausdruck einer Wesenskongruenz zwischen Wissenschaftlern deutscher und deutsch-jüdischer Familienherkunft zu verstehen sucht. Eine Schwierigkeit dieser Sichtweise liegt darin, dass es sich ja im Selbstverständnis der jüdischen Deutschen auch damals schon weit überwiegend um deutsche Staatsbürger jüdischen Glaubens und/oder jüdischer Abstammung gehandelt hat, die sich wohl eher selten als Juden im nationalen Sinn verstanden haben, trotz des von Theodor Herzl Ende des 19. Jahrhunderts ausgelösten Zionismus. Aber es bleibt doch auff ällig, wie hoch der Anteil jüdisch-deutscher Sozialhygieniker ist, selbst im Umfeld Grotjahns, dessen Gedankenwelt noch die größte Nähe zum Nationalsozialismus aufweist, wenngleich seine Eugenik nicht die »Aufartung« einer Rasse, sondern die Einschränkung der Reproduktion als minderwertig klassifizierter Menschen gerichtet war. Mit der Vertreibung und Ermordung der deutsch-jüdischen Wissenschaftselite kam auch das Ende der Sozialhygiene. Ich bin nicht der Auffassung, dass schon die utopistische Radikalität Grotjahns für das Fach den Keim des definitiven Zerfalls in sich trug, sondern meine, dass sich unter den Bedingungen einer offenen gesellschaftlichen Entwicklung humanere, die Würde des Einzelnen berücksichtigende Ansätze hätten durchsetzen können, so wie sie etwa von Gottstein und A. Fischer vertreten wurden. Die vom Verfasser hier vorgelegte problemgeschichtlich-ergographische Untersuchung zur Entwicklung der Sozialhygiene in Deutschland gliedert sich in drei große Kapitel: Geschichtlicher Werdegang; Theoriebildung, Gestaltung und Blüte; Existenzkampf im Terror der NS-Machtübernahme. Ausgangspunkt ist der historische Exkurs zur Geschichte der Gesundheitswissenschaften im Vorwort zur ersten Auflage des Handbuchs Gesundheitswissenschaften von Hurrelmann und Laaser.6 Der Autor lässt die neuzeitliche Entwicklung mit dem Revolutionsjahs 1848 beginnen, d.h. mit dem jungen Rudolf Virchow und mit Salomon Neumann,7 den nicht nur ich als eigentlichen Vorfahr der deutschen Public Health Entwicklung sehe. Die anderwärts geübte unkritisch historisierende Applikation des Begriffs der Gesundheitswissenschaft(en) für den Zeitraum vor 1848 ist m.E. unzulässig.8 Der mittlere Teil der Arbeit beschreibt in einer bio-ergographischen Zu6 | Hurrelmann, K.; U. Laaser: Gesundheitswissenschaften als interdisziplinäre Herausforderung. In: Hurrelmann, K.; U. Laaser (Hrsg.) Gesundheitswissenschaften, Handbuch für Lehre, Forschung und Praxis. Beltz-Verlag, Weinheim 1993, 3-25. 7 | Laaser, U.: (im Auftrag des Vorstands der Deutschen Gesellschaft für Sozialmedizin und Prävention): Laudatio Prof. Geoff rey Arthur Rose, CBE. Öff.Gesundh. Wes. 53 (1991), 719-724. 8 | Labisch A., W. Woelk: Geschichte der Gesundheitswissenschaften. In: Hurrelmann K.; U. Laasers (Hrsg.): Handbuch Gesundheitswissenschaften, Neuausgabe, Weinheim, München 2004.
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sammenschau die Triumvirn der Gründergeneration Alfred Grotjahn, Adolf Gottstein und Alfons Fischer. Das dritte abschließende Hauptkapitel ist dem Untergang und exemplarisch deutsch-jüdischen Wissenschaftlerergobiographien gewidmet. Diese Texte kann man nicht ohne innere Bewegung und Anteilnahme lesen. Die Verstümmelung der deutschen Geschichte durch den Nationalsozialismus wird hier wie unter einem Brennglas noch einmal überdeutlich. Wer von den deutsch-jüdischen Wissenschaftlern emigrieren konnte, erlebte in den Zielländern aufgrund harter Niederlassungsbestimmungen zumeist eine weitere lebensgeschichtliche Katastrophe. Nur wenige hatten die Chance, beruflich erneut Fuß zu fassen. Eine wichtige Ausnahme stellt die im 2. Weltkrieg neutrale Türkei dar, die eine große Anzahl deutscher Wissenschaftler aufnahm. So wirkte Albert Eckstein mit großem Erfolg seit 1935 an der Universität Ankara.9 Die vorliegende Buchpublikation entwickelt ein problemgeschichtliches Gesamtbild vom Aufstieg und Fall der deutschen Sozialhygiene als Vorläuferin der Gesundheitswissenschaften, wie es trotz zahlreicher wertvoller Einzelarbeiten auf diesem Gebiet noch fehlte. Aus dem damals gefundenen gesellschaftlichen Gesundheitsbegriff heraus hat sich die moderne Interdisziplinarität entwickelt, ohne die heute im Zeitalter der global-medialen Wissensgenerierung keine Wissenschaft mehr auskommt. Die Sozialhygiene hat diesen Methodenschlüssel Anfang des vorigen Jahrhunderts »erfunden« und in die Erforschung des Soziallebens eingeführt, sich selbst damit in den Rang einer neuen zukunftsweisenden Wissenschaft erhoben. Ich wünsche mir, dass es mit dieser Arbeit gelingt, eine Brücke über die dunklen Jahre in die Vergangenheit zu schlagen und Verbindung zu den Wurzeln einer Gesundheitswissenschaft in Deutschland und Europa aufzunehmen. Belgrad, Serbien 17. Juni 2009 Prof. Dr. med. Ulrich Laaser Fakultät für Gesundheitswissenschaften Universitiät Bielefeld
9 | Erichsen, R.: Medizinemigration in die Türkei. In: Scholz, A., C.-P. Heidel (Hrsg.): Emigrantenschicksale. Einfluss der jüdischen Emigranten auf Sozialpolitik und Wissenschaft in den Aufnahmeländern, Frankfurt 2004, 65 ff. bes. 73 ff.
Vor wor t
Größere Partien des vorliegenden Bandes würde ich einem Arbeitsgebiet/ einer Arbeitsweise zuordnen wollen, die sich m.E. am ehesten durch den Begriff »Literarographie« kennzeichnen lassen.1 »Literarographie« besagt die Auswertung ausgewählter Literatur eines Autors bzw. einer Autorengruppe eines Fachgebietes als gedruckter Originalquelle mit dem Mittel des Vergleichs unter historiographischen Gesichtspunkten, d.h. in Anlehnung an Biographie und Leistungsgeschichte der betreffenden Autoren mit der Zielstellung eines historiographischen Zugewinns. Trotz weitgehender Identität des Forschungsansatzes sind Literarographie und Ergographie voneinander abgrenzbar. Der weitere Begriff Ergographie umfasst die Geschichte der gesamten Lebensleistung, ob sie nun ein literarisches Werk beinhaltet oder nicht; soweit ein literarisches Werk vorliegt, dessen Darstellung ggf. unter weitgehender Ausblendung der Person (wie besonders zu beobachten bei Autobiographien von Naturwissenschaftlern).2 Demgegenüber ist Literarographie autorenvergleichende Literaturgeschichte eines Fachgebiets unter biographischem Vorzeichen. Sie ist vergleichende literarische Ergographie, die nicht nur Entdeckungs- und Meinungsgeschichte wiedergibt, sondern nach verdeckten Merkmalen und verräterischen Kennzeichen sucht, die Biographisches auf hellen, z.B. Haltungen, Konflikte, Arbeitsstile, Verortungen in Gesellschaft und Wissenschaft u.v.m. Für die Literarographie spiegelt sich in der Literatur erlebte kreative Zeit eines Autors inmitten seiner zeitgenössischen Umwelt. Beispiele für literarographische Resultate aus unserer Arbeit sind der unausgesprochene Konflikt zwischen dem deutsch-jüdischen Part der Sozialhygieneliteratur und Grotjahn in der Eugenik, die Rangstellung 1 | Im neuen Begriff bezeichnet »Literar…«, abgeleitet von litterarius, das Wortbildungselement, das die Beziehung zu historischem Quellenschrifttum ausdrückt. 2 | Das Problem, inwieweit Biographie als eine zwischen Fakt und Fiktion eingespannte Literaturgattung der Wissenschaftsgeschichte von Nutzen sein kann, wird seit Jahrzehnten in einem literaturreichen Diskurs erörtert, der den Komplex »Sache und Person« vielfach berührt, vgl. Kohli 19., S. 428ff. Als weiterführende Literatur seien noch genannt Bourdieu 1990, S. 75ff., Szöllösi-Janze 2000, S. 17ff. und Hankins 1979, S. 1ff. Vgl. auch die Autobiographiestrukturen in Louis R. Grotes Sammelwerk 1923-1925.
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Gottsteins als Epidemiologe gegenüber dem Eugeniker Grotjahn in der Sozialhygiene, Fischers Bedeutung für die Wende in der Sozialhygiene von der Sozialen Pathologie zur Bevölkerungsgesundheitslehre u.a. In diesem Sinn versucht das Buch erstmals eine Gesamtschau der Sozialhygiene als Wissenschaft, deren historische Existenz man ziemlich genau im Zeitraum von 1897-1933 ansetzen kann. Die Sozialhygieniker erhoben Gesundheit zum Wissenschaftsobjekt. Sie dokumentierten ihre Erkenntnisse und Einsichten, zunächst weitgehend beschränkt auf den deutschsprachigen Raum, in einer Flut von wissenschaftlicher, an neuen Methoden ausgerichteter Literatur. Eine Literaturgeschichte der Sozialhygiene wäre ein Stück Lebenswerk eines Einzelnen oder das Produktionsergebnis eines ganzen (multidisziplinären) Teams, das sich aber lohnte. Hier kann von einem Einzelnen in beschränkter Zeit nur eine kleine – angedachte – Version vorgelegt werden. Wünschenswert wäre ein großes Mehrfrauen- und -männerbuch, in dem von Experten die Beziehungen der wissenschaftlichen und angewandten Sozialhygiene auch zu den Verhältnissen in den europäischen Ländern bis weit nach Osteuropa und Russland sowie im angelsächsischen Raum ausgeleuchtet und die Sozialmedizin in der alten Bundesrepublik sowie die Sozialhygiene in der ehemaligen DDR im Zusammenhang mit den sozialhygienischen Ansätzen im revolutionären und nachrevolutionären marxistisch-sowjetischen System mit erfasst würden.3 Es ist meine Überzeugung, dass damit auch einem Interesse unserer wirtschaftlich und sozial erschütterten und ethisch und sozialethisch verdorrten Gesellschaften in einem globalisierten Erdkreis entsprochen würde. Was haben diese weitsichtigen Männer und Frauen zu Beginn des 20. Jh. recht eigentlich für den zunehmend geistig-sittlich verunsicherten, der Heimatlosigkeit verfallenden Menschen wirklich gewollt, wie haben sie ihre Botschaft von der Gleichstellung aller Menschen vor der Gesundheit in literarischer Form, Text und Sprache transportiert? Vielleicht bedürfen wir in Zukunft wegen der vorgerückten Stunde in unserer Zivilisationsentwicklung solcher historischen Wegweisung nicht mehr. Aber gegenwärtig erscheint es für eine historische Besinnung nicht zu spät. We can!
3 | Den Einstieg in ein solches Unternehmen könnte sehr wohl eine Ausstellung über die Sozialhygiene als Gesundheitswissenschaft leisten, z.B. im zentralen europäischen Hygiene-Museum in Dresden.
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Herrn Prof. Dr. med. Ulrich Laaser bin ich für die Anregung zur Abfassung des Buches sowie die wissenschaftliche Begleitung und Beratung bei der Ausgestaltung zu größtem Dank verpflichtet. Ohne sein hohes Interesse an der Fragestellung und sein subtiles Verständnis für die Komplexität der Aufgabe wäre das Projekt nicht zustande gekommen. Herrn Prof. Dr. phil. Gunnar Stollberg danke ich für seine kenntnisreiche Unterstützung und seine vielfältigen Hinweise. Bielefeld, im Frühjahr 2009
Wilfried Heinzelmann
Einleitung
Sozialhygiene im Wissenschaf tszeitalter Sozialhygiene ist eine von ihren Begründern wohldefinierte Wissenschaft. Nur in diesem Sinn ist von ihr im vorliegenden Buch die Rede. Jede Wissenschaft hat ihre öffentliche Praxis, nur das Maß des jeweiligen Praxisbezugs ist unterschiedlich. Das Ausmaß des Praxisbezugs einer Wissenschaftsdisziplin lässt sich u.a. an ihrer Nähe zur Politik ablesen, die der Umsetzung des einen in das andere dient. Ein Hindernis der effizienten Praxis ist der wohlmeinende Amateur, weil die Fülle seiner (auch zufälligen) Ansätze besonders in einer Masse von Menschen die Einheitlichkeit der begründeten Maßnahme stört, die für die Effizienz konstitutiv ist. So gingen der Sozialhygiene als Wissenschaft Anwendungsformen, Bewegungen und Strömungen voraus, die jene im weiteren Verlauf als zentrale Theorie unter wissenschaftlichen Gesichtspunkten auszusuchen und zu konsolidieren trachtete. Jede neue Wissenschaft hat ihre Avantgarde, national und international. Beispiele zu Beginn des 20. Jh. sind Psychologie (Psychoanalyse) und Sozialhygiene. Im deutschsprachigen Raum zeigten beide die Züge früher Meisterschaft und die Beteiligung einer starken Fraktion mit jüdischem Hintergrund. Gewiss ist es letztlich müßig, sich über Bezugsverhältnisse zwischen ausschließlich deutschen und deutsch-jüdischen Forschern im jeweiligen Wissenschaftskomplex länger aufzuhalten.1 Aber in der Sozialhygiene erlangte kaum ein nichtjüdischer deutschstämmiger Wissenschaftler außer Grotjahn Berühmtheit und Anerkennung gleich Forschern jüdischer 1 | Womöglich ist es problematisch, wenn nicht gar kontraproduktiv, deutschjüdische Wissenschaftler durch Betonung ihrer besonderen Leistungen aus der Akkulturation und Assimilation quasi wieder auszugliedern bzw. aus der staatsbürgerlichen Normalität zu entlassen. Ohne NS-Faschismus und zugehöriger Vernichtungspolitik gäbe es angesichts deutscher Kulturleistungen in der Tat kein Interesse an einer weiteren Differenzierung der beteiligten Deutschen nach familiärem, fremdnationalen Hintergrund. Das furchtbare Schicksal willkürlich gebrandmarkter Deutscher aus der Gruppe kultureller Leistungsträger begründet jedoch ihren Anspruch auf einen singulären Rang im kollektiven Gedächtnis!
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Herkunft wie Adolf Gottstein, Alfred Fischer, Max Mosse, Gustav Tugendreich, Ludwig Teleky, Benno Chajes, Franz Goldmann, Max Hodann, Julius Moses, Arthur Schlossmann, Carl Hamburger, Arthur Crzellitzer, Alfred Blaschko, Hans Haustein oder Alice Salomon.2 Die frühen Sozialhygieniker fingen das Neue ein, das am Rande der deutschen Universitätswissenschaft anbrandete. Sie erkannten die einzigartige Bedeutung der Gesundheit für die Gesellschaft, plädierten zunächst mit Fakten (nicht ideologisch) für unterprivilegierte Gesellschaftsschichten und forderten die Gleichstellung aller vor dem weitgefassten Phänomen »Gesundheit«. Sie entdeckten und feierten die Interdisziplinarität, das Miteinander und Nebeneinander der differentesten Methoden. Sie wollten Gesundheit ubiquitär, national und international, d.h. nicht weniger als alles auf der Welt. Schließlich suchten sie mit ihren Vorstellungen und Techniken die Grundlage zu schaffen für die Gesundheit der ganzen Bevölkerung. Mit Statistik und Demographie in interdisziplinärer Verbindung mit Epidemiologie und Gesundheitsfürsorge stießen sie in der Gesundheitslehre das Tor auf in die Zukunft.
Globale Einzigar tigkeit der Sozialhygiene durch Ver wissenschaf tlichung und institutionelle Legalisierung War die Zündung durch Gottstein und Grotjahn erst einmal betätigt (1897, 1898), kam es im neuen Fach zu einem explosionsartigen Ausstoß wissenschaftlicher Literatur. Die Menge der charakteristischen originären Literatur verdient uneingeschränkt Bewunderung. Eine »kleine« Literaturgeschichte kann als problemgeschichtlicher Leitfaden aus der Überfülle nur eine Auswahl treffen, um im Zeitengang überschlägig das Gebiet abzustecken. Im Vordergrund steht dabei die Monographie, unberücksichtigt bleiben zunächst die Handbücher, Aufsatzsammlungen, Jahresberichte und Periodika sowie die österreichische Schwesterdisziplin in Wien. Wie Berlin für Preußen und Reich, so stand Wien in der Sozialhygiene in Wissenschaft und Praxis weitgehend beispielhaft für die ganze Monarchie. Die genannten Sektoren erwarten in einem erweiterten Projekt ihre Darstellung. Und doch ergibt sich in unserer Synopse bereits ein Eindruck davon, wie weit im 2 | Den 15 genannten bedeutsamen deutsch-jüdischen Sozialhygienikern aus der Generation vor 1933 steht eine etwas kleinere Gruppe von deutschen Experten nichtjüdischer Herkunft der gleichen Generation gegenüber, denen auf dem Fachgebiet ein mehr oder weniger hoher Bekanntheitsgrad zugesprochen werden kann (Fritz Rott, Ignaz Kaup, Peter Krautwig, Hans Reiter, Wilhelm von Drigalski, Carl Coeper, Hugo Klose, Franz Redeker, Erich Schröder, Franz Ickert und Alfred Beyer), von denen die meisten zu einem früheren oder späteren Zeitpunkt in Nationalsozialismus und/oder Kommunismus verstrickt waren. Hinzukommen die Arbeitsmediziner Franz Xaver Koelsch und Ernst Wilhelm Baader (zu den Namen vgl. auch Tab. 6).
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deutschsprachigen Raum die Sozialhygieniker wissenschaftsgeschichtlich vorgestoßen sind und damit ihren Wissenschaftskollegen in aller Welt voraus gewesen sein müssen. Die deutsche Sozialhygiene im 1. Drittel des vorigen Jahrhunderts definiert sich von Beginn an in Ableitung aus Wissenschaft. Sozialhygiene als Wunderwaffe sozialer Geisteshaltung im wirtschaftlich und politisch umgetriebenen Deutschland vor und nach dem 1. Weltkrieg gibt es nur als Amalgam von Wissenschaft und Praxis oder gar nicht. Darin (nur darin!) ist sie einzigartig, unvergleichlich in Europa und in der Welt. Sozialmedizin, Public Health, Gesundheitspflege, Präventivmedizin, ja auch Sozialhygiene begegnet uns in der Geschichte immer wieder und fast überall, aber vor und außerhalb ihrer deutschen Epoche nirgend im Gewande einer wissenschaftlichen legal-formellen Institutionalisierung von Fachgebiet und Profession, von Entwurf, Durchführung und Entwicklung. Die Ideen waren da, nur nicht, wie nunmehr in Deutschland, in einem wissenschaftlichen reziproken Bezugssystem zwischen Krankheit/Armut und Bevölkerungsgesundheit nach Art eines Regelkreises verflochten (s. vor allem Kap. 12.4). Der Gedanke, die vielfältigen, auf Bevölkerungsgesundheit im weitesten Sinn gerichteten sozialhygienischen Initiativen und Handlungsmuster in der Gesellschaft mit hochschulwissenschaftlicher Fundamentierung zu verbinden und durch theoretische Grundlegung zu sichern, ist eine deutsche Konzeption und in dieser Form in der Zeit ohne Vergleich. Die frühen Sozialhygieniker – an ihrer Spitze Forscher deutsch-jüdischer Herkunft – wollten ihr Fach nicht in Abhängigkeit von privater Beliebigkeit oder örtlicher Zufälligkeit, sondern verankert im öffentlich-rechtlichen System. Mit der Verwissenschaftlichung bzw. Akademisierung im wörtlichen Sinn (Universität, Akademien, Frauenfachschulen) gelang der Sozialhygiene in Deutschland die institutionelle Legalisierung in einer liberalistischen Gesellschaft. Die Sozialhygieniker erweisen sich im Kampf um wissenschaftliche Professionalisierung, um den akademisch-universitären Status ihres Fachs »Gesundheitswissenschaft« (Gottstein, Fischer) in ihrer frühen Gestalt als unmittelbare Vorläufer unserer heutigen Gesundheitswissenschaften. Es ist hier also nicht der Ort für einen dezidierten internationalen oder europäischen Vergleich, wie er für die Zeit nach globaler Verwissenschaftlichung und Institutionalisierung primäre öffentlicher Gesundheitsbelange angemessen erscheint.3 Weil das Konzept der Einheit von Wissenschaft und Praxis in der Sozialhygiene in der Welt in dieser entschiedenen Form noch nicht existierte, z.B. auch keine speziellen Ordinariate bestanden (nicht einmal für die vor der Sozialhygiene weltweit favorisierte Eugenik!)4, erübrigt 3 | Von daher ist in dieser Arbeit eine vergleichende Untersuchung sozialhygienischer Konzeptionen in den europäischen Ländern und im angloamerikanischen Raum nach Art der soziologisch-historiographischen Methode der entangled modernities nicht beabsichtigt und nicht indiziert. 4 | Kühls Buch über die eugenische Internationale (1997), die als Vorbild für vergleichendes Vorgehen erachtet werden könnte, schildert eine modische und rela-
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sich der explizite Vergleich, so sehr die »nationale Perspektive« dadurch überbetont erscheint. Die deutsche Sozialhygiene, vorangetrieben durch Grotjahn und ihre deutsch-jüdischen Avantgardisten, nimmt zu Beginn des 20. Jahrhunderts aufgrund ihrer Struktur, Geschlossenheit und Effizienz als Vorläufer der modernen Gesundheitswissenschaften weltweit einen einzigartigen Platz ein, ja, sie ist (frühe) Gesundheitswissenschaft, wie Gottstein bereits 1907 erkannt hat, die nur durch ein Unrechtssystem wie den Nationalsozialismus zu einem gewaltsam-schroffen Ende gebracht werden konnte. Eine international vergleichende Geschichte der Sozialmedizin legte René Sand 1952 vor. Angesichts der Stoffmassen begnügte er sich damit, die Entwicklung überwiegend in Stichworten zu zeichnen und – wenn auch begleitet von eigenem Urteil – in chronologischer Folge mehr tabellarisch Sachverhalte, Jahreszahlen, Namen, Literaturtitel etc. aneinanderzureihen (streckenweise i. S. einer gründlichen, erweiterten Bibliographie). Für ihn beginnt die Entwicklung der modernen sozialen Medizin in Europa und im angelsächsischen Raum einigermaßen gleichzeitig am Ende des 19. Jahrhunderts. Seine Kriterien für die neue Gesundheitsrichtung sind zeitgenössische Definitionsansätze, Arbeitsgesetze, Publikationen, vor allem Periodika, Gesellschaften, Beratungsstellen und »lectures«. Fortschritt und Gewinn der Sozialen Hygiene in Deutschland, die allein deren Besonderheit begründen, nämlich ihre Eingliederung in das Wissenschafts- und Hochschulsystem, ihre Focussierung auf Bevölkerungsgesundheit und ihre Verbindung mit einer einheitlichen, halbamtlich organisierten Gesundheitsfürsorge, traten allenfalls punktuell in sein Gesichtsfeld. Der problemgeschichtliche Aspekt einer bevölkerungsweiten Verallgemeinerung über private Initiativen hinaus, wie sie durch die deutsche Sozialversicherung eingeleitet wurde, entgeht ihm weitgehend. Dennoch scheint auch er insgesamt der deutschen Sozialhygiene eine Prärogative einzuräumen. »In Germany, where public health was already firmly grounded [...]«, »[...] the first courses in social medicine [...], the first seminars, the first periodicals, the first associations and also the first Manual«; Grotjahns »Soziale Pathologie« 1911 als »the first general treatise to take the study of social factors right to the heart of medicine«, »(the) first professorial chair [...] at Berlin 1920«.5 – Auch George Rosen unternahm 1947 in aller Kürze einen internationalen Vergleich mit dem Ergebnis der damaligen deutschen Führungsrolle in der Sozialmedizin: »Die in Deutschland entwickelten sozialmedizinischen Konzepte [...] beeinflußten weitgehend die theoretische Entwicklung dieses Gebietes in anderen Ländern, besonders in Mittel- und Osteuropa [...]. Das sozialmedizinische Denken in tiv kurzlebige weltweite Bewegung, die im Rahmen nationaler und internationaler Gesellschaften, Weltkongresse etc. um Anerkennung ihrer Anschauungen als Wissenschaft und deren Etablierung in gesellschaftlich sanktionierter Praxis kämpfte und sich dabei verbrauchte, ohne ihre angestrebten Ziele jemals zu erreichen. 5 | Sand 1952, S. 515f., 511.
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der Sowjetunion wurde weitgehend von den Ideen Grotjahns beeinflusst.« Für den Westen gilt: »Erst jüngst«, d.h. gegen Ende des 2. Weltkriegs, erwachte in Großbritannien und den USA »das Bewusstsein für die Notwendigkeit einer Abfassung eines sozialmedizinischen Konzeptes«. Man hatte versäumt, die zahlreichen sozialmedizinischen Einzelerkenntnisse »auf eine einheitliche Grundlage zu stellen und sie dadurch für die praktische Anwendung fruchtbar zu machen«.6 – Vollends sieht Ludwig Teleky noch 1950 im amerikanischen Exil Deutschland im internationalen Wettbewerb auf dem sozialmedizinischen Parcours auf der Zielgeraden, s. unser Referat über die vergleichende Analyse Telekys 1950, Kap. 18.
Zur Gesamtschau der Sozialhygiene unter dem Gesichtspunkt neuerer Wissenschaf tsentwicklung und Geschichtsforschung Schaut man zurück auf die Anfänge der modernen Gesundheitswissenschaften in Deutschland, erblickt man fernab in der Wissenschaftslandschaft ein mächtiges Massiv, das sich am durch zwei Weltkriege verdunkelten deutschen Geschichtshorizont abzeichnet: die Sozialhygiene. Das Massiv ist erstiegen, aber nicht ausreichend begangen und kartographiert. Erst Jahrzehnte nach Ende des 2. Weltkriegs begann die Exploration und Ausgrabung vergessener und verschütteter Strukturen der deutschen Sozialgeschichte aufgrund zweier ganz unterschiedlicher Initiativen zur Aufarbeitung und Vergegenwärtigung. 1. Ende der 80er Jahre wurden in Deutschland nach längerer Vorarbeit die Gesundheitswissenschaften begründet. Natürlicherweise ergab sich in diesem Zusammenhang die Frage nach ihrer geschichtlichen Legitimierung. Man wusste von dem Gesundheitswissen früherer Wissenschaftsgenerationen in unserem Land, ja vom zeitweiligen historischen Rang und Vorsprung der deutschen Gesundheitskultur in der Welt und drängte nunmehr nach Erforschung der Details. 2. Im letzten Drittel des vergangenen Jahrhunderts kam es unter Mitwirkung der angelsächsischen Historiographie in der deutschen Historikerschaft – im Kontrast zu einer gewissen der letzteren anhaftenden Nachkriegsstarre – zu einem Umschwung in Problembewusstsein und Zielverständnis, vor allem bei den Medizin- und Sozialhistorikern. Maßgebend wurde dabei die Umstellung auf die »zeitgeschichtliche« Erforschung der deutschsprachigen Emigration aus den Heimatländern 1933 unter der nationalsozialistischen Diktatur und des Todesschicksals der politisch und rassisch Verfolgten.7 6 | Rosen 1947, S. 337, 339f. 7 | Begründung der Gesellschaft für Wissenschaftsgeschichte 1965 durch Karl E. Rothschuh und Heinrich Schipperges (Gründungsversammlung 1965 in Müns-
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Bei den Sozialhygienikern unter den geächteten Wissenschaftlern liegen noch besondere Verhältnisse vor. Die Nationalsozialisten bereiteten dem wegen seiner Personalbesetzung (jüdische und kommunistische Mitarbeiter) und wegen seiner Hilfestellung für die sozial Schwachen verhassten Wissenschaftsfach8 nicht nur ein jähes Ende durch Verbot, sondern ließen es regelrecht ausbluten durch Vertreibung ihrer Repräsentanten ins Exil oder deren Liquidation im KZ. Exodus und Ermordung nach 1933 bedeuteten mitnichten einen Aderlass für das Fach, sondern durch Eliminierung des Personalstamms definitiv die Exekution. – Erst die Liste der durch das NSRegime verfolgten, nicht ausschließlich politisch »stigmatisierten« Sozialhygieniker vermittelte einen Begriff davon, wie stark die Sozialhygiene von Führungspersönlichkeiten und Gestaltungskräften jüdischer Provenienz geprägt war.9 Freilich genügt die rein numerische Vertretung der jüdischen Wissenschaftsfraktion in der Sozialhygiene nicht zur Einordnung in eine virtuelle Größe nach Art einer deutsch/deutsch-jüdischen Kulturkoinzidenz. Das entscheidende Kriterium der geschichtlichen Existenz einer solchen sektoralen Wesenskongruenz könnte nur der Ideenstrom sein, der die jüdischen Wissenschaftler im späten Kaiserreich und in der Weimarer Republik erfasste und den sie in den real existierenden Systemen ihrerseits zu verstärken vermochten. Wir sehen also das Verhältnis zwischen deutschen und deutsch-jüdischen Wissenschaftlern in der Sozialhygiene vor und nach dem 1. Weltkrieg in Deutschland eher im Sinne eines strukturalistischen Modells. Nach all der in den letzten zwei Jahrzehnten geleisteten Einzelexploration aus Quellen, Archiven, Nachlässen, Aufzeichnungen von Interviews und Zeugenbefragungen10 gilt es nun, zu einer Synopse der gewonnenen Einzelerkenntnisse zu gelangen und unter Berücksichtigung der beruflichen Lebens- und Leistungsdaten der verschiedenen Autoren auch ergo/ literarographisch anhand des gedruckten wissenschaftlichen Quellenmaterials ihre Wirkungsvielfalt im Gesamtzusammenhang ihres Handelns zu veranschaulichen. Diese Arbeit ist bisher in extenso unterblieben.11 Auf den ter/Westf.); Roeder et al. 1980, 1983; bis Anfang der 70er Jahre war auf zeitgeschichtlichem Gebiet die Überlieferung »desolat«, Roeder et al. 1980 I, S. IX. – Zur wachsenden Bedeutung einer Geschichte der sozialen Medizin s. auch Thomann 1979, S. 251. 8 | Eckart 1994 (2. Aufl.), S. 288. 9 | Vgl. Kap. 1 und 13. 10 | Gegenüber dem »Zeitzeugen« (im Gegensatz zum Tat- und opferseitigen Augenzeugen) zumindest aus DDR-Zeiten zeigt man in Historikerkreisen inzwischen eine kritischere Einstellung, Die Geburt des Zeitzeugen nach 1945 (Konferenz), Jena Center Geschichte des 20. Jahrhunderts und Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam, FAZ vom 30.12.2008, S. 33. 11 | Unvollständige Darstellungen von Original-Monographien, flüchtige Überblicke selbst über Periodika fi nden sich in den im Literaturverzeichnis angegebenen Einzelarbeiten, besonders in jüngeren Dissertationen. Die großen Hand-
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heutigen Wissenschaftshistoriker wartet die für die gegenwärtige Wissenschaftspraxis wichtige Aufgabe, in synoptischer Darstellung das gedruckte Quellenmaterial der Sozialhygiene in modernem Sprachgewand in enger Verbindung mit dem praktischen Lebenswerk der Autoren soweit wie möglich zu erschließen und damit ein längst fälliges Gesamtbild dieser denkwürdigen Kulturerscheinung aufzurichten. Mit der vorliegenden Arbeit glauben wir, einen weiteren Spatenstich zu den bereits erfolgten zur Rekonstruktion der originalen Sozialhygiene im Interesse eines nicht weiter zu verzögernden Baubeginns hinzugefügt zu haben. Die Anwendung einer ergo-biographischen Methode mit problemgeschichtlicher Zweckausrichtung sehen wir dabei als das besondere, aber wesentliche Moment. Schon einmal zeitigte diese Arbeitsweise in Louis R. Grotes Sammlung ärztlicher Auto-bio-ergographien eindrucksvolle Ergebnisse in redaktionell optimaler Form.12 Die anzuwendende Methodik (Druckschriftquellenstudium bzw. Literaturauswertung) unterscheidet sich natürlich nicht prinzipiell von der klassischen und der neueren historischen Vorgehensweise. Beide sind quellenorientierte Personen- und Zeitalterforschung und eng aufeinander bezogen. Archivalische und technisch-kommunikative Erforschung der Zeitdokumente und ihre Entzifferung vor Ort an den Originalschauplätzen ermöglichen die Rekonstruktion eines Gesamtbilds aus den materiellen Zeitzeugnissen (Biographie). Die Auswertung des gedruckten Quellenmaterials erschließt, über diesbezügliche Befunde in der Biographie hinaus, weitere persönlichkeits- und problemgeschichtliche Hintergründe (Literarographie, literarische Ergographie). Im Idealfall sind beide Methodenansätze kombiniert (Bio-ergo-graphie, Lebens-Zeit/Person und literarisches Werk). Für die Aufarbeitung der Geschichte der deutschen Sozialhygiene, ihrer Gründungsphase, Blütephase, Emigration und Extinktion kann man sich diese Kombination nur wünschen. Bisher ist eine solche Arbeit im Sinne einer Totalansicht noch kaum in Angriff genommen worden. Ziel unserer Arbeit ist es, auf dem Gebiet der größten historiographischen Defizienz, der eingehenden Sachinformation über den Gegenstand der Sozialhygiene als Wissenschaft, zur Kenntnisnahme der originalen Wissenschaftsinhalte für eine spätere historische Standardversion zu ermuntern.
bücher wurden bis dato, abgesehen von einzelnen Zitaten meist aus den Vorworten, nahezu total vernachlässigt. 12 | Grote 1923-1925, Bd. 1-4.
Teil I Geschichtlicher Werdegang 1848-1900
1. Gesundheitswissenschaf ten (Health Sciences, Public Health) in Deutschland – Creatio ex nihilo oder Frucht spezifischer Tradition?
1.1 Zur Traditionsberufung deutscher Gesundheitswissenschaf tler auf die Sozialhygiene Entstanden die Gesundheitswissenschaften in Deutschland, die seit den 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts einen atemberaubenden Aufschwung erleben, auf Neuland, auf bisher allenfalls ungenügend beackertem Feld? Oder haben sie eine für dieses Land charakteristische Tradition? Der Gedenktag an das Zentenarium der deutschen Sozialhygiene als Wissenschaft – irgendwann zwischen 1997 und 2004 – scheint freilich versäumt. Verfehlten damit die neuen deutschen Gesundheitswissenschaften am Anfang des Jahrhunderts ihrer eigenen glanzvollen Epiphanie die endgültige Rezeption des monumentalen Erbes dieses erstaunlichen Interregnums öffentlichen Gesundheitswissens in Deutschland? Vor über 100 Jahren dominierte nach dem Urteil der meisten Experten die deutschsprachige Sozialhygiene das Gebiet öffentlicher Gesundheitsbelange in der Welt, so wie heute auf dem gleichen Gebiet aufgrund einer »kontinuierlichen Entwicklung« die USA mit (New) Public Health (Health Sciences) den internationalen Spitzenplatz einnehmen.1 Unter Sozialhygiene versteht man – so sei es vorläufig in Kurzform formuliert – die Wissenschaft und Praxis, deren Akteure dafür eintraten, möglichst alle Antagonismen in der Gesellschaft und umgebender Kulturwelt gegen Gesundheit aus dem Wege zu räumen, letztlich auf Bevölkerungsbasis eine gesunde Gesellschaft zu schaffen und von daher das Recht des Einzelnen auf Gesundheit und öffentliche Krankheitsverhütung zusammen mit den entsprechenden Wertvorstellungen in der Gesellschaft zu verankern. Wenn heute in der Literatur die Forderung nicht verstummt, die Tra1 | Hurrelmann/Laaser 2004, S. 20, (Übergang des Spitzenplatzes auf die USA) 28; Schwartz 1991, S. 12; Laaser et al. 1990, S. 19; vgl. die Grundtendenz in der Darstellung von Teleky 1950.
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ditionsanteile aus der Sozialhygiene in den Gesundheitswissenschaften aufzuzeigen und auch zur Geltung zu bringen, verdienen diese Stimmen aus mehreren Gründen dringliches Gehör. Die deutsche Sozialhygiene ist nicht eine unter vielen nationalen und internationalen Vorläufererscheinungen,2 nicht nur ideelle oder extern-partielle Vorform, die schließlich im Gesamtbild der modernen Gesundheitswissenschaften aufgeht. Sie ist vielmehr innerhalb des Fachbereichs primär-intern, gleich zu seinem Beginn in Deutschland elementarer Grundstock der Gesundheitswissenschaften, von denen sie eben dadurch ein immer auch das Ganze repräsentierender Teil ist. Ein Aspekt der angesprochenen Traditionsberufung berührt eine Saite der psychologischen Lebenswirklichkeit selbst. Für den einzelnen wie für eine Institution oder Wissenschaft bedeutet es eine Komplizierung der Ausgangslage, ohne Hintergrund aus dem leeren Raum heraus handeln zu müssen. Wer Geschichte hat, wird auf Geschichtsbezug nicht verzichten, um seinen Standort zu halten. Die Sozialhygiene liefert vom Konzept her die Vorgeschichte zu den Gesundheitswissenschaften in Deutschland. Diese gewinnen durch Anschluss an die vorgeschaltete eigene Kulturtradition Profi l und defi nitives Gepräge. Tradition verortet die Gesundheitswissenschaften, lenkt sie auf ihre historische Position hin. Sie werden dadurch auch zur historisch definierten Disziplin. Der die neue Wissenschaftsdisziplin kennzeichnende Begriff lässt sich von daher nicht als solcher, wie es von seiten der Labisch-Gruppe geschieht, historiographisch formalisieren und ausweiten, um ihn als hermeneutische Handhabe beim Erschließen mehr disjunkter historischer Entwicklungen einzusetzen. Freiheit der Forschung hängt auch ab von Bindung an Traditionsmuster, die den Funktionen des Werte-Transfers und der ethischen Navigation gerecht zu werden vermögen.3 Voraussetzung für den Stellenwert der Sozialhygiene in der Geschichte der deutschen Gesundheitswissenschaften ist der neuartige Denk- und Handlungsstil, in dem beide Wissenschaftsformationen im Vergleich zur naturwissenschaftlich-biologistischen Anschauungsweise der Medizin analoge Gesundheitsthemen erfassen und verarbeiten. Ein solcher Theorie und Praxis durchdringender Denkauf bruch steht im Zusammenhang mit Industrialisierung und Vermassung sowie durchaus noch im Gefolge von Aufklärung und Säkularisation. Die Sozialhygiene erkannte seinerzeit als ihre Aufgabe, eine unreflektierte und ungeordnete Sozialaktivität auf allen Praxisebenen der Massengesellschaft in Deutschland unter den hier gegebenen politischen und ökonomischen Bedingungen auf neue Weise nach wissenschaftlichen Kriterien zu koordinieren und damit effizient zur Massenwirksamkeit zu verhelfen. 4 Zwischen heutigen Gesundheitswissenschaften und 2 | Labisch/Woelk in: Hurrelmann/Laaser 2004, S. 49ff., vgl. auch die durchgehende Auffassung in in Labisch 1992 und Labisch/Tennstedt 1985. 3 | Evident im Zeitalter von Organtransplantation, apparativer Organsubstitution und Gentechnologie, vgl. Hurrelmann/Laaser in: dies. 2004, S. 23. 4 | Der Begriff »Masse« bezieht sich hier und im ganzen Buch auf das rein nu-
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Sozialhygiene herrscht Einigkeit in Wissenschafts- und Gestaltungsmentalität. Grundanschauungen und Zielvorstellungen sind, berücksichtigt man den kleineren Rahmen der älteren Schwesterdisziplin, in vielfältiger Weise kongruent. Die Entwicklung zeigt, dass Public Health und New Public Health die Originalität des Denk- und Handlungsansatzes, wie sie erstmals in der deutschen Sozialhygiene auffiel, durchhalten konnten. Geschichtliche Überlieferungskräfte vermochten jedoch die beiden Zeitschluchten der NSHerrschaft und der Neuausrichtung im geteilten Nachkriegsdeutschland zwischen Sozialhygiene und neuen Gesundheitswissenschaften nur ungenügend zu überbrücken. So wurden die Paradigmen zwischen den beiden Wissenschaftsgebilden weitgehend nicht direkt über geschichtliche Tradition weitergeleitet, sondern indirekt mittels internationalen Transfers. Als man Ende der 80er Jahre des vorigen Jahrhunderts daran ging, Public Health (Gesundheitswissenschaften) als Wissenschaft und Praxis auch in Deutschland nach internationalem Standard zu begründen, konnte es die Absicht nicht sein, »ein angelsächsisches Konzept auf deutsche Verhältnisse zu übertragen«. Vielmehr war man sich bewusst, dass das Unternehmen auf historischem Grund erstellt wurde, dass es zugleich Strukturen originärer deutscher Wissenschafts- und Gesellschaftsgestaltung innnerhalb der Sozialhygiene nach Jahrzehnten des Verschollenseins in der alten Bundesrepublik oder der politischen Deformation in der ehemaligen DDR über kontinental-europäische und angelsächsische Vorbilder zur Rückkehr ins Ursprungsland verhalf.5 Schon zu Beginn, im Vorbereitungsstadium der Begründung, prägte sich bei den führenden Experten das Bedürfnis aus, in klarer Entscheidung an das alte, in der Obhut ferner fortschrittlicher Wissenschaftszentren lebendig gebliebene Traditionsgut anzuknüpfen.6 Das Traditionsgut ist reich – heute bewahrt im gewaltigen Literaturberg der Sozialhygieniker, in ihren Handbüchern, Lehrbüchern, Monographien, Jahresberichten und zahlreichen Periodika mit sorgfältig redigierten Publikationen. Es hätte virtuell, jenseits seines faktischen historisch-politischen Schicksals, in der Nachkriegszeit genutzt und ausgewertet, modifiziert und den veränderten Verhältnissen angepasst und viel früher in die neue Richtung von Public Health einfließen können. Vielleicht hätte es einen Beitrag dazu leisten können, das Auseinanderdriften der Extremgruppen »reich und arm«, »sozial belastet und sozial autonom«, d.h. soziale Ungleichheit zu verhindern oder zu mildern und im Großprojekt einer freiheitlichen Bevölkerungsgesundheit den gesellschaftlichen Frieden dauerhaft zu sichern. merische Phänomen, auf die Notwendigkeit, bei einer großen Zahl von Individuen praktisch anders und nach anderen Gesetzen zu handeln als beim Einzelnen. Theorie und Ideologie des Massenbegriffs, wie sie Ortega y Gasset 1930 verhandelt, halten sich bei uns im Hintergrund. 5 | Laaser/Schwartz 1992, S. Vf. 6 | Badura in: Schwarzer 1990, S. 51; Laaser et al. 1990, S. 3; Hurrelmann/Laaser in: dies. 1993, S. VII und 9; dies. in: Hurrelmann/Laaser Neuausgabe 2004, S. 11, 20.
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Der national-externe Ausbreitungsweg des deutschen sozialhygienischen Gedankenguts in die internationalen Gesundheitswissenschaften erscheint mir keineswegs wissenschaftlich eindeutig geklärt. Der internationale Kontakt der Exponenten der deutschen Sozialhygiene z.B. mit den statistisch-epidemiologisch brillianten Kollegen jenseits des Kanals hielt sich durchaus in Grenzen.7 – In der neueren Literatur wird gerne angenommen, dass der Exodus der »führenden« Sozialhygieniker unter dem NS-Regime einen »Transfer wissenschaftlicher Arbeitskraft und Impulse in den nordamerikanischen Raum« zur Folge gehabt habe8 – ein Potential, das dann später in das Ursprungsland zurückgestrahlt haben könnte. Angesichts der rigiden gesetzlichen Restriktionen für die Ausübung des Arztberufs durch Exilanten, die nur einige wenige Medizin-Koryphäen verschonten, dafür aber besonders die der Hölle entronnenen jüdischen Kollegen weltweit dem Schock einer zweiten Tragödie der eigenen Art aussetzten, dürfte dies kaum der Fall gewesen sein. Eher kann davon ausgegangen werden, dass vor allem jüngere, zwar weniger hochrangige, aber in Deutschland wissenschaftlich und technisch exzellent ausgebildete, praktisch orientierte Sozialhygieniker in den USA den Weg in die professionelle Sozialarbeit einschlugen und einige von ihnen später – längst integriert in die amerikanische Version von Public Health – zur Ebene akademischer Lehre und Forschung aufstiegen.9 – Für die Weltgeltung der deutschen Sozialhygiene über 1933 hinaus dürfte die von den Meistern geschaffene Literatur, vor allem die Handbuchliteratur, von entscheidender Bedeutung gewesen sein. Es ist keine Frage, dass das 6-bändige »Handbuch der Sozialen Hygiene und Gesundheitsfürsorge« (Berlin 1925ff.) in der internationalen Fachwelt als untrüglicher Leitstern gedient hat. Teleky bescheinigt im Exil 1950 dem von ihm mitherausgegebenen Standardwerk ausdrücklich seinen Meilensteincharakter. In der Tat war es den jüdischen Herausgebern gelungen, mit dieser Gesundheits-Enzyklopädie ein nicht nur national, sondern auch international stets wahrnehmbares 7 | Die »Forschungen« Grotjahns bei Spaziergängen durch die Slums im East End von London wirken ungeachtet nachfolgender Veröffentlichung der »Ergebnisse« gleich in 2 Publikationen erschreckend dilettantisch (»unkonventionell«, Kaspari 1989, S. 71f.); vgl. Grotjahn: Industriestaat, 1904, S. 84ff.; ders. in: Weyl 1904, II, S. 727ff. – Georg Wolffs Zusammenarbeit mit Major Greenwood in London stellt die rühmliche Ausnahme in der internationalen Kontaktschwäche des deutschen sozialhygienischen Lagers dar, Greenwood/Wolff 1928. 8 | Schwartz/Badura 1991, S. 13; nach Laaser profitierte die 1916 gegründete älteste School of Hygiene and Public Health in Baltimore von den »German advances in the biological health sciences being made in Germany at that time«, also einem Informationsstrom ähnlich dem des angenommenen späteren exilbedingten Wissenstransfers, ders. 1990, S 19; Sigerist 1947, S. 557, vgl. Gebhard 1967, in: Lesky 1977, S. 429f.; Schneck in W. Fischer et al. 1994, S. 497. 9 | S. die Sammlung vorbildlich durch Interview und Zeitzeugen recherchierter Kurzbiographien von 34 nach den USA emigrierten Sozialexperten in: Wieler/ Zeller, 1995.
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Orientierungszeichen zu setzen. Eine ähnliche Funktion könnte auch die von Gottstein in 7 Bänden herausgegebene »Handbücherei für das gesamte Krankenhauswesen« (Berlin 1930) ausgeübt haben. Wir dürfen also davon ausgehen, das deutsche sozialhygienische Inhalte auf welchem Übermittlungsweg auch immer international in Public Health präsent waren und so in den 80er Jahren in die neuen deutschen Gesundheitswissenschaften zurückfließen konnten. Der Re-transfer sozialhygienischen Gedankenguts aus dem internationalen Ausland über Literatur und/ oder Rückkehrer bildete den Grundstock für die Traditionsberufung der neuen deutschen Gesundheitswissenschaften. Die Übermittlung sozialhygienischer Materialien in unsere Zeit erfährt aber möglicherweise eine Unterstützung noch durch andere Mechanismen. Die Sozialhygiene verfiel 1933 dem Untergang als funktionierende sozialpolitische Größe, ihre geistig-wissenschaftliche Substanz dagegen ließ sich jedoch von den Gewaltherren nicht mit einem Federstrich auslöschen. So konnte die Sozialhygiene die mörderischen zwölf Jahre trotz blutiger Opfer auf höchster Ebene mit ihren grundlegenden Erkenntnissen, einem Teil ihres angestammten Personals und ihren klassischen Grundstrukturen im Volksinnerem, gleichsam im Untergrund keimhaft überdauern. Die Überlieferungsmechanismen für diese Keime liegen alles andere als offen zu Tage, sondern wurden durch Nazidiktatur und historiographisches Urteil eher verschleiert. Als Faktoren im Hintergrundsbewußtssein beim Auf bau der neuen Gesundheitswissenschaften sollte man diese kleineren Traditionsbausteine nicht übersehen. Noch drei Schienen kommen in Betracht, auf denen sozialhygienisches Gedankengut in die moderne Version der deutschen Gesundheitswissenschaften einmünden konnte. 1.) Mittlere und kleine Gesundheitsberufe. Ungeachtet der diesbezüglichen historiographischen Schwierigkeiten erwähnen wir als erstes die personelle Schiene. In unserer Arbeit richtet sich das Hauptaugenmerk auf die »Großen«, die literarischen Inauguratoren und zeitgenössischen Mitgestalter. Die Ersteren standen in der Zeit um 1933 in ihren letzten Lebensjahren (Grotjahn verstarb 1931). Hinter den Avantgardisten formierte sich indes das Heer ihrer Schüler und praktizierenden Adepten. Am ehesten sind es die überlebenden Anhänger der mittleren und unteren Rangordnung, die unbekannten Gefolgsleute – praktizierende Sozialhygieniker aller Sparten, Ärzte, Fürsorgeberufe u.a. –, die mit den vermittelten Wissenschaftsinhalten über den geschichtlichen Hiatus hinweg als Mediatoren gewirkt haben können. 2.) Gesundheitsinstitutionen. Als weiterer Überlieferungsweg dürfte die institutionelle Schiene anzusehen sein. Zwar verwandelten sich die Gesundheitsämter in Hochburgen des Rassenwahns, in deren äußersten Winkeln aber traditionelle Fürsorgesparten bis weit in die Nachkriegszeit »überwintern« konnten.10 Unser Ausgangspunkt ist hier wohlgemerkt 10 | Die Nazis, die während ihrer Herrschaftszeit in den Gesundheitsämtern
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die Sozialhygiene als praxissteuernde Wissenschaft. Als solche war sie durch den Naziterror dem Untergang geweiht, ihre Wissenschaftsfunktion als Instanz für Analyse (Deskription) und begründete Handlungsanweisung (Normierung) im sozial bedingten Gesundheitsbereich erloschen. Dennoch fanden ihre Inhalte über Nazismus und Nachkriegszeit im geteilten Deutschland in einer allerdings verunsicherten, eher mehr als weniger alleingelassenen sozialhygienischen Praxis ihre Fortsetzung, schließlich gelang mit dem alten nachklingendem Themenkatalog auch intern der Anschluss an die neuen Gesundheitswissenschaften. 3.) Die Sozialmedizin. Die Sozialmedizin in der Bundesrepublik, eine nach dem Krieg sich erst allmählich konsolidierende Gesundheitssparte, blieb im Wissenschaftsbetrieb und im Alltagshandeln in vielen Punkten der Sozialhygiene verpflichtet, dazu waren deren Erkenntnisse zu modern. In diesem Sinn erfüllt die Sozialmedizin vom Damals zum Heute zweifellos eine Brückenfunktion. Sie unterscheidet sich in erster Linie von der Sozialhygiene darin, dass ihr der Wille zur Systematisierung von Gesundheit im Gesellschaftsleben fehlte. Stellten auch Privatisierung der Gesundheitsaufgaben und liberalistische Schwächung des Staats- und Regierungsanspruchs auf Mitgestaltung der öffentlichen Gesundheit die »alte« Sozialhygiene ins Abseits, so verebbte der Nachhall ihrer Prinzipien jedoch niemals.11
400.000 Sterilisationen, in Einzelfällen mit tödlichem Ausgang, veranlassten und auf dem Gebiet des Eheschließungsbegehrens zahlreiche psychologische und psychosoziale Untaten verübten, verstanden es angeblich dennoch, in ihren Gesundheitsämtern die Gesundheitsfürsorge zu verbessern, J. Vossen in: Schagen/Schleiermacher 2005, 4. Teil Texte, Beitrag Nr. 5, S. 15. 11 | Zur überschlägigen Information s. Schäfer/Blohmke 1972.
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Nr.
Disziplinen
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Spezielle Funktionen
Autoren
1
Interdisziplinarität
alle
2
Umwelt
alle
3
Bevölkerungsforschung Bevölkerungsmedizin, Biometrie
Gottstein A. Fischer
4
(Anthropometrie)
Gottstein Wolff
5
Sozialepidemiologie (Gesellschaft und Gesundheit) und klinische Epidemiologie
Gottstein
6
Prävention
alle
7
Gesundheitsförderung
8
Sexualberatung
9
Sozial- und Gesundheitsfürsorge
10
Gesundheitssystemforschung
11
Rehabilitation
14
Interventionelle Gesundheitsprogramme Gewerbehygiene (Arbeitsmedizin) Sozial- und Gesundheitspolitik
15
Bildungspolitik
12 13
Aufklärung und Prävention
Gottstein A. Fischer Hodann
Eheberatung, Mütterberatung, Säuglingsfürsorge, Kleinkinderfürsorge, Schulgesundheitspflege, Jugendfürsorge, Sexualberatung, Früherkennung, Risikofaktoren, funktionelle Belastungsstörungen (»Verwahrlosung«) Gesundheitsökonomie, Gesundheitsmanagement (Krankenhauswesen, Krankenkassenwesen); gleicher Zugang – Egalität in Morbidität und Mortalität; Deskriptive und analytische Gesundheitsberichterstattung über Landesversicherungsanstalten Regelung von Arbeitsund Lebensbedingungen, Lebensstil (Verhalten)
Gottstein A. Fischer Schlossmann Hodann
Grotjahn Gottstein Goldmann Wolff
Gottstein A. Fischer alle Chajes Teleky alle Gottstein A. Fischer
Tabelle 1: Einige in der Tradition der Sozialhygiene vorgegebene Aufgabenbereiche von Public Healt (Namen in Kursivschrift = Sozialhygieniker jüdischer oder teilweise jüdischer Familienabstammung)
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1.2 Wissenschaf tstheoretische und historische Traditionsverpflichtung Im Zusammenhang mit der Sozialhygiene geht es für die Gesundheitswissenschaften (Public Health, Health Sciences) in Deutschland historisch nicht nur darum, an ihrer Traditionsberufung festzuhalten, sondern sich auch ihrer Traditionsverpflichtung bewusst zu werden. Die Gesundheitswissenschaften, die immer auch wissenschaftlich begründete Praxis einschließen, verweisen gerade auch in ihrer epidemiologischen Ausprägung auf ihren exklusiven Wissenschaftscharakter. Im Zusammenhang mit Historie kennzeichnen diesen u.a. zwei Merkmale: Einmal gehört es zur Systematik von Wissenschaft, aus dem in der Vergangenheit angesammelten Material korrekt zu zitieren. Zum anderen besitzt Traditionsgut unverlierbaren heuristischen Wert. Unter den Sozialhygienikern waren es A. Fischer und Gottstein, die diesem Umstand explicit Rechnung trugen. Die Frage »Quo vadis« kann immer nur aus der sich selbst perpetuierenden Geschichte eines Wissenschaftsstoffs beantwortet werden. – Der Begriff der Wissenschaftlichkeit im gesellschaftlichen Raum wird inhaltlich mit davon bestimmt, ob er nur gegenwartsbezogen, aus den Bedürfnissen des Alltags abgeleitet wird oder im Rahmen einer Theorie des Wissenschaftsbereichs auf geschichtlich gewachsenen Prinzipien, d.h. in entsprechender Weise verpflichtenden Traditionen beruht. Gesundheitswissenschaften arbeiten nach ihrem Selbstverständnis nur für die Allgemeinheit, nicht für Interessengruppen oder um der jeweiligen Regierung zu Willen zu sein. Ihre Aufgaben sind jenseits des tagespolitischen Trends die Analyse gesellschaftlicher (sozialer) Gesundheit und die »normative« Ausgestaltung einer angemessenen Bevölkerungsversorgung.12 Sinngemäß formulierte das bereits Grotjahn in seiner Definition der Sozialhygiene 1904. Im Kaiserreich beließ man die durchaus vielfältigen gesundheitlich-sozialen Unternehmungen auf Dauer nicht dem halb inoffiziellen Bereich kasual-karitativer oder öffentlich-humanitärer Instanzen. Die Konstitution der Sozialhygiene als Wissenschaft sorgte für ihre reichsweite Generalisierung und Institutionalisierung durch Anwendung wissenschaftlicher Forschungsergebnisse. Hochburg der Sozialhygiene als Wissenschaft und Praxis wurde Berlin. Beide Items (Wissenschaftsentwicklung und Schwerpunktslokalisation) trugen dazu bei, dass besonders zahlreiche Wissenschaftler deutsch-jüdischer Herkunft am Aufbau des sozial-kulturellen Wissenschaftsgebildes beteiligt waren. Helles Licht auf diesen Umstand warfen erst Exodus und Todesschicksal deutscher Wissenschaftler unter dem NS-Terror seit 1933. Historiographisch erarbeitete man Leistung und Lebensweg der jüdischen Sozialhygieniker in Deutschland nur zum Teil und in Einzeldarstellungen erst am Ende des letzten Jahrhunderts. Bis heute fehlt eine Synopse der in der Sozialhygiene zusammenlaufenden Denk- und Handlungsoptionen im Sinne einer erschöpfenden Monographie über eine im Endeffekt einzigartige deutsche Kulturleistung, an der exzeptionell zahlreiche deutsch-jüdische Wissenschaftler mitarbeiteten. 12 | Vgl. Hurrelmann/Laaser 2004, S. 29ff.
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Letzterer Rang der Sozialhygiene in diesem Sinn bedeutet nicht nur für Historiographen zusätzliche, aus der Tradition herzuleitende Verpflichtung.
1.3 Vom Traditionsanliegen zur Auffassung der Sozialhygiene als Ausdruck deutsch/jüdischer Konsensualität auf speziellem Wissenschaftsgebiet Die vorliegende Arbeit möchte die fachspezifische Historiographie dazu anregen, zum Werk einer zusammenfassenden Geschichte der Sozialhygiene als Wissenschaft hin fortzuschreiten. Ein solches Werk würde mit abschätzbarer Sicherheit als Geschichte einer imposanten deutschen, weitgehend durch deutsch-jüdische Forscher mitgestalteten Kulturleistung ausfallen. Die akademischen Kräfte, die am Wissenschafts- und wissenschaftsbestimmten Praxiskomplex der Sozialhygiene mitwirkten, waren im Vergleich zum Personalstand anderer Disziplinen in außergewöhnlichem Umfang deutsch-jüdischer Familienherkunft. Die überdurchschnittliche Proportion versteht sich sowohl in quantitativer als auch qualitativer Hinsicht. An dieser Stelle müssen wir unsere Aufmerksamkeit für einen Moment der personellen Struktur und Organisation der Sozialhygiene zuwenden. Einesteils lässt sich diese mit einem arbeitsplatzschaffenden Unternehmen von der Größenordnung zumindest eines führenden Dienstleistungsbetriebs vergleichen, das das ganze Reich überzog mit Leitungs- und Ausbildungsschwerpunkt in Berlin. Dieses »Unternehmen« beschäftigte Tausende festangestellte akademische und nichtakademische Arbeitnehmer. Anderenteils verfügte es neben den Ärzten im öffentlichen Dienst (Universitätslehrer, Stadtärzte, Medizinalbeamte, Gewerbeärzte) reichsweit noch über eine unübersehbare Zahl von »ehrenamtlichen« Mitarbeitern aus dem ärztlichen Niedergelassenen-Sektor. Hierbei handelte es sich, besonders in Berlin bzw. Preußen, wo entsprechende Ausbildungsmöglichkeiten am Ort/im Land gegeben waren, um Ärzte bestimmter Fachrichtungen, wie Fachärzte für Haut- und Geschlechtskrankheiten, Pädiater, Frauenärzte, Psychiater, Onkologen u.a.m.13 Auch aus dieser Gruppe gingen im Einzelfall renommierte (oft jüdische) Fachgelehrte hervor wie Schlossmann, Blaschko, Crzellitzer, Haustein etc. Es gehörte zum wissenschaftlichen Programm der Sozialhygiene, möglichst viele »Freiwillige« aus den Reihen der Praktiker für die Sozialhygiene zu gewinnen, die z.T. den gleichen Ausbildungsweg beschritten wie ihre später angestellten Kollegen (Grotjahns sozialhygienische Übungen, die von Gottstein gegründeten Sozialhygienischen Akademien). Allgemein erschwert das »Freiwilligen«-Kontingent aus ärztlichen Praktikern bei Fehlen einer entsprechenden »Signatur« nach Art 13 | Dass unter diesen »Praktikern« der Sozialhygiene viele jüdischer Familienherkunft waren, unterliegt keinem Zweifel und wird durch die Öffnung der Karteien der Kassenärztlichen Vereinigung in Berlin, des Holocaustarchivs in Arolsen und den Zugang zu Einzelforschungsmaterial spezieller Archive in nächster Zeit noch deutlicher zu Tage treten.
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unserer heutigen Zusatzbezeichnungen (etwa »Sozialmedizin« oder »Sozialhygiene«) die Auflistung der »Sozialhygieniker« im Reichsgebiet. Die Gesamtzahl speziell der deutsch-jüdischen Sozialhygieniker lässt sich von daher zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht exakt bestimmen. Die Geschichte der angewandten bzw. praktischen Sozialhygiene aller Laufbahnrichtungen (überwiegend Sozial- und Gesundheitsfürsorge, Betriebsfürsorge, Ambulatorien) erfordert ohnehin gesonderte Bearbeitung. Hierhin gehörten aus dem akademischen Bereich viele Nichtmediziner (Juristen, Wirtschaftswissenschaftler u.a.) sowie aus dem nichtakademischen Bereich vor allem die auf Frauenfachschulen ausgebildeten, staatlich geprüften Fürsorgerinnen, die besonders für Hausbesuche (aber keineswegs nur) zuständigen Schwestern der Gesundheits- und Wohlfahrtsämter, der Beratungsstellen, der Ambulatorien etc. Für unsere Fragestellung (nach dem Ausmaß der Anteilnahme deutsch/ deutsch-jüdischer Urheber und Autoren an der Sozialhygiene als Wissenschaft) ergibt sich kein »Identifikationsproblem«, da sich unsere Untersuchung ausschließlich auf die Arbeit der wissenschaftlichen Führungsschicht richtet, deren hoher Anteil an kreativen Akteuren jüdischer Familienabstammung sich erst durch Forschungen aus jüngster Zeit herauskristallisiert. Als äußere Hauptkriterien für prägende wissenschaftliche Bedeutsamkeit dienen uns akademische Lauf bahn mit Habilitation und Lehrtätigkeit, Publikationen, Organisations- und Verwaltungsleistungen und die berufliche Wirksamkeit vor Ort. Auf sie stützt sich unsere These einer in der Sozialhygiene zu Tage tretenden Affinität zwischen deutschem und deutsch-jüdischem Sozialgeist. Von einer mehr oder weniger bewusst eingegangenen Gruppenkooperation kann natürlich nicht die Rede sein.14
1.4 Bildungsgeschichtliche Vorausset zungen für die deutsch/deutsch-jüdische Konformität beim Kulturkonzept der Sozialhygiene 1910 betrug der Anteil der Juden an der deutschen Gesamtbevölkerung unter 1 %. Besonders stark vertreten waren sie in den Großstädten und in 14 | Die Perspektive eines in der Sozialhygiene als prononcierten Typus sich darbietenden deutsch/deutsch-jüdischen Synergismus ist tatsächlich neu. Eckart betont in Übereinstimmung mit anderen neueren Autoren die »Dominanz« sozialistischer, kommunistischer und jüdischer Sozialhygieniker in den 20er Jahren, denkt dabei aber an die berufl ichen Aktivisten der angewandten, praktischen Sozialhygiene in den Beratungsstellen, Gesundheitsämtern, Ambulatorien und Praxen, nicht aber an ihre Konzeptualisten aus Gelehrtenwelt, Medizinalverwaltung und Publizistik, 1994, S. 285, 288. Das Faktum, das die bedeutenden sozialhygienischen Grundlagenwissenschaftler, Theoretiker und Methodiker zum überwiegenden Teil jüdischer Familienherkunft waren, wurde übersehen, vielleicht auch nur »hingenommen«, bisher aber nicht verbalisiert.
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Berlin. Hier belief sich ihre Zahl auf 7,1 % der Gesamtbevölkerung, d.h. über ein Viertel der deutschen Judenschaft lebte damals in Berlin,15 während 93 % der deutschen Gemeinden nicht von Juden bewohnt waren. – Die Juden zählten mehrheitlich zur mittleren und oberen Mittelschicht, an die sich nach oben eine kleine, sehr reiche Oberschicht und nach unten eine ebenfalls kleine, eher arme Unter- und untere Mittelschicht anschlossen. Vernachlässigt man diese schmale Unterschicht, so gewinnt man schon sozioökonomisch den Eindruck einer relativ homogenen Gruppe.16 1871 errangen die Juden im Deutschen Reich die rechtliche Gleichstellung – durchaus mit Ausnahmen. Über konservative und kirchliche Kräfte erhielt sich auch ohne Antisemitismus eine Distanz gegenüber dem Judentum. Vor allem erwartete man eine besondere Loyalitätsbezeugung gegenüber dem christlichen Staats- und Gesellschaftskern durch die Taufe. Religiöse Juden fanden keine Aufnahme in das Offizierskorps, in der höheren Beamtenschaft standen ihrer Karriere große Hindernisse entgegen, in der Verwaltung gab es für sie bis auf die technischen Bereiche Medizinalwesen und Eisenbahn keine höheren Positionen. Vom diplomatischen Dienst blieben sie ausgeschlossen, in Preußen im Allgemeinen auch vom Dienst an höheren Schulen und Volksschulen. – Demgegenüber eröff neten sich den getauften Juden weit bessere Chancen hinsichtlich ihrer berufl ichen Laufbahn in öffentlichen Ämtern. Das zeigte sich z.B. im Bereich Wissenschaft und Universität. Zu ihnen gewährte man Juden im Wesentlichen freien Zutritt, den sie zur Aufrechterhaltung ihres sozialen Status auch nutzten. 1907 waren 6 % der Ärzte jüdisch, in preußischen Großstädten und in Berlin lag dieser Anteil wesentlich höher.17 Getaufte und Ungetaufte verhielten sich um 1910 bei den Privatdozenten wie 11,9 %:7,3 %, bei den Extraordinarien wie 8,8 %:6,8 % und bei den Ordinarien wie 2,5 %:4,4 %. Fast 20 % der Privatdozenten, 15,6 % der Extraordinarien und fast 7 % der Ordinarien in dieser Zeit entstammten jüdischen Familien. Was das Judentum hätte spalten können, war der konfessionelle Status als »religiöser« oder getaufter Jude. Dass dieser (gesellschaftlich aufoktroyierte) Unterschied keine Entzweiung hervorrief, sich im Gegenteil neben der sozio-ökonomischen auch eine sozial-kulturelle Einheitlichkeit ausbilden konnte, erklärt sich am ehesten aus einer Bewegung, die sich Aufklärung und Säkularisation, die »Abschwächung der traditionellen orthodox-religiösen Bindungen« auf ihre Fahne geschrieben hatte. Ungetaufte und getaufte Juden der Bildungsschichten huldigten mehr oder weniger dem gleichen religiösen Indifferentismus. Dem »Reformjudentum« genügte die offizielle Zugehörigkeit zur Synagoge auch ohne engere Glaubensbindung. 60-70 % der Juden stimm15 | 1933 ein Drittel als »Spiegelbild der Verstädterung der Juden«, Leibfried 1980, S. 74ff. 16 | Bezüglich der Geschichtsdaten zum Judentum und »Reformjudentum« in Deutschland um 1900 s. – soweit nicht andere Literatur angegeben ist – hier und im Folgenden Nipperdey 1990, S. 396ff. 17 | 1933 in Berlin 52,2 %, bei den Kassenärzten 59,7 %, Leibfried 1980, S. 214.
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ten für die Freisinnige Partei (Linksliberale).18 Unter dem Einfluss liberaler Ideen erstrebte das Judentum eine deutsch-jüdische Symbiose, das Aufgehen in die deutsche Kultur, die Assimilation und Integration durch Akkulturation. Kritische Intelligenz, säkulare Intellektualität,19 Kultur- und Bildungsorientierung, sozialethische Traditionen und Modernität bestimmten das geistige Profil einer jüdischen Elitefraktion, die sich als Minderheit durch Leistung, insbesondere auch auf neueren Wisssenschaftsgebieten (Psychologie, Soziologie, Sozialhygiene) in der heimischen Kulturgesellschaft zu behaupten wusste. Am Ende des komplexen Prozesses ergibt sich uns das Phänomen, dass sich fast alle Juden, gleich welcher politischen Orientierung, von der rechten Mitte bis zur moderaten Linken, als deutsche Patrioten bekannten.20 Wie etwa zur gleichen Zeit beim Aufkommen der Psychoanalyse auffällig viele Forscher jüdischer Abstammung am Auf bau des Fachs beteiligt waren, so treffen wir bei der Inauguration der wissenschaftlichen Sozialhygiene auf eine vergleichbare Urheberkonstellation mit einer gemischten Gruppe aus deutschen und deutsch-jüdischen Forschern. Im Falle der Sozialhygiene dokumentiert diese Konstellation unter den veränderten gesellschaftlich-rechtlichen Bedingungen seit der Reichsgründung 18 | Nipperdey 1990, S. 410. 19 | Nach Nipperdey wurde eine sektorale modernistische jüdische Intellektualität auf antisemitischer Seite zum Stereotyp vom »zersetzenden, wurzellosen jüdischen Intellekt« verallgemeinert und dadurch verunglimpft. Ausdrücklich bestätigt er aber, dass es jene in brillanter Form im kritischen Journalismus und auf neuen Wissensgebieten wie Psychologie und Soziologie tatsächlich gegeben hat, ders. 1990, S. 470. Wohlweislich beschränkt er sich auf die Begriffe »Intellektualität« und »Modernität« und vermeidet ihre -ismus-Versionen. M.E. wird man Intellektualität aussagen können, ohne Gefahr zu laufen, missverstanden zu werden. Sie bezeichnet eine auf exakte Erkenntnis gerichtete Geisteshaltung, die den Wissenschaftsbegriff des 19. Jahrhunderts dominierte. Im Kontext von Kritik und Wissenschaft bedeutet sie Scharfsinn, Verstandesfreudigkeit, Gedankenschnelligkeit, geistige Aufnahmebereitschaft, Geistesgegenwart im Sinne von Gegenwart rascher begrifflicher Verarbeitung, alles Gegebenheiten, die ggf. zur Vermehrung »moralischen Ansehens« beitragen. Der Begriff meint die Fähigkeit zum Erkenntnisgewinn durch Verstandesleistung insbesondere in Naturwissenschaft/Technik/Gesellschaft, wobei der praktischen Vernunft in den Geistseswissenschaften ihr Recht verbleibt.Es geht hier weniger um eine psychologische als erkenntnistheoretische Kategorie. Die Erkenntnistheorie im Sinne Kants erfuhr ja durch die Sozialhygieniker, wie im Buch an anderer Stelle ausgeführt, in der Tat eine Erweiterung. – Die Nazis missbrauchten den Begriff als Gegenpol zu ihrem schwülstig-gefühligen Irrationalismus. Damit suchten sie ihn in den Schmutz ihrer Sache zu ziehen. Doch gibt es Worte in der deutschen Sprache, die ihre geistesgeschichtlich legitimierte Würde im deutschen Sprachschatz auch durch Missbrauch nicht verlieren. 20 | Nipperdey 1990, S. 396ff. – Grotjahn schätzte die Juden als »Pioniere des Fortschritts innerhalb einer geistig schwerfälligen Bevölkerung«, Kaspari 1989 (b), S. 327. – Zu Akkulturation und Assimilation des Judentums im Kaiserreich s. neuderdings auch Wolfssohn/Brechenmacher 2008.
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im deutschen Kulturbereich nach langer Diskrimination die reibungslose Zusammenarbeit zwischen den Vertretern einer »christlichen« Mehrheit und denen einer jüdischen Minderheit auf einem bedeutsamen neuartigen Wissenschaftsgebiet und auf hohem innovativem Niveau, was bisher in dieser dezidierten Form auf Historikerseite nicht beachtet, geschweige denn ausgesprochen worden ist.21 Natürlich verzeichnet die Literatur die hohe Zahl jüdischer Fachgelehrter in der Sozialhygiene vor allem in Berlin. Die deutsch-jüdischen Gelehrten und Avantgardisten, die seit der Jahrhundertwende in der wissenschaftlich konzipierten Sozialhygiene wirkten, erzielten in der Regel sehr bald akademische und literarische Spitzenleistungen. Für die »Häufung« jüdischer Akteure nicht nur in Medizin und Arztberuf, sondern speziell in Lehre und Forschung im Fach Sozialhygiene (und analog in der Psychoanalyse) – eine Häufung, die sich beim Exodus 1933 aus Berlin auf den Fortbestand der Disziplin katastrophal auswirken musste22 –, bieten sich im Wesentlichen zwei Erklärungsmodelle an.23 Zum einen bewahrten sich nach der »Minderheitenhypothese« Juden ein seit Jahrhunderten der Diskriminierung und Verfolgung in Europa gewachsenes Solidarverhalten, das über den eigenen sozialen Zusammenhalt hinaus auch ein Verständnis für die Lage anderer sozial benachteiligter Gruppen ermöglichte. Zum anderen fanden sich die Juden, beruflich von höheren öffentlichen Funktionen und vom Handwerk ausgeschlossen, auf ein Arbeitsterritorium abgedrängt, auf dem sie nur unter »Pionierbedingungen« agieren konnten, d.h. sie befassten sich zwangsweise »eher und gründlicher als die anderen« außerhalb bestehender Traditionen mit den »neuen Dinge(n)«. So setzten viele jüdische Ärzte auf Risiko, wenn sie sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts als Forscher »wenig attraktiv(en), noch kaum etabliert(en)« Fachdisziplinen zuwandten, erhöhten dadurch aber ihre Leistungs- und Lauf bahnchancen.24 Sagen wir es noch einmal: Intellektualität, Säkularismus, Modernität, Weltoffenheit und Toleranz verschaff ten auch in der Sozialhygiene den dem Arbeitsbereich zustrebenden jüdischen Wissenschaftlern ein moralisches Ansehen, das uns aus dem Fach, versenkt man sich in seine Spitzenliteratur, ungeachtet des eugenischen Strukturfehlers bis heute anrührt. Über den genannten Eigenschaften der jüdischen Sozialhygieniker, mit denen 21 | Die Parallele zur aus der Psychiatrie sich verselbständigenden Wiener Schule der Psychoanalyse ist bestechend, zumal für sie neben der ausgeprägten jüdischen Teilhabe auch die frühe Meisterschaft der literarischen Gestaltung charakteristisch ist. Die versammelte Urhebergruppe der Psychoanalyse zeigt eine Fotografie Sigmund Freuds im Kreise seiner jüdisch-österreichischen Freunde, Salamander 1998, S. 246. – An unserer Stelle geht es aber um einen wissenschaftsgeschichtlichen Tatbestand auf Reichsgebiet! 22 | Weder 2000, S. 306. 23 | Zur Duplizität deutscher und deutsch-jüdischer Forscher in Kap. 1 beachte Einleitung Fußnote 1, S. 25. Sie ist unvermeidlich auf dem Hintergrund des Holocaust. 24 | Schneck 1994, S. 501f.; Leibfried 1980, S. 70ff.; Ackerknecht 1979; vgl. Weder 2000, S. 306; Eckart 1994, S. 285, 288f.
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sie sich von Anfang an einen festen Platz im neuen Wissenschaftssektor eroberten, darf man nicht vergessen, dass sie sich trotz der bekundeten rationalen Auffassung des Wortes »sozial« in ihrer Arbeit von einer unzerstörbaren humanitären Gesinnung leiten ließen, die in ihren Schriften auch im Ton immer wieder durchklingt und die sie mit ihren Vorbildern aus der »Medicinischen Reform« verbindet.25 Die These einer deutsch/deutsch-jüdischen Geisteskonformität in der Sozialhygiene versteht sich zunächst als plausible Einschätzung. Sozialhygiene war »nur« eine Disziplin der Medizinischen Fakultät.26 Viele Juden suchten aufgrund der im Kaiserreich ihnen auferlegten Professionalisierungsschranken beruflich Zuflucht im akademischen Bereich, besonders auch in der Medizin. Ihr Anteil an akademischen Positionen und am Ärztebestand lag weit über ihrem Bevölkerungsanteil und ihrer Präsenz in anderen Berufen. So nimmt es nicht wunder, dass jüdische Fachkollegen auch in der Sozialhygiene als medizinischer Disziplin in relativ großer Zahl auftraten. Aber das entscheidende Moment ist dabei, dass sich die Sozialhygiene innerhalb der Medizin ganz neu formierte, also ihre jüdischen Vertreter – in welcher Zahl auch immer – als Inauguratoren, Mitbegründer, »Erzväter« agierten und sie und die in der »zweiten Generation« hinzukommenden jüdischen Kollegen zu Großmeistern aufstiegen, die mit ihrem fachlichen Gewicht den nichtjüdischen Nachwuchs in der Endperiode erkennbar ausstachen.27 Wie wir bereits erwähnten, trat die Bedeutung der Sozialhygiene und besonders auch ihrer jüdischen Fraktion erst durch die Heraufkunft der neueren Emigrationsgeschichte in helleres Tageslicht. Der Erfassung einer besonderen Interessen-Konformität deutscher und deutsch-jüdischer Forscher im speziellen Wissenschaftsbereich stellen sich vergleichbare forschungstechnische Hindernisse aus der Emigrationshistoriographie entgegen.28 Nach Art einiger der in der Emigrationsgeschichte angewandten Forschungsmethoden gebietet sich im Grunde die Bemühung um eine quantitative und qualitative Typisierung der beiden beteiligten »Gruppen«. Es geht hier auch um eine kollektive Betrachtung des deutsch-jüdischen Parts gegenüber dem deutschstämmigen. Es ist davon auszugehen, dass die jüdische Seite im prozentualen Vergleich mit anderen Medizinergruppen (reichsweit in exponierter akademischer oder öffentlicher Stellung) einen noch einmal überproportionalen Anteil an Kapazitäten und Koryphäen mit hohem Bekanntheitsgrad umfasste. Im zeitlichen Wissenschaftsverlauf der Sozialhygiene zeigte sich dann letztlich eine Rückgangstendenz dieses Anteils zugunsten 25 | »Was die Juden verbindet und seit Jahrtausenden verbunden hat, ist in erster Linie das demokratische Ideal der sozialen Gerechtigkeit und die Idee der Pflicht zur gegenseitigen Hilfe und Duldsamkeit aller Menschen untereinander«, Albert Einstein, nach Salamander 1990/98, S. 263. 26 | Oder ein Aspekt der Medizin im Sinne eines sie als Ganzes betreffenden »sozialen Auftrags«, Seidler 1975, S. 47ff., 74f. 27 | S. Tab. 6-9, Tab. 6 »Späthabilitierte«. 28 | Dazu und zum Folgenden vgl. Srubar 1991, S. 165ff.
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des deutschstämmigen Elements (z.B. Vermehrung der diesem zugehörigen Hochschulpositionen durch »Späthabilitationen« [Tab. 6]). Für die Emigrationsgruppe gilt, sieht man auf das Heer der im ganzen Reich sozialhygienisch tätigen niedergelassenen, beamteten, teilweise publizierenden Ärzte, dass das Kollektiv der in die Emigration gedrängten Sozialhygieniker nicht vollständig bekannt ist. Gerade auf sozialhygienischem Gebiet sind die biographischen Daten für eine (kollektive) Typisierung in vielen Fällen immer noch nicht ausreichend, was auch damit zusammenhängt, dass es keine amtliche Berufsbezeichnung oder Zusatzbezeichnung für die in Frage kommenden Ärzte gab. Die These einer hervorstechenden Einvernahme zwischen deutschstämmigen und deutsch-jüdischen Forschern in der Sozialhygiene steht und fällt also letztlich mit der wissenschaftlichen Erarbeitung quantitativer und qualitativer Forschungskriterien bis in den Emigrationsraum hinein, die sicherlich noch mit viel Aufwand an Zeit und Geldmitteln verbunden wäre. Sofern die Sozialhygiene als Vorläufer der deutschen Gesundheitswissenschaften perzipiert wird, läge in einer solchen Erarbeitung ein besonderer Reiz. Vordergründig wäre es an der Zeit, die Familienherkunft der sozialhygienischen Autoren einwandfrei festzustellen, die in Artikeln der Handbücher, Sammelbände (wie Mosse/Tugendreich 1912) und Periodika für die Verbreitung des neuen Gedankenguts gesorgt haben. Auch die Namensangaben in den Literaturverzeichnissen der Lehrbücher und Artikel sollten in die literarische Herkunftsforschung einbezogen werden.29 Eine Schwierigkeit ergibt sich noch bei der Frage, wie sich jüdische Mitbürger, nach Rechtsstand und eigenem Selbstverständnis Deutsche, z.B. in unserem Fall deutsch-jüdische Wissenschaftler im Kontext einer historischen Behandlung terminologisch von nichtjüdischen Deutschen differenzieren lassen. Jüdische Deutsche nehmen zivilgesellschaftlich insofern einen Doppelstatus ein, als sie vorrangig Deutsche sind, zugleich aber auch Angehörige einer historisch gewordenen, kulturell scharf profilierten Minderheitengruppe. Die Lösung, von Deutschen jüdischen Glaubensbekenntnisses zu sprechen, gilt nur für eine Untergruppe.30 Teile des Judentums gehören christlichen Konfessionen oder anderen Denominationen an oder sind konfessionslos. Außerdem ist es ein hochberechtigtes Anliegen, den biologistisch-rassistisch gefärbten und entsprechend diskriminierenden Ausdruck »Halbjude« zu ächten. U.E. lassen sich Personen aus dem angesprochenen deutschen Bevölkerungskreis, soweit dazu eine begründete Notwendigkeit besteht, einheitlich nur als Deutsche jüdischer oder teiljüdischer Familienherkunft/Abstammung apostrophieren. 29 | In welchem Umfang ein solches Festellungsverfahren Fehlbestimmungen unterliegen kann, verdeutlicht die lange Berichtigungsliste irrtümlicher Herkunftszuweisungen bei Kaznelson 1962, S. 1043ff. 30 | So konnte sich z.B. an seinem Ort und zu seiner Zeit Salomon Neumann mit Recht als »preußisch-deutschen Bürger jüdischen Glaubens« bezeichnen, Laaser 1991, S. 719.
2. Der Geschichtsrahmen: Gesundheit und Krankheit im Deutschland des 19. Jahrhunder ts – die sozialpolitische Lage in Preußen und im frühen Kaiserreich
Zur Erfassung der geschichtlichen Situation, in der Sozialhygiene und Gesundheitswissenschaften als gesellschaftliche Gestaltungskräfte in Zentraleuropa zum Leben erwachten, empfiehlt es sich, sich einige Grundfakten der deutschen Sozialgeschichte im 19. Jahrhundert ins Gedächtnis zu rufen. Die Statistik, die seit dem 16./17. Jahrhundert das neuzeitliche Wissenschaftsfeld überzog, bewegte sich in dieser Zeit auf einem Niveau, von dem aus sich Bevölkerungsbewegungen und -entwicklungen problemlos beurteilen lassen.1
2.1 Bevölkerungsexplosion, Urbanisierung und Rettung in let zter Not: revolutionäre Industrialisierung Seit den 40er Jahren des 18. Jahrhunderts beobachten wir europaweit eine auch die deutschen Staaten affizierende Bevölkerungsexpansion.2 Diese bezeugt sich in Permanenz in den demographischen Chiffren einer sinkenden Mortalität und einer steigenden durchschnittlichen Lebenserwartung, dem sog. »Demographischen Übergang«.3 Indem sie durch ihre jahrzehntelange Ste1 | Zur Entwicklung der Bevölkerungs- und Gesellschafts(Sozial-)statistik im 18./19. Jahrhundert s. z.B. Wolff (1929), S. 300f., 308f.; Mosse/Tugendreich 1912, S. 3ff. – Im Deutschen Bund erreichte die Sozialstatistik in Preussen den höchsten Entwicklungsstand, We. 1997, III, z.B. S. 141. 2 | Bevölkerungsexplosion, We. S. 7ff. 3 | Ihn skizziert Wehler in 4 Phasen: 1830-1872 allmählicher Mortalitätsrückgang; 1872-1902 beschleunigte Rückläufigkeit der Mortalität; 1902-1930 Mortalität in Kombination mit der Fertilität rückläufig; ab 1930 dasselbe auf niedrigerem Niveau. –
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tigkeit, ja naturkatastrophenartige Unaufhaltsamkeit im 1. Drittel des 19. Jahrhunderts die Aufnahmekapazität der Agrar- und Gewerbewirtschaft für Arbeitskräfte letztendlich erschöpfte, 4 erweckte sie bei den zeitgenössischen Beobachtern in Verbindung mit revolutionären Erinnerungsbildern (1789, 1830) Zukunftsängste vor einer korrespondierenden Gesellschaftskatastrophe (Pauperismus-Debatten).5 Langzeitfolge des eruptiven Bevölkerungswachstums war, zeitlich etwas versetzt, aber im weiteren Verlauf seit Mitte des Jahrhunderts zum demographischen Zahlenanstieg parallel, die sich nunmehr »mit Wucht«6 durchsetzende deutsche Urbanisierung.7 Es entsteht gleichmäßig mit ihren Nachteilen und ihren Entwicklungsreizen die urbane Massengesellschaft in unzähligen Industrieregionen, Gemeinden und Städten, in allen Großstädten und Metropolen. – Der vom Populationsdruck ausgelöste, seitdem nicht mehr abzubremsende Menschentransfer geriet alsbald an die neuralgischen Punkte aller unvorhergesehenen Flüchtlingsströme und siedlungsbedingten Bevölkerungsverschiebungen: an die Sachzwänge von Arbeitsplatzbeschaff ung und Wohnungsunterbringung. Jedoch vermochte es die gegen Mitte des Jahrhunderts eskalierend einsetzende deutsche Industrialisierung tatsächlich, die anflutenden Menschenmassen in ihre Produktions- und Dienstleistungsbetriebe ausreichend zu integrieren.8
2.2 Latenter E xplosionsherd: Arbeitermassen in Slums Ganz anders blieb es dagegen trotz initialer städtischer Bebauungspläne mit der Wohnungsversorgung bestellt. Die in die Urbanisierungsgebiete einströIn Konsequenz Anstieg der mittleren Lebenserwartung ab 1871, We. S. 7. – Der Demographische Übergang als übergreifendes Konzept wird konkretisiert durch das Konzept des Epidemiologischen Übergangs, indem letzteres die Ursachen des Phänomens, den Wandel des Krankheits- und Todesursachen-Panomramas, mit berücksichtigt. Das demographische Gespann, charakterisiert durch Geburtenrückgang und stetigen Anstieg der Lebenserwartung, hält die Gesundheitsexperten seit Mitte des 19. Jahrhunderts gefangen. Die zweite Phase des Epidemiologischen Übergangs, in der sich Geburtenrückgang und ansteigende Lebenserwartung mit gleicher Stetigkeit als charakteristisches Gespann ausprägen, datiert zwischen 1840 und Ende des 1. Weltkriegs, Spree 1992, S. 8, 14, 17ff. 4 | We. S. 13. 5 | We. S. 7. – Proletariat als untergründiger existentieller Gefahrenherd: We. S. 32, 120, 140f. u.ö. – Zu den Pauperismus-Debatten vgl. Frevert 1984. 6 | We. S. 11. 7 | We. S. 11ff. – In Europa lässt sich eine Urbanisierung der »Staatsgesellschaften« im engeren Sinn erst ab 1850 registrieren, We. S. 12. 8 | Wehler verwendet weiterhin die konzeptionell an sich überholte Redewendung von der »deutschen Industriellen Revolution (dIR)«, We. z.B. S. VII, 66 und durchgehend.
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menden proletarischen Massen hatten sich als Niedriglohnempfänger mit »dürftigen«, kleinen und engen Quartieren vom 1-2-Zimmertyp mit Küche zu begnügen. Das quälendste Charakteristikum dieser weit verbreiteten, üblichen Kleinwohnungen war ihre Überbelegung, wie sie durch Familienzuwachs und Untervermietung (das »Schlafgängerwesen«) zustande kam. Zur Mietkostendämpfung durch finanzielle Beteiligung wurden die Schlafgänger, meist junge hinzuziehende Arbeitskollegen (darunter auch Frauen), die ihrerseits als Neuankömmlinge die Gelegenheit zur schnellen Sozialisation gern ergriffen, in den Menschenpulk noch dazugepfercht. Nicht jeder konnte unter diesen Umständen ein eigenes Bett für sich reklamieren, hier zählten besonders die Kinder auch hinsichtlich der Übertragung infektiöser Krankheiten zu den Leidtragenden. Zu einem hohen Prozentsatz stand den proletarischen Wohninsassen in ihren Unterkünften nur ein beheizbares Zimmer zur Verfügung. Als Bleibe genutzt wurden eine Reihe von Wohnhaustypen in »sozialer Segmentierung«: große Mietshäuser, auch Hinterhäuser, Keller, Souterrains oder Dachgeschosse in eher bürgerlichen Wohnanlagen, sanierungswürdige Altstadtbauten, Werkswohnungen, Zechenkolonien, Kleinhäuser und Hütten. In diesem Sammelsurium war die Mietskaserne mit Hinterhöfen und Hintergebäuden in ausgesprochenen Arbeitervierteln nur ein – wenn auch greller – Sonderfall.9 So entstanden in den städtischen Außenbezirken, in der Nähe der Unternehmensstandorte, z.B. in Berlin in strenger Abgrenzung zu den weiträumigen bürgerlichen Wohnvierteln auf verhältnismäßig kleinen Arealen tiefgestaffelte Mietskasernen. Eine »horrende Zahl« von Menschen teilte sich hier auf engstem Raum die proletarischen Quartiere.10 Trotzdem entfielen relativ hohe Mieten an die Investoren, da der Grundstücksbedarf der expandierenden Wirtschaft immens war, der Baugrund aber noch eines ordnungsrechtlichen Verwertungsschutzes entbehrte.11 Überhaupt entwickelte sich die Regel, dass bei Arbeiterwohnungen für kleinere Einheiten jeweils höhere Mieten pro qm verlangt wurden als für die nächst größeren Objekte.12 Das Wohnungselend, die »halboffene« Wohnsituation unter Einbezug eines Stücks Straße wurde zum Markenzeichen urban-proletarischen Lebensstils, des unteren sozialen Milieus,13 ja im weiteren Verlauf mehr und mehr zur wesentlichen Triebfeder für die Selbstorganisation der Arbeiterklasse.14 Von Anfang an spürten Regierung, Verwaltung, Bildungs- und Besitzbüger, dass sich hier im Dunkeln, in einer mitverantworteten out of boundsZone über einen langen Zeitraum eine existenz- und systembedrohende Gefahr zusammenbrauen könnte.15 Sie beeilten sich mit Gegenmaßnahmen, 9 | Ni. 1990, S. 136ff. 10 | We. S. 148, 150. 11 | We. S. 23ff. 12 | Ni. 1990, S. 144. 13 | We. S. 148. 14 | We. S. 36, 148 u.ö. 15 | We. z.B. S. 23, 25ff., 31ff., 35ff.
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den maßlosen Expansionsprozess der Urbanisierung durch Planvorgaben und Rechtsnormen unter Kontrolle zu bringen.16 Den hierzu ergriffenen staatlichen und städtischen Initiativen jedoch als einziges Motiv »Sozialangst« zu unterstellen, ist unrealistisch, da politische Handlungsimpulse in der Regel aus einem Bündel von Variablen hervorgehen. Beim Engagement der Städte zur Ordnung des Zuwanderungswesens sind Maßnahmen zur technisch-zivilisatorischen Infrastruktur und zum wohlfahrtsstaatlichen Sozialwesen auseinanderzuhalten. Seit zur Urbanisierung die Industrialisierung hinzutrat, kamen beim Auf bau des städtischen Dienstleistungswesens infrastrukturell natürlich auch handfeste materielle Eigeninteressen ins Spiel. Der Gemeinwohlgedanke (von ferne vergleichbar dem agrarischen Paternalismus), im Bewusstsein und Gewissen des gewinnstrebenden Bürgertums verankert, bezog sich auch auf die Verbesserung der eigenen Lebensverhältnisse. Insgesamt ist davon auszugehen, dass niemand es wirklich über sich brachte, dem Schauspiel eines »menschenfeindlichen Siedlungsprozesses« vor der eigenen Haustür tatenlos zuzusehen.17 Und nicht zuletzt tat die kulturstaatliche Tradition einer »medizinischen Polizey« das Ihre. Denn durch sie waren die Strukturen und Handlungsinstrumente einer kommunalen Leistungsverwaltung im Interesse einer existentiellen Grundversorgung (Daseinsvorsorge) für alle Mitglieder des Gemeinwesens vorbereitet.
2.3 Ordnungsfak tor in der Massengesellschaf t: Der Munizipalsozialismus. Grat wanderung z wischen Industriearbeitsplat z und Armut Der Urbanisierung leisteten staatliche Reformgesetze, Städteordnungen und Armengesetze Vorschub, indem sie absolute Freizügigkeit gewährten und die rechtliche Grundlage schufen für die Ablösung der ständisch-korporativ verfassten Vollbürgerstadt durch die gebietskörperschaftliche Einwohnergemeinde.18 Die sprunghaft expandierenden Städte und Stadtneugründungen nahmen nun die Bewältigung der Sachzwänge im Gefolge des nicht abreissenden Bevölkerungsbooms selbst in die Hand. Die städtische Leistungsverwaltung und Daseinsvorsorge zeichnete fast im Sinne eines »Munizipalsozialismus« für das weite Feld von Infrastruktur und Sozialfürsorge verantwortlich,19 wobei sie auf infrastrukturellem Gebiet von Privatunternehmen in einem vom Ausland oft bewunderten »gemischt-wirtschaftlichen System« unterstützt wurde.20
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S. Fußnote 5. We. S. 23. We. S. 17, 31, 511 u.ö. We. S. 28ff. We. S. 33.
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Die historiographische Wiedergabe von Kultur und Wirtschaft der »Gründerjahre« spiegelt nur zu gerne die Verhältnisse in der bürgerlichen Welt. Auch nach Beginn der Industrialisierung blieb das Armutspotential in Deutschland jedoch hoch und entbehrt auch nicht des Massenaspekts. Trotz der Abfolge von Hochkonjunkturen, Krisen aufgrund von produktivitätsbedingter Deflation, tendentiell ansteigendem Lohnniveau und Verbesserung der Arbeitsbedingungen hat es im gesamten behandelten Zeitraum und darüberhinaus in Deutschland beträchtliche Armut gegeben. Dennoch stellt sich im Gegensatz zum krassen vormärzlichen Pauperismus die Armutsproblematik im Industrieproletariat unter einem anderen Aspekt dar in dem Sinne, als die Mehrheit der beschäftigten Industriearbeiter an der Grenze des Existenzminimuns gelebt haben dürfte.21 Eine Teilhabe des Lohnarbeiters an der Prosperität war nämlich nur möglich, wenn sein familiäres Arbeitskollektiv aus Frau und Kindern kontinuierlich funktionierte ohne Unterbrechung durch Kurzarbeit, Arbeitslosigkeit, Krankheit oder Betriebsunfall/Invalidität. Zudem erwies sich das (niedrige und höhere) Lebensalter als entscheidender Faktor für die Schwankungsbreite des Einkommens: Im normalen Arbeiterleben war ab dem 40. Lebensjahr mit Lohnrückgang, Altersverarmung und schließlich Tagelöhnerstatus zu rechnen.22
2.4 Krankheit und Armut aus der Sicht des deutschen Bürger tums bis zur Bismarck’schen Sozialgeset zgebung Neuere Autoren aus Ost und West vertreten nicht selten die Auffassung, dass im bürgerlichen 19. Jahrhundert der Zusammenhang zwischen Armut und Krankheit in den unteren Gesellschaftsschichten in Stadt und Land über weite Strecken nicht mehr wahrgenommen worden sei, dass man die im Dunkeln nicht gesehen habe und sozialmedizinische Ansätze zur Bekämpfung armutsbedingter Krankheitsentwicklungen ausgeblieben seien.23 Die Segnungen des medizinischen Fortschritts – exakte Diagnose, effektive Krankheitsbekämpfung und verlängerte Lebenserwartung – sind ja auch tatsächlich in der Bevölkerung im Sinne der Verteilung als Massengut über die Schiene der Individualversorgung zunächst nur den bürgerlichen Schichten zugute gekommen.24 Bis zur Einführung der gesetzlichen Krankenversicherung 1883 herrschte in Deutschland de facto eine Zweiklassenmedizin. Die Ärzteschaft, die einen wechselvollen ständischen Professionalisierungsdiskurs durchgestanden hatte, widmete sich im Wesentlichen ihrer betuchten Klientel, ohne auf diese Weise armutsbedingte oder milieubegünstigte 21 | We. S. 144, 777. S. dazu auch die Unterscheidung zwischen etatmäßiger (inskribierter) und »gleitender« Armut bei F. 1984, S. 122ff. 22 | We. S. 145f. 23 | I. Winter (a) und (b) in: Tutzke 1981, S. 146ff., 154ff. 24 | We. S. 149.
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Krankheitheitsbilder vor Augen geführt zu bekommen. Den unbemittelten Kranken verwiesen die niedergelassenen Ärzte in der Regel an den Armenarzt oder andere Instanzen des älteren fürsorgerischen Systems, schon weil jenem aus Kostengründen eine ganze Reihe neuentwickelter Therapien nicht zugestanden werden konnte. So kam es in einem Interludium ärztlicher Versorgungsgeschichte in der Tat zur Unterscheidung zwischen Kranken und Armen. Im klinischen Schrifttum wurde der Zusammenhang von Krankheit und sozialen Missständen oft vernachlässigt. Viele Kliniker begnügten sich mit Hinweisen und der Forderung nach Abstellung der Mängel durch Staat oder Regierung.25 Berücksichtigt man aber den natürlichen zeitlichen Verzögerungsfaktor für soziale Reaktionen im rasanten Industrialisierungsprozess, wurde schon in relativ frühen Phasen unserer modernen Zivilisation die Korrelation von Krankheit und Armut als Quelle sozialen Elends durchaus gesehen und auch literarisch gewürdigt.26 In vorbildlicher Weise wurden von Ute Frevert in Anlehnung an Michel Foucault und den von ihm inaugurierten Begriff der »Medikalisierung«27 anhand eines umfangreichen Quellen- und originalen Literaturmaterials die tatsächlichen, komplexen sozialgeschichtlichen Grundprozesse, wie sie sich seit Ende des 18. Jahrhunderts in Preußen/Deutschland abspielten, herausgearbeitet. Im Gegensatz zu den oben erwähnten skeptischen Autoren gelangt Frevert zu der Erkenntnis, dass schon in den Publikationen dieser Zeit Armut und Krankheit meist als »Synonyme« im Sinne eines Circulus vitiosus aus sich gegenseitig bedingenden Faktoren erfasst und behandelt wurden.28 Die Aufklärung propagierte in ihrem Schrifttum die Pflicht zur Gesundheit, sie glaubte an die Einheit von Gesundheit und Moral und erhob sie zum Kernstück ihres Ideals vom Glückseligkeitsstaat.29 25 | I. Winter a.a.O. (a), S. 146ff.; dies. a.a.O. (b), S. 154ff. 26 | Mosse und Tugendreich 1912 zitieren in der Einleitung neben Virchow, Leubuscher und Neumann noch etwa 15 Autoren des 19. Jahrhunderts mit »sozialmedizinischer« Perspektive, die meisten allerdings (wie ja auch Neumann!) aus dem Bereich der Statistik, S. 2ff. – Selbst I. Winter 1981 findet in Literatur und Praxis zusätzlich immerhin noch etwa 10 Kliniker und Ärzte mit ernst zu nehmenden »sozialen Aspekten«, darunter Casper (1835), Griesinger (1855), Reich (1858), Henoch (1890) und v. Leyden (1894/95), a.a.O. (b), S. 154ff. 27 | Foucault 1976, S. 11ff. – Die Vielschichtigkeit des Medikalisierungsprozesses kommt unter Berücksichtigung besonders von Frevert (1984) und Göckenjan (1985) bei Labisch/Spree zur Darstellung (1997, S. 191ff.). In unserem Zusammenhang interessieren die beiden im Begriff enthaltenen Gesichtspunkte ärztliche Professionalisierung und Machtausübung. 28 | F. 1984, S. 84. – In Parallele auf Massenbasis betont Grotjahn den roll back-Effekt in der sozialen Krankheitsätiologie: Einfluss des Gesellschaftsfaktors auf Gruppenmorbidität und Rückwirkung von Gruppenmorbidität auf den gesellschaftlichen Zustand immerhin nur beschränkt auf Bevölkerungsbewegung, Wehrkraft und Arbeitsleistung, ders. 1923, S. 18f., vgl. Tutzke 1981, S. 111. 29 | F. S. 31; 46; 84f.
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Auf dessem Hintergrund bezeichnet »Medikalisierung« den zielgerichteten Prozess, alle Bewohner des Gemeinwesens bis hin zu den untersten Schichten in ein Netzwerk territorial-kommunaler, privater und öffentlicher, medizinischer und daseinsökonomischer Hilfsdienste und Beistandsleistungen mit einzubeziehen und sie damit in ein staatslegitimierendes »soziales System« zu integrieren.30 Seit der Aufklärung gingen mehrere solcher mit sozialen Reformabsichten assoziierten Medikalisierungswellen oder -schübe über das Land.31 Mit diesem im Konsens der öffentlichen Meinung gegründeten ganzheitlichen Konzept, das sich von Mal zu Mal umfassender ausdifferenzierte, erwuchs in der Tat schon frühzeitig ein relativ erfolgsträchtiges Instrument gegen soziales Elend durch Armut und Krankheit als Störfaktor der gesellschaftlichen Integrationsintention. – Wenig später in der industriellen Massengesellschaft des 19. Jahrhunderts erwies sich dann das soziale Versicherungswesen als wirksames Konzept gegen die Konglomeration von Armut und Krankheit in einer geschichteten Gesellschaft.32
2.5 Circulus vitiosus von Krankheit und Armut im Zivilisationszeitalter – Pauperismus als »gleitende« Armut in der industriellen Massengesellschaf t Ende des 18. Jahrhunderts und in der Zeit des Vormärz entzündeten sich in den Druckmedien als wirkmächtigem Sprachrohr und Informationsapparat des Bürgertums zwei von Reformgedanken geleitete »Pauperismusdebatten«. Die erste bezog sich auf die Neuordnung des Armenwesen und der Armenkrankenpflege in den Städten, wobei noch eine optimistische Grundhaltung vorherrschte, da die Strukturen der vorgegebenen Armenverwaltung einen erfolgreichen Ausgang des großzügig angelegten Reorganisationsvorhabens versprachen.33 Die zweite Kontroverse hatte es mit einer ganz neuen Erscheinung zu tun, die die Stimmung initial in Ratlosigkeit bzgl. neuer Konzepte und in Depression umschlagen ließ: der eklatanten Vermehrung, ja Vermassung be30 | F. S. 84f.; 108; 115. 31 | 1780 bis etwa 1800, 1831 ff. bis 1848/49; vgl. F. S. 85; 114; die Einführung der gesetzlichen Krankenversicherung 1883 bewirkte einen Medikalisierungsschub im Sinne eines Anstiegs der Ärzte- und Patientenzahlen durch Einbeziehung wachsender Teile der lohnabhängig arbeitenden »unteren« Bevölkerungsschichten in die kassenärztliche Versorgung. 32 | Die Krankenkassen waren im 19. Jahrhundert für den Lohnarbeiter nicht nur Helfer bei der Existenzsicherung, sondern im Rahmen einer fortschreitenden Sozialisation mehr noch Lehrmeister zweckrationalen und zukunftorientierten Verhaltens im Anpassungsprozess an die kapitalistisch geprägte bürgerliche Gesellschaft, F. S. 16f., vgl. 235. 33 | F. S. 85; 121.
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sitzloser Unterschichten im Rahmen einer nie erlebten Bevölkerungsexplosion, die sich zunächst überwiegend in der Landbevölkerung auf die Zahlenstärke der Armenpopulation auswirkte.34 Im Vergleich mit dem allgemeinen Bevölkerungswachstum nahm dabei im weiteren Verlauf die Zahl der versorgungspflichtigen (»etatmäßigen«) eindeutig wirklich Armen (Alte, Witwen, Schwerkranke, Dauer-Arbeitslose bzw. Arbeitsunwillige) nicht einmal zu. Der katastrophale Prozess im Vormärz und der Anfangszeit der Industrialisierung bestand vielmehr darin, dass sich im Boom des Bevölkerungswachstums über die unterste Schicht der »wirklich« Armen ein »Überbau« von »potentiellen« Armen, von lohnabhängigen einkommensschwachen Handarbeitern legte, von denen große Teile aufgrund der Volatilität ihrer familiengestützten Einkommensstruktur am Rande des Existenzminimuns lebten und bei jeder Art von Krise in Unterstützungsbedürftigkeit, in echten Armenstatus zurückfielen.35 Die niederen Massen, die außer ihrer (ggf. auch familiären) Arbeitskraft keine materiellen Substistenzmittel besaßen und sich abseits der bürgerlichen Zivilisation in ein eigenes Soziotop eingesponnen hatten, mussten auf Dauer zum Hort der sozialen Destabilisierung degenerieren.36 Diese einzigartige Situation in der deutschen Sozialgeschichte müssen wir im Folgenden noch etwas detaillierter erläutern. Durch die nie da gewesene Wanderungsbewegung der Bevölkerung vom Land zur Stadt und von Ost nach West sah sich in der frühkapitalistischen Ära das ansässige, durch Besitz etablierte Bürgertum gleichsam über Nacht im Einzugsgebiet des eigenen Grund und Bodens einem bestimmten, zur Masse anschwellenden Menschentyp konfrontiert, der ohne jede Eigenmittel, mit bloßem Hemd am Körper, sich im Stadt- oder Ortsbereich unter der Schirmherrschaft der Einheimischen für sich und die Seinen eine sichere Zukunftsexistenz allein durch das Werk seiner Hände, durch seine nackte Arbeitskraft aufzubauen gedachte. In diesem Punkt musste das Bürgertum die neue Proletarierklasse bitter enttäuschen: trotz des rettenden Bedarfs der kapitalistischen Industrie an Arbeitskräften konnte die Führungsschicht der sich neu formierenden Orts- oder Stadtbevölkerung die Erwartungen der Handarbeitenden an die Sicherstellung einer bürgerähnlichen Existenz (gar durch Zubilligung von Eigentum!) nicht erfüllen. Arbeiter und Bürger wurden zu Kontrahenten – die einen Sorgenkinder, die andern heimliche Vorbilder – in einem von beiden gewollten, sich aber über Jahrzehnte dahinschleppenden Integrationsprozess.37
34 | F. S. 116ff.; 121ff. 35 | F. S. 122ff. 36 | Selbst das Kleinbürgertum als Zwischenschicht im untersten Bereich des »neuen Mittelstands« empfand innerhalb eines »System(s) der sozialen Ungleichheit« mehrheitlich die existentielle Verunsicherung durch die fortdauernde Labilität seiner ökonomischen Situation und die fluktuierende soziale Distanz nach unten als lastende Hypothek, We. S. 135. 37 | Ni. S. 219.
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Zur fest installierten Position des »hegemonialen« Bürgertums kontrastierte in der Gesamtbevölkerung die permanente Unsicherheit der proletarischen Existenz. Über ihr lag der Schatten einer inhärent erscheinenden Bedrohung durch festhaftende Lebensrisiken – ungeachtet späterer wirtschaftlicher Auftriebe und steigender Reallöhne. Für den Arbeiter und seine Familie, die sich auf das Wagnis der Verstädterung und Industrialisierung eingelassen hatten, stand die Existenz immer neu auf dem Spiel bei langer (chronifizierender) Krankheit des Ernährers oder von mitarbeitenden Familienangehörigen, Invalidität, Tod, Leistungs- und Lohnknick ab 40. Lebensjahr, Altersarmut (später trotz kleiner Rente), Arbeitslosigkeit unabhängig von der Dauer, Arbeitsschutzmängel, ständige Abhängigkeit, mangelndes Selbstvertrauen bei Vorenthalt von Gleichberechtigung und Chancengleichheit in Betrieb und Gesellschaft.38 Die gesellschaftlich zementierte existentielle Verunsicherung bedeutete für das Proletariat selbst dort, wo die Einkommen späterhin relativ hoch waren, eine persistierende neue Form von Armut, ein unübertünchbares Kainsmal von Armutsbetroffenheit, den unüberwindbaren Status von äußerer und innerer Ärmlichkeit und Schäbigkeit, das Gefangensein in Milieu und sozialer Lage. Die Sozialhygieniker werden in der Spätphase des besprochenen Zeitraums nicht zögern, diese Art von zu Krankheit und Armut disponierender Existenz in der Bevölkerung als tödlichen Circulus vitiosus zu begreifen. Die Zuspitzung eines latenten Krisenbewusstseins im Bürgertum entsprang dabei der erschreckenden Geschwindigkeit, mit der sich die Schere zwischen bürgerlichem Zivilisationswohlstand und konstanter Chancenlosigkeit der proletarischen Massen öff nete, sich also ein systembedrohendes soziales Ungleichgewicht herausschälte. Vertrat das Bürgertum vom Ansatz her das gesellschaftliche Gesamtinteresse gegenüber dem monarchischaristokratisch verfassten Privilegienstaat, musste es sich angesichts dieser Situation nun ein Versagen bei der Integration des Proletariats in die Gesellschaft selbst zuschreiben.39 Armut und Krankheitsanfälligkeit verschmolzen das Proletariat zu einem sozialen Brennpunkt, der 2 Gefahren für das Bürgertum herauf beschwor: politischen Aufruhr und Ansteckung an Krankheit und Seuchen, wie jüngste Erfahrungen mit örtlichen Revolten und den Choleraepidemien gezeigt hatten. 40 – Die Pauperismusdebatten jedenfalls bezeugen, dass seit der späten Aufklärung Gesellschaft und Bürgertum die pathologischen Aspekte der Armut nicht wieder aus den Augen verloren.
38 | Ni. S. 317ff., 353 u.ö. 39 | Vgl. F. S. 124 u.ö. 40 | F. S. 125ff.
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2.6 Sozialintegrative Lösungsansät ze von der Medizinalreformbewegung bis zur Sozialreform Bismarcks Die bis Mitte des Jahrhunderts auch statistisch untermauerte Beobachtung, dass es mit Gesundheitszustand und mittlerer Lebensdauer im Proletariat eindeutig schlechter bestellt war als im bürgerlichen Lager, 41 musste sich auch auf den sozialpolitischen Kurs des Bürgertums auswirken. Als Folge der arbeiterseitigen Disparität befürchtete man politisch und gesundheitlich auf Dauer eine Destabilisierung der ganzen Gesellschaft. Die bürgerlichen und staatsrelevanten Gesellschaftskreise gelangten zu der Überzeugung, die gleitende Armut, die materielle Rand- bzw. Risikoexistenz in breiten Schichten der Massengesellschaft, die Verelendung des Proletariats auf dem Hintergrund vermehrter Krankheitsanfälligkeit und verkürzter Lebenserwartung sei für das bestehende System eine hochexplosive Zeitbombe. 42 Von daher erschienen spezifischere Maßnahmen angebracht als wie sie bisher, etwa in Form der gesetzlichen Armenkrankenversorgung, zur Anwendung gekommen waren. Die Zielvorstellungen richteten sich von nun an auf Einbürgerung der Arbeiterschaft in die Gesellschaft, auf ihre Pazifikation durch dezidierte soziale Integration. Die Medizinalreformbewegung um Rudolf Virchow, Rudolf Leubuscher und Salomon Neumann kolportierte als Heilmittel den Gedanken einer von Ärzten angeleiteten öffentlichen Gesundheitspflege als Lebensgrundlage für alle, auch die mittellosen Bevölkerungsschichten. 43 Zur Beurteilung des sozialpolitischen Problems genügte dem Reformer Salomon Neumann nicht länger die einfache und unsichere, allein auf den Arbeiterstatus bezogene Mortalitätsstatistik. Er lieferte vielmehr mit aussagefähigen Statistiken zu Krankheitshäufigkeit und Todesursachen in vergleichbaren Kollektiven der verschiedenen Berufsgruppen eine Analyse der »socialen Lage«. Die Faktoren für Krankheitshäufigkeit, Lebenszeitlimit und Verelendung des besitzlosen Arbeiterstands ergaben sich für ihn nicht allein aus der körperlichen gewerblichen Arbeit selbst, sondern mehr noch aus den gesamten, vom unsicheren, schwankenden Lohnniveau abhängigen Lebensumständen. 44 Im weiteren Zeitverlauf am Ende des Diskurses galten als Kriterien der sozialen
41 | F. S. 222. 42 | F. S. 230f. 43 | F. S. 142ff., hier speziell 145; 231f. – Frevert analysiert viel zitierte Texte der »sozialen Medizinreformer« minutiös von Neuem, so auch die Aufzeichnungen des jungen Virchow oder später die Schriften S. Neumanns. Den »kranken Unterschichten« begegnete Virchows Ärztekommission übrigens mit einer Mischung aus »Ekel« und »Mitleid«, Verachtung und hegemonialer Hilfsbereitschaft, vgl. S. 142. 44 | F. S. 228f.
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Lage folgende Variablen: 1. Art der Arbeit (Arbeitsbedingungen, Arbeiterschutz, Gewerbehygiene), 2. Einkommen, 3. Wohnung, 4. Ernährung, 5. Kleidung, 6. Familienstabilität (Arbeitstätigkeit der ganzen Familie, Entsittlichung,), 7. private Haushaltsökonomie, 8. Hygieneverhältnisse (Wohnungs- und Körperhygiene), 9. Moral (Genussmittel, Alkohol, Sexualität), 10. Arztzugang. 45 Eine Entschärfung der mit der sozialen Lage der Arbeiterschaft gegebenen brisanten Situation versprach sich das Bürgertum (darunter explizit auch Kaufleute und Unternehmer) auf Dauer nur durch die »ökonomische und sozio-kulturelle Integration« des vierten Standes in die kapitalistisch indoktrinierte bürgerliche Gesellschaft, 46 letztendlich durch seine gesellschaftliche Assimilation mit Anpassung von Verhalten und Lebenseinstellung an den Kodex der bürgerlichen Kardinaltugenden. 47 Sozialpsychologisch erkannte man auf eine Mit- oder Selbstschuld der handarbeitenden Massen an ihrer sozialen Verelendung durch Entsittlichung, Hygienemangel und ein durch großzügige öffentliche Regelungen gefördertes Anspruchsdenken. 48 Das Prinzip der staatlich-kommunalen Versorgungsverwaltung musste nunmehr zurücktreten, weil sich Selbstverantwortung und soziale Konformität des Proletariats der Massen nur auf dem Prinzip der Selbsthilfe gründen ließen. Mit der Einrichtung von Sparkassen und vor allem Krankenkassen als Basis einer kollektiven Krankenversicherung fiel der Startschuss für den Prozess der Sozialintegration. 49 Schon lange vor Bismarcks Sozialreform traten im deutschen Raum zur Kompensation des Lohnausfalls zwecks Leistung von Krankengeld freiwillige Krankenkassen auf den Plan; in Preußen konnten die Kommunen, 1854 gesetzlich dazu autorisiert, sie unter gegebenen Umständen auch obligatorisch gestalten mit der Möglichkeit der Erhebung eines Arbeitgeberanteils.50 Auf legislativer Seite fanden dieserart sozialreformerische Bestrebungen, Vorstellungen und Vorschläge im Ganzen nur zögerlichen Widerhall. Immerhin markierten die preußische Allgemeine Gewerbeordnung von 1845 und die von Bismarck 1883ff. eingeleitete Sozialgesetzgebung den Rahmen gesetzlicher Verbürgerlichung der proletarischen Lebensverhältnisse.51 Dennoch bestand im 19. Jahrhundert für die Arbeiterklasse die »Un45 | F. S. 229ff. 46 | F. S. 154. 47 | F. S. 152ff. – Sinnbild für die Koinzidenz von Ökonomie und sozio-kultureller Anpassung war für die Unterschichten das Sparbuch (später die Krankenversicherung). Für sie steckte in ihm nach einem Bild Ludwig Jacobis nicht nur ein Stück Sicherheit, sondern auch ein »Kapital von Tugend«, S. 152. Vgl. die Einbindung des Arbeiters in eine Staatsbürger-Gesellschaft durch Vergabe von Verwaltungspositionen in Krankenkassen, S. 183. 48 | F. S. 135f.; 139ff. 49 | F. S. 149-187; 220-242. 50 | Ni. S. 339. 51 | F. S. 150, 183.
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gleichheit vor dem Tod« weiterhin fort, änderte sich wenig an der medizinisch und statistisch belegten Disparität und Dysbalance der Lebenschancen, blieb die »Arbeiterfrage« offen.52 Aufgrund legislativer Restriktionen konnten alle Bemühungen um »Hygienisierung« und »Medikalisierung« nicht verhindern, dass Arbeits- und Lebensverhältnisse des Arbeiters seine Gesundheit und Arbeitskraft als einzige Quelle für eine erfolgreiche Existenzgestaltung fortdauernd gefährdeten.53 Das war m.E. bei der globalen Umwälzung der demographischen, technisch-wissenschaftlichen, ökonomischen und gesellschaftlichen Tektonik kaum anders zu erwarten. Kritik gebührt dem Gros des industriellen Unternehmertums, das sich der Einführung von ärztlicherseits geforderten Arbeiterschutzmaßnahmen mit aller Härte entgegenstellte.54 Lediglich 1/10 der Arbeitgeber zeigte sich im späten 19. Jahrhundert nach dem Urteil eines sachverständigen Zeitgenossen um Sicherheit und Gesundheit der Arbeiter in ihren Betrieben ernstlich besorgt.55
2.7 Bismarcks staatssozialistische Inter vention So umgab Alltagsleben und Lebensprognose des städtischen Massenproletariats, der industriell, kleingewerblich und im Dienstleistungsgewerbe Beschäftigten mit ihren Familien ökonomisch ein Klima der Unsicherheit und Ambivalenz. Die von Bismarck initiierte große Sozialreform, deren Gesetzgebung eines interventionalistisch-»staatssozialistischen« Charakterzuges nicht entbehrt, verfolgte pauschal gesehen (einmal ohne Berücksichtigung von Sonderinteressen der Regierung) das Ziel, die Plattform für einen dauerhaften sozialen Frieden in Deutschland zu schaffen.56 Die Sozialreformära dauerte immerhin über die Zeit Bismarcks hinaus von 1883-1908 (1914 RVO) und führte zu einer schrittweisen Verbesserung des Systems. Die ständigen Einsprüche der Industrie bereiteten schließlich einem weiter fortschreitenden Reformprozess das Ende.57
52 | F. a.a.O. – Nipperdey kommt zu dem gleichen ambivalenten Urteil: nach ihm ist die Sozialversicherung »ein Stück Einbürgerung des Proletariats in die bürgerliche Gesellschaft« – aber ohne Lösung der sozialen Frage angesichts der bleibenden, die Familienexistenz bedrohenden Risiken, S. 353. 53 | F. S. 220-231, 241. 54 | F. S. 234, vgl. 189ff.; zum harten Gegensatz zwischen Unternehmern und Arbeitern s. auch Ni. S. 307, 322, 353, 359f., 371 trotz der im allgemeinen eher unternehmerfreundlichen Einstellung des Autors, S. 251ff. 55 | F. S. 190. 56 | We. 907ff., 915. 57 | We. S. 1086-1090. Der »bahnbrechende Charakter« der Bismarckschen Versicherungsgesetze resultierte aus ihrem unabschätzbar ausdehnungsfähigen interventionsstaatlichen Ausgangsformat, S. 1086. Den politischen Ausschlag für die
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Die Sozialgesetzgebung, genauer die Inauguration des Prinzips der obligatorischen staatlichen Versicherung gegen Störfälle in der Lebenssituation der lohnabhängig arbeitenden Bevölkerung bedeutete zweifellos, auch aus heutiger historischer Sicht, eine Sternstunde in der von preußisch-monarchischer Herrschaftsideologie58 infi ltrierten Frühgeschichte des jungen deutschen Einheitsstaats. In welche Richtung die neugeschaffenen Sozialapparaturen, nicht zuletzt eigendynamisch, die Entwicklung vorantrieben, lässt sich am Beispiel der staatlichen Krankenversicherung zeigen. Vor 1883 kamen in Deutschland individuale ärztliche Leistungen und Hilfestellungen praktisch nur einer privaten, aus einer kleinen Zahl wohlhabender oder reicher Patienten bestehenden Klientel aus Adel und Bürgertum zugute, die etwa 5 % der Bevölkerung ausmachte. Die gesetzliche Krankenversicherung induzierte einen beispiellosen Medikalisierungsschub und revolutionierte den Gesundheitsmarkt mit einer generalisierenden Verteilung der ärztlichen Dienstleistungen tendentiell auf die Gesamtbevölkerung. Der ärztliche Versorgungsanteil der erwerbstätigen Bevölkerung stieg von 10 % im Jahre 1885 auf rund 50 % im Jahre 1914. Schon in dieser Zeit beschäftigten sich 90 % der Ärzte, deren Zahl sich aufgrund des staatlichen Sozialeingriffs trotz der Warnungen der etablierten Ärzteschaft vor Berufsüberfüllung im Rahmen eines Akademisierungseffekts prompt sprunghaft erhöhte, überwiegend mit Kassenpatienten.59 Die Individualmedizin wird zum ersten Lebensbereich in der Massengesellschaft, in dem das Klassendenken, eher unabsichtlich, eine Nivellierung erfährt und egalitäres über elitäres Prinzip öffentlichrechtlich triumphiert. Insgesamt entspannte im Sachzwangstil die Konzeption einer einheitsstaatlichen sozialgesetzlichen Grundordnung die soziale Krisenatmosphäre in der reichsdeutschen Massengesellschaft. Erst die staatliche Sozialpolitik vermochte im Gegensatz zu den Aktivitäten der zuständigen finanzschwachen Kommunen auf der Basis eines allgemeinen Reallohnanstiegs gegen Ende des Jahrhunderts die Armutsentwicklung in den Städten zu bremsen.60 Und wer oder was anderes als die Versicherungsgesetze (die Sozialversicherung und später die Arbeiterschutzgesetze) leisteten in Erfüllung des Bismarck’schen Kalküls den entscheidenden Beitrag zur Integration des Proletariats in das realexistierende Herrschaftssystem.
Ausgestaltung des Gesetzwerks gab die Sozialdemokratie, S. 1089. – Zum Reformblockade durch die Industrie s. auch F. S. 234. 58 | Bezug genommen wird hier auf die von Bismarck praktizierte (Verfassungs-)Lückentheorie, derzufolge dem preußischen Monarchen aus Anciennitätsgründen bei fehlender Einstimmigkeit zwischen Krone, Abgeordnetenhaus und Herrenhaus das Alleinbestimmungsrecht wieder zufällt, We. S. 274 (253ff.). 59 | We. S. 738f. 60 | We. S. 149.
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Die Vorbildfunktion, die das deutsche staatliche Versicherungstableau bis ins 20. Jahrhundert für Länder in aller Welt ausgeübt hat, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass gleichzeitig auch anderswo in Europa, in England, der Schweiz und in Österreich reformerische Sozialpolitik nach vorne drängte, besonders auf einem von Bismarck im Unternehmerinteresse noch vernachlässigten Gebiet, dem Arbeiterschutz.61 Auch in der Sozialhygiene scheint der Gedanke durch, die Industrieländer stünden untereinander in einem sozialen Wettbewerb, ja es sei Deutschland aufgetragen, gerade im Sozialen um Weltgeltung zu kämpfen.62
2.8 Die Sozialhygiene im Nachhall der reichseinheitlichen Sozialreform Das Kaiserreich wurde durch die interventionalistisch-staatssozialistische Sozialgesetzgebung Bismarcks zwar zu einem modernen Sozialstaat, aber nicht – und sei es im Formenrahmen einer konstitutionellen Monarchie – zu einer modernen sozialen Demokratie umgestaltet, die vor einem oder ohne einen Krieg schichtdurchgängige Gleichberechtigung gebracht hätte.63 Die konstitutionell-strukturelle Verzerrung entsprang der unglückseligen Legierung der Staatsgebilde Preußen und Reich: sie eröffnete den deutschen staatspolitischen Sonderweg, indem sie die Präponderanz der Herrschaftsmacht gegenüber dem Parlament in Militär- und Außenpolitik aufrechterhielt.64 Eine zurückliegende Marotte preußischer Verfassungsauslegung65 – aber eine schwerwiegende Episode in der neuen deutschen Reichsgeschichte, die diese bis in den letzten Winkel verschattet. In dieser Hoch-Zeit relativer sozialer Beruhigung um die Jahrhundertwende eroberte sich die Sozialhygiene als bunte akademische Formation in Praxis und Wissenschaft einen prominenten Platz auf der Bühne der deutschen Sozialgeschichte. Ihr Debüt auf dem Kontinent kam spät im Vergleich zum Auf bau der Parallelinstitution Public Health im insularen England Jahrzehnte zuvor. Ganz andere politisch-systemische Zwänge, öffentlichrechtliche Vorgaben, kulturelle Traditionen, postrevolutionäre Erfahrungen, wissenschaftliche Impulse und die unter preußischer Dominanz erfolgte Reichseinigung bestimmten Motive, Antriebe, Ziele ihrer Inkorporation und ihre sehr bald einsetzenden vitalen Aktivitäten. Von Entstehung, Ideologie und Wirkung her erwies sich die Sozialhygiene gerade in ihrer polyvalenten Spannbreite als eigenständige kontinentale Größe, die, wie wir noch sehen werden, vielfältige, in ihrer partiellen Widersprüchlichkeit auch zerfallsträchtige rationale, sozialökonomische, sozialethische, sozialistische, natio61 62 63 64 65
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We. S. 915. Grotjahn z.B. 1926, S. 56, 285. We. S. 915. We. S. 483-486, 771f., 1276-1279, 1285f. We. S. 274, vgl. Fußnote 58.
2. D ER G E SCHICHT SRAHMEN : G E SUNDHEIT
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nale und rassistische Komponenten in sich trug. Ihre Singularität spiegelt sich auch in dem ungeheuerlichen Schicksal, das einer renommierten Sozialinstitution, insbesondere ihren jüdischen Vertretern, auf dem westlichen Kontinent nach 30-jährigem Arbeitsperiode, je zuteil wurde: berufliche Ausmerzung und physische Ausrottung, abrupter und lautloser Untergang im Eisschock des Faschismus.
3. Postrevolutionäre Volksgesundheitsbewegungen in Preußen/Deutschland in der 2. Hälf te des 19. Jahrhunder ts
3.1 Revolution und Säkularisation Am Anfang unserer Zeit war die Französische Revolution. Sie setzte defi nitiv und unumkehrbar das Faktum der Säkularisation, der Entkirchlichung der Massen aller Stände der zivilisierten Welt. Nach der ekstatischen Entmythologisierung zeigte sich aber auch, dass Freiheit auf dem Weg durch ihr Universum nicht ganz ohne Leitsterne auskommt, wie es das kurze Interregnum der apotheosierten Vernunft in Frankreich beweist. Über die Zwischenspiele der reaktionären Erben und Vollstrecker wollen wir hier nicht reden, die Revolution, einmal entfacht, nimmt durch die Geschichte ihren uneinholbaren Lauf. Der Zusammenhang von (fortlaufender) Säkularisation und Siegeszug des Gesundheitsideals in Mitteleuropa ist von den Literaten der Sozialgeschichte am Rande zwar konstatiert,1 seine Konsequenzen für den Ausbau des Gesundhheitsgedankens in den beiden letzten Jahrhunderten aber kaum jemals eingehender untersucht worden.
3.1.1 Bürgerliches Dilemma z wischen Staat und Industriemacht Nach Niederschlagung der zwischenzeitlich siegreichen Revolution von 1848/49 bemächtigte sich des Staatsapparats im Deutschen Bund ein zwei1 | Labisch/Tennstedt 1985, S. 569 Anm. 2 mit Hinweis auf Geigel et al. 1875; vgl. ebd. S. 117f. (»fundamental-säkulare[r] Prozess[])«, vgl. 152; Labisch 1992, S. 21ff. (»Entreligionisierung«, 22, »Werte [...] säkularer Natur«, 24), vgl. 3.1.6. – Säkularisation und Lebensreform: Heimatlosigkeit für Emotionalität und Freiraum für eine neue Gewissheit, Krabbe 2001, S. 25. – Aufwertung von Leben und Gesundheit durch Diesseitigkeitsorientierung des Menschen in den westlichen Industrienationen, Imhof 1988. – Geburtenrückgang durch Wandel der Massenpsyche im Zuge der Entkirchlichung, Grotjahn 1926, S. 76ff.
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tes Mal die Restauration. Die durch die Ereignisse neu gesteckten Positionen verlieh ihr aber ein anderes Gepräge als das ihres vorangegangenen totalitären Pendants. Das liberale Bürgertum hatte in der Revolution seinen Machtund Geltungswillen bekundet. In den Köpfen war die Revolution nicht wirklich gescheitert. Trotz aller obrigkeitsstaatlichen Restriktionen wagte es die Restauration deshalb nicht, grundlegende Errungenschaften der Revolution wie Verfassungsstaat und Zielvision eines liberalen Nationalstaats auf die Müllhalde der Geschichte zu befördern. Vielmehr wählte sie für ihre Regierungsarbeit ein ambivalentes Modell, das sich aus Repression und »wohldosierter Modernisierung« zusammensetzte.2 Die ambivalente Taktik dürfte mit ein Grund dafür gewesen sein, dass das Regime »nicht einmal ein volles Jahrzehnt« durchhielt.3 Die Wahrheit ist, dass die bürgerlich-liberale Bewegung die Niederlage überlebte, wenn auch nicht im Geist der Revolution, so doch in einem solchen der demokratischen Reform. Wissenschaft, Technik und Wirtschaft taten das Ihre, den liberalen Zeitgeist noch zu beflügeln. Im Glauben daran, »doch auf der Siegerseite der Geschichte zu stehen«, 4 die Spitze der modernen Gesellschaftsbewegung zu sein5 zog das bürgerlichliberale Selbstbewusstsein auch in dunklen Zeiten unbeirrbar seine Bahn. Die in der Verfassung eingeräumten Rechte und Freiheiten begründeten im Bürgertum für die Zukunft, über spätere absolutistische Rezidive mit erneuten Verfassungseinschnitten hinweg, eine unzerstörbare optimistische, handlungsfreudige politische Grundstimmung. Die nachrevolutionären Jahrzehnte bis zur Reichsgründung und darüber hinaus erhoben sich zum Zeitalter emanzipatorischer Bürgerbewegungen.6 In den Augen Nipperdeys ist die Revolution zwar real gescheitert, nicht so sehr an den beteiligten Gruppierungen, ihren Taten und Unterlassungen, als vielmehr an der Vielzahl nach innen und außen gerichteter Probleme und deren »Unlösbarkeiten« im Übergang vom partikularistischen Territorialstaat zum Einheitsstaat. Als unseliges Erbe verblieb die unausgestandene Krise zwischen Staat und Gesellschaft. – Aber abseits ihres Scheiterns und ungeachtet der siegreichen Eliten erbrachte die Revolution eine »nationale Öffentlichkeit«, ja sie formte eine »national-demokratische Nation«. Sie überwältigte die Ära strikter Restauration vom Gepräge Metternichs und lancierte Einschnitte in das feudalistische System. »Trotz des Scheiterns – die Zeit seither ist bürgerlicher geworden«. Der politische Aufstieg des Bürgertums ließ sich allenfalls retardieren, aber auf Dauer nicht mehr aufhalten, wie es sich ein Dezennium später unstreitig erwies.7 Durchaus ambivalente Züge trug für das Bürgertum auch die Industrie. Der Staat begünstigte die Industrialisierung durch Herstellung der Rahmen2 3 4 5 6 7
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Wehler III, 1995, S. 205. Ebd., S. 197. Rürup III, 1985, S. 169. Vgl. Wehler a.a.O., S. 214. Zum Gesamtkomplex s. Wehler a.a.O., S. 196-221; Rürup, a.a.O., S. 166-184. Nipperdey 1987 (4. Aufl.), S. 663ff., 669f.
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bedingungen und Vorbereitung der Gewerbefreiheit. Ohne Frage brachte die Industrie Arbeit und wachsenden Wohlstand, aber bezogen auf das Bürgertum in unterschiedlicher Verteilung. Das Hauptkontingent des Bürgertums stellten gewerbliche Handwerker und (Klein-)Händler, die Träger des »alten« Mittelstands. Natürlich ließen diesen die Umwälzungen der Zeit nicht ungeschoren, im Gegenteil. Bevölkerungswachstum, Übervölkerung, berufliche Überfüllung, Unterbeschäftigung, wirtschaftliche Stagnation und die Konkurrenz der anlaufenden industriellen Produktion machten es ihm seit den 40er Jahren schwer, sich als Fels in der Brandung zu behaupten. Das Bürgertum war im Identitätsverständnis mehr, wirtschaftlich und sozial sicher weniger homogen als das Proletariat. Große Teile im Bereich der unteren Mittelklassen verfielen infolge des industriegesellschaftlichen Umbruchs in eine »proletaroide Existenz«, andere bannte das Schreckgespenst einer möglichen Proletarisierung und Pauperisierung.8 Am Rande der Städte und Ballungsgebiete induzierte die Industrie zudem ein sich immer bedrohlicher gebärdendes, nicht selten von Not und Elend gepeinigtes Proletariat.9 – Dennoch nahm das Bürgertum die sozioökonomische und geistige Herausforderung der Industrie an. Ohne Zweifel war sie ein fabrikats- und markenübergreifender Faktor des Aufschwungs, der Modernisierung, der technischen und betriebswirtschaftlichen Neuorientierung, der überbetrieblichen Neuorganisation und branchenweiten Vernetzung.10 Aber bis ins nächste Jahrhundert hielt sich im Mittelstand eine latente Krisenmentalität, wie sie noch die Aversion des sich formierenden »neuen« Mittelstands gegen die »proletarische Lebenswelt« reflektierte.11 Der Staat auf der einen Seite und die Industrie auf der anderen wurden zu des Bürger’s natürlichen Gegenspielern. Affinitäten und innere Übergänge gab es zuhauf (Sicherheit, Ordnung – Gewerbe, Handel und Verkehr). Aber das Bürgertum im Aufbruch seit den Freiheitskriegen meinte eben einmal nicht die Übermacht des konservativen Territorialstaats, sondern den liberalen Nationalstaat; es meinte im Grunde nicht das hemmungslose kapitalistische Gewinnstreben auf Kosten eines im Untergrund aufbegehrenden Proletariats, sondern gemäß dem Ideal der Aufklärung den harmonischen Glückseligkeitsstaat.12 Aus dieser mental-kontroversen Konstellation heraus begann das Zeitalter der bürgerlichen Gesundheitsbewegung, die im Windschatten der sich 8 | Nipperdey a.a.O., S. 182ff., 205, 210ff., 215ff.; Wehler a.a.O., S. 752ff. 9 | Ein ungebremster Kapitalismus herrschte um die Jahrhundertmitte in Deutschland noch zu einer Zeit, als in England der Manchester-Kapitalismus gesetzlich in seine Schranken gewiesen war. Die »kaum noch zu überbietenden Ausbeutungsmethoden«, die sich die deutschen Unternehmer leisten konnten, erfüllten ihre zur Räson gebrachten englischen Kollegen mit Neid. Entsprechend überragten die von Virchow mitgeteilten Mortalitätsziffern der preußischen Arbeiter aus dem Jahre 1843 um ca. 25 % die der englischen Arbeiter, Karbe 1983, S. 19, 70, Anm. 20-22. 10 | Nipperdey 1987, S. 214, 219. 11 | Wehler a.a.O. S. 756f., 762. 12 | Mit »Einbindung aller Sozialschichten in die neue ›bürgerliche‹ Gesellschaft«, Frevert 1984, S. 30f.
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seit 1850 als Leitwissenschaft etablierenden Hygiene rasant an Fahrt gewann. Das Bürgertum mobilisierte den im Freiheitsbegriff involvierten Gesundheitsgedanken gegen die absolutistisch gefärbte Staatsbürokratie und gegen die Menschen aufbrauchende Industrieexpansion in der Massengesellschaft. Die Verantwortung für deren Existenzgrundlagen: Infrastruktur, Gewerbe- und Wohngebiete, Elimination von Krisenherden, Kanalisation, Gesundheit, Auskommen jenseits von Armut, Armutsverwaltung, Verkehr, Bildung und Schule, Kultur- und Zivilisationszentren, Freizeit und Erholung etc. wuchs in frappanter Automatik der städtischen Selbstverwaltung und ihrem bürgerlichen Honoratiorenregiment zu.13 So sehr sich dadurch die gesellschaftspolitische Stellung des Bürgertums verstärkte, ergaben sich gegenüber Staat und Industrie zumindest mental und materiell doch wieder neue Abhängigkeiten.14
3.1.2 Staat und bürgerliche Selbst ver waltung (Kommunen) als Träger des öf fentlichen Gesundheitswesens Gegenüber den akut hereinbrechenden weiträumigen Katastrophen, vor allem Krankheitsdesastern wie Epidemien und Seuchen, die ganze Populationen auslöschten und Kleinstaaten verheerten, fühlte sich von altersher der Staat zwingend zum Handeln gedrängt. Ganz oben auf der Liste der Interventionsmotive standen ökonomische Zwecke. Galt es doch, zusammen mit den Untertanen staatstragende Gruppen zu schützen wie das Heer, die Arbeitskräfte in Landwirtschaft und Gewerbe, den Steuerzahler und die Jugend als national-territoriales Nachschubreservoir.15 Generelle humane Erwägungen etwa gegenüber den Gesundheitsverhältnissen der mittellosen Unterschichten spielten dabei schon deshalb eine geringere Rolle – das sollte hier gerechterweise angemerkt werden –, weil sowohl die wissenschaftlichen als die technischen Voraussetzungen für bevölkerungsweite medizinische Individualbehandlung fehlten; und auf dem Hintergrund der Vorstellung vom Gottesgnadentum überragte der absolutoide Monarch den ökonomisch-a-humanen Industrieherrn sozialethisch immer noch durch patronalistische Tradition und die von staatswegen sanktionierte Legitimation. Die staatlichen Behörden arbeiteten, wenn es im Unglücks- oder Katastrophenfall um Sicherung der öffentlichen Gesundheit ging, natürlich mit den Mitteln der Ordnungsmacht traditionell im Sinne der »medizinischen Polizey«. Geographisch-strategisch imponierten militäranaloge Interventionen mit Mobilmachung, Großeinsatz, Aufmarsch, Flächendesinfektion, 13 | Im akademisch-summarischen Gestus verkürzt sich diese gewaltige Kraftanstrengung der Kommunen zur »ökologischen Intervention«, Labisch/Tennstedt 1985, S. 125; sie wird im übrigen hier und in der einschlägigen Sekundärliteratur zur gesundheitstechnischen Hygiene oft und eingehend gewürdigt. 14 | Zur gesundheitspolitischen und ökonomischen Aufwertung der Städte s. ebd. S. 122ff. 15 | Labisch/Tennstedt 1985, Kap. II, S. 6ff.; vgl. 125.
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großräumige Absperrung, Grenzschließung, Zernierung oder Cordon, soziopolitisch solche ordnungsregulativen Charakters mit Appell, Anordnung, Bekanntmachung, Verhaltensanweisungen, Strafandrohung, Quarantäne, klinischer Zwangseinweisung, Arretierung, Asylierung und Isolation.16 Diese Maßnahmen waren durchaus effektiv, auch wenn sie, ungeeignet für die Prävention, stets post festum, erst nach dem Ausbruch des kollektiven Krankheitsereignisses zur Anwendung kamen und greifen konnten. Trotz interkurrenter spektakulärer Epidemien gingen insgesamt im 19. Jahrhundert europaweit akute Seuchen und plötzliche Krankheitsmassenereignisse zurück, die statistischen Morbiditäts- und Mortalitätsziffern sanken, die durchschnittliche Lebenserwartung stieg unaufhörlich an. Es war sozusagen das erste, worauf die Wissenschaftler der neuen Sozialhygiene hinwiesen, von diesem Faktum gingen sie aus und bauten sie ihr epidemiologisches Konzept auf.17 Im zusammenfassenden Rückblick auf die Gesundheitsverwaltung des Staates sind für uns zwei Gesichtspunkte von Interesse. Erstens koppelt sich an den Teilerfolg, den der Staat bei allen Unzulänglichkeiten, ja auch bürgerfeindlichen Folgen (für Handel und Wandel)18 mit seiner interventionellen Gesundheitspolitik erzielte, auf der aufsteigenden Gesundheitskurve ein Paradigmenwechsel von den akuten, ausgedehnten, überlokalen Krankheiten hin zu den chronischen Krankheiten, die auf engerem Raum lokal-regional unterschiedlichen Bedingungen unterlagen. Parallel dazu setzten sich mit den Fortschritten der Medizin und der staatlichen Sozialpolitik (Sozialgesetze!) Medikalisierungsschübe in Gang bis hin zum Konzept einer grundsätzlich jedermann zugänglichen ärztlichen Individualbehandlung.19 – Beide Umstände trugen dazu bei, dass sich Denkweisen und Strukturen des öffentlichen Gesundheitswesens veränderten. Während der Territorialstaat, integriert in die höhere Dimension des reichsdeutschen Einheitsstaats, als Träger von öffentlicher Gesundheitsbewahrung an Bedeutung einbüßte, stieg die gesundheitspolitische Verantwortung der Selbstverwaltung in den Kommunen an (die Kreise unterstehen weiterhin der Staatsaufsicht).20 Die geschilderten medizinisch, sozialmedizinisch und staatspolitisch veränderten Verhältnisse involvierten praktisch eine Veränderung und Erweiterung des Gesundheitsbegriffs. Die kommunale Leistungsverwaltung wird zur zentralen Funktionsgröße für Gesundheit und Soziales im Dienste der Daseinsvorsorge.21 Auf diese Weise gerieten schon früh Gesundheitsfürsorge und Wohlfahrtspflege auf eine Linie wie später auch in der Sozialhygiene. Jedenfalls kam es in der Gesundheitsverwaltung zu einer 16 17 gang. 18 19 20 21
| Labisch/Tennstedt, a.a.O. S. 123ff., 127f. | Vgl. Grotjahn 1923, S. 22, 44ff.; s. 2.1, Fußnote 3: Epidemiologischer Über| | | |
Labisch/Tennstedt a.a.O. S. 124. Frevert 1984, S. 231ff. Labisch/Tennstedt a.a.O. S. 123ff. Ebd. S. 122f.
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engen Kooperation zwischen Staat und Kommune, wobei letzterer das Übergewicht zufiel. Es liegt auf der Hand, dass sich die städtischen Behörden gegenüber ihrer von chronischen Krankheiten bedrohten oder erfassten Klientel anders verhielten als die staatlichen gegenüber akut Seuchenkranken. Chronische Erkrankungen wie Tuberkulose und Geschlechtskrankheiten bedürfen zu ihrer Kontrolle keiner schnellen gewaltsamen, zwangsmäßigen Intervention im Sinne einer Polizeiaktion. Krankheitsbekämpfung auf öffentlichem Boden erfolgt nicht länger in der Attacke, sondern als verwaltungsmäßiges Langzeitprojekt. Zu dessen Realisierung vergewissert sich die städtische Leistungsverwaltung in der Regel der Mitarbeit ortsansässiger oder regional beheimateter Experten, Ärzte, Hygieniker, aber auch von Nichtmedizinern wie Architekten, Ingenieuren, Verwaltungskräften, also eines fächerübergreifenden interdisziplinären Teams.
3.1.3 Das medizinische Wissenschaf tsfach Hygiene als Initiator einer komplexen öf fentlichen Gesundheitsanschauung Der beispiellose Aufschwung der Wissenschaften und der Technik erlaubt den Städten den Rückgriff auf das ortsnähere oder -weitere Expertenreservoir. Wissenschaften und Technik im Verein mit dem für sie charakteristischen kausalistisch-naturwissenschaftlichen Denkstil nehmen im Prozess der Modernisierung von Wirtschaft und Gesellschaft als unermüdlicher Antriebsmotor die Zentralstellung ein. Ohne die atemberaubenden Fortschritte aller Wissenschafts- und Technikzweige, in der Medizin besonders der Hygiene, sind die Umwälzungen in Europa, auch in der deutschen industriellen Revolution nicht denkbar. Von vornherein ist es das multiscientifizielle Zusammenwirken, das die human-gesundheitlichen Voraussetzungen für die einmalig neuen Seins- und Lebensstrukturen überhaupt erst schaff t. Die Wissenschaften, besonders das medizinische Wissenschaftsfach Hygiene, spielten für Staat und Kommune im epidemiologischen Konzept der Seuchenbekämpfung die Hauptrolle durch fortschreitende Auf klärung der Krankheitsätiologie. Den historischen Ausgangspunkt bilden zwei konträre Auffassungsmuster: der umweltzentrierte Kontagionismus, die Ansteckungstheorie, nach der die Krankheitsursache in einem Umgebungsstoff zu suchen ist, der atmosphärisch durch die Luft übertragen wird, und der personen- oder bevölkerungszentrierte Antikontagionismus, die Verschmutzungstheorie, die die Epidemien auf subjektives Verhalten unter ungünstigen Lebensbedingungen zurückführt.22 Die Interventionen des Staates stehen wesensmäßig unter dem Zeichen des Kontagionismus, und auch die Kommunen lassen sich bei ihren grundlegenden Maßnahmen (Assanierung, Kanalisation, Wohnungsbau, Ernährung, Kleidung) zunächst von kontagionistischen Vorstellungen leiten. Aber sehr bald im weiteren Ver22 | »Unkulturkrankheiten« nach Grotjahn 1923, S. 26, 35; vgl. die »Verwahrlosungskrankheiten« nach Gottstein 1926.
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lauf, ungeachtet der Ära der Bakteriologie, die den Kontagionismus sanktioniert, erlebt auch der antikontagionistische Ansatz eine Renaissance durch die ätiologische Berücksichtigung der sozialpathologischen Situation als Ganzes, die durch individuelle Disposition (Konstitutionstheorie)23, unterschiedliche Schädigungsarten und Lebensbedingungen (soziale Pathologie) bestimmt wird. In den Kommunen setzt sich nunmehr eine bereichsübergreifende multifaktorielle Betrachtungsweise durch, die bisher Gegensätzliches in einer Art communicatio oppositorum zusammenführt und die sich anschickt, die öffentliche Hygiene durch eine praktisch geübte soziale Hygiene zu ergänzen und zu erweitern. Tendenziell kündigt sich an, der Sanierung der städtischen ökologischen Umwelt die Sanierung der örtlichen sozialen Umwelt hinzuzugesellen durch Beratung, Gruppenbetreuung und gruppenorientierte Prophylaxe.24 Der gesellschaftsgeschichtliche Trend im Zeitalter der Urbanisierung, Industrialisierung, Proletarisierung und Vermassung treibt in der Gesundheitsfrage auf einen Punkt zu, der uns heute im wissenschaftlichen Bereich als »gesundheitswissenschaftliche« Position geläufig ist. Tatsächlich ist die Hygiene im nachrevolutionären Deutschland, deren Erkenntnis- und Wissensschatz die Kommunen in ihrer Gesundheitsarbeit jetzt vorrangig instrumentalisieren, ihrer Anlage nach elementar gesundheitswissenschaftlichen Prinzipien verpflichtet.
3.1.4 E xkur s 1: Gesundheitswissenschaf ten in Deutschland im 19. Jahrhunder t und früher ? Die bürgerliche Selbstverwaltung in den Kommunen betreibt eine Gesundheitspolitik nach den Grundsätzen der Hygiene, auf der Grundlage einer multifaktoriellen Krankheitsätiologie unter Mitwirkung interdisziplinär ausgewählter Experten. Die Hygiene selbst erhebt Anspruch darauf, auch die »sociale Hygiene« mit zu vertreten, und macht sie zu einem Elementarbegriff des Zeitalters.25 Labisch und Tennstedt beziehen deshalb den Begriff »Gesundheitswissenschaften« auf die Gesamtheit wisssenschaftlich gestützter (öffentlicher) bürgerlicher Gesundheitsbetätigungen im 19. Jahrhundert.26 Der Begriff selbst, vor allem auch in seiner Pluralform, kommt aller23 | Friedrich Martius, Ottomar Rosenbach, Oskar Liebreich, Ferdinand Hueppe und Adolf Gottstein, s. Martius 1923, S. 126; Labisch 1997, S. 681f. 24 | Labisch/Tennstedt a.a.O. S. 119ff., 142, 145; Hueppe 1925, S. 10. 25 | Schon Oesterlen 1851, S. 758ff. 771ff.; Pettenkofer/von Ziemssen, Handbuch der Hygiene 1882, Zweiter Theil: »Sociale Hygiene«, Labisch 1992, S. 165; Rubner, s. ders. ebd.; Hueppe 1925, S. 10; vgl. Labisch/Tennstedt a.a.O. S. 121f.; Hygiene gegen Eigenständigkeit einer »socialen« Hygiene S. 141. 26 | Der Sachverhalt Gesundheitswissenschaft(en) ergibt sich, gleich in welchem Zeitalter, wann und wo die beiden Kriterien »medizinische Wissenschaft« und »öffentliche Gesundheit« zusammentreffen und wissenschaftliches Wissen in handlungsleitendes Wissen umgeformt wird, Labisch/Woelk 2004, S. 49f., bes. 79.
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dings im zeitgenössischen Schrifttum, soweit von den Historikern gesichtet und erarbeitet, sehr lange nicht vor. Als terminologische Rechtfertigung für ihren Sprachgebrauch dienen den Autoren Formulierungen Pettenkofers nach 1850 wie »Wirtschaftslehre der Gesundheit«, »Gesundheitslehre«, »öffentliche Gesundheitspflege« und Rubners These von der »Mehrung der Gesundheit« 1903.27 Mit der Verwendung des Begriffs wollen die Autoren offensichtlich der Schwierigkeit Rechnung tragen, dass die »Sache« da ist, aber nicht circumscipt das legitimierende universitäre leitwissenschaftliche Spezialfach. Das 19. Jahrhundert belässt die öffentliche Gesundheitspflege noch unter kommissarischer Verwaltung der Hygiene und deren inoffizieller Aushilfe, der »socialen Hygiene«, ohne ihr durch Konstitution eines Spezialfachs eine autonome Leitwissenschaft zuzueignen. Eine solche Akademisierung der Sozialhygiene unter Anwendung entsprechender Wissenschaftlichkeitskriterien sollte erst später um die Jahrhundertwende gelingen. Bei allem Verständnis für ihre Motive, ändert die kapriziöse Art, in der die Arbeitsgruppe um Labisch und Tennstedt in historischer Darstellung mit dem Begriff »Gesundheitswissenschaften« verfährt, nichts daran, dass der deutsche Terminus im Singular (wohl im Anklang an Public Health) eine Schöpfung des 20. Jahrhunderts ist. Und zwar taucht die Bezeichnung »Gesundheitswissenschaft« für Metier und Profession der Sozialhygiene nicht erst, wie bisher angenommen wurde,28 erstmals im Handbuch der sozialen Hygiene 1925 auf.29 Im gleichen Jahr verwendet ihn auch A. Fischer ganz unbefangen und wie selbstverständlich.30 Unter Berufung auf Gottstein datieren dagegen Labisch und Mitarbeiter die Gesundheitswissenschaften »bis in die Anfänge des 19. Jahrhunderts« zurück. Dazu wählen sie 1985 und 1992 einen Text aus Gottsteins »Allgemeiner Epidemiologie« 1897, der sich nicht mit dem Begriff »Gesundheitswissenschaft« beschäftigt, sondern mit der Entstehung der Tuberkulose durch die Trias Keim, erbliche Anlage und Sozialstatus. Nach Labisch schließt sich Gottstein mit dieser Auffassung einer multifaktoriellen Ätiologie, einer grundsätzlichen Pluralität von Krankheitsursachen (1992: »bewusst«!) »an die Gesundheitswissenschaften an, die (bis) in die Anfänge des 19. Jahrhunderts zurückreich(t)en«.31 Gottstein vertrat tatsächlich die letztere Auffassung, verwandte dabei auch erstmals den Begriff »Gesundheitswissenschaft« (im Singular), aber nicht 1897, sondern 10 Jahre später 1907, aber immerhin fast 20 Jahre vor dem allgemein angenommenen Zeitpunkt der Erstfi xierung des Begriffs 27 | (Gesundheitsmehrung) Labisch/Tennstedt S. 121, Labisch 1992, S. 191; (Wirtschaftslehre der Gesundheit) Labisch/Tennstedt S. 26, 118, 126; Labisch 1992 S. 129, 189. 28 | Hurrelmann/Laaser 1993, S. VII, 9; Hurrelmann/Laaser 1998/2004, S. 11, 20; Labisch/Woelk 2004, S. 75. 29 | Gottstein et al. 1925 Bd 1, S. Vff. 30 | In der 2. Aufl. seines »Grundriss«, S. 1f.; die 1. Aufl. 1913 gebraucht den Begriff noch nicht. 31 | Labisch/Tennstedt ebd., S. 139f.; Labisch 1992, S. 164.
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in der deutschen Fachliteratur 1925. Die Verwirrung entsteht jetzt dadurch, dass die Autoren um Labisch den richtigen Aufsatz an den genannten Stellen nicht zitieren, ihnen also die für ihre Theorie so wichtige Fundstelle verloren gegangen sein muss. Im Originalaufsatz Gottsteins von 1907 heißt es gleich zu Beginn: »Die ›Soziale Hygiene‹ ist, wie die geschichtliche Betrachtung lehrt, die geradlinige Fortsetzung jener ersten Periode der Gesundheitswissenschaft, deren Anfänge bis zum Beginn des neunzehnten Jahrhunderts zurückreichen und die etwa bis zu dessen Mitte gerechnet werden kann. Die Kontinuität der Entwicklung wurde dann für mehrere Jahrzehnte dadurch unterbrochen, dass die zwei noch heute maßgebenden Richtungen der Hygiene, die physiologische und die mikroparasitäre Schule, entstanden«.32 In den von Labisch et al. zitierten Texten (1897, 1901) verlautet weder etwas von »Gesundheitswissenschaft« noch von deren Verwurzelung im frühen 19. Jahrhundert.33 Sie können sich auch nicht darauf zurückziehen, aufgrund anderweitiger Fakten (ätiologische Mehrfaktorentheorie) berechtigt gewesen zu sein, Gottstein für die Zeit um 1900 den möglicherweise eh älteren Begriff »Gesundheitswissenschaften« im höheren Sinnzusammenhang zu distribuieren. In ihrer letzten Äußerung zur Sache erklären sie nämlich, der Begriff »Gesundheitswissenschaft« sei in Deutschland (»bereits«!) in den 1920er Jahren geprägt.34
3.1.5 Die Historikergruppe um Alfons Labisch Die Geschichte der deutschen Sozialhygiene als Wissenschaftsgebilde in Kaiserreich und Weimarer Republik harrt bis heute einer monographischen, problemgeschichtlich ausgerichteten Gesamtdarstellung. Das Fehlen einer Synopse der in dieses Gebilde eingeflossenen individuellen Sozialkonzepte mögen viele bedauern, andere nicht eigentlich vermissen. Zum Ersatz existieren aus der Feder ost- und westdeutscher (seit 1990 gesamtdeutscher) Autoren zahlreiche Einzelarbeiten, Aufsätze, Kongressberichte, Dissertationen, Einleitungs- und Vorwort-Historiographien, Gedenkartikel, Buchkapitel u.s.f., die in toto ein historisches Patchwork der veritableren Art implizieren.35 Ganz
32 | Gottstein 1907, S. 3, s. dort auch Anm. 1. 33 | Auch Gottsteins »Geschichte der Hygiene« bietet – entgegen den Andeutungen Labischs 1992 – nichts derartiges. Hygiene welcher Schattierung auch immer fällt als »eigene[] Wissenschaft mit einheitlichen Grundgedanken sogar ausschließlich in das letzte Viertel des abgelaufenen Jahrhunderts«, ders. 1901, S. 228; Labisch bezieht sich in der zitierten Arbeit Gottsteins von 1901 am ehesten auf dessen Würdigung Virchows und seiner Einsicht in die »sozialpathologische[] Natur der Volksseuchen«, ebd. S. 251. 34 | Labisch/Woelk 2004, S. 75. 35 | Besonders hervorzuheben und auch viel beachtet sind hier die Beiträge von Rosen 1993, 1975, 1974 und Sand 1952.
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vorne an stehen für uns die Arbeiten der Gruppe um Alfons Labisch.36 Im Gewand quasi virtuell vorgestellter Gesundheitswissenschaften verlagern die Autoren die Geschichte der Sozialhygiene bis weit in den Anfang des 19. Jahrhunderts und zuletzt weit darüber hinaus.37 Labischs Monographie aus dem Jahre 1992, »Homo hygienicus«, bildet einen Höhepunkt des Diskurses über Gesundheit als Zentrum modernen wissenschaftlichen Bewusstseins und wird im nächsten Abschnitt (3.1.6) gesondert besprochen. Den genannten Autoren geht es primär um die 2000-jährige abendländische Geschichte der öffentlichen Gesundheitssicherung. Diese beinhaltet die Frage nach der Aufspürung öffentlicher Krankheitsursachen und öffentlicher Krankheitsbekämpfung in Städten, Stadtstaaten und (Territorial)Staaten als Handlungsebenen, durch städtische, territoriale und zentrale Gewalten als Handlungsträger und wissenschaftliche, staatstheoretische, politische, soziale und früher eher seltene ärztliche Instanzen als Handlungsanleiter oder Instrukteure. So entsteht ein kompliziertes Geschichtsbild mehrschichtiger Zeitströmungen und vielmotiviger öffentlicher Gesundheitsbestrebungen auf der medizinhistorischen Generalstabskarte, in dem die Bewegungen der Sozialhygiene nur als Punkte-Cluster und in ihrem wahren Zusammenhang und strategischen Stellenwert nur schwer aufzufassen sind. Tatsache scheint zu sein, dass sich in der alltäglichen europäischen »Lebenswelt« der Gedanke an eine öffentliche (überindividuelle) Gesundheit empirisch eher einstellte als es der (individualistischen) Medizin unter den zeitgeistigen Bedingungen gegeben war, diesen Gedanken wissenschaftlich zu untermauern. Erst zu bestimmten Zeitpunkten der neueren Geschichte hat sich diese Fusion zwischen öffentlicher Gesundheit samt ihren Weiterungen (öffentliche Krankheitsursachen und Bekämpfungsmethoden) und medizinischer Legitimation vollzogen (Frankreich und England 18./19. Jahrhundert, Deutschland 19. Jahrhundert).38 Diesem Fusionsergebnis erkennen die Autoren den Namen »Gesundheitswissenschaften« zu, obwohl der deutsche Begriff (zudem noch im Singular) erst zu Beginn, das englische Pendant »Health Sciences« erst gegen Ende des 20. Jahrhunderts in der wissenschaftlichen Literatur auftauchen, um die gemeinte Sache in Europa im Gewimmel der unterschiedlichen Akteure auf den verschiedenen Ebenen in wechselnden Disziplinen und Zeitphasen besser verfolgen zu können. Die Leitwissenschaft der öffentlichen Gesundheitssicherung in geschichtlicher Zeit sind nach Ansicht der Autoren auch ohne deklarative Inthronisation die Gesundheitswissenschaften. Von solchen kann man aber nur reden, soweit man sich von medizinisch-wissenschaftlicher Seite her um eine öffentliche (überindividuelle) Gesundheit samt Abwehr- und Vorsorgemaßnahmen bemühte oder soweit man in späteren Perioden das meist stets wahrgenommene Problem im
36 | Labisch/Woelk 1998 bzw. 2004; Labisch 1992; Labisch/Tennstedt 1985. 37 | Labisch/Tennstedt 1985 I, S. 139 f; Labisch 1992, S. 164, s.o. Fußnote 31; durchgängig Labisch/Woelk 2004. 38 | Labisch/Woelk 2004, S. 59f.
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jeweiligen Moment auch mit den Mitteln der aktuellen wissenschaftlichen Medizin und in Zusammenarbeit mit Ärzten anpackte und bearbeitete.39 Der Weg einer dieserart zusammenfassenden, dem jeweiligen Zeitabschnitt vorauseilenden Apostrophierung ist gangbar, wenn auch nicht ungefährlich und ohne vorangehende Erläuterung der heuristischen Absicht verwirrend. Ähnlich »rückwirkend« gehen Gottstein 1907 und Fischer 1925 und 1932 mit dem Begriff »Gesundheitswissenschaft« um: für ersteren gibt es bereits in der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts (vor der Hygiene) eine »erste Periode[] der Gesundheitswissenschaft«, die in der Sozialhygiene ihre Fortsetzung findet;40 für den anderen ist »Gesundheitswissenschaft« Synonym für die gesamte physische, besonders die öffentliche Hygiene, der sich die Sozialhygiene als weiterer Teil angliedert. 41 Gesundheitswissenschaften im heutigen Sinn hat es, sieht man von bedeutsamen Ansätzen ab, im 19. Jahrhundert nicht gegeben. Die Autoren verwenden den Begriff als hermeneutisches Prinzip, um festzustellen, inwieweit in vergangenen Zeiten die Voraussetzungen gegeben waren für eine von der Medizin wissenschaftlich legitimierte Unternehmung wirklicher, öffentlicher Gesundheitssicherung. Mit diesem Instrument durchkämmen sie in zeitraubender Arbeit systematisch die europäischen Geschichtsperioden von der Antike bis in unsere Zeit nach »richtigen« Vorstellungen über öffentliche Gesundheit, in den meisten Epochen ohne Erfolg. Werden sie aber fündig, postieren sie ihr Prinzip am Fundort als Allegorie einer zeitgenössischen Wissenschaft der gewünschten Art. Sie kommen mit diesem Verfahren dennoch nicht weiter als ihre methodisch »konservativen« Kollegen, die die Zeit um 1850 mit Konstitution des Fachs Hygiene als den Zeitpunkt für das Einsetzen öffentlich-gesundheitlicher, wissenschaftlicher Forschungsrichtungen verkünden. Das Verfahren birgt auch insofern Gefahren, als es dazu verführen könnte, traditionelle bzw. klassische Wissenschaftszweige wie experimentelle Hygiene, Bakteriologie, Sozialmedizin u.a. nicht nur den Gesundheitswissenschaften als »Disziplinen«, Paradigmen oder Teilaspekten zuzuordnen, sondern sie für die Gesundheitswissenschaften geradezu zu vereinnahmen. Die Methode des hermeneutischen Gebrauchs des Begriffs »Gesundheitswissenschaften« (im Plural) bei Labisch und Koautoren darf nicht den Blick verstellen für die Eigenart unserer heutigen Gesundheitswissenschaften, als Fächerensemble in langwierigen Prozessen zu ihrer heutigen Größe zusammengewachsen zu sein und sich immer noch zu vergrößern bei relativer
39 | A.a.O. S. 50ff., 59, 79. 40 | Gottstein 1907, S. 3. 41 | Fischer 1925, S. 1f.; ders. 1932, S. 39ff. u.ö., vgl. Kap. 11.1. – Wir treffen also bei Einführung des Begriffs »Gesundheitswissenschaft« in die Sozialhygiene durch Gottstein und Fischer alsbald auf eine unterschiedliche Interpretation (= nur soziale Hygiene vs. gesamte öffentliche Hygiene mit neu hinzukommender Sozialhygiene). Bei Gottstein ist die Sozialhygiene direkt und allein »Gesundheitswissenschaft«, bei Fischer indirekt auf dem Weg über die öffentliche Hygiene.
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Eigenständigkeit ihrer »Disziplinen« oder Paradigmen. 42 Nur dadurch fungieren diese jeweils als Leitwissenschaft für entsprechende praktische Berufe mit spezifizierten Handlungsvollzügen. Eine Geschichte der Gesundheitswissenschaften qua nomine im Sinne Labischs et al. zu schreiben hieße, diese aus der Gegenwart in die geschichtliche Vergangenheit zu rekonstruieren. Es ist also im Grunde unmöglich, es sei denn, man transportiere nachträglich den Begriff Gesundheitswissenschaften als heuristisches Prinzip zurück in die Medizinhistorie. Für uns ist die eigentliche (Vor-)Geschichte der Gesundheitswissenschaften die Geschichte der Sozialhygiene. In den beiden Publikationen 1985 und 2004 kommt die Sozialhygiene auch anhand von Quellentextproben zur Sprache, in der ersten diskontinuierlich in zusammenhängenden Abschnitten, 43 in der zweiten an zeitgeschichtlich gehöriger Stelle in äußerster Kompression als eine »gesundheitswissenschaftliche« Geschichtsstation unter vielen. 44 Eine Beschreibung der geschichtlichen Gestalt der Sozialhygiene im Zusammenhang ihrer Inhalte, Ziele und ihres Schicksalswegs steht hier nicht auf dem Programm, 45 diesbezügliche Zitate erfüllen eher Schnittstellen- oder Brückenfunktion. Bei aller Formelhaftigkeit geben die Autoren allerdings in ihrem Darstellungsbereich die Grundtatsachen im Wesentlichen geistig-strukturell und problemgeschichtlich korrekt wieder. Säkularisation und die Entdämonisierung des Krankheitsbegriffs ermöglichten zu Beginn des 19. Jahrhunderts, Krankheiten nach ihren Ursachen zu beurteilen und von daher zu versuchen, sie durch medizinisch begründete Maßnahmen im nichtindividuellen, also öffentlichen Bereich zu bekämpfen und damit zu vermeiden. 46 Die Entstehung eines Industrieproletariats brachte Arm und Reich in überfüllten Großstädten und Industrieregionen in Massendimensionen auf enge Tuchfühlung. Angesichts des sozialen Elends in den Arbeiterquartieren mussten die maßgeblichen Gesellschaftskreise darauf bedacht sein, die Gesundheit der Allgemeinheit, darunter vornehmlich auch die des Arbeiters, mit öffentlichen Mitteln als ein höchstes Gut zu verteidigen. Denn einmal drohte aus den Proletariervierteln erhöhte Seuchengefahr, sodann war der Arbeiter – bedrückend für alle – zwar arm, mittellos, aber dennoch autark hinsichtlich seines Lebensunterhalts, wenn man seine Arbeitskraft als sein einziges Substistenzmittel respektierte und womöglich seine Gesundheit und körperliche Leistungsfähigkeit noch steigerte, um für Industrie und Staat ein beständiges leistungsfähiges Menschenreservoir zu 42 | Vgl. Hurrelmann/Laaser 2004, S. 31f. 43 | Labisch/Tennstedt 1985 I, S. 22-42; 117-161. 44 | Labisch/Woelk 2004, S. 60-67, 86f. 45 | Labisch/Tennstedt 1985 I, S. 143; der seinerzeitige Verzicht auf eine Darstellung der Geschichte der Sozialhygiene verrät z.T. eine eher kritische Einstellung der letzteren gegenüber, z.B. zur »Problematik ihrer gesundheitlich-ökonomischen Effizienz«, ebd. 46 | A.a.O. S. 117ff., vgl. 569, Anm. 2.
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sichern. Die wissenschaftliche Medizin wurde zur Kraft der öffentlichen Gesundheitsvorsorge, sobald sie gelernt hatte, Massenkrankheiten an den Stellen ihrer Entstehung und auf ihren Verbreitungswegen zu bekämpfen. Unter präventivem Vorzeichen übernahm sie (akademisch zur Hygiene spezifiziert) die volksweite Promotion des Gesundheitsgedankens und rettete dadurch ein Stück revolutionären Elans in die nachrevolutionäre konservative Ära. Von den 40er Jahren an über die 2. Hälfte des Jahrhunderts zog sich eine Kette von »Bewegungen«, die unter Mitwirkung des Ärztestandes Gesundheit als Vehikel einer staatsbürgerlich-demokratischen Entwicklung benutzten. Die Medizinalreforbewegung legte die Wurzeln für die spätere solidarische Gestaltung des Gesundheitsbegriffs. Das Aufkommen der »experimentellen« Hygiene47 als durch eine spezielle Wissenschaftsdisziplin geleitetes medizinisches Arbeitsgebiet bildete die Grundlage für die Hygienebewegungen der »öffentlichen Gesundheitspflege« und der »öffentlichen Gesundheitsfürsorge«. Im zeitgenössischen Meinungsgewoge lassen sich noch die Professionalisierungs- und »Aufstiegsbewegung« des Ärztestandes und die »kommunalpolitische Auf bruchsbewegung« des Bildungs- und Kleinbürgertums differenzieren. Die beiden letzteren Gruppen sahen sich durch den konservativen Staat, der sich die gesundheitsbezogene »Eingriffsverwaltung« vorbehielt, auf die Gesundheitssparten »Daseinsvorsorge« und »Leistungsverwaltung« abgedrängt, die sich aber letztlich als politisch rentable Domänen erwiesen. In dieses geistig-politische Szenario eingebettet treffen wir auf die wissenschaftlichen Entwicklungen, die in die Sozialhygiene einmündeten. Der Weg führte von der Konditionshygiene (Sanierung der unbelebten Umwelt) über die »Auslösungshygiene« (spezifische Keim- und Seuchenabwehr) und die Konstitutionslehre (Beeinflussung der Disposition durch Sanierung der sozialen Umwelt) bis zur Eugenik (Beeinflussung der erblichen Anlagen durch organisierte Auslese). 48 Das Besondere der Sozialhygiene gegenüber der allgemein-technischen Hygiene, die ihre sozialen Segnungen über die ganze Bevölkerung gleich47 | Anlass zur Apostrophierung der Städte- oder Kommunalhygiene als »experimenteller« gaben Pettenkofers statistisch-epidemiologische Studien zur Cholera Anfang der 50er Jahre, Stollberg 1994, S. 34. Dass jene nicht nur »partiell« zutrifft, sondern dem Selbstverständnis der zeitgenössischen Hygieniker entsprach, zeigen Pettenkofers Boden- und Wasseruntersuchungen, die für die Benennung ausschlaggebend gewesen sein dürften. In seinem »Lehrbuch der Hygiene« von 1890 vertraut Max Rubner im Anschluss an die Naturwissenschaften, besonders die Physiologie, auf die »Gewissheit der experimentellen Methode« (S. 1f.), Epidemiologisches behandelt er nur vereinzeltmarginal. Die chemisch-physikalische Labormethodik dominiert in der deutschen Umwelthygiene die Epidemiologie/Statistik bis ins 20. Jahrhundert. So untersucht z.B. Rubner (gest. 1932) im Arbeitsstil Pettenkofers im hygienischen Labor experimentell Saugfähigket, Wärmeleitfähigkeit und Luftdurchlässigkeit von Kleidungsstoffen, Rothschuh 1983, S. 123. Der hygienische Experimentalbefund illustriert den Abstand zu Grotjahn, der der Umwelthygiene das Attribut »physikalisch-biologisch(e)« zulegt, 1923, S. 8. 48 | Labisch/Tennstedt 1985 I, S. 22ff., 139ff.; Labisch/Woelk 2004, S. 61ff.
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mäßig verstreut, liegt darin, dass sie Gesundheitsrisiken »nach sozialwissenschaftlichen Parametern definierte(r) Gruppe(n)«, herausgreift und angeht. Nach Auffassung der Autoren ergeben sich daraus in summa relevante Bezüge zu unserer heutigen Praxis einer wiedererweckten öffentlichen Gesundheitssicherung. 49
3.1.6 Gesundheit als säkularer Wer t 3.1.6.1 Vom Ursprung der Gesundheitsidee aus dem Geist der Säkularisation nach A. Labischs »Homo Hygienicus« 1992 Im vorliegenden Buch verfolgt Labisch die geschichtliche Entwicklung des Gesundheitsgedankens auf der facettenreichen Bahn seiner individuellen und kollektiven Ausgestaltung im abendländischen Kulturraum von den Anfängen in der griechischen Antike bis auf das Heute seines abschließenden Triumphs.50 Ungeachtet des jeweiligen historischen Erklärungsansatzes erscheint Gesundheit stets verflochten mit zeitgemäßen Wertvorstellungen. Gesundheit als geistiges Konstrukt entstammt unserer Werte- und Sinngebungsverhaftung. Im Gang der Kultur- und Sozialgeschichte hängt der Gesundheitsbegriff wertinhaltlich-strukturell immer von den in Gesellschaften jeweils vorherrschenden Weltanschauungen und Denkstilen ab, die ihm als »Stützkonzeptionen« zu durchschlagender Geltung verhelfen. Im Grunde stehen der Medizin im abendländischen Kulturraum für ihren Gesundheitsbegriff nur drei weltanschauliche Bezugssysteme zur Verfügung: Religion/Metaphysik – religiöse/rationale Moral – Wissenschaft/Naturwissenschaften. Verwerfungen ergeben sich in der Gesellschaft immer dann, wenn strenge Wissenschaft den beiden anderen Wertsystemen Paroli bietet. In der klassischen (griechischen) Antike widerfuhr dem Gesundheitsbegriff ebendiese Kollision. Gesundheit und Krankheit wurden entmythologisiert, die griechische Medizin erhob sich zur Wissenschaft, die ihre Erklärungsmuster nicht länger aus außerweltlichen Regionen bezog, sondern sie aus physiologischen Befunden »nach der Natur« entwickelte. Durch diese Art »Säkularisation« wurde die Gesundheit zu einem »Wert eigenen Rechts«, aber in kontinuierlicher Verklammerung mit ethischen Normen durch die Lehre von der gesundheitsmäßigen Lebensweise, die Diätetik. – Auch die »öffentliche Gesundheit« in Platons Staatslehre mit der in ihr ausgedrückten Aversion gegen körperlich und geistig Behinderte, Sieche und Unheilbare
49 | Labisch/Woelk 2004, S. 65f. 50 | Zum latinisierten Buchtitel inspirierte den Autor ein Leitidiom Grotjahns in dessen »Die hygienische Forderung« 1920, Labisch 1992, S. 168f. – Im eigenformulierten Buchreferat wäre es ein besonders für den Leser unrationelles Verfahren, jeden Gedankenschritt mit Angabe der Fundstellen im Text nachzuweisen. Nur Grundthesen und wörtliche Zitate werden in den Anmerkungen mit Seitenangaben belegt.
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behielt ihre säkular-werthafte Prägung aufgrund ihrer sinngerichteten gesellschaftlichen Ordnungsvorstellungen.51 Auf dem Hintergrund der genannten drei Bezugssysteme beobachten wir in der neueren abendländischen Geschichte eine weitere Ausdifferenzierung des Gesundheitsgedankens. Zunächst erkannte man den öffentlichen Wert von Gesundheit zur Steuerung sozialer Prozesse über Ärzte und Medizin. Man benutzte sie z.B. im kameralistischen aufgeklärten Absolutismus »von Staats wegen« zur Stabilisierung von Bevölkerungszahl, Sicherheit und Wohlfahrt (Johann Peter Frank u.a.). Dadurch steigerte sich die Kompetenz von Medizin und Ärzten in der Gesellschaft im Sinne einer direkten und indirekten Medikalisierung (medizinisch-soziale Versorgung und pädagogischsoziale Prägung)52. Im Gewand einer »medikalen Kultur« suchte man so eine wachsende, immer mehr in Gruppen sich fragmentierende Gesellschaft zu disziplinieren.53 Aufklärung und Französische Revolution gaben in Europa der Medizin weiteren Auftrieb durch Umbildung zur theoretisch-rationalen Wissenschaft. Das neue Zeitalter der Wissenschaftsdominanz begann in der Gesundheitslehre mit einem rationalen Moralismus als weltanschaulicher Stützkonzeption. Der französische »Ideologe« Pierre-Jeans Georges Cabanis forderte die Anwendung des Gleichheitsgrundsatzes auf die Gesundheit, analog zur Gleichheit vor dem Gesetz und zur bürgerlichen Chancengleichheit als Revolutionsidealen, und damit die Anerkennung von Gesundheit als Bürgerrecht und Bürgerpflicht. Gesundheit und Moralität verwoben sich zu einem Bezugsgeflecht, in dem Gesundheit als Voraussetzung erschien für den moralischen inneren Ordnungszusammenhalt beim Einzelnen und in der Gesellschaft. Entsprechend galt das Interesse der hygiène publique den Armen und Bedürftigen: in der Bewegung verbanden sich Bestrebungen zur Generalisation ihrer gesundheitlichen Versorgung mit solchen zur Besserung der armenseitigen Gesundheitsmoral. Auch in England (Sanitary Movement) und Deutschland (Oesterlen, Reich, später Buchner, vgl. A. Fischer) richtete die vom rationalen Moralismus beeinflusste Hygiene ihre Gesundheitsanstrengungen auf Verhältnisse und Verhalten der Unterschichten. In der Mitte des 19. Jahrhunderts, seit Michel Levy in Frankreich und Max Pettenkofer in Deutschland, entglitt der rationalen Moral mehr und mehr die Richtlinienkompetenz für die Bewertung privater und öffentlicher Gesundheitsgestaltung. Im massiven Durchbruch wechselte im Zeitalter von Technik und Zivilisation die Dispositionsgewalt über Medizin und Hygiene auf die Seite der Wissenschaft/Naturwissenschaften. In Deutschland führte 51 | A.a.O., S. 21ff. 52 | Im weiteren Sinn wurde der Begriff seit den 70er Jahren von Frankreich ausgehend zur unentbehrlichen Lieblingsformel der einschlägigen Sozialliteratur zur Kennzeichnung der Medizin als »Instrument gesellschaftlicher Macht« oder »Institution sozialer Kontrolle« (M. Foucault, I. K. Zola, bei uns I. Illich, H.-U. Wehler, U. Frevert, P. Weingart, G. Stollberg u.a. – Labisch a.a.O. S. 7ff., vgl. 103f., 109ff., 156, 175, 181. 53 | A.a.O. S. 109ff.
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der Weg von der experimentellen Hygiene (Konditionalhygiene der natürlichen Umwelt) über die kommunale öffentliche Gesundheitspflege mit Begründung einer sanitären Infrastruktur (Gesundheit als Wirtschaftsgut), über die Bakteriologie (Auslösungshygiene) zur Sozialen Hygiene (Hygiene der sozialen Umwelt) mit Begründung einer gesundheitsfürsorgerischen Infrastruktur als vorläufigem Endpunkt der Entwicklung vor der Sozialmedizin in der zweiten Nachkriegszeit und den neuen Gesundheitswissenschaften. Gemeinsam war diesen Entwicklungskomponenten das strenge Wissenschaftsprofil. In seinem Licht drohte der mit Wertvorstellungen und Sinngehalten verknüpfte Gesundheitsbegriff zu zerbrechen. Er schien sich im Sinne eines in irgendeiner Weise aus einer Werttranzendenz dirigierten Begriffs nicht länger aufrechterhalten zu lassen. Gesundheit erfuhr eine Wendung zur strikten Immanenz mit den Kennzeichen der wissenschschaftlichen Richtigkeit und gleichzeitigen sozialen Zweckmäßigkeit. Hinfort stellte sie sich als autonomer (»jedweder anderer Begründung barer«) Wert dar.54 Das faustische Experiment der Verwissenschaftlichung und Sozialdefinition von Gesundheit förderte den »Homo hygienicus« zutage55 – den Menschen mit der Blickrichtung auf ein wissenschaftlich vorformuliertes Lebensziel aufgrund einer wissenschaftlich sanktionierten Lebensführung im wissenschaftlich austarierten Sozialraum. Immer aber bleibt Gesundheit unter dem wissenschaftlichen Gesichtspunkt soziales Gut – wenn auch weniger im humanitären als eher im numerischen Sinn. Gerade durch die Sozialkomponente bewegen sich die Gesundheitswissenschaften als Naturwissenschaften wieder auf sinnhaltige Wertvorstellungen zu. Sie haben sich mit ihren Maßnahmen auf gesellschaftlicher Handlungsebene unterschiedlichen Wertmaßstäben zu beugen. Gesundheit als Wert scheint schicksalhaft dialektischer Deutung verfallen. Wie wir noch sehen werden, entspricht diese Dialektik oder Zwiespältigkeit allerdings nicht einem objektiven, sondern einem subjektiv-erkenntnistheoretischen Sachverhalt. Die Gesundheitsbewegungen, besonders die Gesundheitsfürsorge in Übereinstimmung mit der gesetzlichen Krankenversicherung verfolgten das Ziel einer Sozialintegration der proletarischen Massen auf dem Weg über eine medikale Kultivierung (der »Verallgemeinerung der hygienischen Kultur« nach Grotjahn).56 Um zu diesem Zweck das areligiöse, atheistische, angeblich demoralisierte Proletariat für die bürgerliche Gesundheitsgesinnung zu gewinnen, galt es, den anzuwendenden Gesundheitsbegriff wissenschaftlich so zu formalisieren, das aus ihm auch die letzten Spuren einer diskriminierenden traditionellen Werthaltung verflogen. Die Sozialhygiene als Wissenschaft erwies sich in diesem Zusammenhang als hervorragend geeignet, durch nichtdiskriminierende Berücksichtigung der »sozialen Lage« zur integrativen Ordnung der Massengesellschaft beizutragen. Die öffentliche Hygiene, exemplarisch repräsentiert durch Gesundheitsfürsorge und Sozialversicherung, sah sich 54 | A.a.O. S. 134. 55 | Ebd. 56 | A.a.O. S. 155f.
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vor die Aufgabe gestellt, über einen »scheinbar« wertneutralen wissenschaftlichen Gesundheitsbegriff das Proletariat um der sozialen Befriedung willen in die wissenschaftliche Lebenswelt mit hinüber zu nehmen. Sie vermittelte ihm auf diese Weise den wissenschaftlichen Rahmen für Lebensführung und Lebensziel, die ihm in der Individualhygiene mit ihren Maximen von Gesundheitsrecht und -pflicht ein werthaft orientiertes Handeln ermöglichten.57 Ihr wertneutrales Vorgehen hinderten gesetzliche Krankenversicherung und Gesundheitsfürsorge also nicht daran, auch in der Lebenswelt der Arbeiter eine »vernünftige Sinnwelt« aufzubauen.58
3.1.6.2 Kritische Bewertung In dem materialreichen, gedankenerfüllten und hypothesenfreudigen Buch begegnet uns bei Labisch im Darstellungsverlauf erstmals die Perspektive einer mehr zusammenhängenden Geschichte der Sozialhygiene als Wissenschaft.59 Hier beurteilt er die Sozialhygiene auch positiver als in seinem Buch 1985 als konsequenten vorläufigen Abschluss eines hygiene/gesundheitsgeschichtlichen Entwicklungsgangs in Deutschland.60 Bei den »prominenten« Sozialhygienikern stützt er sich am meisten auf Grotjahn, Gottstein wird mit einigen exemplarischen Textzitaten berücksichtigt, A. Fischer dagegen (wie schon in der Publikation von 1985) fast vernachlässigt. Als inneren Orientierungspunkt für seine Darstellung des Auf bruchs eines abendländisch-hygienischen Bewußtseins wählt Labisch die Bedeutung von Gesundheit als Wert. Zwar wurden in der griechischen Antike Gesundheit und Krankheit entmythologisiert unter gleichzeitigem Aufkommen einer wissenschaftlichen Medizin, aber dieser Vorgang ist allenfalls auf eine Art von Säkularisation, keinesfalls auf Säkularisation schlechthin zurückzuführen. Hier rächt sich die Neigung des Autors, Epochenbegriffe (wie auch schon den Begriff Gesundheitswissenschaften) weiträumig in der Geschichte als Heurismen zu verteilen. Die Begriffe »Aufklärung« und »Säkularisation« sind mit gutem Grund im europäischen historischen Bewusstsein festgelegt auf eruptive Großereignisse seit dem 18. Jahrhundert, was nicht ausschließt, dass sich strukturell vergleichbare Vorgänge auch in früheren Zeiten bereits abortiv abgespielt haben können. Säkularisation erleben wir bis heute sozusagen in Schüben als einzigartige gewaltige Umwälzung. Die wahre Säkularisation ist eine die ganze Menschheit betreffende, auf Jahrhunderte angelegte Revolution. Die Säkularisation bedeutet Radikali57 | A.a.O. S. 167ff. 58 | A.a.O. S. 187. 59 | Bezüglich ihrer verspäteten Erfassung als wissenschaftsgeschichtlich relevantes einheitliches Konzept ist eine ursprüngliche Distanz zur problemgeschichtlichen Analyse ihrer Wirkungsgestalt zu vermuten. Zu Labischs vormaligen Aversion gegen eine problemgeschichtliche Aufarbeitung des extensiven, Handbuchformat ausfüllenden Stoffes s. Fußnote 45. 60 | Vgl. Fußnote 45.
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tät, revolutionäre Abkehr, fortschreitende Zersetzung der Denkstile, Verlust der Mitte und Volatilität der Gesellschaftsstrukturen, was alles zumindest in der gleichen Art für die wissenschaftlichen Theoreme der griechischen Antike nicht gilt. Sie sind in der von Labisch geschilderten Form eher Ausspielen der gedanklichen Möglichkeiten, wenn auch sicherlich im Zusammenhang mit politischen Erscheinungen und gesellschaftlichen Erschütterungen der Zeit. Es ist zwar richtig, den heutigen Gesundheitsbegriff auf Säkularisation zurückzuführen, nicht aber, letztere bereits in der griechischen Antike aufzuspüren, um dann trotz Anspielung auf die Sache an der Stelle, wo sie hingehört, nämlich ins 18. Jahrhundert bis in unsere Zeit, den Begriff selbst nicht wieder zu erwähnen. Labisch sollte irritieren, dass in der griechischen Wissenschaft Transzendentalität und Metaphysik der Werte in Ideenlehre und Seelenlehre fortbestehen, was erklärt, dass nach seiner eigenen Schilderung Gesundheit in der Diätetik ethisch eingebunden erscheint und sich problemlos mit dem Äskulapkult verbinden konnte. Ein entscheidender Anteil am modernen gesellschaftlichen Gesundheitsinteresse gebührt aber der von Aufklärung und Französischer Revolution ausgelösten Säkularisation, die sich über die anfänglichen und zwischenzeitlichen revolutionären Flammenstürme hinaus als schwelender, überalterte Strukturen zerfressender Brand regional und schichtenbezogen in unterschiedlicher Stärke bis in unsere Tage hinein fortsetzt. Die Säkularisation bewirkt in der allgemeinen Welterfahrung nicht nur den Paradigmenwechsel von der Transzendenz zur Immanenz, von der Metaphysik zur Erkenntnistheorie. Sie verlagert nicht nur stufenweise die Bezugssysteme der Welterkenntnis »von oben nach unten«, indem sie den Erkenntnisspielraum durch Verlagerung von der metaphysischen Ebene eines Numinosen auf die der rationalen Moral und von hier aus auf eine solche wissenschaftlich präsentierbarer Kausalität einschränkt. Ihre letzte und eindringlichste erkenntnistheoretische Leistung besteht vielmehr in der Auflösung des (platonischen, auch christliche Glaubensweisen durchsetzenden) Leib-Seele-Dualismus zugunsten einer leiborientierten Einheitstheorie.61 Diese weitausgreifende erkenntnistheoretische Problematik findet bei Labisch keine Berücksichtigung. Bei seinen historischen Literaturrecherchen stößt er zwar auf Pierre-Jean Georges Cabanis’ Seele und Geist als cerebral-neurale Körperfunktionen auffassende Einheitstheorie, ohne sie aber in ihrer nachhaltigen Bedeutung für die Entwicklung des Gesundheitsbegriffs zu erfassen. Die Säkularisation schwört den modernen Menschen nicht nur hinsichtlich seiner Erkenntnis, sondern hinsichtlich seiner ganzen Existenz auf Diesseitigkeit ein. Einzelnem und Gesellschaft bleibt nur die Möglichkeit, sich mit diesem Tatbestand abzufinden. Gesundheit als Wert erfreut sich hinfort keiner transzendentalen Absicherung mehr, sondern gründet als säkularer Wert auf dem eher unsicheren Boden der Wagnisentscheidung. In dieser Situation wird dem modernen Menschen Erleichterung und Bestä61 | Zum »bionomen psychophysischen Parallelismus« (Leibbedingtheit des Seelischen oder Seele als Epiphänomen essentiell körperlich vermittelten Lebens) s. Rothschuh 1962; vgl. Heinzelmann 1998, S. 141f.
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tigung zuteil durch den der Wissenschaft zu verdankenden Fortschritt einer steigenden mittleren Lebenserwartung. Gesundheit als säkularer Wert bleibt der gesellschaftlichen Anerkenntnis ausgeliefert. Gesellschaft wird Gesundheit stets neu generieren als immanent-säkularen, autonomen Wert, der dem Einzelnen hilft, am Leben mit seinen inhärenten Werten teilzunehmen und es auszukosten. Den säkularen Wert der Gesundheit anerkennen heißt, sich der Einheit von Gesundheit und Leben innewerden. Leben aber bedarf keiner Rechtfertigung seines Werts oder der intellektuellen Bestätigung seiner Sinnhaftigkeit.
3.1.7 E xkur s 2: Motive für öf fentliche Gesundheit im absolutistischen und bürgerlichen Zeitalter Monomane Handlungsmotive sind selten, das gilt besonders auf gesellschaftspolitischem Gebiet. Auch in der gesundheitspolitischen Motivanalyse haben wir in der Regel von Antriebskomplexen auszugehen, die Prävalenzen und Zweckprioritäten natürlich nicht ausschließen. Die Frage nach den Motiven, die tatsächlich oder vermutlich zu einem größeren oder kleineren Teil die administrative und gesellschaftliche Gesundheitssicherung in der Sozialgeschichte beeinflussten, beschäftigt uns speziell für den Zeitraum vom Absolutismus bis in die Gegenwart des modernen Sozialstaats. Die Sorge um die öffentliche Gesundheit, z.B. in auff älliger Form als Sicherheitsmaßnahmen von Staat und Kommunen für die Erhaltung von Bevölkerungsgesundheit bei der Seuchenbekämpfung, war primär sicherlich kein altruistisches Unternehmen. Dem Souverän oder dem Stadtregiment ging es bei gesundheitspolizeilichen Sicherheitsmaßnahmen für die Bevölkerungsgesundheit nach Eintritt des Schadensfalls offensichtlich um Selbsterhalt, um Sicherung der eigenen Existenzgrundlage durch Schadensbegrenzung, wenn auch traditionelle paternalistische, armen- und krankenfürsorgerische Beweggründe dabei angeklungen haben mochten. – Mit der Ausdiff ferenzierung einer großstädtischen Massengesellschaft wandelte sich öffentliche Gesundheit naturgemäß zunächst zum Zielobjekt von Interessengruppen, die immerhin Raum ließen für eine in der ökologischen Infrastruktur und in gesundheitlicher Volksaufklärung verankerten echten Prävention (z.B. Wohnungsbau, Arbeitersiedlungen, Ernährung). Ein Paradigmenwechsel bahnte sich an, als die nachrevolutionären Gesundheitsbewegungen (nicht nur in Deutschland, s.u. 3.1.8) Gesundheit der Fremdzweckbestimmung durch Staatsräson und Gruppeninstrumentalisierung entzogen und sie als Kern- und Vitalpunkt humaner Binnenexistenz erfassten. Besonders Staat und Industrie konnten sich allerdings in der Folge nie ganz von eigennützigen Motiven lösen. Die hauptsächlichen Motive, die belegt oder ableitbar bei der Gestaltung öffentlicher Gesundheitskonzepte eine Rolle spielten, haben wir in einer Übersichtstabelle zusammengestellt, die die Zusammenhänge vielleicht deutlicher erkennen lässt als eine ausführliche Diskussion.
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Perspektive
Nr.
Gesundheit als Mittel und Ziel
1
Staatspolitischterritorialstaatlich
Bewahrung der Eigenstaatlichkeit durch Schutz vor Entvölkerung
2
Paternalistisch
Monarchen und Gutsbesitzer als Schutzherren, städtische Magistrate als Träger der Armen- und Krankenfürsorge
3
Nationalökonomisch
Aufrechterhaltung wirtschaftlicher Prosperität
4
Sozialökonomisch
Entlastung des Staatshaushalts
5
Kommunal-soziologisch
Selbsterhalt durch Ausbau einer hygienisch-ökologischen Infrastruktur
6
Ökonomisch-kapitalistisch
Ausbeutung der Arbeitskraft zur Gewinnmaximierung, Steigerung der Produktivität im industriellen Wettbewerb
7
Parteipolitisch-sozialistisch
Stärkung des organisierten Proletariats
8
Staatspolisch-nationalstaatlich, ökonomisch-sozial-darwinistisch
Machtpolitisch internationale Wettbewerbsfähigkeit durch Steigerung des Bruttosozialprodukts und der Wehrkraft
9
Demographisch-nationalstaatlich, biologisch-sozial-darwinistisch
Eugenik, Prävention von Völkerwanderung Verdrängung durch benachbarte Kulturvölker und Volkstod
10
Ideologischirrationalistischmassenneurotisch
Reinheit, völkische Hygiene, Rassenhygiene, Einsparung von Sozialausgaben durch Eugenik, Euthanasie
11
Karitativ
Private Gesundheits- und Wohlfahrtspflege aus Glaubens- oder Weltanschauungsgründen
12
Missionarisch
Gesundheit als Lebensmaxime, Religionsersatz
13
Kulturphilosophischphilanthropisch, humanitär
Anthropozentrischer Rationalismus, traditioneller ethischer Humanismus
14
Psychologisch-soziologischanthropologisch
Eingeborene Sozialität, Art- und Gruppensolidarität
15
Postrevolutionär-säkular
Gesundheit als fremdzweckfreier Wert als individueller und kollektiver Selbstzweck in freier Selbstbestimmung
16
Arbeitsmarktpolitischprofessionalistisch
Neue Dienstleistungsberufe, »Mütterlichkeit« als Beruf, ärztliche Standesinteressen
Tabelle 2: Motive für öffentliche Gesundheit im Zeitalter von Revolution und Säkularismus (beachte sachliche und historische Überschneidungen)
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3.1.8 Volksgesundheitsbewegungen und gesellschaf tliche Epiphanie der Gesundheit Parallel zur älteren Nationalstaatsidee popularisiert sich jetzt innerhalb des von der Säkularisation geschaffenen geistigen Freiraums und aufgrund des von der Hygiene geschaffenen Masseninteresses die Gesundheitsidee zu einem unglaublichen, heute kaum noch nachgefühlten ubiquitären Gesundheitsenthusiasmus. Dieser schafft sich in vom Bürgertum, weniger vom eher »indolenten« Proletariat62 getragenen Bewegungen eine höchst wirksame Operationsplattform. Es entstehen Volksströmungen wie die Initiativen für »öffentliche Gesundheitspflege« und »öffentliche Gesundheitsfürsorge« sowie die von den Zeithistorikern zumindest nicht im gesundheitlichen Zusammenhang noch keineswegs ausreichend gewürdigte, allumfassende Riesenströmung der Lebensreform. – Zu den Initiatoren und Akteuren gehören im Einzelnen auf Korporationsebene die Gemeindeverwaltungen, Vereine, Interessenverbände, die Presse, auf Personenebene vornehmlich freie und beamtete Ärzte, Architekten, Ingenieure, Verwaltungsfachleute, Handwerker, Künstler, Intellektuelle aller Art. Wenn sich auch die organisierte Arbeiterschaft, die ihre Interessenvertretung der Sozialdemokratischen Partei überlässt, noch zurückhält, kann man sich durchaus vorstellen, dass auch einfache Leute, Kleinbürger, Hausfrauen und Jugendliche mit von der Partie sind; immerhin erreichen die Massenmedien meinungsbildend auch Unterschichten und Proletariat. – Die medialen Instrumente sind Zeitungen, Zeitschriften, Broschüren, Volksaufklärung durch Vorträge und Ausstellungen, Vereinsversammlungen, Verlautbarungen, Flugblätter, Plakate, Verhaltensberatung etc. Zusammengefasst erklärt sich die ungeheure Wirkung bzw. der gesellschaftsgeschichtliche Durchbruch des Gesundheitsgedankens durch die Beteiligung der Institutionen Verein und Publizistik.63 Wie der Reformation das Buchdruckwesen, so kommen der Gesundheitsbewegung die enorm erweiterten Möglichkeiten der medialen Masseninformation zugute. Aus der obigen Darstellung leiten wir eine These ab, die im Gegensatz steht zu einer Historiographie, die diesen uns noch hautnah gelegenen Jahrhunderten soweit entschlüpft ist, dass sie trotz Kenntnis der hinterlassenen uferlosen Literatur, der archivierten Urkunden und verbliebenen Monumente (Wohnbauten, Hygiene-Museum, Kunst etc.) die mit Händen greif baren 62 | Labisch/Tennstedt 1985, S. 22f. 63 | Die großen Bewegungen sind postrevolutionär-reformorientierte Phänomene, keineswegs im aktuell-politischen Sinn revolutionäre Kolonnen auf der Straße, sie verstehen sich als demokratisierende Lebenserscheinungen im Verfassungsstaat. Regie und Federführung obliegen daher größeren Organisationen – auf Bürgerseite fachlich dominierten Vereinen (z.B. Verein für Sozialpolitik 1872, Deutscher Verein für öffentliche Gesundheitspflege 1869/1873 mit konform benannter Vierteljahresschrift als Vereinsorgan), auf Arbeiterseite der Sozialdemokratischen Partei. Die anfängliche persönliche Reserve des eher revolutionär eingestellten Arbeiters ist in diesem Zusammenhang gut zu verstehen, Tennstedt 1983, S. 368ff., 405ff., bes. 411.
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Zusammenhänge so nicht erkennt und das zutreffende Geschichtskonzept nicht entsprechend entwickelt. – In der nachrevolutionären Zeit enthüllt sich Gesundheit als Endprodukt der von der Revolution beglaubigten Säkularisation in einer einzigartigen Epiphanie. Von oben hat man sich seit je zweckbezogen um Volksgesundheit gesorgt, jetzt erfasst von unten das Volk selbst Gesundheit als schöpfungsimmanenten fremdzweckfreien oder auch autonomen Wert. Wir haben auszugehen von einer ungeheueren Gesundheitsbegeisterung des Jahrhunderts als revolutionierender und demokratisierender Weltanschauung, als Diesseitsglaube an das Leben in seiner höchsten Integrität. Hier, in der säkularen Gesundheitsidee liegt aber der Schlüssel zum Verständnis ihrer großartigen Entwicklung und ihrer wie Sonne und Leben alles in ihren Bann ziehenden Faszination.
3.1.9 Die Apotheose der fremdz weck freien Volksgesundheit Während »öffentliche Gesundheitspflege« und »öffentliche Gesundheitsfürsorge« überwiegend bürgerlicher Honoratiorenpolitik unterlagen, rüttelte die auf Totalerneuerung bedachte Lebensreform64 an den Verhältnissen und dem Verhalten buchstäblich in allen Lebensbereichen und Schichten von der Lebens- und Sozialgestaltung bis zur Gesundheit und Heilkunde, der Wirtschaft bis zur Mode, der Architektur und dem Wohnungsbau bis zum biologischen Landbau, der Körperpflege und der Sexualität bis zur Bildung und Schule, der Natur bis zur Kunst und Kultur, der Frauengleichberechtigung bis zum Sport und zur Freikörperkultur. Ihrem Elan ist es zu verdanken, dass Gesundheit endlich zur uneigennützigen fremdzweckfreien Volksfeier wurde und auf allen Gebieten als oberster Zielwert triumphierte. Was Ende des 19. Jahrhunderts in Deutschland/Westeuropa vor sich ging, wird man nicht verstehen ohne Kenntnisnahme der Lebensreform als einer etwas abseits der Wissenschaft (aber nicht unbeeinflusst von deren popularisierten Selbstdarstellung), mehr aus dem Volk entstehenden merkwürdigen Kulturerscheinung. Die Hygienebewegung lenkte in säkularer, sich von Moralzwängen befreiender Zeit den Blick auf den Körper des Menschen. Sein Idealbild, wie es sich in Jugend und Gesundheit realisiert, wurde in der Lebensreform zur Galionsfigur einer alle Winkel der Alltagsexistenz infi ltrierenden Massenbewegung. Was den Körper gesund und schön macht, ihn zu sprühender Lebendigkeit erweckt und ihn in diesem Zustand erhält, sind – eingelassen in unsere moderne Welt65 – die Grundbedingungen unseres biologischen und geistigen Lebens: Wasser, Sonne, Licht, Luft, Boden, Bewegung, Sport, Körperpflege, Naturheilkunde, Naturerleben, Natur-, 64 | Nach Rothschuh war die Lebensreform auf »totale« Veränderung der Lebenshaltungen und Lebensweisen bedacht, ders. 1983, S. 125. 65 | Niemand will oder soll sich von der schönen neuen Welt sezessionieren, sondern jeder sich in ihr gesund einrichten – hier liegt ein Hauptunterschied zu Jean Jaques Rousseau, vgl. Kaspari über Grotjahn 1989, S. 312.
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Landschafts- und Tierschutz, Heimat, Volkstum, Geselligkeit, Siedlungswesen, naturgemäße Reformnahrung, sportlich-legere Kleidung, Nacktheit, Sinnenfreude, Gleichberechtigung der Geschlechter, Sexualität, Innerlichkeit, Weltweite, Bildung, Ästhetik, Kunst und Kunsthandwerk, die beiden letzteren als unmittelbare Medien des Kerygmas von der Gesundheit für die Massenkommunikation.66 Es ist, wie später bei der Sozialhygiene, nicht weniger als alles, was die Lebensreform mit ihren »Entwürfe(n) zur Neugestaltung von Leben und Kunst« erstrebt.67 Ein Zusammenhang zwischen ihr und der Sozialhygiene kommt auch in der Person Grotjahns zum Ausdruck, der sich als Lebensstildogmatiker, Abstinenzler, Vegetarier und Gegner der schulmedizinischen Pharmakotherapie zur Lebensreform bekannte.68 Die Lebensreform ist eine am ehesten durch die Erfolge der Hygiene ausgelöste Reaktion auf eine seit langem schwelende allgemeine Niedergangsvermutung – eine freudige und optimistische Bejahung sozialer und kultureller Erneuerung bzw. Neukonzeption ohne bedrohliche Zeichen einer politischen Radikalisierung.69 Die Insignien der Lebensreform, sinnfällig ausgedrückt in ihrer Kulturgestalt des Jugendstils: Körper, Jugend, Nacktheit, Schönheit, Kraft und Gestus symbolisieren Gesundheit als Lebensmaxime.70 Aus der Naturheilkunde aufgrund »naturistischer« Überzeugungen (1830)71 wurde bis zum Ausgang des Jahrhunderts eine auf Gesundheit focussierende allkulturelle Lebensbewegung. Rothschuh gelingt das gefällige Wortspiel: »Aus der Naturheilbewegung erwächst also eine Kulturheilbewegung«.72 Dennoch stimmt der Satz nicht, weder formal noch inhaltlich. Abgesehen davon, dass im ersten Begriff »Natur« subjektivisch, im zweiten »Kultur« objektivisch gebraucht wird, wollen die Lebensreformer weniger die Rekonvaleszenz als eine Renaissance der Gesellschaft.73 Nicht Heilung des Alten, 66 | Die Verbindung von Kunst und Massenkommunikation kulminiert in den Plakatentwürfen eines Henri Toulouse-Lautrec. 67 | Buchholz et al. I und II 2001; Conti 1984, S. 66ff.; Rothschuh 1983, S. 105ff.; Krabbe 2001 S. 25ff.; ders. 1974; Frecot 1972. 68 | Kaspari 1989, S. 304ff., 312f.; vgl. Grotjahn 1932, S. 218. 69 | Weingart et al. 1992, S. 68ff.; der Körperenthusiamus allerdings ermöglicht stellenweise Übergänge in Eugenik und Rassenhygiene, a.a.O. S. 193ff. 70 | Vgl. Heinzelmann 1998, S. 142f. 71 | Rothschuh 1983, S. 105. 72 | Rothschuh 1983, S. 106. 73 | Nach Rothschuh besitzen Naturheilkunde und Lebensreform einen gemeinsamen emotional-ideologischen Hintergrund, den »Naturismus«, der als »Weltanschauung« durch die Zeiten wiederkehrend das jeweilige »Unbehagen[] an der zeitgenössischen Zivilisation« dokumentiert. In dieser »Ideenlehre« geht es »nicht nur um die Heilung, sondern um das Heil des Menschen« (Rothschuh 1983, S. 9f., kursive Sperrung original). – Die Lebensreform, »die bis heute nachwirkt« (ders., ebd.), geht m.E. in ihren Ursprüngen jedoch weit über Naturheilkunde hinaus, ihre Wurzeln liegen vor allem in Gesundheitsströmungen wie der Hygienebewegung. In diesem Sinne sekundierte die Naturheilkunde der Lebensreform (und später der
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sondern Auf bruch eines Neuen erfüllte die Gemüter. Man dachte und handelte nicht krankheitsorientiert (vom Mängelzustand des einzelnen und der Gesellschaft zurück zu einem virtuellen Gesundheitszustand), sondern a priori gesundheitsorientiert: für die in Kultur und Zivilisation organisierte Gemeinschaft der Menschen wurde Gesundheit zum Lebensprinzip.74 Ideen prasselten wie Feuer vom Himmel und führten dazu, dass man sich schließlich dazu anschickte, fieberhaft eine neue Gottheit zu inthronisieren. Was sich hier abspielte, war kein Tanz um das goldene Kalb, sondern der grenzenlose Jubel über eine neu entdeckte Lebensmitte. Die Gesundheit fand ihre Apotheose in der Verkörperung ihres Wesenskerns, im Bild der »Jugend«. Die Schönheit des menschlichen Körpers und seiner Bewegung symbolisieren Fortschrittlichkeit und Zukunft. Konsequent gestaltet der Jugendstil jugendliche Nacktheit in der Umrahmung einer unberührten Frühlingsnatur und eines ausgreifenden formdurchbrechenden Rankendekors. Zum Altar und Tempel der neuen Gottheit (man erinnert sich an die Französische Revolution und ihre Vergottung der weit abstrakteren Größe »Vernunft«) werden die Hygieneausstellung in Dresden 1911 und ihre nachfolgende Umwandlung in das Hygiene-Museum, bis heute – leider noch – das einzige seiner Art in Deutschland. Als Quintessenz aus den geschilderten Vorgängen können wir folgern: Der heutige für Public Health konstitutive Gesundheitsbegriff ist in den gesundheitlichen Volksbewegungen im Deutschland des 19. Jahrhunderts weitgehend bereits angelegt (aber eben noch nicht als Basis einer Wissenschaft!) und wurde erst in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts, z.T. auch durch das beamten- und bürokratiegestützte hypersoziale Wohlfahrtsstaatsmodell der staatsloyalen Sozialhygiene selbst, wieder verschüttet.
3.2 Späte Einschaltung der Sozialhygiene in den Gesundheitsboom – Leistungen und Irr wege Die Sozialhgieniker treten relativ spät als Akteure in dieses Großgeschehen ein. Was konnten sie noch ausrichten, worin bestand die ihnen von Geschichte und Kulturschicksal gestellte Aufgabe? Hier kann nur eine vorläufiSozialhygiene) hauptsächlich mit ihrer Lehre über gesunde Lebensweise. Lebensreform erschöpft sich nicht in Heilkunde und Heilkunst, sie ist, wie ja auch Rothschuh andeutet, eine Art Heilslehre vom gesunden Leben in einer diesseitsorientierten modernen Gesellschaft. – Dieckhöfer bringt die komplexen Zusammenhänge auf eine vereinfachte Formel, wenn er »Sonne, Frischluft, Erde und Früchte als Heilkräfte der Natur im Vorfeld der Lebensreform« erblickt und »rauchende Schornsteine und die erkannte Verunreinigung der Luft« zu den zivilisatorischen Übeltätern erklärt, vor denen man sich in »frische Luft und Sonne in Feld, Wald und Flur« hinüberrettete, ders. 1985, S. 51f. 74 | Zu den Begriffen Krankheits- und Gesundheitsorientierung s. Heinzelmann 1998, z.B. S. 121f., 157.
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ge Antwort gegeben werden. Grundsätzlich empfiehlt es sich, obwohl beide aufs engste zusammengehören, Sozialhygiene als Praxis und als Wissenschaft gedanklich auseinander zu halten. Diese Gliederung ist, nicht zuletzt durch Grotjahn und seine Habilitanden, auch im späteren Zeitverlauf eher verstärkt ausgeprägt zu verfolgen. Im Ganzen vermittelt die Sozialhygiene den Eindruck, sie spiele ein wenig die Rolle einer Orthodoxie (im historischen Vergleich mit der Reformation auch in der Parallelität der jeweiligen Wechsel des Saeculums) mit Spezialisierung auf die Absicherung des Erbbestands durch methodisch-wissenschaftliche, aber perfektionistisch-dogmatisierende Ausgestaltung. – Auf jeden Fall war ihre »Verwissenschaftlichung« im Rahmen einer Selbstdeklaration zur Wissenschaft die zukünftige Grundlage für die Fortexistenz eines a priori komplexen Sozialberufs. Berufspraxis und praktische Berufsausübung standen besonders zu Beginn in der Sozialhygiene überall im Vordergrund, auch wenn die Akteure aus Wissenschaftsfächern oder der medizinischen Hygiene herstammten. Alle, auch die Hochschullehrer (aber eher wenige waren habilitiert), zeigten sich praxisorientiert und hielten Kontakt mit den in der Praxis agierenden Fachexperten in the fields. Die faktische Gemengelage von (kommunal/semiamtlicher) Praxis und Wissenschaft wurde durchaus zum Gütezeichen der Sozialhygiene und erklärte ihre schnellen praktischen und wissenschaftlichen Erfolge auf vorbeackertem Terrain. Nach dem 1. Weltkrieg, mit dem Vordringen von umgesetzter Gesundheitsfürsorge und Wohlfahrtspflege/Sozialfürsorge, dem sozialen all inclusiv-Angebot des Wohlfahrtsstaats, dem Einzug sozial-perfektionistischer Eugenik und der sich immer herrischer gebärdenden Rassehygienik verblasste oder verfälschte sich allmählich das öffentliche Interesse an fremdzweckfreier Gesundheit, am autonomen Gesundheitsgedanken, die Lebensreform zog sich in die Reformhäuser zurück. In der Blütezeit der Sozialhygiene in der Weimarer Republik verunzierten erste Menetekel-Zeichen das Haus der Sozialhygiene. Trotz der ihr immanenten strukturellen Komplexität stellte sie ihre Einbindung in parteipolitische Konzepte und die thematische Überdehnung mit der Zeit vor eine Zerreißprobe. Historisch wird sie fast von allen mit ihr Befassten respektiert, von wenigen bewundert, in der westlichen Welt eher von keinem geliebt oder umgangen. Weitsichtige Sozialhygieniker mussten erkennen, dass im Kreis marschiert worden war und der Ausgangspunkt sich wieder annäherte: staatliche Ministerialbürokratie und städtische Amtsroutine. Vereinheitlichtes Gesundheitswesen und Allzuständigkeit des Gesundheitsamts waren der logische Abschluss. Die neue Gesundheitspolitik in Deutschland hielt im Zusammenhang mit der NS-Verfolgungspraxis tausende von Ärzten für entbehrlich, viele von ihnen, darunter Sozialhygieniker, schickte sie in Verbannung und Tod.
4. Die klinische Hygiene: Gebur t der sozialen Hygiene aus dem Geiste von Asepsis und Antisepsis
4.1 Die Ent wicklung der Hygiene in Deutschland als Leit wissenschaf t der »öf fentlichen Gesundheit« In Verbindung mit den bürgerlichen Gesundheitsbewegungen, speziell der »Öffentlichen Gesundheitspflege«, formierte sich Mitte des 19. Jahrhunderts in Deutschland eine neue medizinische Disziplin, die Hygiene, als Leitwissenschaft des öffentlichen Dienstangebots in Sachen Seuchenprophylaxe und Gesundheitsförderung überhaupt (»öffentliche Gesundheit«).1 Hygiene (gr.) heißt »Gesundheit«, mit dem Unterton von gesunderhaltender »Reinlichkeit«.2 Die Anfänge der modernen Hygiene als Praxis im Sinne öffentlicher Gesundheitsprophylaxe und -förderung liegen länger zurück. Ihre »Verwissenschaftlichung« als medizinisches Fakultätsfach3 erfolgte in einer politisch dynamisierten Zeit, die in ihr alsbald ein Sinnbild des ersehnten gesellschaftlichen Idealzustands erkannte. So gestaltete sich die Geschichte der Hygiene in Deutschland in dieser Zeit von Anfang an als
1 | Friedrich Oesterlen 1851; Eduard Reich 1858, 1870; Rudolf Virchow (Aufsätze 1867-1874); Alois Geigel (1875, 2. Aufl.), August Hirsch (1881, 2. Aufl.; engl. Übers. London 1883), Max v. Pettenkofer/H. v. Ziemssen (1882); Max Rubner (1888, 3. Aufl. 1890, 7. Aufl. 1903); Theodor Weyl (1893ff.) u.a. – Für den ersten deutschen Systematiker der modernen Hygiene, Österlen, ist Hygiene Gesundheitslehre (im Sinne von Gesundheitserhaltung und -förderung) »für den Einzelnen wie für eine Bevölkerung« (Originaltitel 1851). Für die Bevölkerungshygiene übernahm er als erster in Deutschland aus dem Französischen (»Hygiène publique«) die Bezeichnung »öffentliche Hygiene« (ders. 1851, S. 1 f). Vgl. Brand 1986, S. 17. 2 | Vgl. Nowack 1904, S. 455. 3 | 1865 erhielt Pettenkofer in München den 1. ordentlichen Lehrstuhl für Hygiene in Deutschland, Mann 1969, S. 8; Brand 1986, S. 19.
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Erfolgsgeschichte und wurde kennzeichnend für die 2. Jahrhunderthälfte als Epoche der »Hygienebewegung«. Thematisch spezialisierte sich die Hygiene durch ökologische Umweltsanierung auf die Gesunderhaltung breiter, temporär noch durch die akuten Seuchen Cholera, Typhus, Flecktyphus, Ruhr und Pocken (später mehr durch die chronischen Seuchen s.u.) bedrohten Bevölkerungskreise. Sie nutzte die Fortschritte der Technik und Medizin 4 zum Ausbau eines bevölkerungsweiten Gesundheitsschutzes bzw. einer gezielten Massenprophylaxe im Rahmen eines überindividuellen Vorgehens. Ihren Ausgang nahm sie von der Epidemiologie, der Erforschung der bevölkerungsbezogenen ökologischen Entstehungs- und Ausbreitungsbedingungen (Ätiologie) der Akut-Seuchen, einer Forschungsrichtung, die im Begriffe stand, sich unter Anbindung an Statistik und geographische Krankheitstopographie5 in charakteristischer Weise zu profi lieren. Die Hygiene propagierte die Prophylaxe als generell prospektive Unternehmung auf der Grundlage von Ursachenaufklärung in bewusstem Gegensatz zur behördlichen Praxis einer nachträglichen Schadensbegrenzung. Der gesellschaftliche Umschwung lag darin, dass dies die rechtzeitige ökologischzivilisatorische Sanierung und die Bereitstellung von Ressourcen unter der gemeinschaftlichen Mitwirkung der ganzen Bevölkerung erforderte. Entsprechend den aktuellen medizinisch-ätiologischen Modellvorstellungen gliedert sich der Gang der Hygiene in 2 Phasen mit fließendem Übergang. Die Bakteriologie (als Fortsetzung und Bestätigung des Kontagionismus = Übertragung von Krankheiten durch einen Ansteckungsstoff ) und die miasmatisch-antikontagionistische Theorie (Krankheitsübertragung durch Ausdünstungen oder »Anhauchungen« aus dem verschmutzten Umfeld) richteten ihre Aufmerksamkeit zunächst auf die Dekontamination der unbelebten, räumlich-gegenständlichen Umwelt und die zivilisatorische Transformation der herrschenden Lebensverhältnisse insgesamt (Konditionalhygiene). – Der Konstitutionalismus lehrte die Hygiene dann – wie wir weiter unten sehen werden –, den Menschen selbst und sein Verhalten aufgrund ererbter oder erworbener Eigenschaften zusätzlich als Krankheitsquelle oder -multiplikator ins Kalkül zu ziehen.
4 | Brand 1986, S. 20; 109ff. 5 | Über die grundlegende Bedeutung von A. Hirsch’s Standardwerk (Handbuch der historisch-geographischen Pathologie) für Hygiene und Epidemiologie s. Wolff in: Grotjahn et al. 1929, I, S. 304. Vgl. P. Diepgen 1965, II 1, S. 217; II, 2, S. 262; nach Epstein geht die Krankheitsepidemiologie der modernen Gesundheitswissenschaften auf das Meisterwerk des jüdischen Wissenschaftlers aus Berlin zurück, ders. 1996, S. 1755.
4. D IE
KLINISCHE
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4.2 Die 1. Phase im akademischen Formierungsprozess der Hygiene Die »praktisch-experimentellen« Hygieniker der 1. Phase entwickelten Abwehrmethoden, die dem alten monotonen restriktiven Maßnahmenkatatalog der staatlichen »medizinischen Polizey« überlegen waren und sich dennoch über amtliche Initiativen auf der lokalen Handlungsebene lückenlos implementieren ließen. Statt repressiver Quarantäne und Ghettoisierung als reaktiven hoheitlichen Kraftakt im akuten Ereignisfall bevorzugte man nunmehr echte Vorbeugung, und zwar im weitesten Sinne von präventiven infrastrukturellen Langzeitvorkehrungen bis zu Kurzzeitinterventionen als kollektiver Progredienzprophylaxe im Akutfall. Die Hygiene verkörperte die treibende Kraft im Zivilisationsprozess an den zentralen Stellen, die man alsbald unter dem Begriff der »Assanierung der Städte« zusammenfasste. Sie hatte entscheidenden Einfluss auf die Infrastrukturpolitik der Kommunen, womit sie diesen politische Entscheidungsgewalt, aber auch die enormen Investitionskosten zuspielte.6 Ursprünglich im Kampf gegen die Akutseuchengefahr (aber natürlich auch immer im Interesse der heimischen Industrie) bewerkstelligten die Kommunen nach den Vorgaben der Hygiene und vielfach nach englischem Vorbild7 Trinkwasser- und Nutzwasserversorgung, Abfallbeseitigung, moderne Kanalisation, Schwemmkanalisation, Abwasserreinigung, Wohnungsrenovierung, Nahrungsmittelüberwachung, Krankenhauswesen, Energieversorgung, Badewesen, Sportanlagen, Rettungswesen, Bestattungswesen u.a.m. Bei akutem Ausbruch einer Epidemie verzichtete die Hygiene nunmehr auf Verhängung der Quarantäne mit staatlich-sanitätspolizeilicher Cordonierung ganzer Distrikte. Ihre Mittel zur Ausbreitungsprophylaxe (kollektive Sekundärprävention) waren therapieorientierte Isolation im Krankenhaus (Asepsis), Desinfektion von Gegenständen und Räumen, Abkochen, Auskochen, Wasserdampf (Antisepsis), Insektizide sowie Einmal- und Mehrfachimpfung.8
4.3 Die 2. Phase im akademischen Formierungsprozess der Hygiene Ihr Engagement in öffentliche Gesundheit lenkte die Hygiene als akademische Disziplin von vornherein auf Expansionskurs. Sie konnte sich auf Dauer nicht damit begnügen, ihre effektive Technik der ökologischen Seuchenabwehr durchzusetzen und zu verfeinern. In ihrer 2. Phase erkannte sie bald, 6 | Vgl. Labisch/Tennstedt 1985, I, S. 126. 7 | Zur englischen Prärogative in öffentlichen Gesundheitsfragen s. vor allem Diepgen 1965, II, 2, S. 262ff. Vgl. ders. 1934, S. 22. 8 | Zum modernen hygienischen Maßnahmenkatalog im Überblick vgl. z.B. Diepgen 1965 a.a.O.
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dass in den Lebensabläufen zwischen Gesundheit, Seuche und Genesung aufgrund der Variablenvielfalt im Humanbereich die ätiologische Hauptrolle dem Menschen selbst zufällt. Die eben entdeckten vitalen Agentien (Keime, Bakterien, Mikroben) waren zweifellos Auslösefaktor der Infektion, den es natürlich primär technisch-hygienisch anzugehen galt. Aber über die »Klinik«, den Ausbruch, Verlauf und Ausgang der Infektionskrankheiten entschieden andere konstante und inkonstante Größen. Dies waren vor allem die Konstitution, die biologische Grundbeschaffenheit des Individuums aufgrund unveränderlicher Erbanlagen und seine variable, z.B. durch soziale oder psychosoziale Lebensumstände bestimmte Anfälligkeit (Disposition). Im Aufschwung ihrer Expansionsbewegung gelangte die experimentellökologische Hygiene über die »Konstitutionshygiene« in die Nähe bzw. bis auf die Höhe der »sozialen Hygiene«,9 als nach dem Rückzug der akuten Seuchen sich die chronischen Infektionskrankheiten Tuberkulose und Geschlechtskrankheiten als die wahren infektionistischen Feinde der Volksgesundheit entpuppten und die Mobilisierung aller freigewordenen Kräfte zu ihrer Bekämpfung provozierten. Die Perspektive verschob sich auf »Chronizität« von Krankheit und darauf, dass auch nicht ansteckende chronische Volkskrankheiten wie Alkoholismus und degenerative Erkrankungen die Volksgesundheit untergraben. Reine Prophylaxe durch Abhilfe von ökologischen Missständen bescherte der Hygiene auf Dauer ein Identitätsproblem: parallel zur Gesundheitsfürsorgebewegung suchte sie auch Hilfs- und Therapieangebote (Beratung, Fürsorgemaßnahmen) für Kranke und sozial Bedrohte in ihr Schutzprogramm mit einzubauen. Damit erst erschien das Auf bauwerk des Fachs vollendet, erfuhr es seine angestrebte »Verallgemeinerung«.10 Die Hygiene verwaltete das neue Arbeitsgebiet der sozialen Hygiene in eigener Regie und sträubte sich lange Zeit gegen deren gesonderte akademische Institutionalisierung, ihre Verselbständigung durch Konstitution einer eigenen Leitwissenschaft. Die meisten habilitierten Sozialhygieniker kamen denn auch bis zuletzt aus den Instituten für Hygiene an der Universität. Für sie stand Hygiene für »öffentliche Gesundheit« als Gewährleistung von Volksgesundheit in allen ihren Bezügen.11 9 | Zum Begriff der »Sozialen Hygiene« s. Kap. 5, Fußnoten 1 und 2. Unter den naturwissenschaftlichen Hygienikern waren es Reich 1858 und Pettenkofer in seinem »Handbuch der Hygiene« 1882, die den Begriff am ehesten mit einer weitergreifenden Auffassung von gesellschaftlichen Krankheitsfaktoren verknüpften, I. Winter 1981, S. 157; Gottstein 1907, 4; ders. 1932, S. 9; 11. Im übrigen s. Diepgen 1965, II, 2, S. 268. 10 | »Verallgemeinerung« im Sinne einer unumgänglichen Vervollständigung der Volkskultur, Grotjahn 1904, S. 1026; gleichlautend in: ders. 1923, 3. Aufl., S. 10. 11 | Nach Hueppe gibt es Hygiene nur in der Existenzform als Sozialhygiene oder gar nicht, Hueppe 1899, S. 11; oft zitiert z.B. von Gottstein 1907, S. 5 u.ö.; ders. 1909, S. 81; Kantorowicz Gordon in: Lesky 1977, S. 255; vgl. Labisch/Tennstedt 1985, II, S. 432.
4. D IE
KLINISCHE
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Um die Jahrhundertwende gelang es der Sozialhygiene dann doch, sich unter gesundheitspflegerischen und -fürsorgerischen Gesichtspunkten als eigenständige Leitwissenschaft für die Betreuung gesellschaftsbedingter Gesundheitsschäden und Krankheiten zu profi lieren. Dies ist eine eigene Geschichte, die ein gesondertes Kapitel verdient (Kap. 5).
4.4 Die geistigen Innovationen der Hygiene und ihre Bedeutung für das Zeitalter Die wissenschaftliche Hygiene formulierte und kodifizierte auf hohem Niveau die Ziele der deutschen bürgerlich-demokratischen Auf bruchbewegungen der nachrevolutionären Epoche, der preußischen Medizinalreformbewegung, der Bewegungen für »öffentliche Gesundheitspflege« und »öffentliche Gesundheitsfürsorge«,12 der Lebensreform13 und der Frauenbewegung. Auch die Probleme der Arbeiterschaft blieben nicht unberücksichtigt. Die Hygiene inaugurierte den Paradigmenwechsel von der staatlich-sanitätspolizeilichen Akutintervention zur umfassenden, basis-ökologischen Langzeit- und Kurzzeitprophylaxe von Seuchen. Darüber hinaus reflektierte sie auf eine Überhöhung der ökologischen Zivilisationshygiene durch die soziale Hygiene, um den Menschen selbst und seine Lage im Gesellschaftssystem in das Sanierungsprogramm einzubeziehen. Durch ihre Errungenschaften wurde die neue Hygiene in der 2. Jahrhunderthälfte bald ungeheuer populär und kulturell mitbestimmend für die Zeit um die Jahrhundertwende. Natürlich begrüßte das liberal-bürgerliche und zunehmend durch das Massenproletariat geprägte Zeitalter die schroffe Abkehr einer naturwissenschaftlich-medizinischen Universitätsdisziplin von dem sakrosankten Zwangsinstrumentarium einer aus dem Absolutismus herstammenden Fürsorgepraxis. Zum anderen entstand in der Tat eine »öffentliche Hygiene«, der es gelang, die Seuchenbekämpfung der obrigkeitsstaatlichen Regelung zu entziehen und über die Kommunen zur Sache der Bevölkerung 12 | Die Gesundheitspfl ege widmet sich dem Gesundheitsschutz bzw. der Gesundheitssicherung der »normalen«, wechselnden Lebensumständen ausgesetzten gesundenBevölkerung, die Gesundheitsfürsorge dagegen gilt den Populationsgruppen der bereits (meist chronisch) Kranken gerade auch in der Mehrzahl der leichten Fälle und im Initialstadium oder den im welchem Ausmaß auch immer durch dauerhafte soziale Risiken ernstlich Krankheitsgefährdeten (den »Schwachen«, z.B. Säuglingen, Kindern, Müttern etc.). Diese Unterscheidung gehört hier an den Anfang, will man die Entwicklungsschritte der Hygiene als Wissenschaftsfach nachvollziehen. Labisch und Tennstedt (1985, I) legen auf die akribische Trennung zwischen den gängigen, historiographisch bedeutsamen Termini weniger Gewicht, obwohl oder weil diese bereits in der Vergangenheit in der Literatur, z.T. isoliert voneinander, häufig spezifiziert wurden. Zur direkten Differenzierung vgl. Gralka in: Grotjahn et al. 1930, II, S. 73. 13 | Buchholz et al. 2001, 2 Bd.; Rothschuh 1983, S. 106, 113ff. 133ff.
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selbst zu machen. Der Umgang mit Epidemien blieb öffentliche Aufgabe, aber auf dem Hintergrund privater Beteiligung. Denn die Hygiene stellt den Seuchenschutz auch auf eine persönlich-private Ebene und installiert ihn in Form von Reinlichkeitsgeboten buchstäblich in den Wohnstuben.14 – Die »Verallgemeinerung« der Hygiene durch die soziale Hygiene erhob die Gesundheit schließlich nicht nur zu einem »sozialen Gut«,15 das dem Einzelnen und dem Ganzen diente, sondern zugleich zu einem fremdzweckfreien Wert, zu einem dem Menschen zugehörigen Wert an sich. Solche Vorstellungen waren in einem semikonstituionellen Staat nur dadurch zu verwirklichen, dass letzterer dem Bildungsbürgertum in den Kommunen (sicher nicht nur aus Gründen hoheitlichen Standesdünkels, sondern auch Sachzwängen folgend) zur Erfüllung der Zivilisationsaufgaben einen geistigen und ökonomischen Freiraum überlassen musste.16 Der dem Bildungsbürgertum von der Staatsmacht zugestandene zivilisatorische Gestaltungsfreiraum im Rahmen der Selbstverwaltung begünstigte eine ungeheure Konjunktur jeder Art von medialer Kommunikation. Zur demokratischen Popularisierung der neuen Hygiene-Ideen im liberalbürgerlichen Stil, die allein schon wegen der Slumsanierung an der in ihren Subkulturen betroffenen Arbeiterbevölkerung nicht spurlos vorübergegangen sein konnte, bedurfte es – nach dem Vorbild von Reformation und Aufklärung – der Propaganda durch das gesprochene und geschriebene Wort. Eine Flut von literarischen und populärwissenschaftlichen Aktivitäten wie Zeitschriften, Aufsätze, Broschüren, Traktate, Vereinsversammlungen und Vorträge katapultierten den Hygienegedanken auf einen lang anhaltenden Höhenflug.17 Man verkennt die Aufgeregtheit der Zeit, wenn man den Wust dieser Aktivitäten aus Ordnungsgründen glättet zu einer »Moralhygiene« zwecks »Aufklärung der Bevölkerung in hygienischen Fragen«, an der immerhin Männer wie Virchow und Pettenkofer mit zahlreichen Vorträgen engagiert mitwirkten.18 Alle waren brennend interessiert, sonst hätte man nicht soviel darüber geschrieben und gesprochen. Vielmehr haben wir davon auszugehen, dass sich in einem gegenseitigen Beeinflussungsprozess in Form einer Spiralbewegung eine geistig-politische Umwälzung von erheblicher innovativ-kreativer Sprengkraft vollzog, die vielleicht ihren letzten Ausdruck fand in basisdemokratischen Veranstaltungen wie den beiden Ausstellungen von 1911 und 1926.19
14 | S. Nowack in Fußnote 2. 15 | Z.B. Stollberg 1992, S. 32. 16 | Labisch/Tennstedt 1985, I, S. 122 u.ö. 17 | A.a.O. S. 33 u.ö. 18 | Diepgen 1965, II, 2, S. 269. – Im Übrigen hatte, was Diepgen hier nicht berücksichtigt, bereits A. Fischer den Begriff Moralhygiene für eine weit umfassendere Dimension seiner Kulturhygiene reserviert, vgl. z.B. dens. 1931, S. 114. 19 | Hygiene-Ausstellung Dresden 1911, GESOLEI Düsseldorf 1926.
5. Entstehung der Sozialhygiene als Wissenschaf t durch Verselbständigung aus der allgemein-klinischen Hygiene
5.1 Prak tizier te soziale Hygiene im Übergang zum leit wissenschaf tlichen Konzept Der Begriff »Soziale Hygiene« war in der Literatur schon vor seiner speziellen Dekretierung durch E. Reich 1858 und 1870 in Gebrauch,1 größere Verbreitung dürfte er aber erst durch Pettenkofers Rezeption in seinem »Handbuch der Hygiene« 1882 gefunden haben.2 In der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelte sich aus den oben geschilderten Gesundheitsbewegungen die Soziale Hygiene zunächst als Praxis im öffentlichen Alltag durch das Wirken von Ärzten, Ingenieuren, Architekten, Bediensteten der Staats- und Kommunalverwaltung, Lehrern, Wohlfahrtsexperten und anderen akademischen und zunehmend auch nichtakademischen Berufstätigen unter der wohlwollenden Direktive der naturwissenschaftlich ausgerichteten allgemeinen Hygiene.3 Den zeitgeistigen Hintergrund dieser praktisch arbeitenden Sozialen Hygiene bildeten der Konstitutionalismus in Verfolgung darwinistischer Tendenzen, Antisepsis und die Wende in der Krankheitslehre von einem fatalistischen zu einem (bakteriologisch-)ätiologischen und sozialen Erklärungsansatz. 4 Inzwischen türmten sich im Bereich der Feldarbeit der Sozialen Hygieniker die neuartigen, erlernensbedürftigen technischen Me1 | I. Winter 1981 (b), S. 157; A. Fischer 1931, S. 112; Diepgen 1965 II, 2, S. 268. 2 | Vgl. Gottstein 1932, S. 3; Labisch 1992, S. 165. – Das Epitheton »sozial« darf in Verbindung mit »Hygiene« als Wissenschaftsbezeichnung nicht unreflektiert hingenommen werden, sein Bedeutungsgehalt schwankt hierbei zwischen wertbetonter und wertfreier Verwendung im Doppelsinn der Beurteilung hilfsbedürftiger Bevölkerungsschichten oder schichtendurchgängiger numerischer Bevölkerungskollektive als Massenphänomenen; vgl. Thissen 1969 in: Lesky 1977, S. 444ff. 3 | S. Kap. 3 und 4. 4 | Nach Gottstein erfassten die Vertreter der damaligen sozialen Medizin und
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thoden und häufte sich das außerordentliche Material in derartiger Weise, dass die Kompetenz des dirigierenden Wissenschaftsfachs, der allgemeinen Hygiene, überschritten und eine »Arbeitsteilung« erforderlich wurde.5 Am Ausgang des Jahrhunderts reifte die Zeit für eine »Abspaltung« vom bisherigen hygienewissenschaftlichen Dirigat. Dieses Ereignis bedurfte neben der gewurzelten Ursachen auch eines auslösenden, zu Tage liegenden Anlasses – und auf Wissenschaftsebene im Blick auf die Argumente verdienstvoller Hygieniker und Kliniker6 zur sozialen Komponente der Hygiene einer Rechtfertigung gegenüber der Allgemeinheit. Im Gegensatz zur in der Medizinhistorie oft vertretenen Meinung lässt sich für die Sozialhygiene als Wissenschaft innerhalb des praktischen Wirkzeitraums ihrer Protagonisten und Akteure eher kein umschriebenes Geburtsdatum eruieren. Das wissenschaftliche »Sondergebiet« wurde nicht per hoheitlicher Ordre aus der Taufe gehoben, sondern entstand, inauguriert durch handstreichartige Deklaration, in einem langjährigen Entwicklungsprozess in mehreren Etappen. Ein umfangreiches Forschungsoeuvre und fundamentale institutionelle Initiativen bezeichnen die Meilensteine der Verselbständigung der Sozialhygiene als Wissenschaft (s. Tabelle 3). Aus sachlichen Gründen versuchte man allerdings, den zeitlichen Anlass, der den Entwicklungsprozess auslöste, näher einzukreisen. Der 1. Internationale Kongress zur Bekämpfung der Tuberkulose 1899 in Berlin versammelte ein beruflich heterogenes Fachpublikum. Dabei wurde deutlich, dass sowohl für die Ätiologie als auch für die Bekämpfung und Vorbeugung der Tuberkulose als Volksseuche stets auch gesellschaftliche Aspekte maßgeblich sind.7 Aufgrund der Vielseitigkeit der Abwehraufgaben konnte man sich auf dem Gebiet der gesellschaftlich relevanten, bevölkerungsweit verbreiteten Krankheiten nicht länger auf die kommissarische Leitfunktion der rein naturwissenschaftlichen Hygiene verlassen. Neben den technischhygienischen waren zusätzlich neue oder andere Methoden etwa aus dem sozialwissenschaftlichen Sektor gefragt. Die Tuberkulose war ein sozialpolitisches Reizthema der Zeit, ihre Bekämpfung stand vikariierend für den Beginn der »sozialhygienischen Ära in der Sozialpolitik«.8 Zumindest für die Gesundheitsfürsorge konnte sich hier die Sozialhygiene, während sie am Tuberkuloseproblem ihre Methodentüchtigkeit erprobte, dem aufschießenden staatlichen und kommunalen Leistungsapparat mit seinen im Bevölkerungsmaßstab agierenden, unterschiedlichsten Berufsgruppen als Leitwissenschaft sui generis anempfehlen.
Epidemiologie die »Abhängigkeit des Erkrankens von Wirtschaft und Kultur als Massenerscheinung, nicht als zufälliges Erlebnis des einzelnen«, ders. 1932, S. 2. 5 | S. dazu Gottstein a.a.O. S. 11. 6 | Zu nennen sind hier in erster Linie M. v. Pettenkofer, M. Rubner, F. Hueppe, O. Rosenbach und F. Martius. 7 | Kantorowicz Gordon 1931, in: Lesky 1977, S. 251ff.; vgl. Kongress-Bericht 1899. 8 | A.a.O. S. 253.
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Meilensteine Publikationen, Kongresse, Institutionen und Karrieren
Nr.
Zeitpunkt
1
1897
Gottstein: Allgemeine Epidemiologie
2
1898
Grotjahn: Der Alkoholismus nach Wesen, Wirkung und Verbreitung
3
1899
1. Internationaler Kongreß zur Bekämpfung der Tuberkulose als Volkskrankheit in Berlin
4
1902 ff
Jahresberichte über die Fortschritte und Leistungen auf dem Gebiete der sozialen Hygiene und Demographie (Grotjahn/Kriegel)
5
1904
Grotjahn: Was ist und wozu treiben wir soziale Hygiene?
6
1905
Gesellschaft für soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik
7
1906 ff
Zeitschrift für soziale Medizin (Grotjahn/Kriegel)
8
1912
Mosse/Tugendreich: Krankheit und soziale Lage
9
1912
Grotjahn/Kaup: Handwörterbuch der Sozialen Hygiene
10
1912
Grotjahn: Soziale Pathologie; Habilitation Grotjahns für Soziale Hygiene am Hygiene-Institut in Berlin*
11
1913
A. Fischer: Grundriß der sozialen Hygiene
12
1913 ff
13
1918
Gottstein/Tugendreich: Sozialärztliches Praktikum (2. Aufl. 1920/21)
14
1919
Chajes: Grundriß der Berufskunde und Berufshygiene
15
1920
Sozialhygienische Akademien Charlottenburg, Düsseldorf und Breslau (Gottstein)
16
1920
Grotjahn erster Ordinarius für Sozialhygiene an der Universität Berlin
Sozialhygienische Übungen an der Universität Berlin
Tabelle 3: Meilensteine im Werdegang der deutschen Sozialhygiene als Wissenschaftsdisiziplin
* Vor Grotjahn habilitierte sich bereits 1909 Ludwig Teleky in Sozialmedizin an der Universität Wien, Weder 2000, S. 443.
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5.2 Der 20-jährige Weg von der wissenschaf tlichen Inauguration bis zur Konstitution der Sozialhygiene als universitäres ordentliches Lehr fach Das definitive Modell einer Sozialhygiene als Leitwissenschaft eines in Ansätzen bereits funktionierenden Praxis-Pendants stellte Grotjahn 1904 in einem Vortrag vor der Deutschen Gesellschaft für öffentliche Gesundheitspflege in Berlin vor.9 Grotjahn nahm damit an der Spitze einer kleinem Schar sinnesgleicher Freunde10 die Ausführung eines Unternehmens in Angriff, dem sich in Vor- und Handlungsphase nicht wenige renommierte Fachkollegen aus der Mutterdisziplin entgegen stemmten: der Ausgliederung der Sozialhygiene als selbständiges Hochschulfach aus der allgemeinen Hygiene. Der junge engagierte Arzt und die auf ihn eingeschworene Initiatorentruppe als Leistungsträger ließen ein wettertüchtiges Boot zur See, das die Crew auf dem Mutterschiff für eigene Expeditionen selbst beanspruchte.11 Für die Sozialhygiene war dies der lang erwartete Akt der Selbstbehauptung und triumphalen Selbstdarstellung gegenüber der bloßen »Naturhygiene«.12 Neben der zum gesundheitlichen Bevölkerungsschutz auf die physische Umwelt fi xierten physikalisch-biologischen Hygiene mit ihrer naturwissenschaftlich-experimentellen Forschungsmethode erstand in der Sozialen Hygiene eine ebenbürtige, methodisch eigenständige Wissenschaft von der Beeinflussung der Gesundheitsverfassung von Populationen durch gesellschaftliche Zustände und durch erbliche Konstitution.13 Die Sozialhy9 | Grotjahn 1904, S. 1017ff., s. Tab. 3, Nr. 5. – M. E. ist in der Literatur bisher übersehen worden, dass Grotjahn den Titel seines Vortrags unter Beibehaltung des grammatikalisch falschen Satzbaus bewusst ähnlich wie Schiller das Thema seiner berühmten Antrittsvorlesung in Jena 1784 (»Was ist und zu welchem Ende studieren wir Universalgeschichte?«) formulierte, um das Ereignis als Inaugurationsverfahren erscheinen zu lassen. 10 | Der Kreis der Freunde und Gesinnungsgenossen Grotjahns beschränkte sich nicht auf Berlin, sondern war über die deutschen Staaten verbreitet und erhielt Zufluss aus den verschiedensten Berufsklassen, wie die Autorenverzeichnisse der Periodika und Handbuchartikel und die Mitgliederlisten der Fachgesellschaften erkennen lassen. 11 | Zur Kritik Rubners an der Abspaltung einer sozialen aus der allgemeinen Hygiene s. Gottstein 1907, bes. S. 3-17. Nach Gottstein untersucht die Soziale Hygiene den durch gesellschaftliche Vorgänge negativ beeinflussten gesundheitlichen IstZustand von Bevölkerungsgruppen, um diesen dann durch ihre Maßnahmen dem von der allgemeinen Hygiene »experimentell normierten« Sollzustand anzupassen, S. 3, 13. Vgl. den kurzen Verweis auf die Kontroverse bei Kantorowicz Gordon a.a.O., S. 253. 12 | Letzteren Begriff verwendet A. Fischer für die allgemeine Hygiene, hier 1931, S. 114. 13 | Letzterer Faktor wird meist erst über Triggerung durch die ersteren relevant, wie besonders A. Fischer betont.
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giene bot inzwischen die Garantie, den Kriterien der Wissenschaftstheorie für die Anerkennung als eigenständiger Wissenschaftsdisziplin gerecht zu werden. Sie verfügte über einen umrissenen eigentümlichen Forschungsgegenstand,14 der sich abweichend von der medizinisch-klinischen Hygiene auf dem Grenzgebiet zwischen Geisteswissenschaften und Naturwissenschaften bewegte.15 Für seinen Wissenschaftsrang waren 2 Aspekte bedeutsam: seine Darstellbarkeit im System (was seine Verstehbarkeit von einem Kernpunkt aus einschloss) und seine besondere Methodik.16 Die ihm immanenten Aufgaben und Ziele erforderten die Anwendung zahlreicher, mitunter divergierender spezifischer Methoden. Im Rückblick zählten dazu sozialwissenschaftliche, nationalökonomische, epidemiologische, statistische, medizinische, anthropometrische, soziopsychologische, administrative, juristische, organisatorische, medizinisch-geotopographische und sicherlich noch andere Verfahrensweisen und Techniken, die der neuen Gesundheitsdisziplin in der Gesellschaft zu Entfaltung und Wirkung nach allen Richtungen verhalfen. Die autonome Wissenschaftlichkeit setzte dabei voraus, dass die ambitionierten Ärzte fähig und willens waren, neben der methodischen Forschung eine qualifizierte unabhängige Lehre zur Weitergabe von Inhalt und Methoden an Universitäten und anderen Lehrstätten zu konstituieren.17
14 | Im Wesentlichen umfasste er die Themen chronische Infektionskrankheiten, Krebserkrankungen, Alkoholismus, psychiatrische Erkrankungen, Behinderungen, Gewerbekrankheiten, Gesundheitsfürsorge, Eugenik, Kranken- und Sozialversicherung, Gesundheitswesen, Gesundheitserziehung und Sozialethik. Zu Themenkreis und seiner Verwurzelung in der mittelalterlichen Triade Seuchenbekämpfung, Armenwesen und Gesundheitserziehung s. Thissen, a.a.O. S. 452f. 15 | Gottstein 1932, S. 9; Wolff in: Grotjahn 1929, S. 299f. 16 | Als wissenschaftstheoretische Grundbedingungen für den Wissenschaftsstatus wenigstens einer »bürgerlichen« Sozialhygiene bezeichnet Ewert exakte Definition der Grundbegriffe, Festlegung der Ziele und Aufgaben, fachspezifische Methodologie und Einheit induktiver Forschung mit deduzierender Systematik, ders. in: Tutzke 1976, S. 91f., S. 96; vgl. Tutzke in: ders. 1981, S. 111; Schäfer/Blohmke 1972, S. 104; vgl. diess.: 1964 in: Lesky 1977, S. 404ff. Zum Wissenschaftsbegriff vom Standpunkt der modernen Medizin s. Rothschuh 1962 (2.Aufl.). – Das Handwörterbuch von Grotjahn/Kaup 1912 war eine beeindruckende Stoffsammlung, das Handbuch von Gottstein et al. 1925ff. dagegen entwickelte die Thematik wie vorherige Lehrbücher (A. Fischer, Chajes, vgl. auch Mosse/Tugenreich) systematisch. 17 | Tab. 3, Nr. 10, 13, 15 und 16. – Zur Kommunalisierung der sozialhygienischen Praxis als zweiter Säule der institutionalisierten Sozialhygiene s. Einleitung, S. 26ff.; Kap. 9.3.8, S. 229ff. und Kap. 19.3, S. 384.
Teil II Theoriebildung, Gestaltung und Blüte 1897-1933
6-11 Die Triumvirn der Gründergeneration − ihr Leben und Werk als Inbegrif f moderner Gesundheit sfor schung in Deut schland am Anfang des 20. Jahrhunder t s
6. Alfred Grotjahn (1869-1931) – praktischer Arzt und Stammvater der Sozialhygiene als Wissenschaf tsfach
6.1 Opponent und Außenseiter In Alfred Grotjahn erscheint die Geschichte der Sozialhygiene in einzigartiger Weise personifiziert. Er verkörperte, fast 2 Jahrzehnte eingespannt in den Alltag eines praktischen Arztes,1 in unserer Sache alles in einem: Proklamation und Promotion einer wissenschaftsgestützten Sozialhygiene, ihre Explikation im 1 | G. S. 193f.; K. S. 151. – Über Grotjahns Lebenslauf sind wir gut informiert, in erster Linie durch die tagebuchgestützten Lebenserinnerungen des 58-Jährigen (die Schlussredaktion besorgte der 62-Jährige im Todesjahr, G. S. IV; das Buch erschien posthum 1932) und die alle erreichbaren Quellen verarbeitende Dissertation von Christoph Kaspari 1989. Erstbiograph war Dietrich Tutzke mit seiner Habilitationsschrift 1958, einer schmalen Monographie 1979 und zahlreichen Einzelpublikationen. Allerdings lag dem DDR-Sozialhygieniker weniger an der Rekonstruktion eines makellosen biographischen Mosaiks als primär an einer regimegetreuen ideologischen Auf bereitung des literarischen Werks durch Freilegung radikaler, sozialistischer und bürgerlich-reaktionärer Wesenszüge im komplexen Persönlichkeitsbild. Weit mehr noch gilt dies von Gerhard Schulzes Leipziger philosophischer Dissertation über Grotjahn 1964. – Dieser Sachlage entsprechend folgt unsere bioergographische Darstellung selbstredend den Memoiren Grotjahns und den Quellenmitteilungen in der Dissertation Kasparis, was uns dazu berechtigt, Hinweise auf Fundstellen zu minimieren und die Wiederholung von Fakten in anderen Publikationen zu übergehen.
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führenden Sachbuch, ihre Erhebung zum Universitätsfach, ihren Kampf um den Sozialstaat und ihr schmerzliches Finale vor dem Ziel; er war ständiger Begleiter sowie Kron- und Zeitzeuge ihrer Geschichte auf der Wegstrecke von ihrer Geburt als Wissenschaft bis zur Kodifizierung der Lehre, von der akademischen Inauguration bis zur Dornenkrönung und Apotheose im politischen Chaos. – Aber Grotjahn steht auch für die »eingearbeiteten« Fehlstrukturen, die die Sozialhygiene von Beginn an mit innerer Spannung erfüllten: von der nationalparanoiden Obsession durch die Volkstodidee aufgrund drohender Immigration aus dem Osten bis zum imperialistischen Denken beim Aufbau einer gesunden Volkssubstanz, vom Problem erblicher Entartung bis zur psychisch-invasiven qualitativen Eugenik, vom Verwaltungsabsolutismus bis zur Zwangsidee einer partiellen Volksasylierung durch Einweisung in Arbeitslager, von sprachlichen Winkelzügen und Rigorismen bis zur Reserve gegenüber einer fortschrittlichen Statistik, von parteipolitischen Lösungsstrategien bis zur totalitären Sozialstaatsideologie, vom sozialpolitischen Radikalismus bis zum zukunftsstaatlichen Utopismus. Vor uns steht das schillernde Werk eines Mannes, der wahrlich von Jugend an über »Palisadenzäune«2 hinwegschaute und Unkonventionelles dachte, aber aus Lust am Widerspruch, mit dem Stolz des Außenseiters oft auch über das Ziel hinausschoss. Als Hauptquelle für die Wiedergabe des Lebenswegs Grotjahns steht uns die Autobiographie zur Verfügung, die der 57-Jährige unter Verwertung von Tagebuchaufzeichnungen verfasste.3 Für ihre Authentizität sprechen zusätzlich auch der (mitunter sarkastisch-humorvolle) dokumentarische Stil, die offene Selbsteinschätzung und die ausgewogene Darstellung. Grotjahn entstammte einer alteingesessenen Arztfamilie. Der Vater, Landarzt, war zeitweise morphinabhängig, 4 die Stiefmutter bedurfte wegen nervöser Leiden häufiger 2 | Grotjahn benutzte das Wort in seinen Memoiren als Metapher für seine Sicht des Materialismus innerhalb des linken Lagers, S. 69. 3 | Vgl. G. S. 100f., 150ff., 200ff. – Grotjahn brachte zusammenhängende Abschnitte daraus aus den Jahren 1901, 1907 und 1914-1920 zum Abdruck. Bei den mitgeteilten Blättern handelt es sich um ca. 38 ½ Druckseiten (von 284 Buchseiten insgesamt). Insofern bedarf die Aussage Kasparis, G. zitiere »umfangreiche Passsagen« aus 2 Lebensdekaden einer gewissen Korrektur. Das Original ist verschollen, Nachforschungen im Grotjahn-Nachlass in der Humboldt-Universität Berlin verliefen ebenso erfolglos wie Rückfragen in der Familie. U.U. muss mit einem Verlust durch Kriegseinwirkungen gerechnet werden, K. S. 75, Anm. 18. – Im Gegensatz zu unserer Einschätzung im Blick auf den Tagebuch-Hintergrund bezeichnet Weinland ohne Angabe von Gründen Grotjahns Autobiographie als eine »in mancher Hinsicht außerordentlich unzuverlässige Quelle«, 1984, S. 15. 4 | G. S. 4f. – Grotjahn äußert sich in seiner Autobiographie ganz offen über diverse Anzeichen für psychopathische Anlagen in der Familie und bei sich selbst, bemerkenswert für einen Mann, der im Interesse einer gesteigerten Volksgesundheit Minderwertigkeit gerade auch in ihren psychischen Schattierungen auf eugenischem Weg für alle Zukunft ausgeschlossen wissen wollte. Zu Grotjahns Bruder Paul Hermann Georg s. K. S. 23.
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Klinikaufenthalte. Mit 10 Jahren verließ der Junge aus schulischen Gründen sein Zuhause und fand für die fernere Jugendzeit andernorts Unterkunft in Gastfamilien. Auf sich allein gestellt, entwickelte er sich nach eigener Angabe zum gedankenvollen »Außenseiter«.5 Zur Lieblingsbeschäftigung wurde ihm schon früh die Lektüre aller seriösen Literatur, die ihm in die Hände fiel.6 Auf dem Gymnasium in Wolfenbüttel dagegen, das er nach Privatschulunterricht relativ spät bezog, erging es ihm mehr schlecht als recht. Erst 1890, knapp 21 Jahre alt, bestand er sein Abitur.7 Mit dem Studium der Medizin begann er zunächst in Greifswald, meldete sich aber bereits im 2. Semester zum halbjährlichen Militärdienst in Leipzig. Hier setzte er sein Studium bis zur Vorprüfung fort, verbrachte die beiden ersten klinischen Semester in Kiel und übersiedelte 1893 für immer nach Berlin. 1894 promovierte er an der Charitè und beendete 2 Jahre später das Studium mit dem Staatsexamen.8 In Kiel schlossen sich Grotjahn und sein Freund Albert Südekum auf Betreiben des Soziologen Friedrich Tönnies dem dortigen Zweigverein der »Gesellschaft für ethische Kultur« an, offenbar einer Gruppe von Querdenkern, der eher die Opposition als solche als ein gezieltes Feindbild vorschwebte. Immerhin trafen die beiden auch auf »heimliche Sozialdemokraten«,9 von denen der spätere Reichtagsabgeordnete Heinrich Ströbel die Freunde mit der örtlichen Arbeiterbewegung und der inneren Parteistruktur der Sozialdemokratie bekannt machte. – In Berlin mischte sich Grotjahn sogleich in den Kreis der sozialistischen Studenten, der einhellig eine Revolution im Sinne offener Gewalt ins Kalkül zog. Drei Jahre nach Aufhebung des Sozialistengesetzes bestand jedoch keine Aussicht, ein solches Unterfangen in die Tat umzusetzen, nach einigen Jahren fiel der ganze anarchistische Spuk in sich zusammen.10
6.2 Zeit der politischen, sozialpolitischen und par teipolitischen Orientierung Sozialpolitische Einstellung und parteipolitische Orientierung verschmolzen bei Grotjahn zu einer eigentümlich fluoreszierenden Gemengelage. Zweifellos war er im Gründerzirkel der Sozialhygiene der politische Kopf, der eigentliche homo politicus, der – von der politischen Aufgewühltheit der Zeit 5 | G. S. IV, am ehesten nach Art des »jugendlichen Sonderlings« Tonio Kröger aus der Novelle von Thomas Mann, G. S. 33; er sprach von seinem »Sonderlingswesen« und »Oppositionsgeist«, S. 31f.; zum Verhalten des Pensionsschülers s. auch K. S. 32. 6 | G. S. 35 (Bücherlektüre), 44f.; K. S. 33ff. 7 | Die Grunddaten des Curriculums Grotjahns brauchen hier von uns nicht im Einzelnen belegt zu werden. Grotjahn selbst in seiner Autobiographie und die in Fußnote 1 genannten Autoren stehen mit ihren übereinstimmenden Angaben für ihre Richtigkeit gerade. 8 | G. S. 82f., 85. 9 | G. S. 57. 10 | G. S. 58 ff, 64f.
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am stärksten berührt – sich nicht scheute, zeitweilig auch in das tages- und parteipolitische Gewühl hineinzutauchen, ohne sich dauernd darin zu verstricken.11 Öffentliche Gesundheit und Politik, zeitweise auch Parteipolitik, bedingten sich bei ihm derartig, dass ihm im Namen einer endlichen Verwirklichung von Gesundheit auch Umsturz und Systemveränderung der Erwägung wert erschienen. Der sozialpolitische Radikalismus, die latente Umsturzbereitschaft, das inoffiziell Revolutionäre befähigten ihn, zwar weniger in der reichsweiten Sozialpolitik, aber in der Landschaft keimender sozialhygienischer Strukturen reale Veränderungen durchzusetzen, die ihn zum unbestrittenen Führer einer politisch hochbedeutsamen Wissenschafts- und Praxisbewegung erhoben. Seine Handlungs- und Reformfreude verdankte er, wie man sagen könnte, einem »Radikalismus mit Vorbehalt«.12 In seiner Autobiographie umriss der Autor in kurzen Strichen die Entwicklungsstationen seines sozialkritischen und politischen Denkens in Jugend- und Studentenzeit. Schon als Gymnasiast in Wolfenbüttel stieß er auf das Problem sozialen Elends, aber nicht durch persönliche Konfrontation mit proletarischen Lebensverhältnissen, sondern über die Werke des literarischen Naturalismus, der »Elendsdichter« (Émile Zola, Gerhard Hauptmann, Hermann Sudermann u.a.), die es damals fertigbrachten, die materiellen Mißstände im Land den Ober- und Mittelschichten zum Bewusstsein zu bringen, »soziales Mitgefühl« und die Bereitschaft für sozialpolitische Reformen zu wecken. Zu diesem Zeitpunkt wurde für ihn die Frage der sozialen Gerechtigkeit zum lebenslangen Ansporn.13 In Greifswald geriet er durch die Lektüre des marxistischen Schrifttums politisch weit nach links in radikal-sozialistisches Fahrwasser. Aber wenn er sich von nun an als Sozialist (sei es anfangs als »sozialistischer Student« oder später als »sozialistischer Arzt«) betrachtete, behielt er sich dennoch vor, sich eine eigene Auffassung von Sozialismus zu bilden. So kritisierte er am Sozialismus marxistischer Prägung den Ausschließlichkeitsanspruch, die Präferenz des Klassenkampfes und das Geschichtsmonopol der wirtschaftlichen Fakto-
11 | Gottstein hielt sich ganz, A. Fischer weitgehend fern vom parteipolitischen Getriebe. 12 | Einen ähnlichen Kreativitätsschub durch (Partei-)Politisierung beobachten wir exemplarisch bei Max Hodann, s. Kap. 17. 13 | »[W]arum muß es Arme und Reiche, warum Entbehrende und Übersättigte geben?«, G. S. 45. – Dieser viel zitierte Satz in seiner emotional-humanitären, an die Medizinalreformer um Virchow erinnernden Färbung ließe sich ohne weiteres als Motto für die Arbeit aller deutschen Sozialhygieniker reklamieren (selbst für die Gottsteins, wenn dieser auch den Satz distinkt ablehnt). Ihre Klientel rekrutierte sich primär aus den durch gesellschaftliche Umstände gesundheitlich benachteiligten unteren Bevölkerungsgruppen. Erst später, unter Wohlstandsbedingungen (unzweifelhaft später in der angolamerikanischen Public Health) interessierte man sich für die Gesundheit in der Gesellschaft insgesamt, für den gesunden/kranken Menschen in der Totalität seiner irdischen Existenz, vgl. Tutzke 1958, S. 82f.
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ren.14 Wie revolutionsversessen sich der »sozialistische Student« in Berlin gegeben haben mag, so musste auch ihm das unzeitige Projekt eines politischen Umsturzes als eine nicht ernstzunehmende Episode erschienen sein. In der Rückschau warf Grotjahn der Parteiführung vor, in jener Zeit nicht schon den »Revolutionarismus« offen über Bord geworfen und die Fortführung des Kampfes in den parlamentarischen Gremien des vorfindlichen Staatswesens verkündet zu haben. Durch diese Ambivalenz zwischen Legalismus und revolutionärem Radikalismus verlor ihm zufolge die Partei zwar den Glauben an den Erfolg der proletarischen Weltrevolution, ohne aber dafür die Gewissheit eingetauscht zu haben, ihr Ziel innerhalb des bestehenden Staates mit Hilfe der gegebenen Staatsordnung auf parlamentarisch-reformistischem Weg zu erreichen.15 In Berlin gelangte Grotjahn unter den Einfluss Georg Ledebours, Vertreters eines nichtmarxistischen demokratischen Radikalismus, der als Querdenker einem politischen Eklektizismus und Synkretismus huldigte und zudem eine »großdeutsche, nationale Gesinnung« ausstrahlte. Ähnlich meldete sich auch bei Grotjahn der Widerspruchsgeist. Als ihre »beiden großen Lücken« rügte er an der Sozialdemokratie das Unverständnis für das doch zeittypische »Nationalgefühl« und das Versagen bei ihrer erwünschten Umgestaltung von einer klassenbewussten Arbeiterpartei zu einer »weitherzigen Kulturpartei«.16 Dass sie nichts tat, sich vom Makel der Vaterlandslosigkeit und Staatsfeindlichkeit zu befreien,17 hinderte ihn daran, sich jemals mit der Partei, für die er optierte, voll zu identifizieren. Den Marxismus betrachtete Grotjahn als desavouiert, da er zu einem »engherzigen Dogma« erstarrt war, »in dessen Kreisen sich die sozialistischen Theoretiker […] unaufhörlich drehten, ohne den Ergebnissen der empirischen Gesellschaftsund Volkswirtschaftslehre in gebührender Weise Rechnung zu tragen«.18 Es eröffnete sich ihm in der Sozialpolitik also eine Art Alternative zwischen Marxismus und Sozialwissenschaft oder Ideologie und empirischer Forschung. In der »Sozialwissenschaftlichen Vereinigung« in Berlin wurde er in seiner »Skepsis gegenüber dem Marxismus« 19 weiter bestärkt und mehr auf volkswirtschaftliche Literatur eingeschworen. Nach dem Studium brauchte Grotjahn noch Jahre, um in seinem Skeptizismus mit seiner politischen Position ins Reine zu kommen. Von 18861901 beteiligte er sich an den Diskussionsrunden im »roten Salon«, 20 einem politisch eher gemäßigten Kreis um Leo Arons, in dem Sozialdemokraten der verschiedensten Richtungen und demokratische Intellektuelle ohne Parteibindung zusammentrafen. Grotjahn bekämpfte weiterhin die »zweideutige Taktik« der Sozialdemokratischen Partei, die mit dem Schwebe14 15 16 17 18 19 20
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G. S. 50, vgl. K. S. 43. G. S. 60f. und öfter. G. S. 68. K. S. 46. G. S. 69. G. ebd. G. S. 92ff.
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zustand zwischen Reform und Revolution »jeden politischen Kredit« verspielte.21 Das marxistische Dogma galt ihm als »Unglück« für Sozialismus und Arbeiterpartei in Deutschland.22 Dafür gewannen nationalsoziale Ideen eines Friedrich Naumann und der Partei-Revisionismus eines Eduard Bernstein in seiner politischen Vorstellungswelt an Boden. Als nach 1900 parteiseitig für den Status des Sozialdemokraten die organisierte Mitgliedschaft obligatorisch wurde, trennte sich Grotjahn über mehr als 1 ½ Jahrzehnte von der Partei. Auf keinen Fall wollte er sich der Restriktion unterwerfen, nur in sozialdemokratischen Blättern zu publizieren, vielmehr die aus seiner »sozialistischen Anschauung überkommene Betrachtungsweise« (i.e. die Beurteilung medizinischer Sachverhalte vom sozialwissenschaftlichen Standpunkt aus)23 in die von ihm konzipierte Fachrichtung hinübertransportieren.24 Aus dem Umkreis der relativ früh einsetzenden, überwiegend essayistischen DDR-Historiographie über die ältere Sozialhygiene versuchte sich Gerhard Schulze 1964 an einer politisch gefassten Kurzbiographie Grotjahns. Als Ergebnis erarbeitete er an dem von ihm Dargestellten zwei Seiten der Entwicklung. Die erste Seite bekundet einen auf humanistischen Überzeugungen beruhenden Antimonarchismus, ein Bewusstsein vom Zusammenhang zwischen gesellschaftlichen Verhältnissen und Art des Gesundheitswesens bzw. der auftretenden Krankheiten und das Verdienst um die theoretische Begründung und disziplinäre Verfestigung der Sozialhygiene. Die zweite Seite beinhaltet die unheilvolle Gleichsetzung von Eugenik und Sozialhygiene, ja die Unterordnung der zweiten unter die erste. Letzterem hätte Grotjahn nur entgehen können, wenn er seinem Reformismus abgeschworen, sich zur Revolution, zur grundlegenden Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse durch »Abschaff ung des Lohnsystems« (Karl Marx) verstanden hätte.25 Bei aller Annäherung an die sozialistische Arbeiterbewegung »aus humanistischen Gefühlen heraus«, aus Empörung über die soziale Ungerechtigkeit,26 verwarf Grotjahn expressis verbis den Marxismus, weil er nie eine innere Beziehung zum Klassenkampf gewinnen konnte.27 Immerhin nahm er im von ihm inaugurierten Grundsatzprogramm der SPD von 1922 das Gesundheitswesen zum Ansatzpunkt für seine Ideen von Verstaatlichung und Sozialisierung, »die in der DDR Wirklichkeit geworden sind«.28 Danach ist Grotjahns Programmvorschlag immerhin »in unserer Republik als ein Beweis für das Vorhandensein fortschrittlicher Traditionen auf dem Gebiet des Gesundheitswesens unseres Volkes« einzustu21 22 23 24 25 26 27 28
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G. S. 98, 101. K. S. 68. K. S. 58, 70. G. S. 99. Schulze 1964, S. 40f., 34. A.a.O., S. 23. A.a.O., S. 27f. A.a.O., S. 30f., 38 ff.
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fen.29 Tatsächlich entstammt Grotjahns eugenisches System mit aller seiner »Menschheitsfeindlichkeit«,30 wie wir noch sehen werden, einem Gemisch aus Perfektionismus, den Vorgaben der Vererbungslehre, deutschem Irrationalismus, Bürokratismus und Verabsolutierung des Staates, also letztlich doch aus sozialistischer Wurzel.
6.3 Prak tischer Arzt und Wissenschaf tsautor – Vorarbeiter am Rohbau der Sozialhygiene 1896 wagte Grotjahn die Niederlassung als praktischer Arzt im medizinisch gut versorgten Berliner Bezirk Kreuzberg. Von vornherein dachte er nur an eine beschränkte Patientenzahl, um Zeit zu gewinnen für sein wissenschaftliches Traumprojekt einer Medizin unter sozialwissenschaftlichen Gesichtspunkten. Aus Gründen der wirtschaftlichen Sicherstellung versah er anfangs nebenher zur Praxis ½ Jahr lang die Stelle eines Assistenzarztes in einer privaten Poliklinik für Nervenkranke. Nerven- und Kinderheilkunde bezeichneten die klinischen Lieblingsfächer des jungen Praktikers. Diese Vorliebe wirkte sich später dahingehend aus, dass er in seiner »Sozialen Pathologie« den »Nerven- und Geisteskrankheiten« besondere Aufmerksamkeit zukommen ließ. In seine Sprechstunde kamen laut eingangs geführtem Patientenbuch Menschen aller Herkunftsstufen, vornehmlich aus dem Handwerker- und Arbeitermilieu, z.T. auch aus »tieferen sozialen Schichten«.31 Charakteristisch für ihn war, dass er in seiner späteren Arztwohnung zwischen 2 Schreibtischen wechseln konnte, von einem »kasuistischen« (für die ärztliche Behandlung) zu einem anderen »sozialhygienischen« für seine literarische Arbeit an seiner »Spezialaufgabe«.32 Deren erstes Resultat war die 400 Seiten starke Monographie: »Der Alkoholismus nach Wesen, Wirkung und Verbreitung« aus dem Jahr 1898. Das Buch ist als Markstein 29 | A.a.O., S. 40; vgl. Tutzke 1958, S. 83, aus dessem Text der Autor den zitierten Satz (und nicht nur diesen) wörtlich abschreibt. 30 | Schulze 1964, S. 148ff. 31 | K. S. 56, 73 Anm. 4 (Stichworte zur Analyse des erhalten gebliebenen Patientenbuchs aus den Jahren 1896-1899, Weindling 1987). – Dass Grotjahn seine Arztpraxis nur aus wirtschaftlichen Zwängen betrieb (Tutzke 1958, S. 1), ist unwahrscheinlich. Dagegen spricht, abgesehen von Grotjahns Beliebtheit bei den Patienten (Tutzke 1979, S. 22), dass der Sozialhygieniker nicht nur in seiner Frühzeit die Parallelität von Praxistätigkeit und wissenschaftlich-publizistischem Wirken als spezifisches Arbeitsmodell für seine Berufsausübung bewillkommte, d.h. das System niedergelassener Arzt – sozialhygienisches Engagement für die meisten Sozialhygieniker immer noch Keimzelle und Inspirationsquelle ihres Spezialgebiets war. 32 | G. S. 88; die Gewohnheit, an 2 Schreibtischen (für laufende Angelegenheiten und die Schriftstellerei) zu arbeiten, behielt er auch als Ordinarius in den 20er Jahren im Arbeitszimmer seiner Wohnung bei, George (Korach) 1963, S. 324.
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deshalb bemerkenswert, weil es den Bogen spannt vom frühen sozialistischen Geist des Autors hin zu den Gedankenblöcken seines späteren Werks (Pathogenese aus der sozialen Misere des industriellen Proletariats, sozial bedingter Verhaltens-Determinismus, psychopathische Konstitution, Entartungsgefahr, somatisch-psychische Minderwertigkeit, Notwendigkeit eugenischer Intervention) (vgl. Kap. 7.1). 1900 erteilte der Berliner Gewerkskrankenverein Grotjahn die Zulassung als Kassenarzt. Hatte er sich schon als Student von marxistisch-revolutionären Umtrieben auf volkswirtschaftliche Studien ablenken lassen, so suchte er nach dem Rückzug aus der Parteipolitik in den Wintersemestern 1901 und 1902 das sozialgeistige Erbe der sozialistischen Theoretiker durch ein volkswirtschaftliches Studium zu konsolidieren, wie es allein seiner sozialwissenschaftlichen Kompetenz förderlich sein konnte. Im Staatswissenschaftlichen Seminar Gustav von Schmollers arbeitete er über Volkernährungsfragen, wobei Hinweise auf Unterernährung in den Industriestaaten seine Entartungsbefürchtungen anheizten. In Schmollers Seminar gedieh Grotjahn schließlich zum »Kathedersozialisten« auf medizinischem Gebiet, d.h. als Arzt reihte er sich ein in die Gruppe der Sozialreformer, die eine Verringerung der Klassengegensätze und eine soziale Aufwertung des Proletariats durch staatliche Interventionen erwarteten.33 Unter den Fittichen Gustav von Schmollers vollendete sich seine Metamorphose vom Radikalen zum Reformer, »wie es allein der Sozialhygieniker sein darf«.34 Schon 1902 verhalfen Grotjahn und der Nationalökonom Friedrich Kriegel der Sozialhygiene im öffentlichen Erscheinungsbild zu einem gewaltigen Sprung nach vorn, als sie unter Berücksichtigung des internationalen Schrifttums die »Jahresberichte über die Fortschritte und Leistungen auf dem Gebiet der Sozialen Hygiene und Demographie« herausbrachten und in 13 Folgen bis zum Kriegsbeginn über Wasser hielten.35 Der nächste Schritt im Kampf um die wissenschaftliche Anerkennung einer selbständigen Sozialhygiene ließ nicht auf sich warten. Am 1. 3. 1904 proklamierte Grotjahn in einem Vortrag vor der Berliner Sektion der »Deutschen Gesellschaft für öffentliche Gesundheitspflege« die Eigenständigkeit der »sozialen Hygiene« als Wissenschaftsfach und akademischer Beruf, wobei schon der Titel den Vortrag als Inaugurationsvorlesung für Fach und Person zugleich sugge33 | G. S. 108ff., 116; vgl. KS 69ff. – Grotjahn bezeichnete sich selbst als »ersten medizinischen Kathedersozialisten«, nachdem ihn Schmoller und Tönnies in seinem Vorhaben, Hygiene und Sozialwissenschaften zu verschmelzen, bestärkt hatten, Weindling 1989, S. 222. 34 | G. S. 178, Tagebucheintragung vom 27. Juni 1917. 35 | Von 1916-1923 sorgte der »Bibliographische Jahresbericht über Soziale Hygiene, Demographie und Medizinalstatistik sowie alle Zweige des Sozialen Versicherungswesens« unter der Redaktion von Eduard Dietrich, allerdings ohne Besprechungen, dann doch für eine Fortsetzung; ab 1925 vervollständigten Carl Hamel und Fritz Rott ihr »Archiv für Soziale Hygiene und Demographie« durch eine bibliographische Übersicht, G. S. 125ff., vgl. K. S. 85f.
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rierte.36 Vor dem gewählten Forum endete die Veranstaltung in einem eklatanten Fehlschlag. Auf Betreiben des Referenten, der sich eine wirksamere Öffentlichkeitsbasis wünschte, wurde daraufhin Anfang 1905 der »Verein für soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik« gegründet, der allerdings 1921 in die alte Berliner Gesellschaft für öffentliche Gesundheitspflege wieder aufging.37 – 1906 bereicherte Grotjahn wieder zusammen mit Kriegel den Markt um ein weiteres Periodikum, die »Zeitschrift für Soziale Medizin, Medizinalstatistik, Arbeiterversicherung, Soziale Hygiene und die Grenzfragen der Medizin und Volkswirtschaft«. Mehrfach umbenannt, wurde sie von den genannten Herausgebern bis 1913 redigiert.38
6.4 Hochschullaufbahn in Hygiene und Ver waltungspraxis als Kommunalmediziner – Durchbruch des Wissenschaf tsfachs Sozialhygiene im neuen Universitäts-Ordinariat Seit 1903 verfolgte Grotjahn an der Berliner Universität in aller Form seine Ambition auf einen Hochschullehrerstatus. Erste (vergebliche) Habilitationsbemühungen datieren aus den Jahren 1903 und 1905.39 Zu dieser Zeit hatte Grotjahn bereits dezidierte Vorstellungen über konkrete Lehrinhalte des neu konzipierten Studienfachs, etwa Epidemiologie, Alkoholismus, Heilstättenwesen. 40 Sein bis zum 40. Lebensjahr noch bescheidenes monographisches Oeuvre stockte er 1908 durch das von der Rezension kontrovers aufgenommene Buch »Krankenhauswesen und Heilstättenbewegung im Lichte der Sozialen Hygiene« auf, einem Monument nicht nur für den Triumph des Ausbaus des deutschen Hospitalwesens, sondern auch einem Manifest für ein umfassendes Asylierungsprogramm zur Verbesserung des menschlichen Artprozesses. 41 Ein Sternenjahr für die deutsche Sozialhygiene wurde das Jahr 1912. Gleich mehrere Ereignisse ließen das Fach zu dieser Zeit in gebührlichem 36 | S. Kap. 5, Fußnote 9. 37 | G. S. 134. – Als Eindrücke von der Gründungsversammlung verzeichnete der Rassenhygieniker/Eugeniker Ploetz in seinem Tagebuch, dass die Führungsrolle Grotjahn zufiel und ¾ der Teilnehmer Juden waren. Auffallend frühzeitig stieß sich der Kreis um Ploetz an einer jüdischen Prädominanz in der Sozialhygiene, Weindling 1989, S. 224f. 38 | Von 1914-1923 zeichnete der Medizinalstatistiker Emil Roesle für die Zeitschrift verantwortlich. Von 1924-1934 wurde sie von Carl Hamel und Fritz Rott in Form einer Neuen Folge als »Archiv für soziale Hygiene und Demographie« weitergeführt, G. 134, vgl. K. S. 86; s.o. bei »Jahresbericht«. 39 | Zu Grotjahns Ambitionen 1903 s. Tutzke 1979, S. 26. – Den Rückschlag 1905 schildert G. S. 115f. 40 | Tutzke 1958, S. 2; ders. 1979, S. 26f.; K. S. 86ff. 41 | Tutzke 1958, S. 36 ff; 97f.; ders. 1979, S. 32f.; K. S. 88ff.
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Glanz erstrahlen. 42 Die Universität München errichtete auf Anregung Max von Grubers das erste Extraordinariat für Sozialhygiene und Konstitutionshygiene in Deutschland, 43 bei dessen Besetzung es sich der ebenfalls anvisierte Grotjahn leisten konnte, Ignaz Kaup den Vortritt zu lassen. 44 So oder so strebte in diesem Jahr seine Karriere einem Gipfelpunkt entgegen. Unter der Protektion des Ordinarius für Hygiene in Berlin, Karl Flügge, konnte er sich 1912 auch ohne Habilitationsschrift allein aufgrund seiner wissenschaftlichen Publikationsleistungen im Fach Hygiene habilitieren. 45 In seinem Institut bestellte Flügge den Privatdozenten zum Abteilungsleiter für Sozialhygiene. ½ Jahr später folgte die Ernennung zum Professor (Extraordinarius) durch das preußische Unterrichtsministerium. An Universitätsstellen verfochten jetzt 3 Habilitierte, davon 2 Professoren, separat die Sache der Sozialhygiene im deutschsprachigen Raum. 46 Den größten Zugewinn an öffentlicher Aufmerksamkeit sicherte sich die Sozialhygiene im genannten Jahr durch 3 Publikationen, die für immer zuvörderst mit ihrem Namen verbunden sein werden. Der voluminöse, von Max Mosse und Gustav Tugenreich herausgegebene Essayband »Krankheit und soziale Lage« mit Beiträgen der renommiertesten Sozialhygieniker der Zeit aus allen Fachrichtungen warf das Stichwort in die Debatte, das die Hilfsbedürftigkeit des modernen Menschen im weitesten Sinne einzufangen geeignet war. Aus der Feder Grotjahns erschien das erste akademische Standardwerk einer wissenschaftlich definierten Sozialhygiene, die »Soziale Pathologie«. Das in 3 Auflagen erschienene und in mehreren Sprachen übersetzte Resümee 1 ½ Jahrzehnte währenden Forschens wird allgemein als Grotjahns Hauptwerk angesehen. – Der besonders im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts auf sozialwissenschaftlich/medizinischem Grenzgebiet gepflegten Tradition des enzyklopädischen Handbuchs zollte Grotjahn Tribut, als er im Jahr des Aufschwungs zusammen mit Ignaz Kaup das zweibändige »Handwörterbuch der Sozialen Hygiene« herausbrachte. Es ist ein Lexikon der Feldforschung vieler auf den verschiedensten Arbeitsgebieten praktizierender Sozialhygieniker. Nach Alfons Fischer und Wilhelm Ostwald musste die junge Wissenschaft eine Initialperiode der Sammlung empirischen Materials durchlaufen, welch letztere m.E. nicht schon mit dem
42 | Nach A. Fischer 1918 behauptete die Sozialhygiene bis zum Weltkrieg lediglich eine »Aschenbrödelstellung«, ders. in: Lesky 1977, S. 217. 43 | Nach anderer Lesart für Gewerbehygiene, Sozialhygiene und Medizinalstatistik, K. S. 126. 44 | Als Grund für seinen Verzicht bezeichnet Grotjahn in einem Brief an A. Fischer nicht die mögliche Interessenkollision mit dem Kampfgefährten, sondern das grotesk niedrige Salär, Thomann 1979, S. 261. 45 | G. S. 141f. 46 | Zu Kaup in München und Grotjahn in Berlin kommt noch Ludwig Teleky in Wien.
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ersten »Jahresbericht«, sondern erst mit dem Handwörterbuch von 1912 zur abschließenden Katalogisierung gelangte. 47 Schon bald nach Aufnahme seiner Lehrtätigkeit an der Universität bot Grotjahn neben der Hauptvorlesung (anfänglich »für Studierende aller Fakultäten«) seminaristische oder sozialhygienische Übungen an, die nach Umbenennung seines »Unterrichts in der Sozialen Hygiene« in »Sozialhygienisches Seminar« 1930 unter dieser Bezeichnung bekannt wurden. Die Übungen wurden von Grotjahn im WS 1915/16 (1913?) eingeführt und sowohl von Studenten als auch von Hospitanten (jungen Ärzten, Doktoranden und Nichtmedizinern) besucht. Sie waren das »Kernstück« seiner Lehrtätigkeit, 48 bestimmt für dezidiert Interessierte zur Vorbereitung auf Dissertation oder Habilitation oder als berufliches Sprungbett besonders auf Stadtarztposten. 49 1915 beendete Grotjahn seine fast 20-jährige Tätigkeit als praktischer Arzt, die er auch noch neben seinem akademischen Lehramt ausgeübt hatte,50 und wechselte in das Medizinalamt der Stadt Berlin auf die Stelle eines Leiters der Abteilung Sozialhygiene. Hier erstrebte er den Auf bau eines sozialhygienischen Fürsorgewesens, seine Aktivitäten wurden aber von kriegsernährungswirtschaftlichen Problemen absorbiert. 1919 wurde er zum ärztlichen Direktor des neugegründeten Berliner Heimstättenamtes bestellt. Gegen den erbitterten Widerstand der medizinischen Fakultät, aber mit der preußischen Landesregierung und seinem alten Gönner, den Berliner Hygieniker Karl Flügge auf seiner Seite, wurde Grotjahn im Sommer 1920 vom Kultusministerium auf den neugeschaffenen ordentlichen Lehrstuhl für Soziale Hygiene an der Universität Berlin berufen.51 Allerdings blieben ihm ein
47 | K. S. 85; A. Fischer 1932. – Bezeichnenderweise legte Fischer 1931 Wert auf die Feststellung, dass Grotjahn im Handwörterbuch zusammen mit 61 Forschern zwar einen »riesigen Stoff« zusammentrug, aber noch »kein System« zustande brachte, a.a.O. S. 111f. – In Literatur und Katalogen differieren die Angaben zum Erscheinungsjahr der 1. Auflagen von Mosse/Tugendreich (überwiegend 1913) und Grotjahn (auch 1911). 48 | K. S. 270. 49 | Tutzke 1970, S. 335ff.; K. S. 270ff., 282. – Die Teilnahme am »Sozialhygienischen Seminar« galt später in der Literatur als Ehrentitel zur Kennzeichnung der Schülerschaft (s. z.B. Weder 2000, S. 391ff.), als eine Art Graduierung durch Grotjahn selbst, der diesem Eindruck in seiner Autobiographie durch Namensnennung seiner publizierenden »Seminaristen« zwar Vorschub leistete, sich im übrigen aber über die Veranstaltung nur lakonisch äußerte, G. S. 146, 251f. 50 | Sand nimmt fälschlicherweise an, Grotjahn habe seine Arztpraxis in Berlin über fast 40 Jahre bis zu seinem Tod ausgeübt, sie sei »his sole source of income« gewesen, 1952, S. 517. 51 | G. S. 207ff. – Zum Ordinarius aufgestiegen – »übrigens in der Blüte meines einundfünfzigsten Lebensjahres«, wie er vermerkt (schon 10 Jahre später schreibt er seine Memoiren!) – konnte er sich materiell nicht verbessern, vielmehr verkaufte
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eigenes Institut und wissenschaftliches Personal bis 1929 versagt.52 Immerhin bescherte ihm die Professur 63 Doktoranden, darunter K. Loewenthal, G. Benjamin, A. Vollnhals, E. Bejach, W. v. Drigalski, A. Drucker und als die beiden ersten Max Hodann und Hans Haustein und die drei Habilitanden Fritz Rott, Georg Wolff und Franz Goldmann.53 Dadurch wurde es ihm möglich, trotz anfänglicher Animosität der Fakultät gegen ihn und im Gegensatz zu manchem Kollegen eine eigene »Schule« zu bilden.
6.5 Realpolitisches Intermezzo Nach Kriegsende kam nach fast 20-jähriger politischer Abstinenz auf Grotjahn noch einmal die Tagespolitik zu, als die Mehrheitssozialisten »echtes Nationalgefühl mit demokratischem Wollen verbanden«, um radikalen Bestrebungen eine Absage zu erteilen und eine neue Republik zu verwirklichen.54 Grotjahn wünschte am Auf bauwerk teilzunehmen und glaubte, seine sozialhygienischen Vorstellungen am ehesten durch eine »Sozialisierung des Heilwesens« in einem planwirtschaftlichen System umsetzen zu können.55 1919 schloss er sich dem »Verein sozialistischer Ärzte« an und wurde wieder Mitglied der Sozialdemokratischen Partei (MSPD). Von 1921-1924 gehörte Grotjahn, zeitweise als einziges ärztliches Mitglied seiner Fraktion, dem Reichstag an. Hier verlegte er seine hauptsächliche Arbeit in die Ausschüsse, hielt insgesamt 7 Reden im Plenum, erreichte eine Änderung in der Vorlage des Reichsjugendwohlfahrtsgesetzes, bereitete den Grundstock für ein späteres Gesetz über die Haftpflicht des Staates bei Impfschäden durch Pockenschutzimpfung und scheiterte mit einem Abänderungsvorschlag zum Gesetz zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten (bei 5 Jahre später erfolgter endgültiger Verabschiedung).56 Für seine Partei verfasste er 1922 zur Hochzeit seiner Tochter »Klavier, Schreibmaschine, sämtliche goldenen Ketten und das entbehrliche Tafelsilber«, S. 210. 52 | K. S. 174. 53 | Tutzke 1958, S. 4ff., 131ff.; ders. 1968 (a), S. 251ff.; vgl. G. S. 254f. 54 | G. S. 215, vgl. K. S. 179. 55 | K. S. 180. 56 | G. S. 235 ff; K. S. 181ff. – Im Folgenden wählen wir eine Anekdote, die Grotjahn aus seiner Reichstagszeit erzählt, als Textbeispiel für die Treffsicherheit seines sprachlichen Ausdrucks. Mit dem Thema »Grotjahn und die Sprache« werden wir uns an gehöriger Stelle im Umfeld seiner Eugenik noch befassen. Er beherrschte keine Fremdsprachen, G. S. 35. Im Deutschen kämpfte er sich mit seiner Ausdrucksweise über die Jahrzehnte seiner vielseitigen Schriftstellerei vom gestelzten Gelehrtenstil der Auf baujahre zur flüssig-gefälligen, durch prägnante Allokation des Wortschatzes geprägte Diktion der späten Meisterjahre hoch. Entgleisungen auf sprachlicher Ebene im Zusammenhang mit seinem Kernsujet der qualitativen Eugenik lassen sich also nicht mit Mängeln im Stilgefühl oder verbalen Ausdrucksvermögen entschuldigen. Die Episode aus dem Reichstag schildert Grotjahn so: »Meine erste Rede hielt
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er ein abgekürztes konsensfähiges Gesundheitsprogramm, das auf dem Augsburger Parteitag 1922 in seinen wesentlichen Punkten angenommen wurde. Lehrveranstaltungen und wissenschaftliche Produktion hatten während dieser Zeit das Nachsehen. Nach seinem Ausscheiden aus dem Reichstag wurde die Luft zwischen ihm und der Partei wieder dünner, ohne dass es jedoch noch einmal zum Bruch kam.57
6.6 Die Zeit der Bücher – das Desaster einer (operativ) heilbaren chronischen Erkrankung Mit Erleichterung – wie seine Memoiren erkennen lassen58 – konzentrierte sich Grotjahn von nun an abseits vom gesundheitspolitischen Tagesgeschehen ausschließlich auf die Sozialhygiene als der Wissenschaft, zu deren Konsolidierung er durch Übernahme des Ordinariats angetreten war. Der Titelzahl nach umfasst das Schrifttum seines letzten Lebensabschnitts seit 1923 etwa die Hälfte seines literarischen Werks.59 Mit seiner Monographie »Die Hygiene der menschlichen Fortpflanzung. Versuch einer praktischen Eugenik« 1926 setzte er ein gewichtiges Schlusswort unter eine Problematik, die ihn unter den Stichworten »Entartung« und »Völkertod« eigentlich von Anfang an in vielen Schriften, vor allem in der »Sozialen Pathologie« und in dem in 2 Auflagen 1914 und 1921 erschienenem Erfolgsbuch »Geburtenrückgang und Geburtenregelung« beschäftigt hatte. Bevölkerungspolitik und Eugenik bezeichnetem ihm in der Sozialhygiene die übergeordneten Mittel zum Volkserhalt und zur nationalen Kulturentwicklung. De facto wurde er mit seinen extremsten eugenischen Vorstellungen (Asylierung/ Internierung) zum Schrittmacher nationalsozialistischer Unterdrückungsund Eliminationsstechniken.60 ich am 6. April 1922 zum Etat des Reichsgesundheitsamtes unter weitgehender Teilnahmslosigkeit des hohen Hauses […]. Die Bänke waren leer. Nur die Stenographen unten vor mir hingen an meinen Lippen. Der Mann, dem meine polemischen Ausführungen galten, der Präsident des Reichsgesundheitsamtes Bumm, stand wenige Schritte hinter mir auf der Ministerestrade und sah mir gemütlich über die Schultern ins Manuskript. Gerade vor mir aber hatte sich am Tisch des Hauses der wackere Parteigenosse Hoch aufgepflanzt und rief nach jedem Satz mit dröhnender Stimme: »Sehr wahr!«, was mich beinahe außer Fassung brachte. Als ich ihn nachher zur Rede stellte und nach dem Zweck dieser stark gekünstelt anmutenden Begeisterung fragte, erklärte er mir: ›Wenn der stenographische Bericht gedruckt vorliegt, wird er […] den Eindruck machen, als ob Sie unter lebhaftester Anteilnahme des Hauses oder wenigstens der Partei gesprochen hätten, weil infolge meiner Zurufe überall ein ›links, sehr wahr!‹ den Text wohltuend unterbrechen wird‹«, G. S. 236. 57 | G. S. 239; K. S. 192ff. 58 | G. S. 245f. 59 | K. S. 321f. 60 | In seiner Habilitationsschrift von 1958 bequemte sich Tutzke nur wider-
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Gemäß der definitionsgemäß im Wesen der Sozialhygiene angelegten Interdisziplinarität schätzte Grotjahn zeitlebens die Kooperation zwischen Kollegen gleicher oder verschiedener Disziplinen. Ein auff älliges Beispiel für die selbstlose Kooperationsbereitschaft Grotjahns auf literarischem Gebiet ist die Mitautorschaft von 5 jüdischen Wissenschaftlern an der 3. Auflage seiner »Sozialen Pathologie«.61 In einem 1928 zusammen mit Franz Goldmann verfassten Buch durchleuchtete er »Die Leistungen der deutschen Krankenversicherung im Lichte der sozialen Hygiene«. Von ganz anderer Thematik sind 2 Bücher aus dem Jahre 1929. Sicher noch unter dem Eindruck eigener unerquicklicher Schulerfahrungen, aber auch als Reflex des hochentwickelten schulärztlichen Dienstes in der sozialhyienischen Ära, veröffentlichte er zusammen mit Gustav Junge das Buch »Maßvolle Schulreform. Praktische Vorschläge eines Arztes und eines Lehrers«. Zur maßvollen Sprache kontrastierten eher radikale Reformvorschläge, wie die Kritik auch vereinzelt bemerkte. Als prinzipiell neuartig empfunden wurde das Zusammengehen von Arzt und Lehrer auf dem Forum der Schule, wie es auch heute wieder aktuell sein sollte mit gemeinsamen Erziehungs- und Gesundheitszielen.62 – Im gleichen Jahr 1929 wandte sich Grotjahn, mit bedingt durch sein eigenes Krankheitsschicksal, mit der Sammlung »Ärztliche Patienten. Subjektive Krankengeschichten in ärztlichen Selbstschilderungen« zurück zu den Wurzeln seines Arztberufes und hin auf den Weg willig zur Anerkenntnis einer Vorläuferschaft Grotjahns gegenüber der NS-Doktrin, a.a.O. S. 93, 97f., 106ff. Immerhin sei dem Grotjahnschen Asylierungsgedanken »manches Begrüßenswerte« wie die vorgeschlagene »Arbeitstherapie« für die Festgesetzten abzugewinnen, ebd. S. 98. In seiner Broschüre von 1979 kommentierte er die »Hygiene der menschlichen Fortpflanzung« vorsichtshalber nur in 7 Zeilen mit Hinweis auf Übersetzung ins Polnische und Elternversicherung, Grotjahns Eugenik erscheint lediglich als »Ergebnis ideologischer Abhängigkeit […] vom Zeitgeist«, a.a.O. S. 37, 70. Im übrigen zeigt sich der Autor so vernarrt in seinen »Helden«, dass untergründige Beziehungen zu faschistischen Praktiken überhaupt nicht mehr zur Sprache kommen. – Ein Schüler Tutzkes, G. Schulze, der selbst drei Familienangehörige im Nazi-Terror verlor, bescheinigte dagegen 1964 in seiner Dissertation Grotjahns eugenischer Menschenzuchtsideologie Menschheitsfeindlichkeit und präfaschistische Wegbereitung, a.a.O. S. 142ff. – In Grotjahns Eugenik hat das deutsche Bürgertum mit die Grundlagen dafür gelegt, dass die politisch relativ indifferente deutsche Gesellschaft wenig später die NS-Praktiken tolerierte. 61 | K. S. 323. 62 | Eine schulische Gesundheitserziehung befürwortete Grotjahn »interessanterweise« allerdings nicht, K. S. 302; er wollte die angestrebte Kürzung des Lehrplans nicht durch Einführung eines neuen Unterrichtsfachs konterkarieren, Tutzke 1958, S. 57. – Für das Modell eines Dialogs zwischen Arzt und Lehrer zur Gestaltung einer schulischen Gesundheitskunde (s. Heinzelmann 2000) kann Grotjahn trotz der Einbringung ärztlicher Kompetenz in die Pädagogik nicht in Anspruch genommen werden. Die Zukunft der Volksgesundheit bestimmt für ihn weder Gesundheitsfürsorge noch Schulgesundheitspflege, sondern Eugenik.
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zu einer psychologischen Krankenerforschung. Er hoff te, auf diese Weise Kriterien aufstellen zu können, die eine systematische Einfühlung in das Seelenleben des Patienten und damit auch zusätzlichen Aufschluss über Wesen und Verlauf einer Krankheit erlaubten. Seit 1909 litt Grotjahn an einer chronisch-rezidivierenden Cholecystitis aufgrund eines Gallensteinleidens. Ein Gastroenterologe bestätigte die Diagnose. In größeren Zeitabständen traten Gallenkoliken auf, die insgesamt 6 Mal Morphiuminjektionen durch benachbarte Kollegen notwendig machten. Im übrigen gestattete der dem Lebensreformer, Vegetarier und Abstinenzler eigene »unverfälschte therapeutische Nihilismus«63 nur diätetische und physikalische Maßnahmen. Eine vorsorgliche Operation, wie sie 1923 gelegentlich einer Kolik vorgeschlagen wurde, stieß auf Ablehnung. Die Krankheit blieb über 2 Jahrzehnte faktisch unbehandelt. Bei der Notoperation am 2. 9. 1931 stellte sich ein von einer Perforationsstelle im Gallensystem ausgehender, über den ganzen Oberbauch ausgebreiteter Gallenabszeß bei massiver obturierender Cholecysto-Choledocholithiasis dar. Grotjahn verstarb 2 Tage später an den Krankheitsfolgen im Kreislaufversagen. Martin Grotjahn, der älteste Sohn, später Psychiatrieprofessor in den USA, erkannte in der Indolenz seines Vaters in der kritischen Endphase ein resignatives Moment: »My father’s attitude towards his last illness almost sounds like suicide«.64
6.7 Der Eugeniker Grotjahn und das Dritte Reich – Verharmlosen und Verschweigen. Eine Literatur-Analyse Kaspari hat sich in seiner Ergobiographie des Genannten von 1989 verhältnismäßig umfangreich in 2 besonderen Abschnitten mit dem Komplex Grotjahn und das Dritte Reich auseinandergesetzt, wobei er auch die DDR-Literatur mit in die Diskussion einbezog. Im ersten Abschnitt zieht er anhand von Korrespondenzen und Rezensionen gegen Machenschaften zur Felde, Grotjahn für die NS-Doktrin und die »Münchener Rassenhygieniker« glatt zu vereinnahmen. Letztere glaubten in der Tat, Grotjahn aufgrund seiner Präferenzen für erbliche Anlage, Auslese und Aufartung (allerdings nicht »Aufnordung«!) zum Verbündeten im sozialistischen Lager kooptieren zu können, der auf Dauer in der Arbeiterschaft alle Vorurteile aufzuweichen vermöchte. Die Antworten Grotjahns in der Korrespondenz zeigen, dass er sich zu dieser Rolle nicht herbeiließ und politisch auf seinen alten Abgrenzungen gegen den Faschismus beharrte. So präsentiert Kaspari hier lediglich 63 | K. S. 91, 336. – Seine Überzeugung, »dass der größte Teil der inneren Erkrankungen am besten sich selbst überlassen bleibt«, vermittelte Grotjahn »im wesentlichen« sein Lehrer und Doktorvater Ernst Schweniger, G. S. 80. 64 | K. S. 337.
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Wunschvorstellungen der Rassenhygieniker auf der Suche nach einem glaubwürdigen »Kronzeugen« für die sozialistische Klientel.65 Kaspari zufolge spielt Grotjahn, der ja bereits 1931 verstorben war, mit seiner Eugenik in der NS-Rassenhygiene eher eine passive Rolle. Er war kein Faschist, sondern Sozialist. Grotjahns Eugenik erfuhr zwar in den ersten Jahren des Dritten Reichs eine »sachlich nicht unrichtige Rezeption«, sie ließ sich, mit einem Wort G. Schulzes, tatsächlich »relativ leicht in den Dienst der unmenschlichen faschistischen Theorien« stellen.66 Damit ist für Kaspari Grotjahns Eugenik endlich eine Art Opferrolle zugefallen: sie wurde von den Nazis missbraucht.67 Ein Lehrstück über den Umgang mit Grotjahns Eugenik liefert nach Kaspari ihre »Rezeption« in der DDR. Zwar führte sich Gerhard Schulze als ihr entschiedener Gegner auf,68 im übrigen herrschte im Bereich der ostdeutschen Sozialhygiene in dieser Frage aber eine bemerkenswerte Ambivalenz. Verharmlosung und Verschweigen schienen die Parole zu sein. Der Grund für diese Taktik liegt darin, durch Unterscheidung zwischen jüngerem und älterem Grotjahn die Gründergestalt, sozusagen die sozialhygienische Kultfigur so wenig wie möglich zu beschädigen.69 Es galt, Rücksicht auf das Gesamtwerk zu nehmen, über dessen eugenischen Part die sonstigen fundamentalen Leistungen auf sozialhygienischem Gebiet nicht vergessen zu machen. – Der »Grotjahn-Forscher« Dietrich Tutzke begab sich angeblich ab 1970 ins kritische Lager und verwarf die »Idee einer humanen Eugenik als vollkommen illusionär«.70 Tatsächlich hat nach Tutzke Grotjahn dazu beigetragen, »der faschistischen Rassenhygiene den Weg zu bereiten«, indem er die Chimäre einer »humanen Eugenik« vorgaukelte und Dauerasylierung
65 | K. S. 234ff. 66 | K. S. 243, 246. 67 | K. S. 249. 68 | S. Fußnote 60. 69 | Die »Verquickung« von Sozialhygiene und Eugenik bei Grotjahn (Tutzke 1958, S. 100, ähnlich Schulze 1964, S. 43) ist keine Frage einer (späteren) Schaffensperiode. Dass beide »sehr verwandt, ja fast identisch seien, meinte er schon 1904«, K. S. 80, vgl. Tutzke 1958, S. 74. Im späteren Lebenswerk verschob sich allerdings das Verhältnis in die Richtung, dass »(d)er eugenische Gesichtspunkt [...] für die sozialhygienischen Bestrebungen, als der übergeordnete, maßgebend sein« sollte, Grotjahn 1926, S. 97. Diese »Unterordnung der Sozialhygiene unter die Eugenik« (Tutzke a.a.O. S. 106, 112, vgl. 75; Schulze 1964, S. 44f., 118) bedeutete in der Tat einen Perspektivenwandel im System Grotjahns von der vermeidbaren (individuell vielleicht heilbaren), sozial bedingten Erkrankung zur unvermeidbaren, unheilbaren erblich bedingten Erkrankung, der zwangsläufig zur Vorstellung einer gesellschaftlich-biologischen »Reinigung« unter Staatsaufsicht führen musste. Zur Reinigungsmetapher s. Grotjahn 1926, S. 5, 338. 70 | K. S. 245, 249.
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und Zwangssterilisation für kompatibel erklärte mit den Grundsätzen des Humanismus.71 Von solchen Einsichten ist bei Tutzke allerdings dann später 1979 in seiner Grotjahn-Kurzbiographie nichts mehr zu spüren, in der er faschistische Bezüge fast ganz verschweigt.72 Damit nimmt der Autor wieder seinen alten Standpunkt ein wie in seiner Habilitationsschrift von 1958, in der er in keiner Weise über die diskriminierende Generativen-Klassifi kation reflektierte, »übertriebene« eugenische Gesichtspunkte »aus der Zeit heraus« verstand, die Lagerarbeiten in den Asylen als »Arbeitstherapie« interpretierte, das asylbedingte Zwangszölibat mit Schweigen überging und Grotjahn die Absicht konzidierte, eine »Verminderung erblicher Belastung auf mildere und vornehmlich freiwillige Weise« zu erreichen.73 Als wahrer Meister des Verschweigens erwies sich vor allem auch der Nestor der ostdeutschen Sozialhygiene, K. Winter, der in seinen Gedenkartikeln an Grotjahn dessen Eugenik, in die doch in seinem Werk die Sozialhygiene aufgehen sollte, nur (einmal) erwähnte, um Grotjahns Unberührtheit von Faschismus und Rassenlehre zu beteuern.74 Ein Beispiel westlicher Verharmlosung bietet Kaspari selbst, zumal mit seiner These von einem gewissen Missbrauch und einem Opfergang der Grotjahnschen Eugenik in der NS-Diktatur (s.o.). Seiner apologetischen Grundtendenz zum Trotz spart Kaspari dennoch nicht mit schärferen Kritikpunkten. Das »Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses« hätte Grotjahn »selbstverständlich« begrüßt. Seine Eugenik diente als zusätzliche Rechtfertigung des NS-Sterilisationsgesetzes. Allerdings forderte er eugenische Zwangssterilisation nur in humaner Absicht aus Gründen der Staatsraison, aber nie »zum Wohle eines so verschwommenen Gebildes wie einer ›Rasse‹«. Hinsichtlich der Vererbungslehre wartete er nicht auf weitere Beweise, vielmehr zog er den Kreis der Asylierten bzw. Zwangssterilisierten vorsorglich »zu weit« und instigierte damit durchgreifende Maßnahmen schon bei »möglicher« Erwartung einer »gewissen« Minderwertigkeit wie bei Asthenikern. Sein Vertrauen in die Vererbungslehre verführte ihn ungeachtet der tatsächlichen Forschungslage zu Sorglosigkeit und Unverantwortlichkeit. Grotjahns Vorstellung vom »Menschen als Zuchtziel« lehnt Kaspari strikt ab, ohne Reflexion über Ethik oder Invasivität, aber mit apologetischem Hinweis auf positivere Einstellungen zu einem solchen Unternehmen in heutiger Zeit. Grotjahn war weder kommunistisch noch faschistisch, aber es fehlte ihm das liberale Staatsverständnis, das Gefühl für das individuelle Selbstbestimmungrecht, das der heutigen Humangenetik zugrunde liegt.75 Mit der letzteren Feststellung kommt Kaspari dem politischen Mechanismus, der Grotjahns Eugenik als sozialpolitisches Gesundheitsmodell be71 | Tutzke 1972, S. 820. 72 | S. Fußnote 60. 73 | Tutzke 1958, S. 44, 75, 98, 109. 74 | Kurt Winter 1960 in einem Gedenkartikel, im Literaturverzeichnis nicht aufgeführt. 75 | K. S. 245ff.
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stimmt, schon einigermaßen nahe. Aber was den westlichen und östlichen Halb-Apologeten entgeht (ihnen ist noch Weindling 1984 und Winter 1957, 1960 und 1970 zuzugesellen) und was der schärfste Polemiker gegen die Grotjahnsche Eugenik Karl-Heinz Roth (1984) noch am ehesten erfasst, ist die sein Projekt abdeckende Staatsidee.76 Grotjahn ist kein Nachbeter des Marxismus und kein Vorläufer des Nationalsozialismus, sondern Vordenker und damit wissenschaftlicher Handlanger des absoluten Staates neuen Typs, des totalitären Massenstaats welcher Prävenienz auch immer, aufgebaut auf einer perfekten bürokratischen Verwaltung und einem loyalen Funktionärsapparat. Das inhumane Element in Grotjahns Gedankenwelt, das Tutzke diesem vorwarf und das ihn in der DDR zugleich selbst verunsicherte, ist die Fiktion eines akribisch ausgetüftelten sozialistischen Verwaltungsstaats. Dass sich Grotjahn so etwas vorgestellt hat, bedarf keiner Frage. Nach seinen Berechnungen und Aussagen waren etwa 20 Millionen Minderwertige in Deutschland (ein Drittel der Bevölkerung)77 a la longue unter eugenische Repressalien zu stellen (einschließlich der in Gruppe II und III katalogisierten Eltern, Ehepaare und Eheanwärter). Welche Agglomerate staatlicher Körperschaften waren einzukalkulieren, um Inszenierung, Klassifizierung, Selektion großer, mit problematischen Makeln behafteter Menschenkollektive und »Behandlung« per Asylierung Sterilisierung und gesetzlichem Eheverbot in Zusammenarbeit zwischen Arzt und Staat in Zeitaltern zu bewältigen!78 Die Parteiform des Massenstaates gestaltete sich für einen Wissenschaftler wie Grotjahn eher zufällig. Aber dafür ist er statt Marxist oder Faschist durch und durch Sozialist mit Sinn für das Totalitäre. Eugenik als oberstes Staatsziel über die beim menschlichen Erbgang notwendigen Generationen und Jahrhunderte hinweg verwirklicht sich nur über die administrativen und apparativen Mittel des totalitär-diktatorisch, dabei virtuell »legal« organisierten Staates. Deshalb darf Eugenik nur im gesetzlichen Rahmen und unter ärztlicher Kontrolle statthaben! Wie manipulierbar beide sind, konnte Grotjahn in seinem zeitlebens gezähmten Radikalismus vor 1933 vielleicht nicht wissen. Aber dennoch ermöglichte er – unabhängig von partei- oder rassenpolitischen Erwägungen – den Gedanken, sich Menschen im Besitze aller bürgerlichen Rechtstitel im Interesse eines höheren Staatsziels zwecks invasiver Eingriffe verfügbar zu machen.
76 | Zum Staatsverständnis Grotjahns und seiner Schule vgl. besonders Wolff in Grotjahn et al. 1929 (Bd. I), S. 319ff.; s. Kap. 12. 77 | Vgl. K. S. 242, Rüdin 1934, S. 7. – Zur Berechnung der ca. 1 Million ad hoc anstaltspfl ichtigen erblich Belasteten s. Grotjahn 1927, S. 8ff., 25, vgl. Tutzke 1958, S. 97; vgl. die Wiedergabe der Zahlen bei A. Fischer 1926, S. 209. 78 | Das Szenario wurde erstaunlich klar vorherbeschrieben von O. Hertwig 1918, S. 86, s. Schulze 1964, S. 158f.
7. Auswahl aus Grotjahns monographischem Werk
7.1 Grotjahns »Der Alkoholismus« von 1898 als Meilensteinbuch 7.1.1 Nichtinfek tiöse Erkrankungen im Beziehungsfeld der Epidemiologie – das Lehrbeispiel der chronischen Alkoholintoxikation Grotjahns erste Monographie, das Buch über den Alkoholismus aus dem Jahre 1898, eröffnet zusammen mit Gottsteins Untersuchung über »Allgemeine Epidemiologie« aus dem Vorjahr die Meilensteinliteratur der Sozialen Hygiene. Grotjahns Zusatzbotschaft lautet: Nicht nur Epidemien befallen große Volksteile und sind damit Volkskrankheiten – »epidemiologische« Erkrankungen –, sondern das Gleiche gilt von vielen, wenn nicht von den meisten nichtinfektiösen, z.B. toxischen und anderen chronischen Erkrankungen. Diese sind daher nach ihrer Entstehung, ihrem Wesen und hinsichtlich ihrer Bekämpfung planmäßig mit eben denselben Mitteln zu erforschen, wie sie sich auf dem Gebiet der infektionistischen Epidemiologie bewähren. Gleich zu Beginn seiner Lauf bahn präsentiert der 29-jährige praktische Arzt dem Publikum ein meisterliches Erstlingswerk, mit dem er zum Avantgardisten des künftigen Wissenschaftsfachs avanciert. Das Buch liest sich wie das Exposé eines Zukunftprogramms der Sozialhygiene in nuce anhand eines Beispiels.1 Sprachstil, Einteilung und insgesamt 58 rekapitulierende »Leitsätze« am Ende der Kapitel2 erfüllen die Voraussetzungen für eine auch didaktisch ideale Lektüre. Dem Autor liegt laut programmatischem Vorwort zwecks effektiver Bekämpfung expressis verbis daran, von einer hygienischen zu einer sozialhygienischen Darstellung fortzuschreiten. Wesen und Wirkung des Alkoholmissbrauchs hat die Medizin aufgeklärt, seine Ursachen verblieben bislang im Dunkel vermuteter moralischer Entgleisung. Nunmehr wächst das 1 | Umgekehrt erscheint später die »Soziale Pathologie« mehr als Resumee bereits erarbeiteter Projekte. 2 | Noch im Buch über das »Krankenhauswesen« 1908 rekapitulieren Leitsätze den jeweiligen Kapitelstoff.
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Verständnis für eine komplexe soziologische Verursachung, für den Zusammenhang zwischen Alkoholismus und gesellschaftlicher Struktur, »den Arbeits-, Wohnungs- und Ernährungsverhältnissen der einzelnen Bevölkerungsschichten«. Der Forscher wagt sich in das »Labyrinth der socialen Erscheinungen«, indem er zur Lösung des Problems dessen Sitz im Leben recherchiert. Nur eine medizinische und soziologische »Gesamtauffassung« des Phänomens kann Grundlage sein für eine »rationelle Bekämpfung«.3 Damit ist dem Grundansatz der Sozialhygiene (Abfolge von differenzierter Ätiologie und rationeller Therapie) vor dem Zeitpunkt ihrer offiziellen Proklamation bereits Genüge geleistet. 4 Alkoholismus als Volkskrankheit nimmt hinsichtlich seiner zerstörerischen Kraft hinter Lungentuberkulose und Syphilis den 3. Platz ein, auf die Medizinalstatistik ist im Übrigen nur bedingter Verlass.5 Dennoch kann man aufgrund von zuverlässigen kleineren Statistiken davon ausgehen, dass nicht nur bei notorischen Trinkern, sondern auch in Bevölkerungskreisen mit mäßigem Alkoholgenuss die Sterblichkeitsraten ansteigen und die mittlere Lebensdauer zurückgeht. Todesursachen bilden Schlaganfälle, Nervenkrankheiten, Selbstmorde, Unglücksfälle, Herz- und Leberkrankheiten und Lungenentzündungen.6 Die äußeren soziologischen Ursachen des Alkoholismus sind vielfältig. Aber es gibt auch eine innere, »im Menschen liegende Ursache« in Form einer sehr häufigen psychischen Minderwertigkeit oder psychopathischen Konstitution, wie sie uns die Psychiatrie zur Kenntnis gebracht hat. »Die Zahl dieser Individuen ist sehr groß. Sie gehören zu jener [...] Psychopathen-Gemeinde«, die ihre Mitglieder nicht nur aus der geistigen Prominenz, sondern »nicht minder« aus dem Milieu der Kriminellen und Prostituierten rekrutiert.7 Die psychopathische Anlage ist erblich mit familienanamnestisch belastenden Momenten in der Aszendenz. Die psychopathische Anlage verdammt aber nach Bekanntschaft mit dem Alkohol nicht zwangsläufig zur Trunksucht, meistens kommen noch äußere Umstände hinzu, die »die schlummernde Anlage zur Blüte bringen«.8 Für die Verbreitung des Alkoholismus in den unteren Bevölkerungsschichten, also in der Masse der Gesamtbevölkerung, zeichnet in erster Linie das »sociale Milieu« verantwortlich. »Die wichtigste Ursache für die Verbreitung des Alkoholismus liegt in der Steigerung des Alkoholbedürfnisses durch die Ungunst der socialen Verhältnisse [...]«.9 Die arbeitende Klasse, das industrielle Proletariat reagiert auf den »Druck der socialen Misère« während 3 | A. S. VII. 4 | »Der entscheidende Schritt war getan, die Begründung der Sozialhygiene in Theorie und Praxis begonnen«, Winter 1970, S. 518. 5 | A. S. 147f. 6 | A. S. 94-112. 7 | A. S. 153. 8 | A. S. 148ff. 9 | A. S. 306.
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der Arbeit, in den Arbeitspausen und in der Freizeit mit gesteigertem Alkoholkonsum. Der Alkohol dient als erschwingliches Stimulans, der »Umgebung, Beschäftigung, Wohnung, Lebenshaltung und Zukunftserwartung« zu überdecken hilft,10 er kompensiert verweigerte Lebensqualität. Aber Grotjahn stellt sich auch im Rahmen der Arbeitswelt vor den Arbeiter und »Proletarier« gegen moralische Diskreditierung. Minutiös schildert Grotjahn die Einflüsse auch geringer Alkoholmengen auf den Arbeitsprozess. Alkohol ist tatsächlich ein Remedium zur Überbrückung bei arbeitsmäßiger Überforderung. Er verbessert die Arbeitsleistung hinsichtlich Kraft, Ausdauer und psychomotorischer Funktionen und fördert die Toleranz erschwerter Arbeitsbedingungen durch Staub, abnorme Temperaturen und lange Arbeitszeiten.11 In der Ernährung korrigiert er Nährwertmängel und die Monotonie der Kost.12 Dem Arbeiter fehlt es an Erholung, Freizeit, Wohnungskomfort, Wohlstand und Zukunftsperspektive.13 So tritt an die Stelle des ersehnten kontinuierlichen Lebensgenusses der Alkoholexzess.14 Das ist das Einsatzsignal für »Sociale Hygiene« und »Socialpolitik«.15 Die medizinische Therapie besteht hauptsächlich in einer ggf. erzwungenen stationären Entwöhnungsbehandlung.16 In der Langzeitbekämpfung des Alkoholismus haben sich die Mässigkeitsbewegungen bisher nur wenig bewährt. Die Kampfmaßnahmen sind auf die jeweils speziellen Verhältnisse in den verschiedenen europäischen Industriestaaten auszurichten. In Deutschland sind der Ursachenanalyse angepasste Maßnahmen angezeigt: Vermehrung des Wohlstands der Arbeiterklasse, Verkürzung der Arbeitszeit, Lösung der Wohnungsfrage, Verbesserung der Lebensqualität, in zweiter Linie dann staatliche Interventionen wie Steuergesetze, Gewährung uneingeschränkter Koalitionsfreiheit und Ausbau der Selbstverwaltung zur Steuerung des Kneipenwesens.17 Damit verkoppeln sich die Lösung der Alkoholfrage mit der der »socialen Frage«.18 Darin liegt die Hauptaufgabe der »englisch und deutsch sprechenden Völker der gegenwärtig kulturell führenden germanischen Rasse«.19
10 | A. S. 240f. 11 | A. S. 284ff. 12 | A. S. 274f. 13 | A. S. 289ff. 14 | A. S. 297. 15 | A. S. 388. 16 | A. S. 308ff. 17 | A. S. 389ff. Grotjahn setzt also – von Beginn an! – beim Alkoholismus wie bei den Volkskrankheiten überhaupt nicht eigentlich auf individuelle Therapie, sondern eindeutig auf die Therapie der Verhältnisse in Gruppen und Bevölkerungen. 18 | A. S. 388. 19 | A. S. 409. Der Rassenbegriff ist in Deutschland zu dieser Zeit noch in Bewegung; für Grotjahn bezeichnet er eher eine ethnographische Zusammengehö-
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7.1.2 Kritische Bewer tung Seinem sozialhygienischen Ansatz folgend, der immer auch Entartung impliziert, beurteilt Grotjahn in seinem Frühwerk den chronischen Alkoholismus als Volkskrankheit aus zwei Perspektiven: der Vererbung und der sozialen Lage. Chronischer Alkoholmissbrauch begründet u.U. durch Änderungen am Erbgut in den Keimzellen der Eltern bei den Nachkommen eine erbliche psychopathische Konstitution (oder bringt eine solche, sofern die Anlage bereits vorliegt, zur Manifestation). Potentiell kann Alkoholismus also Ursache sein für eine fortschreitende, weil erbwirksam verankerte Bevölkerungsdegeneration. Hierin liegt eine Gefahr, aber nicht die ganze Wahrheit seiner bevölkerungsweiten Auswirkung. Vielmehr ist er oft Symptom »des Verfalls und der Verelendung« im Sinne anderer »degenerierender Einflüsse«, denen das »wachsende moderne Lohnproletariat infolge der kapitalistischen Produktionsweise« unterliegt. Beim Alkoholismus ist, als Symptom oder Ursache, häufig eine erbliche Komponente im Spiel. Als Eigenschaft ist die Trunksucht nicht vererbbar (keine Erbkrankheit im heutigen Sinn!), sondern allenfalls ihr Korrelat im psychischen Anlagenpool. Immer sind es soziale Faktoren, exklusiv oder additiv, die die Volkskrankheit bedingen und auslösen.20 In seinem ersten Buch bereits schneidet Grotjahn die Frage der sozialen Ursachen für die Entstehung ihrer erblichen Degeneration an, ohne allerdings – wie alle Eugeniker, die sich für Weismann und gegen Lamarck aussprechen – zu einer abschließenden Lösung zu kommen. Eine Bruchlinie wird sichtbar, die die Sozialhygiene später immer wieder der Gefahr einer Zerreißprobe aussetzt. – Im Buch dominieren für Grotjahn noch eindeutig die sozialen Momente als Ursache des Alkoholismus, wenn auch teilweise auf der Basis einer psychopathischen Konstitution. Es gilt, das aufgrund unerträglicher Existenzbedingungen ausgeprägte Alkoholbedürfnis der Arbeiterklasse durch Optimierung der Lebensverhältnisse gegen ein höchstmögliches »Glücksgefühl« einzutauschen. Der chronische Alkoholismus als Volkskrankheit erwächst aus der »soziale[n] Lage der unteren Bevölkerungsschichten«. Seine Bekämpfung ist damit Sache der Sozialpolitik.21 – Grotjahns »Erstling« zeigt sich bestimmt durch das lebendige Bild eines im »Milieu« befangenen Industrieproletariats, das aufgrund der Schädigungen, die es durch seine Lebensbedingungen erleidet, die ganze Bevölkerung prospektiv in einen fatalen Degenerationsprozess hineinzureißen droht. rigkeit, weniger eine biologische Einheit, wenn auch der von ihm zitierte A. Ploetz durchaus ambivalent formuliert, A. S. 165, Anm. 1. 20 | A. S. 165ff. 21 | A. S. 388ff. – Schon Ploetz befürchtete 1895, der chronische Alkoholismus als Volkskrankheit könne einst die Gesamtrasse degenerieren, S. 170. Gegenwärtig ist er nach der bei dieser Diagnose einzig verlässlichen Schweizerischen Todesursachenstatistik Haupt- und Nebentodesursache in 10 % der männlichen Todesfälle im Alter von über 15 Jahren, A. S. 391.
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7.2 Alfred Grotjahns »Soziale Pathologie« nach der 3. Auflage von 1923 7.2.1 Sozialhygiene als Leit wissenschaf t der Volksgesundheit (theoretische Grundlegung) 7.2.1.1 »Soziale Pathologie« – das erste Standardwerk der Sozialhygiene Grotjahn schrieb seine »Soziale Pathologie« gewissermassen nach dem Vorbild der in der Zeit seit Virchow hochangesehenen Pathologischen Anatomie.22 Pathologie ist die Wissenschaft von den durch Krankheiten aller Art veränderten Strukturen und Funktionen des menschlichen Organismus. Sie gliedert sich in zwei Teile: im ersten allgemeinen Teil kommen Gesetzmäßigkeiten, Prinzipien und elementare Erscheinungsformen von Krankheit, im zweiten speziellen Teil die einzelnen Krankheitsbilder nach ihrer Lokalisation oder Ausbreitung im Organismus zur Darstellung. Der Titel »Soziale Pathologie« besagt also, dass Grotjahn eine medizinisch zutreffende Pathologie vorschwebte23 – in umgekehrter Reihenfolge ordnungsgemäß angelegt in zwei Teilen –, die als Lehre von überwiegend durch soziale und hereditär-soziale Faktoren bestimmten Krankheiten zum Pendant der SchulPathologie werden sollte. Damit hoff te er, deren bisherige naturwissenschaftliche Isolation zu brechen und neben dem biologischen Kausalgeschehen im Objektbefund, in Organen und Organsystemen (auf das sich Anatomie, Histologie, Klinik und Bakteriologie kaprizierten) die sozialen und heriditär-sozialen Ursachen und Rahmenbedingungen pathologischer Veränderungen zur Geltung zu bringen, wie es als Aufgabe einer massiv aufgewerteten Ätiologie gedacht war.24
22 | Der Begriff »Pathologie« im Zusammenhang mit der neuen Sozialhygiene sollte aus der Sicht Grotjahns gewiß Werbewirkung ausüben durch die Assoziation mit Rudolph Virchow als Begründer der modernen Pathologie und der älteren Sozialen Medizin! – »Soziale Pathologie« zielt keinesfalls auf eine »Pathologie der Gesellschaft«, sondern meint die Lehre von gesellschaftlich bedingten, entsprechend bevölkerungsweiten körperlich-geistigen Erkrankungen und deren reziproker Beziehung zur Gesellschaft, vgl. Kaspari 1989, S. 128f. 23 | Grotjahn 1. Auflage 1912, S. IIff. 24 | SP S. 12. – Für Grotjahn charakteristisch ist von Anfang an seine kryptische Redeweise überall dort, wo er aus taktischen Gründen seinen ätiologisch-hereditären und therapeutisch-eugenischen Ansatz zu verbergen oder eher einzunebeln trachtet. Wir müssen uns deshalb bei solchen taktischen Maskeraden im Gegenzug von Anfang an einer offenen Sprache bedienen und auf die jeweilige eugenische Grundtendenz hinweisen, die hier nicht nur in Wort und Sprachstil, sondern in der gesamten Textanlage (Ätiologie – gesunder Mensch – Sozialisierung des Heilwesens – Asylierung – Eugenik) zum Ausdruck kommt.
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Man stolpert schon zu Beginn über zwei formale Auff älligkeiten. Eine »Soziale Pathologie« als »Lehre von den sozialen Beziehungen der Krankheiten« bildet also die »Grundlage der sozialen Hygiene«. Im ersten Grundlagenbuch über sie ist primär von Krankheiten die Rede, weniger zunächst von Gesundheit. Anders als die physikalisch-biologische Hygiene, die im Blick auf die Zukunft ihre Maßnahmen zur Prophylaxe experimentell begründet, setzt Grotjahn in der sozialen Hygiene bewusst nicht bei einer Lehre von der Gesunderhaltung und Konstitutionskräftigung ein, sondern mit einem Blick in die Vergangenheit bei der Pathogenese, bei einer Pathologie als ätiologischer Krankheitslehre (d.h. auch einer hereditär-ätiologischen), bei einer Lehre von den gegebenen relevanten Bevölkerungskrankheiten.25 Deren »Vorbeugung« erfordert ein Studium der weitverzweigten Ätiologie. Die soziale Hygiene befleißigt sich einer Ursachenforschung, die das Labor so nicht leistet, die aber dank sozialwissenschaftlicher, volkswirtschaftlicher und anderer (z.B. vererbungswissenschaftlicher) Methoden den Rahmen dafür setzt, »die Krankheitsursachen über ihre biologisch und pathologischen Anfänge hinaus zurückzuverfolgen auf ihre sozialen Faktoren, die sie bedingen, oder deren Verbreitung, Verlauf und Ausgang sie verändern«.26 Eines darf in diesem Zusammenhang nie vergessen werden: In Grotjahns Pathologie liegt nicht der einzelne Patient auf dem Untersuchungstisch, sondern virtuell die ganze Bevölkerung oder eine Bevölkerungsmehrheit. Die Begutachtung hat nicht das Ziel, durch besseres Verständnis des systemischen Organbefalls wie postmortal beim Individuum für neue Einzelfälle die individuellen Heilungswege zu verbessern, sondern die ganze Bevölkerung durch Schnitte im abgestorbenen sozialen System von ihren angestammten Leiden schlagartig zu befreien. Soziale Erkrankungen sind im Einzelfall unheilbar (dazu ist die Zahl der sie bedingenden Faktoren zu groß oder diese sind ganz oder teilweise hereditärer Natur!), aber in der Masse nach gewissenhafter Inspektion durch Elimination grundsätzlich vermeidbar.27 Danach handelt der 1. Teil der Sozialen Pathologie von der Ätiolo25 | Die meisten Sekundärautoren lassen sich durch den Begriff »Soziale Pathologie« für ein Buch über Sozialhygiene nicht weiter irritieren. So etwa betrachtet Tutzke 1958 nach Angaben Grotjahns in der 1. Auflage von 1912 (S. IIff.) die Soziale Pathologie als »Ergänzung« der Pathologie in ihrem eigentlichen Sinn, nicht unter anatomischem oder zellulärem, sondern eben sozialem Vorzeichen, S. 35. Auch Kaspari akzeptiert das Titelwort als Grotjahns Rechtfertigung für die »Darstellung einer Pathologie von ausschließlich sozialen Gesichtspunkten«, darüber hinaus bürgt es für die Verwendung empirisch-medizinischen Materials (1989, S. 128f.). Grotjahn selbst reflektiert später den zentralen Titelbegriff bezeichnenderweise nicht mehr, im Vorwort der 3. Auflage betont er dagegen die zweite Titelhälfte, will aber auf den Begriff »soziale Pathologie« dennoch nicht verzichten, a.a.O. S. III, 12. 26 | SP S. 9. 27 | Kennzeichnend für Grotjahns quantitatives Denken in Bevölkerungsdimensionen ist eine Stelle in der Eugenik von 1926, an der er Einzelregel und Massenregel gegeneinanderhält: »Es triff t im Einzelfalle nicht zu, dass der Trunksüchtige
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gie, der 2. von der Prophylaxe der Bevölkerungskrankheiten unter Betonung der Eugenik. Daraus erklärt sich die zweite Auff älligkeit, dass Grotjahn in seiner Pathologie den speziellen (»besonderen«) Teil dem allgemeinen voranstellt. Damit demonstriert er den innovativen Charakter seines Pathologie-Entwurfs. Jahrhundertelange Beobachtungen der Krankheitsveränderungen im menschlichen Körper hatten der naturwissenschaftlichen Pathologie die Gelegenheit geboten, ihre Werke mit allgemeinen Leitsätzen über die gesetzmäßigen Voraussetzungen der Krankheitserscheinungen einzuleiten. Die »Soziale Pathologie« dagegen hat erst das spezielle empirische Material zu sichten, bevor sie im allgemeinen Teil allenfalls Wertungen und rationale Richtlinien für Maßnahmen im Sinne von Entwicklungstendenzen wiedergeben kann.28 Im Zusammenhang mit seiner berühmten Definition der sozialen Hygiene als Wissenschaft 29 erläuterte Grotjahn ihre beiden Aufgabenbereiche im Einzelnen. Als deskripitve Wissenschaft hat sie »den jeweiligen Status praesens hygienischer Kultur zu schildern«, also die gegebenen sozialen Zustände methodisch zu analysieren. Als normativer Wissenschaft obliegt ihr die Ausdehnung der hygienischen Maßnahmen, die gegenwärtig »nur einer bevorzugten Minderheit zugute kommen«, von »den wirtschaftlich Bevorzugten [...] auf die Gesamtheit der Bevölkerung« in allen ihren Schichten. So teilen sich die beiden Hälften der »Sozialen Pathologie« im Grunde auf Deskription und Regulation durch Normierung auf. Die »Verallgemeinerung hygienischer Kultur« erstreckt sich »auch auf die zukünftigen Generationen« (= Leitmotiv der Eugenik!) und sichert »die ewige Jugend der eigenen Nation«.30 Die vielbewunderte Formel der »Verallgemeinerung der oder der Epileptiker geistig minderwertige Nachkommen hat [...]. Aber es triff t wohl zu, dass die Nachkommenschaft von tausend Trunksüchtigen oder tausend Epileptikern erheblich mehr geistig Minderwertige enthält als die von tausend durchschnittlichen Individuen. Die Massenregel [...] wird also ein sicheres eugenisches Ergebnis haben, obgleich sie auf Einzelerfahrung nicht fußt und auch als für die Einzelnen verbindliche Regel sich nur auf die Erfahrung bei der Masse stützen kann«, Grotjahn 1926, S. 99. 28 | SP S. 401. 29 | Sie findet sich in der Literatur häufig zitiert. Wegen ihrer historischen Bedeutung kommen auch wir nicht umhin, sie trotz ihrer etwas hölzernen Fassung im Wortlaut wiederzugeben: »1. Die soziale Hygiene als deskriptive Wissenschaft ist die Lehre von den Bedingungen, denen die Verallgemeinerung hygienischer Kultur unter der Gesamtheit von örtlich, zeitlich und gesellschaftlich zusammengehörigen Individuen und deren Nachkommen unterliegt. 2. Die soziale Hygiene als normative Wissenschaft ist die Lehre von den Maßnahmen, die die Verallgemeinerung hygienischer Kultur unter der Gesamtheit von örtlich, zeitlich und gesellschaftlich zusammengehörigen Individuen und deren Nachkommen bezwecken«, SP S. 10; s. ders. 1904, S. 1026. 30 | Die soziale Hygiene ist auf ihrer normativen Seite den Naturwissenschaf-
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hygienischen Kultur« aus der »Definition« ist doppeldeutig: sie offeriert Gesundheit für alle durch soziale Maßnahmen und – Eugenik. – Grotjahn verleugnet hier weder seinen national-imperialen Utopismus31 noch seinen »im weitesten Sinne verstandenen« Sozialismus, der die aus dem Kapitalismus hervorgegangene Gesundheitstechnik »zum Gemeingut aller« werden lässt (wobei die »Gesundheitstechnik« ganz selbstverständlich die Sozialtechnik der Eugenik umschließt) und damit »die Verallgemeinerung der hygienischen Kultur auf die Gesamtheit« zur internationalen Großtat erhebt.32
7.2.1.2 Der Weg aus der Praxis der Gesundheitsbewegungen zur Wissenschaft der Sozialhygiene In der bedeutsamen Einleitung zu seinem Hauptwerk (3. Aufl. 1923) skizziert A. Grotjahn die Beweggründe zur Inauguration der Soziahygiene als Wissenschaftsfach. Die praktischen Betätigungsfelder der Gesundheitspflege und Gesundheitsfürsorge, wie sie sich im vergangenen Jahrhundert in Deutschland etablierten, entsprechen nicht flächendeckend den Zielvorstellungen der theoretischen Sozialhygiene. Auf praktischem Gebiet in der Gesundheitspflege waren schon früher Medizin und Hygiene durchaus in der Lage, soziale Leistungsanforderungen zu erfüllen. Lange vor der bakteriologischen Ära haben sie, wie Grotjahn im infektiologischen Teil ausführt,33 in den Kulturvölkern durch Assanierung der Städte, Trinkwasserauf bereitung, Kanalisierung und Ausbau des Krankenhauswesens die akute Seuchengefahr weitgehend gebannt. Aber es waren die Naturwissenschaften und ihre experimentelle Methodik, die im 19. Jahrhundert Medizin und Hygiene zu ihrem beispiellosen Aufschwung verhalfen und sie damit zugleich in eine rein biologische Denkweise festbannten. Die naturwissenschaftliche Überfremdung ließ in den medizinischen Fächern die Frage nach der Bedeutung des gesellschaftlich-sozialen Status für Krankheit, die schon Rudolf Virchow, Rudolf Leubuscher und Salomon Neumann episodisch bewegt hatte, vollends verstummen.34 Erst in der »allgemeinen sozialpolitischen Atmosphäre«, wie sie sich im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts in Deutschland ausbreitet, gerät für Ärzte und Hygieniker das Naturwesen Mensch als gesellschaftliches Kulturwesen, d.h. als sozial-kollektives Geschöpf erneut ins Blickfeld. Auf der ten am meisten »entrückt und geisteswissenschaftlicher Betrachtungsweise unterworfen: Kulturhistorische, psychologische, volkswirtschaftliche, politische und überhaupt sozialwissenschaftliche Gedankengänge treten zur sozialhygienischen Synthese zusammen«, SP S. 9. 31 | Grotjahn betonte in auff älliger Weise das Körperlich-medizinische, die physische Volkskraft als Grundlage der Kultur. Zur »sozialen Bedeutung« der sozialhygienischen Maßnahmen gesellt sich daher ihre »nationale«, ebd. 32 | SP S. 6. 33 | SP S. 21ff., 45f. 34 | SP S. 3f.
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Praxisebene regen sich zu dieser Zeit sogleich die angestoßenen Kräfte in kommunaler und privater Fürsorgetätigkeit und Wohlfahrtspflege.35 Grotjahn begrüßt zwar die »Bewegungen« der zeitgenössischen bürgerlichen Bevölkerungsfürsorge, äußert aber zugleich Zweifel an der Effizienz solcher mit »Agitation« betriebenen Wohlfahrtsinitiativen. Gegen die derart dilettierende sozialmedizinische Aktivität wendet er ein, Medizin, Hygiene und Pathologie zeigten »soziale Beziehungen […] in so verwirrender Fülle«, dass es »ordnender Leitsätze« bedürfe, um jene planmäßig zu erforschen.36 Vor allem erschöpfe sich soziale Hygiene nicht in solcherart Fürsorgetätigkeit. Ihr Wesen bestehe vielmehr darin, »alle Dinge des öffentlichen Lebens und der sozialen Umwelt im Hinblick auf ihren Einfluß auf die körperlichen Zustände zu betrachten und aufgrund dieser der sozialen Hygiene eigentümlichen Betrachtungsweise Maßnahmen zu finden, die keineswegs immer einen rein ärztlichen Charakter zu haben brauchen, sondern sehr häufi g in das Gebiet der Sozialpolitik oder Politik überhaupt hinübergreifen«.37 Ausdrücklich bekennt sich Grotjahn zur Orientierung an Volkswirtschaftslehre und Sozialwissenschaften. Aus der rein naturwissenschaftlich betriebenen Hygiene entwickelt sich die Sozialhygiene als normative Wissenschaft, »wenn kulturhistorische, psychologische, nationalökonomische und politische Erwägungen in die Erörterung einbezogen werden«.38 In eindrucksvoller Unbefangenheit gelingt hier die neuartige Verknüpfung von gesundheitsorientierter Wissenschaft und Politik. Der naturwissenschaftlich noch so ausgefeilten Praxis ist also die theoretische Sozialhygiene vorgeordnet. Als methodisch gebietsüberschreitend assortierte Wissenschaft erfasst sie, im Bereich der Humanwissenschaften quasi von einem höheren Standort aus, den Menschen nicht als reines Naturwesen, sondern als Kulturwesen, eingebunden in eine soziale Welt. Dank des weiten Panoramas fächerübergreifender Methoden kombiniert sie die physikalisch-biologische mit der sozialen Betrachtungsweise. Die Methodenvielfalt ist dabei das Herzstück der neuen Wissenschaft. Die Praxis der Gesundheitspflege und Gesundheitsfürsorge darf nicht sich selbst, weder dem öffentlichen noch dem karitativen Interesse überlassen bleiben, sondern muss durch die Sozialhygiene als Wissenschaft Ver35 | Labisch/Tennstedt 1985, S. 34f., vgl. 142; Labisch 1992, S. 172f. 36 | SP S. 6f. – Formell gelangt die Sozialhygiene erst in der Weimarer Republik in die Funktion als »Leitwissenschaft öffentlicher Gesundheitspflege«, Eckart 1994 (2. Aufl.), S. 224. 37 | SP S. 5f. – Wie A. Fischer will Grotjahn in diesen Jahren die soziale Hygiene nicht nur auf die unteren, minderbemittelten Bevölkerungsschichten bezogen wissen, sondern immer auch auf die ganze Gesellschaft. Das Wort »sozial« besagt nicht deckungsgleich »wohltätig für die unteren Bevölkerungschichten«, sondern bezieht sich auf die Beschäftigung mit Bevölkerungsgruppen, also auf einen gesellschaftlichen (wenn auch noch nicht auf einen gesamtgesellschaftlichen) Kontext, ebd. S. 10f. Vgl. Thissen 1969, in: Lesky 1977, S. 444ff. 38 | SP S. 2ff.
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allgemeinerung, Erweiterung und Ausrichtung erfahren. Als Wissenschaft verfährt die Sozialhygiene dabei deskriptiv und normativ, d.h. sie beschreibt die Existenzbedingungen des Menschen in der gesellschaftlichen Gruppe und erarbeitet den für die Gesamtheit zweckmäßigen Maßnahmenkatalog gegen die Gesundheitsdefizite im Kollektiv. Beide Forschungsbereiche zielen letztendlich auf Verhütung und Prävention, deren Voraussetzung es ist, »die »Krankheitsursachen über ihre biologisch und pathologisch fassbaren Anfänge hinaus zurückzuverfolgen auf die sozialen Faktoren, die sie bedingen, oder deren Verbreitung, Verlauf und Ausgang sie verändern«.39 Die neue Wissenschaft behandelt eine Gesamtheit von Elementen menschlichen Lebens, die in einem stets sich verändernden Raumgitter bedeutsamer Variablen vielfach miteinander vernetzt sind. Im Rahmen einer gesellschaftsorientierten Medizin gibt es keine Heilung im Sinne der individuellen Medizin, sondern nur Vermeidung durch Elimination der Krankheit als gesellschaftlicher Erscheinungsform. Soziales Leben und Gesundheit werden hier zusammengeführt, um pathologischen Fehlentwicklungen durch Eingriffe an den Ursachenherden und im Verlauf gezielt vorzubeugen bzw. sie rechtzeitig zu löschen.
7.2.1.3 Kriterien wissenschaftlichsozialhygienischer Perspektiven Grotjahn stellt 6 Hauptgesichtspunkte heraus, von denen sich wissenschaftliche Überlegungen in der Sozialhygiene leiten zu lassen haben. 40 Zunächst gewinnt eine Krankheit, unabhängig von ihrem Schweregrad, soziale Bedeutung durch ihre Häufigkeit und Verbreitung. Interesse beansprucht in der Sozialhygiene, anders als in der Universitätsmedizin, die häufige (eher leichte) Erkrankung, nicht der seltene Fall. Nicht wegzudenken aus der sozialpathologischen Betrachtung ist dabei die medizinische Statistik. Als »geisteswissenschaftliche Betätigung« wird sie vom naturwissenschaftlichen Arzt gerne verdrängt. Als »Massenbeobachtung« zur sozialen Differenzierung und Typisierung verhilft sie zu »quantitativem« Denken und bewahrt vor Überbewertung der individuellen Kasuistik. Die medizinische Statistik allein kann aber die Sozialhygiene nie ersetzen, die sich ihrer als Instrument bedient zur kausalen Würdigung »sozialer Momente« oder Variablen. Sodann gilt in der Sozialhygiene die Aufmerksamkeit der sozialpathologischen Form. Nicht immer ist die Schwere der Erkrankung entscheidend, oft fallen Abortivfälle gerade aufgrund ihrer Inapparenz sozial ins Gewicht. Es geht um den Typ des kollektiven Krankheitsgeschehens, der die Häufigkeit der Krankheit bestimmt, im Gegensatz zum möglicherweise interessanten, aber seltenen klinisch-pathologischen Schulfall. Der dritte Gesichtspunkt betriff t die Ätiologie. Unter dem Einfluss der 39 | SP S. 9ff. 40 | SP S. 12 ff.
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naturwissenschaftlichen Medizin haben sich Klinik und Pathologie einer monoätiologischen Forschungsmethode verschrieben mit Eruierung z.B. einer Mikrobe oder eines Toxins als herausragender solitärer Ursachen für »vielgestaltige Krankheitsbilder«. In der Regel besitzt jede Krankheit eine sozial relevante, dem Kollektiv assoziierte Komponente und geht deshalb nie auf nur eine, medizinisch definierte Ursache zurück, sondern beruht auf einer komplexen, multifaktoriellen Sozialätiologie. Zu der »Vielheit von Ursachen« kommt hinzu, dass sie »quantitativ in verschiedener Weise beteiligt sein und doch durch Zusammenwirken immer dasselbe Ergebnis haben können«. Die sozialen Verhältnisse, wie z.B. Ernährung, Wohnung, Ausstattung, Arbeit, Lebensführung, Kinderzahl und Bildung sind neben erworbener und ererbter Konstitution Faktoren, die Krankheitsanlage, Entwicklungsbedingungen, Entstehung und Verlauf von Krankheiten in negativer oder positiver Hinsicht beeinflussen. Ein vierter kontinuierlich zu beachtender Aspekt ist die Rückwirkung von Krankheiten auf aktuelle Stabilität und Status der Gesellschaft, wie sie z.B. in Bevölkerungsbewegungen, Wehrkraft, biologische Wertigkeit und Arbeitsleistung zum Ausdruck kommen. Als Fünftes gilt es, einen Maßstabe für den Wert ärztlicher Maßnahmen bei sozial-pathologischen Ereignissen zu finden. Zu überdenken ist, welche Stellung bei häufig vorkommenden, aus der sozialen Struktur sich ergebenden Krankheiten der ärztlichen Fürsorge für die Gesellschaft zukommt. Skepsis klingt durch bei der Frage, ob ärztliche Behandlung sozialpathologisch wichtige Krankheiten überhaupt zu beeinflussen und ihre Bedeutung »im sozialen Leben zu verändern imstande ist«. Der letzte Leitsatz bezieht sich auf spezifische Maßnahmen, die der sozialen Hygiene zur Prävention sozialpathologischer Vorgänge und zur Verlaufsbeeinflussung durch Intervention zur Verfügung stehen. 41 Dazu gehören in erster Linie auch Maßnahmen der Eugenik gegen genetische Entartung – eine programmatische Vorstellung, die terminologisch und inhaltlichthematisch in Frühzeit und Blütephase der deutschen Sozialhygiene unterschwellig verhängnisvolle Signalwirkung ausgeübt und mit zum Untergang des Wissenschaftsprojekts in Deutschland beigetragen hat.
7.2.2 Sozialpathologische Stellung ausgewählter Volkskrankheiten – Inhalt des 1. (speziellen) Teils Über »Einleitung« und »allgemeinen Teil« in der 2. Buchhälfte wird der »besondere Teil« der »Sozialen Pathologie« in den literarischen Kommentaren in der Regel quasi vergessen. Immerhin exemplifi ziert Grotjahn hier 41 | Volkskrankheiten lassen sich im gesellschaftsmedizinischen Sinn nicht wie individuelle Leiden »behandeln«, sie bedürfen der bevölkerungsbeogenen Intervention, Maßnahmen auf nächst höherer Gesellschaftsebene letztendlich zum Zwekke ihrer Elimination, die sich dann für den Einzelnen als Vorbeugung auswirkt.
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an 17 Krankheitseinheiten deren »soziale Beziehungen«. Natürlich auch im Zusammenhang mit der heutigen Inaktualität des Stoffs begegnet uns die eigentümliche Erscheinung, dass die knapp 400 Seiten umschließende 1. Hälfte des Hauptwerks Grotjahns im Wesentlichen unbesprochen blieb. 42 Die »Soziale Pathologie« zielt aber auf einen Aufriss der großen Volkskrankheiten (welcher Art auch immer) im Block, um einen Eindruck ihrer penetranten Destruktionstendenz zu vermitteln. Für uns hat sich inzwischen das Bild natürlich radikal gewandelt. Wir beschränken uns deshalb darauf, den gebotenen Stoff kursorisch durchzugehen, um an einigen wesentlichen Gesichtspunkten zu einer kritischen Würdigung zu gelangen. Gelegentliche Gedankenwiederholungen sind bei der redundanten Schreibweise Grotjahns unvermeidlich, 43 will man bei der Wiedergabe des Grotjahn’schen Textes den Zusammenhang wahren.
7.2.3 Akute Infek tionskrankheiten Die Kulturnationen im 19. Jahrhundert waren zuweilen noch akuten Seuchenereignissen (Cholera, Typhus, Fleckfieber) ausgesetzt. Die Plötzlichkeit ihres Wiederaufflackerns und die Zahl ihrer Opfer hinterließen auf die Bevölkerung einen spektakulären Eindruck. Dennoch befanden sich die akuten Infektionskrankheiten (mit Ausnahme der infektiösen Kinderkrankheiten) zu dieser Zeit in den westeuropäischen Ländern bereits auf raschem Rückzug, wie die epidemiologischen Sterblichkeitsstatistiken belegen. Den Sieg über die Seuchen errang der Kontinent durch Assanierung der Städte und Ausbau des Gesundheitswesens nach englischem Vorbild. 44 Die Hospitalisierung im akuten infektiösen Krankheitsfall verhinderte durch Isolierung die Krankheitsausbreitung 45 und förderte durch standardisierte Versorgung die Gesundung. Vom prophylaktischen Standpunkt aus gesehen, passen die bakteriologischen Maßnahmen offenbar besser zu den akuten als zu den chronischen Infektionskrankheiten. Nach alledem gilt, dass die akuten Infektionskrankheiten »gegenwärtig nicht mehr so sehr abhängig sind von den sozialen Bedingungen wie die chronischen«. 46
42 | Der Ergobiograph Grotjahns, Kaspari, entzieht sich weitgehend einer eingehenden Darstellung des »besonderen« Teils und begnügt sich im Ganzen mit einer Liste der behandelten Krankheitsentitäten, 1989, S. 149, Anm. 8. Auch Tutzke äußert sich nicht zum speziellen Teil, ihm liegt weniger an Einzelheiten der sozialen Krankheitslehre Grotjahns, sondern am »literarische(n) Gesamtwerk«, ders. 1958, S. 21. 43 | Schon Gottstein verhielt sich in seiner Rezension gegenüber dem 1. Teil nicht zuletzt wegen dessen Redundanz zurückhaltend, 1912, S. 527f. 44 | SP S. 4, 22. 45 | SP S. 22, 33, 44f. u.ö. – Die Anstaltsasylierung bringt auch chronische Infektionskrankheiten zum Erlöschen, wie das Beispiel der Lepra im Mittelalter beweist, SP S. 132f. 46 | SP S. 44.
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7.2.4 Chronische Infek tionskrankheiten und andere Volkskrankheiten als Dauerproblem der Gesellschaf t 7.2.4.1 Sozialpathologische Gemeinsamkeiten zwischen Tuberkulose und Nervenkrankheiten als chronischer Leiden Das Ziel der Sozialhygiene – das hat Grotjahn schon in seiner Monographie von 1898 klargestellt – ist die Erkenntnis von Ursache und Wesen der Volkskrankheiten zwecks rationaler Bekämpfung. 47 Chronische Infektionskrankheiten 48 zeichnen sich nach Grotjahn dadurch aus, dass sie »seit Jahrtausenden mit der Bevölkerung der Kulturländer verwachsen sind«, bis diese vor ihnen als unabänderliches Schicksal kapituliert. 49 Klassischer Vertreter dieser Gruppe ist die Lungentuberkulose. Grotjahn zeichnet ihr Bild gemäß den 6 Kriterien, die an die Krankheit nach ihrer Beziehung zur sozialen Umwelt anzulegen sind. Bei ihr kommen sozialpathologische Form (fortgeschrittene Fälle unheilbar), erbliche Anlage (Minderwertigkeit), Beruf, Wohnung und Einkommen als ätiologische Hauptfaktoren in Betracht.50 Sozialpathologisch steht sie mit den Volkskrankheiten Syphilis und Alkoholismus insofern auf einer Linie, als ihre komplexe Ätiologie, die sich auf Entstehung und Ausprägung erstreckt, zum großen Teil soziale Zustände beinhaltet, wie die Krankheit ihrerseits auf die gesellschaftlichen Verhältnisse zurückwirkt. Mit dem Aufstieg des wohlhabenden Industriestaats nimmt die Tuberkulosesterblichkeit im Ganzen durch »Überkompensation der Missstände«, wie sie im proletarischen Lebensbereich vorherrschen, sogar ab.51 Auch wenn Grotjahn darin einen Beweis dafür sieht, dass wirtschaftliche Ungunst die Krankheit befördert, müsste er anerkennen, dass die Errungenschaften der Industrie die Krankheitsprognose für die Gesellschaft insgesamt (auf die es ihm ja ankommt) verbessert. Die Tuberkulose ist die Krankheit, deren gespenstisches Bild auf dem 1. Internationalen Tuberkulosekongreß die Sozialhygiene als Wissenschaft erwachen ließ. Sie ist nicht nur eine Volkskrankheit, sondern als »Proletarier47 | Grotjahn 1898, S. VIf. 48 | Grotjahn fasst vier von ihnen, die Tuberkulose an der Spitze, in einem Kapitel zusammen; davon ist eine, die Malaria, für uns irrelevant, zwei weitere in der Klassifi kation falsch apostrophiert, SP S. 47ff. 49 | SP S. 47. 50 | SP S. 47, 50ff. – Die angeborene Minderwertigkeit manifestiert sich bei Tuberkulose u.U. bereits »in Gestalt eines schmalen oder fehlerhaft gebildeten Brustkastens«, SP S. 52; an anderer Stelle beklagt Grotjahn, dass »leider unsere Zeit noch nicht reif ist« für periodische anthropometrische Untersuchungen der Altersklassen mit Inspektion des Brustkorbs, Messung der Körpergröße, des Brustumfangs und der Atmungsbreite zur Erfassung der tuberkuloseanfälligen Astheniker, ders. 1926, S. 187ff. 51 | SP S. 67.
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krankheit« Pfahl im Fleische der Gesellschaft, ein Makel für die Nation und die Zivilisation. Das Zeitalter führte über Jahrzehnte gegen die Volksseuche einen verzweifelten Stellungskrieg. Er bildet den Untergrund für die radikalen Vorstellungen, die Grotjahn zum Wesen der Lungentuberkulose und zur Bewältigung des Problems entwickelte. Für ihn bestimmt sich der Gang der Lungentuberkulose von 3 apodiktischen Annahmen aus: 1. ist die Tuberkulose in ihrer häufi gsten und damit relevanten Form unheilbar;52 2. spielt bei einem »ausgedehnten Kreis der Bevölkerung« eine »erbliche körperliche Minderwertigkeit« (oder »Entartung«, »Degeneration«) die Rolle eines entscheidend prädisponierenden Ursachenfaktors53 und 3. lässt sich deshalb die Krankheit in der Zeitrichtung nur mit den Trägern des infausten Leidens selbst, d.h. in der humanen Zivilisationsgesellschaft durch Verhinderung einer Nachkommenschaft auf eugenischem Weg ausmerzen.54 Hier verknüpfen sich Grotjahns Annahmen zu einer unheilvollen Trias, die über die Entität der Tuberkulose weit hinausgeht. Die Zahl der in Deutschland an Lungentuberkulose (an der schweren Form) Erkrankten schätzt er auf 600.000 Einwohner, davon leidet ein Viertel an der schwersten Form, der offener Tuberkulose.55 Leichtere Formen der Tuberkulose sind u.U. klinisch heilbar, Lungentuberkulose als progrediente Form aber ist angesichts der geringen Zahl echter Heilungen (4-5 %) »in sozialpathologischer Hinsicht« als unheilbar einzuschätzen. Grotjahn stellt sich hier auf den Standpunkt eines »therapeutischen Nihilismus«, der ohne Angabe von Gründen einfach abstreitet, dass die erfolgreiche moderne Medizin in nahe liegender Zeit für viele Volkskrankheiten Therapiedurchbrüche bereithalten könnte. Der Nimbus von Unheilbarkeit und Hoff nungslosigkeit verdichtet sich noch, wenn erbliche Minderwertigkeit als krankheitsförderndes Element im Geschehenskomplex hinzutritt. Schienen sich bei Erörterung der disponierenden Faktoren erworbene und ererbte Minderwertigkeit noch die Waage zu halten, so heißt es nun, die Veranlagung zur Lungentuberkulose beruhe »in den meisten Fällen auf einer ererbten körperlichen Minderwertigkeit«, die die »Wirksamkeit sozialer Ursachen« begrenzt.56 Man wundert sich nur, woher dem statistikbeflissenen Sozialhygieniker solches Wissen zufließt. Die Datenbasis für eine vererbte körperliche Minderwertigkeit ist erwartungsgemäß schmal. Gottstein untersuchte »anthropometrisch« an 600 Männern, von denen 100 später an Lungentuberkukose starben, in verschiedenen Altersklassen den Brustumfang in Prozent der Körpergröße bei 52 53 54 55 56
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SP S. 50, 77. SP S. 47, 51f. SP S. 72f. 79f., 83ff., 87ff., 91 u.ö. SP S. 48. SP S. 69.
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Tuberkulösen und Nichttuberkulösen und fand auch verringerte Werte bei erst später an Lungentuberkulose Erkrankten.57 Der Befund besagt natürlich nichts über Beziehungen im Erbgang. Aber für Grotjahn besteht die ererbte prädisponierende Minderwertigkeit im »Mißverhältnis der Größe und Leistungsfähigkeit« von Herz und Lungen »zum Körperganzen« (Habitus phthisicus).58 Schwächt die Lungentuberkulose die Gesellschaft durch womöglich gekoppelte Minderwertigkeitsfaktoren, belastet sie sie sozioökonomisch durch Unheilbarkeit, ergibt sich die Notwendigkeit ihrer forcierten Ausrottung. Diese nimmt ihren Weg so oder so immer über die Träger des infausten Leidens. Damit ist Radikalität angesagt, die sich, wenn sie sich zu tarnen vorzieht, noch immer durch die Sprache verrät. Ungebremst vernichtet die Krankheit mit ihrem Träger sich selbst. Diesen »ausmerzenden Einfluß« übt sie »am wirksamsten« aus, wenn bei schnellem Verlauf und ungünstiger sozialer Umwelt »möglichst wenig ärztliche Fürsorge und Pflege die Krankheit aufhält«. Bei optimalem Erfolg der Sozialhygiene würden körperlich Minderwertige »ihre Minderwertigkeit vererben und zur allgemeinen Entartung beitragen«. Daher gilt es, »den Geschlechtsverkehr tuberkulöser Elemente am Hervorbringen von Nachkommen zu verhindern«. Dazu eignen sich die Anwendung von Präventivmitteln und Schwangerschaftsunterbrechungen.59 Weitere Ansteckung und gesellschaftlich unerwünschte Fortpflanzung lassen sich bei allen fortgeschrittenen Fällen aber am ehesten unterbinden durch freiwillige oder gesetzlich-obligatorische lebenslange Asylierung in Arbeitskolonien und Unterbringung auf kleinen, familiär organisierten Stationen mit ca. 20 Insassen. Die anstaltsbedingte Ehelosigkeit (auch mit »Zölibat« umschrieben) vertilgt von selbst die unselige Spur der Minderwertigkeit.60 Zum Thema Zwang kann Grotjahn hier wie überall in seiner Eugenik keine widerspruchsfreie Argumentationskette auf bauen. Angesichts der erhöhten Toleranzgrenze der gegenwärtigen Gesellschaft gegenüber Freiwilligkeit und Freizügigkeit einschränkenden Maßnahmen baut er auf die zukünftige Entwicklung, verteilt also das Thema Freiwilligkeit oder Zwang auf die Zeitachse. Im Zusammenhang mit der Pockenschutzimpfung verneint er noch im Blick auf mögliche individuelle Schadensfolgen die Zulässigkeit staatlichen Zwangs.61 Die Unterbringung der Lungenkranken in Anstalten vom »billigsten, aber gerade noch den vorgesetzten Zweck erzielenden Typus«62 basiert auf Freiwilligkeit und gesetzlichen Zwang. Aber es wird »die Zeit kommen, in der man auf alle Tuberkulösen, die durch ihren Zustand ihre Umgebung gefährden, auch wohl einen gesetzlich festgelegten [...] 57 58 59 60 61 62
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Gottstein 1906, S. 75. SP S. 69. G. S. 74f. SP S. 83ff., 90f. SP S. 27f. SP S. 77.
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Zwang wird ausüben können«, der sachlich »durchaus gerechtfertigt« ist. Eine möglichst attraktive Ausgestaltung der lebenslangen Festsetzung soll den Kranken zur freiwilligen Zustimmung motivieren, dabei erleichtert ein Druck über die Unterstützungsleistungen der Invalidenkassen die freie Entscheidung. Sachlich ist eine obligatorische Einweisung durchaus berechtigt. (»dauernde Festhaltung«). Auf jeden Fall bedarf das Zwangseinweisungsverfahren einer gesetzlichen Regelung.63 Die Trias erbliche Anlage, infauste Prognose (Unheilbarkeit) und Anstaltspflichtigkeit macht in wechselndem Ausmaß auch bei anderen Volkskrankheiten die Runde, vor allem bei der Gruppe der Nerven- und Geisteskrankheiten. Der Alkoholismus, der oft auf rein soziale Ursachen zurückgeht, ist selbst nicht vererbbar, aber er verbreitet sich als Syndrom zusammen mit erblicher körperlicher und geistiger Minderwertigkeit in der Nachkommenschaft durch Schädigung der elterlichen Keimzellen oder aufgrund einer vorbestehenden familiären Psychopathie.64 Nicht nur Psychosen und Schwachsinn sind Erbkrankheiten, sondern auf erblicher Belastung beruhen auch die Epilepsie, die »sehr hohe Zahlen« aufweist,65 die Hysterie, die »zu den häufigsten Krankheiten überhaupt gehört«,66 und der größere Teil der Neurasthenien,67 die erstere zu einem hohen Prozentsatz, die beiden anderen ausschließlich. – Dementsprechend erreicht die Therapie allenfalls Symptome, aber nicht das »Grundleiden«. Deshalb genügt vielfach nicht ein zeitweiliger Anstaltsaufenthalt, meistens ist die »dauernde Asylierung« mit Zölibat zur Verhütung der Fortpflanzung »dringend wünschenswert«. Der Alkoholismus erfordert gesetzliche Zwangsmaßnahmen, in hoffnungslosen Fällen den Asylzwang, in leichteren Stadien die stationäre Zwangsbehandlung. Der Epileptiker ist, »soweit er im freien bürgerlichen Leben Unfug stiftet, unschädlich zu machen« – durch »Festhaltung in Anstalten«.68 Und wie für den Psychotiker, organisch Hirnkranken und Paralytiker im Tertiärstadium der Syphilis bleibt auch für den hereditären Neurastheniker im Grunde als Lösung nur die dauernde Asylierung. So bietet sich uns der Anblick eines Riesenstroms, der durch den Zufluss scheinbar leichterer Erkrankungen wie der Neurasthenie ständig anschwillt, bzw. das Bild eines »Psychopathenheeres« von immenser sozialer Bedeutung.69 63 | SP S. 87. 64 | SP S. 281ff. 65 | SP S. 295. 66 | SP S. 303. 67 | SP S. 306ff. 68 | SP S. 302. 69 | SP S. 335ff. – Die Psychopathen stellen in unserem Volk eine bunte »Armee« aus ganz unterschiedlich gearteten Personen, die ihre Devianz in allen, auch entgegengesetzten Richtungen ausleben. »Im Guten wie im Bösen« spielen sie als Verbrecher, Vagabunden einerseits sowie Hochbegabte und Kulturförderer vielfach eine dominierende, ja umgestaltende Rolle im öffentlichen Leben. So kommt man nicht umhin, durch genauere Erforschung des Störungsbilds sich in die Lage zu ver-
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Niemand wird an dieser Stelle der Gedankenassoziation die Berechtigung versagen, Grotjahn habe in seinem Lehrbuch 10 Jahre vor Beginn der Hitlerdiktatur einer politisch relevanten, paranoiden Vision literarische Form verliehen. Erstmals auf dem Kontinent empfiehlt ein Universitätslehrer von Rang, von der westlichen Nachwelt nur verhalten gerügt, zwecks »ewiger Jugend« und Erbgesundung der Nation große Teile des eigenen Volkes (nicht Feinde!) durch tiefe Einschnitte in deren Freiheitsrechte nach ärztlicher Selektion in Zwangsarbeitslagern unter Dauerarrest zu stellen. Die Bezugnahme auf von Bodelschwingh und »seine Anstalt Bethel bei Bielefeld-Gadderbaum«70 täuscht, da es sich hier um ein karitatives Projekt zur Existenzsicherung aus bestimmter Indikation handelt und nicht um eine Masseninternierung zur hygienisch-eugenischen Volksregeneration. Quellengeschichtlich reiht sich Grotjahn mit seiner Zwangsasylierungsideologie unter die Wegbereiter des Totalitarismus aus der Schule des deutschen Irrationalismus.71
7.2.4.2 Syphilis als Beispiel für den Komplex »Geschlechtskrankheiten« Die sozialpathologischen Aspekte der Syphilis als Volkskrankheit sind weitgehend andere als die der Tuberkulose. Es besteht allgemeine Krankheitsbereitschaft, betroffen sind Angehörige aller Schichten gleichermaßen. Soziale Verhältnisse spielen keine Rolle bei der Verursachung, sondern nur bei Krankheitserregung (Übertragung durch häufig wechselnden außerehelichen Geschlechtsverkehr aufgrund sozial bedingter Ehelosigkeit) und -verlauf (Problem frühzeitiger ärztlicher Betreuung zur Akut- und Rezidivbehandlung). Soziale Interventionen eignen sich wenig zur Bekämpfung der Syphilis als Volkskrankheit, da diese gerade eher in einer durch Industrie und Urbanisierung wirtschaftlich bessergestellten Zivilisationsgesellschaft grassiert. – Erheblich ins Gewicht fallen dagegen die sozialen Folgeerscheinungen wie Beeinträchtigung der Arbeitsfähigkeit, Schädigung der Fortpflanzung und setzen, vor allem auch die leichter psychopathisch Veranlagten im Griff zu behalten und sie zu dirigieren, sei es durch gezielte gesellschaftliche Positionierung oder durch Entmündigung und Asylierung, SP S. 335ff., 349f. 70 | SP S. 303. 71 | Zu unseren »Desideraten« gehört eine zusammenhängende Untersuchung über die Gesamtheit der politisch wirksamen honorigen Geistesgrößen und Weltanschauungspäpste seit der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts (seit Friedrich Nietzsche) als möglichen Geburtshelfern des nationalen Führungsstaats, die mit Werken und Texten das deutsche Bürgertum aller Schattierungen insbesondere durch ihre Sprache beeindruckten. Gab es in Deutschland parallel zum politischen einen mentalgeistesstrukturellen Sonderweg, auf dem sich Ängste um Volkszukunft und nationalen Bestand nur in Kriegen lösen konnten? Peter Emil Becker (I und II, 1988/90) focussiert zu sehr auf das Spezialgebiet Rassenhygiene und Antisemitismus. Von ihnen hat sich Grotjahn sehr wohl abzusetzen und fernzuhalten gewusst.
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Lebensverkürzung durch Sekundärerkrankungen. Die wirksame Chemotherapie z.B. mit Salvarsan, die seit Ausdehnung der Krankenversicherung für die Allgemeinheit zugänglicher geworden ist, kann die Syphilis wegen ständigen frischen Zustroms nicht ausrotten. Umso größere Bedeutung gewinnt die Prophylaxe an der Krankheitsquelle. Hier steht wieder die Langzeit-Hospitalisierung während des ansteckenden Stadiums, ggf. in Arbeitssanatorien im Vordergrund. Prostituierten ist freie Krankenhausbehandlung zu gewähren, ihre unauff ällige Kontrolle erfolgt im Rahmen einer zugleich ärztlichen und wohlfahrtsmäßigen Fürsorge. Für die Frühbekämpfung kommen insgesamt weitere Möglichkeiten in Frage wie Propagierung von Schutzmitteln, Beratungsstellen, Jugendberatung, ein Gesetz zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten, straf- und zivilrechtliche Bestimmungen für wissentliche Ansteckung und eine Meldepflicht bei den Beratungsstellen.72
7.2.5 Akute infek tiöse Krankheiten des Säuglingsund Kindesalter s (W. Salomon) 7.2.5.1 Säuglingskrankheiten An keiner Stelle der Sozialpathologie lässt sich die Korrelation von Krankheit und sozialer Lage besser demonstrieren als an der Säuglingssterblichkeit. Ihr »weitaus größte(r) Teil« entfällt auf die »sozial schlecht gestellten Volkssschichten«. Die Sterblichkeitsziffern sinken im ersten Lebensmonat kontinuierlich ab, dennoch bezieht sich ein Drittel der Säuglingssterblichkeit auf diese Zeitspanne. Darauf basiert die Mutterschaftsversicherung zur 6-wöchigen Arbeitsunterbrechung für alle Mütter nach der Niederkunft.73 Die Prognose der unehelichen Säuglinge verschlechtert sich noch durch Unzulänglichkeiten in Ernährung und Pflege. Der uneheliche Säugling entbehrt der »Stillung« als Ausgleichsfaktor für auf ihn einwirkende Umweltschäden. Unnatürlich ernährte Kinder leiden unter der Überbelegung von Arbeiterwohnungen ohne ausreichende Regelung von Temperatur und Luftzufuhr. Brustmilchernährung, zweckmäßige Wohnungsverhältnisse und Pflegehygiene sind unerlässliche Voraussetzungen für das Gedeihen des Säuglings.74 Es ist Aufgabe der Säuglingsfürsorgestellen, alle sozial benachteiligten Mütter in dieser Hinsicht zu beraten.75 Die höchste Säuglingssterblichkeit verursachen nach einer Statistik für Berlin Ernährungsstörungen. Zählt man zu ihnen die Todesursachen »Lebensschwäche«, »Krämpfe« und »Abzehrung« nur zur Hälfte hinzu, kommt man auf eine Sterblichkeitsrate von 55 %. Die Säuglingssterblichkeit teilt sich in einen Sommergipfel durch Diarrhoen und einen Wintergipfel durch grippale Infekte. Der »Sommerschaden« kommt überwiegend in von 72 73 74 75
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SP S. 102ff. SP S. 211f. SP S. 212-218, 223. SP S. 227ff.
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Proletariern bewohnten, dicht besiedelten Großstadtvierteln durch Wärmestau zustande, der über einen verwickelten Mechanismus zu einer endogenen Dünndarminfektion führt. Raumnot und Pflegemängel im Proletariermilieu sind auch für den »Wintergipfel« verantwortlich.76 Im Bekämpfungsprogramm gegen die Säuglichkeitssterblichkeit verdienen Nabelsepsis und auf der Seite der chronischen Infektionskrankheiten Tuberkulose und Syphilis gebührende Berücksichtigung.77
7.2.5.2 Kinderkrankheiten (W. Salomon) Im Kleinkindes- oder Spielalter vom Beginn des 2. Lebensjahrs an bis zum Schulalter wandelt sich gegenüber dem Säuglingsalter das Krankheits- und Sterblichkeitsspektrum grundlegend. Befallen sind jetzt mehr die Atmungsorgane, die Sterblichkeit sinkt, die Gefährdung bleibt dank anhaltender Erkrankungsbereitschaft konstant. 25-35 % der Todesfälle im Kleinkindesalter gehen auf das Konto der vier akuten infektiösen Kinderkrankheiten Diphtherie, Scharlach, Masern und Keuchhusten, nach der Einschulung steigt der Anteil an der von ihnen verursachten Mortalität auf über 50 % an.78 Bei allen genannten Kinderkrankheiten hängt die Sterblichkeit vom sozialen Milieu ab, besonders auch von den Wohnverhältnissen. Bei der Diphtherie bestimmen soziale Bedingungen nicht so wohl die Entstehung, als vielmehr den Verlauf der Krankheit. In Armenbezirken liegt hierbei die Letalität eindeutig höher als in wohlhabenden Stadtteilen. Deshalb wurde in Berlin eine Diphtheriefürsorge eingerichtet zur Information der ärmeren Volksschichten über die richtige Versorgung, die die Letalitätsrate zu senken verspricht .79 – Masern und Keuchhusten zeichnen sich durch ihre hohe Kontagiosität aus. Bei Diphtherie und Scharlach entdeckte Gottstein epidemiologische Gesetzmäßigkeiten. Danach kann sich die Diphtherie über Jahrzehnte in einem Bevölkerungsteil endemisch aufhalten, wobei sie in einem ersten Zeitraum epidemisch ansteigt, um nachfolgend in stetig sich abflachenden Wellen abzufallen.80 Der Scharlach zeigt jeweils in bestimmten Jahresintervallen sowohl Anstiegsgipfel der Ausbreitung als auch solche der Sterblichkeitsrate. Für Beängstigung sorgen beim Scharlach auch die möglichen Dauerschäden an lebenswichtigen Organen. Die Ungunst sozialer Lebensbedingungen wird hier zur erdrückenden Gefahr.81 Die Prophylaxe weiterer Ansteckung an Diphtherie und Scharlach beschränkt sich auf Meldepflicht, Desinfektionszwang und Isolierung. Letztere wird vor allem
76 77 78 79 80 81
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SP S. 229ff. SP S. 232ff. SP S. 236f. SP S. 238ff. SP S. 241. SP S. 239.
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bei engen und überbelegten Wohnungen am besten durch Unterbringung auf die Isolierstation eines Krankenhauses erreicht.82
7.2.6 Frauenkrankheiten (R. Lewinsohn) Dass in der Sozialen Pathologie den Frauenkrankheiten besondere Aufmerksamkeit geschenkt wird, hängt nicht mit dem Rang der Frau in der Gesellschaft, sondern mit ihrer industriellen Erwerbstätigkeit, ihrem Doppelberuf in Haushalt und Fabrikgewerbe zusammen. Mit integriert in die proletarische Erwerbsgemeinschaft, sieht sich die Frau einer »Kollision der Pflichten« ausgesetzt und scheitert an »Überlastung«, vor der sie nur ein gesetzlicher Arbeiterinnenschutz bewahrt.83 Die sozialen Unterschiede machen sich bei den Frauenkrankheiten in den Häufigkeits- und Sterblichkeitsziffern besonders krass bemerkbar. Wirksame Faktoren sind dabei Gebäralter, Zahl der Geburten, Schonungsmöglichkeit, venerische Erkrankungen und Art der Berufstätigkeit. Erwerbstätige Frauen bis zum 35. Lebensjahr weisen nach Krankenkassenstatistiken im Vergleich zu Männern eine Übersterblichkeit auf, erst ab dem 40. Lebensjahr sinkt die Absterberate der Frauen unter die der Männer.84 Harte Arbeit oder frauenspezifische Tätigkeiten, solche im Stehen oder in sitzender gebückter Haltung (Maschinennäherinnen) disponieren zu vermehrten entzündlichen Erkrankungen und Lageveränderungen des Uterus und zu Adnexitiden. Ovarialzysten sind typische Erkrankungen bei sitzender Lebesweise. Das Uterusmyom ist eine »Krankheit des Wohllebens«, der Gebärmutterkrebs befällt bevorzugt die ärmeren Schichten der Bevölkerung.85 In der Schwangerschaft verhält sich die Dame der Gesellschaft als »Halbpatientin«, die »Proletarierfrau« hat die Berufsarbeit bis 6 Wochen vor dem Termin, die Hausarbeit bis zur Entbindung fortzusetzen. Daraus resultieren vermehrte Schwangerschaftskomplikationen und häufigere Bindegewebsschwäche mit Hernien, Varizen und Ulcera cruris. Der Prozentsatz der Fehlgeburten liegt bei den Arbeiterfrauen um das Doppelte, bei den meist wenig bemittelten unverheirateten Schwangeren je nach Altersklasse um das Zwei- bis Dreifache höher als bei Frauen der übrigen Bevölkerungsklassen.86 In Deutschland herrscht immer noch eine hohe Morbidität durch Entbindung und Wochenbett in den unteren Volksschichten. Zur klinischen Kontrolle sind deshalb grundsätzlich alle Geburten in Entbindungsanstalten zu »verlegen«.87
82 83 84 85 86 87
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SP S. 240, 243. SP S. 171. SP S. 170f. SP S. 180f. SP S. 182ff. SP S. 206ff.
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7.2.7 Die Komplexität sozialer und endogener Fak toren in Sozialätiologie und -diagnostik 7.2.7.1 Paradigmenwechsel von akuter zur chronischer Erkrankung und soziale Determination Im Vergleich zur klinischen Medizin ergibt sich für die soziale Pathologie eine Verschiebung im Wertigkeitsspektrum der Krankheiten. Anstelle des exotischen Falls treten die häufigen und leichteren (abortiven) als die sozial relevanten Erkrankungen in den Vordergrund. Zugleich kommt es dabei zu einem Paradigmenwechsel von den akuten zu den chronischen (bzw. zu Langzeitverläufen neigenden) Krankheiten, seien es chronische Infektionskrankheiten, zu denen neben der Tuberkulose und den Geschlechtskrankheiten der Gelenkrheumatismus gerechnet wird, oder die langwierigen Krankheiten der Säuglinge, Kinder und Frauen oder die Nerven- und Geisteskrankheiten. Für das soziale Profi l der drei Krankheitsgruppen haben die Faktoren soziale Ätiologie und gesellschaftliche Rückwirkung unterschiedliche Relevanz. Bei der ersten Gruppe halten sich die beiden Sozialmomente die Waage, bei der zweiten überwiegt das sozialätiologische Moment bei moderaten Konsequenzen für die Gesellschaft, bei der dritten liegt trotz mehrheitlich erblicher, nichtsozialer Übertragung das Gewicht auf der Rückwirkung auf die gesellschaftliche Struktur. In allen Gruppen sind die schweren, ausgeprägten Krankheitsfälle (sozusagen die Hochrisikogruppen) von geringem sozialpathologischen Belang, da die betroffenen Patienten in der Regel verlaufs- oder maßnahmenbedingt als Wirkfaktoren aus dem sozialen Prozess ausscheiden. Die Geistes- und Nervenkrankheiten mit ihren zahlreichen, schwer diagnostizierbaren Abortivformen dagegen geben einen Begriff davon, wie verbreitete, leichtere Störungen, Anomalien und Psychopathien determinierend und dauerhaft in soziales Leben eingreifen können. Insgesamt sind die Krankheiten in allen Gruppen in irgendeiner Form an die sozialen Verhältnisse gekoppelt, da diese unabhängig von Ätiologie und sozialer Rückwirkung Symptomenbild, Verlauf und Ausgang bestimmen. Wie die »medizinalstatistischen« Erhebungen zeigen, lassen sich Häufigkeit und Bedrohlichkeit von Krankheiten auch ohne medizinische Intervention allein durch Verbesserung der wirtschaftlichen Lage reduzieren.88
7.2.7.2 Wohnung, Arbeit und Ernährung als sozialätiologische Hauptdeterminanten Die sozialen Faktoren, die in das Phänomen Krankheit hineinspielen, bilden einen »verschlungenen Knoten«, dessen Hauptbestandteile Wohnung, Arbeit und Ernährung vordergründiges Interesse beanspruchen. Grundsätzlich sollte der Mietskasernenbau in den Städten durch eine weiträumige 88 | SP S. 98ff., 401ff., 408, 411.
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Bauweise mit Ein- und Zweifamilienhäusern ersetzt werden. In den Stadtteilen müssten »geräumige Plätze« geschaffen werden, auf denen neben Kinderspielplätzen auch Spiel- und Sportanlagen für Erwachsene ihren Standort finden könnten.89 Das Thema Arbeit umfasst eine Fülle bearbeitungsbedürftiger Probleme. Der Maßnahmenkatalog bezieht sich auf industrielle Schadstoffe, Unfallverhütung, Staub- und Hitzeentwicklung, Kinder- und Frauenarbeit, Mutterschutz, Einförmigkeit des Arbeitsablaufs durch Teilung der Arbeitsvorgänge, Physiologie des Arbeitsprozesses zur Schonung der Arbeitskraft, Ermüdung, Arbeitszeit, Gewerbeaufsicht u.a. m. Anzustreben ist eine weitere Reduktion des Arbeitstags unter die 8-Stunden-Grenze für Frauen und Jugendliche und bei gefährlichen Arbeitsleistungen wie im Bergbau. Die Erwerbstätigkeit der Frau in der Industrie hat sich schon in der Zeit vor dem Krieg von 1882-1907 verdreifacht und stieg zuletzt auf knapp 20 % der industriell erwerbstätigen Bevölkerung an. Angesichts des Fehlens technischer Voraussetzungen für die Übernahme einer Doppelbelastung in Haushalt und Beruf erscheint die Forderung berechtigt, den »Hunger der Frauen nach Geldlohn und der Unternehmer nach williger und billiger Arbeitkraft« durch gesetzlichen Arbeiterschutz einzudämmen.90 Ein enger Zusammenhang besteht natürlich zwischen sozialer Lage und Ernährung. Unter natürlich-biologischen Bedingungen würde sich der Mensch instinktiv eine Kost zusammenstellen, die nach Menge und Beschaffenheit dem Energie- und Substanzverbrauch entspricht. Der zivilisatorische Trend geht von der ländlich-voluminösen Kost mit Roggenbrot, Kartoffeln, Gemüsen und Pflanzenfetten zur rationellen, konzentrierten Fleisch-Weizenbrot-Zuckerkost. Die industrielle Arbeiterschaft verbleibt aus wirtschaftlichen Gründen im Übergang der Kosttypen und nimmt aus beiden zu wenig der wertvolleren Anteile zu sich. Einen Ausweg böte eine öffentlich-rechtliche Regelung zur Abgabe von Pachtland an Arbeiterfamilien zur Errichtung von Laubenkolonien, in denen wieder etwas »Naturalwirtschaft« betrieben werden könnte.91
7.2.8 Soziale und hereditäre Konstitution als Fak toren des sozialen Abstiegs Grotjahn betont immer wieder den komplexen Charakter seiner sozialhygienischen Überlegungen. Der Begriff des »sozialen Einflusses« lässt sich, wie wir oben gesehen haben, von der ätiologischen wie von der terminalen Seite her (als Rückwirkung) entwickeln. Krankheiten, die sich post festum auf die sozialen Zustände auswirken, wie geistig-psychische Deviationen, entstehen häufig »endogen«, sind also erblich bedingt. Nicht nur die sozialen Verhältnisse, sondern mehr noch das Erbgut entscheiden über Gesundheit 89 | SP S. 412ff. 90 | SP S. 416ff. 91 | SP S. 421ff.
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und Krankheit in der Gesellschaft. »Aus einem minderwertig angelegten Körper«, heißt es jetzt, »kann die günstigste Umwelt nichts Normalwertiges schaffen«.92 Auff ällig ist hier, dass Grotjahn den Solidaritätsgedanken, Grundlage der praktischen und karitativen Betätigung in Gesundheitsfürsorge und -pflege, in der Sozialhygiene kaum theoretisch reflektiert und einem nationalökonomischen Nützlichkeitsdenken den Vorzug einzuräumen scheint. Die Bemerkungen zu den krankheitsbedingten Soziallasten, die er an seine sozialpathologischen Erkenntnisse anknüpft, erwecken eher einen kameralistischen als sozialstaatlichen Eindruck in unserem heutigen Sinn. Vor 1914 hätte die Krankenversicherung in Deutschland jährlich 115 Millionen Arbeitsunfähigkeitstage hinnehmen müssen. Noch höher lägen die Krankheitskosten für »dauerndes Siechtum und Verkrüppelung«, an Nachkommen weitergegebene Schäden eingerechnet. Daraus entstehe ein »ungeheurer Ballast, den ein Volk an derartigen Personen zu tragen hat«. Die chronisch Kranken (im Sinne unseres heutigen Erwerbsunfähigkeitsbegriffs) mit noch durchschnittlichen gesellschaftlichen Bedürfnissen neigten zu »antisozialer« Einstellung mit Abgleiten in Obdachlosigkeit, Prostitution und Kriminalität. Dabei seien die geistig Minderwertigen »nach dieser Richtung von ungeheuerem Einfluß«. Zwischen neurologisch-psychiatrischem Abortivfall und »Entartung«, dem »Gipfelpunkt« der Sozialpathologie, liegt offenbar nicht mehr als nur ein Schritt.93
7.2.9 Das Zusammenspiel von medizinischem Gesundheitswesen und Sozialhygiene in der Sozialtherapie 7.2.9.1 Im Zentrum der »gesunde Mensch« – das Präventionsprinzip in der Sozialtherapie Wenn die meisten Krankheiten in vielfacher Weise als funktionale Größen des sozialen Zustandsbilds erscheinen, haben sich alle Therapiemaßnahmen am sozialen Ansatz zu orientieren. Am deutlichsten lässt sich dies an den Aufgaben der praktischen Sozialhygiene in den verschiedenen Sektoren der Gesundheitsfürsorge demonstrieren, z.B. auf dem Gebiet der Familienfürsorge und Schulgesundheitspflege. Das Ziel ist der »gesunde Mensch«. Sämtliche Krankheiten (sic!, die nicht hereditären durch herkömmliche Prophylaxe, die hereditären durch Eugenik!) sind vermeidbar. Die vorgeschlagenen Maßnahmen tragen demnach präventiven Charakter. Das Gesundheitsstreben, meint Grotjahn, müsse bei jedem einzelnen »zum Inhalt seines sittlichen Bewusstseins und damit zu einem wesentlichen Motiv in seiner Lebensführung« werden. Im Endeffekt läuft hier alles – im kryptischen, die
92 | SP S. 433f. 93 | SP S. 405ff.
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Zukunft beschwörenden Sprachstil und in der Themenfolge – auf Eugenik hinaus. In der öffentlichen Gesundheitspflege gehe es um die Ausschaltung der sozialen Krankheitsursachen, wie sie sich förmliche »Bewegungen«, die seit dem 19. Jahrhundert »aus der Mitte des Volkes« hervorgehen, zum Ziel gesetzt haben. In ihnen stehe dem Arzt die führende Rolle zu. – Die genannten Fürsorgebereiche zeigen oft das Dilemma zwischen Präventionsstreben und Sachzwängen. In der Familienfürsorge kann die Einbeziehung der verheirateten Frau in die Berufstätigkeit »auf die Dauer unmöglich ohne tiefgreifende Wirkung« auf die Familienplanung bleiben – ein Prädikt, das in der Ära vor Entdeckung des Rechts der Frau auf personale Selbstverwirklichung eines objektiven Wahrheitsgehalts nicht entbehrt, da die Problematik der sozialen Rahmenbedingungen fortbesteht. – Die Schulgesundheitspflege hat die Heranwachsenden vor Überforderung zu bewahren, bei jüngeren Kindern sollte der Unterricht eher in Form eines »lustbetonten Spieles« verlaufen. Verkürzung der Schulzeit (durch spätere Einschulung) und der Unterrichtszeit dienen der Stärkung der körperlichen Konstitution. Das Maximum der Lernfähigkeit liegt ohnehin im Alter zwischen der Mitte des 2. und 3. Lebensjahrzehnts. Daraus rechtfertigt sich die Gesundheitsregel, »mit dem geringsten Maße von Schulbesuch den Schulzweck zu erreichen«.94
7.2.9.2 Sozialisierung des Heilwesens Die ärztlichen Maßnahmen in der Massengesellschaft stehen heute im Zeichen des sozialen Versicherungswesens, das zwar eine »bleibende, vorbildliche und originelle Schöpfung des preußisch-deutschen Beamtentums« darstellt, aber den »Einfluß von staats- und kathedersozialistischen Gedankengängen« nicht verleugnen kann und nur auf politischen Druck von Seiten des radikalen Sozialismus zustande gekommen ist.95 Künftige Refor94 | SP S. 446ff., 450ff. 95 | SP S. 436. – Diese Würdigung der Bismarck’schen Sozialreform hat sich in den Grundzügen bis in unsere Zeit erhalten. Bismarck habe auf Druck der Sozialdemokratie und mit Rücksicht auf die »Sozialistenfurcht in Bürgertum und Adel« gehandelt. Statt eines Systems der sozialen Sicherung sei dabei nur ein solches »zur Linderung des sozialen Elends« herausgekommen nach den Prinzipien der beitragspflichtigen Versicherung, der Kombination von staatlichem Zwang und sozialer Selbstverwaltung, rechtlicher Anspruchsnormierung und organisatorischer Vielfalt. Immerhin gilt es als »bedeutender Fortschritt, dessen Wohltat die Betroffenen trotz vielfältig-berechtigter Kritik auch anerkannten und den man im Ausland rühmte« (Hentschel 1983, S. 8, 12f., 21). – Das Reformwerk ist ein Frühprodukt der reichsweiten, konstitutionell-monarchisch eingeschränkten deutschen Demokratie. Mängel auf sozialem Neuland und durch sozialpolitisches Interessengerangel werden hier ebenso wenig verwundern wie der reaktive Angsttypus im Spiel der sozialen Kräfte, der dem Regierungshandeln in der Literatur gern angelastet wird. – Eckart moniert die »geschenkte Sozialreform von oben« zur Neutralisierung »sozialrevolutionären
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men sind unerlässlich. Die Kritik beinhaltet die Zersplitterung der Krankenkassen, den Ausschluss der Familienangehörigen aus dem solitär an den Arbeitsplatz gebundenen Versicherungsschutz, das Problem der Beanspruchung medizinisch nicht unbedingt erforderlicher Leistungen bei Bagatellerkrankungen, den von der pharmazeutischen Industrie propagierten Arzneimittelverbrauch, die Schwierigkeiten einer rationalen Verteilung der Ressourcen u.a. m. Dem Bedürfnis nach einer »grundlegenden Reform« genügt nur die Sozialisierung des Heilwesens, die Grotjahn 1922 auf dem Parteitag in Augsburg als Passus in ein »sozialistisches Gesundheitsprogramm« der Sozialdemokratischen Partei hat aufnehmen lassen. Sie ließe sich moderat gestalten durch Erhaltung der freien Arztwahl bei gleichzeitiger Institutionalisierung von Beratung, Diagnostik und Therapie. Nach Individualität und Art des Leidens kann sich der Patient dann zwischen niedergelassenem Arzt oder diagnostisch-therapeutischem »Zentralbetrieb« frei entscheiden. Auch die Apotheke, die sich von einer Produktionsstätte zur »reinen Distributionsstätte von Heilmitteln entwickelt«, wechselt am besten in öffentliche Hand, wie in Hessen das Beispiel der erfolgreichen Kommunalisierung einiger Apotheken zeigt.96
7.2.9.3 Hospitalisierung und Asylierung als Mittel sozialhygienischer Eliminationstherapie und Prävention der Volkskrankheiten Für die Sicherung der Volksgesundheit im Sinne der Sozialhygiene fällt dem Krankenhaus- und Anstaltswesen unter ärztlicher Leitung in unserer Gesellschaft mehr und mehr eine führende Rolle zu. Die Entwicklung erfolgt dabei in den zwei 2 Richtungen der Hospitalisierung der heilbaren und Asylierung der chronisch-unheilbaren (meist hereditär belasteten) Kranken. Einmal finden also akute und chronische Erkrankungen im Zuständigkeitsbereich von Chirurgie, Gynäkologie, Orthopädie, Innerer Medizin und Pädiatrie optimale fachliche Versorgung, in zunehmendem Maße auch in Häusern mit staatlicher und kommunaler Trägerschaft. Das Krankenhauswesen leistet damit auch einen gewichtigen Beitrag zur Verbreitungsprophylaxe, Primärund Sekundärprävention. Die soziale Anhebung des Pflegeberufs und die Errichtung von klinikeigenen Ambulatorien zur Patienten-Nachbehandlung bedeuten gewiss eine Förderung des Hospital-Systems. Kranken-, Unfallund Invalidenversicherung halten Ausschau nach verbesserten Versorgungsformen. Die im Aufbau begriffene »vorbeugende Anstaltsbehandlung« zielt bereits auf die Zwischenform einer klinikgestützten Rehabilitation.97 Potentials«, beurteilt sie aber dennoch als »die im europäischen Vergleich fraglos vorbildliche Sozialgesetzgebung der 80er Jahre«, 1991, S. 222. – Zum Urteil Wehlers III, 1995 s. Kap. 2, S. 54, Fußnoten 56 und 57. 96 | SP S. 436ff., 442ff. 97 | SP S. 459ff. – Vor allem für »Krüppel« im Sinne von Patienten mit angeborenen, unfall- oder kriegsbedingten Defekten der Gliedmaßen bestehen Chan-
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Das Krankenkonzept umfasst sodann auch die Asylierung von 1,2 % der Bevölkerung, wie Grotjahn selbst ausrechnet,98 mit Wohlfahrssleistungen gegen Arbeit, was von ferne an das System der Betheler Anstalten denken lässt. Nur handelt es sich hier um ein perfektionistisch-gigantisches Projekt zur Sozialisierung sozialhygienisch ausgesonderter Unheilbarer. Rechnet man überschlägig nach, hätte es zu seiner Verwirklichung 3500 Häuser á 200 Plätzen benötigt. Zwei Merkmale kennzeichnen die Abwendung vom »moralisch«-karitativen Antrieb hin zur überwiegend sozialhygienischen Intervention. Im internationalen Wettbewerb der Sozialsysteme würde das deutsche kommunalstaatliche gegenüber dem angloamerikanisch-philanthropischen und dem romanisch-kirchlichen Anstaltswesen an die Spitze gelangen!99 – Des weiteren gelingt das Kunststück, das Prinzip der Freiwilligkeit bei Anstaltsaufnahme offiziell aufrechtzuerhalten und gegenüber dem Zwang den Mittelweg zu eröffnen, Behörden und Versicherungen ihre Verpflichtungen gegenüber den Berechtigten statt durch Geldzuwendungen durch »Gewährung von Anstaltsfürsorge« nachkommen zu lassen!100 Es erklingt die bedrohliche Prophezeiung, dass spätere Zeiten kaum »so duldsam [...] gegen Kranke sein werden, die infolge körperlicher oder geistiger krankhafter Zustände für ihre unmittelbare Umgebung gefährlich werden können, wie wir es sind«.101 Dagegen führt das (totale) Asylwesen »in einer »humaneren [...] Weise« zu einer »Reinigung« der Gesellschaft durch Behinderung »ungeeigce und volkswirtschaftliche Notwendigkeit für eine erfolgreiche Rehabilitation. So sieht es G. Wolff als Koautor in Grotjahns Standardwerk im Kapitel »Chirurgische Krankheiten«. Einerseits hat die Krüppelfürsorge durch die Kriegsversehrten aus dem Weltkrieg in Verbindung mit dem Aufschwung von Chirurgie und Orthopädie an Bedeutung gewonnen, andererseits mangelt es an institutioneller staatlicher Unterstützung, wie sie für die Gruppe der »defekten Personen«, der Unheilbaren, die Grotjahn in seiner oben erwähnten Tabelle aufl istet, ansatzweise aufgebracht wird. In der staatlichen Anstalt in München konnten in 75 Jahren 90 % der nachversorgten Patienten »vollständig erwerbsfähig« entlassen werden. Hier konturiert sich ein vom Asylmodell wegstrebendes, auf Resozialisierung angelegtes Behindertenkonzept, dessen Organisation »nach weitsichtigen Grundsätzen« ökonomische und sozialethische Anforderungen zugleich zu erfüllen verspricht, SP S. 369ff. 98 | SP S. 463, Tab. 99 | SP S. 463f. – Trotz seiner Gegenbeteuerungen vertritt Grotjahn hier einen perfektionistischen Sozialimperialismus, der mit seinem sozialistischen Staatsabsolutismus gut harmoniert: »Die Nation, der es zuerst gelänge, das gesamte Krankenhaus- und Anstaltswesen in den Dienst der Ausjätung der körperlich und geistig Minderwertigen zu stellen, würde einen [...] Vorsprung vor allen übrigen Völkern gewinnen«, ebd. 100 | SP S. 466. 101 | Man wird »die Gemeingefährlichkeit auch auf andere Patienten, z.B. die akut Infektiösen (Syphilitiker, Tuberkulöse fortgeschrittener Stadien usw.) ausdehnen«. Eine »Sondergesetzgebung« muss her für physisch Schwache, die »eine Welt
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neter Elemente« an der Fortpflanzung und zu einer »Ausjätung der körperlich und geistig Minderwertigen«.102 An diesem Punkt wird einmal mehr klar, dass sich die deutsche Sozialhygiene in der Person und Führungsgestalt Grotjahns trotz ihrer fraglosen gesundheitswissenschaftlichen Inhalte unter dem Eindruck einer Mischung aus Sozialisierungsdoktrin und Sozialdarwinismus noch andersartige Zielstellungen aufladen lassen musste als sie etwa die ideologiefreie Public Health-Forschung verfolgte.
7.2.10 For tpflanzungshygiene – Eugenik 7.2.10.1 Sozialhygiene und qualitative Bevölkerungsentwicklung Die Sorge um die öffentliche Gesundheit schließt für Grotjahn seit der Frühzeit seiner wissenschaftlichen Lauf bahn das Interesse an der qualitativen und quantitativen Bevölkerungsentwicklung mit ein, d.h. das Interesse daran, durch praktikable Maßnahmen die körperliche und geistige Qualität und den numerischen Bestand der nachwachsenden Generationen zu erhöhen. Alterung und Tod sind nur für das Individuum naturgesetzlich vorgegeben, nicht aber für ein »Konglomerat von Individuen«, das sich prinzipiell durch eine »unerschöpfliche Anzahl neuer Individuen« im Sinne einer »ewigen Fortdauer« zu regenerieren vermag. Der Untergang von Hochkulturen geht demnach möglicherweise weniger auf kulturelles und politisches Kräfteversagen als vielmehr auf den Verfall des physischen Bevölkerungssubstrats zurück. Bevölkerungsstatistik, Gebrechensstatistik, medizinische Stammbaumforschung und Anthropometrie (Biometrie) geben Aufschluss über die gesundheitliche Verfassung einer Population, der Vererbungsbiologie obliegt es, die Kriterien für die erblichen Komponenten zu liefern. Aber erst wenn die Erbforschung zu sicheren Voraussagen über erbliche Anlagen hin fortschreitet, wird die Eugenik oder Fortpflanzungshygiene in die Lage versetzt, durch umfassende Intervention im Sinne einer Geburtenprävention in der Bevölkerung eine Verbesserung der erblichen Konstitution zu erzielen. Die Geburtenprävention durch die gängigen Präventivmittel und durch ärztliche Eheberatung ist immer noch mit diversen Unsicherheiten belastet. Erst der generelle Ausbau des Asylwesens bietet die Möglichkeit, den »Artprozeß durch Abhaltung ganzer Gruppen von Minderwertigen von der Fortpflanzung in großem Maßstabe günstig zu beeinflussen«.103 Diese Worte lassen nur wenig verspüren von dem sozialstaatlich-ethischen, karitativ-fürsorglichen, anthropozentrischen Aspekten, wie sie vielerorts und zu verschiedenen Zeiten in der Sozialmedizin hervortreten. Die Aussagen bewegen sich hart am Rand der bürgerlichen Tradition und drofür sich« bilden, Die Asylierung des defekten Teils der Bevölkerung wird diese Armee »aufreiben«, SP S. 465ff. 102 | SP S. 45f., 454ff., 458ff., 463ff. 103 | SP S. 468ff., 476ff.
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hen deren Grenzen zu durchbrechen. Sie zielen auf einen wissenschaftlich sanktionierten, technisch-mechanischen, psychologisch invasiven Eingriff in den gesellschaftlichen Organismus zur Erhaltung und Steigerung seines als ideal-artkonstant vorgestellten Soziallebens.
7.2.10.2 Eugenik ist keine Rassenhygiene Immerhin erteilt Grotjahn in seinem Eugenik-Kapitel dem von Alfred Ploetz inaugurierten Begriff der »Rassenhygiene« eine klare Absage. Er verabschiedet (zumindest formal) Rassenbiologie, Rassenhygiene und Darwinismus als Ganzes aus der Fortpflanzungshygiene in den Umkreis der empirischen Naturwissenschaften. Bei der menschlichen Fortpflanzung gehe es nicht um natürliche, sondern um durch die »Macht der sozialen Verhältnisse« bedingte Auslese. Den Begriff »Rasse« möchte Grotjahn aus der Eugenik ganz ausgeschlossen wissen, da diese ja »jede generativ zusammenhängende Gruppe« anvisiert. Das Kriterium für die Bewertung von Rassen ist nicht ihre »Reinheit«, sondern die Gesamtheit ihrer geschichtlich überlieferten kulturellen Leistungen. Drei Rassen, die jüdische, germanische und romanische, sind in diesem Sinn »Kulturrassen«, mit der jüdischen an der Spitze, denn sie »haben durch ihre Geschichte ihre hohe Kulturfähigkeit bewiesen, ganz gleich, ob sie reine oder, was wohl sicher ist, stark gemischte Rassen sind«.104 Trotz dieser distanzierenden Äusserungen verfolgt Grotjahn selbst ein puristisches Ideal, das sich weniger aus volkswirtschaftlichen Überlegungen als vielmehr aus der Tradition des deutschen Irrationalismus herleitet. Der Rassenhygieniker erstrebt in der Fortpflanzungshygiene die Reinheit der Rasse als biologisches Wertmerkmal. Grotjahn als Sozialhygieniker denkt – wie wir bereits oben gesehen haben – an die »Reinigung der menschlichen 104 | SP S. 469f., 481f. – Berücksichtigt man die allgemeine Rezeption einer biologistischen Eugenik in der Weimarer Republik nicht nur in der bürgerlichen, sondern ebenso in der sozialistischen Ärzteschaft, so kann man die dezidierten Versuche Grotjahns, die Eugenik von der Rassenlehre getrennt zu halten, nicht (kommentarlos) übergehen. In drei Schritten eliminiert er den Rassenbegriff aus der Eugenik: er unterwirft die Rassen unserer Hemisphäre einer »objektiven« Bewertung nach kulturhistorischen Maßstäben (danach nimmt die jüdische Rasse eine Vorzugsstellung ein); biologisch sind alle »Kultur«-Rassen gemischt, das Reinheitskriterium entfällt; nicht die natürliche, sondern die soziale Auslese durch Beeinflussung der sozialen Umwelt spielt in der Eugenik die entscheidende Rolle mit dem Ziel einer »humaneren« Regulierung der Fortpflanzung. – Unter dem kulturhistorischen Aspekt geraten die farbigen Rassen mit ihren »bodenständigen Organisationen« nur marginal ins Blickfeld. Dem Mittel der Wahl in der Eugenik, der sexuellen Präventionstechnik, eröff net sich auch rassenhygienisch ein Anwendungsgebiet, sofern es geeignet ist, die Entstehung prospektiv minderwertiger »Mischlingsrassen« in den tropischen und subtropischen Kolonialländern zu verhindern. Nur eine »rassekräftige« eingeborene Bevölkerung vermag die »zur Kultivierung und Exploitation erforderlichen Arbeiten« zu bewältigen.
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Gesellschaft von der Fortpflanzung ungeeigneter Elemente«. Damit meint er im Kontext seiner Eugenik die körperlich und geistig erblich Behinderten (Zusatz: nicht nur Erbkranke, auch Träger unerwünschten rezessiven Erbguts und weniger Begabte, die er in den unteren Bevölkerungsschichten vermutete, Deviante und Außenseiter), deren Reproduktion verhindert werden soll, allerdings überwiegend im Rahmen eines zwar supportiv angelegten, aber korporativ-perfektionistischen Asylierungsprojekts für alle »Minderwertigen«. Ein solches Vorgehen sei notwendig, um die Untergangsängste einer Kulturnation angesichts einer bedrohlichen physischen Bevölkerungsentwicklung (Geburtenrückgang) zu überwinden.105
7.2.10.3 Sozialhygiene und quantitative Bevölkerungsent wicklung Nach bevölkerungsstatistischen Beobachtungen tendieren gerade wohlhabende und damit gesundheitlich begünstigte Populationen wie Adel und Stadtbevölkerung dazu, allmählich auszusterben. Der Hauptgrund dafür liegt in zwei Zivilisationsfaktoren, im späten Heiratsalter und im Generativverhalten mit gewollter Einschränkung der Kinderzahl. Bestand oder Wachstum solcher Bevölkerungsgruppen gewährleistet nur die »Zuwanderung« aus anderen (unteren oder proletarischen) Volksschichten. Nach einer langanhaltenden Phase ständiger Bevölkerungszunahme begegnet uns spätestens seit der Jahrhundertwende in allen europäischen Kulturstaaten ein scheinbar unauf haltsamer Bevölkerungsschwund auf der Basis eines stetigen Geburtenrückgangs, der sich wie bei den oben genannten kleineren Populationen am ehesten durch rückläufigen Kinderwunsch erklärt. Aber anders als bei den Subpopulationen endet bei der Gesamtbevölkerung dieser Prozess »mit Sicherheit« in der »Überwucherung durch Nachbarvölker«, im »Völkertod«, im nationalen Untergang.106 An dieser Stelle wäre die richtige 105 | SP S. 462f. 106 | SP S. 471, 486f. – Nach dem von ihm zitierten statistischen Tabellenmaterial ist für Grotjahn der Bevölkerungsrückgang durch Abfall der Geburtenrate kein isoliertes deutsches, sondern ein europaweites industriestaatliches Phänomen. Das Gleiche gilt für die Entartungsrate z.B. durch Keimgifte wie Alkoholismus und Tuberkulose in durch wirtschaftlichen Niedergang verelenden Gesellschaftsklassen. Im Kampf gegen die Entartungserscheinungen befi nden sich die Kulturnationen geradezu in einem organisatorischen Wettbewerb! Angesichts der parallelen Bevölkerungsprozesse in den Industriestaaten entbehrt die Zwangsvorstellung vom isolierten Untergang des deutschen Volkes und seiner Infi ltration durch Nachbarvölker jeder rationalen bzw. statistisch-numerischen Grundlage. Nur das Trauma des verlorenen Krieges kann in der Weimarer Republik als dem Musterbeispiel für Demokratie und Sozialpolitik »quer durch die politischen Lager in bürgerlichen und sozialistischen Ärztekreisen« generell einer der Rassenhygiene nahestehenden, biologistischen Eugenik zum Durchbruch verholfen haben (vgl. Eckart 1991 in: Schwartz, S. 224ff.; Weindling 1987, S. 352).
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Lösung durch logische Schlussfolgerung von den Subpopulationen auf den Gesamtstaat schon vor 80 Jahren zum Greifen nahe gewesen, nämlich Bestand und Wachstum eines Staats, wie es bei den Subpopulationen spontan geschieht, durch »Zuwanderung« (nach unseren heutigen Vorstellungen in gesetzlich geregelter Form) zu sichern. Aufgrund vorliegender Berechnungen der »Geburtlichkeit« lässt sich die Bevölkerungsdichte nur durch Etablierung und Förderung des Dreikindersystems aufrechterhalten. Die sozialen Rahmenbedingungen der Familienförderung durch Anreize sind vom Staat mit Hilfe gesetzlicher Regelungen zu erstellen. Die staatlichen Förderungsmaßnahmen, die hauptsächlich auf Kosten lediger, kinderloser oder kinderarmer Bevölkerungskreise anzulegen sind, umfassen Steuervergünstigungen, Gehaltszulagen, Kindergeld, Rentenvorteile, Versicherungsleistungen, weiträumige Wohnbauten und Verbesserung im Siedlungswesen.107 – In der Gedankenwelt eines sozialistischen Arztes mengt sich dann wieder ein politisch-national motivierter Irrationalismus in die Betrachtung der Bevölkerungsentwicklung, wenn imaginativ »die Gefahr der Überflügelung durch schnell wachsende Völker niederer Kulturstufen« beschworen und der Erhalt des Volkstums an die Sicherung der Volkszahl gekoppelt wird.108
7.2.11 Kritische Bewer tung Grotjahns Soziale Pathologie aus dem Jahre 1912 mit der von uns am stärksten berücksichtigten 3. Auflage von 1923 ist das Standardwerk der Sozialhygiene, weil das Buch die erste große Monographie darstellt, in der Krankheiten des Menschen, i.e. Klinik und soziale Verhältnisse eindeutig aufeinander bezogen, Krankheiten nicht klinisch-symptomatisch, ja nicht einmal nur klinisch-ätiologisch, sondern sozial-ätiologisch in allen ihren Formen unter Massengesichtspunkten mit bevölkerungswissenschaftlichen statistischen Methoden nach ihrer Eigenart und ihrer epidemiologischen Bedeutsamkeit bewertet werden. Das Buch genügt damit einem Anliegen, das seit der Reichsgründung und der Bismarckschen Sozialreform Zeit und Gemüter bewegte: die Integration der arbeitenden und unterprivilegierten Volksschichten in die neue bürgerliche Gesellschaft unter dem Gesichtspunkt Gesundheit und soziale Sicherheit (Gesundheitsförderung, Volkstüchtigkeit). Ein weiteres Zeitthema verschaff t sich hier Eingang in den sozialhygienisch-wissenschaftlichen Diskurs als Steigerungsmoment für Aktualität und Publikumsnachfrage: das Welt- und Zeitthema Eugenik als Theriak 107 | SP S. 516, 523ff. 108 | SP S. 528. – Die Gefahr der Überfremdung durch solche Völker wird kulturwissenschaftlich und statistisch nicht untermauert. Vergleiche mit den Bevölkerungsverhältnissen in den USA liegen noch nicht im Blickfeld. – Erinnert sei an den Zuzug polnischer Arbeitskräfte in das Ruhrgebiet und ihre problemlose Integration gerade zu der Zeit, in der Grotjahn die Nachkriegsauflage seines Hauptwerks herausbringt.
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im letzten Augenblick gegen eine degenerationsgeschürte Kultur- und Menschheitskatastrophe. Schlechte Lebensbedingungen führen auf Dauer zur Degeneration in Bevölkerungsgruppen, z.B. in der Großstadt und in Industrieregionen, u.a. weil diese vom Lande als dem Kräftereservoir eines Volkes Intelligenz- und Gestaltungskräfte abziehen, die dann durch »Kontraselektion«, aufgrund ungesunder Lebensweisen und Intoxikationskrankheiten (zu denen neben Gewerbeschäden, Alkoholismus und Drogen (Morphinismus) auch venerische Krankheiten gezählt werden), durch ungenügende Vermehrung und höhere Sterblichkeit am neuen Lebensstandort verloren gehen.109 Kein anderer in der deutschen Sozialhygiene hat vom Start an erbliche Anlage als sozialen Gesundheitsfaktor so zur Geltung gebracht wie Grotjahn. Als Zwillingsgestalt geleitet er die beiden Fachbereiche Sozialhygiene und Eugenik durch das 1. Jahrhundertdrittel. Man kann sich zuweilen des Eindrucks nicht erwehren, er habe als Haupt der deutschen Eugenikbewegung in Berlin (»Berliner Schule«) zumindest seit 1912, dem Ersterscheinungsjahr des Buches und dem Beginn seiner akademischen Lehrtätigkeit, im Geheimen die »Verwissenschaftlichung« der eugenischen Weltanschauung auf dem Weg über die Sozialhygiene durch Plazierung auf einen deutschen Lehrstuhl in seiner Person vorantreiben wollen. Auf jeden Fall verknüpft er mit seinem sozialhygienischen Programm ein politisches Reinigungsbestreben: er kämpft in Deutschland, besonders nach dem 1. Weltkrieg, gegen Niedergang und Verfall für Läuterung und Erneuerung via körperliche Volksertüchtigung.110 Der Inhalt des Werks entspricht dem von Grotjahn seit 1912 in seinen Vorlesungen und späterhin berühmten seminaristischen Veranstaltungen (»sozialhygienische Übungen«) behandelten Lehrstoff.111 Dennoch – das Standardwerk ist kein Lehrbuch. Es fehlt ihm an einer durchgängigen Systematik, die alle ökologischen, demographischen, klientenbiographischen, arbeitsmedizinischen, klinischen und organisatorisch-sozialtherapeutischen Aspekte eines sozialmedizinischen Arbeitsentwurfs (etwa nach Art des von A. Fischer gelieferten Systems) unter einem einheitlichen Gesichtspunkt zusammenfasst. Autorenseitig handelt es sich um ein vom Erstverfasser einheitlich redigiertes »Mehrmännerbuch« von 532 Seiten. 375 Seiten (70 %) stammen von Grotjahn selbst, die übrigen 157 S. (30 %) von insgesamt 5 jüdischen Fachkollegen. Für seine Person gesteht Grotjahn ein, »massenhaft andrängende(s) Material der Spezialliteratur nur sparsam verwertet« zu haben und verweist auf die Bibliographie seiner seit 1902 erscheinenden Jahresberichte.112 Seine Literaturangaben und statistischen Tabellen fallen Fischers Verfahrenstechnik gegenüber an Zahl und Stringenz deutlich ab (vgl. Tab. 4).
109 110 111 112
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Vgl. Weingart et al. 1992, S. 159. SP S. IV. SP S. III. SP S. IV.
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Selbstverfasste Seitenzahl
Statistische Tabellen Nr.
Diagramme Nr.
Grotjahn, Soziale Pathologie 3. Aufl. 1923
375
87
−
Fischer, Soziale Hygiene 2. Aufl. 1925
465
118
35
Chajes, Kompendium der Sozialen Hygiene 3. Aufl. 1931
167
75
−
Autor
Tabelle 4: Formaler Vergleich zwischen den statistischen Dokumentationen in den sozialhygienischen Standardwerken Grotjahns (1923), A. Fischers (1925) und Chajes (1931)
Den stärksten Eindruck auf die Zeit bis auf uns heute hinterlässt der Text auf den hundertfach zitierten, ersten 20 Seiten, der »Einleitung«. Zur Sprache kommen hier die prinzipiellen Vorfeldprobleme: Medizin/Hygiene – Gesellschaft, Hygiene – Kultur, naturwissenschaftliche – soziale Weltansicht, Interdisziplinarität, Fürsorgewesen; die berühmte Definition der Sozialhygiene als deskriptiver und normativer Wissenschaft (Analyse und Intervention im gesellschaftlichen Kontext); die Krankheitslehre: Krankheitshäufigkeit, verbreiteter abortiver Krankheitsverlauf, Vielfaktorenätiologie, Pathogenese (über Krankheitsanlage, -bedingungen, -erregung bis zum Krankheitsverlauf), Rückwirkung von Krankheit auf Gesellschaft; die Therapie: veränderter Stellenwert ärztlicher Therapie in der sozialen Pathologie und soziale Maßnahmen bei Bevölkerungskrankheiten (einschließlich oder hauptsächlich Eugenik). – Zur Beurteilung der Eugenik s. besonders den kritischen Rückblick in Kap. 7.3. Die Disharmonie des Auf baus, die Redundanzen im 1.Teil, die schon Gottstein als Rezensenten der 1. Auflage missfielen,113 die Anordnung des speziellen Teils vor dem allgemeinen, die vom pathologischen Sprachgebrauch abweichende Veränderung des Sinngehalts von »allgemein«, um im 2. Teil Eugenik als (wohlfahrtsstaatsmedizinische) Hauptmaßnahme gegen sozial bedingte Krankheiten zu propagieren – all dies lässt das Grundlagenwerk als imposantes Fragment erscheinen.114 Hochrelevant bleiben die ersten 20 Blätter der Partitur als meist gespielte Ouvertüre.
113 | Kaspari 1989, S. 140; Gottstein 1912, S. 527f. 114 | Gebhard verwechselt Rang mit Wirkung, wenn er der »Sozialen Pathologie« als Gesamtwerk »den Rang von Johann Peter Franks oder John Simons klassischen Schriften« zuerkannt wissen will, ders 1967 in: Lesky 1977, S. 429.
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7.3 Das eugenische Haupt werk »Die Hygiene der menschlichen Fortpflanzung«, 1926 7.3.1 Internationale der Eugenik und Rassenhygiene Durch den Zusammenbruch des NS-Regimes geriet in Deutschland in der Nachkriegszeit eine Bewegung in Vergessenheit, die seit Beginn des 20. Jahrhunderts mit ihren wissenschaftsbeflissenen und politischen Programmen Weltgeltung anstrebte: die sehr vielfältige internationale Bewegung für Eugenik und Rassenhygiene.115 Ihre Arbeit galt »vorrangig« dem Erhalt und womöglich der Verbesserung der genetischen Determinanten der weißen (europoiden) Rasse in den westlichen Kulturvölkern. Als die Historiker in den 80er Jahren in diesem Themenbereich den Vorhang anhoben, entdeckten sie die intakte Kulisse eines gewaltigen internationalen wissenschaftsambitionierten Politapparats, der normalerweise ihrer unmittelbaren Wahrnehmung auch zeitweise nicht entgangen wäre, zumal er in gemilderter oder gewandelter Form auch nach Kriegsende fortbestand. Aber die brutale Diskreditierung der Eugenik im nationalsozialistischen »eugenischen Musterstaat« durch Gesetzgebung und Handlungsmuster (Sterilisation, Heiratsverbote, Euthanasie) konnte und musste auf viele Historiker zunächst den Eindruck erwecken, jene sei ein auf Deutschland beschränktes Phänomen, eine spezielle deutsche »Sozialtechnologie«, die schließlich zum Terrorinstrument des herrschenden Systems ausartete und sich mit Kriegsende von selbst erledigte. Nach unserem jetzigen neuesten Wissensstand geht es natürlich nicht an, diese »Wolke« von um die abendländischen Kulturnationen und ihre genetischen Grundlagen besorgten internationalen Eugeniker und (interfakultativen) Wissenschaftler summarisch als Wegbereiter des NS abzustrafen.116 Wir werden zu prüfen haben, in wie weit die Existenz einer Internationalen der Rassisten ihre deutschen Vertreter, aus derem Kreis auch entschiedener Widerspruch gegen Euthanasie zu hören war, vom Vorwurf einer Vorreiterrolle in der menschenverachtenden NS-Politik zu entlasten vermag.117 Ihren Aufschwung und ihre Blütezeit erlebte die internationale Eugenik – in Deutschland größtenteils parallel zur Sozialhygiene – in der verhältnismäßig kurzen Zeitspanne zwischen Jahrhundertwende und Ende des 2. Weltkriegs. An ihrer Geschichte fasziniert der relativ kurze Verlauf im Kontrast zur Explosivität ihrer globalen Ausbreitung, zur Atemlosigkeit in der Aufeinanderfolge ihrer innovativen Ideen und Programme und zur Intensität ihrer Projektarbeit mit Gründung nationaler und internationaler 115 | Im Folgenden belassen wir es zu reinen Referatzwecken anstelle des durchaus sinnvollen Doppelbegriffs überwiegend beim Einzelterminus »Eugenik«. 116 | Von vornherein erkennbare Ausnahmen sind die nationalistisch-arischen Versionen eines Arthur de Gobineau, Houston Steward Chamberlain und Ludwig Woltmann, Kü. S. 70. 117 | Kü. S. 11ff.
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Organisationen und Institutionen sowie Abhaltung von Weltkongressen. 1904 deklarierte Francis Galton als Begründer der Eugenik sein noch nationales Konzept einer wissenschaftlich-sozialtechnischen Beeinflussung der menschlichen Evolution im Rahmen einer sozialen Gesamterneuerung.118 Im gleichen Jahr trug Grotjahn in Deutschland sein Manifest über die Sozialhygiene als Wissenschaft vor, das bereits in weitem Umfang wesentliche Elemente der Eugenik bewusst einbezog.119 Der seit Galton schnell wachsende gedankliche Gebäudekomplex der internationalen Eugenik stellt sich – während des Entwicklungsgangs in zahlreichen Varianten – etwa folgendermaßen dar. Aus Beobachtungen zur Vererbung von Talent und Charakter in der durch verwandtschaftliche Bande verketteten britischen Oberschicht, die sich relativ mehr Begabungen im Nachwuchs erfreute als die durchschnittliche Bevölkerung, entwickelte Galton die Prinzipien einer positiven und negativen Eugenik. Danach sollten sich Begabte überdurchschnittlich fortpflanzen, Untaugliche von der Fortpflanzung fernhalten bzw. von ihr abgehalten werden.120 Darwins Evolutionstheorie (Selektionsprinzip) und Mendelsche Gesetze (Determination durch Vererbung) beherrschten Geister und Gemüter der Zeit.121 Begabungen und Unvermögen, Gesundheit und Krankheit bzw. Krankheitsanlagen werden in der Gesellschaft auf dem Vererbungsweg weitergegeben. Den Eugenikern zufolge war davon auszugehen, dass Mittel- und Oberschichten über ein größeres Potential an Begabungen und Gesundheit verfügen als die Unterschichten. Aufgrund einer verminderten Fertilität aus unterschiedlicher Ursache komme es zu einem Geburtendefizit (»differentielle Geburtenrate«) der ersteren gegenüber den letzteren.122 Zudem blockiere in den Industrienationen ein durch Hygiene, Medizin und Sozialpolitik verbreiteter »Pseudohumanismus« zum Schutze der Schwachen die natürliche Selektion, wie sie von Darwin als allgemeines Naturgesetz aufgedeckt wurde, zugunsten einer allgemeinen, künstlichen Kontraselektion. Im Endergebnis reproduzierten sich die unteren Bevölkerungskreise überproportional stark mit einschneidenden Folgen für den Begabungsfundus und den körperlichen und besonders geistigen Gesundheitszustand der Kulturnationen. Für den britischen Naturforscher und seine eugenischen Adepten in aller Welt hing 118 | Kü. S. 18f. 119 | Grotjahn 1904, S. 1017ff., bes. 1021ff. 120 | Kü. S. 19. 121 | Hierhin gehört auch bereits Weismanns Theorie der Kontinuität des Keimplasmas (keine Vererbung erworbener Eigenschaften), Kü. S. 31. 122 | Im sozialbiologistischen Denken entsprachen sich a priori Sozialstatus und Erbqualität, sodass die negative Korrelation zwischen der Kinderzahl in den oberen und den unteren Volksschichten auf die Eugeniker in aller Welt alarmierend wirken musste. Das differentielle Geburtendefizit stellte sich bald als »Übergangsphänomen« heraus, das Klischee der besseren Erbausstattung höherer Kreise blieb aber in den Köpfen der Eugeniker (einschließlich Grotjahns) hängen, Weingart 1992, S. 134.
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daher als Flammenschrift über den Kulturvölkern das Menetekel der Degeneration oder Entartung der menschlichen Rasse.123 – Die Manifestation eines seit Jahrhundertende permanenten Geburtenrückgangs bei steigender mittlerer Lebenserwartung mit fortschreitender Einebnung des Geburtenüberschusses (heute »epidemiologischer Übergang«) addierte zur Sorge um die erbbiologische Qualität der Kulturnationen Befürchtungen über ihren quantitativen Bestand.124 Für die Eugenik stand damit die Aufgabe der Aufrechterhaltung und Sicherung der Bevölkerungszahl bei gleichzeitiger »Rassenverbesserung« auf dem Programm. Eine Hilfe zur Bewältigung des Problems schien sich aus der Arbeitswelt in Form der Lehre von der Rationalisierung als industrieller Verfahrenstechnik nach Frederick W. Taylor anzubieten. Den Taylorismus erfasste der organisierte Kapitalismus entgegen seiner voraufgehenden Manchester-Variante als Möglichkeit, den wirtschaftlichen Produktionsprozess (durch Schonung des Menschenmaterials) rationaler und humaner, zugleich aber auch effizienter zu gestalten. Die zeitgleiche Eugenik übertrug das Programm auf die Sozialtechnik einer rational-humanen Organisation der menschlichen Fortpflanzung. Für die negative Eugenik bahnte sich auf diese Weise im Konflikt zwischen grausamer natürlicher Selektion und humanistischen Idealen eine Lösung an. Die Eugeniker verabscheuten Opferung oder Tod von »Minderwertigen« auf dem Schlachtfeld der Natur und verlegten deshalb die Selektion auf ein Terrain, auf dem sie unter staatlicher Kontrolle als rationale, sozialtechnische Anwendung in der Phase vor der Befruchtung stattfinden konnte. Prinzipiell braucht der Mensch sich nicht dem »Fatalismus« der Darwin’schen Selektionstheorie (mit grausamen Kampf ums Überleben) zu beugen, vielmehr kann er sich sozusagen vom Selektionsprinzip befreien, indem er kraft seiner Intelligenz die Evolution in seinem Sinne manipuliert und die äußeren Einflüsse so gestaltet, dass nur die Begabtesten, und zwar verstärkt, an der Fortpflanzung teilnehmen.125 1913 einigte man sich nach dem Modell eines norwegischen Programms auf einen Maßnahmenkatalog als Minimalkonsens mit Elementen positiver und negativer Eugenik. Vorgesehen wurden Steuer- und Abgabenvergünstigungen zur Förderung gesunder kinderreicher Familien und Mutterschaftsversicherungen, Isolierung in Anstalten und Arbeitskolonien zur Verhinderung der Fortpflanzung erblich Defekter, wobei die Sterilisation auf Ausnahmefälle beschränkt bleiben sollte, Gesundheitsuntersuchungen vor der Eheschließung, staatliche Registrierung des Gesundheits- und Erbstatus der Bevölkerung und Regelung der Zuwanderung nach biologischen Kriterien.126 Inzwischen verdunkelte ein 2. Schreckensbild den geistigen Horizont der internationalen Eugeniker: die Bedrohung aus dem Osten. Eine Reihe von Annahmen, Thesen und Befürchtungen verdichteten sich zu einer 123 124 125 126
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Kü. S. 20f., 26f., 66. Kü. S. 31. Kü. S. 21f. Kü. S. 35ff.
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scheinbar schlüssigen mehrgliedrigen Argumentationskette: Zum unaufhaltsamen Geburtenrückgang in den westlichen Kulturländern kontrastiere ein ungebrochener Geburtenüberschuss bei den Völkern des Ostens, die gegenüber den westlichen auf einer niedrigeren Kulturstufe verharrten; der Bevölkerungsdruck veranlasse Wanderungsbewegungen dieser Völker in westliche Richtung; der Einstrom minderwertiger »Rassen« in das relative Bevölkerungsvakuum der Westländer erbringe Rassenmischung als Folge. Zur Degenerationstendenz von innen gesellte sich also als zerstörerischer Mechanismus noch die von außen induzierte Rassenmischung. Insgesamt stand in der Rassenhierarchie der Grundrassen die Vormachtstellung der weißen Rasse vor der gelben und schwarzen auf dem Spiel. Zwar wusste man, dass alle Kulturvölker Mischvölker waren, aber es ging um die Konstanz der erreichten Typenkonstellation in den komplex zusammengesetzten Nationen der Grundrassen.127 Die Überfremdungsidee ist wie die Vorstellung von einer Höherbegabung und physischen Vorzugstellung von Völkern und Klassen ein Beispiel dafür, dass die Eugenikbewegung im Schutze ihres im Publikum als wissenschaftlich erachteten biologistischen Anstrichs nicht davor zurückschreckte, die Lücken im beweisbaren Faktenmaterial ihrer Theorie mit Vorurteilen, ideologischen, phobischen und panisch-reaktiven Elementen aufzufüllen. In das Muster neurotisch-psychotischer Gedankenübertreibung passt auch die These von einer schleichenden Entartung der Bevölkerung durch gesunde Träger rezessiver Erbanlagen für geistige Störungen,128 die selbst im NS-Sterilisationsgesetz keine Berücksichtigung fand, da sich die Diagnose solcher Tatbestände nach dem Vererbungsgang als unmöglich erwies.129 – Die eugenische Sozialtechnologie einer kombiniert quantitativ-qualitativen Bevölkerungssteuerung entbehrte vollends einer geschlossenen wissenschaftlichen Grundlage, sie trug vielmehr als körperlich-seelisch invasives Praxisprojekt ex ovo das mörderische Kainszeichen einer zwingend zum Scheitern verurteilten zynischen Utopie. Viele der vorgeschlagenen Maßnahmen waren schon durch Bevorzugung auf Dauer angelegter staatlicher Kontrolle und Machtvollkommenheit vor demokratisch-individuellen Freiheitsrechten gesellschaftlich undurchführbar. Die Eugenikbewegung insgesamt war primär eine bevölkerungspolitische Bewegung, die ihre Wirkungsbasis durch Verwissenschaftlichung zu verbreitern und zu verstärken suchte, diesem Ziel sich allenfalls aber nur approximativ annäherte.130 Sie war insofern wissenschaftsorientiert, als sie sich überwiegend aus Wissenschaftlern der unterschiedlichsten Disziplinen zusammensetzte. Erst nach dem Weltkrieg gewann ihre ersehnte Szientifikation durch Ausarbeitung einer spezifischen Methodik (Standardisierung der Erhebungsmethoden, Vergleichsstudien, Datenbanken, Interdiszipli-
127 128 129 130
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Kü. S. 43, 54, 66ff., 70. Kü. S. 31. Weindling 1989. Kü. S. 27f., 32, 37 u.ö.
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narität) an Fahrt.131 Zugleich entwickelte sich ihre Rezeption in den gesellschaftlichen Gremien und Institutionen positiv. Trotzdem erreichte die Eugenik im Ganzen nie den gesicherten Status einer etablierten Wissenschaft, es kam sogar zu einer »Entwissenschaftlichung«. In Deutschland musste sie sich vor 1933 wissenschaftlich von Lehrstühlen ihrer Partner- und Hilfswissenschaften vertreten lassen (abgesehen vom ersten Extraordinariat für Rassenhygiene in München). In Deutschland bereiteten der Eugenik jeweilige öffentliche Stimmungslagen den Weg. Vor den Krieg wurde das »generelle Niedergangsbewusstsein des Fin des siècle«132 zum Einfallstor für die eugenische Degenerationstheorie. Nach dem Krieg schuf die das ganze Reich erschütternde politische Katastrophenerfahrung die Voraussetzungen für eine allgemeine Innovationspolitik nicht zuletzt auf sozialpolitischem Gebiet mit dem Ziel einer physischen und sozioökonomischen nationalen Rekonstruktion. Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass gerade unter den Eugenikern in allen demokratisch-politischen Lagern patriotische und nationale Einstellungen anzutreffen waren. Die Aufgabe, die auf sie wartete, war komplex, widerspruchvoll, letztlich unlösbar und bewegte sich von daher in einer utopischen Atmosphäre. Angesichts der schweren Kriegsverluste traten die Eugeniker an, das Kunststück fertig zu bringen, Bevölkerungszahl und -qualität durch entgegengesetzte Maßnahmen, Geburtenförderung und Geburtenkontrolle, gleichzeitig anzuheben. Die »wohlfahrtsorientierten«, aus der Sozialhygiene herkommenden Eugeniker sahen sich vor die zusätzliche Schwierigkeit gestellt, die von ihnen primär umsorgten, zeitweise kinderreicheren niederen Klassen wegen ihres dysgenischen Verhaltens qualitativ-eugenisch eher restriktiv behandeln zu müssen, dagegen den kinderärmeren, aber erbbiologisch wertvolleren höheren Klassen auf Kinderzahl bezogene zusätzliche Hilfe angedeihen zu lassen. Eine auf eugenischen Praktiken beruhende Bevölkerungspolitik musste darauf hinaus laufen, liberale und rechtsstaatlich-demokratische Traditionen schrittweise abzubauen und durch staatsautoritäre Machtmittel zu ersetzen.133 Die breite Bevölkerung bewahrte sich allerdings aus ethischen und politisch-demokratischen Gründen eine ablehnende Haltung gegenüber den ventilierten staatsinterventionellen Maßnahmen. So galt es, die Bevölkerung stufenweise unter Aufwendung von Tricks und speziellen Techniken von der Notwendigkeit einschneidender, die Nation spaltender Staatsmaßnahmen zu überzeugen, die auf Jahrzehnte, wenn nicht auf Jahrhunderte 131 | Kü. S. 37, 76ff. 132 | Weingart et al. 1992, z.B. S. 78 Anm. 80. 133 | Im Blick auf das Zweckbündnis zwischen Arzt und Staat würden wir die Rolle der Professionalisierung in der Gesellschaft noch differenzierter sehen als Weindling. Sicherlich bringt sie Berufsgruppen dazu, sich ihrer Macht über die Bevölkerung bewusst zu werden (Qualifikation bedeutet immer Machtzuwachs!). Wirklich gefährlich wird die korporative Berufsmacht für den Bürger erst dann, wenn sie sich mit dem Staat gegen die eigene Klientel verbündet, sich autoritäre Staatsmacht mit Berufsautorität zwecks Bevölkerungskontrolle vereinen.
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(nach Grotjahn über einen Zeitraum von 5-10 Generationen) Freiheitsrechte einschränken und Staatskontrolle auferlegen würden. Die verantwortlichen Politker und Wissenschaftler im Gesetzgebungsverfahren nahmen ihre Zuflucht zu taktischen Manövern und sukzessivem Vorgehen in Planungsetappen, um die eigentlichen Absichten zu verdunkeln, was diesen Komplex einer immerhin wohlfahrtrsorientierten Sozialpolitik mit einem Fluidum von Unwahrhftigkeit umgab.134
7.3.2 Eugenik als Planungsprojek t im sozialisier ten Volksstaat Die voranstehende Übersicht zeigt, dass die Grundvorstellungen und Lösungsansätze zur eugenischen Frage, die Grotjahn in seinem gesamten Oeuvre, nicht nur in der »Hygiene der menschlichen Fortpflanzung« übermittelte, zum größten Teil nicht seiner individuellen Denkleistung entstammen, wie bis in die 80er Jahre des vergangenen Jahrhunderts vielfach geglaubt wurde. Vielmehr sind sie vorgegebene Elemente, ja Versatzstücke eines buchstäblichen »Weltbilds«, das sich die Eugeniker der Zeit seit Ende des 19. Jahrhunderts global auf bauten. Für Grotjahn handelte es sich bei seinem eugenischen Hauptwerk um den »Versuch einer praktischen Eugenik«, wie es im Untertitel heißt, also darum, die durch die internationale Bewegung in alle Welt verbreiteten Materialien in einem systematisch angelegten Lehrwerk zusammenzufassen, um sie so für eine politische Umsetzung im nationalen Raum aufzubereiten. Von Anfang an verliehen die Sozialhygieniker, allen voran Grotjahn und Gottstein, ihrem komplexen Ätiologiemodell, das die Krankheitslehre revolutionieren sollte, nicht nur den zusätzlichen sozialen Aspekt, sondern gestalteten es als eine Art Trias pathogenetischer Faktorenbündel: auslösendes Agens, ungünstige ökonomische Lebenslage und erbliche Anlage oder Konstitution.135 Für Grotjahn bildeten in der Pathogenese äußerer Auslösefaktor und inneres erblich-konstitutionelles Moment der Minderwertigkeit oder Entartung Gegenpole, zwischen denen die sozialen Umstände als Bindeglied in den Prozess eingriffen.136 Dass Art und Ausmaß der beteiligten Komponenten wiederum variierten, verstand sich von selbst. Der Vererbungsgedanke spielte in der Sozialhygiene seit ihrer Begründung eine wichtige, wenn nicht stellenweise zentrale Rolle. Nach seinem Einzug in die Krankheitslehre verhalf er dazu, die nach der Ära der akuten Epidemien sich ausprägende Präponderanz der chronischen Erkrankungen, die sich zu einer schweren Dauerbelastung für die Gesellschaft auszuwachsen drohte, zu erklären und auf Mittel der Abhilfe zu sinnen. Das Vererbungsthema begegnet uns in der Sozialhygiene einmal in Form der von ihr voll rezipierten Konstitutionslehre, an deren Entwicklung als Reaktion auf eine ein134 | Weingart 1992. 135 | G. S. 7; vgl. Martius 1923, S. 24. 136 | Z.B. G. S. 187.
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seitig bakteriologische Seuchenauffassung neben Ferdinand Hueppe, Oskar Liebreich, Ottomar Rosenbach und Friedrich Martius auch Adolf Gottstein beteiligt war.137 Sie unterstreicht die Gleichrangigkeit von erblich überkommener und erworbener Krankheitsanlage. – Dann erweckte natürlich die sich rasch erweiternde klinische Lehre von den eigentlichen Erbkrankheiten das Interesse der Sozialhygieniker. In letzter Konsequenz wirkte sich die Vererbungslehre im sozialhygienischen Bereich in der Eugenik oder Rassenhygiene aus. Letztere hatten, wie von uns im Vorabschnitt dargestellt, im Jahrzehnt vor der Jahrhundertwende in Deutschland Wilhelm Schallmayer und Alfred Ploetz in Anlehnung an Charles Darwin und Francis Galton aufgebaut 138 und ihnen zum Ziel gesetzt, gesundes Erbgut in den Bevölkerungsmassen der »Kulturvölker« zu erhalten und womöglich zu verbessern durch sozialtechnologische Ausschaltung von Erbkrankheiten und ererbten Krankheitsanlagen. Die genannten Denkrichtungen mit ihrer Focussierung auf das Erbgut als in Gegenwart und Zukunft mitentscheidender Faktor für die Volksgesundheit drängten die sich formierende Sozialhygiene in ein Dilemma. Die Sozialhygiene betrieb erklärtermaßen Bevölkerungsmedizin, daraus ergaben sich methodisch und inhaltlich Überschneidungen mit Bevölkerungswissenschaft und zukunftsgerichteter Bevölkerungspolitik. Bevölkerung ist je ein Sektor in einer Zeitreihe fortlaufender, ineinander übergehender Generationen.139 Konnte sich die Sozialhygiene des Gesundheitsschicksals der Gegenwartsgesellschaft annehmen, ohne angesichts ihres Datenmaterials auch an die zukünftige gesundheitliche Bevölkerungsentwicklung zu denken? In Übereinstimmung mit zeitgeistigen Auffassungen fragten sich bereits die Sozialhygieniker der ersten Stunde, ob ihre auf die untersten Bevölkerungsschichten gerichteten sozialen Interventionen nicht nur die durch äußere Umstände Benachteiligten, sondern in gleicher Weise die endogenbiologisch Schwachen und Minderwertigen begünstigten. Damit würden die Revisionsabsichten der Natur vereitelt, die Minderwertigen oder Entarteten zum Überleben und zur späteren Fortpflanzung befähigt, den Kulturvölkern mehr Schaden als Nutzen zugefügt. Die Parole konnte demgegenüber nur lauten: Erhaltung der sozialhygienischen Errungenschaften und eugenische Ausschaltung dadurch überlebenden minderwertigen Erbguts durch Reproduktionsbarrieren zur Bewahrung vor fortschreitender Entartung.140 Alarmierend wirkte in diesem Zusammenhang auch der sich seit der Jahrhundertwende abzeichnende kontinuierliche Geburtenrückgang.141 Nur 137 | Martius a.a.O., S. 18ff., 22ff.; Labisch 1997, S. 681f. 138 | G. S. 9ff. 139 | Grotjahn beobachtet schon bei G. Schmoller, seinem Lehrer in Sozialwissenschaften, die Tendenz, in den Begriff Bevölkerung ein »generative(s) Moment« einzuschleusen, S. 23. 140 | G. S. 97. 141 | G. S. 101 ff, ihre nationalen und fortpflanzungshygienischen Gefahren S. 104ff., 111ff.
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eine rationelle, gezielt durch ein Regelwerk Risiken und Chancen in der Bevölkerungsbewegung abwägende Fortpflanzungshygiene würde Geburtenrückgang und demographisches Minderwertigkeitsproblem zugleich unter Kontrolle bringen können.142 Grotjahns Eugenik ist der Versuch, trotz anhaltenden Geburtenrückgangs den Bevölkerungsstand in Deutschland innerhalb eines noch abschätzbaren Zeitraums143 von 5 – 10 Generationen mit rationellen, d.h. regelhaften, eher leicht anwendbaren »praktischen« Mitteln zu erhalten bzw. den nationalwirtschaftlichen Erfordernissen anzupassen und gleichzeitig die körperlichgeistige gesundheitliche Bevölkerungssubstanz zu steigern. Hierbei erweist sich die Einheit zwischen Sozialhygiene und Eugenik, ja es bewahrheitet sich eine Überordnung der letzteren in einem umfassenden hierarchischen System.144 Die Ziele der Sozialhygiene, weitverbreitete chronische Leiden (Volkskrankheiten) als schwärende Wunden am Volkskörper durch Besserung der sozialen Lage, durch Hebung des Volkswohlstands auszuheilen, werden durch das eugenische Regelwerk unter Berücksichtigung der Vererbungslehre von der Gegenwartspopulation auf eine Gesamtheit kommender Geschlechter, von einer Kulturetappe auf die nächste übertragen. Nur wenn man über die Grenzen der Gegenwartsgeneration hinwegschreitet, wird man die Forderung der Hygieniker Pettenkofer und Rubner erfüllen, die Gesundheitslehre habe Gesundheit nicht nur zu erhalten, sondern zu mehren und zu steigern. Wie Sozialhygiene Verallgemeinerung der hygienischen Kultur unter großen Zahlen ist, so ist Eugenik Sozialhygiene in größeren Zeiträumen. In dem seit der Jahrhundertwende (seit der 1. sexuellen Revolution) anhaltenden Geburtenrückgang, der vordergründig auf der allgemeinen Anwendung einer fortgeschrittenen Präventivtechnik beruht,145 sieht Grotjahn für das deutsche Volk national und wirtschaftlich eine ernstzunehmende Gefahr. Den Völkertod erachtet er zwar als seltenen und »anormalen« Vorgang, dennoch geistert dieser als Möglichkeit weiter durch seine Gedanken-
142 | G. S. 9. – Grotjahns Definition der Fortpflanzungshygiene hält sich an die der Sozialhygiene, indem sie methodisch auf die Erarbeitung ihrer Bedingungen die rationelle Beeinflussung ihrer quantitativen und qualitativen Entwicklung folgen lässt, s. auch S. 96. 143 | Hier distanziert sich Grotjahn von Darwin, dessen Lehre artänderndes Geschehen »in unendlich langen naturwissenschaftlichen Perioden« behandelt, während es ihm um menschliche Zustände innerhalb »umschriebene[r] geschichtliche[r] Zeiten« geht, die im Gegensatz zu den hypothetischen Gedankengängen ein »andrängende[s] empirische[s] Material« präsentieren, S. 6. 144 | G. S. 97f. 145 | Vgl. G. S. 103. – Es ist eigentlich erstaunlich, dass von kulturhistorischer Seite bisher niemals erwogen wurde, den zeitgenössischen Geburtenrückgang auch mit dem Auf kommen der Elektrizität in Zusammenhang zu bringen, so wie umgekehrt heute regionale Stromabschaltungen regelmäßig eine Steigerung der Geburtenrate zur Folge haben.
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welt.146 So droht z.B. durch den Geburtenrückgang »die schließliche Aushöhlung unseres Volkstums vom Osten her« durch die wachsende slawische Bevölkerung.147 Trotzdem darf man nach Grotjahn davon ausgehen, dass sich gegenwärtig die Bevölkerungszahl in Deutschland unter den durch Krieg und Nachkriegszeit eingeschränkten Lebensbedingungen in einem angemessenen Rahmen bewegt, auf dem erwünschten Mittelweg zwischen Unter- und Übervölkerung.148 Für die Zukunft gilt es, die Geburtenziffer so zu regulieren, dass sowohl die Bevölkerungszahl auf die nationalen und wirtschaftlichen Bedürfnisse eingestellt als auch das Bestreben nach einer Steigerung der Bevölkerungsqualität erfüllt werden kann. Bei einer so gearteten Geburtenkontrolle verbinden sich quantitativer und qualitativer Gesichtspunkt. Auf der einen Seite erfordert die dauernde Sicherung des Bevölkerungsbestands (»Bestandserhaltungsziffer«) in einem fortpflanzungshygienischen System die Erarbeitung von Regeln über die erstrebenswerte durchschnittliche Kinderzahl pro Ehepaar (»Dreikinder-Minimalsystem«).149 – Auf der anderen Seite lässt sich die Bevölkerungsqualität nur verbessern, wenn man alle Elternpaare im Generationsalter nach ihren Erbanlagen in drei Fortpflanzungskategorien einteilt: in die »völlig Geeigneten« (auch »Rüstigen«), die »bedingt Geeigneten« und die »Belasteten« (= Minderwertigen, Entarteten). Die Zugehörigkeit zu einer der jeweiligen Kategorien verpflichtet in entsprechendem Ausmaß zur Fortpflanzung bzw. schließt von ihr aus.150 Die Schwierigkeiten eines solchen rationellen Systems zur Behandlung von Massen liegen in den Methoden der praktischen Durchführung. Grotjahn setzt zunächst (zuweilen ganz irreal) auf Freiwilligkeit nach Motivierung durch Mobilisierung der öffentlichen Meinung mit Anerziehung eines »eugenischen Gewissens«.151 Sodann bedient er sich des Staats, auch in der Form seines sozialdienstlichen Verwaltungsapparats152 und vor allem seiner gesetzgeberischen Gewalt als Voraussetzung für den Einsatz von Zwangs146 | G. S. 16, vgl. Grotjahn 1904, S. 1022: Der gesellschaftliche Organismus läßt sich nicht mit dem biologischen Individualkörper vergleichen, da er sich als Konglomerat aus Individuen aus sich selbst heraus erneuert und bei ihm »körperlich ewige Fortdauer […] als das Naturgemässe geradezu vorausgesetzt werden muss«. Wenn er stirbt, dann »nicht an Altersschwäche, sondern an vermeidbaren Krankheiten«. 147 | G. S. 107. 148 | G. S. 55ff., vgl. S. 24. 149 | G. S. 127 ff. 150 | G. S. 140; aus den »Grundsätzen der Tierzucht« hat die Eugenik, wenn sie massenwirksam tätig sein will, eine Lehre zu übernehmen, dass nämlich »die elterlichen Individuen nach ihrer Eignung zur Fortpflanzung zu sondern sind«, S. 19. 151 | G. S. 245ff., 248ff. – Grotjahn glaubt sich in der Lage, in der eugenischen Frage durch Überformung von Bewusstsein und Gesinnung mit Appellen an Gewissen und Nationalgefühl in der Öff fentlichkeit an Boden gewinnen zu können, vgl. Tutzke zur »Gesinnungstheorie« 1958, S. 93. 152 | G. S. 97f., vgl. 328.
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mitteln.153 Dem Arzt, besonders in Beamtenstellung, fällt in diesem rationellen System eine (eher verhängnisvolle) Schlüsselstellung zu.154 Wer anders als er ist verantwortlich für die »Auswahl«, die Diagnosestellung, die Eruierung von erbpathologischen Diathesen, die Einordnung in Schweregrade, die Eheberatung und die Einleitung rationeller Gegenmaßnahmen. Der Arzt scheint ganzzeitig eingespannt in diagnostische Aussonderung, Beobachtung, Beratung und ggf. Behandlung generativ aktiver Personenkreise. Auch die leichten (»unwesentlichen«) und »verschleierten« Fälle gewinnen Relevanz als Stellen lauernder Minderwertigkeit. Millionen erbpathologisch Stigmatisierter oder potentiell Beeinträchtigter sind zu erfassen, damit deren Fortpflanzung verhindert oder eingeschränkt werden kann.155 Bevölkerungsweit lassen sich von Erbschäden Betroffene auffinden, die für die Fortpflanzung wenig oder gar nicht in Frage kommen: Astheniker, Tuberkulöse, Psychopathen, cerebral-neurologisch Kranke oder Gestörte, Alkoholiker, Suchtkranke, Diabetiker, sexuell Deviante, primär Erbkranke etc.156 Ein Dorn im Auge ist Grotjahn besonders der von der Konstitutionspathologie abgegrenzte Typ des Asthenikers, obwohl er »die gesamte Bevölkerung […] durchsetzt […]«. Er zeichnet sich neben anderem vornehmlich aus durch einen »schmalen, flachen und langen Brustkasten« und »schlaffe(r) und dürftige(r) Muskulatur«. Das Hauptindiz für sein Vorliegen ist indes die Tuberkulose. Auch wenn diese weiter zurückgeht, bleibt die asthenische Konstitution zugunsten des Starken und Rüstigen weiterhin eugenischrestriktiven Maßnahmen unterworfen. Allein die Zahl der Tuberkulösen und Tuberkulose-korrelierten Astheniker schätzt Grotjahn (sicherlich zu niedrig) auf 1 Million »Volksgenossen«. »Diese Million Menschen braucht es nicht zu geben«, offenbar in Zukunft dann nicht mehr, wenn dieserart Menschen heute »als Gegenleistung« für den Fürsorgeaufwand der Gesellschaft »auf Familiengründung und Fortpflanzung verzichten«.157 Träger bis dato verdeckt dysgenischer Anlagen könnten mit erfasst werden, indem »auch die Geschwister der offenbar Untauglichen« von der Fortpflanzung ausgenommen würden – »massenpsychologisch« ein allerdings noch nicht durchsetzbarer Gedanke.158 Die Eugenik erreicht ihre Ziele der Verhütung, Beschränkung oder Steigerung der Fortpflanzung zugunsten einer ausreichenden Bevölkerungszahl bei wachsender Bevölkerungsqualität im Wesentlichen mit drei Maßnahmen: der konventionellen Präventivtechnik, der operativen Sterilisation und der lebenslangen Asylierung mit einhergehender zölibatärer Lebensweise. 153 | Z.B. G. S. 190, 201, 317ff. 331ff. 154 | G. S. 82, s. »Kommunalärzte« S. 98, vgl. 185, 328ff. 155 | Zu den »bedingt Geeigneten« gehört etwa ein Drittel der Bevölkerung, G. S. 15, 133, 259; den gleichen zahlenmäßigen Anteil möchte der Münchener Rassenhygieniker F. Lenz von der Fortpflanzung fernhalten, Weingart 1992, S. 169. 156 | G. S. 255ff. 157 | G. S. 185ff., 189ff. 158 | G. S. 258.
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Der Schwangerschaftsabbruch aus eugenischer Indikation behauptet sein Recht nur am Rande in Sonderfällen. – Die Präventivmittel haben sich in der Bevölkerung seit 1870 auf breiter Front durchgesetzt und sind Hauptursache des Geburtenrückgangs.159 Trotzdem spricht sich Grotjahn für eine Legalisierung der Kontrazeptiva aus, da ihnen in seinem eugenischem System zur Auswahl des Erbguts eine Basisrolle zukommt und sie als spezifisches Schutzmittel vor Geschlechtskrankheiten von unschätzbarem Wert sind.160 Die eingreifenden, seelisch invasiven Maßnahmen der Sterilisation und Dauer-Asylierung kommen auf der Basis sowohl der Freiwilligkeit als auch des gesetzlichen Zwangs zur Anwendung.161 Grotjahn versteht sein eugenisches Programm als Stufenprozess, die Eugenik insgesamt als über Generationen fortschreitende Wissenschaft. Für Art und Umfang der notwendigen Maßnahmen fehlen in der Öffentlichkeit noch die »massenpsychologischen« Voraussetzungen162 oder m. a. W.: die Aufnahmebereitschaft für ihre Radikalität. Die Zeit ist noch nicht reif für eine frei waltende, planmäßige Eugenik. Die institutionelle und gesetzliche Infrastruktur lässt noch zu wünschen übrig, auch aus diesem Grund bleibt manches der Zukunft überlassen. Für Grotjahns eugenisches Hauptwerk ist charakteristisch, dass sich der Autor trotz seines radikalen Ansatzes im Vergleich zu früheren Aussagen, z.B. in der »Sozialen Pathologie« hinsichtlich der Intensität und des Ausmaßes der geforderten Eingriffe eher zurücknimmt und allenfalls auf kommende Entwicklungen verweist. Durch diese Selbstdisziplin gedenkt er offenbar die wissenschaftliche Rezeption und gesellschaftliche Akzeptanz seiner ungewöhnlichen Vorstellungen zu steigern. Zwischen den Zeilen lassen sich jedoch die gigantischen Umrisse seines eugenischen Projekts unschwer erkennen. Seine Diktion ist geprägt von imperativem Vokabular. Immer wieder ist da die Rede von Verbot, Verzicht, Pflichten, Zwangsmaßnahmen, Fortpflanzungssperre, arbeitet der Autor mit Verben wie ausmerzen, auferlegen, vorschreiben, zulassen, ausschließen, hindern, fernhalten, müssen, nicht dürfen.163 Die staatlich-gesetzlich autorisierte eugenische Auswahl beabsichtigt nichts weniger als das Herausfi ltern und schließlich auch die Hochzüchtung eines neuen Menschenschlags,164 besonders dann, wenn zu »einer späteren Zeit« sich überwiegend nur noch »Rüstige« fortpflanzen, während »bedingt Geeigneten«, deren
159 | G. S. 84f., 103. 160 | G. S. 64. 161 | G. S. 318, 331ff. 162 | G. S. 334. 163 | Vgl. Abschnitt 12.10, S. 315, hier auch Fußnote 106. Die verräterische und möglicherweise verheerende Wirkung der Diktion Grotjahns, also sprachlicher Elemente in seinen Schriften findet in der Literatur kaum Missbilligung, noch am ehesten bei Roth 1984, S. 30ff. 164 | G. S. 337f.
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Zahl Grotjahn auf ein Drittel der Bevölkerung schätzt, ggf. die Fortpflanzung verwehrt werden kann.165 Nach Rückgang der Lungenschwindsucht sind auch nichttuberkulöse Astheniker von der Fortpflanzung auszuschließen, »damit die Bevölkerung allmählich von ihnen befreit wird«.166 – »Die Astheniker und andere mit körperlichen Erbübeln Behaftete könnten aus der Bevölkerung verschwinden, ohne dass man ihnen eine Träne nachzuweinen brauchte«.167 Eine Million von ihnen »braucht es nicht zu geben«.168 Die eugenischen Regeln sind geeignet, die Astheniker aus der Fortpflanzung »herauszuwerfen«.169 Den Bisexuellen »ist die Ehe zu verbieten«.170 Minderwertige, Entartete, Untaugliche, Belastete sind durch praktische Eugenik unschädlich zu machen oder auszumerzen. Diese Sprache ist, wenn auch ungewollt, im Verein mit dem Verfahren der erbgesundheitlichen Rubrizierung und Kategorisierung eines ganzen Volkes und den »Heilmitteln« Zwangssterilisation und lebenslange Zwangsasylierung mit Arbeitseinsatz zur Kostendeckung die Vorschule eines Denk- und Handlungsstils, der wenige Jahre später ein mörderisches politisches System durchdringen sollte.171
7.3.3 Kritische Schlussbewer tung der Grotjahnschen Eugenik: Von der Analyse zur qualitativen Steuerung der Bevölkerungsgesundheit In der neueren Literatur beobachten wir die Tendenz, die Bedeutung Grotjahns als Eugeniker für die nachfolgende politische Entwicklung in Deutschland von unterschiedlichen Ansätzen her zu verharmlosen. Für Tutzke als 165 | G. S. 259. 166 | G. S. 255. 167 | G. S. 201. 168 | G. S. 189. 169 | G. S. 189. 170 | G. S. 257. 171 | Im Abschnitt über die Frauenbewegung wendet sich der Autor aus eugenischen Gründen gegen Berufstätigkeit und Studium jüngerer Frauen mit Vorstellungen und Worten, die seine ganze Rigorosität erkennen lassen. Ggf. hat der Staat einzugreifen. »Die außerhäusliche Erwerbstätigkeit der Mütter (kann) in Zukunft nicht lediglich Privatsache bleiben […], sondern muß der öffentlichen Kontrolle unterstellt werden. Denn wenn zahlreiche Mütter außerhäuslicher Berufstätigkeit nachgehen oder nachgehen müssen, so kann das auf die Dauer nicht ohne verhängnisvolle Wirkungen auf die Gebär-, Still- und Aufzuchtleistungen der Frauenwelt bleiben […]. Selbst ein vollständiges Verbot der außerhäuslichen Berufsarbeit für die Ehefrauen in den ersten beiden Jahrzehnten der Ehe würde sich hier rechtfertigen lassen […]. Gegen die dysgenische Wirkung des Frauenstudiums gibt es kaum ein anderes Mittel als das Bestreben, es möglichst nur Einzelleistung bleiben, nicht aber zur Massenerscheinung und für die Töchter des intellektuellen Mittelstandes typisch werden zu lassen«, G. S. 302f.
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Vertreter einer DDR-Sozialhygiene erscheint Grotjahns Eugenik als Produkt des herrschenden »Zeitgeists«, das angesichts der genuinen Leistungen des Gelehrten für Grundlegung und Entwicklung der Sozialhygiene vernachlässigt werden darf.172 – Kühl, Historiograph der internationalen eugenischen Bewegung, beschäftigt sich mehr mit dem politisch-wissenschaftlichen Gesamtstoff, mit Diskussionen und Manövern von Gesellschaften, Ausschüssen und Kongressen als mit ausgeführten Lehrauffassungen Einzelner. Den »Eugeniker der ersten Stunde«173 behandelt er lediglich als Mitspieler im Massenaufgebot der Globalplayer, vermerkt gelegentlich seine führende Mitarbeit in der internationalen Bevölkerungswissenschaft, verliert aber kein Wort über einen posthumen Einfluss seines Eugenik-Konzepts auf missbräuchliche Praktiken und Szenarien der NS-Gewaltherrschaft. Überhaupt verwahrt sich der Autor dagegen, der Eugenik allgemein eine Schrittmacherfunktion oder Vorreiterrolle gegenüber dem NS-Regime zuzuschreiben.174 – Weingart et al., die Historiographen der deutschen Eugenik, akzeptieren den Berliner Wissenschaftler als Oberhaupt der moderaten Eugeniker im Lande, weil er im Gegensatz zu seinen »völkischen« Kollegen in München keine Rassenaufartung angestrebt, sondern sein Projekt nur auf die klinisch bekannten Erbkrankheiten ausgerichtet habe, um einen basalen Ausgangsstatus der Bevölkerungsgesundheit aufrechtzuerhalten.175 – Weindling als Medizinhistoriker untersucht den Komplex Eugenik strukturgeschichtlich als politischen Prozess. Für ihn errang die Eugenik nach dem 1. Weltkrieg in der Sozialhygiene mehr und mehr die Vorherrschaft. Sie erschien der Zeit als politisch praktikable Sozialtechnologie, die gemäß der Sichtweise Grotjahns geeignet war, den immanenten Strukturfehler der Sozialhygiene, ihre Wohltaten an alle Bedürftigen ohne Ansehen des Erblichkeitsfaktors ausschütten zu müssen, zu korrigieren. Danach waren in der Weimarer Ära offenbar die meisten (unter ihnen auch jüdische) Sozialhygieniker mehr oder weniger und oft in erster Linie Eugeniker, die als Gefolgsleute des Wohlfahrtsstaats auf allen gesellschaftlichen und beruflichen Ebenen das eine Ziel einer physischen und numerischen Erneuerung der durch den Krieg hart mitgenommenen deutschen Bevölkerung verfolgten.176 An dieser Stelle bietet sich ein Anhaltspunkt für unsere Kritik. In unseren Augen geht es nicht an, die deutschen Sozialhygieniker aus der Berliner 172 | Tutzke 1979, vgl. Kap. 6.7. 173 | Kü. S. 114. 174 | Kü. S. 11. 175 | Weingart et al. S. 150ff. – Eher scheint Kaspari geneigt zu sein, Grotjahn Aufartungstendenzen zu unterstellen, 1989 (b), S. 331, vgl. 322. Letzterer spricht aber nur einmal am Ende der Fortpflanzungshygiene von »Höherzüchtung«, was eher zu seinen spezifischen Inkonsequenzen zählt. In der Regel erstrebte er mit seinen eugenischen Techniken lediglich den Aufstieg der Volksgesundheit von einer degenerationsbedingten niederen Stufe zum ursprünglichen, naturgegebenen Ausgangspunkt. 176 | Weindling S. 334ff., 349f., 353ff., 357, 378 u.ö.
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Schule der 20er Jahre einigermaßen unterschiedslos als Eugeniker zu apostrophieren, so wie Grotjahn, ihr Begründer und Bannerträger, zweifellos vorrangig ein solcher war. Die eugenische Weltbewegung und die autoritativen Deklarationen Grotjahns blieben sicherlich nicht ohne Wirkung auf sie. Der Teilnahme am politischen Diskurs über praktische Eugenik in Kommissionen, Publizistik u.a. konnten sie nicht ausweichen. Aber gerade hier zeigt sich die Bedeutung der ergo- literarographischen Quellenauswertung. Gottstein und Fischer als von Weindling, aber auch von Labisch zitierte angebliche Gesinnungsfreunde und Mitläufer stehen bei aller Loyalität gegenüber Grotjahn in ihren systematischen Hauptwerken Problem und Praxis der Eugenik durchaus kritisch gegenüber, wie ihre zahlreichen Argumente und Einwände gegen deren Tragweite in den einschlägigen Kapiteln erkennen lassen. Dagegen war Grotjahn der einzige im deutschen sozialhygienischen (nicht rassenhygienischen) Lager, der die Eugenik zum wissenschaftlichen System auszufeilen suchte, um ihr praktisch-politische Wirksamkeit zu verleihen.177 Um die Eugenik auf dem Weg der praktischen Verwirklichung voranzubringen, unternahm er es als einziger in der Fraktion der nicht völkischen Eugeniker, Sozialhygiene und Eugenik konsequent gleichzuschalten. Dies erleichterte aus seiner Sicht die Umsetzung der letzteren in die politische Praxis gegenwartsnah im Rahmen des Wohlfahrtsstaats. In den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts führten Wilhelm Schallmayer und Alfred Ploetz, wie oben bereits angemerkt, übrigens unbeeinflusst vom englischen Original,178 mit ihren Büchern die Eugenik in Deutschland ein. Alfred Grotjahn, der Begründer der Sozialhygiene, beschlagnahmte schon vom Start an die Eugenik für seine neue Wissenschaftsdisziplin. National und international gehört er mit seinen Veröffentlichungen und Aktivitäten zu den Eugenikern »der ersten Stunde«.179 Schon als Privatdozent, erst recht später als erster Ordinarius für Sozialhygiene in Deutschland verschmolz er die Eugenik mit dem von ihm in Berlin vertretenen akademischen Fach. In der »Berliner Schule« repräsentierte er einen Flügel der deutschen Eugenik, der vielfach als eher »moderat«, als technokratisch und wohlfahrtsstaatlich orientiert angesehen wird im Gegensatz zum völkisch-rassistischen Flü-
177 | Nach Grotjahn fehlte es bisher im Gegensatz zur sozialen Hygiene auf dem mit ihr »so eng verzahnten Gebiete der Eugenik« an einem den Stoff zusammenfassenden Lehrbuch, das die sozialwissenschaftliche und bevölkerungspolitische, d.h. die praktische Seite der Eugenik gegenüber ihrer theoretisch-biologischen in den Vordergrund stellt. Das Thema muss heißen: Was sollen wir in der gegebenen Situation tun? Die wissenschaftlichen Erkenntnisse zu Beantwortung dieser Frage sind »an den richtigen Stellen zusammenzusuchen«, G. S. Vf. – Typisch für die Praxisorientierung seines Eugenikbuchs ist z.B. die Art, wie er seinen Vorschlag zu einer Elternschaftsversicherung in der Paragraphenform einer Gesetzesvorlage vorträgt, G. S. 235ff. 178 | Weingart et al. S. 37. 179 | Kü. S. 114.
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gel der »Münchner Schule« eines Fritz Lenz oder Ernst Rüdin.180 Auf jeden Fall erscheint Grotjahn mit seinen Originalarbeiten auf eugenischem Gebiet in Deutschland als in seiner Art singuläre, führende Gestalt und in der internationalen Bewegung als eine der frühesten Repräsentationsfiguren, zu keinem Zeitpunkt aber jemals isoliert als »bloßer« Sozialhygieniker. In Deutschland war er Anfänger und Vollender eines eugenischen Praxisversuchs, dessen utopisch-illusionistischen Grundvoraussetzungen allerdings das Scheitern vorprogrammierten. Wenn Grotjahn auch viele Vorstellungen mit dem internationalen Verbund teilte, wobei manche durchaus auch von ihm beeinflusst sein könnten, war er der maßgebliche, nicht rassistische deutsche Eugeniker, der das Gebiet systematisch ausbaute unter Einschluss eines sozialrechtlich-technologischen Verfahrens für eine biologisch-substantielle Volkssanierung. Diese betraf nicht nur die Ausschaltung von Erbkrankheiten, sondern auch die sozial Devianter, des asthenischen Konstitutionstyps und zukünftig auch eines weiteren generativ aktiven Personenkreises, der zur Fortpflanzung »weniger Geeigneten«. In anbetracht dieser Form eines radikalen, obsessiv-aggressiven sozialen Reformeifers auf national-praktikabler Ebene kann keine Rede davon sein, dass Grotjahn hinter der gewaltigen »Internationalen der Eugeniker/Rassisten« in der gesellschaftlichen Konstellation der Weimarer Zeit als relevanter politischer Typus an Bedeutung verliert oder gar in toto verblasst. Am Firmament der internationalen Eugenik glänzt Grotjahn kaum als Gestirn. Im nationalen Raum in der gegebenen politischen Situation sind seine Thesen dennoch nicht weniger brisant. Eine Reihe von Tatbeständen bewahrt ihnen ein prekäres Timbre. Für sein Vorhaben einer praktischen Eugenik, das über einen langen Zeitraum angesetzt war, benötigte Grotjahn (und alle auf eine praktische Gesamtlösung Versessenen) die Mitarbeit eines starken, möglichst autoritären Staats, dessen Gesetzesgewalt und Vollzugsinstanzen imstande waren, gegenüber der Massenbevölkerung die Aufgaben der Erfassung, Rubrizierung, Rekrutierung, Intervention und Kontrolle zu übernehmen.181 – Die zeitgenössische Gesellschaft, die auf individuelle Freiheitsrechte pochte und in der sich Millionen potentiell nachteilig Betroffener befanden, schätzte Grotjahn in Bezug auf seine Pläne als rückständig ein. Er appellierte an ihr »moralisches Bewusstsein« und drängte auf ihre Umerziehung zu einer »eugenischen Gesinnung«.182 Es bleibt zu hoffen, dass bei den Eltern – wenn auch »erst nach schweren Erschütterungen des gesellschaftlichen Gefüges« – ein »Wille zum Kinde«, auf dem Gebiet der Fortpflanzung »eugenisches Verantwortungsgefühl, Züchterinteresse 180 | Kü. S. 48f., vgl. Weingart et al. 1992, 150ff. 181 | Genau dieses Problem der Umsetzung mit Zwangsmitteln unter autoritären Verhältnissen, der »etatistische Anti-Individualismus«, bewirkte seit Ende der 20er Jahre neben divergierenden Vorstellungen der auf kommenden Humangenetik den Verfall der mit der deutschen zeitweise gleichauf liegenden amerikanischen Eugenik, Weingart et al. 1992/98 S. 363f. 182 | Z.B. G. S. 211ff. u.ö. in anderen diesbezüglichen Publikationen.
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oder gar Rekordeifer« erwachen.183 Sein eugenisches Projekt ließ sich der Gesellschaft in der gegenwärtigen Verfassung nur portioniert schmackhaft machen. Als »politischer« Reformer beherrschte Grotjahn die Strategie der psychologischen Vorbereitung eines Massenpublikums und verfügte auch in seinen Büchern über das Repertoire des Taktierens, Vernebelns und der kryptischen Rhetorik. – Hier treffen wir auf eine Widersprüchlichkeit in seiner Denkstruktur, eine Neigung zu Ambivalenz und antinomischer Aussage, die ihn insbesondere als Systematiker der Eugenik kennzeichnet. Rassen als Kulturrassen oder biologische Rassen, Darwinismus ja oder nein bzw. in welchem Umfang, Aufrechterhaltung der Bevölkerungsqualität oder Höherzüchtung, Freiwilligkeit oder Zwang in der Eugenik, Gefahr des Volkstods ja oder nein, methodisch-wissenschaftlicher oder ideologischer Ansatz, Entwicklungsstand der Vererbungslehre als Basis der Eugenik ausreichend oder nicht – die offenen Alternativen stellen Geduld und Wohlwollen des historiographischen Beurteilers auf die Probe. Am verhängnisvollsten wirkte sich Grotjahns Ambivalenz in der Konsequenz aus, mit der er Sozialhygiene und Eugenik auf Fächerbasis zu fusionieren suchte, sodass zwei Jahrzehnte später die politische Katastrophe beide in einem diskreditierte. Der Begründer und Bannerträger der Sozialhygiene wurde für sie auf diese Weise auch zum Wegbereiter des Niedergangs. In Kenntnis der post festum einbrechenden NS-Realität erschrickt man innerlich vor den wiedergegebenen Äußerungen Grotjahns und fühlt sich überwältigt von der präfaschistischen Attitüde seiner Eugenik. In dieser Lage hat sich der stets unzulängliche Versuch oder die fragwürdig-wohlwollende Versuchung einer objektiv-abwägenden Sachkritik an folgenden Fakten zu orientieren: 1. Grotjahn erteilt Militarismus und Imperialismus als dysgenischen Geschichtsmächten eine Absage. Auch hier folgt er mindestens in Teilen einmal mehr einer in der internationalen Bewegung vorgegebenen Argumentation. Antimilitarismus hatte sich seit der Jahrhundertwende, verstärkt seit der Zeit des 1. Weltkriegs, in der globalen eugenischen Diskussion zum Topos entwickelt. Krieg wurde nicht länger wie ursprünglich im darwinistischen Sinn als Selektionsmittel beurteilt, sondern unter dem Eindruck der Vernichtungsmaschinerie moderner Großkriege als dysgenisches Ereignis verdammt. Fortan huldigte man einem weniger moralisch als eugenisch begründetem Pazifismus.184 – In der Verbindung von Krieg und Imperialismus bezieht Grotjahn das Sujet auf deutsche Verhältnisse. Nach dem verlorenen Krieg verbietet sich für das deutsche Volk jede »horizontale Expansion«, stattdessen hat es seine Lebensziele in vertikaler Richtung im Sinne einer Ausdehnung und »Vertiefung« seiner Kultur »durch alle Schichten der Bevölkerung« hindurch anzuordnen. Überhaupt geht die Zeit des Imperialismus angesichts der 183 | G. S. 206; vgl. Weingart et al., S. 173. 184 | Kü. S. 40, 42ff.
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Erkenntnis vom Selbstbestimmungsrecht der Völker ihrem Ende entgegen. Seine Fragwürdigkeit besteht darin, dass er nur einer dünnen Oberschicht dient, dem Volksganzen aber durch Menschentransfer und dauernde Unterdrückungsgewalt zersetzende Belastungen auf bürdet. Im Rahmen der Völkerverständigung erstrebt die Eugenik an Stelle »der kriegerischen Auseinandersetzungen die völkerrechtliche Entscheidung«. In zeitgenössischer Gelehrtensprache scheint sich Grotjahn zu der Überzeugung durchgerungen zu haben: Auch ohne Imperialstatus kann Deutschland im internationalen Wettbewerb eine Spitzenposition erlangen – als »kultiviertester Nationalstaat im Herzen […] Europas«.185 2. Grotjahn verwirft das »Massenvorurteil des Antisemitismus«. Er verwahrt sich dagegen, die Eugenik mit dem »affektstarken Dogma der arischen Rassentheorie« Gobineaus in Verbindung zu bringen und das Falsifi kat zur »pseudowissenschaftlichen Fundierung des Antisemitismus« zu missbrauchen.186 Rassistische Gedanken oder Gefühle waren ihm als Vertreter einer »voraussetzungslosen« und wenig »gefühlsbetonten« Forschung fremd. Es kommt ihm das Verdienst zu, die Eugenik mittels vorausschauender Abgrenzungen aus der Rassenlehre herausgehalten zu haben. Das Wort »Rasse« habe wie kaum ein anderes zu Missverständnissen geführt. Es gehöre in das terminologische Arsenal von Anthropologie, Urgeschichte und Völkerkunde. Aber auch sie erforschten eher »Rassengemische« mit allenfalls vorwiegenden Rassenmerkmalen.187 – Viele Mitarbeiter, befreundete Fachkollegen und Schüler Grotjahns waren jüdischer Abkunft. Man gewinnt durchaus den Eindruck, dass sich der Ordinarius für Sozialhygiene der überragenden Fähigkeiten jüdischer Wissenschaftler in seinem Umfeld bevorzugt bediente, wenn er sich seine Koautoren und akademischen Mitstreiter aus diesem Personenkreis auswählte.188 3. Entschieden wendet sich Grotjahn gegen die »Vernichtung lebensunwerten Lebens«, wie sie Karl Binding und Alfred Hoche 1920 gerade im Zusammenhang mit der Sterilisation als eugenische Maßnahme in Vorschlag gebracht hatten. Schon die Euthanasie als Sterbehilfe für unheilbar Kranke durch den Arzt verfällt seinem Verdikt. Der Arzt darf 185 | G. S. 56, 284ff. 186 | G. S. 83, 6. 187 | G. S. 10ff., 21. 188 | Für die 3. Auflage seines Standardwerks »Soziale Pathologie« 1923 betraute er fünf jüdische Kollegen mit der Abfassung ganzer Krankheitskapitel (C. Hamburger, R. Lewinsohn, A. Peyser, W. Salomon, G. Wolff ). Zwei seiner drei Habilitanden waren jüdischer Abstammung, desgleichen eine ganze Anzahl seiner 63 Doktoranden. Das Buch über die »Leistungen der deutschen Krankenversicherung« 1928 entstand in Zusammenarbeit mit seinem jüdischen Schüler Franz Goldmann, das durch dessen literarische Bestrebungen noch nach dem 2. Weltkrieg indirekt in den USA eine Rolle spielen sollte, s. Kap. 16.2. – Vgl. Kaspari 1989 (b), S. 317 und 327.
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sich niemals über das 5. Gebot hinwegsetzen, auch nicht zur »Tötung neugeborener Kinder mit angeborenen Defekten«. Eine solche »ernste Verletzung der elementarsten Sittengebote« ist nicht tolerabel.189 Bewusste aktive Tötung widerstrebt dem Pazifisten »nicht nur im Verkehr der Völker«.190 4. So sehr uns das glänzend geschriebene Buch in seinen qualitativ-therapeutischen Partien als glatte Utopie erscheint, deren irrelevanten Lösungsvorschläge mangels Praktikabilität erst gar keine Akzeptanz zulassen, enthält es in seinen analytischen Partien wertvolle zukunftsorientierte Beobachtungen. Sozialhygiene und Demographie gehen Hand in Hand. Sozialhygiene kann nicht sein ohne Bevölkerungspolitik, ohne den Versuch einer Einflussnahme auf die Bevölkerungsentwicklung und -gesundheit. Epidemien und Pandemien beherrschen wieder gesellschaftliches Terrain. Die statistisch erfassten Phänomene Geburtenrückgang, Anstieg der mittleren durchschnittlichen Lebenserwartung, die sich aufgrund von beiden verändernde Alterspyramide erweisen ihre Unaufhaltsamkeit bis heute. »Bevölkerungsbewegungen«, Verschiebungen von Menschenmassen, Einwanderungen, Auswanderungen bereiten der Politik bis heute Probleme. Die Gesundheitssicherung der sich ständig umstrukturierenden Bevölkerungsmassen in körperlicher, psychischer, sozialer und kultureller Hinsicht erfordert die Mobilisierung gesellschaftlicher Integrationskräfte. – Mit der ätiologischen Trias Auslösungsfaktor, Sozialfaktor und Erbfaktor wird die mehrgliedrige Formel entdeckt, die Entstehung und Entwicklung der Volkskrankheiten als gesellschaftsrelevanter chronischer Krankheitszustände aus dem Zusammenspiel einer Reihe unterschiedlicher Wirkungsgrößen erklärt. Damit erscheint das spätere Risikofaktorenmodell nicht nur formal-quantitativ bereits angelegt, sondern auch ein qualitatives Merkmal, die Vererbbarkeit gesundheitlicher Gefährdungsmomente, vorweggenommen. Erst die Konsolidierung genetischer Vorstellungen in der allgemeinen Pathogenese begründet den Denkwandel, aus dem die Epidemiologie der weitverbreiteten Risikoleiden, der essentiellen Hypertonie, der Arteriosklerose, der Stoff wechselkrankheiten, der psychiatrischen Störungen, der onkologischer Erkrankungen u.a. hervorgehen konnte. In diesem Sinne ließe sich grundsätzlich als Verdienst Grotjahn auffassen, als Sozialhygieniker die Erbanlagen bei der Entstehung von Volkskrankheiten mit Nachdruck zur Geltung gebracht zu haben. Sein Versuch, mit Hilfe der Eugenik das Erbgut zugunsten der künftiger Volksgesundheit auf bevölkerungspolitischem Weg zu beeinflussen, hat sich allerdings im Zusammenhang mit der politischen Entwicklung als verhängnisvoller Irrtum erwiesen. Der »innere« Erbfaktor, der die Gesundheit der Nachkommenschaft bestimmt, lässt sich eben nicht in gleicher Weise wie die äußeren 189 | G. S. 321f. 190 | Grotjahn im Berliner Tageblatt vom 27. 11. 1919, Kaspari 1986, S. 231.
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Ursachenfaktoren planmäßig-methodisch (»rationell«-sozialtechnologisch) verändern. Motive und Antriebe zur Ausschaltung schädlicher Erbfaktoren finden aber heute dennoch ihre Fortsetzung in Humangenetik und Gentechnik auf biologischem Weg.191 Bevölkerungspolitisch-eugenisches und biologisches Konzept der Erbgutbeeinflussung haben gemeinsam, dass sie jedes für sich manipulativ-invasiven Charakter tragen. Aufgrund der historischen Erfahrungen müssen wir uns bewusst bleiben, dass Eingriffe in die Grundlagen der Erbgesundheit immer mit der Gefahr unvorhergesehener Konsequenzen verbunden sind. Grotjahns Erbgesundheitskonzept und die Lehren, die wir aus dem nachfolgenden Geschichtshergang ziehen, verstärken die Entschlossenheit zur Kontrolle von Genforschung und Gentechnik. Sie sind und bleiben den Kautelen eines öffentlichen ethischen Standards unterworfen.192 In seiner 2. Autobiographie geht Adolf Gottstein auf »Prophezeiungen« in der Bevölkerungspolitik ein. Voraussagen als Schlüsse von Vergangenheit und Gegenwart auf die Zukunft haben nur dann einen Sinn, wenn bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind. Dazu gehört die »Beherrschung der Tatsachen«, d.h. die Einsicht, dass die Entwicklung niemals geradlinig unter einmal gegebenen, sondern wechselnd unter sich ständig verändernden Bedingungen verläuft, die im Ansatz z.T. längst fi xiert sein können und Veränderungen im Prozess »unausbleiblich« machen. Bevölkerungsstatistische Prognosen lassen sich nur in Form von Wahrscheinlichkeitsschlüssen mit Angabe von »Größe der Wahrscheinlichkeit« und »Dauer ihrer Geltung« erstellen. Um die Voraussetzungen für die Zukunft gleich zu halten, müssen in die Vohersagekurve »gemäß der ermittelten Gesetzlichkeit« Extrapolationen eingesetzt werden. Im Anschluss an Arbeiten von L. v. Mises und R. Pearl betont Gottstein, dass trotz solcher statistisch-mathematischer Korrekturen demographischen Voraussagen nur eine kurze Geltungsdauer über einen Zeitraum von maximal 2 Jahrzehnten zukommt.193 Auch Grotjahn will die Eugenik »nur auf Sicht«, aber immerhin »auf etwa fünf bis höchstens zehn Generationen hin« angelegt wissen.194 Er verkennt nicht, dass die Vererbungsbiologie noch in den Anfängen steckt. Das hält ihn nicht davon ab, den Vorhersagewert seiner Veranschlagungen und linear-geometrischen Berechnungen zur erblich-konstitutionellen Bevölkerungsentwicklung maßlos zu überschätzen. Bevölkerungspolitisch be191 | Unter Hinweis auf Strom 1955 vermutet Tutzke 1958 im Bereich der englischen oder gar »angelsächsischen« Bevölkerungswissenschaft und Sozialmedizin in der Wertung des »gesamten Vererbungs- und Umweltkomplexes« in Richtung einer Verquickung von Sozialhygiene und Eugenik eine Nachwirkung Grotjahns, a.a.O. S. 110. 192 | Ähnlich schon Stollberg, 1994, S. 41, s. aber 12.10, Fußnote 118. 193 | Gottstein in Koppitz/Labisch 1999, S. 235ff. – Zu seiner originären Kritik der eugenischen Vorstellungen Grotjahns s. besonders den Abschnitt 9.4.2, S. 235ff., vgl. Abschnitt 9.3.7, S. 225f. 194 | G. S. 6.
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schränkt er sich nicht auf wenige kommende Jahrzehnte, sondern versucht eine Weichenstellung für die nächsten Jahrhunderte. Dieser strukturelle Fehler im wissenschaftlichen Ansatz kennzeichnet Grotjahns Eugenik als Utopie, die – weit entfernt von rationeller Praktikabilität – ihre Strahlkraft erst im Gefolge eines politisch verderblichen Irrationalismus erweist. Grotjahns monographische Eugenik liegt wie ein Monolith in der sozialhygienischen Großlandschaft (andere Sozialhygieniker sind ohne ausgeführte Eugenik ausgekommen). Das Rätsel, das uns das Werk aufgibt, rührt daher, dass Grotjahn nicht imstande ist, den Menschen in seiner unabänderlichen Vulnerabilität individuell als schicksalhaftes Mängelwesen aufzufassen.195 Sein Menschenbild ist geprägt von der Idee einer gesunden Gesellschaft. Gesundheitslehre hat stets von der Gesellschaft, nicht vom Einzelnen auszugehen. Hier wird deutlich, warum Grotjahn gegenüber dem Begriff der Sozialmedizin an dem der »Sozialhygiene« festgehalten hat. Hygiene heißt Gesundheit durch Reinigung. Gesundheitliche Reinigungsmaßnahmen lohnen sich aber letztlich nur an der Gesellschaft, nicht am durch seine Erbanlagen determinierten Einzelnen.196 Die gesundheitliche Verfassung des Einzelnen ist allenfalls von sozialer oder ökologischer, nicht von der erblichkonstitutionellen Seite her zu steuern. Gesundheit im vollen, terminalen Sinn lässt sich nach Grotjahn aber realisieren über bevölkerungspolitische Beeinflussung des menschlichen Erbguts. Mit gezielten Maßnahmen kann es gelingen, Bevölkerung und Gesellschaft von ungünstigen, ungesunden Merkmalen zu befreien und – mit entsprechender Rückwirkung auf das Individuum – vollständig und auf Dauer zu sanieren. – Damit stehen wir am Ziel der Sozialhygiene: sich selbst überflüssig zu machen durch eine erfolgreiche Eugenik.197 Zum Schluss triumphiert ein perfektionistischer und puristischer Gesundheitsbegriff, der in der Utopie über eine Verabsolutierung der Gesellschaft in eine solche des Staates einzumünden droht.
195 | Zur Auffassung des Menschen als biologischem Mängelwesen s. Schipperges 1993, S. 43; vgl. Heinzelmann 1998, S. 32. 196 | G. S. 338; hier wie sonst auch mehrfach die Reinigungsmetapher. 197 | D.h. einen Gesellschaftszustand zu erreichen, »in dem die Eugenik den Oberbegriff bildete, nach dem sich alles übrige zu richten hätte«, G. S. 265.
8. Adolf Gottstein (1857-1941) — Ver waltungsmediziner als Vollender der Sozialhygiene in der Gesundheitsfürsorge
8.1 Gedenken und Gedächtnis in der Schwerpunk ts-Historiographie Adolf Gottstein ist einer der wenigen unbestritten grossen Gestalten der deutschen Sozialhygiene, dem zwar von historiographischer Seite – nach langer Latenzzeit von fast 60 Jahren post mortem – ein Materialienbuch mit Neuausgabe seiner ersten und Erstausgabe seiner zweiten (Fortsetzungs-) Autobiographie nebst »Lebenslauf im Überblick« gewidmet wurde,1 dessen verdienstvolles Leben und großartiges Werk aber bisher noch keine nach Ausmaß und Format angemessene monographische Würdigung erfuhr. Das posthume Schicksal des geringen Angedenkens an die Großmeister unter den Sozialhygienikern, von ihnen der größere Teil jüdischer Familienherkunft, geht auf das Konto unserer mit dem Zeitgeist in besonderer Weise verstrickten Sozial- und Medizin-Historiographie, die sich erst spät, z.T. nach inneren Lagerkontroversen der dringlichen offenen Problemlage bewusst wurde.2 Bei Gottstein kommen noch andere aufschlussreiche Gründe für den Affront in Betracht. 70 % seiner offiziellen Berufs- und Schaffenszeit fielen in die Ära des Kaiserreichs, nur 30 % verblieben ihm für seine Aufbau1 | K/L. 2 | Im Wesentlichen lassen sich drei Richtungen unterscheiden, die den Umbruch in der (west)deutschen Medizin- und Sozialhistoriographie hinsichtlich der deutsch-jüdischen Kulturträger bewerkstelligten. Eine erste wird am ehesten repräsentiert durch die Namen Karl Eduard Rothschuh, Heinrich Schipperges und Hans Joachim Schoeps mit Sezession der »Gesellschaft für Wissenschaftsgeschichte« aus der »Deutschen Gesellschaft für Geschichte der Medizin, Naturwissenschaft und Technik« 1964, eine zweite entwickelte sich um 1980 aus dem Lager der Sozialgeschichte der öffentlichen Gesundheitssicherung in der Gruppe um Alfons Labisch, die dritte Linie beginnt um 1985 mit der verstärkten Historiographie der jüdischen Emigration und Liquidation unter dem Nazi-Terror.
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tätigkeit im Dienste der Weimarer Republik. Bereits 5 Jahre nach Berufung zum höchsten preußischen Medizinalbeamten trat er nach Überschreitung der Altersgrenze um ein Jahr in den Ruhestand. Person und Lebensweg Gottsteins fehlt das offen Spektakuläre. In der Hitlerdiktatur wurden er und seine Frau 1935 amtlich als Juden erfasst und den bekannten gesellschaftlichen Restriktionen unterworfen. Man wird es als eine der Paradoxien des NS-Terrors verstehen müssen, dass der Hochbetagte offensichtlich keiner gewalttätigen Verfolgung ausgesetzt war, nicht aus Berlin vertrieben oder zur Emigration gedrängt wurde, noch deutschsprachig veröffentlichen konnte und nicht in den wirtschaftlichen Ruin getrieben wurde. Der Nachlass Gottsteins gilt nach Räumung seiner Wohnung ohne bestallten Betreuer als verschollen.3 Dieser Umstand und die Unauffindbarkeit zahlreicher amtlicher Tätigkeitsakten und der kommunalen und staatlichen Personalakten 4 erschweren die Erstellung einer dem universellem Standard genügenden Biographie. In dem von Ulrich Koppitz und Alfons Labisch herausgegebenen Materialienbuch stehen die Auto-Ergobiographien von 1924/25 und 1939/40 als in sich stimmiges, gänzlich unrepetitives biographisches Gesamtwerk von 252 Druckseiten an der Stelle einer Fremdbiographie, die – das müssen wir aufrechterhalten – ihm von den Sachwaltern der »Geschichte und historischen Soziologie der öffentlichen Gesundheitssicherung«5 bisher versagt worden ist. Denn man konnte ja nicht wissen, dass sich neben der alten kurzgefassten Selbstdarstellung von 1924 im Umfang von 37 Seiten 60 Jahre später, seit 1986 über einen Großneffen Gottseins eine zweite ergänzende, heute 213 Druckseiten umfassende Originalbiographie an das Tageslicht kämpfen würde.
8.2 Forscher und prak tischer Arzt – eine »facht ypische« Konstellation Seit seinem 14. Lebensjahr wollte Gottstein Arzt werden, unabhängig von Arztvorbild oder Krankheitseindrücken, allein beseelt von dem Gefühl, dass ihn »keine Wissenschaft den geheimnisvollen Rätseln des Lebens näher brächte, als die Medizin«. Als beruflicher Leitstern diente ihm die »Neigung zur Gesundheitspflege«, die er als junger Praktiker in sich entdeckte und die ihn zu den »Lehren vom normalen Leben«, d.h. zum Prinzip des primären Gesundseins des Menschen zurücksteuern ließ. Das weite Spektrum seiner Begabungen, wie es sich dem 1857 in Breslau geborenen Schüler am dortigen traditionsreichen Gymnasium zu St. Elisabeth darstellte, ließ ihn anfangs daran denken, seine medizinische Laufbahn nicht als Praktiker, sondern als Forscher 3 | K/L S. XLV. 4 | K/L S. XLVIf. 5 | K/L S. XIV. Immerhin stehen amtliche Unterlagen aus Gottsteins Charlottenburger Zeit zur Verfügung, Stürzbecher 1959, S. 374ff. Weiteres Material für eine größere Biographie ließe sich literarographisch gewinnen, da Gottstein seine Tätigkeit regelmäßig mit Publikationen begleitete.
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und akademischer Lehrer zu durchlaufen. Schließlich wurde er Forscher und niedergelassener Praktiker, eine Konstellation, wie wir sie oft gerade bei den bedeutenden Sozialhygienikern finden. Im Rückblick auf diese Doppelgleisigkeit wagte Gottstein die Einschätzung, seine Tätigkeit habe sich dadurch so vielseitig gestaltet »wie wohl bei wenigen Medizinern der Neuzeit«.6 Von 1875-1881 studierte Gottstein Medizin an den Universitäten Breslau, Straßburg und Leipzig. Seine Dissertation »Über marantische Thrombose« bei dem Pathologen Carl Weigert in Leipzig 1881 zeitigte nach eigenem Urteil kein vernünftiges Ergebnis.7 1881 während seines Militärdienstes als einjährig Freiwilliger arbeitete er auch ½ Jahr als Arzt im Garnisonslazarett. Im Frühjahr 1882 übernahm er die Stelle des damals einzigen Assistenzarztes am wenige Jahre zuvor neu eröffneten Städtischen Wenzel-Hancke’schen Krankenhaus in Breslau. Bei dem 160 Betten-Haus handelte es sich um eine Klinik für innere Krankheiten mit einer Männer- und Frauenstation zu je 30 Betten und einer Absonderungsstation von 100 Betten, die in epidemiefreien Zeiten mit »ruhigen Geisteskranken« belegt war. Es erinnert sehr an unsere heutigen Ausbildungsverhältnisse bzw. daran, dass sich über 120 Jahre ausbildungsmäßig in der Klinik wenig verändert haben dürfte, wenn Gottstein seine Ausbildung durch den leitenden Arzt, der an der Universität las und eine »große beratende Praxis« zu versorgen hatte, aus dem Grunde als »sehr gut« bezeichnete, als »er mir viel überließ, und ich den Ehrgeiz hatte, möglichst alles selbst zu erledigen«.8 Die innere Klinik fesselte ihn besonders, da sie seinen bakteriologisch-diagnostischen Interessen entgegenkam. Im Herbst 1883, zu einem Zeitpunkt, an dem er seine akademischen Pläne endgültig begraben hatte, gab er die Stelle wieder auf, um nach Berlin überzusiedeln, dort zunächst eine Weiterbildung in praktischer Geburtshilfe zu absolvieren und sich Anfang 1884 am Ort in eigener Praxis niederzulassen. Die Gesamtzeit seiner klinischen Ausbildung einschließlich seines Einsatzes als Lazarettarzt ist damit auf etwas mehr als 2 Jahre zu veranschlagen. Bis 1911, über einen Zeitraum von nunmehr 27 Jahren versah er eine Privatpraxis als niedergelassener Arzt in der Zeitfolge in sozialökonomisch unterschiedlichen Berliner Wohngegenden, wobei er insgesamt
6 | Go. I (= Gottstein in Grote Bd. IV 1925) S. 53. – Aufgrund der guten Dokumentation der Lebensdaten in 2 Autoergobiographien fühlen wir uns berechtigt, biographisch bei Gottstein wie bei Grotjahn zu verfahren, d.h. Fundstellennachweise einzuschränken und auf Mehrfachbelege zu verzichten. 7 | Go. I S. 58. – Ein Dissertationsexemplar ist nicht erhalten, ein solches könnte auch als handschriftliche Arbeit eingereicht und disputiert worden sein, K/L, S. XXVII. 8 | Go. I ebd. In Opposition zur angelsächsischen Fachausbildung blieben ihm medizinische Einzelkenntnisse und Fertigkeiten auf dem Boden einer guten allgemeinen Hochschulbildung zeitlebens Sache »der Selbstbildung und späteren Fortbildung«, ders. 1932, S. 13.
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eine sozial sehr gemischte Klientel mit wechselhafter Zahlungsfähigkeit zu betreuen hatte.9 Als »Privatarzt« (im Übergang zum späteren Sozialarzt, beide im Gegensatz zum Klinikarzt) konnte Gottstein seiner ausgeprägten erkenntniskritischen Einstellung freien Lauf lassen. War »das Mitgefühl mit den Leiden der wirtschaftlich schlechter Gestellten« der Ausgangspunkt in der Sozialhygiene für Grotjahn,10 kommt es nach Gottstein bei Volkskrankheiten als Massenerkrankungen nicht auf soziales Empfinden, sondern auf soziales Erkennen an. Mitleid ist für jeden Arzt selbstverständlich, aber nicht spezifisch für den sozialen Bereich! Hier entscheidet die rein intellektuelle Sichtweise in hohen Quantitäten (s.u.). Diagnostisch und therapeutisch gelangen Klinikarzt und Privatarzt hinsichtlich »ihres« Kranken zu ganz verschiedenen Schlussfolgerungen, ersterer bewertet den einzelnen Krankheitsfall »nach 100 Erkrankungen«, letzterer »nach 1000 gesunden Lebenden«. Dieser Standpunkt vom Zustand des gesunden Lebens aus ist dem Privatarzt möglich, weil er auch die leichten Fälle sieht, alle Fälle über viele Jahre beobachtet, die Krankheitsfolgen und die »Ausgänge ohne schulmäßige Behandlung« erlebt.11 – Klassisch für den Sozialhygieniker wirkt Gottsteins Schilderung des selbsterlebten Hausarztwesens. Die eingeplanten regelmäßigen Besuche gelten der ganzen Familie, Kinder und Hausangestellte werden untersucht. Das schaff t die Voraussetzung für Frühdiagnose und Vorbeugung. »Syphilis und Tuberkulose beim Dienstpersonal« werden frühzeitig erfasst. Die Hausarztbesuche erweisen ihren gesundheitserzieherischen Wert für die Jugend, erlauben Unterstützung bei Entwicklungsproblemen und bei der Berufswahl. Die Bevölkerung erkennt die Notwendigkeit der ärztlichen Beratung in hygienischen und erzieherischen Fragen auch in gesunden Tagen.12
8.3 Zwischen bak teriologischer Labor forschung und epidemiologisch-statistischer Analyse An externen Arbeitsstätten in örtlichen Einrichtungen (Poliklinik, Fachpraxis, hygienische und pathologische Institute) sowie einem kleinen Labor in der eigenen Praxis legte Gottstein eine wissenschaftliche Parallelschiene zur Praxisarbeit für seine experimentell-klinischen Forschungsaktivitäten. In einer 1. Phase der experimentellen Laborforschung, die sich von 1885 bis zum Ende des Jahrhunderts hinzieht, widmete er sich überwiegend der Bearbeitung von Fragen der Bakteriologie und Mikroskopie (Arbeiten zu Färbetechnik, Desinfizenzien, Antiseptika, antibakterieller Blutabwehr, Polyglobulie als Höhenanpassung). Schon Anfang der 90er Jahre überlappt 9 | Go. I S. 59f., Go. II (= Gottstein in Koppitz/Labisch 1999), S. 97ff., 111. 10 | Grotjahn 1932, S. 4. 11 | Go. I, S. 60, 73, 85; vgl. ders. 1932, S. 4f. 12 | Go. I S. 61f.
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die Laborphase eine aus der Praxiserfahrung einsetzende epidemiologischmedizinstatistische Forschungsphase. Gottsteins nebenamtliche Labortätigkeit zeitigte nur wenig bedeutsame Ergebnisse, war vielmehr belastet durch Rückschläge und anderwärts widerlegte Hypothesen. Die Widrigkeiten, zu denen auch das Problem der Geruchsbelästigung der Praxis durch das angeschlossene Versuchslabor zählte, strebten auf eine Zäsur zu. Gottstein verlor die Zuversicht in seine Experimentierkunst (»das Vertrauen auf die Zuverlässigkeit des Versuchs in meiner Hand«).13 Er sah sich auf dem bakteriologischen Experimentierfeld gewissermaßen gescheitert, tatsächlich arbeitete er ja ohne eigenes Institut unter zeitlich und örtlich ungünstigen Bedingungen. Aber weniger diese Selbsterfahrung, als vielmehr der 1893 aufflammende und von ihm mitgetragene Diskurs über die Konstitutionslehre Ferdinand Hueppes gab den Anstoß zum Entfremdungsprozess zwischen ihm und der als »gedankenarm« empfundenen bakteriologischen Schule.14 Die neuen Erkenntnisse über die Vielzahl der vor- und mitbedingenden Faktoren spezifischer Krankheitsabläufe, die Verneinung einer rein bakteriologisch-kontagionistischen Deutung der Infektionskrankheiten, der Kampf gegen die »konstante Virulenz des spezifischen Krankheitserregers« bedeuteten für Gottstein den Übergang vom individualmedizinischen Experiment zur massenmedizinischen Analyse unter Anwendung rechnerischer Methoden,15 die Hinwendung zur Epidemiologie und Medizinalstatistik. Als Beobachtungsmaterial dienten ihm primär die Kinderkrankheiten und die Tuberkulosefälle bei Kindern, die er in seiner Praxis erlebte. Ihn interessierte die Bedeutung der konstitutionellen Einflüsse und der Umweltfaktoren auf die durchaus ungleiche Prognose unabhängig von Infektionsgröße und Reaktionsstärke. In die Morbiditätsstatistiken sollten prognostische Kriterien und ätiologisch auch die den Krankheitsablauf bestimmenden entfernteren Faktoren eingehen, um die relativ große Zahl von Heilungen »ohne Zusammenhang mit Therapie und sozialer Lage« zu erklären.16 1897 erschien die »Allgemeine Epidemiologie«, ein Meilensteinbuch,17 das den Reigen der für die Sozialhygiene bahnbrechenden, klassischen Wissenschaftsliteratur eröffnete. In der Folgezeit sorgte Gottstein durch seine literarische Produktivität dafür, dass sich die Sozialhygiene als Wissenschaft allgemeine Anerkennung erwarb und als Praxis landesweit ausbreitete. Bis 1907 veröffentlichte er zahlreiche Arbeiten vornehmlich epidemiologischen, statistischen, historischen und sozialhygienischen Inhalts, darunter große tonangebende Aufsätze wie »Geschichte der Hygiene im 19. Jahrhundert« 1901 und »Die soziale Hygiene, ihre Methoden, Aufgaben und Ziele« 1907. 13 | Go. I S. 64. 14 | Diese forderte »gesinnungstüchtige Gedankenarmut«, Go. I. S. 18. 15 | Go. I S. 65f. 16 | Go. I S. 64. 17 | Die Sozialhygiene leitete ihre Wissenschaftsära ein mit einem Doppelwirbel, von der epidemiologisch-bevölkerungswissenschaftlichen Seite (Gottstein 1897) und der sozialkundlichen Seite her (Grotjahn 1898).
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Mit einer Reihe hochkarätiger Vertreter der neuen Geistesrichtung, darunter Rudolf Lennhoff, Alfred Grotjahn und Friedrich Kriegel, die alle auch Vorstandmitglieder wurden, gründete er 1905 die »Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik«, die für die theoretischen und praktisch-profi lierenden Belange der verwandten Zweige eintreten sollte.18 Im gleichen Jahr wurde er mit dem Titel »Sanitätsrat« ausgezeichnet, 1914 in die nächste Rangstufe eines »Geheimen Sanitätsrats« erhoben.
8.4 Umstieg in die Ver waltungsmedizin – Gesundheitsfürsorge als Umset zung sozialhygienischer Vorstellungen 1906 wurde die Kommunalverwaltung auf den tatkräftigen Gesundheitsexperten aufmerksam: eine der reichsten Gemeinden Deutschlands, die noch selbständige Berliner Vorstadt Charlottenburg berief ihn als nebenamtlichen unbesoldeten Stadtarzt in den Magistrat. Hier wurde er im Laufe der Zeit mit einer unglaublichen Ämterfülle ausgestattet, aus der neben zahlreichen Ausschusssitzen wir nur Dezernentenstellen für Gesundheitspflege und die verschiedensten Arten von Gesundheitsfürsorge nennen wollen. 1911 stieg er zum hauptamtlichen besoldeten Stadtmedizinalrat in Charlottenburg auf. Die ärztliche Privatpraxis, die er bis dahin fortgeführt hatte, war nun nicht länger aufrechtzuerhalten. Gottstein übernahm die Leitung der Gesundheitspflege, der Armenkrankenpflege, der Schulgesundheitspflege, des Statistischen Amtes und des Amtes für Volksernährung, daneben oblagen ihm neben der medizinischer Beiratsstelle im Wohnungsamt die Verwaltungsaufsicht über die Städtischen Krankenhäuser, das Siechenhaus und die gesundheitliche Volksbelehrung. Er bekleidete damit ein Superamt in der Städtischen Medizinalverwaltung, das ihm ermöglichte, für die Stadt Charlottenburg, die ein vorbildliches Gesundheitswesen anstrebte, eine Gesundheitsfürsorge sowohl für gesundheitlich Gefährdete als auch für bereits gesundheitlich Geschädigte (für »investive« und »konsumtive« Gesundheitsrisiken)19 aufzubauen. Die in seinem Super-Ressort erfolgenden Umstrukturierungen fanden ihren Niederschlag in der von ihm in unvermindertem Umfang fortgesetzten Publizistik, mit dem unvermeidlichen Wechsel der Themenschwerpunkte: natürlich rückten jetzt verwaltungsmedizinische Fragen wie Gesundheitsfürsorge, Kommunalärztlicher Dienst, Gesundheitswesen, Krankenhausversorgung, Versicherungsmedizin, Schulgesundheitspflege, Volksernährung und Bevölkerungsmedizin in den Vordergrund. Seine »Stadtarzttätigkeit«, die die Freunde Friedrich Martius und Ferdinand Hueppe in ihren eigenen Autobiographien als »stille und bescheidene« cha-
18 | Vgl. oben unter »Grotjahn« Kap. 6.3. 19 | K/L S. XXXVII, Labisch schon 1997, S. 682.
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rakterisierten, erschien Gottstein selbst als der »schönste und erfolgreichste Lebensabschnitt«.20 Die 8-jährige Stadtarzttätigkeit in Charlottenburg bis zum Kriegsausbruch wurde für Gottstein zur Hohen Schule gesundheitspolitischer Initiative. Zwar vereinigte er eine einzigartige Ämterfülle im kommunalen Gesundheitswesen auf sich, aber dennoch erwies er sich im Sinne der sozialhygienischen Theorie als ausgesprochener Teamworker. Dank der »besonderen Hoheit und Intelligenz« im »Kollegium« verwirklichte er die großen Gesundheitsprojekte, die Charlottenburg in der Folgezeit in der Kommunalhygiene tatsächlich eine Vorrangstellung in Deutschland eintrug, auf einer Ebene in enger Kooperation mit Magistratsbeamten und Stadtverordneten als Experten. Seine Führungsaufgabe sah er in der Vereinfachung der Organisation durch Vereinheitlichung der verzweigten Fürsorge- und Wohlfahrtsdienste, im Bürokratieabbau und eben in der wissenschaftlichen Verarbeitung der institutionellen Aktionen durch Publikationen über Theorie, Entwicklung, Struktur etc. der neugeschaffenen Gesundheitssparten.21 Die kommunalhygienischen Erfahrungen in Charlottenburg, die ihm später noch bei seinen gesundheitspolitischen Entscheidungen im Staatsdienst zugute kommen sollten, lenkten das Interesse Gottsteins auf die Gesundheitfürsorge nicht als »reine Wohlfahrtseinrichtung«, sondern als strategisch-hygienischer Institution. Krankheiten des Einzelnen betreffen immer auch die Gesamtheit, schon sofern deren Belange durch Kosten, Beeinträchtigung der Berufsausübung, Krankheitsübertragung oder Schädigung des Nachwuchses berührt werden.22 Die meisten dem therapierenden Arzt vorbehaltenen (Einzel-)Krankheiten heilen von selbst, nur die Massenerkrankungen sind bisher durch Therapie nicht auszurotten. Trotz größten medizinischen Fortschritts führt Heilung durch Einzeltherapie nicht zur Beseitigung der »verbreitetsten Volkskrankheiten« (darunter Berufskrankheiten und Alkoholismus) als Epidemien, da die am meisten betroffenen Schichten »am wenigsten bereit und befähigt sind, sich ihrer zu erwehren«. Hier liegen Recht und Pflicht der Gesellschaft zum Auf bau einer gesundheitliche, erzieherische und wirtschaftliche Maßnahmen vereinenden Gesundheitsfürsorge. Ihre Triebfeder ist weniger soziales Mitgefühl (s.o.) als vielmehr (kontrollierter!) Egoismus mit dem Ziel der Vorbeugung aus den »Erwägungen und Berechnungen einer nüchternen Finanzpolitik«.23 Durch Gruppenerfassung begegnet sie mit Hilfe des geschulten Arztes Krankheiten und Krankheitsbedrohungen unter Wahrnehmung auch entfernterer Gründe mit Vorbeugung, Früherkennung, Frühbehandlung, Kontrolle, Beratung, wirtschaftlicher Unterstützung, ggf. Pflege und gruppenorientierten Vorsorgeuntersuchungen
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Go. I S. 54. Go. I S. 75ff. Go. I S. 77f. Gottstein 1932, S. 5.
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wenigstens bei Berufstätigen und Schülern.24 Konsequent bestimmte Gottstein als Ministerialdirektor den größten Teil der staatlichen Tuberkulosemittel für die Förderung der Jugendgesundheitspflege.25 Mit der Katastrophe des Kriegsausgangs koinzidierte der innere Zusammenbruch – jetzt kam ein zweites Mal die Stunde Gottsteins. Angesichts seiner kaum abschätzbaren Verdienste um ein umfassendes soziales Gesundheitsmodell nimmt es nicht wunder, dass sich vor Gottstein gerade nach Kriegsende trotz seines fortgeschrittenen Alters ein neuer Karrieregipfel auftat. Ende 1918 wurde er zum Titular-Professor ernannt. Im Sommer 1919 erfolgte der Wechsel vom kommunalen in den staatlichen Gesundheitsdienst, als Gottstein im Range eines Ministerialdirektors die Leitung der Abteilung »Allgemeine Medizinalverwaltung« im Preußischen Ministerium für Volkswohlfahrt übernahm (Leiter des preußischen Medizinalwesens).26 Automatisch wurde er dadurch stellvertretendes Mitglied im Reichsrat und Berichterstatter für die Gesundheitsgesetzgebung im Deutschen Reich. Direkt nach dem Krieg, in der postrevolutionären Phase der frühen Weimarer Republik, sah sich der ordnungspolitisch erfahrene kommunale Sozialpolitiker unabweisbar – über sein bisheriges Leistungsspektrum noch hinausgreifend – vor der Herausforderung einer Sanierung des staatlichen Volksgesundheits- und Wohlfahrtswesens. Die Großunternehmung gelang innerhalb weniger Jahre. Bei Aufrechterhaltung ihres Wissenschaftsanspruchs befreite Gottstein die Sozialhygiene jetzt von ihrer Theorielastigkeit. Wie von langer Hand vorbereitet, brachte er zusammen mit Gustav Tugendreich 1918, als erstes bedeutendes sozialhygienisches Werk nach dem Krieg, das »Sozialärztliche Praktikum« auf den Markt. Zu Wahrzeichen praxisbezogener beruflicher Fortbildungsstätten wurden die von ihm 1920 initiierten Sozialhygienischen Akademien in Charlottenburg, Düsseldorf und Breslau. In lockerer Anlehnung an das auf deutschem Boden vorbestehende, ungeordnete karitative Charity-Modell bestand er auf Umwidmung der kathederorientierten Sozialhygiene in praktische Gesundheits- und Wohlfahrts-(Sozial-)fürsorge. Von seinem preußisch-ministerialen Amtsitz aus organisierte er in Berlin ein Netz von Beratungsstellen und kommunalen Gesundheitsamtsstellen (bestehend aus um 100 Schwangeren-, Säuglings- und Kleinkinderfürsorgestellen, Eheberatungsstellen, Fürsorge- und Beratungseinrichtungen für Tuberkulöse, Geschlechtskranke, Alkoholiker, Psychopathen, Suchtkranke und Behinderte [»Krüppel«]), das schnell für Preußen und das Reich exemplarisch werden sollte.27 Gottstein vollbrachte damit in der Sozialhygiene die weithin ausstrahlende Wende von der Theoriephase (1897-1918) zur Umsetzungsphase und Blütezeit (1919-1933). Das Avancement von der kommunalen zur staatlichen Ebene der Gesundheitsverwaltung steuerte Gottstein mehr in den legislativen Bereich der 24 25 26 27
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Go, I S. 84. Go. I S. 82; II, 171ff. Vgl. Eckart 1994 (2. Aufl.), S. 285. Go. II S. 188.
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Gesundheitspolitik. Nunmehr vertrat er die Interessen der Sozialhygiene in der Regierungsarbeit auf dem Weg über Erlasse, Redaktion von Gesetzesvorlagen und Einflussnahme in den maßgeblichen Gesundheitsinstitutionen. Zu den ersten Amtshandlungen gehörten Ende 1919 Erlasse über eine einheitliche Regelung der speziellen Weiter- und Fortbildung für alle Ärzte im öffentlichen Gesundheitswesen. Eine solche Regelung lag ihm schon als Stadtarzt am Herzen. Während des Krieges organisierte er für Ärzte im Sozialdienst Vorträge im Krankenhaus Westend und verfasste 1917 in einem Aufsatz einen »genauen Lehrplan« für eine eigenständige Fachausbildung. Als Leitberuf für alle im sozialhygienischen Verwaltungsdienst Beschäftigten galt ihm das Berufsbild des »Fürsorgearztes«. Für die ganze Berufsgruppe erarbeitete er 1918 zusammen mit Gustav Tugendreich den oben erwähnten, knapp 500 Seiten starken Leitfaden »Sozialärztliches Praktikum«, der schon 1920 seine 2. vermehrte Auflage erlebte. Im nächsten Schritt verwirklichte Gottstein seinen seit 1913 gehegten Traum von einer Unterrichtsstätte für Gesundheitsfürsorge mit der Begründung der drei ebenfalls schon angeführten Sozialhygienischen Akademien auf preußischem Staatsgebiet in Charlottenburg, Düsseldorf und Breslau. Die Kosten übernahmen die Gemeinden und die Sozialversicherung. Die ärztlichen Gesundheitsbeamten, deren Zahl ständig im Steigen begriffen war, erhielten damit die Möglichkeit, sich in einer Art sozialhygienischen Postgraduiertenstudium mit Betonung der praktischen Ausbildung für ihre Spezialaufgaben zu qualifizieren. In Charlottenburg lehrte Gottstein selbst von 1922-1933 Soziale Hygiene und unterrichtete vom gleichen Zeitpunkt an bis 1930 in Medizinischer Statistik. Während seiner Amtszeit war Gottstein an der Beratung und Verabschiedung größerer Gesetzesvorlagen beteiligt. Das Krüppelfürsorgegesetz 1920 sah mit Experten besetzte, besonders auf Prophylaxe ausgerichtete Beratungsstellen vor. Das Hebammengesetz 1922 sorgte für eine bessere Ausbildung und höhere Vergütung und sicherte eine ausreichende Versorgung der Bevölkerung auch in entlegenen Regionen. Nur dem Wunsch der Hebammen auf Verstaatlichung des Berufs wurde nicht entsprochen, da die Verstaatlichung des gesamten Heilwesens noch als offener Programmpunkt zur Diskussion stand. Das Tuberkulosegesetz von 1923 realisierte eine Forderung, die Gottstein schon 1912 in einer Denkschrift aufgestellt hatte: die Ausdehnung der Meldepflicht des Todesfalls an Tuberkulose auf alle übertragbaren Tuberkuloseerkrankungen. Das Innovative an der Ausformung des Gesetzes war, dass es gelang, statt eines Polizeigesetzes mit Bestrafung des Erkrankten bei Zuwiderhandlung ein Fürsorgegesetz zu schaffen, das den »Schutz der Gesamtheit mit der Sorge für den Einzelnen« verband, indem es durch rechtzeitige Erkennung, Versorgung und Belehrung den Fortschritt des Leidens bis zur Unheilbarkeit und Umgebungsgefährdung zu verhindern suchte.28 Auf diese Weise entstand ein Seuchengesetz, bei dem als erstem die »Ausführung von der Polizeibehörde auf die Gesundheits28 | Go. II S. 191.
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verwaltung« überging.29 Sein Bericht über die Tuberkulosegefährdung Jugendlicher veranlasste das Zentralkomitee zur Bekämpfung der Tuberkulose zur Aufstellung neuer Richtlinien. 1924 befasste sich Gottstein mit dem Ausführungsgesetz zum Reichsgesetz für Jugendwohlfahrt. Er erwirkte die Vereinfachung der Desinfektionsvorschriften. Einbezogen war er auch in die Änderung der ärztlichen Ehrengerichtsbarkeit und die Errichtung des Landesgesundheitsrates, dessen Präsident er wurde. Schließlich war er auch Präsident des Preußischen ärztlichen Ehrengerichtshofes.
8.5 Schaf fenszeit im Ruhestand – ingeniöses geistiges Feuer werk vor der politischen Katastrophe Am 31. März 1924 endete die Amtszeit des hochverdienten preußischen Verwaltungsmediziners. Der Meister einer modernen »Staatsarzneikunde«, wenn man den alten Begriff noch einmal aufgreifen will, verließ nach Ablauf einer bereits zusätzlich gewährten einjährigen Verlängerung des Engagements die Bühne der »Gesundheitspolitik«. Jetzt bildeten Bilanz über das Gewonnene und dessen Kodifizierung einen seiner freigewählten Arbeitsschwerpunkte. Im Jahr der Emeritierung legte er der Öffentlichkeit zugleich auch als Rechenschaftsbericht eine Studie über »Das Heilwesen der Gegenwart – Gesundheitslehre und Gesundheitspolitik« vor. In Louis R. Grotes Sammlung über die »Medizin der Gegenwart« referierte er 1925 in meisterlicher Verdichtung über sein hochkarätiges Lebenswerk. Zwei enzyklopädisch angelegte vielbändige Standardwerke mit ihm als erstem bzw. alleinigem Herausgeber warfen als Glanzpunkte fachliterarischer Publizistik ihr Licht auch auf das junge florierende Gesamtfach. Das zusammen mit Arthur Schlossmann und Ludwig Teleky von 1925-1927 herausgegebene »Handbuch der sozialen Hygiene und Gesundheitsfürsorge« rechnet nach Koppitz/Labisch zu »den bedeutenden Zeugnissen des international herausragenden Standes der Sozialhygiene und Gesundheitsfürsorge in Deutschland in der Weimarer Republik«30. 1930 gab Gottstein den institutionellen Bemühungen um eine stationäre Versorgung der Bevölkerung mit der Edition der 7 Bände umfassenden »Handbücherei für das gesamte Krankenhauswesen« umrissene Form und ein klares Gesicht. Dazu prädestinierten ihn seine Funktionen als Geschäftsführer des Gutachterausschusses für das gesamte Krankenhauswesen beim Deutschen Städtetag und als Hauptschriftleiter der »Zeitschrift für das gesamte Krankenhauswesen«, eine Position, die er von 1925-1934 innehatte. 11 Jahre, von 1922-1933 engagierte 29 | Go. I 82f.; vgl. II 186ff. 30 | K/L S. XLIf., wörtlich auch schon Labisch 1997, S. 683. – Erfreut teilen die beiden Autoren bei dieser Gelegenheit einmal mehr mit, im Vorwort des Handbuchs fände sich bereits »der heute so geläufi ge(n) Begriff ›Gesundheitswissenschaft‹« (gemeint ist »zum ersten Mal«, was nicht zutriff t).
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er sich in der Redaktion der »Klinischen Wochenschrift«. In seiner Monographie über »Schulgesundheitspflege« aus dem Jahre 1926 beleuchtete er den Komplex Gesundheitspflege/-fürsorge am für die reformerischen Kräfte aktuellen Beispiel. Die Reihe seiner epidemiologischen Arbeiten ließ er niemals abreißen. Erst 1937 schloss sich der diesbezügliche Themenkreis mit dem Buch »Epidemiologie – Grundbegriffe und Ergebnisse«. Die politische Sturmfront, die Gottstein seit 1933 zum allmählichen Rückzug aus allen bisher gehaltenen Stellungen zwang, mündete 1935 auch für ihn in eine schwarze Gewitterwand. Die Nürnberger Gesetze stürzten ihn und seine Frau Emilie in die rassische Verfemung und unterwarfen beide allen NS-rassenpolitischen Restriktionen. Von 1933-1935 brachte Gottstein noch 7 Arbeiten in deutschen Publikationen unter. Von 1936-1940 erschienen dann noch 10 Arbeiten, 4 davon waren Artikel in 2. Auflage in J. Brix’ »Handwörterbuch der Kommunalwissenschaften« 1939, 6 Druckwerke, darunter sein letztes Buch »Epidemiologie«, veröffentlichte Gottstein im umliegenden europäischen Ausland. Im letzten Lebensjahr vollendete er das Manuskript zum 2. Band seiner Autoergobiographie »Erlebnisse und Erkenntnisse. Nachlaß 1939/40«. Das Manuskript gelangte aus zunächst 31 unbeachtetem Familienbesitz 1985/86 an die Öffentlichkeit und erschien 1999, fast 60 Jahre nach dem Tod des Verfassers, im Druck. – Am 3. März 1941 verstarb der 83-Jährige in Berlin im Krankenhaus im Koma urämicum (»finale Urämie« mit »sanfte[m]) Tod«.32
31 | Unglaublicherweise übersandte die Schwiegertochter Gottsteins 1985 das teilweise autographische Dokument, das für den 1959 verstorbenen einzigen Sohn Werner bestimmt war, beiläufig und eher gleichgültig an den Großneffen Klaus Gottstein, K/L S. V. 32 | K/L S. XLIV. Die Grabstätte Gottsteins auf dem Zentralkirchhof Südwest des Berliner Stadtsynodalverbandes in Stahnsdorf bei Berlin genießt Bestandsschutz als Ehrengrab der Stadt Berlin, K/L S. XLIVf.
9. Gottstein – Aus 40 Jahren literarischer Produktion
9.1 Gottstein: Allgemeine Epidemiologie, 1897 9.1.1 Konstitution des Einzelnen und einer Bevölkerung – der Weg von der Epidemiologie zur Sozialhygiene Das ganze Buch Gottsteins durchzieht die von Hueppe, Liebreich, ihm selbst u.a. seit 1893 erarbeitete Konstitutionslehre.1 Ihr zufolge handelt es sich beim Ausbruch und bei allen Weiterungen im Verlauf einer Infektionskrankheit um einen komplexen Vorgang. Es genügt nicht einfach der Befall des Wirtsorganismus durch einen Keim mit einer bestimmten konstanten Virulenz. Normalerweise stehen sich nach langem Anpassungsprozess Organismus und Mikroorganismus in ihrer Lebenswelt als potentielle Kontrahenten in einem Balancezustand gegenüber. Es bedarf eines Bündels aus prädisponierenden Faktoren sui generis und mehrfacher Ordnungsstufen, die den Wirtsorganismus unterschiedlich schädigen, um das Kräftegleichgewicht aufzuheben und das Individuum für die pathogene Wirkung des Keims empfänglich zu machen.2 In der Kette der Krankheitseinflüsse bildet dann der Keim als »letzter Reiz«3 den selbstverständlichen Auslöser. 4 Konstitutionskraft (Widerstandskraft), Immunität und Disposition (Empfänglichkeit), alle Größen in erworbener oder ererbter Form auf der Seite des Organismus, mannigfache Schädigungen und die Virulenz des Erregers auf der Seite der krankheitserregenden Außenwelt bestimmen über Eintritt und Art des Krankheitsereignisses. Konstitutionskraft einerseits und Schädigungen und Keimvirulenz andererseits lassen sich rechnerisch in einem Quotienten aufeinander beziehen: Krankheitsdienlich wirkt eine Herabsetzung der Konstitutionskraft und/oder eine Erhöhung der Vorschädigungen und/oder
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Verweise auf die Urheberschaft Go. S. 96, 197 u.ö. Go. S. 196ff. »[…] letzter auf die Gesamtheit der Bevölkerung […] wirkender Reiz«, Go. S. 317. Go. S. 304f.; 313.
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der Erregervirulenz.5 – Den variablen Beziehungen zwischen Wirtsorganismus und Erregern gibt Liebreich den schärfsten Ausdruck in seiner Lehre vom Nosoparasitismus. Danach ist die Disposition passager oder bleibend »schon an sich eine krankhafte Erscheinung, hervorgerufen durch Ernährungsstörungen, erbliche oder biologische Einflüsse«. Es besteht also bereits eine Art Vorerkrankung, bevor der Keim seine spezifische pathogene Eigenschaft entfaltet. Dieser ist also »nicht ein Parasit an sich, sondern ein Parasit der Krankheit, ein Nosoparasit«.6 Innovativ-originell, dennoch eher unprätentiös und fließend, überträgt Gottstein sein Modell des individuellen infektiösen Erkrankungsvorgangs auf die Entstehung von Seuchen als der eklatanten Massenerkrankungen der Gesellschaft. Nach Gottstein reagiert die Gesellschaft einheitlich wie der Einzelorganismus auf infektiöse Reize mit den Mechanismen der Abwehr oder der widerstandslosen Auslieferung. Unterschiedliche soziale Einflüsse auf den »Gesundheitszustand der Gesamtheit«,7 die sich mit der Zeit zusammenballen, haben »das Eine gemeinsam, dass sie die Konstitutionskraft einer Mehrzahl Individuen gleichzeitig herabsetzen«,8 bis schließlich das Kontagium als »letzter Reiz« die Seuchenkatastrophe herbeiführt.9 Die prädisponierenden Schädlichkeiten entstammen allen nur denkbaren Lebensbereichen: sie können sozialer, politischer, biologisch-degenerativer Natur sein, mit Klima, Ernährung, Wohnungsverhältnissen, Bodenverunreinigung und Lebensweise zusammenhängen, örtlich begrenzt oder bevölkerungsweit auftreten und passager oder langzeitig agieren.10 – Das Phänomenale des Gottstein’schen Konzepts liegt darin, dass bei ganz unterschiedlichen Einzelkonstitutionen von der »Gesamtkonstitution einer Bevölkerung«11 auszugehen ist, deren Herabsetzung durch eine Reihe variabler Schädlichkeiten die Menschen in der Massengesellschaft zur gleichen Zeit einer gleichartigen
5 | Go. S. 179ff.; 335. 6 | Go. S. 174. 7 | Go. S. 355. 8 | Go. S. 317f. – Die Anpassungsprozesse durch Auslese im Kampf mit den Mikroparasiten führen in einer Gesellschaft zu absoluter oder nur partieller angeborener Immunität. Im letzteren Fall kommt es bei an sich guter Toleranz nur auf nosoparasitärem Weg zur Erkrankung, Go. S. 231. Wie die Tuberkulose zeigt, genügen »zuweilen schon verhältnismässig geringfügige Herabsetzungen der durchschnittlichen Konstitutionskraft, um den Körper seiner angeborenen Immunität gegenüber dem Tuberkelbacillus zu berauben. Die Früchte eines Jahrtausende alten Kampfes des Menschengeschlechtes gegenüber der Tuberkulose gehen in bedauernswerter Weise schnell verloren schon durch geringe Verschlechterungen in den socialen Existenzbedingungen grosser Bevölkerungsklassen, namentlich aber durch die neuen Anforderungen der Industrie«, Go. ebd. S. 232. 9 | Go. S. 355f. 10 | Go. S. 318ff., vgl. z.B. S. 102, 197 u.ö. 11 | Go. ebd. S. 318.
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Krankheit aussetzt oder anheimfallen lässt.12 Der Ausbruch einer kollektiven Erkrankung dient als feinster Indikator »für das Vorhandensein einer Konstitutionsschwächung der Gesellschaft«.13 – Gottstein nutzt den theoretischen Diskurs mit der experimentellen Bakteriologie über Krankheitsätiologie als Plateau für die Wende zum sozialhygienischen Ansatz der Erforschung und Bekämpfung von Volkskrankheiten mit Hilfe statistisch-epidemiologischer Erkenntnismethoden. Der naturwissenschaftliche (experimentelle), kausalitätsbezogene Weg ist damit nicht verlassen, sondern durch eine neues Erkenntnisspektrum erweitert, das auch empirisches Bevölkerungsgeschehen gesetzmäßig erfasst. Damit gelingt Gottstein, zunächst für sich persönlich, noch im ausgehenden alten Jahrhundert, aus dem Geiste der allgemeinen Epidemiologie die Begründung der Sozialhygiene als Wissenschaft, genauer als bevölkerungsgerichteter Gesundheitswissenschaft.14 Neben der Konstitutionslehre begleitet in Gottsteins Buch ein zweiter Themenkreis die Gedankenführung, der Darwinismus. Dieser berührt Gottstein als Naturwissenschaftler und Mikrobiologen ebenso wie als Sozialhygieniker. Die Entwicklungsmechanismen des Kampfes ums Dasein und der durch ihn bewirkten Auslese finden in den Forschungsergebnissen der Mikrobiologie ihren klassischen Beleg. Im Experiment auf den verschiedenen Nährböden unter sich verändernden Bedingungen lässt sich aufgrund der Zahl der Varianten, der Vermehrungs- und Anpassungsfähigkeit der Bakterienarten gleichsam im virtuellen Bild zeigen, wie »die jedesmal am günstigsten gestellte Art« dominiert und ihre Konkurrenten verdrängt bzw. vernichtet.15 Entscheidende Bedeutung erlangt der Darwinismus für Prophylaxe, Hygiene und Sozialhygiene aber erst durch seinen Vorwurf, die soziale Förderung widerspreche dem artverbessernden Prinzip der Auslese und begünstige den Erhalt auch schwacher Existenzen, die sich fortpflanzen und ggf. ihre »die Rasse verschlechternden Eigenschaften« weitervererben könnten.16 Zur Argumentation gegen diesen Vorwurf, der der Sozialhygiene »zeitlebens« Probleme bereitete, stützt sich Gottstein auf eine in der Rassenhygiene von A. Ploetz vorgebrachte Argumentationskette. Ploetz unterscheidet bei den »Socialwirkungen« zwischen drei Schädigungsmöglichkeiten: den selektorischen (z.B. Kinderkrankheiten), nonselektorischen (z.B. planlose Eheschlie12 | Go. S. 312f.; 315. 13 | Go. S. 319. An anderer Stelle erinnert der Autor an das Wort Virchows aus dem Jahre 1849, nach dem für den wahren Staatsmann Epidemien Warntafeln sind, »dass in dem Entwicklungsgange seines Volkes eine Störung eingetreten ist«, Go. S. 361. 14 | Letzterer Begriff wird dann wenige Jahre später von ihm in die Fachliteratur eingeführt, s. Kap. 3.1.4. 15 | Go. S. 125ff. – Wörtlich meint Gottstein, man könne »auf keinem Gebiete der organischen Welt die von Darwin aufgestellten Bedingungen der Entwicklung, namentlich die Folgen der Variation und des Kampfes ums Dasein gedrängter und deutlicher beobachten, als auf dem der Bakterienentwicklung«, ebd. S. 125. 16 | Go. S. 87.
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ßungen) und kontraselektorischen Schädlichkeiten (neben Kriegen und Kontrazeption vor allem Pflege »anerzeugter Schwächezustände«). Soziale Einflussnahme bei nonselektorischen und kontraselektorischen Schädlichkeiten beschwört u.U. die Gefahr der Degeneration oder Entartung herauf, die sich aber durch sorgfältige Beratungstätigkeit kontrollieren lässt.17 Für Gottstein ist das noch am ehesten tolerable Kriterium für das Ausmaß degenerativer Vorgänge in einer Bevölkerung die Reduktion der Geburtenrate in der zeitgleichen oder einer späteren Generation. Innerhalb eines Familienstamms beobachten wir bei erblichen Schädigungen durch Aussterben eines geschwächten Zweiges Abnahme und kompensatorischen Zuwachs in der Generationenfolge, eine weitergehende Richtungstendenz lässt sich nur durch Zusammenfassung zweier Abschnitte bestimmen. Im Bevölkerungsmaßstab, in dem Zuwachs und Abnahme gleichzeitig erfolgen, ist mit einem ähnlichen Entwicklungsgang zu rechnen. Soweit erkennbar und aufgrund statistischen Materials bis zum 10. Lebensjahr berechenbar, wird die erhöhte Sterblichkeit während einer Epidemie durch Untersterblichkeit der Überlebenden in einer späteren Lebensperiode kompensiert. Wenigstens für die Epidemien gilt, dass sie entweder bei allgemeiner Empfänglichkeit und hoher Sterblichkeit keine Rassenauslese bewirken (Schwache und Starke gleichermaßen befallen) oder bei geringer Empfänglichkeit und niedriger Sterblichkeit tatsächlich selektionieren und damit für die Gesellschaft natürlicherweise vorteilhaft sind.18 Danach erübrigen sich aus der Sicht der Seuchenlehre Eingriffe von außen zur Rassenverbesserung! Soziale und medizinische Maßnahmen sind also immer, auch bei selektorisch wirkenden Seuchenformen angezeigt. Bei ihnen lassen individuellle Heilversuche eh keine gesellschaftsschädigenden Massenerfolge erwarten. Die meisten Seuchen sind aber nichtselektorisch und erfordern damit unbedingt Behandlung.19
9.1.2 Kritische Bewer tung Die allgemeine Epidemiologie – in Abgrenzung zur beschreibenden/analytischen – betreibt das Studium von Gesetzmäßigkeiten im gesundheitlichen Bevölkerungsgeschehen. Der jeweilige Zustand einer Gesellschaft wird konstitutiv für Ausbildung und Ausbreitung von Epidemien als Me17 | Go. S. 90ff. 18 | Go. S. 97-111. 19 | Go. S. 363f. – Wie eine ausdrückliche Absage an den Sozialdarwinismus klingt die Textstelle mit dem nahe liegenden Gedanken, dass oftmals »ein schwächliches Dasein, dessen frühzeitiges Ende im Sinne der Rassenhygiene kein Schaden für die Gesellschaft gewesen wäre, […] erhalten wurde, um dann in späteren Jahren als Dichter, Künstler oder Forscher den Fortschritt mehr zu fördern, als dies durch das Überleben so mancher robusten, nur in der Erzeugung kräftiger Nachkömmlinge starken Individuen geschah. Also auch das Bestreben nach individuellem Schutze auch der Schwächsten ist vollauf berechtigt«, ebd. S. 363.
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tapher für alle Volkskrankheiten, die ihrerseits schwere Folgeschäden für die Gesamtheit herauf beschwören und damit einen unseligen Circulus vitiosus in Gang setzen. Neue (statistische) Erkenntnisverfahren, wie sie an Bevölkerungsprozessen entwickelt werden, erweitern den Gesichtskreis des Forschers, ohne die Gültigkeit des wissenschaftlichen Kausalerkennens anzutasten. Experimentelle und statistisch-mathematische Forschung gehen in der Epidemiologie Hand in Hand. Daraus resultiert auch die Sichtweise einer aus ihr sich herleitenden Sozialhygiene. Begeistert beobachtet Gottstein im bakteriologischen Labor, wie sich die Darwinsche Selektionstheorie vor seinen Augen in den beimpften Nährböden dokumentiert, zögert aber sofort, wenn es darum geht, das Prinzip in seine epidemiologisch ausgerichtete Version der Sozialhygiene einzuordnen. Die (über Statistik vermittelte) Eigengesetzlichkeit in der Epidemiologie wirkt auf ihn als Hemmfaktor, Bevölkerungsprozesse unabänderlich zu biologisieren, d.h. den Darwinschen evolutionären Biomechanismus bzw. dessen Ausfall unbesehen auf die Gegenwartsgesellschaft zu beziehen und zu einem Sozialdarwinismus fortzuschreiten. Der Globalanspruch der Sozialhygiene auf Abdeckung aller Aspekte von Gesundheit verlangt natürlich eine Berücksichtigung der Vererbungsforschung und des gesundheitlichen Wohls nachfolgender Generationen. Die Epidemien zeigen uns, gerade im Augenblick ihrer Entstehung, im Übergang von der Einzelinfektion zur Massenerkrankung, den Stellenwert von erblicher Konstitution und Degeneration, aber eben in einer neuen Dimension, auf Bevölkerungsebene, unter dem Aspekt eines Massengeschehens. Soweit die genannten biologischen Variablen eine Epidemie (Volkskrankheit) mit verursachen, bilden sie dennoch nur Einzelsteine im Mosaik oder Kaleidoskop eines bewegten ätiologischen Faktorenbilds. Auch Gottstein partizipiert marginal am Denkmodell einer »Rassenentartung« durch soziale Verursachung. Dieser gegenüber gebieten sich rechtzeitige Sozialmaßnahmen zur Anpassung der Gesellschaft an die durch den industriellen Aufschwung veränderten Lebensbedingungen als wirksamstes Mittel einer ursächlichen Krankheitsbekämpfung.20 Gottstein beurteilt in seiner Frühschrift den Degenerationsprozess eher als passagere Zivilisationserscheinung und setzt auf zwei sich ergänzende Bewältigungsfaktoren: Autoregulation und Verhinderung neuen degenerativen Potentials durch soziales Engagement.
20 | Go. S. 430ff., 436ff.
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9.2 Gottstein et al.: Sozialärztliches Prak tikum 1918 9.2.1 Är z tliche Sozialhygiene und Für sorge Gottstein bearbeitet in seinem Buch das weite Feld der gesundheitlichen Fürsorge in Kooperation mit einer Autorengruppe, in der Tugendreich, Gastpar, Krautwig und Stier im engeren Sinne die ärztlich-medizinische Seite vertreten. Die literarische Technik des einheitlich redigierten »Mehrmännerbuchs« verkörpert im Ganzen das wissenschaftliche Konzept der Sozialhygiene, indem jene Art und Umfang des Stoffs und die Diversität der angewandten Arbeitsmethoden berücksichtigt. Das Prinzip der publizistischen Gruppenarbeit findet sich von Anfang der Sozialhygiene an in ihren Standardwerken, den Hand- und Lehrbüchern verwirklicht. Das publizistische Autorenkollektiv als Ausdruck der Arbeitsteilung und Aufgabenzuordnung, heute im medizinisch-epidemiologischen Bereich selbstverständlich, ist hier das adäquate Pendant zur wissenschaftlichen Komplexität einer verwaltungsmäßig durchorganisierten Bevölkerungsmedizin. Sozialhygiene ist Gesundheitsfürsorge; sie »bezweckt die Erhaltung der Gesundheit und die Verhütung von Krankheiten unter bestimmten durch ihre gesellschaftliche Lage gefährdeten Bevölkerungsgruppen, deren Bedrohung auf die Gesamtheit rückwirkt«. Die Zweckmäßigkeit der von ihr getroffenen Maßnahmen bedarf abschließend der Evaluation durch »Massenbeobachtung nach den Regeln der Statistik«. Evaluation (die »Probe«, die statistische Überprüfung) und Qualitätsgedanke einer gruppenbezogenen Gesundheitsförderung werden also gleich zu Beginn des Praktikums hervorgehoben. Gottstein’s Buch gibt unmittelbar nach dem 1. Weltkrieg, der die »Volksgesundheit an Körper und Seele schwer geschädigt« hat,21 ein lebendiges Bild von der Vielfalt der Auf baubemühungen und Aufgabenstellungen auf dem Gesundheitsterrain. Unter dem Oberbegriff der »Gesundheitsfürsorge« sind Gesundheitsfürsorge und Krankenfürsorge, wie sie ambulant in Fürsorgestellen und stationär in »Anstalten« praktiziert werden, im Grunde organisatorisch unter einem Blickwinkel zu sehen. Für die Ausformung der Sozialhygiene durch Gottstein gibt es letztlich nur jenen einen Begriff. Didaktische, historische und definitorische Gründe dürften für die Differenzierung der Sparten im »Praktikum« ausschlaggebend gewesen sein. Bei beiden Fürsorgeformen geht es um Bewahrung von Gesundheit in der Gesellschaft durch Vorbeugung. Diese lässt sich aber in dezidierten Bevölkerungsgruppen nur unterschiedlich realisieren: die Gesundheitsfürsorge für gesunde oder bedingt gesunde Hilfsbedürftige zielt auf primäre Prophylaxe im Sinne kompletter Verhütung, die Krankenfürsorge für chronisch Kranke und Beschädigte betreibt, wie das Beispiel Tuberkulose am besten zeigt, Progredienzprophylaxe im Interesse des Erkrankten selbst wie im Interesse der Umgebung in Familie und Wohnung als Schutz vor Krankheitsübertragung und -verbreitung. Die Thesen Gottsteins zur Sozialhygiene betreffen 21 | GT S. IV.
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also letztlich das einheitliche gesundheitliche Fürsorgewesen, die Gesundheitsfürsorge als Gesamtinstitution (s. auch Tab. 5). Am Beispiel der symptomfreien Intervalle bei der Syphilis lässt sich verdeutlichen, dass eine wirksame Behandlung von chronischen Krankheiten nicht nur von der ärztlichen Kunst abhängt. Vielmehr müssen zwischen Arzt und Kranken sozialhygienische Einrichtungen bestehen, die in der »gesunden Zwischenzeit« den Dauererfolg durch Beratung, Überwachung und rechtzeitige Intervention im Rezidivfall oder zur Rezidivverhütung sicherstellen. Entsprechende Beratungsstellen mit Hilfsmitteln zur spezifischen Diagnostik begründeten z.B. Landesversicherungsanstalten und Kommunen im Rahmen einer schweigepflichtigen (nach heutiger Terminologie datengeschützten) Geschlechtskrankenfürsorge.22 Gottstein bezeichnet den (in seiner Vorstellung beamteten) medizinischen Mitarbeiter in der Gesundheitsfürsorge als Sozialarzt und stellt ihn dem Heilarzt als dem behandelnden Arzt in freier Stellung gegenüber. Was beide verbindet, sind die medizinischen Methoden, die Besonderheit des Sozialarztes liegt im »politischen« Ziel. Sozialhygiene oder Gesundheitsfürsorge reagieren auf die Multiplizität der Gesundheitsaufgaben und -methoden in der Gesellschaft mit einer Mulitplizität der zur Mitarbeit heranzuziehenden medizinisch orientierten Berufsrichtungen. Der Sozialarzt in Verwaltung, Kommune und Kreis, Schule, Säuglings- und Armenfürsorge sowie auf kassenärztlichem Berufsfeld benötigt eine geordnete Fortbildung. Eine solche steht ihm unmittelbar nach dem 1. Weltkrieg durch Errichtung von Lehrstühlen »an mehreren Hochschulen«, durch Erteilung von Lehraufträgen an anderen und durch Gottstein’s eigene Initiative zur Begründung sozialhygienischer Akademien in Breslau, Charlottenburg und Düsseldorf in breitem Umfang offen. Das »Sozialärztliche Praktikum« erfüllt den Zweck, »die lebendige Anschauung« beim geordneten Unterricht vor Ort zu unterstützen.23 Sozialhygiene umfasst im Grunde das gesamte Gesundheitswesen im weitesten Sinne mit allen nur denkbaren, die Wohlfahrt des Menschen befördernden Ausläufern. Sie ist damit ein den Ausmaßen der modernen Metropolen angemessenes gewaltiges Gebilde, eingelassen in das Gerüst einer ausgefeilten Organisation. Im Eingangskapitel schildert Gottstein aus der Perspektive der jüngsten Sozialgeschichte den Entwicklungsstand der Organisation des zeitgenössischen Gesundheitssystems. Um die Jahrhundertwende erlebte nach der Darstellung des Autors das öffentliche Gesundheitswesen einen Wachstumsschub. Besonders in den Großstädten dehnte es sich zügig in fließenden Übergängen auch auf die öffentliche Fürsorgetätigkeit aus. In kleinen und mittleren Städten und Gemeinden entstanden jetzt ebenfalls Fürsorgeeinrichtungen wie Gesundheits-, Wohlfahrts- und Jugendämter. Die Übertragung hauptamtlicher Leitungs-
22 | GT S. 281-295. 23 | GT S. III-V.
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funktionen an sozialhygienisch orientierte Ärzte sorgte dafür, dass sich die neuen Institutionen im weiteren Verlauf vernetzten. Insgesamt ließen sich durch die notwendigen, in Großstadt- und Kreisgebieten unterschiedlichen Organisationsformen zwei Fusionstendenzen verwirklichen: a) In den kleineren und mittleren Gemeinden wurden soziale Fürsorge und behandelnde Tätigkeit vereint. Die Kontrolle aller hygienischen und fürsorgerischen Aufgaben unterlag nunmehr dem beamteten Arzt (Kreiskommunalarzt). b) In den Großstädten wurden die drei Ebenen der Fürsorge, die wirtschaftliche, erzieherische und gesundheitliche organisatorisch so zusammengelegt, dass sie der ärztlichen Mitbestimmung und -wirkung unmittelbar zugänglich blieben. Die gemeinsamen Beziehungen zwischen den 3 Aspekten könnte (wie in Köln) ein städtisches Gesundheitsfürsorgeamt oder wie in Berlin ein Hauptmedizinalamt mit nachgeordneten Bezirksmedizinalämtern gewährleisten (Stadtärzte und Stadtmedizinalräte als leitende Gesundheitsbeamte). Im kommunalen Gesundheitsdienst sind für »vorbeugende Heilbehandlungen« noch Landesversicherungsanstalten und Krankenkassen heranzuziehen. Kassenärztliche Beratungsstellen sollen »mit allen diagnostischen Hilfsmitteln ausgerüstet« werden, um beim Regelpatienten zumal die Früherkennung sicherzustellen, den Versorgungsweg ggf. mit Überweisung oder Einweisung zu steuern, poststationäre Überwachung zu übernehmen und damit dem Kassenarzt für die ihm belassene »Behandlung in Krankheitsfällen« genügend Zeit für den Kassenpatienten freizuhalten.24
24 | GT S. 1-8.
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Die Personalstruktur der Sozialhygiene in Deutschland zur Zeit der Weimarer Republik Ärzte
Medizinisch-ärztliches Management
Fachärzte aller Fachrichtungen Medizinalbeamte Praktische Ärzte Verwaltungsbeamte
Niedergelassene Ärzte
Sozialberufe Ministerialbeamte (Ministerialräte, -direktoren) Sozialpolitiker Soziologen
Gewerbemediziner Arbeitsmediziner
Ökonomen Gesundheitsreformer
Toxikologen Zahnärzte
Sexologen, Sexualberater Gesundheitserzieher (VHS, Vorträge)
Stadtärzte (Stadtratsärzte)
Wohnungsbauexperten Architekten, Bebauungsplaner Stadt- und Gartenbauexperten Landschaftsbauer
Kreisärzte Landwirtschaftshygieniker
Hochschullehrer (auch Hygieniker Eugeniker, Rassehygieniker Statistiker Epidemiologen) Bevölkerungswissenschaftler Sportwissenschaftler Präventivmediziner Rehabilitationsmediziner Sozialmediziner Klimaforscher Stressphysiologen Umweltmediziner Konstitutionsforscher
Gesundheitsämter und ihr Personal
Ernährungsberater Lebensmittelrationierungsexperten Versicherungsexperten Unfallversicherung
Fürsorgeärzte
Sozialärzte (nach Gottstein)
Museumsexperten (Ausstellungen, GESOLA, Hygiene-Museum)
Psychologen Psychoanalytiker Psychohygieniker Stimm- und Sprachhygieniker Fürsorgerinnen Pädagogen, Erziehungsberater Jugendpfleger Gemeindeschwestern
Tabelle 5: Zusammenstellung der unterschiedlichen an der Sozialhygiene in Deutschland beteiligten Fachberufe (Professionsmorphologie der Sozialhygiene)
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9.2.2 Gesundheitsfür sorge: Über forderung als Beispiel nicht nur ökonomisch definier ter Bedar fslage Das Fürsorgewesen wird unter dem Oberbegriff des gemeindlichen Gesundheitswesens eingeteilt in Gesundheitsfürsorge, Krankenfürsorge und Nebentätigkeiten des Fürsorgearztes auf sozialhygienisch oder sozialmedizinisch relevanten Gebieten. Das 1. Kapitel im Rahmen der Gesundheitsfürsorge über Mütter-, Säuglings- und Kleinkinderfürsorge stammt vom Mitherausgeber, dem Berliner jüdischen Kinderarzt Gustav Tugendreich. Die Gesundheitsfürsorge insgesamt befasst sich mit allen noch nicht Erkrankten, aber durch Lebensalter, Familienfunktion oder neurologische Beeinträchtigung hilflosen bzw. hilfsbedürftigen Personen, wobei sich eine im Wesentlichen altersgestaffelte Reihenfolge ergibt, von Mutterschaft und Säuglinsalter über die nächsten Altersstufen bis zur Fachschuljugend und schließlich zu den in Dauerbetreuung befindlichen chronisch-neurologisch Beeinträchtigten. Dieser gewaltigen Menschenmenge noch nicht eindeutig von einer Volkskrankheit Befallenen soll über eine einheitlich organisierte Gesundheitsfürsorge ärztlicher Rat, auch materielle Hilfe und ggf. häusliche Dienstleistung durch Fachpersonal unentgeldlich zufließen, um gesundheitliche Schäden von ihr abzuhalten. Der bisherige Fürsorgegedanke, der sich an Armut und/ oder Krankheit orientierte, wird nunmehr unabhängig von der sozialen Stufenleiter auf »nur« Überforderte ausgedehnt, womit (am ehesten wegen Geburtenrückgang und »Volkskraft«-Verlusten im Krieg) zunächst Personengruppen in Erziehung oder »Aufzucht« gemeint sind. Eltern werden künftig Fürsorgeleistungen zuteil, die ihrem Kind »aus eigenen Mitteln eine den gesundheitlichen und erzieherischen Mindestanfoderungen genügende Aufzucht nicht bereiten können oder wollen«. Fürsorgebedürftigkeit ist also nicht länger »gleichbedeutend mit Armut im verwaltungstechnischen Sinne. Bis weit in den Mittelstand hinein ist eine den Mindestanforderungen genügende Aufzucht [...] nicht mehr gewährleistet; z.B. meistens nicht bei außerhäuslicher Erwerbstätigkeit der Mutter«.25 Der ursprünglich politischwirtschaftliche Bedeutungsgehalt des Wortes »sozial« (Virchow) greift also zum epidemiologisch-bevölkerungswissenschaftlichen hin aus.26 In Tugendreichs Kapitel über Mütter-, Säuglings- und Kleinkinderfürsorge ist von den Bedürfnissen der Mütter und Kinder, dem Auf bau des ärztlichen Dienstes, dem pädiatrischen Diagnosewesen bis zur Ausbildung und Tätigkeit der Fürsorgerinnen alles zusammengestellt, was eine lebendige Anschauung der praktischen Abläufe vermittelt. – A. Gastpar, der Autor des 2. Gesundheitsfürsorge-Kapitels »Schulgesundheitspflege«, tritt im Gegensatz zum Gros seiner Schularztkollegen für jährliche Reihenuntersuchungen neben den obligatorischen Eingangs- und Entlassungsuntersuchungen
25 | GT S. 11. 26 | Zum Bedeutungsgehalt des Wortes »sozial« in der Verlaufsgeschichte der Sozialhygiene s. Thissen in: Lesky 1977, S. 444ff.
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ein.27 Die »verlockende« statistische Bearbeitung der auf »Gesundheitsbögen« dokumentierten Befunde zum auswertenden Vergleich zwischen Schulen und Schultypen leidet noch unter dem Fehlen einer einheitlichen Krankheitsklassifi kation.28 Für den bei der Berufsberatung mitwirkenden Schularzt bewährt sich ein sorgfältig geführter Gesundheitsbogen als willkommene Hilfe.29 An den Fortbildungsschulen wird dem Schularzt vielfach die sexuelle Auf klärung zufallen, wobei er Gelegenheit nehmen kann, unter Vermeidung moralisierender Attitüden auf die Jugendliche durchaus beeindruckenden volkswirtschaftlichen Schädigungen durch Geschlechtskrankheiten und Alkoholismus einzugehen.30
9.2.3 Krankenfür sorge 9.2.3.1 Kranke und Arme: Armenkrankenfürsorge Im Abschnitt über »Krankenfürsorge« und im allgemeinen Teil über Instrumente der gesundheitlichen Fürsorge bringt sich Gottstein selbst ausführlich zu Gehör. Einleitend zum Absatz über die Armen(kranken)fürsorge erläutert er am Beispiel des Verhältnisses zwischen öffentlicher Armenpflege und Wohlfahrtspflege, was der Komplex Fürsorge (ob wie hier auf kranke oder analog auf gesunde Hilfsbedürftige bezogen) in der öffentlichen Maßnahmenpraxis beinhaltet. Im Gegensatz zur Armenpflege (»etatmäßige« Arme nach Frevert) und zu karitativen Initiativen geht es in der Wohlfahrtspflege nicht um Beseitigung individueller Notstände, sondern in der Tat um eine sozialhygienische Aufgabe, die Hebung und Vorbeugung »sozial« (gesellschaftlich) verankerten Elends ganzer Bevölkerungsgruppen. – Die für den Einzelnen zuständige öffentliche Armenpflege bewegt sich legislatorisch und organisatorisch auf einem hohen Standard. Danach stehen jedem erwachsenen Hilfsbedürftigen Unterhaltsleistungen auch für Unterbringung, Kleidung und Heizung sowie Kostenleistungen für ambulante und stationäre Krankenbehandlung durch Bezirke und Pflegschaften in den Aufenthaltsgemeinden zu. – Erst jüngst gelang es nun, mit Hilfe wissenschaftlicher Forschung die Wohlfahrtspflege zu einer vielfältig strukturierten Einrichtung zu entwickeln, die in der Lage ist, wirtschaftlichen, erzieherischen und gesundheitlichen Notständen exponierter Bevölkerungsgruppen zu begegnen und vorzubeugen und darüber hinaus die Gesamtheit vor rückwirkender Gefährdung und Schädigung durch notleidende Volksschichten zu bewahren. Ihren organisatorischen Niederschlag finden die sozialhygienischen Zweige der Wohlfahrtspflege, wie oben schon vermerkt, in Wohlfahrts-, Jugend- und Gesundheitsamt. Die Koordination der unterschiedlichen Amtstätigkeiten erfordert die Mitarbeit des Sozialarztes. 27 28 29 30
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GT S. 128. GT S. 130, vgl. 141ff., Tabellen S. 148f. GT S. 168ff. GT S. 171f.
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Armut begünstigt Disposition und Exposition für Krankheiten, deren Verbreitung, negativen Verlauf und Ausgang sowie komplizierende Folgen. Für die Armenbehandlung ist der vertraglich engagierte Armenarzt (Stadtarzt) zuständig. Eine freie Arztwahl, die schon Virchow 1848 gefordert hatte und gegen die keine Bedenken bestehen, gibt es für Armenkranke meistenteils nicht, Ausnahmen davon eröff nen sich vielerorts bei Konsultation von Fachärzten mit Rücksicht auf spezielle apparative Diagnostik und Therapie. Der Armenarzt hat auf dem Hintergrund der wohlfahrtsfürsorglichen Grundsätze stets zu berücksichtigen, dass eine Wechselbeziehung besteht zwischen Einzelerkrankung und bedrohter Gesamtheit, sodass er den Armenkranken nie als Patienten minderen Rechts ansieht und Diskriminierung durch »seltenere oder spätere Besuche« oder »Zurücksetzung in der Form« vermeidet. Die Behandlung von Patienten in Praxis und Klinik durch den Armenarzt hat »materiell und formal«, abgesehen von »Vermeidung entbehrlicher Ausgaben« und »den einfacheren Verhältnissen«, dieselbe zu sein wie die von zahlungsfähigen Kranken.31 Die Klientel des Armenarztes setzt sich überwiegend aus Frauen, Kindern und Greisen zusammen. Dem entspricht ein in der Regel umrissenes Krankheitsspektrum, das (abgesehen von Fällen akuter Verschlimmerung) keine Besserung, sondern nur Linderung und Schmerzstillung durch seelischen Zuspruch und bewährte preiswerte Mittel aus der pharmakopoea oekonomica zulässt. Akute infektiöse Kinderkrankheiten, akute Lungenentzündungen und abnorme Entbindungen erfordern stationäre Versorgung. Ambulant übernehmen Gemeindepflegerinnen Arbeiten der Tag- und Nachtpflege. Die geschlossene Armenkrankenfürsorge wird eher aufgrund eines Idealbilds ohne kritische Anmerkungen zu Problemen der Errichtung und des Unterhalts geschildert. Asyle für die vorübergehende Unterbringung von Obdachlosen bedürfen ständiger ärztlicher Überwachung wegen der Gefahr der Verbreitung infektiöser und parasitärer Erkrankungen und wegen der gesundheitlichen Verfassung ihrer oft körperlich oder seelisch kranken »Besucher«. Für alte Alleinstehende, hilflose Ehepaare, Sieche und unheilbar Kranke ist ein zweiter Heimtyp gedacht, »hygienisch einwandfreie Unterkunftsanstalten [...] meist mit Tagesräumen, Gärten, Beschäftigungsstätten«, die sich aber zunehmend aus Altersversorgungsanstalten zu überwiegenden Alterspflegeheimen umwandeln, denn »auch das Alter ist eine Krankheit«. So erfüllen diese Häuser eine Entlastungsfunktion im teuren Krankenhauswesen, bei der sie in den Großstädten durch Leichtkrankenhäuser und Genesungsheime unterstützt werden. Der Armenarzt ist »der beste Kenner der Gesundheitsverhältnisse seines Bezirks«. Das befähigt ihn zu einer im eigentlichen Sinne sozialhygienischen Tätigkeit, nämlich zum Jahresbericht (= jährlichen Gesundheitsberichterstattung) »über Lebens-, Wohnungs- und Ernährungsverhältnisse der Einwohner seines Bezirks«. Auch das Wohnungsamt beansprucht Rat und Begutachtung des Armenarztes im Rahmen der gesetzlich geregelten Wohnungsfürsorge. Angesichts des Anstiegs der sozialhygienischen Aufga31 | GT S. 206, 222.
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ben ist es kein Wunder, dass sich die Stellung des Stadtarztes zu der eines Fürsorgearztes ausweitet. Auff älligerweise beanstandet Gottstein hier nicht die Anstellung des Stadtarmenarztes mit der Erlaubnis zur nebenamtlichen Praxisausübung.32 Man wird sich zum Abschluss fragen müssen, warum ein so scharfsichtiger Planer wie Gottstein am Status des historisch hergebrachten Armenarztes festgehalten und nicht der gemeinsamen Volksversorgung durch die Kassenärzte vorgearbeitet hat. Eine Finanzierung der Armenkrankenversicherung über die bereits bestehende gesetzliche Armenfürsorge (Sozialhilfe) hätte nahegelegen. Die humanitäre Forderung, »alle Kranken gleichmäßig zu behandeln«, hätte sich so auch ohne Sozialisierung des Heilwesens erfüllen lassen. Ein Grund mag tatsächlich darin liegen, dass in (privat-)ärztlichem Denken und Gesundheitspolitik ein Unterschied zwischen Kranken und Armen vorherrschte. Kranke wurden gegen Rechnung behandelt, die Versorgung der Armenkranken war Sache des Staates und der Gesundheitspolizei, damit der Allgemeinheit und des Steuerzahlers.33 Ein zweiter Grund mag in den sozialhygienischen Möglichkeiten zu suchen sein, die nur dem auf Fürsorge spezialisierten, mit »polizeilichen« Vollmachten ausgestatteten »Amtsarzt« gegeben waren. Zu lange schon hatten bei den Sozialhygienikern Armut und Krankheit beieinander gelegen, als dass man die Armengruppe einer Population aus der Isolation einer fürsorglichen Observation hätte entlassen mögen. Man denke nur an die Jahresberichterstattung des Bezirksarztes und ihren Informationsschatz für die sozialhygienische Praxis!34 Im übrigen hat die Behandlung von Patienten durch den Armenarzt in Praxis und Klinik »materiell und formal«, abgesehen von »Vermeidung entbehrlicher Ausgaben« und »den einfacheren Verhältnissen«, dieselbe zu sein wie die von zahlungsfähigen Kranken.35
9.2.3.2 Tuberkulose Das wichtige Tuberkulose-Kapitel überlässt Gottstein dem Kölner Gesundheitsdezernenten A. Krautwig. Auf 50 Seiten erörtert dieser in hervorragender Gliederung und knapper Diktion fast alle gängigen Aspekte der Krankheit und des fürsorgerischen Umgangs mit ihr. »Objektives« verräterisches Zeichen bei erblich Disponierten ist der »lange schmale Bau des Brustkorbes mit den abstehenden Schulterblättern, Kleinheit des Herzens mit Blutarmut, lymphatische Konstitution«.36 Die Tuberkulosesterblichkeit zeigt seit Mitte der 80er Jahre rückläufige Tendenz, kaum durch medizinischen Fortschritt, sondern parallel zum Abfall der allgemeinen Mortalität aufgrund der
32 33 34 35 36
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GT S. 200-225. Vgl. Tutzke 1976, 1981. GT S. 218. GT S. 206, 222. GT S. 227.
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Besserung der Lebensverhältnisse in der deutschen Industriegesellschaft.37 Ab 10. Lebensjahr schwankt die Tuberkulosesterblichkeit je nach Altersklasse zwischen 20 und 50 % der Gesamtmortalität.38 Das »Tuberkuloseelend« besteht demnach unverändert fort und veranlasst zur »planmäßigen Bekämpfung [...] mit allen Waffen der sozialen Hygiene«. Als die wirksamsten haben sich Heilstätten und Fürsorgestellen erwiesen.39 Neben Armen und Kassenmitgliedern stehen die ärztlich geleiteten Fürsorgestellen auch weiteren Bevölkerungskreisen offen, zu denen auch bessergestellte gezählt zu werden scheinen, da der Erkrankte grundsätzlich im Verein mit der ganzen Familie und allen Haushaltsangehörigen einschließlich von »Dienstboten« zu untersuchen und zu beraten ist. Hand in Hand mit der medizinischen Fürsorge gehen Wohlfahrtsmaßnahmen mit materieller Unterstützung für Miete/Umzug, Nahrungsmittel, Kleider und Desinfektionsmittel. 40 – Die »Seele« des Fürsorgestellen im Sprechstundenbetrieb, besonders aber im ambulanten Dienst sind speziell ausgebildete Fürsorgerinnen. Sie stellen durch Hausbesuche den Kontakt her zu »Familie und Wohnung«, um im Umfeld des Klienten die für die angemessenen Aktivitäten notwendigen Informationen einzuholen und die hygienische Versorgung sicherzustellen. 41 – Gegen die Auffassung »übereifriger« Rassenhygieniker, die Sozialhygiene habe sich bei Tuberkulose mit ihrer Fürsorge zurückzuhalten, um die »vernünftige Auslese« zwecks »gesunder Aufwärtsentwicklung der Menschheit« nicht zu sabotieren, sprechen zwei Gründe: erstens sind »manche« fortgeschrittene Fälle durchaus zu heilen oder zu bessern und zweitens erübrigt sich in den meisten Familien und Wohnungen ohne Heilmaßnahmen am Kranken jede Vorbeugungsmaßnahme. 42
9.2.3.3 Geschlechtskrankheiten Die Geschlechtskrankheiten veranschaulichen aufgrund ihrer Chronifizierungstendenz mit schubweisem und/oder komplikationsträchtigem Verlauf eindruckvoll, dass bei Volkskrankheiten trotz individualmedizinischer Behandlungsmöglichkeit fachärztliche Betreuung allein nicht genügt, sondern eine oft langzeitige sozialhygienische Beaufsichtigung hinzutreten muss, um sie bevölkerungsmedizinisch erfolgreich zu bekämpfen, d.h. ihnen die Nachschubwege abzuschneiden. Das gilt besonders für die Syphilis. Bei ihr fungiert die sozialhygienische Beratungsstelle als kompetente Instanz zwischen Arzt und Patient zur Überbrückung der »gesunden Zwischenzeit«. Ohne längerfristige fachliche Überwachung drohen Verschleppung und Weiterverbreitung der Krankheit in Familie und Bevölkerung namentlich im symptomfreien Intervall. 37 38 39 40 41 42
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GT S. 233f. GT S. 230f. GT S. 235. GT S. 240ff. GT S. 245. GT S. 259f.
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Den entscheidenden Fortschritt verdanken wir der gesundheitlichen Auf klärungsarbeit der Deutschen Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten seit 1910: sie ermöglichte die vorurteilslose Thematisierung des Problems in der Öffentlichkeit, erleichterte dem Betroffenen das Outing, illustrierte Gefahren und Schutzmaßnahmen und ersetzte die moralisch-skrupulöse Bewertung durch eine objektive Einschätzung der Heilungsaussichten. Die ersten Beratungsstellen eröffneten die Landesversicherungsanstalten hauptsächlich für ihre Mitglieder. 43 Später errichteten auch Kommunen für die ganze Bevölkerung zugängliche, ärztlich geleitete Beratungsstellen. Die Hauptschwierigkeit lag darin, dass nunmehr für den Fall einer heiklen und langwierigen Erkrankung zwei Instanzen – Facharzt und Beratungsstelle – zuständig waren. Es galt, den Patienten (auch bei Symptomfreiheit) zur Mitarbeit mit der Beratungsstelle zu motivieren bei gleichzeitiger Garantie eines perfekten Datenschutzes auch gegenüber der Familie. Für die Beratungsstelle ergibt sich eine doppelte Aufgabe: ihr obliegen Untersuchung des Ratsuchenden, Diagnose, Befunddokumentation und Sicherung der fachärztlichen Betreuung, sodann die Einbestellung zur regelmäßigen Kontrolluntersuchung ggf. unter Anwendung von Mahnverfahren und zulässigen Druckmitteln (z.B. Hinweis auf Wegfall der Invalidenrente bei Nichtbefolgung!). Mehr als die Hälfte der Betroffenen melden sich inzwischen freiwillig bei den Beratungsstellen, die übrigen gelangen durch Überweisung von Landesversicherungsanstalten, Krankenkassen, Krankenhäusern, Ärzten und Wohlfahrtsvereinigungen dorthin. Die Beratungsstelle konfiguriert sich sinnvollerweise als Mittelpunkt eines Netzes zwischen »Körperschaften der sozialen Versicherung«, den Ärzten aus derem Wirkungskreis, anderen Zweigen der Gesundheitsfürsorge und Krankenhäusern, besonders der Geburtshilfe. Bedachtsamkeit gebietet sich nach jeder Klinikentbindung, nicht nur bei der unehelichen Primipara, die zwingend in die Obhut der Fürsorge für Mutter und Kind gehört, sondern auch bei verheirateten Müttern, die sich oft einer Syphilisinfektion nicht bewusst sind und die »Flechte« ihre Kindes fehldeuten.44 Ein Reichsgesetz zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten befindet sich erst in Vorbereitung. Die Aufklärung einer unwissentlich erkrankten Mutter ist bislang nur mit Zustimmung des Ehemanns möglich, die Mituntersuchung von Familiengliedern nur mit Zustimmung des Erkrankten. Vorgesehen im künftigen Gesetz ist eine neue Art des Umgangs mit der offenen und heimlichen Prostitution, der Hauptquelle für Neuinfektionen. Statt polizeilicher Sittenkontrolle (»Reglementierung«) erstrebt man jetzt die gesundheitliche Überwachung mit Steigerung der Behandlungsmöglichkeiten. Diskutiert wird eine unterschiedslose regelmäßige Meldung aller Erkrankten während der Krankheitsdauer »nicht an die Polizei, sondern an ein 43 | Aus der Sicht Telekys waren es »zum größten Teil« die staatlich arrangierten »Sozialversicherungsinstitute«, die die Verstaatlichung der Gesundheitsfürsorge vorantrieben, Teleky 1950, S. 141. 44 | GT S. 287.
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registrierendes Gesundheitsamt«, 45 das Zwangsmittel nur gegen therapierenitente Patienten einsetzt. Halbkommunale Pflegeämter sorgen für eine präventive Komponente im Prostituiertenwesen, indem sie in Zusammenarbeit mit kirchlichen Organisationen »aufgegriffene« jugendliche Aspiranten und »Neulinge« vor dem definitiven Abgleiten in das gewerbsmäßige Milieu bewahren. Als Gesundheitsüberwachung geht ein Teil der Prostitutionskontrolle an die Pflegeämter über, was dann vollends deren Kommunalisierung unter Einbeziehung ärztlicher Kompetenz besiegelt. Der gegenseitige Austausch von Gesundheitsbescheinigungen vor der Eheschließung, auch wenn er gesetzlich zur obligatorischen Voraussetzung erklärt wird, kann allenfalls zur Substanz der Beratung beitragen, aber kein Eheverbot begründen. Auf jeden Fall lassen die beabsichtigten gesetzlichen Regelungen auf dem Gebiet der Geschlechtskrankenfürsorge eine Ausweitung der sozialärztlichen Tätigkeit erwarten. 46
9.2.3.4 Die dritte Volksseuche: Der Alkoholismus Weitere Themen im Kapitel »Krankenfürsorge«, die Gottstein im Buch selbst behandelt, betreffen die Fürsorge für Alkoholkranke, Krüppel, Taubstumme und Blinde sowie das Unfall- und Rettungswesen. Alkohol betrachtet der Initiator des »Praktikums« bereits als Einstiegsdroge für Rauschgiftabhängigkeit (Cocain). Alkoholismus ist für ihn Folge und Ursache »erblicher Entartungsvorgänge« (auch neuropathischer). Das Folgenbild der gesellschaftlichen Auswirkungen in Verbindung mit biologisch-sozialdarwinistischen Vorstellungen beherrscht derartig seinen Gesichtskreis, dass er fast zu einem ätiologischen Monismus gelangt, der differenziertere Überlegungen zum Ursachenkomplex kaum zulässt. Gewiss ist Alkoholismus nicht nur Laster, sondern auch Krankheit, neben Tuberkulose und Geschlechtskrankheiten »eine der drei großen Volksseuchen«, zu deren Bekämpfung und Verhütung der Sozialarzt aufgerufen ist. Dabei empfehlen sich wieder spezielle Beratungs- oder Fürsorgestellen. Abschreckungskampagnen mit abstoßenden Schaubildern in Volksschulen werden verworfen, nicht aber in Berufsschulen. Große Bedeutung für Primär- und Sekundärprävention kommt den seit Jahrzehnten bestehenden Enthaltsamkeitsvereinen und ihren antialkoholischen Propaganda- und Präventionsmaterialien zu. Zur hohen Wertschätzung der Vereine kontrastiert allerdings die geringe bzw. fehlende Einsicht in ihr spezielles Argumentationsmuster. Das Interesse an der individuellen Alkoholikerpersönlichkeit ist (wie heute) relativ gering, es überwiegt die Sorge um Familie und Gesellschaft. Der von Beratungsstelle oder Arzt im Einzelfall veranlasste Ablauf ähnelt ebenfalls dem heutigen Verfahren: bis 2-wöchige klinische Entgiftung, mehrmonatige Entwöhnung in der Heilstätte und lückenlose Langzeitbetreuung durch Verein oder Be45 | GT S. 293. 46 | GT S. 281ff.
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ratungsstelle. Die Prognose der Therapiearten fällt nach den mitgeteilten Zahlen für heutige Vorstellungen schlecht aus, obwohl Gottstein sie für relativ akzeptabel hält. Von 250 Zugängen 1913 in der Beratungsstelle Charlottenburg konnten 85 über Vereinsanschluss stabilisiert werden, eine Zahlenangabe allerdings ohne Langzeitkontrolle. 47
9.2.3.5 Krüppelwesen – Taubstumme und Blinde – Unfall- und Rettungswesen Unter »Krüppel« versteht man z.Zt. der einschlägigen Gesetzgebung Schwerbehinderte durch dauerhafte Schädigung des Bewegungsapparats, deren Funktionsstörungen auf angeborenen oder erworbenen chronischen Erkrankungen des Skelett(Knochen)-, Muskel- und bewegungssteuernden Nervensystems beruhen (in prozentual abfallender Reihenfolge vor allem Kinderlähmung, Knochen- und Gelenk-Tuberkulose, Rachitis und Wirbelsäulenverkrümmung). Die Krüppelfürsorge, die als Heim-, ambulante und vorbeugende Fürsorge organisiert ist, richtet unter dem Gesichtspunkt der Verhütung ihr Hauptaugenmerk auf die fast 100.000 jugendlichen Krüppel, von denen mehr als die Hälfte »heimbedürftig« sind. Die Heime für die Schulpflichtigen sollten am Rande von Großstädten liegen und »Klinik, Schule und Handwerkslehre unter ein(em) Dach« vereinen. Ein Team aus Ärzten, Lehrern und Handwerksmeistern sorgt für die Rehabilitation bis zur Erwerbsfähigkeit nicht nur in untergeordneten, sondern auch in qualifizierteren Berufen, die »bei höherem Verdienst kürzere Arbeitszeit« erlauben. – Die ambulante Krüppelfürsorge, die in Dänemark und England die Hauptform darstellt, hat ihr Zentrum wieder in der Beratungsstelle für poliklinische Versorgung und Berufsberatung. Gottstein empfiehlt, dem »Beispiel Londons« zu folgen und schulpflichtige Behinderte unter der Obhut freiwilliger Helferinnen mit Omnibussen zu Ganztagsschulen hin- und zurückzutransportieren. – Zur Progredienzprophylaxe wird größtes Gewicht auf Früherkennung gelegt. Die Quelle für Progredienz bis zur Unheilbarkeit oder Terminalisierung sind »Not [...] und zerrüttete häusliche Verhältnisse«, der »soziale Tiefstand«. Die vorbeugende Krüppelfürsorge erweist sich als Domäne der aufkommenden Kleinkinderfürsorge, weil das Kleinkindalter das Prädilektionsalter für die Krankheitsprogredienz ist. Die beteiligten Fürsorgestellen erfüllen eine Brückenfunktion zwischen unterprivilegierter Volksschicht und medizinischem Fortschritt. Ambulante Gruppenprophylaxe lässt sich gerade bei Kindern in Form von Impfungen, Sonnenbestrahlung, Ernährungsfürsorge, orthopädischen Schulturnkursen, Solbädern sowie Aufenthalten in Kinderheilstätten, Walderholungsstätten und Waldschulen realisieren. In letzter Konsequenz sind auch Kinderkrippen, Kindergärten und Horte »hygienisch auszugestalten«, wie Schulen ärztlicher Aufsicht zu unterstellen und Ferienkolonien schon für Kleinkinder zu öff nen. 48 47 | GT S. 296-307. 48 | GT S. 321-328.
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Parallel zum Rückgang der Infektionskrankheiten findet sich auch eine Verringerung der Zahl von Blinden und Taubstummen, wobei die ersteren bei dieser Entwicklung prävalieren. Auch die Kombination der »Gebrechen« mit Geisteskrankheiten ist bei Blinden weitaus seltener. Das berufliche Fortkommen stellt sich dagegen bei den Taubstummen günstiger dar. Allerdings hat das Interesse für die Kriegblinden die Schaff ung von Arbeitsplätzen für Blinde »in gehobenen industriellen Betrieben«, z.B. der Feinmechanik intensiviert. In Preußen stehen 48 Taubstummenanstalten 17 Blindenschulen gegenüber. In Marburg gibt es zentrale Einrichtungen für eine akademische Berufsausbildung von Kriegsblinden. 49 Der schnelle Ausbau des Krankenhauswesens um die Jahrhundertwende, primär gedacht als Zentralmaßnahme im Sanierungskonzept der Seuchen (s. Grotjahn 1923), führte in der Konsequenz zur Begründung eines ausgeklügelten Rettungs- und Krankenbeförderungswesens. Äußere Anstöße für die Entwicklung gaben Massenunfälle wie der Wiener Ringtheaterbrand 1881, der Anstieg der Verkehrsunfallszahlen in den Großstädten, die Aktivitäten privater Hilfsorganisationen, der Ausbau der Unfallverhütung in Industrieund Handwerksbetrieben sowie das Interesse der Ärzte an Notfallmedizin und Erster Hilfe nicht nur bei Unfällen, sondern auch plötzlichen Erkrankungen. 1912 wurden in Preußen und Berlin durch Ministerialerlass Rettungswesen und Krankentransport den Gemeinden auferlegt in Form von (in Gottstein’s Buch abgedruckten) »Grundsätzen«. Die Rahmenrichtlinien der Grundsätze, die den Betreibern reichlich Raum lassen für die organisatorische Ausgestaltung im Einzelnen, enthalten Bestimmungen über ärztliche Aufsicht, Gebühren nur für Zahlungsfähige, Rettungswachen, Laienhilfe, räumliche Einrichtung (»helle, heiz- und lüftbare und mit Lagerstätten versehene Räume«), Versorgung Bewusstloser und Geisteskranker (Sicherstellung der gesundheitlichen Überwachung, keine Unterbringung Bewusstloser in Polizeigewahrsam!), Krankenbegleitung (Begleitung von Frauen und Kindern »wenigstens von einer weiblichen Person«), Krankenhausaufnahme ggf. auch ohne Aufnahmeschein etc. In Berlin gibt es neben der »Hauptkraftwagenstation« in Stadtmitte eine ganze Reihe von Rettungswachen ebenfalls mit Transportausrüstung, dadurch sind die Vorortgemeinden durch »zweckmäßige Verteilung der einzelnen Rettungsstellen in die Versorgung einbezogen«. Zum Großberliner Rettungswesen gehört ein Krankenbettennachweis mit eigenem Fernsprechnetz. Bei Massenunfällen informiert die Zentralmeldestelle die dezentralen Rettungsstellen, Krankenanstalten, Krankenwagendepots, Ersatzärzte, Feuerwehr, Polizei und den ärztlichen Direktor als Einsatzleiter.50
49 | GT S. 329ff. 50 | GT S. 308-320.
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9.2.4 Statistik (»Obser vationes et numerandae sunt et perpendendae«) Der Arzt oder Hygieniker, der die Wirkung seiner Maßnahmen beurteilen will, gerät zwangsläufig und deshalb in der Regel unvorbereitet in das Umfeld der angewandten Statistik. Entsprechend haben seine Leistungen auf diesem Gebiet »zutreffend einen sehr schlechten Ruf«. Der Fehler z.B., ohne Kontrollgruppe zu arbeiten, ist in Klinik und Hygiene »alltäglich und in der Geschichte der Medizin verewigt«. Demgegenüber liegt Gottstein zunächst am Ausschluss der gröbsten Fehlerquellen durch Standardisierung (z.B. nach Alter), Aufstellung von Kontrollgruppen zur Vergleichskontrolle, Einhaltung der erforderlichen Größenordnungen nach den Regeln der Wahrscheinlichkeitsrechnung und Behandlung der Teilmengenergebnisse als Wahrscheinlichkeitswerte, die mit Rücksicht auf wechselnde Grundgesamtheiten eines Bezugs zu festen Zahleneinheiten (n : 100.000 etc.) bedürfen. Die Bedeutung der großen Zahl zur Egalisierung von Ausreißern zeigt sich schon bei der Ermittlung von Durchschnittswerten. Gottstein beschäftigt sich hauptsächlich mit amtlicher und deskriptiver Statistik und unterteilt in Bevölkerungs-, Erkrankungs- und Sterblichkeitsstatistik. Technisch benutzt die Statistik zur Darstellung Tabellen, Kurven und (Säulen-)Diagramme. In seinem Nachkriegsbuch beschränkt sich Gottstein allerdings auf Tabellen und verzichtet auf Wiedergabe graphischer Darstellungen, die er aber gelegentlich anschaulich beschreibt. Im Abschnitt »Biometrie« schält sich aus seinem Text zu Körperlängenmessungen an Gesunden die Glockenkurve der Normalverteilung heraus: bei Übertragung der Messdaten und Probandenzahlen in ein Koordinatensystem »bilden die Werte für den Durchschnitt einen steilen Gipfel, während die Zahlen für die höheren oder tieferen Werte zu beiden Seiten steil abfallen und die Extreme nur vereinzelt auftreten«.51 Amtliche Zählungen ermöglichen die statistische Aufnahme einer (Grund-)»Gesamtheit«, Teilgruppen lassen sich durch eine »Enquete« oder »Erhebung« (heute Stichprobe, Stichprobenerhebung) erfassen. Die Arbeitshypothese wird noch mit »Erörterung bestimmter Fragen« umschrieben, allerdings betont, dass es hierbei auf die »Schärfe der Fragestellung« ankomme, die Eindeutigkeit und Vollständigkeit der Antworten auf »Zählkarten« müsse gewährleistet sein. Der weitere Gang der Untersuchung wird mit Stichworten wie Aufbereitung des Materials mit Hilfe von »Zählmaschinen«, Tabellarisierung, Ausschöpfung aller nur möglichen Gegenüberstellungen und Schlussfolgerungen umrissen. In der Bevölkerungsstatistik kommen (ohne den Wortgebrauch) die Alterspyramide und ihre Veränderungen zur Sprache. Zum Vergleichspunkt zur Beurteilung der Schwankungen im Altersaufbau der Bevölkerung nimmt man in Deutschland als alterskonstante »Standardbevölkerung« die aus dem Jahre 1910. In den vergangenen Jahrzehnten ist in den meisten europäischen Ländern, besonders in den Großstädten, eine 51 | GT S. 370; zum Säulendiagramm s. GT S. 338.
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stetige Abnahme der Geburtenziffer zu beobachten. Der Autor erwähnt zwar Ein- und Zweikindersystem und schätzt die Zahl der kinderlosen Ehen auf 10 %, sieht an dieser Stelle aber nicht wie Grotjahn die Gefahr eines »Volkstods« oder der Überfremdung durch benachbarte Nationen (die ohnehin nach beiden Autoren europaweit an der Rückentwicklung der Bevölkerungsdichte teilnehmen). Laut einer vom Autor unter »Sozialstatistik« abgedruckten Tabelle lag überdies die Wohnungsdichte in deutschen Städten zwischen 8 und 77,5/Gebäude gegenüber einer Zahl von 5/Gebäude in englischen Städten. Die Krankheitsstatistik unterliegt aus Gründen der Diagnostik und Bewertung einem erheblichen Fehlerpotential. Immerhin lassen sich den verschiedenen Lebensaltern prävalierende Krankheitsverteilungen zuordnen. Bei den Krankenhausaufnahmen in Berlin 1909 dominieren bei weitem noch die Infektionskrankheiten, den zweiten und dritten Platz auf der Häufigkeitsskala nehmen die Erkrankungen der Verdauungs- und Geschlechtsorgane ein, die vermutlich auch die häufigsten (gynäkologischen) Malignome einschließen. Auch sonst divergiert die Variationsbreite der übrigen klinikpflichtigen Erkrankungen wesentlich vom Spektrum der heutigen klinischen Krankheitsstatistik. Die Krankheiten der »Zirkulationsorgane« halten sich eher im hinteren Feld. Die Krebsleiden erscheinen in dieser vornehmlich nach Organsystemen geordneten Aufstellung nicht in einer Extrarubrik.52 Zu den statistisch-epidemiologischen Basisbeobachtungen gehört die Sterblichkeitsanalyse. Mortalität bezeichnet die in einheitlichen Zeit- und Raumverhältnissen ermittelte Sterblichkeit bezogen auf die Zahl der Lebenden, relative Mortalität den Anteil der unterschiedlichen Todesursachen an allen Todesfällen, Letalität das Verhältnis der Zahl der Verstorbenen zur Zahl der Erkrankten. Zur Letalität kombiniert man sinnvollerweise die Morbidität: durch Prophylaxe kann sie verringert werden, ohne die Letalität zu verändern, eine wirksame Therapie setzt die Letalität herab, ohne die Morbidität zu beeinflussen, in beiden Fällen geht die Mortalität zurück. Sterbetafeln sind die in festen Zeitintervallen (Dezennien) erstellten Sterblichkeitsreihen in der Bevölkerung im Sinne einer Grundgesamtheit, sie spiegeln die Entwicklung der Sterblichkeit einer Generation und sind unerlässlich zur Berechnung der mittleren Lebensdauer. Der ununterbrochene Rückgang der Sterblichkeit für alle Altersklassen beider Geschlechter in jüngerer Zeit seit Mitte des 19. Jh. in fast allen Kulturstaaten »ist ohne Beispiel in der etwa zwei Jahrhunderte zurückreichenden Statistik«. Gottstein behandelt in seinem Buch aber nicht die heute im Mittelpunkt des Interesses stehende, geschlechtsspezifische mittlere Lebenserwartung bei Geburt, sondern die nach der Sterbetafel bestimmte mittlere Lebensdauer der jeweiligen Altersklassen. Ein geschlechtsspezifischer Unterschied 52 | Obwohl der Berliner Onkologe Ferdinand Blumenthal (1870-1941) (s. Tab. 6) von 1903-1917 in der Charité eine Fürsorgestelle für Krebskranke unterhielt und diese Arbeit über sein Institut für Krebsforschung und private Initiativen auch in der Weimarer Zeit fortsetzte, Frankenthal 1981, S. 276f.
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in der ansteigenden mittleren Lebenserwartung53 fällt statistisch noch nicht ins Gewicht, zu der nur über Männer mitgeteilten Tabelle bemerkt Gottstein lediglich, »die für Frauen ist fast durchweg etwas günstiger«. Zwischen Sterblichkeit und Armut, Beruf, Sozialstatus und Wohnungsüberfüllung bestehen eindeutige Korrelationen (es finden sich »trotz der Unsicherheit der Maßstäbe [...] starke Ausschläge«). Eine klare Übersterblichkeit herrscht im Vergleich zu ehelich Geborenen bei unehelichen Säuglingen in Abhängigkeit von Ernährung und Stillhäufigkeit. Bei den Berufen weisen am Jahrhundertende in England Geistliche, Intellektuelle und Bauern die niedrigste Standardsterblichkeit auf, Handelsreisende, Ärzte und Schneider erreichen ein mittleres Lebensalter, für Industriearbeiter, Brauer, Gastwirte und Töpfer ist Frühsterblichkeit angezeigt. Akute Infektionen, Tuberkulose, akute Atemwegserkrankungen und Krebs erhöhen im Vergleich zu Wohlhabenden die Mortalität der Schlechtergestellten besonders im jüngeren Lebensalter, während Wohlstandskrankheiten wie Diabetes mellitus, Herzkreislauferkrankungen und Nierenkrankheiten meist im höheren Lebensalter vermehrt zum Exitus führen. Die Übersterblichkeit der Wohlhabenden an den für ihren Status spezifischen Erkrankungen ist allerdings wegen des letalen Ausgangs im höheren Lebensalter sozialhygienisch nicht relevant. Nach einer Wiener Studie steigert der Überfüllungsgrad von Wohnungen, angegeben von 10-30 %, die Sterblichkeit auf 1000 Lebende von 15,2 auf 24,3. In der Sozialstatistik beziffert Gottstein die Zahl der gewerblichen Arbeiterinnen in Deutschland für das Jahr 1907 auf 1,6 Millionen, die aller berufstätigen Frauen auf 9 Millionen, das waren immerhin knapp 50 % aller Frauen im erwerbsfähigen Alter schon vor dem 1. Weltkrieg!54 Wiedergegeben sind in diesem Nachkriegswerk, übrigens unter Hinweis auf die Standardwerke von Westergaard, Prinzing und Kisskalt aus dem 1. Dezennium des Jahrhunderts, wirklich nur erste Grundvorstellungen einer modernen, methodisch-statistischen Gesundheitsepidemiologie, die noch kaum etwas ahnen lassen von unseren heutigen statistisch-mathematischen Möglichkeiten von Korrelationen, analytischer Statistik, statistischen Tests, Signifi kanz, Fehleranalysen und vergleichenden Verlaufsstudien mit Randomisierung und Doppelblindverfahren.
9.2.5 Biometrie (Anthropometrie) Der Arbeitszweig befasst sich mit Körpermessungen aller Art in den verschiedenen Lebensaltern bei beiden Geschlechtern (Längen, Distanzen, Umfängen, Oberflächen, Gewichte etc.) und den Beziehungen der ermittel53 | Die Kurven der ansteigenden mittleren Lebenserwartung für beide Geschlechter driften besonders im Vergleich zwischen unterschiedlichen Sozialschichten auf beiden Seiten nach wie vor zugunsten der Frauen auseinander. Die Lösung dieses Problems wird inzwischen zu einer »Herausforderung« für die epidemiologische Forschung (Badura in Hurrelmann/Laaser 1993, S. 72). 54 | GT S. 366.
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ten Durchschnittswerte zueinander. Die Biometrie liefert leicht anwendbare Kriterien für Gedeihen, Wachstum, Ernährungszustand, militärische Tauglichkeit, berufliche Belastungsfähigkeit, Lebenserwartung, Konstitution, Krankheitsanlagen und Erbmerkmale. Dementsprechend liegt ihre Bedeutung auf den Gebieten Säuglingsfürsorge, Schulgesundheitspflege, Militärmedizin, Arbeitsmedizin, Versicherungsmedizin, Konstitutionspathologie, Vererbungslehre und Rassenlehre. Von ihr entwickelte Formeln und Indices haben sich in der Praxis durchgesetzt, wie die Broca’sche Formel zur Bestimmung des Normalgewichts. Die Biometrie hat eine (vom heutigen Standpunkt nicht ganz indifferente) Nähe zur Vererbungslehre und Eugenik (heute auch Gentechnik) und damit letztlich zur Rassenlehre, wie Gottstein bemerkt. Er selbst steht einer anstandslosen Verknüpfung der Methoden distanziert gegenüber, wie der Einbeziehung von in der Familienforschung ermittelten Merkmalen in die Eugenik oder der Übertragung der Mendelschen Regeln auf die »Pathologie der Vererbung«, solange die Forschungen noch im Anfangsstadium oder strittig verlaufen. Aber einem Phänomen hat die Biometrie in diesem Zusammenhang zu einer sichereren theoretischen Erfassung verholfen: der ästhetischen Dimension von Gesundheit. Die künstlerischen Idealmaße des menschlichen Körpers, wie sie Johann Gottfried Schadow und Carl Gustav Carus zusammenstellten, stimmen überein mit den Durchschnittswerten der modernen Anthropologie und Statistik. Gottstein betrachtet dies als einen Beleg für »den inneren Zusammenhang von Gesundheit und Schönheit«. Nach Pettenkofer definiert er Gesundheit als »Zustand, der aus einer Summe von Funktionen des Organismus besteht, deren harmonisches Zusammenwirken das Bestehen des Kampfes ums Dasein erleichtert«. Krankheiten sind dann »die Störungen dieser Harmonie«. Diese gehen einher mit Veränderungen im Verhältnis der Organmaße zueinander, wie umgekehrt »Abweichungen von der Harmonie der Körpermaße auch Krankheitsanlagen bedingen«.55
9.2.6 Kritische Bewer tung: Die Formierung einer professionalisier ten und einheitlich organisier ten kommunalen Gesundheitsfür sorge Das frühe Nachkriegsbuch ist das Manifest der in der Sozialhygiene jetzt durch Gottstein zur vollen Blüte gelangenden Gesundheitsfürsorge als Praxis der Bekämpfung von Volkskrankheiten zur Wiederherstellung der körperlichen und geistigen Leistungsfähigkeit der Nation. Vor dem Krieg bildete die Sozialhygiene in Deutschland hauptsächlich ein praktisches berufliches Betätigungsfeld. Im Mittelpunkt stand die Fürsorgearbeit einer Diaspora aus privaten, karitativen, wohlfahrtlichen und kommunalen Trägern, die ihre Aktivitäten meist auf wechselnde Bedürfnisse im örtlichen Bereich nach 55 | GT S. 369-378; an letzteren Gedanken schließt Grotjahn an, wenn er beim Astheniker die Tuberkuloseanfälligkeit auf das angebliche Missverhältnis zwischen Brustumfang und Körpergröße zurückführt.
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den gegebenen Möglichkeiten hin ausrichteten. Was dabei zum durchschlagenden Erfolg fehlte, war ein normiertes Vorgehen nach einheitlichen Organisationsprinzipien und einem anerkannten Arbeitsprogramm, die Professionalisierung der Mitarbeiter und ein gleichmäßiger Geldmittelzufluss. – In der unmittelbaren Nachkriegszeit drängte die Krisenlage der Bevölkerung die inzwischen als Leitwissenschaft stabilisierte theoretische Sozialhygiene zu einer sofortigen Wahrnehmung ihres (durch die Deklaration des Wohlfahrtsstaats in der Verfassung von 1919) neugewonnenen Instruktionsrechts gegenüber ihrem praktischen Pendant, um der gewaltigen Herausforderung angesichts einer angeschlagenen Massengesellschaft zu begegnen. In prompter Reaktion auf den politischen Umsturz veröffentlichten Gottstein und ein Kreis wissenschaftlicher Freunde 1918 bzw. 1920 (in 1. und 2. Auflage) ein knapp 500 Seiten starkes Praxis- und Lehrbuch, das Standard-Unterrichtswerk für ärztliche Fürsorgetätigkeit aller Art, die charakteristischerweise auch Verwaltungsmediziner und Kassenärzte einschließen sollte. Das Buch war als Weiterbildungsbuch gedacht, das gerade Ärzte in großer Zahl durch eine Art Spezialisierung oder Weiterbildung an die Sozialhygiene heranführen sollte. Gottstein, in seiner Stellung als Ministerialdirektor im Preußischen Ministerium für Volkswohlfahrt berufl ich autorisiert als »Verwaltungsmediziner«, erstrebte eine reichsweite große Reform oder Umstrukturierung des Fürsorgewesens als einziger realistischer Lösung. Zwei Voraussetzungen waren dazu zu erfüllen. Einmal musste das Fürsorgewesen, in welcher Form und unter welcher Ägide es sich auch immer darstellte, ärztlicher Leitung unterstellt sein. Sodann sollte es, ohne gesetzliche Verpfl ichtung, zur halbamtlichen Zentralinstitution aufsteigen durch überwiegende Integration in die kommunale Verwaltung. Dieses Konzept eines kommunal-sozialisierten Fürsorgewesens war auch allein dazu in der Lage, die intensivierten Arbeitsvorgaben finanziell abzusichern. Praktisch heißt das: Gottstein bindet im Einverständnis mit seinen Fachkollegen die Gesundheitsfürsorge heraus – bis der NS-Staat 1934 mit Hilfe des von rektionären Kräften schon in der Weimarer Republik vorkonzipierten »Gesetz(es) zur Vereinheitlichung des Gesundheitswesens« die Gesundheitsämter verstaatlicht, ihren Zwecken dienstbar macht und die sozialhygienischen Zielvorstellungen hinwegfegt56. Das Buch dokumentiert die ersten Schachzüge Gottsteins zur Übernahme der Fürsorge durch die kommunale Verwaltung. Das Praktikum bezeichnet die literarische Gründungsurkunde der Gesundheitsfürsorge als essentiellem Bestandteil der Sozialhygiene. Medikalisierung und Kommunalisierung des Fürsorgewesens schienen die geeigneten Mittel, in der jungen Demokratie dezentral die Probleme, die mit den vielfältigen früheren und den neuen kriegs- und nachkriegsbedingten Notlagen der Bevölkerung gegeben waren, schnell und nachhaltig zu bewältigen. Erst nach dem Staatsstreich 1933 konnte die kommunale Organisation des Fürsorgewesens durch ein nicht rechtsstaatliches, autoritäres Regime
56 | Zum Themenkomplex vgl. Labisch/Tennstedt 1985.
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missbraucht und zur Verstaatlichung des Gesundheitswesens ausgenutzt werden.
9.3 Gottsteins Hauptschrif ten über Fragen der Sozialen Hygiene 1920 bis 1926 – prak tische Umset zung der Feststellungen der Sozialhygiene in der Gesundheitsfürsorge Die neue Gesundheitspflege (NG) 1920 Krankheit und Volkswohlfahrt (KV) 1920 Das Heilwesen der Gegenwart (HW) 1924 Schulgesundheitspflege (SG) 1926
9.3.1 Gesundheitswissenschaf t im Einvernehmen mit der Massengesellschaf t In seiner herausragenden Monographie aus dem Jahre 1924 fasst Gottstein unter Wiedergabe zahlreicher Ergebnisse früherer Arbeiten seine Anschauungen über Soziale Hygiene zusammen. Für ihn typisch ist dabei die dezidierte Ausweitung auf die öffentliche Gesundheitsfürsorge, wie sie sich auch im Titel des ein Jahr später erscheinenden Handbuchs kundtut. Das in Rede stehende Werk repräsentiert nicht eines der wenigen Lehrbücher des Fachs für akademische Zwecke, sondern bezeichnet ein einzigartiges Lehrbuch oder Sachbuch für das breite Laienpublikum.57 Im letzten Jahrhundertdrittel erfolgte eine »Ausdehnung hygienischer Kultur auf alle Klassen der Gesellschaft«. Deshalb hat die ganze Bevölkerung Anspruch auf Gesundheitsbildung. Das Buch will diesem »Bildungsbedürfnis auf dem Gebiete der Gesundheitslehre Rechnung tragen«. »Gesundheitswissenschaft« lässt sich nicht von oben an der Gesellschaft, sondern nur mit ihr gestalten, sie braucht zum Erfolg für ihre Forderungen »das Verständnis der großen Masse«.58 Letzterer muss bewusst werden, dass für sie eine »Pflicht zur Gesundheit« besteht, nämlich »die
57 | Ganz im Sinne der Hygienebewegung geht es Gottstein darum, dass »die Grundforderungen eines gesundheitlich einwandfreien Lebens Volksbesitz werden«, HW S. 198. 58 | HW S. 6ff., 10f. – Der Begriff »Gesundheitswissenschaft« gehört bei Gottstein seit Anfang des Jahrhunderts, erst recht in den Schriften der 20er Jahre zum festen Vokabular. Auf S. 205 bezeichnet Sozialhygiene »ein eigenes neues Arbeitsgebiet der Gesundheitswissenschaft«, auch die früheren Hygiene-Perioden seit Virchow fallen unter den Begriff, S. 202, NG S. 9. Die »Anfänge einer wirklichen Gesundheitswissenschaft aber gehen nicht sehr weit über den Beginn des 19. Jahrhunderts zurück und von einem wirklichen planmäßigen Ausbau kann erst seit dem letzten Drittel des vorigen Jahrhunderts gesprochen werden«, NG S. 15.
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Pflicht des einzelnen im Volk, [...] die Lehren der Gesundheitswissenschaft [...] zu befolgen«.59 Die neue Gesundheitspflege erstrebt eine zweite Auf klärung, die als »ästhetischer Genuß«, als »seelische Erhebung« erlebt wird.60 Die Vorstellung, ein Dämon befalle bei Krankheit den Körper, hat der Einsicht zu weichen, dass man aus Unwissen »sich selbst krank macht«.61 So wird Bildung zum Rückhalt der Volksgesundheit; diese lässt sich nicht ohne Bildungsfortschritt unter den Volksmassen realisieren, erst ein allgemeiner Kulturaufschwung bringt den nötigen Wohlstand und den Bildungsgrad, der die verständnisvolle Mitarbeit der Massen garantiert.62
9.3.2 Sozialhygienische Hauptper spek tive: Der Mensch als Gesellschaf tswesen Das Buch über das »Heilwesen« folgt im Aufbau dem für die Sozialhygiene bestimmenden Definitionsmuster Grotjahns: so widmet sich der 1. Teil (»Gesundheitslehre«) der Bestandsaufnahme und Analyse der kollektiv-gesellschaftlichen Gesundheitsverhältnisse bzw. ihrer Beeinträchtigung durch Volkskrankheiten, der 2. Teil (»Gesundheitspolitik«) den »normativen« öffentlichen Bewältigungsstrategien. Der 1. Teil erinnert formal-strukturell an Grotjahns »Soziale Pathologie«. Unter »Spezielle Krankheitslehre« werden 9 Krankheitsgruppen und die Tuberkulose als gesellschaftsbedrohende Einzelkrankheit demonstriert. Im 2. Teil schildert Gottstein die Berufe und Einrichtungen des Gesundheitsdienstes unter dem Aspekt ihrer Fortentwicklung über den gegenwärtigen Stand hinaus durch die Gesundheitspolitik. Den Gesamttext in beiden Teilen durchziehen wiederkehrend wie Leitmotive bemerkenswerte Grundthemen. Einige von ihnen sind, von Gottstein mit inauguriert, Gemeingut der Sozialhygiene, andere sind neu erarbeitet, originär konzipiert. Über allen erklingt das Motiv des Gesellschaftscharakters von Krankheit und Gesundheit. Seitdem durch die Hygienebewegung Gesundheit zum höchsten Gut für alle geworden ist, ist sie auch nicht länger Privatsache des einzelnen. Vielmehr geht es heute darum, »die gegenseitigen Zusammenhänge zwischen Gesundheit und Krankheit des einzelnen und dem Schicksal der Gesamtheit« zu erfassen.63 Einmal spielen gesellschaftliche, vor allem wirtschaftliche Bedingungen in der Mehrfaktorenätiologie von Krankheit im Sinne einer Beeinflussung der Krankheitsbereitschaft in einer Volksmehrheit eine Hauptrolle, sofern sie als ständige Begleitfaktoren auch 59 | NG S. 158. 60 | Von daher verbietet sich in der Gesundheitskunde auch jede Abschrekkungspädagogik, HW S. 471. 61 | HW S. 470. 62 | NG S. 153ff., 66. – Im Kontrast dazu karikiert Gottstein die »willenlos gehorchende Schar, die auf Befehl die Zunge herausstreckt und sie erst wieder zurückzieht, wenn dies noch besonders befohlen wird«, NG S. 153. 63 | HW S. 11, vgl. 61.
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Häufigkeit, Verlauf und Ausgang einer Krankheit bestimmen.64 Sodann wird die Gesellschaft rückwirkend über Kosten, Krankheitsausbreitung, berufliche Ausfälle und Vernachlässigung des Nachwuchses in Mitleidenschaft gezogen, sodass über (weitere) Verarmung wieder Krankheiten entstehen.65 Aus dieser »Retrospektive« erscheinen die Beziehungen des einzelnen zur Gesellschaft im Krankheitsfall aber noch komplexer. Unabhängig von Art und Entstehung bedeutet häufiges und längeres Erkranken, allein schon durch die Unterbrechung der Erwerbstätigkeit z.B. des Familienoberhaupts, vielfach den ersten Schritt zum sozialen Abstieg. Es ist nicht nur so, dass enge und überfüllte Wohnungen Krankheiten wie der Tuberkulose einen günstigen Nährboden darbieten, sondern umgekehrt sorgt erst jahrelange Krankheit für Wohnungselend und sozialen Verfall der ganzen Familie.66 Wirtschaftliche Notlage, mangelnde Fürsorge und erschwerte Berufswahl besiegeln den sozialen Abstieg auch der nicht erkrankten Kinder.67 Armut ist Quelle von Krankheit und Tod, doch auch Krankheit ist primär geeignet, das Schwungrad familiären Elends in Bewegung zu setzen. Auch in den anderen Schriften dieser Zeit beleuchtet Gottstein die kollektive Seite der Gesundheit. Mit Virchows Forderung nach »Gleichberechtigung aller auf gesundheitsgemäße Existenz«68 beginnt ein neues Denken, das sich bis heute schrittweise fortentwickelt. Der Weg von der Individualorientierung der Heilkunde zur Sozialorientierung der Hygiene erweitert in ungeahnter Weise den Wirkungsraum der Medizin. Epidemiologische Krankheiten (Volkskrankheiten) als Gesellschaftsphänomen betreffen nicht nur den einzelnen, sondern eine »Vielheit von Menschen unter gleichen Lebensbedingungen«. Die soziale Hygiene – nach experimenteller Umwelthygiene und Bakteriologie der letzte Abschnitt im Dreitakt der Hygieneentwicklung – untersucht in Bevölkerungsgruppen (= Gruppen kollektiv Erkrankter) die Gewichtigkeit einer Gesellschaft für Massenerkrankungen und deren Rückwirkung auf die Gesellschaft.69 Generell auf die Gesellschaft zu übertragen sind auch die immunologischen Erkenntnisse der individualen Heilkunde, sofern die Abwehrkraft bestimmter Bevölkerungsgruppen insgesamt herabgesetzt sein kann. Der Gesundheitsschutz bei Versagen der Abwehr von Bevölkerungsteilen fällt aber der Gesamtheit zu. Auf diesem Grundsatz be64 | HW S. 84ff., 47. 65 | HW S. 199ff. 66 | HW S. 47. 67 | HW S. 152. – Schon die »Neue Gesundheitspflege« betont den Zusammenhang zwischen dem krankheitsbedingten Ausfall des Ernährers und der für Gesundheit und Fortkommen der Kinder verhängnisvollen Familienverarmung. Die Armenpflege, die lediglich das Existenzminimum sichert, muss sich »umgestalten« zur aktiveren Form der »vorbeugenden Wohlfahrtspflege« im Rahmen einer auch erzieherisch beratenden Gesundheitsfürsorge, NG S. 31; vgl. die Stellung der Schulgesundheitspflege zum familiären Notstand, S. 138. 68 | NG S. 9. 69 | NG S. 15 ff.
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ruhen die Maßnahmen aller Hygienesektionen bis hin zur Gesundheitsfürsorge.70
9.3.3 Das Reich der Mit te im gesellschaf tlichen Krankheitsspek trum Im Ansatz fühlt sich Gottstein als Sozialhygieniker immer noch in der Nähe der alten Hygiene als »Gesundheitslehre«. An ihr fasziniert ihn der Lebensgedanke, die enge Beziehung zur »großen Lehre vom Leben, der Biologie«, ihr Erscheinungsbild als »angewandte Physiologie«.71 Auch Krankheit ist »Leben unter den gleichen Vorgängen, aber unter veränderten Bedingungen«.72 Krankheiten beginnen oft als Störungen der physiologischen Regulation, ohne dass bereits morphologische Veränderungen vorliegen müssen. Damit erkennt Gottstein die Regulationsstörung als mögliche Vorstufe einer organischen Erkrankung. Nach ihm nimmt die Regulationsstörung oder die physiologische Leistungsstörung ohne Organschädigung in der Pathogenese überhaupt einen selbständigen Platz ein. Die Funktionsstörungen erstrecken sich als ein Reich der Mitte von der Gesundheit bis zur Schwelle der Krankheit. Ihre Beachtung schärft den Blick des Arztes für Anfangserscheinungen von Krankheit.73 Die Hygiene als Lebenslehre und die Volkswirtschaft als Exponent einer ökonomischen Krankheitssicht bilden die beiden Grundpfeiler, auf denen Gottstein sein sozialhygienisches Grundlagenbuch konstruiert.74 Die soziale Verelendung überantwortet den ernsthaft Kranken innerhalb des soziopathologischen Kollektivs dem Schicksal verspäteter Hilfe, ungenügender Pflege, ausbleibender Therapie und Versorgung und birgt die Gefahr der Tatenlosigkeit und Resignation der Verantwortlichen angesichts des gewaltigen Projekts einer sozialen Gesamtreform. An dieser Stelle entwickelt Gottstein seine Idee, die Hilfe weit vorzeitig »am leichtest erreichbaren Punkte« in Fürsorge und Erziehung anzusetzen.75 Die öffentliche Gesundheitspflege hat die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass ernste und häufige Krankheiten wie die Volkskrankheiten in ihren Anfangserscheinungen er70 | NG S. 17, vgl. 62. 71 | HW S. 61f., NG S. 16. 72 | HW S. 243. 73 | HW S. 66ff., 78ff. – Die Gesundheit eines Organismus bewegt sich zwischen den Polen der automatischen Selbststeuerung der Einzelfunktionen und seiner Anpassungsfähigkeit mit kleinsten Mitteln innerhalb weiter Schwankungsgrenzen. Regulationsstörung bedeutet Grenzüberschreitung über den gegebenen Rahmen der Leistungsgröße, nicht immer aber schon Krankheit. Funktionelle Störungen aller Art bis hin zu Stressreaktionen und psychophysischen Irritationen bevölkern ein Reich der Mitte zwischen Gesundheit und Krankheit, aus dem letztlich bereits die Vorstellung unserer Zeit von »Risikofaktoren« in der Pathogenese hervorscheint. – Zum Thema vgl. Heinzelmann 1998, S. 33f., 150. 74 | Vgl. z.B. HW S. 206. 75 | HW S. 210.
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kannt werden, dass es regelhaft zu einer Frühdiagnose und Frühbehandlung kommt, dass die drei Gegenkräfte der Volksgesundheit Stumpfsinn, Leichtsinn und Unwissenheit durch Erziehung im Haus, durch Unterricht in der Schule und durch Volksbildung überwunden werden.76
9.3.4 Die Bedeutung demographischer Parameter Die Zunahme der mittleren Lebenserwartung ist »zuweilen« ein »trügerisches Maß« für die Bevölkerungsgesundheit, vor allem auch innerhalb der Grenzen »des hier Möglichen«. »Zukunftssorgen« bereitet die Geburtenabnahme durch Krieg und die gewollte Kinderlosigkeit wegen Wohnungs- und Wirtschaftselends.77 Eine aktive gesundheitlich orientierte Bevölkerungspolitik hat von der Tatsache auszugehen, dass »Unterschiede der Gesundheit nach der wirtschaftlichen Lage« bestehen, die in Sterblichkeit, Gebrechensrate und konstitutioneller Beschaffenheit zum Ausdruck kommen. Die kritische (nationale) Wirtschaftslage lässt häufige Krankheiten noch öfter auftreten, länger andauern, beeinflusst ihren Ausgang und disponiert zu anderen Erkrankungen und körperlichen Verfallszuständen.78 Dieser katastrophalen Ursachenkette gegenüber bleibt bei eingeschränkten Haushaltsmitteln nichts anderes übrig, als die benachteiligten Gruppen nach den Grundsätzen der Sozialhygiene in einfacher Form mit Rat und Tat zu betreuen. Zu diesem Zweck verbinden sich z.T. nach ausländischem Vorbild nach der Jahrhundertwende in Deutschland Ärzte, Hygieniker, Gemeinden und Sozialversicherung zu einem gemeinsamen Werk: der Gesundheitsfürsorge als freiwilliger, nicht gesetzlich vorgeschriebener Leistung überwiegend der Gemeinden.79 Das Konzept »enthält einen durchaus neuen umgestaltenden Gedanken«: alle gesundheitlich bedrohten oder gefährdeten Schichten sind »einer dauernden und regelmäßigen gesundheitlichen Überwachung« zu unterstellen. Die ihm angeschlossenen Zweige sollten nicht mehr tun als zu belehren und aufzuklären, Anfangssymptome einer Krankheit »auf(zu)spüren«, ggf. eine einfache Behandlung einzuleiten und den Verlauf zu kontrollieren.80 Mit den Gründen für die Zunahme der mittleren Lebenserwartung als (wenn auch nur relativen) Ausdruck einer einzigartigen Besserung der Volksgesundheit seit etwa 1880 trotz chronischer Infektions- und weiteren 76 | HW S. 198, 217f., vgl. 223 u.ö. 77 | HW S. 433f. – Der Rückgang der Sterblichkeit seit 1850 zeigt eine »noch niemals beobachtete Stetigkeit, sie ist nachhaltig und ungewöhnlich beträchtlich«, HW S. 43. Trotz verringerter Säuglingssterblichkeit steigt auch die mittlere Lebenserwartung der Älteren weiter an, was der These einer verhinderten Auslese durch hygienischen Fortschritt widerstreitet, HW S. 30. Die seit der Jahrhundertwende anhaltende Geburtenabnahme aufgrund verbreiteter Präventivpraktiken wirft schwerwiegende berufs- und familienpolitische Probleme auf, HW S. 35. 78 | HW S. 433ff. 79 | HW S. 464. 80 | HW S. 435f., 224.
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Volkskrankheiten (und Weltkrieg!) beschäftigt sich Gottstein aus gesundheitsökonomischen Gründen ausführlicher in der »Neuen Gesundheitspflege«. Den Fortschritten der Heilkunde und Bakteriologie möchte er allenfalls einen Erfolgsanteil, keineswegs aber das Verdienst um den Gesamteffekt in der Volksmasse zubilligen. Die medizinischen Errungenschaften konzentrierten sich weitgehend auf die »besitzenden Klassen«, wenn nicht Sozialversicherung, Gesundheitsfürsorge und allgemeine Hygiene deren Transit zu den »hauptsächlichen Bedarfskreise(n)«, der »großen Masse« der gesundheitlich und sozial Hilfsbedürftigen verbürgten. In der Hierarchie der Bestimmungsgrößen für Volksgesundheit und Lebenserwartung rangiert aber an der Spitze die »durchschnittliche Höhe allgemeiner Kultur«. Ihre Kriterien bilden »Wohlstand« als Garant der nötigen Widerstandskraft und »Bildungsgrad« als Basis für partnerschaftliches Gesundheitsgelingen.81 Zum erfreulichen Tatbestand einer langzeitigen Zunahme der mittleren Lebenserwartung kontrastiert die Erscheinung einer seit 1900 steil abfallenden Geburtenrate, hinter der sich (zusammen mit Wohnungselend und Frauenarbeit) durchaus gesellschaftliche Mißstände verbergen können, die das bis zum Krieg günstige Bild der Volksgesundheit wieder in Frage stellen. Tatsächlich lassen Kriegsverluste und die verschiedensten Kriegsfolgeleiden die Volksgesundheit erneut angeschlagen erscheinen. Für Gottstein ist die Geburtenabnahme die »ernsteste Gefahr«. Das errechnete Gegenmittel zum Erhalt des Volksbestands, das Dreikindersystem, stößt auf keine Akzeptanz. Stattdessen verbreitet sich das Einkindersystem, in Ober- und Mittelschichten längst etabliert, jetzt auch in der Arbeiterklasse und in der Landbevölkerung. Kinder haben durch die Schutzbestimmungen ihren Wert als Mitglieder familiärer Arbeitsgemeinschaften eingebüßt und sind nur noch wirtschaftlicher Kostenfaktor. Dem Geburtenrückgang stehen wir gegenwärtig »machtlos« gegenüber. Dennoch sind nach früheren Geschichtserfahrungen »regulierende Vorgänge« zu erwarten.82 Die statistischen Zahlen geben zwar Anlass zu Bedenken, aber nicht zur »Schwarzmalerei«. Im Gegenteil belegen ältere und neuere Bevölkerungsstatistiken die »Möglichkeit einer schnellen Wiederherstellung«. Der Erfolg hängt ab von der planmäßigen Anwendung wissenschaftlicher Mittel in der Sozialpolitik beim Wiederaufbau.83
9.3.5 Gesundheitsfür sorge als er weiter tes (ganzheitliches) Prophylaxekonzept Im Gegensatz zur älteren freien Wohlfahrt, die erst post festum, nach eingetretenem Schadensfall eingreift, bewegt sich die moderne Gesundheitsfürsorge – »ohne jedes Vorbild« – im präpathologischen Vorfeld von Erkrankung, noch im Raum einer basisverbreiterten, abgestuften Vorbeugung oder Prophylaxe, die erst gar keine schweren Formen von Erkrankung auf kom81 | NG S. 42ff., 50ff., 62ff. 82 | HW S. 35. 83 | NG S. 47ff., vgl. 44ff.; 68ff., 86ff.
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men lassen will. Das Verhalten der Krankheiten lässt keine andere Wahl: Die meisten Arbeitsunfähigkeit verursachenden Krankheiten heilen »spontan«, der Rest versperrt sich meistenfalls der Therapie. Durch vier Eigenschaften, einzeln oder kombiniert, werden bestimmte Krankheiten, in erster Linie Volkskrankheiten (Epidemien) zur einer Angelegenheit der Gesamtheit, nämlich wenn sie der Allgemeinheit Kosten auf bürden, den Beruf einbeziehen, sich auf die Umgebung übertragen oder die Nachkommenschaft gefährden. Epidemien lassen sich nicht ernsthaft entschärfen auf dem Umweg über eine noch so ausgefeilte Individualtherapie. Denn »Gleichgültigkeit, Unbildung und Not« der Massen erweisen sich als unüberwindliches Hindernis. Die betroffenen Volksschichten sind am wenigsten bereit, sich den Unbilden der medizinischen Therapien zu unterziehen, sodass sich die Krankheiten tatsächlich zu ihren schweren Formen auswachsen können. Die »rechtzeitige Bekämpfung« der »verbreitetsten Volkskrankheiten« (z.B. Tuberkulose, Berufskrankheiten, Geschlechtskrankheiten, Alkoholismus) hat also von der Gesellschaft auszugehen – in Form der modernen Gesundheitsfürsorge!84 Die Volkskrankheiten zeigen beim Einzelnen in der Regel das Bild einer chronischen Erkrankung aus vielen Ursachen. Eine Heilung ist deshalb (und aus oben angegebenem Grund) grundsätzlich schwierig, gelingt aber gelegentlich doch, ohne dass man damit das Problem »Volkskrankheit« als solches auch nur annähernd gelöst hätte. Man kann eine Volkskrankheit nicht mit den Mitteln der Individualmedizin massenbezogen sinnvoll therapieren oder gar heilen. Aus der individuellen Heilung eines Falles von Volkskrankheit lässt sich nicht die potentielle Heilung der Massen von den sie aufsuchenden kollektiv-epidemiologischen Krankheiten ableiten. Auch ohne therapeutischen Nihilismus sind Volkskrankheiten als prinzipiell unheilbar einzuschätzen. Das gebietet bereits die Logik der oben ausgeführten Eigengesetzlichkeit der Kollektivkrankheiten (Volkskrankheiten) gegenüber den Individualkrankheiten. Heilbarkeit ist nur von Individualkrankheiten aussagbar. Nach (Einzel)heilung besteht die betreffende Krankheitsentität als solche fort. Gelänge es, eine Volkskrankheit als solche, als Massengröße, durch welchen Eingriff auch immer, zu heilen, so wäre diese Krankheit als Bevölkerungsphänomen besiegt, ausgelöscht, d.h. sie verschwände buchstäblich von der Landkarte und aus den Lehrbüchern, aus dem internationalen Code der Krankheitseinheiten und wanderte definitiv ab in die Geschichtsbücher. Es besteht also den Volkskrankheiten gegenüber nur die Alternative der bei einigen von ihnen jahrhundertelang geübten Adaptation oder der spezifischen Totalbekämpfung (unter weitgehendem Ausschluss der Individualmedizin) mit dem Ziel der Ausrottung, Elimination, der sozialen Sanierung. Diese Denkweise beherrschte mutatis mutandis die Schöpfer der Sozialhygiene, auf dem Gebiet der Volkskrankheiten die Entdecker der modernen 84 | Gottstein bringt gerne das Beispiel der Krätze, mit deren Epidemiologie er sich 1911 in einem kurzen Aufsatz befasste, ders. 1911, S. 41ff.; vgl. ders. 1924, S. 138; ders. 1925, S. 78f.
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Epidemien, der epidemiologischen Erkrankungen in einer neuen massenbezogenen Krankheitskonzeption. Auf dem Hintergrund des massenbezogenen Unheilbarkeitsprinzips der Volkskrankheiten formulierten sie für deren Bekämpfung als epidemiologische Maßnahmenstrategie den dialektischen Dreitakt aus Prophylaxe, Palliation und Krankheitselimination. Die Epidemien, welcher Art auch immer, müssen aus der Menschheit verschwinden. Weniger durch Aufzucht (noch blonder, noch blauäugiger, noch »rüstiger« etc.; hier bleibt Grotjahn mit seinen eugenischen Taktiken staatlicherseits legalisierter psychischer Invasivität zur körperlichen Dezimierung unerwünschter Volksteile der Unsicherheitskandidat!) als vielmehr durch Krankheitsbefreiung, durch mehr Gesundheit ergibt sich die Aufwärtsentwicklung der Menschheit. Die ganz neuen Gedanken sind die (grundsätzliche) Palliation in der Therapie und die Krankheitselimination durch gebündelte Maßnahmen. Die Palliation soll dem Erkrankten das Schicksal erleichtern und sogar zu zwischenzeitlicher Erwerbsfähigkeit verhelfen, aber weit mehr in Wiederaufnahme der Prophylaxeperspektive, die noch Gesunden im Umfeld vor Ansteckung oder Weitergabe bewahren. Werden alle Maßnahmen im Gesundheitswesen gebündelt, die sozialhygienischen Aktivitäten der organisierten kommunalen Gesundheitsfürsorge vernetzt mit dem medizinischen Aufgebot an Kassenärzten, Krankenhäusern, Heilstätten, Versicherungsanstalten, dann müssen die Volkskrankheiten eines keineswegs illusionären Tages in der deutschen Gesundheitsgeographie erloschen sein. In der Tat versucht Gottstein als Sozialhygieniker eine Neustrukturierung des aus Gesundheits- und Wohlfahrtpflege heranwachsenden Konzepts. Die soziale Hygiene, »ein eigenes neues Arbeitsgebiet der Gesundheitswissenschaft«,85 verfolgt das Wechselspiel zwischen Krankheit und Gesellschaftsleben in Wirtschaft und Beruf sowie zwischen Krankheit und biologischer Anlage. Ihr Interesse gilt in diesem Zusammenhang in sich einheitlichen Bevölkerungsgruppen, die sich in ihrem Verhalten gegenüber gesellschaftlichen Vorgängen und in ihrer biologischen Reaktionsweise vom Durchschnitt unterscheiden.86 Bei diesen Gruppen gilt es, Vorbeugung als Massenmethode zu praktizieren, aber nicht nur im alten Sinn der Gesundheitspflege zur Krankheitsvermeidung, sondern auch in einem erweiterten Sinn als Fürsorge zur wirksameren rechtzeitigen Bekämpfung verbreiteter Gesundheitsschäden von den ersten Anfängen an.87 Gesundheitsfürsorge, wie sie sich aus den Prinzipien der Sozialhygiene als ein ihr integrierter Bestandteil darstellt, ist für Gottstein eine Frage von Gesundheitsmanagement und Organisation. Ist das soziale Elend als Hauptursache für Bevölkerungskrankheiten erkannt, hat es keinen Sinn, auf die Beseitigung der wirtschaftlichen Missstände durch politische Reformen warten zu wollen.88 Ebenso wenig genügt eine überwiegend wirtschaftlich85 86 87 88
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HW S. 205. HW S. 206. HW S. 82. HW S. 210, 435.
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wohlfahrts-pflegerische Unterstützung auf dem Höhepunkt fortgeschrittener (unheilbarer) Krankheiten bei maximaler Umgebungsbelastung.89 Dagegen will Gottstein bei den anfälligen Bevölkerungsgruppen sofortige Intervention mit einfachen Mitteln unter Ausnutzung vorhandener Strukturen und frühzeitige Krankheitsbekämpfung, wo sich Krankhaftes auch nur in Spuren zeigt. Mit dem neuen Konzept einer erweiterten Vorbeugung90 verknüpft er in der organisierten Gesundheitsfürsorge gesundheitliche, wirtschaftliche und erzieherische Aspekte91 in den einfachen Maßnahmen Beratung, Frühdiagnose, Anbehandlung (mit nachfolgender Weiterleitung an den Kassenarzt bzw. Hausarzt), spätere Kontrollen, Hausbesuche auch zwecks wirtschaftlicher Entlastung durch Fürsorgeschwestern92 und Ausbildung der Mitarbeiter in der Bezirksfürsorge auf allen Fachgebieten in besonderen Bildungsanstalten.93 In der Massengesellschaft kommt der Mensch mit zahlreichen Krankheitsreizen zwangsläufig in Berührung. Er kann sich den Gefährdungspotentialen nicht entziehen. Vielmehr bleibt ihm nur die Möglichkeit, sich mit diesen Störfaktoren auseinanderzusetzen und dadurch seine Widerstandskraft zu stärken. In den Blickpunkt rückt damit die Widerstandskraft, die dem Menschen als Gesellschaftswesen in einem jahrtausendelangen Anpassungskampf das Überleben in seinem Milieu ermöglicht. Aber dennoch kann er Krankheitsereignisse bei der Zahl der pathogenen Einflüsse unter den wechselnden Gesellschaftsbedingungen de facto nicht verhindern. Die Sozialhygiene verwendet deshalb den Begriff »Vorbeugung« in einem sehr weit gefassten »mehrdeutigen« Sinn. Einmal versteht sie darunter wie die allgemeine Hygiene die Vermeidung von Gesundheitsgefahren von vornherein, sodann aber auch die frühzeitige gruppenbezogene Intervention bei unvermeidlich eingetretener Schädigung zur Verhütung ernster Folgen wie vorzeitiger Erwerbsunfähigkeit und tödliches Siechtum. Unter ökonomischsozialhygienischen Gesichtspunkten differenziert Gottstein damit zwischen Primärprävention und sekundär- oder tertiärpräventionellen Maßnahmen im Sinne einer Progredienzprophylaxe gesellschaftsrelevanter chronischer Krankheitszustände. Als »Mittel zur Verringerung der Kosten« nimmt der Gedanke der institutionellen Rehabilitation Gestalt an. Zuständig sind die Organe der Sozialversicherung. Sie kommen auf für langfristige Kuren in Heilstätten mit Behandlung, Überwachung und Belehrung zwecks körperlicher und wirtschaftlicher Wiederherstellung, Vorbeugungskuren auch für Jüngere, vorbeugende Heilmethoden sowie Wohlfahrtsleistungen (z.B. auf dem Gebiet der Wohnungsfürsorge). Die rehabilitativen Maßnahmen sind abgestellt auf häufige Krankheitsgruppen wie Fälle leichter Lungentuberku-
89 90 91 92 93
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HW S. 438. HW S. 217ff. HW S. 465f. HW S. 436ff., 439. HW S. 466f.,
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lose, Erkrankungen des Bewegungsapparats, nervöse Störungen, konstitutionelle Mängel und Rekonvaleszenz.94 Als Gegenstand der Gesundheitsfürsorge lassen sich im Wesentlichen zwei Gruppen von Betroffenen in der Bevölkerung näher charakterisieren. Einmal handelt es sich um lebensalterbedingt Bedrohte wie Säuglinge, Kleinkinder und die Schuljugend, zum andern um die altersunabhängig in höherem Grade durch Volkskrankheiten wie Tuberkulose, Geschlechtskrankheiten, Alkoholismus und Berufskrankheiten Gefährdete oder bereits von diesen Befallene, die u.U. bereits ein Umgebungsrisiko darstellen.95 In den nach dieser Klientel benannten Zweigen bzw. Fürsorgestellen arbeiten speziell ausgebildete Ärzte (Kreisarzt, Bezirksarzt, Stadtarzt, Fürsorgearzt, Kreiskommunalarzt, Schularzt, Vertrauensarzt) und Fürsorgeschwestern.96 Die Gesundheitsfürsorge kann dabei nie für sich allein genommen werden, da in der Fürsorge neben gesundheitlichen immer auch wirtschaftlich-soziale und erzieherische Aufgaben hinzukommen.97 Gesundheitsfürsorge und Wohlfahrtspflege verschränken sich in vielfacher Weise ineinander. »Die Mitwirkung der Wohlfahrtsvereinigungen ist hierbei (sc. bei der ausgebauten Gesundheitsfürsorge) nicht zu entbehren«,98 setzt aber ständige interdisziplinäre Zusammenarbeit voraus. Das ist zu berücksichtigen bei der Ausbildung der im öffentlichen Gesundheitsdienst beschäftigten Fachkräfte. Ärzte absolvieren zur Fachausbildung drei- bis viermonatige Lehrgänge an den Sozialhygienischen Akademien in Charlottenburg, Düsseldorf oder Breslau, Fürsorgeschwestern erhalten ihre Berufserlaubnis nach zweijährigem Besuch einer staatlich anerkannten Wohlfahrtsschule.99
9.3.6 Die Schulgesundheitspflege als Musterbeispiel der Gesundheitsförderung aus dem Geist der Sozialhygiene Ein hervorragendes Beispiel für Auftrag und Ziel des Gesamtprojekts der Gesundheitsfürsorge bildet die Schulgesundheitspflege. Sie betreut innerhalb der Gesamtgesellschaft eine gesellschaftlich höchst relevante, altersmä94 | NG S. 24ff., vgl. 125f. – Über das Heilstättenwesen hinaus kommt dem gesamten Krankenhauswesen, das in Deutschland zu einer »vorbildlichen Einrichtung« geworden ist, eine beträchtliche Bedeutung für die Volksgesundheit zu, weil es sämtliche Bevölkerungsschichten unterschiedslos in gleicher Weise versorgt und den »sozialen Gedanken« widerspiegelt, dass die »beste Form der Versorgung […] der gesamten Bürgerschaft zugute kommt«, HW S. 348f., 351. 95 | HW S. 83; vgl. Labisch 1992, S. 172f.; ders. 1997, S. 682; Labisch/Woelk 2004, S. 66. 96 | HW S. 324ff., 463f. 97 | HW S. 465. 98 | Der Staat als Schirmherr gewährleistet den Zusammenhalt der verschiedenen Aufgabenbereiche durch seine Richtlinienkompetenz, KV S. 33f. 99 | HW S. 466f.
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ßig definierte, störungsanfällige, aber primär gesunde Bevölkerungsgruppe. Ihre Schutz- und Hilfsbedürftigkeit ergibt sich aus den für diesen Lebensabschnitt charakteristischen Gefährdungen und möglichen Erkrankungen sowie aus den Lebensbedingungen und Belastungen des Schulalltags. Die fast lückenlose Erfassung der Schuljahrgänge beiderlei Geschlechts »in fester Organisation« bietet eine einzigartige Gelegenheit zur gesundheitlichen Kontrolle und Sicherung der jeweiligen Jugendgeneration als Gruppe.100 Von den in den letzten zwei Jahrzehnten in der Schulgesundheitspflege gewonnenen Erfahrungen und Methoden profitieren in der Gesundheitsfürsorge nicht zuletzt auch andere, weniger leicht erreichbare unorganisierte Bedarfsgruppen.101 Zur Beurteilung von Wachstum und Gedeihen der Kinder bedient sich der Schularzt in erster Linie der grundlegenden biometrischen Verfahren des Messens von Körperlänge und -gewicht. Beim Längenwachstum, das dem Einfluss von Rassen- und Konstitutionstyp unterliegt, machen sich in einer rassisch gemischten Bevölkerung wie der deutschen Unterschiede bemerkbar. Körperlänge und Gewicht variieren auch nach der sozialen Lage, Kinder an höheren Schulen aus wohlhabenderen Schichten weisen günstigere Zahlen auf als ihre Altersgenossen in den Gemeindeschulen.102 Angesichts des Größenwachstums höherer Schüler denkt Gottstein offenbar schon an zivilisatorisch bedingte Akzelerationserscheinungen im Sinne eines »unharmonischen Treibhauswachstums«, eines »vorzeitigen und einseitigen Reifens«. Das Phänomen beschränkt sich zwar in der Hauptsache auf ältere Jahrgänge der höheren Schule, aber auch insgesamt verzeichnen die durchschnittlichen Körpermaße der Schuljugend eine stetig ansteigende Tendenz, sodass davon auszugehen ist, dass man »durch Verbesserung der Aufzucht der gewünschten Norm« näher kommt.103 Die Zahlen werden auf der Grundlage von Normalzahlen statistisch ausgewertet. Die statistische Häufigkeit verteilt sich, ein genügend großes Beobachtungsmaterial vorausgesetzt, über einen Schwankungsbereich mit zur Peripherie hin sich rarefizierenden Streuwerten; die mittleren Werte sind die häufigsten, das arithmetische Mittel aus den Werten des Verteilungsfelds bezeichnet den »Normalwert« oder die »Normalzahl«. Danach lassen sich nicht nur im Einzelfall die Werte nach ihrer Abweichung von der Normalzahl beurteilen, sondern auch die Körpermaße gleichaltriger Klassenkollektive untereinander vergleichen. Ländervergleiche sind allerdings kaum möglich, da Verfahren und Beobachtungsmaterial international 100 | Damit entspricht die Schulgesundheitspflege in idealer Weise dem Grundsatz der Sozialhygiene, die Gesundheit bestimmter, eigenen Bedingungen unterworfener Gruppen zu fördern; demgegenüber hat es die allgemeine Hygiene mit dem einheitlichen Schutz der gesamten Gesellschaft gegen äußere Gesundheitsgefahren zu tun, SG S. 9. 101 | SG S. 1ff., 13ff. 102 | SG S. 19 ff 103 | SG S. 23f.
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vielfach nicht übereinstimmen.104 – Für Einzelfälle, nicht für das Massenscreening geeignet sind in den Händen des erfahrenen Schularztes weitere Gesundheitstests wie einfache Blutuntersuchungen, Muskelleistungsprüfungen, Intelligenzprüfungen und psychologische Verfahren.105 Jedes Lebensalter hat seine eigenen Krankheiten (oder jede Krankheit ihr Prädilektionsalter), seine Krankheitscharakteristiken, seine Quellen für neue Krankheitsanlagen und seine Krankheitsmortalität. Im Schulalter (5-15 Jahre) sinken bei beiden Geschlechtern in allen Schichten die allgemeine und die Tuberkulosesterblichkeit (trotz unterschiedlichen Verlaufs beider Sterblichkeitskurven) auf ihren jeweiligen Tiefpunkt. Die ansteckenden Kinderkrankheiten Masern, Scharlach, Diphtherie und Keuchhusten verlieren mit fortschreitendem Schulalter an Gewicht, da sie immer seltener auftreten und dann noch kaum lebensgefährlich verlaufen. Eine Reihe von Nach- und Folgekrankheiten beeinträchtigt allerdings in vielen Fällen Gesundheit und berufliches Fortkommen in späteren Lebensabschnitten. In der Schulzeit werden bevorzugt neue Krankheitsanlagen erworben. Die ansteckenden Kinderkrankheiten disponieren nach schweren Verläufen zu anderen Erkrankungen in der Folgezeit. Die ruhende Tuberkuloseinfektion birgt generell die Gefahr in sich, nach der Schulzeit unter veränderten Lebensbedingungen zu der für das anschließende Lebensalter typischen Form meistens tödlicher Lungentuberkulose aufzuflackern.106 Das Spektrum der für das Schulalter relevanten Krankheiten und Störungen hat sich zwar in der Zwischenzeit grundlegend gewandelt, dennoch gibt es gelegentliche bemerkenswerte Überschneidungen mit dem heute gültigen Tableau. Von ca. 30 Schülerkrankheiten, die Gottstein abhandelt,107 kann auch heute besonders aus der Gruppe der »Konstitutions- und Organerkrankungen« noch mindestens ein Drittel als aktuell betrachtet werden, darunter Wirbelsäulenverkrümmungen, Sehstörungen, HNO-Krankheiten, Vitien, Epilepsie, Migräne, nervöse (psychosomatische) Störungen, Überforderungssydrome, Sprachstörungen und Karies. Maligne Erkrankungen, Entwicklungs- und Reifungsstörungen im Pubertätsalter, Magersucht und Übergewicht kommen bei Gottstein nicht zur Sprache. Nicht anders als die Gesundheitsfürsorge überhaupt verdankt auch die Schulgesundheitspflege ihre Entstehung nicht staatlicher Gesetzgebung, sondern der Initiative der Gemeinden.108 Das Reichsgesetz für Jugendwohlfahrt von 1922, dessen Durchführung von vornherein den Selbstverwaltungsorganen und nicht staatlichen Stellen obliegt, begründet eine umfassende Jugendfürsorge und regelt die Zuständigkeit von Jugendamt und Gesundheitsbehörden. In § 1 statuiert es das Recht des Kindes »auf Erziehung zur
104 105 106 107 108
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SG S. 20, 24ff., 27ff. SG S. 31f., vgl. 20. SG S. 32ff. SG S. 46ff., 70ff., 131f. SG S. 12.
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leiblichen, seelischen und gesellschaftlichen Tüchtigkeit«.109 Damit erteilt es der Arbeit der Schulgesundheitspflege eine besondere Legitimation. Um die Jahrhundertwende beginnt sich der schon viel ältere Traum von einer sachverständigen Gesundheitsaufsicht über die Schuljugend in Deutschland zu verwirklichen.110 1897 konzipiert Wiesbaden das Modell einer kooperativen gesundheitlichen Schülerüberwachung durch Schularzt und Lehrer. Nunmehr werden an den Schulen in Deutschland Schulärzte mit sozialmedizinischer oder pädiatrischer Vorbildung neben- oder hauptamtlich eingestellt. Die Hauptaufgabe des Schularztes besteht in der unablässigen professionellen Beobachtung seiner Gruppenklientel zur frühzeitigen Aufdeckung jederart gesundheitlicher Mängel und ihrer Bereinigung durch unverzügliche Weiterleitung an die behandlungsbefugte (Fach)Ärzteschaft. Zum Instrumentarium des Schularztes gehört in erster Linie die regelmäßige Untersuchung der Schulklassen. Im Vordergrund steht hier die Einschulungsuntersuchung. Die Anwesenheit der Mutter erleichtert die Aufstellung einer Familien- und Eigenanamnese zum Eintrag in einen Gesundheitsbogen. Das Ideal wäre ein »fortlaufender Gesundheitsbogen« vom Säuglingsbis zum Erwerbsalter. Bei etwa 10 % der Gemeldeten muss der Schularzt wegen mangelnder Schulfähigkeit eine Zurückstellung vornehmen. Verbleibende Problemfälle unter den Schulanfängern werden als »Überwachungsschüler« eingestuft und engmaschig kontrolliert, zur Verlaufskontrolle werden die jeweiligen Befunde auf jeden Fall in einem Gesundheitsbogen dokumentiert. In allen Klassen finden in etwa jährlichen Abständen Reihenuntersuchungen statt. Weitere Handhaben der Gesundheitskontrolle sind Besuche des Schularztes in den Klassen und regelrechte Sprechstunden zur Schülerberatung und Eruierung neuer Überwachungsschüler. Der Pflichtenkatalog der Schulärzte enthält eine Fülle zusätzlicher »Nebenaufgaben«: Gesundheitsberichterstattung unter Verwendung des gewonnenen statistischen Materials, Mitarbeit in schulischen Wohlfahrtseinrichtungen von der Schulspeisung bis zu Waldschulen und Erholungsheimen, Mitwirkung bei der Berufsberatung, Vorträge auf Elternabenden, Erste Hilfe bei plötzlichen Erkrankungen und Unfällen, hygienische Volksbildung. Nicht zuletzt trägt der Schularzt die Verantwortung für ordnungsgemäße hygienische Verhältnisse in Schulstruktur und Schulbetrieb und deren ständige Optimierung.111 – Im Rahmen und im Sinn der Schulgesundheitspflege sind auf dem speziellen Gebiet der Zahnheilkunde Schulzahnkliniken nach Art der Polikliniken und Ambulatorien entstanden, die durch frühzeitige Ausmerzung von Zahnschäden Vorbildliches leisten.112
109 | SG S. 92; die Formel klingt sinngemäß wie eine Vorwegnahme der Definition von Gesundheit durch die WHO 1948. 110 | In England ist die Schulgesundheitspflege verstaatlicht, sie wird dort als staatliche Institution von Medizinalbeamten betrieben, SG S. 121. 111 | SG S. 120ff., 124ff., 127, 135f., 137ff. 112 | A.a.O. S. 128f.
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9.3.7 Sozialhygienisches Thema der Zeit: Eugenik Die Eugenik verliert bei Gottstein die aufgeregte Bedeutung, die ihr bei Grotjahn zukommt. Natürlich respektiert auch Gottstein die seit der Wiederentdeckung der Arbeiten Gregor Mendels aufstrebende Vererbungslehre, die »auf Versuch, Beobachtung und Berechnung« auf baut und auch vielen Bereichen der praktischen Medizin zu »ganz neuen Entwicklungsmöglichkeiten« verhilft.113 Eine Problematik ergibt sich für die gesundheitliche Bevölkerungspolitik allenfalls erst durch die Darwinsche Variante.114 Der Befürchtung, Kultur und Hygiene zeitigten einen antievolutionären Effekt, indem sie die Minderwertigen durch ihre Hilfsangebote vor der Vernichtung durch natürliche Auslese bewahrten, stellt Gottstein eine Reihe einfacher Überlegungen entgegen.115 Eine Rassenverbesserung könnte, wenn überhaupt, nur innerhalb eines durch unabänderliche Anlagen nach oben begrenzten Merkmalmusters über kaum abschätzbare Zeiträume erfolgen. Die Gattung Mensch neigt nicht nur zur Abartung, sondern angesichts ihrer Vermehrungsfähigkeit auch zur »bisher viel ungenügender untersuchte(n) Aufartung«. Aus beiden Größen errechnet sich die Norm. Je weiter sich die schädlichsten Abarten von der Norm entfernen, umso seltener werden sie. Den Untergang ihres größeren Teils besiegelt das Gesetz der »großen Zahl« und des »Ausgleichs nach der Mitte«, demzufolge der Durchschnitt immer in der Überzahl sein muss.116 Überdurchschnittliche Individuen erringen häufig gleichgestellte Partner, ebenso häufig sind Verbindungen zwischen »Entarteten« untereinander, die »dadurch ihr Erlöschen beschleunigen«. Die Veranlagung des einzelnen setzt sich aus außerordentlich zahlreichen Komponenten zusammen, unterdurchschnittliche Eigenschaften können sich durch entgegengesetzte kompensieren.117 Gottstein spielt offenbar auf unentdeckte Begabungsreserven an, wenn er einer bewusst auf ein einziges einseitiges Ziel ausgerichteten Eugenik entgegenhält, dass nach dem Gesetz
113 | HW S. 225. 114 | HW S. 226. 115 | HW S. 229. – In der »Neuen Gesundheitspflege« widerlegt Gottstein die angeführte These mit der Feststellung, durch die Abnahme der Tuberkulosesterblichkeit um 50 % in den Jahren vor dem Krieg hätten sich die Gesundheitsverhältnisse in den überlebenden Altersklassen in der späteren Lebenszeit verschlechtern müssen, sie hätten sich aber im Gegenteil verbessert, NG S. 19. Literaturangaben dazu fehlen allerdings ebenso wie zu den anderen im Buch mitgeteilten epidemiologischen Daten. 116 | Die naheliegende Frage, ob sich der Durchschnitt nicht qualitativ auch einmal auf ein niedrigeres Niveau einspielen könnte, erörtert Gottstein bei dieser von der arithmetischen Statistik geleiteten Überlegung nicht, bejaht sie aber im Zusammenhang mit anthropometrischen Untersuchungen, HW S. 65. 117 | HW S. 229ff.
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des Zufalls »eigene innere Triebe im Wechselspiel der unendlich zahlreichen Möglichkeiten sicherer zum Ausgleich führen«.118 Als stärkstes Argument gegen die bevölkerungspolitische Entartungspsychose bringt Gottstein u.a. ein statistisch-epidemiologisches Beispiel aus dem Bereich der Säuglingssterblichkeit. Kinderepidemien, die jenseits des 5. Lebensjahrs kaum noch tödlich verlaufen, treten in Großstädten wellenförmig auf in Abständen von ca. 5 Jahren. Die etwa um ein bestimmtes Jahr herum in eine Masernepidemie »Hineingeborenen« werden größere Verluste erleiden als die einige Jahre zuvor Geborenen ohne initiales Epidemieereignis, die die neue Epidemie mit größerer Widerstandskraft überleben als die Jüngeren. Auf die Übersterblichkeit des jüngeren Jahrgangs folgt eine Untersterblichkeit desselben in den nächsten Kalenderjahren, sodass dieser schwer betroffenene Jahrgang in das zehnte Lebensjahr in gleicher Zahlenstärke eintritt wie der »gewöhnliche Durchschnitt«. Der ältere Jahrgang, der von einer frühzeitigen Epidemie verschont geblieben war, dafür aber eine größere Zahl von überlebenden Minderwertigen als potentielle Opfer anderer Krankheiten zurückbehielt, wird nicht durch spätere anderweitig bedingte Todesfälle belastet, sondern verbucht seine niedrigere Verlustrate aus der Frühzeit gegenüber dem Durchschnitt als dauernden Gewinn.119 Das Kapitel über Eugenik am Schluss des Buches ist kurz gehalten und umfasst gerade eben mal 10 Seiten. Wieder ist es die »Lehre vom Leben überhaupt«, die mit ihrer Beschreibung des Menschen als Durchgangswesen im Fluss der Generationen die Gesundheitslehre in Parallele zur Sozialhygiene in eugenische Richtung hin erweitert.120 Der Autor bestätigt, ohne qualitätsorientierte »Aufzuchtpolitik« sei eine künftige »Entartung« nicht von der Hand zu weisen, fügt aber hinzu, es sei auch hier »in der Wirklichkeit vieles nicht so schlimm, wie es in der Theorie klingt«.121 Der Abstand zwischen Norm (dem Durchschnittszustand) und Ideal beim Menschen ist nicht durch Einflussnahme auf letztendlich unabänderliche Erbanlagen zu verkürzen, sondern nur durch Verbesserung der Existenzbedingungen.122 Die Bilanz realisierbarer Maßnahmen auf dem Gebiet der Eugenik fällt eher enttäuschend aus. Aufseiten einer positiven Einflussnahme scheinen Vorschläge einer Fortpflanzungsförderung nach dem Gesichtspunkt gesundheitlicher Tüchtigkeit zur Erfolglosigkeit verurteilt. Wirtschaftliche Förderung von Frühehen durch Eltern- und Mutterschaftsversicherung stecken im Planungsstadium fest. Erleichterungen für die berufstätige Frau und ihre Rückkopplung an die Familie, ohne »die wirtschaftliche Selbständigkeit der Frau« anzutasten, kommen nur zögernd voran oder stoßen auf Widerstand. – Maßnahmen im negativen Sinn zur Verhinderung der Fortpflanzung Minderwertiger durch freiwillige Sterilisation finden in der Öf118 119 120 121 122
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HW S. 231. HW S. 233f. HW S. 480. HW S. 484. HW S. 485f.
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fentlichkeit auch im Ausland keinen Widerhall, da es bezüglich Krankheiten und Personen kein sicheres Kriterium für den jeweiligen tatsächlichen Nutzeffekt gibt.123 Übrig bleiben Eheberatung und Austausch von Gesundheitszeugnissen vor oder bei der Eheschließung auf freiwilliger Basis. Gesetzlich ließe sich vorsehen, Bedenken gegen die Eheschließung allenfalls mitzuteilen, auf keinen Fall kommt ein Eheverbot in Betracht.124
9.3.8 Kritische Bewer tung Gottsteins wie Grotjahns Sozialhygiene-Konzepte schließen in die gesellschaftlich-statistischen Überlegungen von Anfang an auch Anleihen aus der darwinistischen Themenwelt mit ein. Die Korrektur Grotjahns am Selektionsprinzip im Humanbereich ändert nichts daran, dass seine eugenische »Auswahl« die Selektion unblutig, aber u.U. dennoch invasiv nachholt. Über seine Eugenik verankert er ein Stück Sozialdarwinismus in der Sozialhygiene. – Gottstein interessierte das Selektionsprinzip eigentlich nur auf epidemiologisch-bakteriologischem Gebiet im Zusammenhang mit seiner Konstitutionslehre. In der Seuchen-Epidemiologie erscheinen erblich-konstitutionelle Krankheitsanlagen als Einzelfaktoren im riesigen Ursachenpool bevölkerungsrelevanter Erkrankungen fast zur Bedeutungslosigkeit verurteilt. Eine sozialdarwinistische Ausmerzungsmethode lässt sich daraus nicht ableiten. Sozialwissenschaft/Eugenik und Epidemiologie/Bakteriologie als Paten beeinflussen den Werdegang der jungen Disziplin unterschiedlich. Die sozialhygienische Denkweise sprengte den in der Medizin traditionellen individualistischen Krankheitsbegriff zu dem Zeitpunkt, als sie die Dualität von Individualkrankheiten und Kollektivkrankheiten erfasste. Letztere enthalten zwar formal die Strukturelemente des alten Krankheitsbegriffs, aber integriert auf höherer Ebene in einer neuen Erkenntnisdimension. Die Erfahrungen in der Epidemiologie bestätigten Gottstein die Richtigkeit der Revision. Er suchte nach einer Antwort auf die Frage, wie eine einzelne Infektionskrankheit zur mehr oder weniger opferreichen Seuche ausarten, sich schlagartig zur als Gesamterscheinung kaum beeinflussbaren Massenerkrankung vervielfachen kann. Mit Hilfe mathematisch-statistischer Methoden konnte er nachweisen und in Lehrsätzen formulieren, dass sich Seuchen als Bevölkerungskrankheiten wie Größen eigener Ordnung verhalten. Gemäß den unterschiedlichen, auf die Konstitution der Gesamtheit einwirkenden Variablen folgen sie eigenen Gesetzen der Entstehung, des Verlaufs, des Gefährdungsgrades, der Folgewirkung und der interventionellen Beeinflussbarkeit. Ihrer Andersartigkeit gegenüber ist der Einzelne auch mit den Mitteln der konventionellen Medizin machtlos.125 Seinen Schutz und seine Versorgung im Be123 | HW S. 486f. 124 | HW S. 487ff. 125 | Eben diesen Gesichtspunkt, die Transformation der Einzelinfektion in eine charakteristisch gestaltete Bevölkerungskrankheit, den Ebenenwechsel beim
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drohungs- oder Ernstfall hat unter Berücksichtigung der Ursachen in Form der Sozialhygiene die Gesellschaft zu übernehmen, analog der Zuständigkeit der biologischen (Natur-)Hygiene (Umwelthygiene) für die Bevölkerung auf dem Gebiet der physischen Krankheits- oder Schädigungsabwehr. Damit schuf Gottstein von der Epidemiologie her die biologisch-theoretische, beweiskräftige Grundlage für das Verhalten gegenüber den Volkskrankheiten als Kollektivkrankheiten, wie es Grotjahn aus sozialwissenschaftlicher und eugenischer Perspektive praktizierte.126 Gottsteins und Grotjahns Forschungspfade kreuzten sich, fielen dann jedoch wieder auseinander aufgrund der Verschiedenheit der Standorte, von denen aus die beiden Forscher angetreten waren. Auf das gleiche Erkenntnisziel zusteuernd, wichen sie im Handlungsziel erheblich voneinander ab. Grotjahn setzte als Sozialhygieniker bei den Volksklassen, speziell den unteren Schichten, beim Proletariat, der Arbeiterschaft an und entwickelte vor Ort die spezielle Soziopathologie, z.B. das Bild des in den sozialen Verhältnissen und schließlich in erblichen Anlagen eingewurzelten Alkoholismus als Volkskrankheit. – Gottstein gelangte zur Sozialhygiene, indem er von der epidemiologischen Analyse einer Bevölkerungskrankheit, z.B. der Tuberkulose, und ihres Ausbreitungsmodus zur gesellschaftlichen Klientel hin fortschritt, d.h. zu den zum Krankheitszeitpunkt vorliegenden Bevölkerungsdaten. Übergang von der Einzelkrankheit zur ausgebreiteten Seuche, verkennt Labisch total, ders. 1997, S. 679ff. Unverkennbar ist auch für ihn der Wechsel von Monokausalität zur Multikausalität, die statistisch-»stochastische« Erforschung zufallsabhängiger Faktoren in Medizin und Gesundheitsfürsorge. Im Falle der Seuchen bezieht er sich auf eine biographische Passage in der Epidemiologie von 1897, nicht auf deren epidemiologischen Text. Wohl bringt er die Seuchen in Zusammenhang mit Multikausalität, jedoch gilt diese ja auch für die Einzelinfektion. Labisch erkennt, dass nach Gottstein »zwischen der einzelnen Infektion und ihrer massenhaften Verbreitung als Seuche […] erhebliche Unterschiede« bestehen, S. 680. Welche das sind, sei hier nachgetragen. Einmal muss bei der Epidemie im Gegensatz zur Einzelinfektion das Faktorenprodukt einen Schwellenwert überschreiten (s. 9.4.1.). Das Wesen der Seuche erklärt sich sodann nicht allein aus Multikausalität, sondern unter eben dieser Voraussetzung aus der Entwicklung einer Eigengesetzlichkeit als Massenerkrankung, derzufolge sie (oder die Volkskrankheit) z.B. vielleicht präventionell vermeidbar, aber niemals therapeutisch »heilbar«, ausrottbar ist. Diese Eigenschaft lässt sich bis heute u.a. in Afrika an der Tuberkulose und Malaria demonstrieren. 126 | Grotjahn verdeutlicht den Unterschied zwischen Einzelregel und Massenregel an einem eugenischen Beispiel. »Es triff t im Einzelfalle nicht zu, dass der Trunksüchtige oder Epileptiker geistig minderwertige Nachkommen hat […]. Aber es triff t wohl zu, dass die Nachkommenschaft von tausend Trunksüchtigen oder tausend Epileptikern erheblich mehr geistig Minderwertige enthält als die von tausend durchschnittlichen Individuen.« Die Massenregel berechtigt also zur Intervention, so sehr sie auch nicht auf Einzelerfahrung gründet, sondern sich »nur auf die Erfahrung bei der Masse stützen kann«, ders. 1926, S. 99.
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Die unterschiedlichen Sichtweisen verliehen den jeweiligen sozialhygienischen Projekten ihr charakteristisches Profil. Für Gottstein konnte die Aufgabe der Sozialhygiene bei Kenntnis der epidemiologischen Gesetzmäßigkeiten und der Pathogenese schwerpunktsmäßig nur darin bestehen, sich dem pathophysiologischen Entwicklungsgang einer Bevölkerungskrankheit im weitesten, alle potentiellen Wirkfaktoren einschließenden Umfang mit allen verfügbaren öffentlichen Remedien in die Bahn zu werfen. Angesichts der als chronisch imponierenden Volkskrankheiten bedeutete das soziale Organisation im großen Stil mit Hilfe öffentlicher Gelder, die Begründung eines bevölkerungsweiten, halbamtlichen gesundheitlichen Betreuungswerks zur systematischen langzeitigen Krankheitsbekämpfung unter den Zeichen der Information, Gesundheitsbildung, erweiterten Prophylaxe, Früherfassung, exakten Diagnose, Kontrolle und ziviler (sozial-wohlfahrtsmäßiger) Versorgung.127 Auf diese Weise entstand und gipfelte in Deutschland vor und nach dem Krieg, am ehesten noch nahe am politischen und wirtschaftlichen Tiefpunkt der Weimarer Republik die offiziöse »Gesundheitsfürsorge« (s.o. 9.2.1) als ein Mehr und ein Zusatzbeitrag zur in den westlichen Industrieländern aufstrebenden Public Health-Strömung. Grotjahn nahm an dieser Entwicklung nur mit halber Aufmerksamkeit und vorübergehend Anteil. Er setzte, in dieser Periode bereits bedingungslos, auf das utopische Ziel einer Selbstauflösung der Sozialhygiene durch Verschmelzung mit ihrer Zwillingsdisziplin Eugenik. Gottstein entwickelte die Gesundheitsfürsorge als System der rechtzeitigen und nachgehenden Betreuung gemäß dem ihm aus eigener Berufserfahrung bekannten hausärztlichen Modell.128 Die wichtigsten Elemente daraus gelten mutatis mutandis bis heute. Sein gegenwartsnahes Projekt lebt von der Dynamik der sozialhygienischen Ideale. Im Gegensatz dazu bleibt Grotjahns angewandte Eugenik ungeachtet ihrer sozialhygienischen 127 | Natürlicherweise waren für diese Aufgaben die kommunalen Gesundheitsämter zuständig. Auch dieser Punkt im Gottsteinschen Konzept (halbamtlicher Charakter, Dezentralisierung durch kommunale Sozialisierung, damit auch fiskalische Sicherung der Gesundheitsfürsorge, gleichzeitig ihre Abschottung gegen Übergriffe administrativ- bzw. ärztlich-professioneller Kräfte und Staat) entgeht bei Labisch der verdienten Würdigung. 128 | Die Behauptung Labischs, die Gesundheitsfürsorge hätte sich mit ihrem Konzept verschiedenen, bereits bestehenden sozialen Bewegungen bequem »aufpropfen« können (1992, S. 173, auch schon bei Labisch/Tennstedt 1985), erscheint in dieser Globalität historisch wenig glaubhaft. Diese »Bewegungen« werden von den Sozialhygienikern – allerdings mit leisem Kopfschütteln – selbst erwähnt, mögen auf Einzelgebieten (Säuglingsfürsorge) relativ stark gewesen sein, gebärdeten sich aber im Ganzen am ehesten als »Laienspielschar«, wie Labisch/Tennstedt selbst einmal bemerkten. Zersplittert, den augenblicklichen und lokalen Möglichkeiten oder Hindernissen verhaftet, empfahlen sie sich für die Sozialhygieniker gerade nicht als Modell oder Grundlage. Sie handelten karitativ, aus gelegentlicher Barmherzigkeit, die Sozialhygieniker wollten im Geiste Salomon Neumanns einen sozialstaatlich garantierten Ausgleich für entgangene, aber zustehende soziale Gerechtigkeit.
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Bezüge starr auf uneinschätzbare Zukunftsräume gerichtet. Beide Altmeister teilten die Überzeugung, Volkskrankheiten seien auf individualmedizinischer Basis unheilbar und deshalb der Ächtung durch die Gesellschaft zu überantworten. Der Unterschied zwischen ihnen lag auf strategischem Sektor: Gottstein suchte die Befreiung von Volkskrankheiten auf dem Weg zeitnaher Nihilierung der Krankheitsinzidenz, Grotjahn auf dem Wege der generationenfernen Nihilierung des personalen Krankenpotentials. Paradoxerweise wählte so der Gelassenere (aber auch Realistischere) von beiden den kurzen, der Ungeduldigere, Radikalere den langen Weg. Wie sich das Problem weitgehend im Fortgang der Zivilisationsgeschichte schon bald eben doch auf individual-medizinscher Ebene löste (Antibiotika, Tuberkulostatika, Insulin, operative Verfahren, Humangenetik), hätten trotz der kurzen Vorlaufsspanne nur Visionäre vorausahnen können. Gottsteins originäre Neuschöpfung, sein »großer Wurf« ist die gemeindliche Gesundheitsfürsorge. Im Einzelnen erstaunt an seiner Lebensleistung weniger der umschriebene eigene Fund, sondern eher noch die Verarbeitung der Innovationen der Zeit im Zusammenhang. Das Mehrfachfaktorenmodell in der Krankheitsätiologie wurde von ihm mit inauguriert. Von daher revidiert er die Begriffe Krankheit, Gesundheit und Vorbeugung. Charakteristisch für gesellschaftlich relevante Krankheiten aller Sozialschichten werden langes und häufiges Erkranken (chronisch-rezidivierende Erkrankungen) und Regulationsstörungen, die u.U. als »Vorkrankheiten« bei definitiven, organischen Leiden ätiologische Mitverantwortung tragen. Die Aufnahme von Dysfunktion und Dysregulation in das pathologischklinische Mustersortiment macht die Grenze zwischen Gesundheit und Krankheit durchlässig. Gesundheit ist wie Krankheit von zahllosen Faktoren bedingt. Menschliches Leben als Gruppen- oder Massenexistenz, die Bevölkerungsgesundheit sind a priori durchgehend anfällig, bedroht oder direkt gefährdet und bedürfen öffentlich-interventioneller Begleitung. Gesundheit und Krankheit hängen nach dem berühmten Epochenbegriff gleichermaßen von der »sozialen Lage« ab.129 Die Zunahme der mittleren Lebenserwartung als Parameter für steigende Gesundheit sieht Gottstein nur anteilig als Ergebnis des medizinischen Fortschritts. Viel wichtiger für diesen Prozess erscheint ihm die Höhe der allgemeinen Kultur, die sich als Einheit aus Bildung und Wohlstand bestimmt. In diesem Sinn erklärt Gottstein den Bildungsgrad oder das kulturelle Bevölkerungsniveau als Grundlage für ein auf alle Klassen ausgedehntes Gesundheitsbewusstsein und -verhalten zum vorrangigen Multiplikationsfaktor kollektiver Gesundheit. – Als letzte Konsequenz der Gedankenfolge erweitert Gottstein den Vorbeugungsbegriff im Sinne unserer heutigen Primär- und sekundären Progredienzprophylaxe. Volkskrankheiten sind im skizzierten Übergangsbereich durch Frühdiagno-
129 | Gottstein rezipiert das Konzept, in anderem Zusammenhang in etwa auch den Begriff (»wirtschaftliche Lage«, »Lebenslage«) als Ausdruck für Grund und Folge von Volkskrankheit, 1932, S. 6f.
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se zu erfassen, um sie früh behandeln und in konzertierter Aktion schließlich auslöschen zu können. Die Schulgesundheitspflege erkennt Gottstein als Feld genuiner epidemiologischer Gesundheitsforschung mit den Möglichkeiten der Massenuntersuchung grundsätzlich vergleichbarer, definierter Gruppen, datengestützter Kontrollen, frühzeitiger Intervention etc. Vom epidemiologischen Standpunkt aus spielen einfache Verfahren wie Messungen der Körperlänge und des Körpergewichts in Schuluntersuchungen wie bei militärischen Tauglichkeitsuntersuchungen der männlichen Jugend eine grundlegende biometrische Rolle. Mit seinen Überlegungen zur seit Jahrzehnten beobachteten, mit Reifestörungen einhergehenden Intensivierung des Längenwachstums spricht Gottstein das Phänomen der Akzeleration an. In unserer Zeit verweist neuerdings Reinhard Spree auf die Aktualität des Themas für die Gesundheitsentwicklung einer Bevölkerung.130 – Auch Gottstein fühlt sich angesichts des Geburtenrückgangs alarmiert, aber im Gegensatz zu Grotjahn, am ehesten abgeschreckt durch dessen Eugenik, sieht er keinen dringlichen Handlungsbedarf. Vielmehr vertraut er – wohl im Blick auf ihm aus der Epidemiologie bekannte Mechanismen – auf Autoregulation im Zusammenhang mit sozialpolitischen Auf bauinitiativen. Auf dem Gebiet der Eugenik, das er eher marginal behandelt, wendet sich Gottstein mit epidemiologisch plausiblen Argumenten gegen die unreflektierte Übernahme des Darwinschen Selektionsprinzips auf den Vererbungsgang der menschlichen Gesellschaft. Abartungs- und Aufartungsprozesse tendieren im Meer der großen Zahl zum Ausgleich in der Norm. Auch beim Einzelnen ist bei der Vielzahl der wirksamen Faktoren mit Kompensationen zu rechnen. Schließlich klingt schon das Hauptargument an, das er am Ende seines Lebens gegen Zielprojekte wie die Eugenik formuliert: die Unmöglichkeit, die Bedingungen für die Planung (im Fall der Eugenik etwa die staatliche Protektion) über unabschätzbare Zeiträume konstant zu halten.
9.4 Unent weg ter Richtstern »Epidemiologie«: die let zte Monographie des 80-Jährigen aus dem Deutschland des Jahres 1937 9.4.1
Infek tionistische Epidemiologie als Modell für die Verur sachung von Volkskrankheiten überhaupt
Als junger Arzt vertauschte Gottstein – »von Haus aus« Hygieniker – seine bisherige bakteriologische Laborarbeit mit der statistisch-epidemiologischen Forschungsrichtung, die er innerhalb der Hygiene zusammen mit anderen 130 | Spiegelbildliches Verhalten der Kurven für Größenwachstum und Sterblichkeitsrückgang von Männern am ehesten aufgrund des »nutritional status« nach Fogel et al. (Height-Health-Forschung), Spree 1992, S. 13, 48.
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begründet und in der Folgezeit ausgebaut hat. Sein Spezialgebiet ist seitdem die »Epidemiologie« im engeren Sinn der Infektionsepidemiologie, die Erforschung der Seuchen und übertragbaren Krankheiten, darunter besonders die ihm über seine Arztpraxis zugänglichen Krankheiten Diphtherie, Scharlach, Masern und Tuberkulose. Seine Erfahrungen und Erkenntnisse über das Wesen der Seuchen als Volkskrankheiten, ihre methodische Erfassung und statistische Entschlüsselung zur gezielten Bekämpfung überlieferte er uns in zahlreichen, fast über sein ganzes Leben verstreuten Einzelarbeiten und insgesamt 6 Monographien. Die frühe »Allgemeine Epidemiologie« von 1897 bildet ein oder das eigentliche Startsignal für die Sozialhygiene als Wissenschaft. Mit dem Spätwerk »Epidemiologie – Grundbegriffe und Ergebnisse« 1937 schließt sich der Kreis, in dem Epidemiologie (von ihrem Ursprung her paradigmatisch noch gefasst als Infektionsepidemiologie) und Sozialhygiene zur Gesundheitswissenschaft verschmelzen. Von Gottstein her erhält die Sozialhygiene als Wissenschaft von der Volksgesundheit und den Möglichkeiten ihrer Beeinflussung ihr epidemiologisches Gepräge. Natürlich versteht der Autor des oben zitierten ausgedehnten epidemiologischen Oeuvres die Epidemiologie im weiteren und eigentlichen Sinn des Wortes auch als Wissenschaft von der Entstehung und Verbreitung von Massenerkrankungen überhaupt in Bevölkerungsgruppen einschließlich ihrer konsekutiven Verheerungen auf sozialem, wirtschaftlichem und kulturellem Gebiet.131 Warum hält er sich dann in seiner letzten monographischen Epidemiologie weiter an die engere infektiologische Fassung des Begriffs und orientiert sich an den in seinen letzten Lebensjahren bereits entschwindenden akuten und chronischen Seuchen als vordergründigem Gegenstand seiner Darstellung? Gottstein exemplifiziert den Zukunftsweg der Epidemiologie als Volkskrankheitslehre an der Infektionsepidemiologie. Die Seuchen lassen sich nach Entstehung und Auswirkung nur kulturhistorisch interpretieren als Ausdruck des Gesellschaftslebens und Kulturverhaltens eines Bevölkerungskollektivs.132 So entwickelt Gottstein aus seinen kulturhistorischen Erkenntnissen in der Seuchenlehre die methodischen Grundsätze für die Erforschung der Volkskrankheiten. Die Seuchen eignen sich ihm als Modelle für die exakte zahlenmäßig-mathematische Erfassung und Berechnung pathologischer Massenphänomene.133 Die Epidemien in ihrer akuten Form verkörpern wegen der Plötzlichkeit ihres Auftretens, ihres zeitlich und örtlich beschränkten Ablaufs und der großen Opferzahl in der Zeiteinheit ein die Gesellschaft aufrüttelndes Menetekel,134 als Zucht- und Lehrmeister der Gesellschaft erwecken sie den Willen zur Volksgesundheit durch Abwehr. 135 Die chronischen Infektionskrankheiten stellen wegen ihrer pandemischen Ausdehnungstendenz, ihrer viel höheren Letalität und ihrem höheren An131 132 133 134 135
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Go. S. 12f. Go. S. 13, 26. Go. S. 6f., 11. Vgl. Go. S. 21, 9, 5. Go. S. 23, vgl. 14.
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teil an der Mortalität auf Dauer den Volksbestand in Frage. Beide Formen predigen auf ihre Weise der Gesellschaft den Willen zur Volksgesundheit durch Krankheitselimination. Den meisten Seuchen und Volkskrankheiten aber ist gemeinsam, dass im Grunde eine spezifische Therapiemöglichkeit für sie nicht existiert. Es ist grundsätzlich schwer, sie über Therapie ausrotten zu wollen, da sie oft »Verwahrlosungskrankheiten« sind, die sich schon patientenseitig ungeachtet möglicher individueller Therapien als MassenEntitäten der Ausrottung widersetzen. Gottstein benutzt die Seuchenepidemiologie speziell der ansteckenden Kinderkrankheiten und der Tuberkulose, um den Weg zur Eliminierung von Massenerkrankungen überhaupt zu demonstrieren. Hierzu überwölbt er die aus der Individualmedizin gewohnte Therapie durch die organisierte Vorbeugung im System der Gesundheitsfürsorge. Voraussetzung für dieses Konzept bilden nach den Prinzipien der Seuchenepidemiologie die mathematisch-statistische Analyse der Krankheitsstruktur und der Auf bau einer sozialhygienischen Logistik zur organisierten Krankheitsbekämpfung.136 In seinem letzten Buch, das das Vermächtnis seiner jahrzehntelangen epidemiologischen Arbeiten und auch Pionierleistungen im Rahmen der deutschen Sozialhygiene darstellt, erörtert Gottstein in jeweils 10 Vorlesungen Grundbegriffe und Ergebnisse des Fachgebiets. Definitionsgemäß versteht man unter einer Epidemie (in Anlehnung an R. Doerr) »das gehäufte Auftreten einer Infektionskrankheit in einer bestimmten Bevölkerungsgruppe während eines begrenzten Zeitintervalls«.137 Indem die Definition die Kriterien auff ührt für die Unterscheidung zwischen individualer Infektionskrankheit und Epidemie, erhellt sie auch das eigentliche Problem. Die Infektionskrankheit ist eine Einzelerscheinung, deren ursächlichen Zusammenhänge die Infektionslehre losgelöst von »störenden« Begleitumständen in experimenteller Versuchsanordnung erforscht.138 Die Epidemie dagegen »steigert« die Infektionskrankheit in Raum und Zeit zu einer Massenerkrankung,139 die aufgrund ihrer Vernetzung im dynamischen Raumzeitgitter als eigenständiges Phänomen erscheint. Demgegenüber sieht sich die Epidemiologie vor einer schwierigen Aufgabe. Der Massenvorgang ist der experimentellen Methodik nicht zugänglich, da für ihn ganz andere und vielfältigere Vorbedingungen gelten als für den Einzelvorgang. Deshalb benötigt die Epidemiologie zu seiner Erschließung eine eigene, der Komplexität des Massengeschehens entsprechende Methodik.140 Als roter Faden zieht sich durch Gottsteins Buch die theoretische Erörterung des Mehr- oder Vielfaktorenproblems.141 Dieses gewinnt Aktualität zu dem Zeitpunkt, an dem in der medizinhistorischen Kette der nosologischen 136 137 138 139 140 141
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Go. S. 13ff. Go. S. 3. Go. S. 5. Go. S. 4f. Go. S. 3ff., 6f. Go. S. 29ff. u.ö.
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Einteilungssysteme nach prognostischem und symptomatischem System der Übergang zur morphologischen und mehr ätiologischen Krankheitsauffassung erfolgt.142 Die Epidemiologie schreitet der Entwicklung voran, indem sie ganze Komplexe z.T. unabhängig voneinander wirkender Einflüsse bzw. »Variabler« heranzieht, um Aufschluss zu erhalten über die Gestaltungskräfte des epidemischen Krankheitsgeschehens. Die Vielfaktorentheorie ebnet den Weg zum Verständnis der »Steigerung der Infektionskrankheit zur Epidemie«, die erst eintreten kann, wenn »das Faktorenprodukt [...] einen Schwellenwert überschreitet«.143 Gottstein illustriert die Verhältnisse u.a. am Beispiel der Tuberkulose.144 Hier spielen grundsätzlich natürliche, gesellschaftliche, wirtschaftliche und kulturelle Unterschiede eine Rolle, zu berücksichtigen sind Eigenschaften des Erregers und des befallenen Organismus, im Einzelnen sind Pathogenese, Häufigkeit nach Alter, Anlage, Beruf und Wirtschaftslage, Vorbeugungstatus, das Wechselspiel der Faktoren nach Wirkungsgröße, Beteiligungsausmaß und zeitlicher Reihenfolge sowie unterschiedliche Kombinationsmuster im Beziehungsgeflecht gegeneinander abzugrenzen.145 Die Aufgabe der Epidemiologie ist es nun, einmal empirisch Zahlenwerte zu ermitteln, die die Wirkungsgrößen (Beobachtungsmerkmale) der beteiligten Faktoren zueinander ins Verhältnis setzen, ferner durch Beobachtung Bindung oder Unabhängigkeit der Faktoren festzustellen, ob es sich um abhängig oder unabhängig Variable handelt,146 und schließlich das rechnerisch konventionell erarbeitete Material mittels mathematischer Methoden der Variationsrechnung, Wahrscheinlichkeitsrechnung und Kombinatorik in statistisch-mathematische Formulierung zu überführen.147 Die Epidemiologie beschreibt die Epidemien empirisch in Kurven als wellenförmige Bewegungsvorgänge, deren Ablauf durch Kräfte und Gegenkräfte bestimmt wird.148 Sobald aber ursächliche Zusammenhänge ins Spiel kommen, gesellt sich zur deskriptiven Darstellung der analytische Aspekt. Zur Berechnung genügt nicht länger die Auswertung elementarer arithmetischer und geometrischer Reihen, sondern gehört heute die Anwendung komplizierterer Methoden der höheren Mathematik. Während in England und Amerika zur Erfüllung dieses Anspruchs biomathematische Verfahren verbreitet zum Einsatz kommen, stoßen sie in Deutschland noch auf Zurückhaltung. Der Kenntnisstand in statistischer Wahrscheinlichkeitsrechnung läßt bei der »Mehrzahl der Hygieniker und Epidemiologen der Gegen-
142 | Go. S. 19ff., 63ff., 70ff. 143 | Go. S. 29f. 144 | Go. S. 33ff. 145 | Als aktuell diskutierte Besonderheit erwähnt Gottstein noch das Zusammenwirken von Virus und anderen abgestimmten Mikroorganismen bei Maul- und Klauenseuche und influenzaartigen Erkrankungen, Go. S. 30. 146 | Go. S. 30. 147 | Go. S. 26 u.o. 148 | Go. S. 6f.
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wart« zu wünschen übrig.149 Dennoch sind Wahrscheinlichkeitsrechnung und Kombinatorik die Hilfsmittel der Wahl zur Lösung des Mehrfaktorenproblems, auf welchem Gebiet der Epidemiologie (wie übrigens auch der Vererbungslehre, der Genealogie und der Biometrie) es sich auch ausprägt, so im Bereich Pathogenese, Übertragung, Symbiose, Seuchenwellen, Seuchengeographie, Syntropie (Zusammentreffen mehrerer Krankheitszustände), Mortalität, Letalität, mittlere Lebenserwartung, Erfolgsstatistik (Intervention, Vorbeugungs- und Therapiemaßnahmen einschließlich Schutzimpfungen), Prognose, Auslese u.a.150 Im ungezwungenen Übergang kehren in dem Buch auch »alte« sozialhygienische Themen wieder, die wir aus früheren Schriften kennen, entweder breiter gefasst oder unter anderem Blickwinkel ausgeführt. Erst seit Aufbau der Gesundheitsfürsorge mit ihren organisierten Fürsorgestellen ist eine Langzeitbeobachtung geschlossener Gruppen anscheinend Gesunder, aber durch ihre Lebenslage Bedrohter (Risikoträger!) möglich geworden. Fürsorgeeinrichtungen überblicken im Gegensatz zur Klinik Krankheitsabläufe über lange Zeiträume vom Frühstadium bis zum Vollbild und Krankheitsabschluss. Dadurch entsteht ein Gesamtbild, das die Experten dazu befähigt, die im sozialen Umfeld gegebenen Verbreitungsbedingungen, die Einflüsse von Vorerkrankungen und die Wirksamkeit präventiver Interventionsmaßnahmen »im Massenvorgang« zu verfolgen. Hier finden sie auch alle Voraussetzungen für zuverlässige Prävalenzberechnungen und die Erarbeitung grundlegender Normzahlen. Nicht zuletzt ist das in den Fürsorgestellen archivierte Datenmaterial auch in Zukunft geeignet, zur statistischen Auf klärung ungelöster epidemiologischer Probleme beizutragen.151
9.4.2 Let z tes Wor t zur Eugenik aus dem Blick winkel des Epidemiologen Anders als in seinen früheren Schriften, vermutlich auf dem Hintergrund der aktuellen politischen Lage, setzt sich der Autor mit der Frage nach der eugenischen Funktion der Seuchen in 2 Kapiteln eingehender auseinander.152 Im Mittelpunkt stehen die unter dem Einfluss Darwins von ihrem Anbeginn an gegen die Sozialhygiene erhobenen Bedenken, sie verhindere möglicherweise durch Unterdrückung der Auslese die Austilgung der »Minderwertigen« und vermehre den Anteil der »Entarteten«. Damit konterkariere sie die Aufgabe der Seuchen als »Polizei der Natur«.153 So vermehrt z.B. die Tuberkulose nach Ansicht des Rassenhygienikers Fritz Lenz im Rahmen ihres polizeilichen Kontrolldienstes die allgemeine wirtschaftliche Tüchtigkeit, indem sie mit ihren Opfern die körperlichen und seelischen Anlagen 149 150 151 152 153
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Go. S. 104. Go. S. 16f., 26ff., 104 u.o. Go. S. 14f. Go. S. 213ff., 226ff. Go. S. 219.
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auslöscht, die zu wirtschaftlicher Schwäche prädestinieren.154 – Gottstein geht es darum, die Auslesewirkungen der Seuchensterbefälle in den Altersklassen der Lebenden und über die »Generationen« hinweg »ohne aprioristische Konstruktion« von einem voraussetzungslosen Standpunkt aus einzuschätzen.155 Dabei sollte möglichst nur mit Begriffen gearbeitet werden, deren Inhalt sich in Maß und Zahl ausdrücken lässt.156 Im ganzen Komplex ist das Vielfaktorenproblem virulent. Höhere statistisch-mathematische Berechnungsverfahren sind zur Bewertung des Zahlenmaterials vielfach nicht zu entbehren.157 In den letzten Jahrzehnten seit 1870 erfährt die Theorie der negativen Auslese (Gegenauslese) schon durch den starken Mortalitätsrückgang in den Generationen gleichzeitig Geborener bis zur Eheschließung einen Stoß. Die außerordentliche Vermehrung der Zahl der Überlebenden dieser Jahrgänge geht (von der Säuglingssterblichkeit abgesehen) überwiegend auf das Absinken der Infektionskrankheiten zurück. Der enorme Anstieg der mittleren Lebenserwartung in ihrer engen Verbindung mit dem Rückgang der Seuchen-, insbesondere der Tuberkulosesterblichkeit spricht dafür, dass die Überlebenden nicht als minderwertig, sondern bis in höhere Altersklassen als »widerstandsfähiger und leistungsstärker als in früherer Zeit« anzusehen sind.158 – Die Auslesewirkung der verschiedenen Seuchen bezieht sich spezifisch auf die jeweilige Krankheitseinheit, ist also z.B. bei Tuberkulose auf die Stigmatisation durch die erbliche Krankheitsanlage, nicht auf das allgemeine Bewährungspotential im Lebenskampf gerichtet.159 Die Spezifität der Auslesevorgänge führt dazu, dass sich bei Überlebenden und ihrem Nachwuchs Empfänglichkeit und Hinfälligkeit (jeweils bestimmend für Mortalität bzw. Letalität) gegenüber anderen Seuchen auswirken können.160 – Mit zunehmender Stärke der Epidemie greift »wahllose« Austilgung um sich, wie die Sommersterblichkeit der Säuglinge beweist. »Falsche Ernährung ist kein Mittel der Auslese«, dennoch richtet sie im Infektionsverlauf auch den Kräftigen zugrunde, während bei Brustnahrung auch Minderwertige überleben.161 Die eigentliche Frage im Sinne der Vererbungslehre ist, ob sich die seuchenbedingten Auslesewirkungen im Erbgang durch die Generationen in der Nachkommenschaft »kumulativ« verstärken oder ob sie sich »nach wenigen Generationen ›totlaufen‹«.162 Im ersten Fall kommt es tatsächlich zur Austilgung der entsprechenden Krankheitsanlagen und »die Seuchen rotten sich 154 | Go. S. 238f. 155 | Go. S. 213. 156 | Go. S. 226. 157 | Vgl. Go. S. 213, 233. 158 | Go. S. 219. 159 | Ebd. 160 | Go. S. 231. 161 | Go. S. 219. 162 | Die nachfolgende Argumentation haben wir bereits skizziert im Zusammenhang mit Grotjahns Eugenik, s. Kap. 8.3.2.
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selbst aus«. Einem solchen Selbstreinigungsprozess der Natur könnte auch die hygienische Kultur auf Dauer nichts anhaben.163 Tatsachenerwägungen und die Überprüfung der mathematischen Grundlagen sprechen für die zweite Möglichkeit der Selektionsbegrenzung nach Zeit und Richtung. Ein oberer Grenzwert der erblich Belasteten aufgrund von Ausleseeffekten lässt sich kaum bestimmen. Eine hohe Sterblichkeit durch Auslese würde durch »wahllose« Ausmerzung immer auch Lebensfähigere und unspezifisch hinfällige jüngere Altersklassen einbeziehen. Erhebungen der Gothaer Lebensversicherungsbank ergaben, dass bei Aufnahme gesunde, aber anamnestisch mit Tuberkulosefällen belastete Probanden später einer doppelt so hohen Tuberkulosesterblichkeit unterliegen wie Unbelastete.164 Überträgt man diese Befunde (einmal ungeachtet der in der Probandengruppe erhöhten familiären Exposition) auf die Gesamtsterblichkeit von Erwachsenen an Tuberkulose, gelangt man zu dem Schluss, dass grundsätzlich kaum von einem höheren »Anteil der Belasteten an der Gesamtzahl der Lebenden« auszugehen ist.165 – Die untere Grenze, der Nullpunkt einer Auslesewirkung, wird nach Vorgabe der Schädlingsforschung durch einen Vernichtungsfaktor von 1 : 1000 vorgegeben. Für eine kumulativ wirkende Auslese würde sich ein dem Nullpunkt angenäherter Wert ergeben, wenn die vergleichende Vorausberechnung an zwei ursprünglich gleich großen Gruppen auch nach Jahrhunderten lediglich zahlenmäßige Verschiebungen von unter 1 % eruierte. Rechnet man wie Lenz unzulässigerweise mit der elementaren geometrischen Reihe, so erhält man selbst unter Voraussetzung einer so hohen Tuberkulosesterblichkeit wie um 1880 in Zeiträumen von 300 bzw. 1000 Jahren extrem niedrige Werte für die in großen Zeiträumen durch Auslese verursachten Bewegungen des Erblichkeitsfaktors. Die Wirkung der Auslese (Ausschaltung des Erbfaktors) würde die Tuberkulosemortalität in 300 bzw. 1000 Jahren nur um wenige Prozentbruchteile und damit weit geringer senken als sie in den Jahren von 1910-1932 mit ca 50 % tatsächlich abgesunken ist.166 Auch die Versicherungsmedizin bezweckt mit ihren ärztlichen Aufnahmeuntersuchungen eine Auslese zur Aussonderung Belasteter als größerem Risiko. Trotzdem erstreckt sich die ärztliche Auslese im Auftrag der Lebensversicherung nur auf einen Geltungszeitraum von etwas mehr als fünf Jahren.167 Der Voraussagbarkeit des Sterblichkeitsrisikos sind enge zeitliche Grenzen gesetzt, da die Entwicklung nie konstant, d.h. in der Zukunft unter gleich bleibenden Voraussetzungen verläuft, sondern durch nicht vorhersehbare Ereignisse einen unstetigen Kurs einschlägt. Nach Ablauf des genannten Zeitintervalls nivellieren sich die Unterschiede in der Sterblichkeitsentwicklung zwischen standardisierten Gruppen von »Ausgelesenen«
163 164 165 166 167
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Go. S. 227. Go. S. 228. Go. S. 228f. Go. S. 229f. Go. S. 216, vgl. Gottstein in: Koppitz/Labisch 1999, S. 244.
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und Nichtausgelesenen (Nichtuntersuchten).168 – Die Biostatistiker Raymond Pearl und Ludwig v. Mises beschränken die Gültigkeitsdauer bevölkerungswissenschaftlicher Zukunftsaussagen auf längstens zwanzig Jahre.169 Man darf nie von der Annahme ausgehen, politische, wirtschaftliche und andere Verlaufsbedingungen der Entwicklung bestünden über Generationen, ja über Jahrhunderte im Wesentlichen unverändert fort.170 Die Ausmerzungsrate ungünstiger Erbanlagen durch Seuchen bewegt sich allein aufgrund der Schwankungen des Seuchengeschehens über lange Zeiträume auf wechselndem Niveau (fällt z.B. geringer aus in Wellentälern von Seuchen).171 Aber schon die Eheschließungen zwischen erbungleichen Partnern in der Generationenfolge müssen die Ausmerzungsrate ständig verändern.172 Das Zukunftsbild verwischt sich auch dadurch, dass variierende Umwelteinflüsse die Seuchensterblichkeit weit stärker beeinflussen als Erbfaktoren und dass sich die Wirkungen erbbedingter und wahlloser Auslese (abhängig von der Stärke der Epidemie) nicht sicher auseinanderhalten lassen.173 Unausgesprochen wendet sich Gottstein mit diesen vielfältigen Überlegungen zur Auslese gegen Grotjahns Programm einer »hygienischen« Beeinflussung des Nachwuchses durch Eugenik. Selbst wenn sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt Minderwertige und Entartete stärker fortpflanzen als voll Lebenstüchtige, sie zudem durch Fürsorgemaßnahmen vermehrt überleben, verbieten sich Prognosen zur zukünftigen Entwicklung durch einfache Fortschreibung. Aus der Perspektive des Gottsteinschen Auslesediskurses erweist sich Grotjahns Eugenik auch methodisch als Irrweg. Angesichts der dargelegten Ungewissheiten erscheint verordnete Kinderlosigkeit angeblich Ungeeigneter (durch Asylierung oder Sterilisation) eher unnötig und Steuerung der Kinderzahl Geeigneter zumindest hinsichtlich des qualitativen Erfolgs in ferner Zukunft nicht einschätzbar. Eingriffe in das generative Verhalten eines Millionenpublikums, wie das Eugenikprogramm Grotjahns sie vorsieht, sind danach auch wissenschaftlich obsolet.
9.4.3 Kritische Bewer tung Die »infektionistische« Epidemiologie bleibt für Gottstein bis in die letzten Lebensjahre der Schlüssel für das Verständnis einer durch Sozialhygiene geordneten öffentlichen Gesundheit. An ihrem Modell lässt sich auf dem Gebiet der Bevölkerungsgesundheit alles studieren, was dazu gehört, Populationen in katastrophenträchtigen Gesundheitssituationen welcher Genese auch immer zu helfen und sie davor zu bewahren. Wie schon fortschreitend in seinen epidemiologischen Einzelarbeiten und in seinem Gesamtwerk aus 168 169 170 171 172 173
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Koppitz/Labisch, ebd. Go. S. 233, Koppitz/Labisch 248f. Go. vgl. S. 234. Go. S. 235. Go. ebd. Go. S. 235ff.
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der praktischen Arbeit heraus, so enthüllt Gottstein in seiner Letztfassung des Sachgebiets in klassischer Konklusivität die grundlagenwissenschaftlichen Umrisse einer modernen Epidemiologie. Bevölkerungskrankheiten (z.B. »Kinderkrankheiten«, Tuberkulose) sind mit basisstatistischen Mitteln nach ihrem naturgesetzlichen Ausbreitungsverhalten zu beschreiben; danach folgt die Ausdifferenzierung und Gewichtung der vielfältigen Bedingungen (»Vielfaktorenproblem«) für ihre Entstehung und ihren Verlauf, wie sie sich in Umfeld, Eigenverhalten und sozialem Belastungsausmaß (»Verwahrlosung«!) darstellen, nach Rechnungsarten der höheren Mathematik; schließlich lassen sich aufgrund epidemiologischer Methoden und Ergebnisse Ansätze zur interventionellen Krankheitsbekämpfung erarbeiten. Im Zusammenhang mit der organisierten Vorbeugung in der Gesundheitsfürsorge verweist Gottstein ausdrücklich auf das in den Fürsorgestellen archivierte Datenmaterial als Ausgangspunkt für allseitige epidemiologische Forschung. So bietet die Epidemiologie (noch in ihrem ursprünglich infektionistischen Sinn) in einzigartiger Weise Gelegenheit, Bevölkerungskrankheiten mit einer charakteristischen Methodik aus konventionell-arithmetischer Tabellenstatistik und komplizierten mathematisch-infinitesimalen Berechnungen zu enträtseln und zu paralysieren. In enger Verbindung mit medizinischer Forschung kann Epidemiologie in der Sozialhygiene nichts anderes sein als deskriptive, analytische und primärpräventionelle Wissenschaft.174 Mit diesen Überlegungen gelangt Gottstein weit über die Horizontlinie der meisten seiner deutschen Fachkollegen hinaus und gewinnt Anteil an der weltweiten Neugestaltung einer epidemiologisch orientierten Wissenschaft von Public Health. Ein eigentümliches Verdienst erwirbt sich Gottstein m.E. durch die auf epidemiologischen Überlegungen beruhende post festum-Widerlegung der Grotjahnschen Eugenik-Konstruktion bzw. ihre endgültige Entlarvung als Utopie. Der utopische Charakter der angewandten (»praktischen«) Eugenik wird vor und ohne Gottstein von zeitgenössischen und modernen Kritikern und Kommentatoren recht eigentlich nie erkannt – merkwürdigerweise bis heute nicht. Grotjahns eugenische Texte werden mit allem Ernst interpretiert, verharmlost oder verworfen, aber nie als Utopie von äußerster technischer Realitätsferne dehorresziert. Gottstein ist m. W. der einzige, der uns diesen Umstand rechnerisch vor Augen führt. Die eugenische Sozialtechnologie Grotjahnscher Prägung konnte in Wirklichkeit niemals gebraucht, allenfalls ideologisch missbraucht werden. Hinter ihrem utopischen Charakter verbirgt sich die politische Gefahr, die von ihr hintergründig ausgeht. Gottsteins Haupteinwand basiert auf formal-statistischen Angaben amerikanischer Experten (Pearl, v. Mises): aufgrund der multifaktoriell angelegten »Unstetigkeit« der geschichtlichen Entwicklung beschränkt sich statistische Voraussagbarkeit auf einen Zeitraum von nur wenigen Jahren, niemals auf Jahrzehnte und Jahrhunderte, die Grotjahn für sein Volksregenerationsprojekt beansprucht. Daneben benennt Gottstein noch eine Reihe weiterer 174 | Vgl. Hurrelmann/Laaser 1993, S. 93; dies. 2004, S. 233f.
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Gegengründe wie Spezifität der Auslese (definierte erbliche Krankheitsdisposition vs. allgemeine Tauglichkeit im Lebenskampf), wahllose Auslese durch menscheninduzierte Schäden (Sommerepidemien der Säuglinge im Zusammenhang mit falscher Ernährung), sich mathematisch manifestierende Selektionsbegrenzung u.a. Statistisch ist beim Befundvergleich zwischen standardisierten Gruppen über längere Zeiträume von zunehmender Nivellierung der Unterschiede auszugehen. Steuerung der Bevölkerungsqualität durch prospektive indirekte Beeinflussung der Bevölkerungsbiologie erscheint auch von einem mathematischen Verteilungsstandpunkt aus sinnlos.
10. Alfons Fischer (1873-1936) – Gestalter der Sozialhygiene als Wissenschaf t durch Systemaufbau
10.1 Karrierescheu eines Vielseitigen – Wissenschaf tstätigkeit auf dem E xistenzhintergrund der Arztpraxis Im Werdegang Alfons Fischers, des Jüngsten in der Trias der System-Pioniere der Sozialhygiene in Deutschland, gestalteten sich die Verhältnisse in mancher Hinsicht anders als bei den beiden Mitstreitern in der Avantgarde der Wissenschaftsdisziplin. Nicht die Reichskapitale Berlin, die Hochburg der Sozialhygiene, war die Bühne seines jahrzehntelangen Wirkens, sondern Karlsruhe, die Residenzstadt im badischen Südwesten Deutschlands. Diese »Dezentralisation« mit Aufteilung auch der treibenden Kräfte symbolisiert, dass die wissenschaftsgestützte Sozialhygiene schon in ihrer Frühzeit, anders als viele annehmen, sich nicht allein auf die Millionenstadt und Reichsmetropole Berlin konzentrierte, sondern tatsächlich über die Reichsländer hinaus den ganzen deutschsprachigen Raum mit einem Netzwerk von Bastionen und sozialpolitischen Schaltzentralen überspannte, die die Operationsbasis abgaben für bedeutsame Sozialhygieniker, von denen sich viele nach 1933 im Chaos des Naziterrors verloren. – Am Lebensweg A. Fischers fällt auf, dass er schnell den Status des Meisterschülers überwand und sich anschickte, auf dem neuen Gebiet in Diskurs und Tat voranzuschreiten, selbst die Initiative zu ergreifen sowohl beim theoretischen Aufbau als auch im Kampf um die Umsetzung der sozialhygienischen Einsichten in die politische Realität. Im irritierenden Kontrast dazu steht das Fehlen eines entsprechenden bürgerlichen Karrierebilds. Nach seinen Assistentenjahren bekleidete er niemals mehr eine Stelle im öffentlichen Dienst in Forschung oder Verwaltung.1 – Trotz seiner wissenschaftlichen Leistungen und hohen Verdienste um die Gesundheitspolitik im Land Baden und im Reich erhielt er, anders als Berufskollegen von 1 | Th. S. 6. – Nur für seine Tätigkeit als Geschäftsführer der Badischen Gesellschaft für soziale Hygiene bezog Fischer ein festes Gehalt, Th. S. 283, 293.
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vergleichbarem Rang, niemals den Professorentitel. – Das ungewöhnliche Ausmaß seiner Distanz zur eigenen Person reflektiert – über die Trivialität einer bescheidenen Wesensart hinaus – die Konzentration auf ein Lebenswerk. Über sein persönliches Leben verhängte A. Fischer, der unablässig Schreibende und in historisch-dokumentarischen Gefilden Bewanderte, eine Art absoluter Datensperre.2 Der berufene Historiker des deutschen Gesundheitswesens brachte es, wieder im Gegensatz zu den beiden andern Fachinitiatoren, zu keiner Autobiographie. Im wohlgeordneten Nachlass bilden drei kurz gefasste Lebensläufe eher Randnoten zu den gesammelten amtlichen Dokumenten.3 – Es kann daher nicht verwundern, dass über die Familie Fischers nur spärliche Informationen existieren. Sein Vater, wohlhabender Sägewerksbesitzer in Posen, war jüdischer Familienabstammung, seine Mutter evangelischer Herkunft. Von der Existenz eines Bruders Heinrich erfahren wir über die diesem dargebrachte Widmung in seinem Buch »Gartenstadt und Gesundheit« 1908. 4 Fischer selbst gründete keine eigene Familie. Gemeinsam ist den ökonomisch aus gesicherten Verhältnissen stammenden Triumvirn der neuen Wissenschaftsrichtung die Ausgangsposition bei den einfachen Menschen, den sozial Benachteiligten, den Nicht- oder Unterprivilegierten. In der ärztlichen Niedergelassenen-Praxis erwarben sich alle drei die Qualifikation zur Ausübung des »anwaltschaftlichen« Mandats für ihre in der Mehrzahl mittellosen Patienten, oft lohnabhängige Arbeiter und Angehörige »des vierten Standes«.5 – Fischer, geboren 1873, studierte von 18931897 Medizin in Heidelberg, München und Berlin, wo er auch promovierte. 2 | Th. S. 9; vgl. das Zitat aus einem Brief Oswald Geißlers, Thomann 1979, S. 262. 3 | Th. S. 9; 298, Anm. 1. 4 | Zu diesen und den folgenden biographischen Angaben s. Th. S. 9ff.; ders. 1981, S. 117ff. – Thomanns Buch aus dem Jahr 1980 ist übrigens nicht so sehr eine Ergobiographie über Fischer selbst als vielmehr im Kern eine Geschichte der von diesem geleiteten Badischen Gesellschaft für soziale Hygiene. Dabei stützt sich der Autor auf deren Akten und zugehörige Unterlagen im Nachlass Fischers, die diesem selbst 1935 als Quellen für seine Rückschau auf die Arbeit der Gesellschaft zur Verfügung standen. Der Nachlass befindet sich im Senckenbergischen Institut für Geschichte der Medizin der Universität Frankfurt a.M., Th. S. 356f.; 248, 337 Anm. 1; ders. 1981, S. 139 Anm. 1. – Charakteristisch ist, dass Thomann in seiner Monographie darauf verzichtet, die beiden Hauptwerke Fischers, den »Grundriss der sozialen Hygiene« und die »Geschichte des deutschen Gesundheitswesens« inhaltlich zu würdigen. In seinem Aufsatz aus dem Jahre 1981 konzentriert sich Thomann dann tatsächlich auf Fischers Person und gesundheitspolitisch-organisatorisches Wirken, wobei allerdings die ergographischliterarische Auswertung immer noch zurückfällt. Der »Grundriss« wird zumindest strukturell in die Betrachtung mit einbezogen, dagegen die »Geschichte des deutschen Gesundheitswesens«, in die die historischen Vorarbeiten seit 1926 als »Bausteine einer Kulturhygiene« mit einfließen, nur mit einem Kommentar zu Einleitungsthesen am Anfang des 1. Bandes berücksichtigt. Insgesamt bleibt das Ausmaß der ergographischliterarischen Analyse unbefriedigend, vgl. Thomann 1981, S. 126ff., 132. 5 | Thomann 1981, S. 124.
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Auf drei Assistentenjahre in Danzig, Heidelberg und Frankfurt folgte 1902 die Niederlassung als Arzt für Innere Medizin in Karlsruhe. (1902-1907) In den ersten Jahren bis 19076 dürfte der Auf bau der Praxis und die Patientenversorgung Fischer voll in Anspruch genommen haben. Der spätere notorische Publizist veröffentlichte in dieser ersten Berufsperiode nur zwei kleinere sozialmedizinisch ausgerichtete Arbeiten. In seinem ersten sozialhygienisch orientierten Aufsatz aus dem Jahre 1902 nahm er die Diskussion über die wirtschaftliche Lage der Ärzteschaft zum Anlass, drei Grundthesen aus seinem Gesichtskreis für sich zu formulieren: er betonte die Tatsache sozialer Bedingtheit von Gesundheit und Krankheit, verwandte sich für das Gebot einer sozialen Aufwertung des »vierten Standes« und drängte auf eine verbesserte ärztliche Versorgung der Bevölkerung.7 – Die Frage, wie lange er den Praxisbetrieb angesichts der Aufgabenfülle, die in der Folgezeit auf ihn zukam, aufrechterhielt, wird in der solitären schmalen biographischen Literatur aus DDR-Zeiten nicht dezidiert beantwortet. Nach Thomann wäre allerdings selbst Fischers Spätwerk, die »Geschichte des deutschen Gesundheitswesens«, ohne die Impulse aus seiner ganzen Berufspalette einschließlich »seine(r) Tätigkeit als praktischer Arzt [...] nicht denkbar« gewesen.8 Der Zusatz »Arzt in Karlruhe i. B.« unter dem Autorennamen findet sich immerhin auf der Titelseite der 2. Aufl. des »Grundriss« noch 1925. Womöglich hätte er dann über Jahrzehnte und damit länger als seine professionellen Führungskollegen seine Arztpraxis ausgeübt sicherlich mit Kontakt zu Patienten auch aus der Arbeiterbevölkerung.
10.2 Strategisches Konzept zur Durchset zung der Sozialhygiene in Wissenschaf t und Gesundheitspolitik (1907-1919) Nach eigenem Bekunden gelangte Fischer durch die Erfahrungen in der Praxis auf den Weg zur sozialen Hygiene.9 Aufgestört durch die in der Praxis erlebte hohe Mütter- und Säuglingssterblichkeit, analysierte er das Problem sozialhygienisch in mehreren Arbeiten. Die wirtschaftliche Lage hatte sich noch lange nicht so gebessert, dass sie die sozialen Rahmenbedingungen dafür hätte abgeben können, allen Müttern das Stillen zu ermöglichen; der Rückgang der Säuglingssterblichkeit stagnierte dementsprechend oder diese zeigte wieder ansteigende Tendenz. Das war für Fischer 6 | Th. S. 12; Thomann 1981 nennt als Jahreszahl 1905 statt 1907, S. 119. Die Jahreszahl ist insofern bedeutsam, als sie mit dem Zeitpunkt der Einschränkung oder weitgehenden Beendigung der Praxistätigkeit Fischers zusammenfallen könnte. 7 | Fischer 1902, S. 231ff.; Thomann betrachtet den Kurzartikel auch insofern als Fischers Einstieg in die Sozialhygiene, als er diesem den Kontakt mit Grotjahn eintrug, ders. 1979, S. 251f.; vgl. Th. S. 11; ders. 1981, S. 118. 8 | Thomann 1981, S. 132. 9 | Th. S. 12.
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das Startzeichen für gezielte sozialhygienische Aktivitäten. Mit einem Kreis Karlsruher Bürger, die verschiedensten Richtungen angehörten, initiierte er 1907 die »Propagandagesellschaft für Mutterschaftsversicherung« und gründete 1909 die genossenschaftlich organisierte »Mutterschaftskasse« auch zur Unterstützung unehelicher Mütter (der damaligen weiblichen »Alleinerziehenden«). 1915 wurden durch Bundesratsverordnungen alle auf die perinatale Unterstützung gerichteten Forderungen für den Zeitraum des Krieges erfüllt. 1919 bestätigte ein Reichsgesetz einen Großteil der Bestimmungen auch für die Nachkriegszeit.10 Thomann, der späte und einzige Biograph Fischers aus dem Sozialhygienebereich der ehemaligen DDR, schildert zwar dessen besondere, durchaus strategisch angelegte Arbeitsweise auf dem um seine wissenschaftliche Legitimation ringenden Tätigkeitsgebiet, übersieht dabei aber einen entscheidenden historischen Zusammenhang. Fischer arbeitete als wissenschaftlicher Sozialhygieniker von Beginn an (ab 1907) mit den technischen Instrumenten Verein und Publizistik, letztere stets in verständlicher Sprache mit dem Ziel der gesundheitlichen Volksauf klärung. Die »Propagandagesellschaft für Mutterschaftsversicherung« im Verein mit Informationskampagnen mittels Aufsätzen, Flugblättern und Aufrufen ist ein erstes Beispiel für diese Taktik. Damit schloss Fischer übergangslos an die Tradition der Bewegung für eine bürgerlich-demokratisch aufgefasste öffentliche Gesundheitspflege an, wie sie mit anderen Gesundheitsbewegungen (öffentliche Gesundheitsfürsorgebewegung, Lebensreform) in den 60er und 70er Jahren des 19. Jahrhunderts in Deutschland als breite Volksströmung zum Durchbruch gekommen und keinesfalls jemals wieder abgeflaut war (Kap. 3). Die Gesundheitspflegebewegung benutzte die gleichen Instrumente zur öffentlichen Präsentation gesundheitlicher Reformvorschläge bzw. zum Kontakt mit Regierung und gesetzgebenden Körperschaften. Für Fischer verlor die Sozialhygiene, die die Grundlinien der Gesundheitspflegebewegung auf berufseinheitlicher Ebene fortführte, auch in ihrer wissenschaftlich konsolidierten Form offenbar niemals ihren volksnahen Bewegungscharakter. Ein Hinweis auf die geschilderte Beziehung zur traditionellen Gesundheitsagitation liegt vielleicht auch darin, dass Fischer seine grundlegende Artikelserie über »Die sozialhygienischen Zustände in Deutschland« 1909ff. im Organ der Bewegung, der »Deutschen Vierteljahreszeitschrift für die öffentliche Gesundheitspflege«, erscheinen ließ. Jedenfalls wurzelt das Konzept eines ausgebauten Forums zur gesundheitspolitischen Beeinflussung von öffentlicher Meinung, Regierung und gesetzgebenden Körperschaften11 in der überlieferten Agitationspraxis der gesundheitlichen Bürgerbewegungen. (1907-1908/09) In diesen Jahren nahm sich Fischer eher episodisch in mehreren Artikeln und einer ausführlicheren Schrift über eine Studienreise 10 | Th. 1980, S. 12f., 48 ff; ders. 1981, S. 119ff. 11 | »Volksbelehrung und Organisation sind die […] Mittel, um auf die breite Öffentlichkeit und so auf die Parlamente und Regierungen einzuwirken«, Fischer 1925, S. 15.
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nach England der Wohnraumfrage an. Trotz Verbesserung der Lebenshaltung war für Lohnabhängige die Lage auf dem Wohnungsmarkt unverändert katastrophal. Tuberkulose, Kindersterblichkeit, ungebrochene Urbanisierung, überbelegte Mietskasernen in den Arbeitervierteln, Spekulation, mangelnde Hygiene auf dem Land erforderten einen grundlegenden Wandel. Einen Neuanfang versprach man sich von Gartenstädten im Grünen. Organisatorisch wurde der Gedanke durch eine Gartenstadtbewegung vorangetrieben, an deren (Ideal-)Vorstellungen Fischer anknüpfte. Naiv erwartete er Lohnvorteile für Arbeiter durch Fabrikbauten auf billigem Grund an der Stadtperipherie. Entsprechende Reformbestrebungen unterlagen den Idealvorstellungen der Gartenstadtbewegung, wie sie sich aus der Strömung der Lebensreform entwickelte.12 Immerhin soll der Kompromiss, billige Mietskasernen und hygienisch gebaute Wohnblocks in die Gartenstädte zu integrieren, um finanzschwache Arbeiter an gesundheitsgemäßer Wohnkultur teilnehmen zu lassen, seine Idee gewesen sein – in Vorwegnahme einer im modernen Wohnungsbau zur Geltung gekommenen Planungsmentalität.13
10.3 Im Alleingang: Begründung der Sozialhygiene als wissenschaf tliches System (1909 -1914) 1909 nahm Fischer ein mehrjähriges, bis ins Kriegsjahr 1914 währendes Projekt in Angriff: die Auswertung sozialhygienischen Materials aus den von Berufskollegen im allgemeinen vernachlässigten amtlichen Quellen. Damit unternahm er über die Definition und Methodenbestimmung der frisch deklarierten Wissenschaft hinaus den ersten Schritt zu ihrer inhaltlichen Auff üllung durch Auf bau einer wissenschaftlichen Systematik. In seiner empirisch-soziologischen Studie gliederte er die in den statistischen Quellenwerken erfassten ungeordneten Materialmassen unter einschlägigen Gesichtspunkten zu einem übersichtlichen Bild der sozialhygienischen Zustände in der Zivilisationsgesellschaft. Auf diese Weise lieferte er, verteilt über Aufsätze mit insgesamt 370 (!) Seiten in fünf aufeinander folgenden Jahrgängen der »Deutschen Vierteljahresschrift für öffentliche Gesundheitspflege«, eine umfangreiche Bestandsaufnahme ganz im Sinne der von Grotjahn geforderten »Deskription« als Voraussetzung für begründete sozialhygienische Intervention.14 – Die jährlichen Berichte bereiteten strukturell und thematisch den Boden für Fischers »Grundriss der sozialen Hygiene« aus dem Jahre 1913 (2. veränderte Auflage 1925). In beiden Auflagen blieb das Gliederungschema, wie es sich schon im ersten Aufsatz 1909 darbot, im Wesentlichen erhalten. Im Gegensatz zu Grotjahns im Jahr zuvor erschienenen »Sozialen Pathologie« ist der »Grundriss« kein Krankheitslehrbuch, sondern die erste wirklich systematische Bewältigung des neuen Stoff12 | Wiggershaus in Buchholz 2001, S. 323 ff. 13 | Thomann 1981, S. 123. 14 | Thomann a.a.O., S. 126 ff.
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gebiets. Fischer ist zweifellos der Autor des ersten deutschen, systematisch aufgebauten sozialhygienischen bzw. gesundheitswissenschaftlichen Lehrbuchs, das auch formal modernen Ansprüchen genügt.15
10.4 Gesundheitspolitik und gesundheitliche Volksaufklärung (1915-1923) Gerade die Tatsache, dass Fischer (erster) Systematiker der Sozialhygiene war, befähigte und motivierte ihn zur praktischen, gesundheitspolitischen Umsetzung. In Verfolgung seines bewährten taktischen Konzepts bemühte er sich seit 1915 um die Realisierung einer sozialhygienischen Organisation zur Unterstützung der im Krieg durch den »Volkskraft«-Gedanken auf mehr öffentliche Resonanz stoßenden Reformanstrengungen. Schon 1916 erfuhr sein Lebenswerk gewissermaßen eine erste Krönung durch die Gründung der »Badische(n) Gesellschaft für soziale Hygiene«. In ihr fand er die ideale Plattform für die Durchsetzung seiner gesundheitspolitischen Reformanliegen gegenüber den staatlichen Institutionen. Über 20 Jahre wirkte er als Geschäftsführer der Gesellschaft. Zugleich war er Schriftleiter des seit 1917 erscheinenden gesellschaftseigenen Publikationsorgans, der »Sozialhygienischen Mitteilungen«.16 Durch anspruchsvolle Redaktion mit Auswahl der Beiträge nach Inhalt und verständlicher Sprache und zahlreiche eigene Publikationen gelang es ihm, die sozialhygienische Arbeit in Deutschland entscheidend mitzuprägen.17 Zu den ersten Arbeitsschwerpunkten der neuen Gesellschaft gehörte der Kampf um die Einführung einer obligatorischen Familienversicherung. Über die Finanzierungsfrage gerieten Kassen und Ärzteschaft in gegenseitige Blockade, die nur durch eine gesetzliche Regelung mit staatlicher Kostenbeteiligung hätte vermieden werden können. Nach jahrelanger Kontroverse gelangten Fischer und die Gesellschaft auf regionaler Ebene zu einer einverständlichen Lösung mit den Kassen: 1928 bewilligten die meisten von ihnen den geforderten erweiterten Versicherungsschutz in Form von Familienhilfe.18 (Ab 1918) Im Rahmen der Gesellschaft griff Fischer, wieder in der Tradition der öffentlichen Gesundheitspflege, ein Thema auf, das er intentionell und in seiner Diktion immer schon beherzigte, aber innerhalb seines Aktionsprogramms in breiter Form aus guten Gründen zwischenzeitlich zurückgestellt hatte. Als nächstliegendes Ziel der Sozialhygiene galt ihm, die sozialen Existenzbedingungen der unteren Volksschichten so umzugestalten, dass Gesundheit, ihre Erhaltung oder Wiederherstellung »nicht mehr 15 | Ähnlich angedeutet a.a.O., S. 128f. – Eindeutig erfasst Geisler als eine der Hauptleistungen Fischers die »Systematisierung der Sozialhygiene als Wissenschaft«. Dessen Systematik könnte auch heutigen Fachinstitutionen »kurzerhand als Arbeitsplan und Arbeitsschema« dienen, 1961 (a), S. 1077, 1079f. 16 | Zum medizinhistorischen Aspekt im Blatt s. Tutzke 1967, S. 680ff. 17 | Th. S. 30ff.; ders. 1981, S. 133f. 18 | Th. S. 56ff.; ders. 1981, S. 134f.
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vom Besitze eines Kapitals abhängig sein (dürfen)« (Lorenz von Stein),19 sondern vielmehr im Sinne eines Rechts auf Gesundheit gewährleistet sind. Nach Abschluss des sozialhygienischen Wissenschaftssystems, das allein geeignet war, seriöse Gesundheitspropaganda zu legitimieren, ergänzte Fischer seine These vom Gesundheitsrecht durch eine solche von der Gesundheitspflicht. Eine gesundheitsgemäße individuelle Lebensführung erforderte aber in der Massengesellschaft die Anwendung sozialhygienischer Grundsätze; sie ließ sich nur durchsetzen, wenn über die Einzelberatung hinaus der Massen- oder Bevölkerungsaspekt gewahrt blieb, d.h. nur durch eine organisierte Volksbelehrung im Rahmen eines weitreichenden gesundheitlichen Informationsprogramms (Konzept einer systematischen Gesundheitsförderung). 1920 bildete sich innerhalb der Badischen Gesellschaft ein »Ausschuss für hygienische Volksbelehrung« (wieder mit Fischer als Geschäftsführer) als Ableger des gleichnamigen Reichsauschusses zur Übernahme der Aufgaben der gesundheitlichen Volksbildung auf Landesebene. Die Gesundheitskampagnen erstreckten sich unter maßgeblicher Mitarbeit von Fischer auf Vortragsveranstaltungen, Veröffentlichungen in den Medien, Ausstellungen, Teilnahme an der GESOLEI 1926 in Düsseldorf, Planungen eines eigenen Hygienemuseums in Karlsruhe, Ausrichtung der »Reichsgesundheitswoche« 1926 und der »Reichsunfallverhütungswoche« 1929 in Baden.20
10.5 Kulturhygiene Die von der Badischen Gesellschaft getragene hygienische Volksaufklärung vereinigte drei für Fischers Werk charakteristische Orientierungslinien, indem sie seinen sozialhygienischen, medizinhistorischen und kulturhistorischen Interessen gleichermaßen entgegenkam. Schon 1913 hatte er den Gesundheitsreformer Franz Anton Mai als Verfasser eines »sozialhygienische(n) Gesetzentwurf(s) aus dem Jahre 1800« (!) gewürdigt.21 1924 schrieb er eine Arbeit über Geschichte und gegenwärtige Bedeutung medizinischer Topographien, nachdem ihn bereits 1916 der Fund einer entsprechenden Darstellung aus dem 18. Jahrhundert zu einer intensiven Beschäftigung mit der Thematik veranlasst hatte.22 In Parallele zu seinen historisch-literarischen Arbeiten legte er seit den Kriegsjahren den Grundstock für eine bis heute im Nachlass erhaltene Sammlung von sozialhygienisch bedeutsamen medizin- und kulturhistorischen Zeitzeugnissen und Dokumenten, die seit 1925 mehrfach zu Ausstellungen herangezogen wurde.23 Seine historischen Arbeiten entzündeten in 19 | L. v. Stein in: Handbuch der Verwaltungslehre 1888, zit.n. Fischer 1925, S. 5; vgl. Fischer 1910 zit. bei Th. S. 17; ders. 1981, S. 132. 20 | Th. Kap. 8, S. 138 ff; Kap. 10, S. 193 ff; ders. 1981, S. 131, 137. 21 | Ausführliche Erwähnung der Schrift mit moralhygienischer Tendenz gegen »Exzesse() in baccho et venere« bei Fischer 1925, S. 6, 33; vgl. Th. S. 19f. 22 | Th. S. 221. 23 | Th. S. 193ff., 214f.
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Fischer die Idee, dass nicht nur sozialökonomische Faktoren, die zumindest grundsätzlich relativ leicht auszuräumen sind, sondern in vergleichbarem Ausmaß auch kulturelle Einflüsse, die sich nicht oder nur schwer korrigieren lassen, auf die Gesundheit einwirken. Damit konzipierte Fischer eine ganz neu verstandene Sozialhygiene, die Kulturhygiene, die erstere nicht eigentlich nur ergänzen oder erweitern, sondern durchdringen sollte. Die Aufgabe einer Kulturhygiene sah er darin, sich außer mit sozialökonomischen Faktoren »mit allen vom Menschen ausgehenden günstigen oder ungünstigen Einflüssen auf die Volksgesundheit zu befassen, [...] auch mit den Lebensgewohnheiten, Sitten, mit der Moral, Weltanschauung, Religion, Bildung, Erziehung, Kunst, mit dem Recht, sowie mit der Politik, der Staatsidee u.a. m.«.24 Begriff und ausgeführte Sache begegnen uns in Fischers literarischem Werk erst verhältnismäßig spät 1923 in seinem Buch »Bilder zur mittelalterlichen Kulturhygiene im Bodenseegebiet«.25 Bestärkt in seinen neuen Bestrebungen wurde er durch seine vorbereitende Quellenforschung zur »Geschichte des deutschen Gesundheitswesens«, die das Reichsgesundheitsamt ihm 1926 in Auftrag gegeben hatte und die 1933 erschien.26 Schon 1925 versuchte er unter Beibehaltung des Gliederungsschemas eine durchgehende Umsetzung des kulturhygienischen Ansatzes in der 2. Aufl. des »Grundrisses«. Eine monographische Ausgestaltung der Kulturhygiene, zu der Fischer noch 1934 als Vorarbeit eine Bibliographie herausgab, scheiterte an der politischen Realität.27 Anzeichen sprechen dafür, dass Fischer zunächst, wie andere Intellektuelle im konservativen Lager auch, die Hitler-Diktatur als überwindbare politische Episode einschätzte. Das Gebot der Stunde war Einordnung, business as usual und eine gewisse Adaptation z.B. auf dem Gebiet der NS-Rassenhygiene, die in Lehre und öffentlicher Praxis offiziell an die Stelle der Sozialhygiene getreten war.28 In einem unsäglichen Schreiben des Präsidenten der Reichsschrifttumskammer wurde im Frühjahr 1935 sein Aufnahmeantrag abgelehnt und damit ein Veröffentlichungsverbot ausgesprochen. Zwar konnte Fischer insofern eine Abmilderung erwirken, als ihm die Drucklegung rein wissenschaftlicher Arbeiten weiterhin gestattet blieb, seine Tätigkeit als Autor populärwissenschaftlichen Schrifttums wurde aber dezidiert unterbunden.29 Im letzten Band der »Sozialhygienischen Mitteilungen« bildete Fischers Rechenschaftsbericht über die Unternehmungen der Badischen Gesellschaft in den beiden vergangenen Jahrzehnten den Epilog. Ende 1935 stellte das Blatt sein Erscheinen ein. Fischer verstarb nur ein halbes Jahr später im Mai 1936, der Tod des erst 63-Jährigen nach eher im Innern sich überstürzenden Ereignissen war kein lebensschicksalhaftes herkömmliches Sterben, sondern von faschistischem Psychoterror heraufbeschworener Untergang. 24 25 26 27 28 29
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Zit.n. Fischer 1934 bei Th. S. 21. Th. S. 220, 331 Anm. 1; ders. 1981, S. 130f. Th. S. 132. Vgl. Thomann 1981, S. 131. Th. S. 284f., vgl. ders. 1981, S. 138. Thomann 1981, S. 138.
11. Coup d’Éclat: Erstes systematisches Lehrbuch des Wissenschaf tsfachs – Fischers »Grundriss der sozialen Hygiene« 1913, 2. Auflage 1925
Gesundheitspolitik und Gesundheitsgesetzgebung (GG) 1914 Soziale Hygiene, mit besonderer Berücksichtigung der sozialen Medizin (SH/SM) 1932 Fischer unterteilt den Buchtext in 5 Kapitel und insgesamt 36 Unterabschnitte (2. Auflage; 42 Unterabschnitte in 1. Auflage). Nach einem Eingangskapitel über Definition, Arbeitsmethoden und Geschichte der Sozialhygiene (Kapitel I) gliedert er den Stoff in den folgenden Kapiteln nach Strukturen, wie sie in »physischer« Hygiene, Gesundheits- und Sozialfürsorge, Berufssoziologie und sozialer Pathologie und Therapie bereits angelegt waren. Zunächst gilt es, als Szenenhintergrund und Voraussetzungen für die Entwicklung sozialhygienischer Zustände in einer Bevölkerung ähnlich wie in der »physischen« Hygiene die natürlichen Lebensbedingungen zu analysieren, allerdings zum speziellen Zweck streng unter dem Aspekt sozial-kultureller Einflüsse. Für die Darstellung erscheint Fischer das traditionelle Gliederungsschema der »physischen« Hygiene unverändert geeignet, wenn nicht geboten (Kap. II). – Als Zweites behandelt er die Personenklassen einer Bevölkerung, die in ihr sozialhygienische Zustände verursachen, auf sie einwirken oder selbst von diesen beeinflusst werden. Die Personenklassen fallen formal nach ihrem veränderlichen bevölkerungspolitischem Hauptcharakteristikum mit den Altersklassen vom Säuglingsalter bis zum Erwachsenenalter zusammen, jedoch sind im Erwachsenenalter aufgrund des hinzutretenden Merkmals tätigkeitsbedingter Belastung die Berufsklassen von den jüngeren Altersklassen zu trennen. Als Subjekte der sozialhygienischen Zustände stehen sich im Einteilungsschema also zwei Kollektive gegenüber: die jüngeren noch gesunden »Altersklassen« (bis zum Jugendalter einschließlich der Kategorie Mutterschaft) mit ihrer geringeren Belastbarkeit und gesundheitlichen
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Schutzbedürftigkeit und die durch Arbeitsanforderungen und Einkommensprobleme krankheitsoffenen bzw. -näheren »Berufsklassen« im Erwachsenenalter. Die Einteilung der Altersklassen erfolgt nach den Kategorien der Gesundheitsfürsorge, die der Berufsklassen in Anlehnung an von amtlichen Statistiken getroffenen Unterscheidungen (Kap. III). – Erst nach diesen bevölkerungs- und sozialwissenschaftlich orientierten Erwägungen findet sich Platz für eine umschriebene Soziale Pathologie oder eine sozialen Gesichtspunkten folgende Krankheitslehre. Die Lehre von bestimmten, durch schwerwiegende kulturelle Missstände bedingten Krankheitszuständen oder Volkskrankheiten wird zur speziellen Domäne der Kulturhygiene (Kap. IV). – Den Abschluss bildet eine Zusammenstellung der grundlegenden Vorkehrungen und konzeptionellen Maßnahmen, die geeignet sind, eben die Kulturhygiene bei der Erfüllung ihrer selbstregulatorischen Absicht voranzubringen (Kap. V). Im Gegensatz zur Hauptmasse der frühen Sozialhygieneliteratur entspricht das Buch auch formal strengsten wissenschaftlichen Ansprüchen auf Beleg und Quellennachweis bzw. Literaturinformation. Dem Text ist auf den meisten Seiten ein kommentierender Apparat angefügt, am Ende jedes Unterabschnitts findet sich ein ausführliches Literaturverzeichnis.
11.1 Vollendung des Wissenschaf tsanspruchs der Sozialhygiene im literarischen System Mit seinem »Grundriss« verfolgt Fischer die erklärte Absicht, den »bisherigen Zustand des aphoristischen Arbeitens« zu beenden und die Sozialhygiene entsprechend ihres Wissenschaftsanspruchs zu systematisieren.1 Die Sozialhygiene ist ein eigenständiger Wissenschaftszweig mit einer aus ihm abgeleiteten praktischen Berufstätigkeit.2 Die Verselbständigung des Fachs beruht bisher auf der Deklaration durch Grotjahn und den von ihm angegebenen Gründen: ein aus der Hygiene massenhaft zuwachsender eigentümlicher Stoff und neue materialgerechte Methoden der Bearbeitung. Aber erst jetzt reift die Zeit für die Realisierung eines weiteren Wissenschaftsmerkmals, der Möglichkeit der Stoffdarstellung im System. Fischer betont ausdrücklich, in seinem Lehrbuch als erster ein System der Sozialhygiene aufgestellt zu haben.3 Zwar hält er sich nicht weiter auf mit einer Defi ni1 | Fi. S. 5, vgl. 254; Fischer 1913 S. V; ders. SH/SM 1932, S. 36. 2 | Fi. S. 1 u.ö. Fischer 1913, S. V. – Die formale Grundlage seines Systems bildet für Fischer die zusammenhängende Anordnung der Hauptabschnitte der sozialen Hygiene, wie sie die Gliederungsstruktur seines Lehrbuchs wiedergibt. Als Garant für den Systemcharakter seines Werks, ja als Synonym für »System« behält er sie deshalb über die 2. Auflage hinweg bis zu seiner 104-seitigen Kurzdarstellung von 1932 praktisch unverändert bei, SH/SM S. 36. 3 | Wie von Hypothese und Definition erwartet Fischer vom System, dass es »alle vorliegenden Tatsachen umfaßt und heuristisch ist [...]. Das erste System der so-
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tion seines Systembegriffs. Aber zweifellos versucht er im Lehrbuch die widerspruchsfreie Darstellung der speziellen Erfahrungsinhalte nach übergeordneten sozialhygienischen Gesichtspunkten. Vor allem orientiert er in seinem System die Sozialhygiene auf ein gegenwartsorientiertes Ziel, um das sich dann ihre »gesundheitspolitischen« Aufgaben methodisch gruppieren. Ziel der Sozialhygiene ist es, nach einem von Fischer oft zitierten Wort L. von Steins, Erhaltung und Wiederherstellung von Gesundheit »von dem Besitz eines Kapitals« unabhängig zu machen. Durch die Sozialgesetzgebung wurde erreicht, dass sich diese Forderung für einen Teil des deutschen Volkes »in gewissem Umfange« bereits erfüllt hat. Aber dennoch handelt es sich bei der Bevölkerungsmehrheit um weitgehend mittellose (besitzlose!) Angehörige der Unter- bis Mittelschicht, die im Fall der Erkrankung, bei Gesundheitsschädigung in der Kindheit und im Erwerbsleben noch keine soziale Sicherung genießen. Demgegenüber hat die soziale Hygiene das Recht auf Gesundheit durchzusetzen. Auf die Formulierung dieses Rechts beansprucht Fischer offensichtlich eine Art Primat, er habe sie »erstmalig 1915« aufgestellt; vor ihm hätten Neumann und Virchow Bezeichnungen gebraucht, »die dem Wort ›Recht auf Gesundheit‹ sehr ähneln«; Neumann habe »schon ähnliche Forderungen wie das Recht auf Gesundheit [...] erwogen«, um korrespondierend auf der Pflicht zur gesundheitsgemäßen Lebensweise zu bestehen. Mit dem formulierten Ziel bildet die soziale Hygiene ein noch anwachsendes »gewaltiges Gebiet der Wissenschaft und praktischen Betätigung« im Dienst der Bevölkerungsmasse, das »kaum mehr von einem einzelnen völlig zu überblicken« ist.4 In seinem »Grundriss der sozialen Hygiene« bedient sich Fischer eines originalen Ansatzes, den er selbst in seiner Artikelserie über die »Sozialhygienischen Zustände« 1910ff. vorbereitet hatte,5 wie er aber in dieser Form, Kohärenz und Dichte noch von keinem sozialhygienischen Autor zuvor praktiziert worden war: als Ausgang für seine Darstellung nimmt er den ungeheuren bevölkerungs- und sozialwissenschaftlichen »Zahlenstoff«, wie ihn die amtlichen Veröffentlichungen, d.h. die Statistischen Jahrbücher des Reichs, der Bundesstaaten und der Gemeinden, andere amtlichen Enqueten, bundesstaatliche Medizinalstatistiken, Jahresberichte, Zeitschriften der statistischen Landesämter und des Reichsversicherungsamts, ausländische Quellen u.a. als nur schwer wieder mobilisierbaren Schatz in sich bergen.6 Das für die Zwecke des Themengebiets ausgewählte Material wird in transzialen Hygiene bietet mein »Grundriß«, Fischer 1918 in Lesky 1977, S. 221. – Wissenschaftstheoretisch qualifiziert sich die Sozialhygiene als eigenständiges Wissenschaftsfach also durch einen eigentümlichen Forschungsgegenstand, spezifische Methoden und die Existenz übergeordneter, auf ein einheitliches Ziel ausgerichteter Erfahrungsinhalte im widerspruchsfreien System. Zum Begriff des wissenschaftlichen Systems s. z.B. Rothschuh 1962 (2. Aufl.). 4 | Fi. S. 5ff., 35. 5 | Vgl. Fischer 1913, S. V. 6 | Fischer ebd.; vgl. ders. 1910, S. 416.
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parenter Weise nach festen, aus Bevölkerungswissenschaft, Hygiene und Sozialhygiene gewonnenen Gesichtspunkten geordnet. Der Darstellung liegen 71 Tabellen und 35 Diagramme zugrunde, die jeweils als einführendes Schaubild für den angesprochenen Gedankenkomplex fungieren. Im nachfolgenden Text werden Zahlenwerk bzw. Datengraphik erläutert und interpretiert, die Schlussfolgerungen anhand der Literatur diskutiert und abschließend klare Aussagen zur behandelten Problematik formuliert. In der Regel fokussieren die Feststellungen auf die Frage, inwieweit Entwicklung oder Maßnahme für die wirtschaftliche und gesundheitliche Lage der Unter- und Mittelschichten der Lohnarbeiter von günstiger oder schädlicher Bedeutung sind. Durch das ganze Buch hindurch verfolgt Fischer den Zielgedanken seines Systems. Fernab von allen ideologisch-parteipolitischen Bindungen setzt sich Fischer in einem nachgerade philanthropisch-idealistischen Sinn für den »Lohnarbeiter«, also die Arbeitermassen als besondere Bevölkerungsgrupppe ein. Die Vielfalt unterrangiger Erwerbstätigkeiten und die Unterschiedlichkeit des zugehörigen statistischen Materials zwingen häufig zu exemplarischer Darstellung. Aber als gemeinsames Ergebnis schält sich heraus: Der Arbeiter ist innerhalb einer reichen Nation Inbegriff einer Massennotlage. Wir stehen vor der paradoxen Situation, dass zwar weite Volkskreise von der wirtschaftlichen Entwicklung profitiert haben, aber die Hauptmasse der Bevölkerung, die Unter- und Mittelschichten der Lohnarbeiter, aufgrund relativ niedriger Einkommen und verteuerter Lebenshaltung als sozial-ökonomisch benachteiligt und in Folge auch gesundheitlich als in weiterem Abstieg begriffen erscheinen.7 Zwischen Arbeiter-»Oberschicht« und Mittelstand ergeben sich noch fließende gegenseitige Übergänge bis hin zur Proletarisierung des Mittelstands. Vom kulturellen Standpunkt aus ist es die »Verelendung«, die allseitige Zerrüttung der Lebensverhältnisse oder der »sozialen Lage«, die den Gesundheitszustand des Arbeiters ruiniert und seine Lebensdauer verkürzt – trotz Anstieg der allgemeinen Lebenserwartung. Diese Konstellation entspricht für Fischer in etwa dem, was wir heute unter dem Ausdruck »soziale Ungerechtigkeit« verstehen. Bei seiner Einstellung kann es nicht verwundern, dass er sich ungeachtet seines ausgleichenden Naturells gelegentlich radikal-systemdisparaten gesellschaftlichen Reformvorschlägen gegenüber aufgeschlossen zeigt. Zur Definition des Begriffs »soziale Hygiene« konzentriert sich Fischer unter Ausklammerung der individuellen (privaten) Hygiene auf die öffentliche Hygiene. Danach besteht diese aus physischer und sozialer Hygiene, wobei sich erstere mit den Einflüssen der natürlichen Umwelt, die zweite mit denen der sozial-kulturellen Umwelt auf die Gesundheitsverhältnisse auseinandersetzt. Fischer fordert, auf jedem Teilgebiet der öffentlichen Hygiene zugleich nach den natürlichen als auch den sozial (kulturellen) Aspekten zu fragen. Die soziale Hygiene verträgt also niemals eine Auslassung der physischen Hygiene, Fischers Bindungen an die »klassische« Hygiene sind also 7 | Fi. S. 84.
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relativ eng, bei aller Betonung der Selbständigkeit des von ihm vertretenen Fachs stellt er weniger die Gegensätzlichkeit als die Zusammengehörigkeit der Einzelfächer in den Vordergrund. Die Hygiene insgesamt lässt sich nur nach der Art der gesundheitsrelevanten Einflüsse gliedern, nicht nach intervenierendem Subjekt (z.B. Staat, Gesellschaft) oder Zielobjekt (z.B. Bevölkerungsgruppen);8 hinsichtlich soziologischer und naturwissenschaftlicher Ausrichtung ändert die Sezession nichts an der engen Verwandtschaft.9 Soziale Hygiene ist also wie physische Hygiene Bevölkerungssache, wobei im Interesse des Ganzen bestimmte Schichten gesonderte Beachtung verdienen. Der Definition Fischers wird in der Folge weite Anerkennung zuteil. In der 2. Auflage des »Grundrisses« gibt Fischer der Sozialhygiene die Fassung einer »Kulturhygiene«. Kultur umfasst als Oberbegriff alle vom Menschen begründeten Strukturen gesellschaftlichen Zusammenlebens, soziale und wirtschaftliche Prozesse ebenso wie Lebensgewohnheiten, Wertvorstellungen, Weltbild, Religion, Bildung, Erziehung, Rechtsordnung etc. Eigentlich ist es immer der jeweilige Kulturzustand, der die Volksgesundheit positiv oder negativ beeinflusst. Die Defekte des Sozialsystems erzeugen Krankheit, aber eben als Störungen der Kulturfunktion, deren Wiederherstellung ihrerseits eine dezidierte Kulturleistung erfordert. Bis zur eingehenderen Erforschung der angesprochenen Zusammenhänge will sich Fischer aber mit dem eingeführten Begriff der Sozialhygiene begnügen.10 Was ist Kulturhygiene? In seinem Handwörterbuchartikel von 1932, der 104-seitigen Kurzfassung seiner Sozialen Hygiene, sucht Fischer die Antwort auf diese Frage zu präzisieren. Die großen Volkskrankheiten sind eine Herausforderung an die Kultur, das, was sie selbst zugelassen hat, nunmehr mit allen Kräften auszurotten. Die Krankheitslehre des »Grundriss« beklagt den Werteverfall vor allem im Leben der Großstädte als Kulturkrise im Fortgang der Säkularisation. So richtig die Beobachtung ist, zieht Fischer aus ihr Schlussfolgerungen, die ihn schließlich einseitig auf das Gebiet (religiöse) Weltanschauung, Ethik bzw. Sittenordnung, Moral abdrängen. Darin bestätigt sieht er sich zudem durch seine historischen Studien, die ihm immer wieder den Topos »Hygiene und Moral« vor Augen führen. Daraus resultiert am Ende die Definition der Kulturhygiene als einer »um die Moralhygiene erweiterte(n) Sozialhygiene«.11
8 | Fischer erweitert damit gegenüber der ökonomisch tingierten Defi nition Grotjahns das Bestimmungsziel der Sozialhygiene über den sozialbedingt bedürftigen Menschen auf den Menschen überhaupt in seiner Abhängigkeit von der gesellschaftlich-kulturellen Umwelt, s. Kap. 7.2.7; vgl. Tutzke 1958, S. 81ff. Von Virchow bis Fischer/Grotjahn wandelt sich der Bezugsgehalt des Wortes »sozial« von einer inferioren, auf Bedarfsgruppen bezogenen zu einer gesamtgesellschaftlichen Kollektivität, s. Thissen 1969 in: Lesky 1977, S. 446ff., besonders auch 449f. 9 | Fi. S. 2f., 6. 10 | Fischer 1934, S. 19; Fi. S. 3. 11 | SH/SM S. 46f., vgl. 36ff., 42.
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Weiterhin gebraucht Fischer im genannten Großartikel (wie schon in der 1. Auflage des »Grundriss«) den Begriff »Gesundheitswissenschaft« (im Singular), aber nicht einfach als Synonym für »Sozialhygiene«, sondern als Bezeichnung für das Gesamtgebiet der Hygiene (private und öffentliche Hygiene). »Gesundheitswissenschaft« steht also zunächst für den physischen Teil der (öffentlichen) Hygiene (wobei Pettenkofer als ihr »Altmeister« erscheint), bis sich Anfang des 20. Jahrhunderts die Sozialhygiene als Teilgebiet oder »neuer Zweig« ihr zugesellt. Aber ein Globalverständnis von Gesundheitswissenschaft mit allen sozialen Aspekten zeigen schon seit spätestens Ende des 18. und um die Wende zum 19. Jahrhundert Johann Peter Frank, Franz Anton Mai und die Männer der »Medizinischen Reform« um Rudolf Virchow mit ihren staatsgesundheitlichen System- und Gesetzesentwürfen. Das berechtigt uns dazu, das 19. Jahrhundert als die Ära anzusehen, in der sich unter dem Eindruck dieser Ideen die Gesundheitswissenschaft erst richtig entwickelt.12
11.2 Ökonomischer Aspek t: Beruf, Einkommen und Lebenshaltung des Industriearbeiters Will man die den Gesundheitszustand bestimmende soziale Lage einer Familie beurteilen, sind die Parameter Beruf und Einkommen in erster Linie des Familienvaters, daneben auch der Angehörigen heranzuziehen.13 Für das Zahlenmaterial zur Erwerbs- und Berufstätigkeit in Deutschland sind besonders die vor dem Krieg seit 1882 im Abstand von mehr als einem Jahrzehnt durchgeführten 3 Berufszählungen bedeutsam, auch stehen neuere statistische Daten aus dem Jahre 1920 zur Verfügung. Was die Erwerbstätigkeit allgemein betriff t, so fällt auf, dass die Rate der weiblichen hauptberuflichen Erwerbstätigen um knapp ein Drittel (von >18 % auf >26 %) angestiegen, ein entsprechend hoher Anteil aus dem »Angehörigen«-Status, d.h. dem Schutz der allenfalls mithelfenden Familienarbeit herausgetreten ist und dass sich die Zahl der verheirateten erwerbstätigen Frauen seit 1895 nahezu verdoppelt hat. Die steigende Beteiligung besonders der verheirateten Frauen auf dem konventionellen Arbeitsmarkt wird ihre negative Auswirkung auf die Volksgesundheit, speziell auf die Kinderzahl nicht verfehlen, wie es schon heute die quantitativen Unterschiede beim Nachwuchs erwerbtätiger und nichterwerbstätiger Frauen zeigen. Der Übergang verheirateter Frauen in das außerhäusliche Erwerbsleben ist auf die Teuerung im Nahrungsmittel12 | SH/SM S. 39ff., 43f., 46, 50; Fi. S. 1f. 13 | Fi. S. 69ff. – Der Sozialversicherte tritt nicht nur als Individuum, sondern »als Mensch in eigenartigen Verhältnissen und mit eigenartigen Bedürfnissen« in Erscheinung, gemäß seiner Rolle als »Familienvater und Ernährer von Angehörigen« sollten sich die Versicherungsleistungen an ihn nach seinem Familienstand bemessen, Grieser 1924, zit.n. Fi. S. 445f.
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sektor zurückzuführen, was auch im internationalen Vergleich darin zum Ausdruck kommt, dass z.B. in England verhältnismäßig wenig verheiratete Frauen erwerbstätig sind, sich allerdings auch die Lebenshaltungskosten auf ein niedriges Niveau eingependelt haben.14 Die entscheidende Änderung beobachtet man auf dem Gebiet der beruflichen Beschäftigung. Einmal spiegelt sich in den Erhebungen zur Berufszugehörigkeit der fortschreitende Wandel Deutschlands vom Agrar- zum Industriestaat mit Abwanderung von immer mehr Berufstätigen aus Land- und Forstwirtschaft in Industrie bzw. Handel und Verkehr, sodann ergeben die Feststellungen zum Sozialstatus im Beruf eine starke Zunahme der Arbeiterschaft. Bei relativ hoch bleibenden Zahlen in der Landwirtschaft wächst sie in Handel und Verkehr und besonders ausgeprägt in der Industrie.15 Die Sozialstatistik verzeichnet auch gesundheitlich positiv einzuschätzende Entwicklungen: die Zunahme der Studierendenzahlen, die als Indikator bewertet werden kann für die Verbreitung von Wohlstand und Bildung als Voraussetzung für eine günstige Entwicklung der Volksgesundheit;16 die Ausweitung des industriellen und kaufmännischen Angestelltensegments, die den Mittelstand stärkt 17 und die konstant-stabile Stellung der beruflich Selbständigen, die gesundheitlich privilegiert erscheinen gegenüber Arbeitern und Angestellten in der freien Auswahl der Arbeitsstunden, der Gestaltung des Arbeitsraums und im Verdienst.18 Um diesen Tatbestand ziffernmäßig zu konkretisieren, analysiert Fischer die amtlichen Angaben zum Altersauf bau der sozialen Schichten in den drei großen Berufssparten Landwirtschaft, Industrie und Handel/Verkehr. Dabei ergeben sich Defizienzen in der erwarteten Repräsentanz der Arbeiterschaft in den höheren Altersklassen. Für die älteren Jahrgänge ab dem 40./50. Lebensjahr gilt das Folgende: Die Zahl der Industriearbeiter nimmt stärker ab als die Gesamtheit der männlichen anders Erwerbstätigen. Der Anteil der männlichen, gegen Invalidität Versicherten an der altersentsprechenden Gesamtbevölkerung geht abrupt zurück. Bei beiden Geschlechtern vermindert sich die Zahl der gegen Invalidität Versicherten im Vergleich zu den nichtversicherten Lohnempfängern.19 Die durchschnittlichen Stundenlöhne sinken, wohl aufgrund schwindender Leistungsfähigkeit. Die Invaliditätsraten steigen massiv an, bei den weiblichen Versicherten noch stärker als bei den männlichen. Umgekehrt zeigt die bei der AOK versicherte männliche Arbeiterschaft vom 40. Lebensjahr an eine höhere Sterblichkeit als die Gesamtbevölkerung. 14 | Fi. S. 73ff. 15 | Fi. S. 70. 16 | Fi. S. 76. 17 | Fi. S. 75f. 18 | Fi. S. 77. 19 | Das Verfahren, den Altersauf bau in der Arbeiterschaft durch Vergleich zwischen Mitgliedern und Nichtmitgliedern der Invalidiätsversicherung zu prüfen, stammt von Fischer selbst, S. 81.
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Die mangelnde Präsenz älterer versicherungspflichtiger Arbeitnehmer im Altersauf bau lässt nur auf ein vorzeitiges Aussscheiden aus dem Arbeitsprozess aufgrund von Invalidität oder Tod schließen. Die Daten bestätigen die bereits von Alfred Weber geäußerte Ansicht, dass um das 40. Lebensjahr tatsächlich ein »Knick« im Berufsschicksal des Arbeiters eintritt. Ein »ziffernmäßiger Beweis« für den gesundheitlichen Gewinn, den die Sozialversicherung der Arbeiterschaft gebracht haben soll, steht noch aus, im Gegenteil erblickt Fischer im Datenmaterial eher einen Hinweis auf deren »fortschreitende körperliche Verelendung«. Diese wiederum erklärt sich keineswegs aus der berufstypischen Belastung, sondern aus zu niedrigen Reallöhnen. Die Lage des deutschen Arbeiters in den Jahrzehnten vor dem Weltkrieg wird charakterisiert durch fortlaufenden Anstieg der Nominallöhne in ständiger Parallele zu einer überproportionalen Verteuerung der Lebenshaltung. Fischer ist sich darüber im Klaren, dass er sich mit solchen Aussagen auf ein »vom Kampf der Ansichten umtobte(s) sozialwirtschaftliche(s) Gebiet« vorwagt. Trotz der verfehlten Handelspolitik kommt es in Deutschland im angegebenen Zeitraum sicherlich »für weite Volksschichten« zu einer Verbesserung der Lebenshaltung. Kennzeichnend für die positive Entwicklung ist wie in anderen Ländern, besonders in England, dass sich die Abwärtsbewegung der Ziffern für allgemeine und Tuberkulosesterblichkeit fortsetzt. Aber Fischers Grundthese lautet: Die gewonnenen Gesundheitsgüter sind in Deutschland nicht gerecht verteilt. Im »reich gewordenen Deutschland« vor dem Krieg hindern die hohen Lebenshaltungskosten einen Großteil des Volkes, nämlich »die Mittel- und Unterschichten der Lohnarbeiter« an der Nutznießung und schädigen dadurch »erheblich« ihre Gesundheit.20
11.3 Kultureller Aspek t: Beispiel Wohnung, Ernährung Die Statistiken belegen eindruckvoll, dass während des Weltkriegs die Versorgung mit den Grundnahrungsmitteln fast aller Volksschichten (bis auf die reichsten) in den Städten und Industrieregionen verhängnisvoll einbrach, während sich die Landbevölkerung verständlicherweise ernährungsmäßig besser zurechtfand. Die Versorgungskrise schlug sich in einer Zunahme der allgemeinen Sterblichkeit und vornehmlich der Tuberkulosesterblichkeit nieder. Nach Krieg und Besserung der Ernährungslage durch ausländische Hilfe kam es noch einmal zu einem Hunger-Zwischentief in der Nahrungsversorgung mit ähnlichen statistischen Kurvenverläufen durch die Geldentwertung. Bei gebessertem allgemeinem Ernährungszustand bleibt jetzt abzuwarten, ob und wie sich die Hungerperioden auf die zukünftige Volksgesundheit ausgewirkt haben.21 Als eigentliches Problem auf dem Nahrungssektor erscheint Fischer die Frage, inwieweit sich statistisch ermitteln lässt, ob in den Jahrzehnten vor 20 | Fi. S. 77ff., 81ff., 84ff., 91ff. 21 | Fi. S. 110ff.
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dem Weltkrieg die unteren Bevölkerungsschichten, also die Masse der lohnabhängigen Arbeiter in Stadt und Land quantitativ und/oder qualitativ entbehrungsreichen Ernährungsverhältnissen ausgesetzt war. Aus dem statistischen Material kristallisieren sich mehrere »Gesetzmäßigkeiten«.22 Je ärmer eine Familie ist, einen umso höheren Anteil ihres jeweiligen Einkommens gibt sie für Ernährungszwecke aus.23 Mit steigender sozialer Stellung einer Familie verringern sich bei gleichem Einkommen (gelernter Arbeiter – Beamter – selbständiger Gewerbetreibender), also rein statusbedingt, zugunsten von Aufwendungen für Wohnung, Kleidung und Kindererziehung die Ausgaben für die Nahrungsmittelbeschaff ung. Mit steigender Anzahl der Familienmitglieder sinken die Pro-Kopf-Ausgaben für Lebensmittel.24 Bei den unteren Einkommensschichten war für die Versorgung mit Lebensmitteln entscheidend, wie sich Löhne und Nahrungsmittelpreise entwickelten. Durch geringere Lohnerhöhungen und Anstieg der Nahrungsmittelpreise nach Einführung der »Kornzölle« in Deutschland zugunsten des Bauernstands mussten die unbemittelten Kreise die Anforderungen bei der Auswahl ihrer Lebensmittel zurückschrauben. Während Gutsituierte wie Beamte ihren Lebensmittelbedarf mit einer »konzentrierten«, aus Fleisch, Butter und Zucker bestehenden Kost bestreiten konnten, setzten die wirtschaftlich Schlechtergestellten vermehrt Brot, Mehlspeisen und Kartoffeln auf ihren Speiseplan, um sich durch Reduktion ihres Fleisch- und Fettkonsums unter die physiologischen Richtwerte eine wenigstens kalorienmäßig ausreichende Kost zu sichern.25 Die Bestimmung von Art und Menge des Nahrungsmittelverbrauchs in der Bevölkerung begegnet naturgemäß besonderen methodischen Schwierigkeiten, sodass in diesem Bereich widersprüchliche Feststellungen nicht ausbleiben. Nach Grotjahn leiden die Fabrikarbeiter, die sich bereits auf die teuren, leicht verdaulichen Speisen der Wohlhabenden eingestellt haben, sich diese aber noch nicht in erforderlichem Umfang leisten können und sie auch nicht genügend durch billigere Lebensmittel substituieren, an chronischer Unterernährung.26 Für Fischer wirkten sich in der Zeit vor dem Weltkrieg kulturelle Einflüsse auf die Volksernährung insofern aus, als Fleischnahrung im Volk bevorzugt wurde und sich durch Kornzölle der Preis für die Grundnahrungsmittel verteuerten. Für breite Schichten unbemittelter Stadtbewohner insbesondere aus der Industriearbeiterschaft, aber auch für Landbewohner bedeutete das, dass die Ernährung »unzulänglich« war, ja eine »mehr oder weniger schwere Unterernährung« um sich griff.27 Fischer hält demgegenüber die Zeit für gekommen, durch gesundheitserzieherische Maßnahmen die Ernährungskultur allmählich umzustellen, indem man 22 23 24 25 26 27
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Fi. S. 104ff. Engel’sches Gesetz, Fi. S. 87, S. 104. Fi. S. 107. Fi. S. 114ff. Fi. S. 107. Fi. 114ff.
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die Nahrungsmittelproduktion auf eine fleischarme, mehr lactovegetabilische dem Vegetarismus angenäherte Kost ausrichtet.28 Auch im Abschnitt über das Wohnungswesen schlägt uns Fischers soziales Zentralmotiv der Mittellosigkeit der Massen entgegen. Trotz einer gewissen, aber absolut asymmetrisch verteilten Stabilisierung der Lebensverhältnisse in Deutschland leidet die Masse der Bevölkerung an wirtschaftlicher Volatilität, lebt am Rande eines Spektrums nicht oder nur alternativ erfüllbarer Bedürfnisse, globaler oder partieller Entbehrungen, die sich sehr häufig zu Zuständen der gesundheitlich-sozialen Verelendung summieren. In Berlin setzt sich mehr als 75 % des Wohnungsbestands aus Kleinwohnungen zusammen (mit knapp 10 % von ihnen ohne Küche), in den preußischen Mittelstädten beträgt der Prozentsatz noch über 50 %.29 Für Erwerbstätige reichen die Mittel zur Miete einer hygienisch »einwandfreien« Wohnung oft nicht aus, da die steigenden Lebenshaltungskosten die zwischenzeitlichen Lohnerhöhungen verschlingen. Darüber hinaus erheischen »Millionen Erwerbsloser« Wohnungsunterkunft. In Deutschland herrscht inzwischen eine »allgemeine Verarmung«, der sich der Wohnungsbau anzupassen hat.30 Das vor dem Krieg nur für Arbeiter geltende Wohnungsproblem (die frühere »Arbeiterwohnungsfrage«) hat sich inzwischen zur allgemeinen Wohnungsnot ausgeweitet.31 Darunter versteht Fischer einen Angebotsmangel an hygienischen Mindestanforderungen genügenden Wohnungen. Als Einzelursachen dafür spielen neben der allgemeinen Mittellosigkeit Bevölkerungszunahme, Urbanisierung, Rückläufigkeit im Wohnungsbau, Anstieg der Zahl der Haushaltungen und vermehrter Raumbedarf eine Rolle. Z.Zt. warten in Deutschland schätzungsweise über 1 Million Parteien auf eine Wohnung.32 Der Wohnungsbedarf erhält weiteren Auftrieb durch die Wohnungsmissstände, die immer erst dann in Erscheinung treten, wenn es zum offenen Ausbruch von Wohnungsnot kommt. Am krassesten zeigt sich die Misere in der Wohnungs-Übervölkerung. Nach amtlichen Berichten ist das Zusammenleben von sechs und mehr Personen in einem beheizbaren Wohnraum, die Benutzung eines Schlafraums durch einen Tuberkulösen oder anderweitig ansteckend Erkrankten zusammen mit 1-7 Personen, wegen Platzmangels das Schlafen in Decken auf den Fußböden oder von zwei oder drei Personen in einem Bett in deutschen Großstädten alles andere als eine Seltenheit.33 Bei Mangel- und Elendszuständen im Wohnungswesen sehen wir (parallel zu vergleichbaren Erscheinungen im Nahrungswesen) eigene sozioökonomische Gesetzmäßigkeiten am Werk. Fischer nennt hier zwei solcher Gesetze: Je ärmer der Mieter ist, einen umso höheren Anteil seines Einkommens hat er
28 29 30 31 32 33
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Fi. S. 118ff. Fi. S. 134. Fi. S. 132. Fi. S. 124. Fi. S. 138, 141ff. Fi. S. 139, 143.
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für seine Wohnung aufzubringen;34 je kleiner die Wohnung ausfällt, umso höher liegt der geforderte Mietpreis.35 Für Fischer entwickelt die Wohnungsnot ihre eigene soziale Dynamik, die zu schwerer Gesundheitsbedrohung ausartet. Offenbar geht es hier wie bei der beruflichen Selbständigkeit um die Möglichkeit der Selbstbestimmung, die die gesundheitlichen Verhältnisse steuert. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass Fischer bei seinen Lösungsvorschlägen die Forderung M. v. Grubers aufgreift, jeder Familie ihren »abgesonderten Familiensitz«, ihren »vollkommen abgeschlossenen Wohnsitz [...] mit selbständigem Zugang und allem Zubehör, auch mit einem Stück Land« zuzugestehen.36 Im Übrigen distanziert er sich vom Wünschenswerten, von Ideallösungen zugunsten des Notwendigen und Erreichbaren, des »in absehbarer Zeit erfüllbare(n)« Projekts.37 Aus sozialhygienischer Sicht benötigt jede Familie eine abgeschlossene Wohnung mit Küche, Schlafraum, ggf. getrennten Schlafräumen, Keller, Toilette, eigenem Bett für Kranke etc. Zu beseitigen sind das Schlafgängerunwesen sowie die Unterbringung in Hinterhäusern. Zu diesem Zweck befürwortet Fischer den Siedlungsbau mit bis zweistöckigen Mehrfamilienhäusern und Einfamilienreihenhäusern, mit großen Grünflächen und Gärten zwischen den Häuserblöcken und »Wohnungsergänzungen« wie Kinderhorten, Kindergärten, Spielplätzen u.a.m.38 Im Gegensatz zu den Aufwendungen für Ernährung und Wohnung wird für Kleidung nach einer Erhebung in Hamburg von den ärmeren Schichten auf je niedrigerer Einkommensstufe prozentual (bis ca. zu 1/3) weniger ausgegeben. Ungesunde Modeströmungen aus der Zeit vor dem Krieg sind einer »vernünftigen Mode« gewichen, seitdem immer mehr berufstätige Frauen auf eine angemessen bequeme Kleidung Wert legen und die sportliche Freizeitbetätigung beider Geschlechter ihre Wirkung auf die Modegestaltung nicht verfehlt. Auch die Arbeiterschaft beiderlei Geschlechts befasst sich inzwischen mit Garderobefragen bis zu einem Punkt, an dem »sogar in mancher Hinsicht ein gewisser Luxus« zutage tritt. Nach dem Krieg bricht am Beispiel der Kleiderressourcen besonders der Kinder allerdings der soziale Gegensatz wieder auf. Nach einer Erhebung in Hamburg weist der Vorrat an Wäsche, Schuhzeug u.a. bei Volksschülern schwerwiegende Lücken auf, während bei Oberrealschülern und Gymnasiasten deutlich günstigere bzw. fast normale Verhältnisse anzutreffen sind. Die Kleiderverknappung, ja »Verlumpung« nach dem Krieg belegt, wie schnell soziale Notlagen nicht nur unbemittelte Bevölkerungsschichten überschwemmen, sondern auch auf den Mittelstand überspringen können. Inzwischen erscheinen die schlimmsten Engpässe auf dem Bekleidungssektor beseitigt, der Ausgabenanteil für Kleidung an den Lebenshaltungskosten nimmt jedoch weiterhin zu. Erfreulicherweise konzent34 35 36 37 38
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Schwabe’sches Gesetz, Fi. S. 87, 139. Fi. S. 139. Fi. S. 130. Fi. S. 123, 129. Fi. S. 128f., 130ff.
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riert sich heute die Bekleidungsindustrie der allgemeinen Sportbegeisterung folgend auf die Produktion zweckentsprechender sportlicher Kleidung.39
11.4 Janusköpfiges Phänomen Arbeit: Das Bedür fnis des Arbeiters auf Erholung und gesellschaf tliches Prestige Im Rahmen der klassischen, immer auch physiologische Gesichtspunkte berücksichtigenden physisch-hygienischen Themenfolge behandelt Fischer Volksbadewesen (das seit der Jahrhundertwende in verschiedensten Ausführungen einen gewaltigen Aufschwung erlebt)40, Leibesübungen und Erholung. Arbeit und Gesundheit stehen für Fischer in einem ambivalenten Verhältnis. Erwerbstätigkeit kann sich auf Gesundheit schädlich auswirken (besonders auch die »Ehefrauenerwerbsarbeit«), 41 wenn sich dies auch für bestimmte Berufe zahlenmäßig nicht immer nachweisen lässt. 42 Andererseits hat Arbeit nicht nur einen wirtschaftlichen, sondern auch (physiologisch-)gesundheitlichen Wert, »namentlich soweit es sich um Muskeltätigkeit handelt«. Gesundheitsschädigungen sind weniger auf die Arbeitstätigkeit an und für sich als auf ihre sozialen Begleitumstände zurückzuführen. Unterbezahlung und hohe Lebenshaltungskosten unterminieren die soziale Lage, wodurch eigentlich erst Leistungsfähigkeit, Gesundheit und Lebensdauer Beschränkungen erleiden. Die Aufgabe besteht nun darin, den »Stachel« heraus zu reißen, der die Arbeitstätigkeit belastet. In einem Atemzug fordert Fischer deshalb, dem Arbeiter »gebührende Achtung« entgegenzubringen und ihm zum Ausgleich arbeitsbedingter Ermüdung bzw. Erschöpfung »hinreichende Erholung« zuzubilligen. 43 Mit diesen seinen Auffassungen nähert sich Fischer dem lebensinhaltlich-psychologischen Sinn von Arbeit an, wie er sich uns heute unter dem Eindruck von Massen- und Langzeitarbeitslosigkeit erschließt. Auch seine oben wiedergegebenen Ideen zu beruflicher Selbständigkeit und Familienwohnsitz weisen in die Richtung des Bedürfnisses der Massen nach autonomer Lebensgestaltung. Als erster europäischer Staat hat Deutschland im November 1918 für alle gewerblichen Betriebe den Achtstundentag gesetzlich eingeführt. Seit neuestem kann aufgrund einer Regierungsverordnung aus internationalen Wettbewerbsgründen die tägliche Arbeitszeit tarifvertraglich bis auf 10 Stunden ausgedehnt werden. Eine zu starke Verkürzung der Arbeitszeit bei ungeteiltem Arbeitstag begünstigt zudem die Schwarzarbeit und zwingt zu größerem Kräfteverschleiß, um in der verbliebenen Zeitspanne die Leis39 40 41 42 43
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Fi. S. 160ff. Fi. S. 170ff. Fi. S. 73. Fi. S. 84. Fi. S. 177, 179.
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tungsvorgaben zu erfüllen. Gegen das englische Beispiel durchgehender Arbeit setzt sich Fischer für eine Gesundheit und Arbeitskraft schonendere geteilte Arbeitszeit ein. 44 Ein Ruhetag pro Woche entspricht nicht mehr den komplizierten, belastenden Erwerbsverhältnissen der Gegenwart. Zur gesetzlichen Festlegung der vollen Sonntagsruhe, wie sie seit 1919 für alle Gewerbeberufe besteht, muss nach dem Vorbild der »semaine anglaise« die gesetzliche Verordnung eines (in Deutschland spontan schon weithin üblichen) freien Samstagnachmittags hinzukommen, ggf. ergänzt durch ein Ladenschlussgesetz. 45 – Nach den Vorstellungen Fischers sollten Arbeitnehmern pro Jahr ein bezahlter Erholungsurlaub von »eine(r) oder mehrere(n) Wochen« zustehen. Aber erst seit Kriegsende ist in Deutschland und anderen europäischen Ländern der Urlaub für die meisten Arbeitnehmer tarifvertraglich geregelt. Fast kommentarlos lässt Fischer die Zahlen sprechen. Die Tarifverträge statuieren die Urlaubsdauer bei Arbeitern zwischen mindestens 3 bis maximal 12 Arbeitstagen, bei Angestellten zwischen mindestens (3 –) 6 bis maximal (12 –) 18 Arbeitstagen für mehr als die eine Hälfte, über 2 ½ Wochen für knapp die andere Hälfte. Bei bescheidenem Urlaubsausmaß insgesamt haben die Arbeiter gegenüber den Angestellten das Nachsehen, die Behandlung nach Klassen innerhalb der Arbeitnehmerschaft wirkt im Sinne Fischers nicht nur zwischen den Zeilen, sondern im gesamten Kontext als Verstoß gegen das Prinzip der sozialen Gerechtigkeit. 46
11.5 Sonder fall der Hygiene: Erhaltung des zukünf tigen qualitativen und quantitativen Bevölkerungsstands durch Regulierung der For tpflanzung » [...] die staatlichen und polizeilichen Einrichtungen müssen [...] zusammenwirken, und dabei ganz besonders auch die Nachkommenschaft, das Kind im Auge behalten; – beruht doch die eigene Fortdauer eines Staats auf derjenigen gesunder, lebenskräftiger und sittlicher Generationen. In hygienischer Beziehung ist [...] massgebend die Geschlechtsreife und Gesundheit beider Gatten, und fast nicht minder ihre gegenseitige Liebe und Achtung. Denn hängt von ersteren [...] die physische Gesundheit und Kraft der Nachkommen ab, samt deren Tüchtigkeit für Gesellschaft und Staat, so gründet sich auf leztere besonders das Glück der Gatten selbst wie der ganzen Familie [...] Gesundheitszustand und Constitution beider Theile sind von nicht geringerer Bedeutung [...] Viele Krankheiten und Krankheitsanlagen, Bildungsmängel oder Körperschwächen müssen die Ehe geradezu ausschliessen [...] Dasselbe gilt von Cretinismus, Rhachitis, Scrophulose, Lungenschwindsucht, selbst 44 | Fi. S. 180ff. 45 | Fi. S. 182ff. 46 | Fi. S. 184f.
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Geisteskrankheiten wie bei erblicher Anlage zu derartigen Leiden; endlich von syphilitischen Uebeln. – Endlich ist es eine alte Erfahrung, dass ein gewisser Gegensatz zwischen Mann und Weib [...] für die Ehe selbst wie für die Nachkommenschaft erspriesslich auszufallen pflegt. Gar Manches kann auf solche Weise ausgeglichen werden, während sich umgekehrt gleiche Schwächen und Anlagen gewissermassen addiren, und so das Uebel gesteigert wird (z.B. in einer Ehe zwischen zwei Nervösen, Schwächlichen, Scrophulösen, Phlegmatischen oder Heftigen). [...] Damit scheint zusammenzuhängen, dass ein zu naher Verwandtschaftsgrad beider Gatten [...] nichts taugt; und das am wenigsten, sobald der eine oder andere Theil ohnediess nur als ein mittelmässiger Repräsentant seines Geschlechts gelten kann, oder wenn gar erbliche Krankheitsanlagen (z.B. zu Epilepsie, Geisteskrankheiten, Schwindsucht) mit in’s Spiel kommen. Solche Gatten pflegen ein nach Körper wie Geist schwächliches, oft wirklich blödsinniges Geschlecht zu zeugen, und viele erbliche Krankheiten werden dadurch gleichsam verewigt«. 47 Mit solchen Grundgedanken schaltet Friedrich Oesterlen, Nestor der wissenschaftlichen »Naturhygieniker« des 19. Jahrhunderts, in seinem »Handbuch der Hygieine« von 1851 seine Version der Fortpflanzungshygiene unter der Überschrift »Geschlechtliche Funktionen und Verhältnisse« zwischen die Abschnitte »Kleidung/Bäder« und »Leibesübungen/Erholung« ein. Genau diesen Standort in der Reihenfolge der physisch-hygienischen Themen behauptet das Sujet auch im sozialhygienischen System Fischers, indem dieser es ans Ende seines im ersten Hauptkapitel der Hygiene entlehnten Punkteprogramms anordnet. Wie die anderen vorfindlichen natürlichen Lebensbedingungen gehört auch der »Geschlechtstrieb« zu den vorgegebenen physischen Lebensbedürfnissen, die durch den Menschen und die von ihm geschaffenen (kulturellen) Verhältnisse gesundheitsrelevanten Folgerungen unterliegen. Der Abschnitt »Fortpflanzung (Rassehygiene)« umfasst nur 21 Seiten und beschäftigt sich überwiegend mit Fragen der qualitativen Eugenik. Fortpflanzungslehre ist »Rassehygiene«, Wissenschaft von der biologischen Entwicklung einer endlosen Generationenfolge, die die »auf die Nachkommenschaft durch Vererbung übergehenden Eigenheiten« erforscht, im Gegensatz zur »Rassenhygiene« als Wissenschaft von der Systemrasse im anthropologischen Sinn, die stets in Gefahr schwebt, über »Abschweifungen in das politische Gebiet« ideologischer Verzerrung anheimzufallen. Zwar bekümmert sich die Rassehygiene nicht nur um eine gesunde, sondern auch um eine zahlreiche Nachkommenschaft. Aber dennoch steht sie primär unter dem Bann des Vererbungsgedankens nach 2 Richtungen: erstens hin zur Gesunderhaltung und zweitens, »wenn möglich«, zur Höherentwicklung des Erbguts. Die »Fürsorge für eine gedeiliche (sic!) Stammesentwicklung« nach Schallmayer beschränkt sich im Unterschied zu »anderen Teilen der Gesundheitswissenschaft« nicht auf Krankheitsverhütung bzw. Schadensver-
47 | Oesterlen 1851, S. 650-652; der Verfasser spricht viel von »Nachkommenschaft«, fast gar nicht von »Fortpflanzung«, zum letzteren Begriff s. aber 639.
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hütung in der quantitativen Bevölkerungspolitik, sondern zielt »vorzugsweise« auf eine körperliche und geistige »Ertüchtigung« der Bevölkerung. 48 Bei aller Unabänderlichkeit individueller Veranlagung ist die Erbbeschaffenheit »einer großen Volksschicht oder der ganzen Bevölkerung« einer »geeigneten Fürsorge« zugängig und günstig beeinflussbar. Alkohol, Syphilis und Tuberkulose schädigen Erbanlagen auf toxischem Wege, Inzucht bewirkt Entartung (Degeneration) durch Paarung ungünstiger Faktoren. Eine Vielheit von Krankheiten steht im Zusammenhang mit Abstammung/Vererbung, z.B. Missbildungen, erbliche Anlagen existieren für viele klinisch geläufige Krankheiten wie Skrofulose, Rachitis, ansteckende Kinderkrankheiten, Tuberkulose, Arteriosklerose, Stoffwechselkrankheiten, Nerven- und Geisteskrankheiten, Leistenbruch, Basedow, Lungenemphysem, Krebs und Bluterkrankheit. Die Vererbungsregel gilt vielfach für die Erkrankung selbst und die Schwere des Verlaufs.49 – Dennoch steht die Rassehygiene der Entartung (Degeneration) im Bevölkerungsmaßstab nicht machtlos gegenüber. Denn über die Auswirkung von Erbanlagen entscheidet oft ihr Verhältnis zu Umwelteinflüssen. Bei vielen der genannten Krankheiten vererbt sich nur die Anlage, zur Manifestation des Leidens kommt es erst durch (vermeidbare) Umweltschäden. Weiterhin sind die Bedingungen für das Auftauchen hereditärer Krankheiten in der Nachkommenschaft längst nicht erforscht (d.h. auch hier wären Interventionen von außen denkbar). Schließlich ist die Rassehygiene grundsätzlich dazu in der Lage, die Fortpflanzung in allen schwerwiegenden Fällen zu unterbinden. – Ein Beispiel für möglicherweise vererbbare antizoziale Einstellung mit Abgleiten in Kriminalität bietet im praktisch-sozialen Bereich die geistige und moralische Minderwertigkeit ganzer Familien, die dem Steuerzahler gewaltige Kosten aufbürdet. Aus all dem zieht Fischer das Resumee: Die Vererbungslehre, die noch bisher von zahlreichen Ungewissheiten überschattet ist, liefert für die praktischen Eugenik keine sicheren Anwendungskriterien. Vererbbare Eigenschaften kommen und schwinden. Erbliche Veranlagung wirkt zu ihren guten und schlechten Teilen »nicht allein, sondern in engster Gemeinschaft mit äußeren Einflüssen«.50 Unzweifelhaft wendet sich Fischer in seiner »Rassehygiene« ungeachtet der nichtkontroversen Diktion gegen die rigorose, entartungsideologisch bestimmte qualitative Eugenik von der Art Grotjahns. Von einer »fortschreitende(n) Entartung des deutschen Volkes« kann keine Rede sein. Vermeintliche Anzeichen dafür wie Geburtenrückgang, Abnahme der Stillfähigkeit, Rückgang der Militärtauglichkeit, Zunahme der Geisteskrankheiten sind nachweislich kulturell bedingt Auch die von Grotjahn errechnete hohe Zahl der erbbedingt Entarteten (ca. 650.000 Menschen) scheint Fischer nicht in das prophylaktische Maßnahmenprogramm aufnehmen zu wollen. Nur der »Bodensatz der Bevölkerung«, das kriminell stigmatisierte »Lumpenproletariat«, soll durch geeignete Maß-
48 | Fi. S. 198f. 49 | Fi. S. 199, 201ff. 50 | Fi. S. 202f.
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nahmen an der Vermehrung gehindert werden, soweit eine solche angesichts der zugrunde liegenden Lebensweise überhaupt zu erwarten steht.51 Operative Eingriffe zur Unfruchtbarmachung wie Vasektomie und Tubenresektion sind in Nordamerika und in der Schweiz an Verbrechern und Geisteskranken schon ausgeführt worden. Geht man davon aus, dass nur eine geringe Zahl klinischer Fälle ein solches radikales Vorgehen rechtfertigt, ändert sich nichts an der weit größeren Zahl der eugenisch bedeutsameren Leichtkranken. Der zweiten denkbaren, bekanntlich von Grotjahn vehement angeforderten massenwirksamen Maßnahme, der Asylierung, zollt Fischer in seinem 471 Seiten starken Lehrbuch ganze 1 ½ Zeilen: sie sei »unbedenklicher«, aber allgemein nur mit gesetzlichem Zwang durchzusetzen.52 Abtreibung spielt für ihn nur eine untergeordnete Rolle, sie verbietet sich allemal aus sozialer und eugenischer Indikation. Unter den gegebenen rechtsstaatlichen Rahmenbedingungen konzentriert sich der Autor in der qualitativen Eugenik auf ein kommunikativ-informatives rassehygienisches Vorsorgeprogramm. Es beinhaltet gesundheitliche Aufklärung, Eheberatung, voreheliche ärztliche Untersuchung, ärztliches Ehezeugnis, ggf. freiwilligen Eheverzicht und ein Merkblatt einschließlich Rechtsbelehrung für den Fall eines schuldhaften Fehlverhaltens. Unsere sozialen und individuellen Interessen haben sich nicht ausnahmslos dem Prinzip der Rassetüchtigkeit zu beugen, vielmehr befähigt uns das noch auszubauende Kultursystem sozialhygienischer Maßnahmen, gerade weil diese auch dem Rassetüchtigen und seiner späteren Fortpflanzung zugute kommen, letztendlich zu den wünschenswerten »rassehygienische(n) Erfolge(n)«.53 Gelassenheit zeigt Fischer, wieder im Gegensatz zu Grotjahn, hier allerdings eher unangebracht, in der quantitativen Eugenik gegenüber dem Problem des Geburtenrückgangs. Das Ausmaß der seit 1880 sich stetig vermindernden Geburtenrate ist statistisch nicht korrekt erfasst. Der Gebur51 | Fi. S. 204 ff, 208f., vgl. SH/SM S. 72. – Unter »geeignete Maßnahmen« gegen »asoziale() und anti-soziale() Minderwertige()« versteht Fischer am ehesten ihre Asylierung, SH/SM S. 73. 52 | Im Abschnitt »Nerven- und Geisteskrankheiten« beim Thema allgemeingefährlicher erblicher geistiger Minderwertigkeit wiederholt Fischer diese lapidare Einschätzung, zitiert dabei aber kommentarlos noch aus dem Entwurf eines Verwahrungsgesetzes der Zentrumspartei, Fi. S. 413. 53 | Fi. S. 214ff., 217f. – Die beiden Aufsätze Fischers aus dem Jahr 1933 »Überblick über die Geschichte der Rassehygiene in Deutschland« (vom Mittelalter bis 1903 – Zusatz Geislers 1961, S. 696) und »Die Entwicklung der Eugenik im Deutschen Reich während des 20. Jahrhunderts«, die vom Titel her einen Kotau vor den neuen Machthabern zu bedeuten scheinen, sind inhaltlich und politisch harmlos. Zwar spricht der Autor an einer Stelle von »nationaler Revolution« (»Entwicklung der Eugenik«, S. 78), im übrigen beschränkt er sich in beiden Artikeln auf reines Materialreferat in Form der Aufreihung von Autoren und Publikationstiteln mit stichwortartigen Inhaltsangaben. Wie immer die Veröffentlichung zum gegebenen Zeitpunkt gemeint gewesen sein mag, gelingt Fischer das Kunststück, sich eigener Stellungnahme und Bewertung weitgehend zu enthalten.
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tenüberschuss nahm vor dem Krieg aufgrund des Sterblichkeitsrückgangs und trotz geringerer Wanderungsverluste noch zu. Nach dem kriegsbedingten Wellental verläuft die Geburtlichkeitskurve jetzt wieder leicht ansteigend. Zahlreiche ökonomische, gesellschaftliche und kulturelle Gründe zeichnen verantwortlich für die bevölkerungsweite Ausbreitung der Kontrazeption. Entartung als Ursache für den Geburtenrückgang scheidet nach der Datenlage aus. Unter diesen Umständen bedeuten die Geburtenziffern für Deutschland »vorläufig [...] noch keine Gefahr«. Auch ohne Grotjahns imperialistisch klingenden Ruf nach einer »großen Volksziffer für die Entfaltung unseres Volkstums« ist es Aufgabe der Bevölkerungspolitik, die Rahmenbedingungen auch für ein numerisches Wachstum der Bevölkerung zu schaffen.54 Die Reichsverfassung erklärt Ehe und Familie auf dem Hintergrund der »Gleichberechtigung der Geschlechter« als unerlässliche Voraussetzung für die »Erhaltung und Vermehrung der Nation«. Insbesondere genießen kinderreiche Familien und die Mutterschaft »den Schutz und die Fürsorge des Staates«. Die Lage der kinderreichen Familien lässt sich durch Gehaltsordnungen, Steuervergünstigungen und Hilfen bei der Wohnungsbeschaff ung erleichtern. Der Mutterschutz mit Freistellung von gewerblicher Arbeit, Gewährung von Wochenhilfe und Stillgeld ist weiter auszugestalten. Förderung verdient auch die Frühehe. Schwangerschaftsunterbrechung und operative Defertilisation sind legislativ unter Kontrolle zu halten.55 Fischer erkennt schließlich bei aller Negligenz die Kinderarmut doch als Kern eines komplexen gesellschaftsinhärenten Problems, wenn er danach fragt, welches Mittel überhaupt geeignet sein könnte, »bei einem ganzen Volke den verminderten Willen zur Fortpflanzung wieder zu stärken«. Ausgehend von Grotjahns Vorschlag einer Elternschaftsversicherung denkt er an gesellschaftsumwälzende Reformen im Sinne Max v. Grubers (1916) in Form einer umfassenden Finanz- und Vermögensreform mit Umverteilung des Nationaleinkommens. Solche Extremlösungen »im Interesse späterer Generationen« haben aber gegenüber dem aktuellen Gesundheitsansprüchen der »vorhandenen Menschen« noch zurückzustehen.56
11.6 Soziales Elend I: Beispiele aus der Gesundheitsfürsorge Im III. Kapitel (inhaltlich das 2. Hauptkapitel) legt Fischer dem Einteilungsschema für die jüngeren Altersklassen zunächst die Kategorien der Gesundheitsfürsorge als fester sozialhygienischer Institution zugrunde. Es gibt keine 54 | Fi. S. 204ff., 207. – 1932 wendet sich auch für Fischer das Blatt zum Katastrophalen, zumindest zitiert er eine »kürzlich erschienene() amtliche() Schrift«, die »schon im nächsten Jahrzehnt […] forschreitende Bevölkerungsverluste, deren Dauer und Ausmaß nicht abzusehen sind«, voraussagt, SH/SM S. 55. 55 | Fi. S. 211ff. 56 | Fi. S. 213.
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vergleichbare Gelegenheit, »soziale Lage« oder Notlage und in ihrem Gefolge irreguläre Gesundheitsverhältnisse klarer aufzudecken als im Bereich des Fürsorgewesens, hier besonders am Komplex Mutter und Kind. »Soziale Lage« im Fall der Frau und Mutter richtet sich nicht allein nach dem absoluten finanziellen Einkommen, vielmehr auch nach Tätigkeitskonstanz, Berufsart, Exposition, Familienstand, häusliche und familiäre Belastung, Wohn- oder Unterbringungsverhältnisse, Geburtenfolge, Gesundheitszustand, Erholungsmöglichkeit, Bildung und Kultur. Die wohlhabende Frau kann sich vom Beginn der Schwangerschaft bis zum Ende der Stilltätigkeit den Erfordernissen der medizinischen und hygienischen Erkenntnis gemäß jeder Arbeitsbelastung entziehen und sich körperlich schonen. Auch die unbemittelte Frau sollte während der Schwangerschaft und Stillperiode möglichst lange außerhäusliche Lohnarbeit vermeiden und Ruhe einhalten. Aber für sie heißt »Ruhe pflegen [...] Lohn einbüßen, und Lohn einbüßen heißt hungern«.57 Gewerbliche und landwirtschaftliche Erwerbstätigkeit schädigt Schwangere und Wöchnerin, deren Unterleibsorgane sowie die Austrage- und Stillfähigkeit. Selbstverständlich kommt es dabei vermehrt zu Fruchtschädigungen, beim Neugeborenen zur Beeinträchtigung der Entwicklung und der Widerstandskraft.58 Entbindungen ohne Hebammenhilfe aus sozialen und kulturellen Gründen mit der Folge erhöhter Ziffern für Kindbettfieber und Wochenbettsterblichkeit sucht man in Preußen durch das Hebammengesetz (1923) entgegenzuwirken. Auch Entbindungsanstalten, die allerdings noch nicht genügend genutzt werden, sind in dieser Hinsicht bedeutsam.59 Besonders prekär stellt sich die soziale Lage der unehelichen Mütter dar. Es handelt sich überwiegend um sehr junge Frauen, von denen nach einer hessischen Statistik fast ¼ vor dem 20., insgesamt ¾ vor dem 25. Lebensjahr entbinden. Nach einer amtlichen Erhebung aus Dresden bringen es über 40 % der unehelichen Mütter als Fabrikarbeiterinnen, Dienstboten, Handlungsgehilfinnen u.ä. nur auf extrem niedrige Monatslöhne, fallen damit unter die Armutsgrenze und bedürfen in ihrer Lage öffentlicher Unterstützung.60 Inzwischen bestehen auch ausbaubedürftige gesetzliche Regelungen im Rahmen der Mütterfürsorge. Wenig getan hat der Gesetzgeber für den Mutterschutz, d.h. für die Arbeitsruhe während Schwangerschaft und Wochenbett. Die Gewerbeordnung verbietet die Beschäftigung von gewerblichen Arbeiterinnen während der angegebenen Zeit über 8 Wochen. Die Reichsverordnungen über Wochenhilfe und Wochenfürsorge sehen für die übrigen Erwerbstätigen in einer Kann-Vorschrift eine Unterstützung zur Ermöglichung einer Arbeitspause lediglich für die letzten 4 Schwangerschaftswochen vor. Immerhin billigen sie allen von Krankenkassen erfassten und allen unbemittelten Müttern bei Niederkunft, während Wochenbett und Stillzeit Leistungen zu in Form ärztlicher Behandlung, Hebammenhilfe und Geld57 58 59 60
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Fi. S. 51, 72, 221ff., 227ff., 231. Fi. S. 221ff. Fi. S. 233. Fi. S. 227.
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zuwendungen. Die ausgezahlten Beträge bewegen sich allerdings speziell für nichtversicherte und unbemittelte Mütter bisher auf niedrigem Niveau.61 Aber Geldausgabe im richtigen Augenblick – das ist das Erfolgsrezept der Wochenhilfe und des Stillgelds.62 Sie sichern dem Säugling eine naturgemäße (Brust)Ernährung als Grundlage für die künftige körperliche Entwicklung, das Wachstum und das Gedeihen während der ganzen Jugendzeit.63 Die Vorteile der Bruststillung gegenüber der Flaschenernährung zeigen sich auch in den Erkrankungs- und Sterblichkeitszahlen. Je nach Ernährungsart können sich wirtschaftlich bedingte Gesundheitsunterschiede statistisch soweit verwischen, »dass die Brustkinder der Armen eine geringere Sterblichkeit aufweisen als die Flaschenkinder der Wohlhabenderen«.64 Neben der Ernährung und Faktoren der physischen Umwelt (etwa Wohnung, Stadt/Land etc.) entscheiden vor allem die sozial/wirtschaftlichen Aufwuchsbedingungen und familiäre Umstände wie der Familienstand der Mutter (ledig – verheiratet) über gesundheitliche Verfassung und Gedeihen des Säuglings und damit über seine Lebensprognose. Bei aller strukturellen Unterschiedlichkeit sinkt die Säuglingssterblichkeit seit Jahrzehnten in allen Kulturstaaten.65 In Deutschland übersteigt aber die Sterblichkeitsrate der unehelichen Säuglinge, die insgesamt ebenfalls absinkt, seit Jahrzehnten die der ehelichen gleichmäßig um 40-50 %.66 Auch in sozial schwachen Familien herrscht eine deutlich höhere Säuglingssterblichkeit als in oberen Gesellschaftsschichten.67 Während bei den Todesursachen im Säuglingsalter in den oberen und mittleren Ständen die angeborene Lebensschwäche, wenn auch weit weniger vorkommend als bei den Ärmeren, an der Spitze rangiert, nehmen in den unbemittelten Kreisen die Verdauungskrankheiten diesen Platz ein.68 Nach badischen Statistiken besteht die höchste Sterblichkeit im ersten Lebensvierteljahr bzw. im ersten Lebensmonat, was in der Säuglingsfürsorge ärztlicherseits zu beachten ist. In Baden lassen noch in 25-40 % der Fälle Eltern aus Gleichgültigkeit, Geldmangel oder Resignation angesichts der herrschenden Lebensumstände Säuglinge ohne Inanspruchnahme ärztlicher Behandlung versterben.69 Die Reichsverfassung garantiert gleichermaßen dem ehelichen und dem unehelichen Nachwuchs das Recht auf Gesundheit und überantwortet dem Staat die Kontrolle über seine Erziehung zu leiblicher, seelischer und gesellschaftlicher Tüchtigkeit. Bei der Umsetzung des Verfassungswillens assistiert diesem das Reichsjugendwohlfahrtsgesetz (1922). Säuglings-, Kinder61 62 63 64 65 66 67 68 69
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Fi. S. 229f. Fi. S. 233. Fi. S. 235. Fi. S. 236f. Fi. S. 237ff. Fi. S. 240. Fi. 241f. Fi. S. 244, 350. Fi. S. 242f., 245.
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und Jugendfürsorge haben rechtzeitig, vor Schadensentstehung einzusetzen. Wir gewinnen hier exemplarisch einen Einblick in den sozialhygienischen Fürsorgegedanken überhaupt. Nicht Armut allein ist das oberste Kriterium für die Einbeziehung, eher schon »soziale Lage«. Denn Fürsorgebedürftigkeit bei Kindern bezieht sich zwar weiterhin auf Berufsgruppen unterhalb des Angestelltenstatus, auf Arbeiter und »Dienende«, erstreckt sich aber »bis weit in den Mittelstand«.70 Nach diesen Kriterien fallen mehr als 2/3 der Lebendgeborenen aus den genannten Bevölkerungsgruppen unter die Zuständigkeit der Fürsorgestellen. Die Säuglings- und Kinderfürsorge, die sinnvollerweise mit Unterstützung der Wohlfahrtsverbände und des Staates von den Gemeinden zu betreiben sind, arbeitet in Deutschland heute erfolgreich mit Beratungsstellen, Milchküchen, Mütter- und Säuglingsheimen und Krippen. Dennoch werden von sachverständiger Seite auch Bedenken vorgebracht. Voraussetzung für einen wirksamen Säuglingsschutz sind die richtige Verwendung der zuerkannten Geldmittel durch die Unterstützungsempfänger und eine grundlegende Änderung auf wirtschaftlichem Gebiet. Am weiteren Ausbau des Säuglingsschutzes dürfen wir uns dadurch nicht beirren lassen. In der Reihe, die mit »vernachlässigten Säuglingen« beginnt, steht am Ende der »minderwertige Staatsbürger«.71 Der Altersgruppe der Kleinkinder schenkt man erst seit 1 ½ Jahrzehnten Beachtung – ein Beispiel für die Notwendigkeit des Übergangs vom aphoristischen zum systematischen Arbeiten in der Sozialhygiene, da Auslassungen in der Handlungskette sich schließlich an der Volksgesundheit rächen. Nach Überwindung des kriegsbedingten Geburtentiefs ist in Deutschland in Zukunft mit 7,5 Millionen Kleinkindern zu rechnen, von denen »angesichts der Proletarisierung weiter Schichten des Mittelstands« 90 % als Anwärter Anspruch auf Fürsorgebetreuung erheben. 20-30 % aller Kleinkinder könnten regional schon vor dem Krieg während der Erwerbsarbeit der Mutter ohne Aufsicht geblieben sein. Das Fürsorgeangebot für Kleinkinder umfasst Beaufsichtigung, Beschäftigung, Spiel und Einschätzung des Gesundheitszustands. Nach schulärztlichen Untersuchungsreihen sind in der Regel ¼ der Schulanfänger als krank oder kränklich einzustufen. In der Morbiditätsstatistik führen geistige Defekte, Rachitis und Tuberkulose. Die Kleinkindersterblichkeit nimmt, von Kriegsverhältnissen abgesehen, mit zunehmenden Alter bis zur Pubertät stetig ab, sie geht aber auch absolut zurück, stärker noch als die Säuglingssterblichkeit. Solche den Regeln widersprechende Prozesse (auf eine verminderte Säuglingssterblichkeit müsste wegen unterbliebener Auslese eine stärkere Kindersterblichkeit folgen) verdanken wir gerade auch im Blick auf die bisherigen Fürsorgedefizite neben der Seuchenbekämpfung dem »wirtschaftlichen Aufschwung in den breiten Massen des deutschen Volkes«. In der Todesursachenstatistik der Kleinkinder führen die ansteckenden Kinderkrankheiten. Die Sterblichkeit der ärmeren Kinder überragt die der sozial besser gestellten um ein Mehr70 | Fi. S. 247, 52. 71 | Fi. S. 246ff., 252f.
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faches, dabei spielen als Todesursachen Masern, Keuchhusten, Tuberkulose und andere bronchopulmonale Erkrankungen die Hauptrolle.72 Zu den Angeboten der Kleinkinderfürsorge gehören Beratungen, Hausbesuche, Ernährungshilfen, Weiterleitung bei Erkrankungen, Krankheitsverdacht oder Zahnschäden sowie Krippen und Kindergärten für die Kinder erwerbstätiger Mütter. Zukunftsprojekt ist noch die ärztliche Überwachung der Tagesstätten und die regelmäßige Voruntersuchung der Kinder durch beamtete und niedergelassene Ärzte.73 Kinder im Schulalter sind insofern eine Auslese, als die schwächlichsten Konstitutionen in der Regel nicht über Säuglings- oder Kleinkindesalter hinauskommen. Dementsprechend sinkt die Sterblichkeit in dieser Altersgruppe auf ihren niedrigsten im Leben erreichbaren Stand. Die Notwendigkeit einer Schulgesundheitspflege ergibt sich daraus, dass die für das spätere Leben wesentliche körperliche und geistige Entwicklung im Schulalter von den wirtschaftlichen Verhältnissen im Elternhaus abhängt, wie auch anthropometrische Untersuchungen an Kindern der verschiedenen Schultypen belegen. Häusliche gesundheitsrelevante Faktoren sind Ernährungsmängel und Wohnungsnot. In Berlin schlafen mehr als 44 % der Kinder mit 4 und mehr Personen in einem Zimmer, 67 % zu zwei und mehr Personen in einem Bett.74 Erkrankungen und Störungen wie Blutarmut, Rachitis, »Drüsenschwellungen« und Hautleiden beobachtet man bevorzugt in Volksschulen, Myopie vermehrt im Bereich der höheren Schularten. Tuberkulose triff t man in der Schuljugend kaum noch an, die Heilungsrate nach Heilstättenbehandlung liegt hoch.75 Im Zentrum der Schulgesundheitspflege steht der möglichst hauptamtlich angestellte Schularzt. Ihm obliegen gesundheitliche Überwachung, Beratung (Sexualaufklärung, Elternsprechstunde, Berufsberatung im Team) und Fürsorge im Schädigungsfall. Man vermisst bei Fischer die von Gottstein befürworteten Reihenuntersuchungen zwischen bedeutsamen Jahrgangsblöcken. Dass der Schularzt nicht behandeln soll, scheint Fischer eher zu bedauern. Er sympathisiert mit Schulpolikliniken nach ausländischem Vorbild und nach dem Modell der erfolgreichen Schulzahnkliniken. Die Schulgesundheitspflege umschließt in ihrem Programm weitgefächerte Maßnahmen wie Schulspeisung, Spielnachmittage, Schwimmunterricht, Wanderungen, Waldschulen, Ferienkolonien und Erholungsfürsorge. Letztere formuliert als Motto der Gesundheitsförderung die Erziehung zu Körpergefühl und Eigenaktivität als Basis von Lebensfreude.76 Das statistische Datenmaterial zur Gesundheitslage der Jugendlichen (14-20 Jährigen) lässt es geboten erscheinen, das System der routinemäßigen ärztlichen Überwachung nach Art der Schulgesundheitspflege auch auf weiterführende Schulen (Fortbildungsschulen, höhere Schulen und Universitäten) zu 72 73 74 75 76
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Fi. S. 254ff., 262, 264, 350. Fi. S. 265ff. Fi. S. 274ff. Fi. S. 278f. Fi. S. 281ff.
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übertragen. Nach der amtlichen Statistik der AOK Leipzig erkranken jugendliche Auszubildende häufiger als junge Arbeiter in der nachfolgenden Lebensdekade, die schon länger Berufsstrapazen ertragen. Aufschlussreich sind die in der Vorkriegszeit erhobenen militärärztlichen Musterungsbefunde. Danach ist für den Gesundheitszustand des Gestellungspflichtigen weniger die bis zum Musterungszeitpunkt geleistete Berufsarbeit als vielmehr die soziale Lage der Eltern bestimmend. Hier begegnet uns wieder die Gesundheitsbedeutung von beruflicher Selbständigkeit und Unselbständigkeit für die Familie insgesamt: Unselbständigkeit der Stellung im väterlichen Beruf ist ein Negativfaktor für die Militärtauglichkeit des männlichen Nachwuchses. Eine weitere Beeinträchtigung der körperlichen Belastbarkeit scheint auch vom Großstadtleben auszugehen. Die Militärtauglichkeitsstatistik belegt allerdings keine fortschreitende Entartung.77 – Die Jugendfürsorge vervollständigt die Maßnahmenreihe für die gesundheitsgefährdeten Altersklassen. In ihren Arbeitsbereich fallen die ärztliche Überwachung an den Fortbildungsschulen, die Arbeitszeitgestaltung, der Ausbau der tarifvertraglichen Urlaubsregelungen für Lehrlinge, Jugendherbergen, Ledigenheime, Erziehungsanstalten u.v.a. Im Vordergrund steht für sie nicht die Kriegstüchtigkeit der männlichen Jugend, sondern die staatsbürgerliche Funktionstüchtigkeit beider Geschlechter.78
11.7 Ausweitung des Fürsorgegedankens – ein Schritt auf dem Weg in den Versorgungsstaat? Nach den sozial unterstützungswürdigen jüngeren »Altersklassen« folgen in der Systematik die volljährigen Erwachsenenjahrgänge, die sozial selbstverantwortlichen »Berufsklassen«. Im Millionenheer der Erwerbstätigen gibt es zahlreiche Übergänge, sodass eine scharfe Gliederung nach Tätigkeitsmerkmalen und Einkommen schwer fällt. Auch der statistische »Ziffernstoff« genügt in Deutschland noch lange nicht den sozialhygienischen Ansprüchen. Fischer beschränkt sich deshalb in seiner Analyse exemplarisch auf vier sozial relevante Berufsklassen (Industriearbeiter, Heimarbeiter, Dienstboten, untere Beamtenschaft). Die »größte Berufsschicht« repräsentieren die 13 1/2 Millionen Lohnarbeiter, darunter 8 ½ Millionen Industriearbeiter. Letztere greift Fischer heraus, um an ihren Daten nicht nur Berufskrankheiten, sondern allgemein Gesundheitsschädigungen durch Berufsarbeit zu illustrieren. Für die Entstehung einer Krankheit kommen trotz anerkannter betrieblicher Gefährdungen (Beleuchtungs- und Luftmangel, Kälte, Überhitzung, Lärm, Staub, Gase, Dämpfe u.a., die auch Gewerbeordnung und Arbeitsschutzgesetz berücksichtigen) oft noch weitere Faktoren in Betracht, sodass die Tätigkeit in einem bestimmten Beruf nicht immer für eine Schädigung verantwortlich ge-
77 | Fi. S. 292, 295ff., 299ff. 78 | Fi. S. 306ff.
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macht werden kann.79 Methodisch ist deshalb so vorzugehen, dass z.B. in den Krankheits- und Sterblichkeitsstatistiken der Krankenkassen die Mitglieder nach Alter, Geschlecht und Berufsart standardisiert werden, um die Berufsgruppen hinsichtlich ihrer Beteiligung an der jeweiligen Krankheitsart vergleichen zu können. Erst solche Statistiken ermöglichen die Feststellung stärker oder weniger krankheitsgefährdeter Berufsgruppen im Vergleich mit ihrer Gesamtheit. Die Steinbearbeitung weicht sowohl bei Tuberkulose als auch bei Krankheit und Tod aus allen Ursachen zusammen am höchsten vom Durchschnitt ab, während sich in anderen Gruppen mit ähnlichen Zahlen für Tuberkulose das Verhältnis der übrigen Zahlen zum Durchschnitt auch umkehrt.80 Wie stark Berufsarbeit die Gesundheit des Industriearbeiters determiniert, müsste sich definitiv aus den Invaliditätsstatistiken zeigen lassen. Leider fehlen geeignete reichseinheitliche Invaliditätsangaben. Deshalb verarbeitet Fischer Zahlen aus der Landesversicherungsanstalt Baden zum Vergleich eines Vierjahreszeitraums am Ende des 19. Jahrhunderts mit einem solchen der Vorkriegszeit. Danach beobachtet man eine Zunahme der Invaliditätsrate besonders bei Frauen. Man kann daraus schließen, dass es heute um die Gesundheit der Versicherten schlechter bestellt ist als früher, bei Frauen rächt sich ihr vermehrtes berufliches Engagement. Lungentuberkulose als häufigste Invaliditätsursache dringt bei beiden Geschlechtern weiter vor, mehr als die Hälfte der unter 40 Jahre alten Rentenempfänger werden aus dieser Ursache invalide. Im Allgemeinen erfolgt ein Invalidisierungssprung im mittleren Alter ab 50 Jahren. Beim Vergleich mit dem Durchschnitt sind nicht nur Altersbesetzung einer Berufsgruppe und auslösendes Krankheitsmoment für den Invaliditätsfall ausschlaggebend, sondern auch die Berufstätigkeit selbst und das ihr inhärente wirtschaftliche Potential. So zeigen landwirtschaftlich Beschäftigte, z.T. aufgrund der Altersbesetzung, und Dienstboten, die sich aus jüngeren Jahrgängen rekrutieren, höhere Invaliditätsziffern als der Durchschnitt. – Wie schon weiter oben angeführt, weisen bei der AOK Leipzig versicherte Männer, also Lohnarbeiter, ab dem 40. Lebensjahr eine durchweg höhere Sterblichkeit auf als die männliche Gesamtbevölkerung.81 – Zur Berufssterblichkeit besitzen wir zuverlässige Angaben nur aus England und den Niederlanden. Am schlechtesten schneiden in den englischen Statistiken gastronomische, ortsunbeständige, ungelernte und mit Schwerarbeit und Staubemissionen verbundene Berufe ab.82 Insgesamt besteht für Fischer kein Zweifel, dass die »wirtschaftliche Lage im allgemeinen« und die Berufstätigkeit selbst den Arbeiter gesundheitlich benachteiligen und er deshalb in das Fürsorgesystem einzubeziehen ist. Wie das zu geschehen hat, weiß allerdings auch Fischer nicht konkret zu sagen. Als »wünschenswert« bezeichnet er die Lösung der »Lohnfrage« und die Verbilligung der Lebenshaltung. Und es geht um das ebenfalls ungelöste 79 80 81 82
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Fi. S. 311f., vgl. 84. Fi. S. 313ff. Fi. S. 319ff.; vgl. S. 82f. Fi. S. 324ff.
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Problem der gesellschaftlichen Integration, wenn er fordert, »dem Arbeiter, der bei seiner Tätigkeit Leben und Gesundheit in Gefahr bringt, .[...] die verdiente Anerkennung die er für sein Gemütsleben braucht, zu gewähren«.83 – Aber Fischer muss auch zugeben, dass »umfassende Maßnahmen Verbesserungen gebracht«,84 dass wirkungsvolle Gesetze wie Sozialversicherung, Gewerbeordnung, Reichsversicherungsordnung, Reichsverfassung, Betriebrätegesetz, Regierungsverordnungen und internationale Regelungen sowie auch bedeutsame Selbsthilfemaßnahmen wie Konsum- und Baugenossenschaften die Rahmenbedingungen für eine gesundheitsorientierte, selbstbestimmte Existenz der Arbeiterschaft geschaffen haben.85 Schließlich verkennt Fischer auch nicht die freiwilligen Leistungen vieler Unternehmer für die Arbeiterwohlfahrt. Unterschiedliche Motive wie »soziales Pflichtgefühl« und das Interesse an der Produktivitätssteigerung der Betriebe veranlassen zur Optimierung der innerbetrieblichen Krankheitsverhütung. Modernste technische Anlagen dienen der Prävention von Berufskrankheiten und von allgemeinen, durch Berufsarbeit ungünstig beeinflussbaren Erkrankungen. Kasinos, Wohnanlagen, Krippen, Badeanstalten, Krankenhäuser, Turnhallen und andere Erholungsstätten sind Beiträge der Arbeitgeber zur Arbeitergesundheit.86 Für Fischer verkörpern Heimarbeiter und Dienstboten den Typus sozial extrem schlecht gestellter Lohnarbeiter, deshalb widmet er ihnen in seinem Lehrbuch gesonderte Abschnitte. Gemeinsames Charakteristikum sind in beiden Berufsklassen die außerordentlich geringen finanziellen Entgelte und die unkontrollierbar langen Arbeitszeiten. Aber beide Gruppen partizipieren am sozialen Sicherungssystem der gesetzlichen Kranken- und Invalidenversicherung. Das Hausarbeitsgesetz von 1923 versucht für die sich stark rückläufig entwickelnde Gruppe der Heimarbeiter eine Regelung der Lohnfrage. Für die meist jungen (zwischen 16 und 35 Jahre alten) Haushaltshilfen liegt der Entwurf eines Hausgehilfengesetzes vor, das das wirtschaftliche Auskommen garantiert und die Arbeitsbereitschaftszeit beschränkt.87 Die Beamtenschaft gliedert sich entsprechend der vertikal-hierarchischen Schichtenstruktur der Gesamtgesellschaft. Auch hier interessiert Fischer recht eigentlich nur der »kleine Beamte«, dessen wirtschaftliche Lage und Tätigkeitsart zu Krankheiten disponiert. Seine exemplarische Auswahl fällt deshalb auf die beiden »besonders großen Gruppen« der Bahn- und Postbeamten. Die ärztliche Eingangsuntersuchung erhebt die Beamtenschaft zu einer gesundheitlichen »Auslese«. Arbeitsstätten und Arbeitzeiten sind aus hygienischer Sicht akzeptabel, soziale Sicherheit gibt ein oft relativ geringes, aber festes Einkommen. Dennoch leidet der Beamtenstand darunter, dass der Personalstab einen erheblichen Teil seiner Arbeitskraft zwangsläufig in 83 84 85 86 87
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Fi. S. 327. Fi. S. 326. Fi. S. 327ff. Fi. S. 330f. Fi. S. 332ff., 337ff.
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den Kampf um Stellung und Rangaufstieg investiert.88 – Arbeiterähnliche untere Bahnbeamte erkranken häufiger an Tuberkulose, Hautleiden und Verletzungen als ihre Kollegen in bürogebundenen Tätigkeitsbereichen. Krankheitsgefährdet erscheinen vor allem Lokomotivführer, die ab dem 50. Lebensjahr in gesteigertem Maße der Invalidität anheimfallen. Nach bahnärztlichen Bekundungen ist für die Erkrankungsziffer in Betriebswerkstätten unabhängig von anderen Faktoren die dienstliche Inanspruchnahme entscheidend.89 – Auch bei den Postbeamten haben die Gehaltsempfänger der niedrigeren Besoldungsstufen hinsichtlich der Erkrankungshäufigkeit bei weitem das Nachsehen gegenüber ihren Kollegen in den höheren Gehaltsklassen. Aufgrund ihrer geringeren Widerstandskraft gegen Berufsbelastungen müssen Beamtinnen erheblich häufiger Erkrankungen hinnehmen als ihre männlichen Kollegen. Wirtschaftliche Lage und Tätigkeitscharakter bestimmen bei den unteren Postbeamten die Krankheitsart ähnlich wie bei ihren gehaltsmäßig vergleichbaren Bahnkollegen.90 Auf der Höhe ihrer Wissenschaftsdisziplin sehen sich Fischer und seine Sozialhygiene-Kollegen offenbar vor die Tatsache gestellt, dass eine fortschreitende Sozialgesetzgebung, sicherlich angespornt durch ihre eigene erfolgreiche Arbeit, die schichtenbezogenen Notstandsvermutungen der klassischen Sozialhygiene mehr und mehr relativiert. Die Sozialhygieniker reagieren darauf mit Erweiterung des Armuts- und Bedürftigkeitsbegriffs vom Arbeiter- auf den Mittelstand im Sinne der »sozialen Lage«. Dennoch kündigt sich hier die Notwendigkeit an, im formal jungen Fach neue Schwerpunkte zu setzen. Fischer hat diesen Wandel nach dem Weltkrieg, und zwar zunächst in seiner späterhin allgemein akzeptierten Neudefinition des Begriffs Sozialhygiene vollzogen. Die Sozialhygiene bescheidet sich in ihrer Gesundheitsarbeit nicht mit der Verantwortung nur für die unteren Bevölkerungsschichten, sondern erklärt sich auch zuständig für die Gesundheit des Menschen überhaupt, der ganzen Bevölkerung in Abhängigkeit von der gesellschaftlich-kulturellen Umwelt. Auch wenn Fischer diese Linie in der 2. Auflage des »Grundrisses« noch nicht ganz durchzieht, kommt sie doch in der Kulturhygiene zum Ausdruck, sofern Kultur noch mehr als Gesellschaft auf komplette Bevölkerungen abzielt.91
11.8 Soziales Elend II: Chronische Krankheiten als Kulturmakel in der kulturhygienischen Krankheitslehre Fischers Lehrbuch-Systematik ist einzigartig geeignet, uns den Wissenschaftsanspruch der jungen Arbeitsrichtung Sozialhygiene zu erschließen. 88 89 90 91
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Fi. S. 341f. Fi. S. 342ff. Fi. 344f. Vgl. Fußnote 8.
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Der Autor lenkt den unübersichtlichen Strom ärztlicher, publizistischer und administrativer Initiativen der zahllosen Mitstreiter in eine ruhigere Bahn, indem er ihre Anliegen in Form eines geordneten Lehrstoffs zusammenfasst. Unter dem einheitlichen Gesichtspunkt der Benachteilung durch soziale Lage schildert er die hygienischen Zustände der gegebenen Umwelt und die sozialhygienischen Zustände der in ihr lebenden »Personenklassen« (unterschieden nach Alter und Beruf). Anders als Grotjahn steigt er in seinem Lehrbuch nicht gleich in die »soziale Krankheitslehre« ein. Erst am Ende seines Buches erstellt er auf dem Hintergrund der gesammelten sozialstatistischen Daten eine sozialpathologische Übersicht, eine kurze Krankheitslehre aus sozial-kultureller Ätiologie. Im Vergleich zu Grotjahn benötigt er dazu 73 statt 379 Seiten. Im Vordergrund sozialpathologischen Interesses steht gewissermaßen die sozial-kulturelle Kontagiosität von Krankheiten. Die darzustellenden Krankheiten sind deshalb exemplarisch nach ihrer Häufigkeit und Gefährlichkeit für die Umgebung auszuwählen. Die gegenwärtige, meist aus der Vorkriegszeit stammende Medizinalstatistik genügt allerdings noch nicht den Ansprüchen eines solchen Vorhabens. Dennoch muss man versuchen, aus Krankenkassen-, Invaliditäts- und Sterblichkeitsstatistiken ein Bild über die häufigsten Krankheitsarten, Invaliditäts- und Todesursachen zu gewinnen, um die wichtigsten Volkskrankheiten aufzuspüren. Der Stellenwert mancher Volksseuchen (Geschlechtskrankheiten, Alkoholismus) lässt sich zudem in der Medizinalstatistik nur auf indirektem Weg »erst in Gestalt anderer Leiden« identifizieren.92 Die sozialpathologische Betrachtung beschäftigt sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt primär mit folgenden 5 Krankheitskomplexen. Bei den akuten Infektionskrankheiten nähert sich die Bedeutung der klassischen (Fremd-)Seuchen dem Nullpunkt. Die Beherrschung der akuten Seuchen besonders im Krieg und in der Nachkriegszeit beschert der Sozialhygiene ihre erste Neuorientierung. Grotjahn sieht die Zeit gekommen für die Konzentration auf »eigentliche« sozialhygienische Aufgaben wie die »Bekämpfung und Verhütung chronischer Krankheiten und Körperfehler namentlich der Kinder und Frauen«.93 Die »Heimseuchen« (ansteckende Kinderkrankheiten, Kindbettfieber, Typhus, Magen-Darmkatarrhe) sind rückläufig, ihre Letalität sinkt, besonders bei Diphtherie. Dennoch muss der öffentliche Kampf gegen die akuten Infektionskrankheiten weitergehen. Geeignete Mittel sind Anzeigepfl icht bei Erkrankung und Tod, Novellierung der einschlägigen Gesetzgebung, Impfungen und hygienische Aufklärung der Bevölkerung.94 Gegenüber den akuten sind die chronischen Infektionskrankheiten von unvergleichlich höherer sozialer Relevanz. Feind Nr.1 unter den chronischen Volkskrankheiten ist trotz sinkender Sterblichkeitszahlen nach wie vor die Tuberkulose. Ihre erfolgreiche Bekämpfung erfordert ein Programm, das in Therapie und Prophylaxe neben Krankheitserreger und erblicher Anlage vor 92 | Fi. S. 346ff. 93 | Fi. S. 357. 94 | Fi. S. 353ff.
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allem die vielfältige sozialätiologische Situation berücksichtigt. Es gilt, gegen das »soziale Elend« als negatives Kulturphänomen anzukämpfen. Die Spannweite des Begriffs reicht von Armut bis Mittelschicht. »Soziales Elend« ist (ähnlich wie »soziale Lage«) für den Sozialhygieniker die leitmotivische Metapher, die ein schwer zugängliches Unheilsphänomen in der Gesellschaft signalisiert. Dieses erschöpft sich nicht im Tatbestand eines ungenügenden Einkommens, sondern wird darüber hinaus konstituiert durch Unbilden der Ernährung, Wohnung, Schwangerschaft, Säuglingsversorgung, Frauenarbeit, beruflichen Tätigkeitsart, beruflichen Unselbständigkeit, des Versichertenstatus (unversicherter Mittelstand) und Lebensalters.95 Bezüglich des Erbfaktors ist daran zu denken, dass auch indirekte Anlagen wie z.B. der erblich bedingte Diabetes zu Tuberkulose disponieren. Da sich die erblichen Anlagen erst auswirken, wenn die (beeinflussbaren) äußeren Faktoren hinzukommen, gebührt der sozialen Umwelt aus ätiologischer Sicht grundsätzlich Priorität. – Immunisierung durch Schutzimpfung verspricht auch in Zukunft keinen Erfolg. Von einer spezifischen Therapie sind wir noch weit entfernt. Es bleibt nur ein Maßnahmenmix zur Beeinflussung der erworbenen Krankheitsanlagen durch Fürsorgestellen, Sozialfürsorge, Jugendfürsorge, Schulspeisungen, Erholungseinrichtungen, Heilstätten und Reihenuntersuchungen. Den Vorschlag Grotjahns zur Unterbringung unheilbar Tuberkulöser in Heimstätten mit Zwangscharakter kommentiert Fischer vorsichtig als »theoretisch nicht unberechtigt«.96 Er bevorzugt bei Ansteckungsgefahr die (offenbar passagere) Isolierung auf Spezialstationen der allgemeinen Krankenhäuser.97 Bei den Geschlechtskrankheiten ist die Syphilis ein Beispiel dafür, dass trotz medizinischen Fortschritts mit Nachweis des Erregers, sicherer (serologischer) Diagnostik und wirksamer medikamentöser Therapie (Salvarsan) die Erkrankungszahlen nicht abnehmen, soweit die kulturellen Voraussetzungen für die Ausbreitung fortbestehen.98 Die Krankheit grassiert am stärksten in den Großstädten, am häufigsten betroffen sind Beschäftigte in der Gastronomie, Studenten und Kaufleute (Handlungsgehilfen). Wirtschaftlich-soziale Verhältnisse wie Behinderung der Frühehe durch Geldmangel und Übervölkerung der Wohnquartiere geben bei der Syphilisinzidenz weniger den Ausschlag als speziell kulturelle Missstände: der außereheliche Geschlechtsverkehr und die Prostitution. Es läge hier nahe, den von Grotjahn propagierten Präventionsschutz durch Kondome auch für den Infektionsschutz zu reklamieren. Aber es ist für den Sozial(Kultur-)hygieniker ein Dilemma, die außereheliche Sexualbeziehung aus gesundheitlichen Gründen zwar zu verwerfen, gleichzeitig aber »anwendbare() Schutzmaßnahmen« zu empfehlen, die hygienisch gefährlich bleiben.99 In dieser kul95 96 97 98 99
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Fi. 363ff., 367f., 373f. Fi. S. 376. Fi. S. 371ff. Fi. S. 384f. Fi. S. 389.
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turell kritischen Situation hilft nur die organisierte Intervention: Ausrichtung der großstädtischen Zivilisation auf ein höheres sittliches Niveau, eine Art Wertereform durch sozialorientierte Erziehung, sexuelle Aufklärung, Beratungsstellen, Frühdiagnose, Behandlungszwang bei Erkrankung und gesundheitliche Kontrolle der Prostitution durch das vorgesehene Gesetz zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten.100 Der Alkoholismus ist in allen Volksschichten verbreitet und nicht nur an die wirtschaftlich-soziale Misere der unteren Klassen gebunden.101 In seinem Gefolge kommt es zu schweren organisch-körperlichen und geistig-seelischen Veränderungen. Er kann zu einem gewissen Prozentsatz anlagebedingt sein. Sein Vollbild entwickelt sich jedoch aus vielfältigen kulturellen Ursachen, was die Auffassung der Sozialhygiene als Kulturhygiene nur bestärkt. Angesichts der komplexen Ätiologie lässt sich die Alkoholabhängigkeit in einen Elends- und einen Luxusalkoholismus unterteilen. – Die Bekämpfung beginnt in der Schule. Fischer würdigt zwar den Vorbildcharakter der in Vereinen organisierten Abstinenten, erwähnt aber nicht die erfolgreiche Arbeit der Selbsthilfegruppen. Das Gasthauswesen unterliegt jetzt strengeren gesetzlichen Bestimmungen. Zahlreiche Trinkerfürsorgestellen kümmern sich um Kranke samt deren Familien. Eine neue Möglichkeit eröffnet sich Alkoholkranken durch Heilbehandlung in psychiatrisch geleiteten Trinkerheilstätten über die Sozialversicherungsträger.102 Die kulturhygienische Betrachtungsweise bewährt sich in besonderer Weise bei den Nerven- und Geisteskrankheiten. Es handelt sich dabei um eine ätiologisch inhomogene Krankheitsgruppe, der bis heute eine einheitliche Klassifi kation noch fehlt, weshalb die Statistik auf psychiatrischem Gebiet vielfach im Stich lässt. Ein Kultureinfluss ist bei ihr aber, wenn auch in unterschiedlichem Maße, immer gegeben, sei es, dass die jeweiligen Krankheiten aufgrund erblicher Anlagen, durch Infektionen und Intoxikationen oder direkt durch kulturelle Mechanismen zustande kommen. In diesem Rahmen gebührt insbesondere dem zahlenmäßig nicht erfassbaren Heer der Psychopathen Beachtung. Mit dem jeweiligen Stand der Kultur erleben wir einen Wandel der zeittypischen Psychosen und Neurosen. Die psychischen Epidemien (früher Flagellanten, Tanzkrankheit, Judenverfolgung u.a., heute esoterische Wahnvorstellungen) kennzeichnen die enge Beziehung zwischen kultureller Umwelt und Geisteszustand. Nichts anderes besagen politische Psychosen, traumatische Neurosen (Rentenbegehren), Stressreaktionen durch Lärm und Wettbewerb im Verkehrs- und Wirtschaftsleben, Desorientierung durch fortschreitende Säkularisation und Schäden durch hemmungsloses Vergnügungsleben.103 Gegenüber den Freud’schen Erkenntnissen, die ja eigentlich Wasser auf die kulturhygienischen Mühlen unseres 100 | Fi. S. 388ff. 101 | Damit stellt sich Fischer in direkten Gegensatz zu der von Grotjahn in seiner Frühschrift 1898 vertretenen Ätiologie. 102 | Fi. S. 393ff. 103 | Fi. S. 405ff., 409ff.
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Autors schütten müssten, verhält sich Fischer (aufgrund der Moraltendenz seiner Kulturhygiene?) noch merkwürdig abwartend.104 Fischers therapeutischer Basisvorschlag grenzt (bei ihm eher ungewohnt) ans Visionäre. Im Endeffekt (nach Kreuzzug gegen Alkoholismus und Geschlechtskrankheiten) fordert er eine Art wertorientierter Gesellschaftsreform mit Renovation der Großstadtzustände, Eindämmung des Luxuslebens und Kampf gegen Unmoral, Mystizismus und politische Unruhe. Zur »Verhütung von Massenpsychosen« brauchen wir eine Stabilisierung der politischen Lage. Weitsichtiges und Hellseherisches mischt sich hier in der Kulturhygiene mit moralhygienischen Motiven.105 – Im Einzelnen sollten Krankheitsfälle durch eine soziale Psychiatrie frühzeitig erfasst und behandelt werden. Letztere müsste über kliniknahe Beratungsstellen verfügen, ggf. auch für »geistig abgeartete Kinder«. Zur Betreuung der Angehörigen und der geheilt oder gebessert Entlassenen empfiehlt sich die Einrichtung von Fürsorgestellen. Bildungsfähige schwachsinnige Kinder gehören zur »Charakter- und Gemütsbildung« auf Hilfsschulen, um sie so »zu immerhin einigermaßen brauchbaren Menschen« zu erziehen. Leichtgradig schwachsinnige Kinder lassen sich in Förderklassen schulisch integrieren.106 Ein letzter Abschnitt der kulturhygienisch orientierten Krankheitslehre beschäftigt sich mit dem Krüppelwesen. Auch auf diesem Gebiet überragen die kulturellen Motive. Der kulturelle Aspekt liegt darin, dass bei allen Behinderungen die dauernde Erwerbsbeschränkung oder -unfähigkeit droht. Die Versorgung der Kriegsversehrten hat der zivilen Krüppelfürsorge, um die es hier geht, zu einem neuen Aufschwung verholfen. Hinsichtlich Ätiologie, Prophylaxe und Therapie, vor allem im Fürsorgebereich, muss aber noch mehr geschehen, um der kulturellen Herausforderung zu begegnen, die die Verhütung von Krüppelleiden und die Erwerbsbefähigung körperlich Schwerbehinderter mit sich bringen. Der meist orthopädisch rehabilitierte Krüppel, besonders der Amputierte, gilt als »leuchtendes Beispiel« dafür, was der Mensch unter geeigneten kulturellen Bedingungen erreichen kann. Aufgabe der »vorbeugenden Krüppelfürsorge« ist es, Kinder und Jugendliche in Heil- und Erziehungsanstalten auf geeignete Berufe vorzubereiten. In Preußen ist das Krüppelwesen seit 1920 durch Gesetz geregelt. Dieses beinhaltet Bestimmungen zu Anstaltspflege, Erwerbsbefähigung, Prophylaxe und Einrichtung von Fürsorgestellen. Als Hauptabsicht steht dahinter, den Behinderten »Arbeitsfähigkeit und Lebensgenuß«, also ein Maximum an Lebensqualität zu sichern.107
104 105 106 107
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Fi. S. 411. Fi. S. 413, vgl. SH/SM, S. 112. Fi. S. 413f. Fi. S. 415ff.
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11.9 Übergeordnete gesellschaf tliche Initiativen zur Er füllung kulturhygienischer Zielset zungen Das Schlusskapitel (5.) liefert einen Überblick über die grundlegenden konzeptionellen Maßnahmen einer Kulturhygiene, die danach trachtet, die gesundheitlichen Schäden und Missstände, die die Kultur selbst hervorgerufen hat, mit kultureigenen Mitteln zu meistern. Hierbei muss die (soziale) Hygiene »geduldig« sein. Nicht alle sinnvoll erscheinenden Projekte lassen sich jetzt oder in kurzer Zeit umsetzen. Eine Reihe von ihnen, darunter die Idee einer Deutschen Gesellschaft für soziale Hygiene, einer »großen nationalen und sozialen Partei« zur Vorlage eines umfassenden Hygienegesetzes, eines Reichsgesundheitsparlaments u.a. sind gescheitert.108 Fischer beweist als Kulturhygieniker politischen Realismus, wenn er sich damit begnügt, sich schrittweise seinen Zielen anzunähern und zwischenzeitlich Kompromisse einzugehen. Er betrachtet es als Erfolg dieser Methode, dass ein so weitgestecktes Ziel wie das von ihm im Krieg geforderte Recht auf Gesundheit in der neuen Reichsverfassung und im Jugendwohlfahrtsgesetz bereits teilweise Eingang gefunden hat.109 – Die wohl größte Errungenschaft der Kulturhygiene ist in Kreisen und Städten die Ausgestaltung der organisierten Gesundheitsfürsorge. Das moderne Arbeitsgebiet »sozialhygienische(r) Betätigung« nimmt sich »weite(r) Volksschichten« an und umfasst »Maßnahmen der sozialen Prophylaxe und der sozialen Therapie (Medizin)«. Damit fällt es in ärztlichen Zuständigkeitsbereich (Stadtarzt, Schularzt, Fürsorgearzt), wenn auch ärztlich geleitete soziale Gesundheitsämter und nichtärztlich geleitete Wohlfahrtsämter eng miteinander kooperieren. Ein Reichsgesetz als Rahmengesetz könnte zur Klärung strittiger Fragen beitragen. 1924 bestimmen Reichsverordnungen den Kreis der Leistungsempfänger sowie Art und Umfang der Fürsorgeleistungen.110 – Die deutsche Sozialversicherung aus den Jahren 1883-1911 bildet ein System von Zwangsversicherungen für Arbeiter und Angestellte gegen die Hauptunbilden des Lebens. Mit dem ersten Teil, dem Krankenversicherungsgesetz, »hat Deutschland der ganzen Welt die Wege gewiesen«. Den »gewaltige(n) sozialhygienische(n) Fortschritt« erbringt der Versicherungszwang, der im Gegensatz zur freiwilligen Versicherung auch den Niedrigverdiener erreicht.111 Anhand seiner Studien zum Altersaufbau der Lohnarbeiter kann Fischer aber der offiziellen Version einer Gesundheitsverbesserung der Arbeiterschaft durch die Sozialversicherung nicht zustimmen. Vielmehr hält er sich an die Kritik Zadeks, die Sozialversicherung habe sich zwar für den kranken Arbeiter eingesetzt, aber wenig dafür getan, ihn gesund zu erhalten.112 – Auch hier wird deutlich, dass Fischer mit seinen Anschauungen und Kontroversen in eine ambivalente Situation zu geraten droht. Die sozialpolitische 108 109 110 111 112
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Fi. S. 426. Fi. S. 421f. Fi. S. 432ff. Fi. S. 435ff. Zadek 1895, zit.n. Fi. S. 443.
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Entwicklung über einen längeren Zeitraum schickt sich an, zur Sozialhygiene aufzuschließen. Der von Fischer gewünschte Ausbau der Sozialversicherung hat sich über die Jahrzehnte bis in seine Gegenwart fortgesetzt (Arbeiterschutz, Angestellten- und Arbeitslosenversicherung, begrenzt-fakultative Familienversicherung, Vorsorgekuren und Heilverfahren durch die Sozialversicherungsträger). Die Erfolge der Sozialhygiene sind auch im Bereich der Sozialversicherung nicht zu übersehen, sofern letztere nunmehr auf dem Weg ist, »die sozialhygienischen Mißstände nicht nur in ihren Wirkungen, sondern in ihren Ursachen zu bekämpfen«.113 Kaum angeschnitten wird von den Sozialhygienikern die Frage, ob und in welchem Ausmaß das von ihnen nach Kräften unterstützte deutsche Sozialsystem, dessen amtlich-bürokratischer Charakter an mehr als einer Stelle den Gedanken an einen Versorgungsstaat herauf beschwört, zu Missbrauch und Ausnutzung führen könnte. Nach Fischer berechtigen die »nicht sehr häufigen Rentenhysteriefälle« nicht dazu, hier den Hebel der Kritik anzusetzen.114 Allerdings beginnt man bereits, an der nach dem Krieg aufblühenden Gesundheitsförderung eine »Hypertrophie« wahrzunehmen. Die Ärzte werden »Überfürsorge« vermeiden und die Grenzen der Fürsorge einhalten, wenn sie erkennen, »daß sie Leben nur unterstützen, fördern, nicht aber selbst nach allen Seiten gesichert gestalten können«.115 Dem Gesundheitsrecht korrespondiert die Gesundheitspflicht, die das Prinzip der Selbsthilfe mit einschließt. D.h.: erst müssen die eigenen Vorsorgemittel versiegen, bevor das Anrecht auf öffentliche Leistungen zur Geltung kommt. Abweichendes Verhalten schädigt das persönliche Verantwortungsgefühl und die Kassen der Versorgungsträger. Die Ressourcen sind begrenzt und bleiben den wirklich Bedürftigen vorbehalten,116 deshalb ist »jeder Missbrauch schwer zu bestrafen«.117 Die Frage der Sozialisierung des Heilwesens mit Verbeamtung der Ärzteschaft ist in Deutschland noch latent offen. Für eine Verstaatlichung des Arztberufs (auch angesichts der wirtschaftlichen Notlage vieler Kassenärzte!) spräche die Aussicht auf eine gleichmäßig gute ärztliche Versorgung aller Bürger nicht nur im Krankheitsfall, sondern auch hinsichtlich der Prophylaxe und Gesundheitspflege. Die Ärzteschaft wehrt sich gegen die allgemeine Verstaatlichung ihres Berufs mit dem Argument der freien Arztwahl. 113 | Fi. S. 446. – Tatsächlich gelangt Fischer in der Zeit nach 1925 zu einem weitgehend positiven Urteil über die Sozialversicherung. Ihre beanstandeten Lücken wurden durch vom Reich erlassene Gesetze und Verordnungen aufgefüllt, in der Krankenversicherung die Familienhilfe als Pfl ichtleistung eingeführt. Das Prinzip der ursächlichen Bekämpfung sozial bedingter Gesundheitsgefahren, wie es sich die Sozialversicherung jetzt vermehrt angelegen sein lässt, sähe er gern auch auf die Gesundheitsfürsorge übertragen, SH/SM, S. 124ff. 114 | Fi. S. 443; vgl. SH/SM Fischer 1932, S. 112f. 115 | SH/SM, S. 44, 131f. 116 | SH/SM, S. 44, 131f. 117 | SM a.a.O.
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Aber schon jetzt steht den niedergelassenen Ärzten im freien Beruf eine wachsende Zahl verbeamteter oder fest besoldeter Kollegen in den Fürsorgeämtern und Krankenhäusern gegenüber. Die Einführung der Familienversicherung und der Ausbau der Gesundheitsfürsorge lassen am Zukunftshorizont ein verstaatlichtes Ärztewesen aufscheinen.118 In einem letzten Abschnitt äußert sich Fischer über gesundheitliche Volksaufklärung und Gesundheitserziehung. Neben Druckwerken und ärztlichen Vorträgen eignen sich vornehmlich Ausstellungen zur modernen Gesundheitspropaganda. Die Internationale Hygieneausstellung in Dresden 1911 als Vorbild nachfolgender anderer Ausstellungen und die aus ihr hervorgegangene Deutsche Hygieneausstellung sind leistungsstarke Modelle für eine volksbezogene (also massenwirksame) Gesundheitsinformation.119 Die »Gesundheitslehre« hat in der Schule einzusetzen, dafür existiert bereits ein von Sozialhygieniker und Lehrer gemeinsam herausgegebenes Lehrbuch.120
11.10 Kurzer Vergleich z wischen der 1. und 2. Auflage des »Grundrisses« Im Vorwort zur 1. Auflage 1913, das in der 2. Auflage 1925 nicht wieder abgedruckt ist, schildert Fischer die Entstehung des »Grundriss« und äußert sich zu dessen Zielrichtung. Fischer hatte zunächst »wertvolle() Ergebnisse« aus »amtlichen Untersuchungen« in einer Reihe wissenschaftlicher Aufsätze verarbeitet.121 Dabei erkannte er, dass ihm eine wichtige Entdeckung gelungen war. In den »amtlichen Werken«, d.h. in- und ausländischen statistischen Quellenwerken, die er minutiös auflistet,122 stieß er auf ein »zerstreut und zumeist brach liegende(s) Material«, das nunmehr unter Berücksichtigung der aktuellen Literatur in »systematische() Anordnung« zu bringen war. Zwar existierten bereits große Sammelwerke und Handbücher der Sozialen Hygiene, auf die Fischer bei seinem Vorhaben zurückgreifen konnte. Aber bisher fehlte ein »System der Sozialen Hygiene«. Nunmehr lenkt Fischer das Streben nach Anerkennung der Sozialhygiene als Wissenschaft in die Zielgerade ein. Der Zeitpunkt ist gekommen, aus »vorhandenen Bausteinen« und zusätzlichem Material ein »Gebäude« zu konstruieren, dessen Struktur widerstrahlt, »dass die Soziale Hygiene eine wohl zu charakterisie118 | Fi. S. 450ff.; 1932 entscheidet sich Fischer unter dem Eindruck der Entwicklung auf den Ärztetagen eindeutig für die Freiberufl ichkeit der Ärzteschaft. Ihre »Verbeamtung ist für absehbare Zeiten weder möglich noch dringend erforderlich, daher auch nicht richtig«, SH/SM S. 132. 119 | Fi. S. 464. 120 | Adam und Lorentz 1923, zit.n. Fi. S. 465. Adam, Lorentz, Metzner: Lehrbuch der Gesundheitspflete und der Gesundheitslehre in der Schule. Das voluminöse Buch brachte es bis zum Ende der Weimarer Republik auf mehr fache Aufl agen. 121 | Fischer 1910ff. 122 | Fischer 1913, S. 13ff.
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rende Wissenschaft mit einem reichen Tatsachenstoff und mit gut begründeten Gesetzen darstellt«.123 Das Verzeichnis der durchgesehenen Quellenwerke umfasst 40 meist jahrgangsweise fortlaufende Publikationen aus Deutschem Reich und deutschen Bundesstaaten und 41 kommunale Periodica sowie statistische Verlautbarungen aus 5 europäischen Staaten, den Vereinigten Staaten, Japan und Australien.124 Übereinstimmung zwischen den beiden Auflagen herrscht in der grundsätzlichen Gliederungsstruktur und in der Machart mit Aufeinanderfolge von statistischem Zahlenmaterial in Tabelle oder graphischer Darstellung, Erläuterung und Literaturdiskurs. Aber seit 1913 über die Kriegszeit und Nachkriegswirren hinweg wechselten in der Sozialhygiene Inhalte und Schwerpunkte. Fischer gelangte in der Zwischenzeit zu einem erweiterten Begriff der sozialen Hygiene, der vordergründig kulturelle Sachverhalte, denen natürlich immer auch wirtschaftliche und soziale Zustände korrespondieren, als Determinanten der Volksgesundheit deklariert. In der 1. Auflage spielen die gegenwärtigen kulturellen Verhältnisse im Allgemeinen noch keine Rolle. In der 2. Auflage versucht Fischer eine Umorientierung in Richtung kulturelle Hygiene, indem er so oft wie möglich »kulturelle Einflüsse« unterstreicht, z.B. auf die Volksernährung, die von der Gesundheitsfürsorge betreuten Altersklassen und die Sozialpathologie. Die öffentlichen Allgemeinmaßnahmen werden dann vollends Domäne einer »kulturellen Hygiene«. Zwar bilden für beide Auflagen die statistischen Quellen den Schlüssel zur systematischen Verarbeitung des ständig anwachsenden »Tatsachenmaterials«. Zwar ist gemeinsamer Ausgangspunkt die Notlage des Arbeiters und die soziale Fatalität der »breiten Volksschichten«. Dennoch ist die »vollständig neu gestaltete« und »vermehrte« 2. Auflage nach Fischer »ein völlig neues Buch« (S. III). Zweifellos lesen sich beide Auflagen mit Gewinn, da sie im Sinne Fischers den Systematisierungsprozeß der Sozialhygiene als Wissenschaft und ihre Aktualisierungsbereitsschaft als praktische Betätigung gleichermaßen repräsentieren.125
11.11 Kritische Bewer tung Wie aus dem Aufbau seines Lehrbuchs leicht zu ersehen ist, liegt Fischer in der Sozialen Hygiene nicht allein daran, Krankheit als Phänomen spezifischer Klassenzugehörigkeit aufzuweisen, sondern es geht ihm vielmehr auch darum, Gesundheit, deren Erhalt und Wiedergewinn aus aller ökonomischen Bedingtheit zu befreien und zum Gemeingut unserer Kulturgesellschaft auf-
123 | A.a.O., S. V. 124 | A.a.O. S. 13ff. 125 | Vgl. Fi. S. 1.
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steigen zu lassen.126 Natürlich gehört es weiterhin zu den Aufgaben der Sozialhygiene, im Sinne der Sozialen Pathologie Grotjahns Krankheiten und Sterblichkeit aus sozialen Ursachen herzuleiten bzw. epidemiologische Erkrankungen und ihre Mortalität sozial-ätiologisch zu durchdringen. Aber als Gesundheitslehre wendet die Sozialhygiene ihre Aufmerksamkeit auch auf die Ätiologie der Gesundheit. Sie hat das Recht auf Gesundheit wissenschaftlich zu belegen und gesundheitspolitisch durchzusetzen, wie sie auch beauftragt ist, »das Volk in allen seinen Teilen« an seine Pflicht zu einer gesundheitsgemäßen Lebensführung zu gemahnen (d.h. Gesundheitsförderung zu betreiben). Die Forderung nach gesunder Lebensweise richtet sich an alle Schichten und ermöglicht den Fortschritt von äußerlich auferlegten Verhältnissen zu einem in Wahrnehmung seiner Rechte und Pflichten begründetem Verhalten. Es wäre ein »verhängnisvoller Fehler«, ließe man sich die soziale Hygiene »lediglich in der Sorge für die Minderbemittelten« erschöpfen. Vor einer durch Rechte und Pflichten geregelten Gesundheit sind alle Menschen gleich. In ihr ist der über alle Schichten hinwegführende Einheitspunkt in der Gesellschaft erreicht. »Hygienische Erziehung« und »Selbsthilfe in allen Volkskreisen« machen Gesundheit zur Wirkungsmacht der ganzen Gesellschaft. Fischer konstatiert in der 2. Auflage seines Lehrbuchs für die Zeit vor 1913 einen (allerdings ungleich verteilten) Anstieg des Lebensstandards in Deutschland am ehesten aufgrund einer Verbesserung der Ernährung. Missstände zeichnen sich noch eindeutig ab auf dem Wohnungsmarkt, bei der gewerblichen Berufstätigkeit der verheirateten Frau und bei den höchst ungleichen Einkommen der Lohnarbeiter nach Beruf und Lebensalter. Gesellschaftlich benachteiligt sind immer noch Millionen von Menschen, darunter Industriearbeiter, Heimarbeiter, Hausangestellte, uneheliche (alleinerziehende) Mütter und kinderreiche Familien. Auch ohne Unterschreitung der Armutsgrenze öffnet sich die Schere zwischen Wohlhabenden und Einkommensschwachen immer weiter. Die Volatilität der wirtschaftlichen Lage der arbeitenden Massen ist für große Teile der arbeitenden Bevölkerung kennzeichnend: Lücken in der Sozialversicherung von Familiengliedern und Niedriglohngruppen, die sich erst jetzt allmählich schließen, Bedro126 | Je mehr Fischer in seiner Betrachtungsweise im Fortschritt der Jahre, besonders seit den Weltkriegsbelastungen für das ganze Volk von unterer Sozialschicht auf Gesamtbevölkerung umschaltet, umso mehr focussiert er statt auf Krankheit auf Gesundheit, wird ihm seine Arbeit zur nicht nur an der Sozialstruktur, sondern auch an der Gesamtkultur ansetzenden »Gesundheitswissenschaft«. Über den Begriff der »Gesundheit«, wie er in einem gleichnamigen Artikel 1932 mitteilt, führt er mit »Geheimrat« Aschoff einen Briefwechsel und veröffentlicht Teile daraus. Aschoffs klassisch biologistische Definition von Gesundheit als »vollkommene() Anpassungsfähigkeit an den natürlichen Wechsel der äußeren Lebensbedingungen« sinnverwandelt Fischer unter Hinweis auf die Notwendigkeit auch geistig-kultureller Anpassungsprozesse vor allem mit dem wertend-teleologischen Zusatz: »zum Zwecke des menschenwürdigen Daseins«, a.a.O. S. 67f. Literarographisch ist die Art der wissenschaftlichen Auseinandersetzung aufschlussreich für Fischers auf Verständigung ausgerichteten Charakter.
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hung durch Krankheit und Arbeitslosigkeit mit Rückfall in Armut, Mangel an (Haus)Besitz, Wohlstand und Bildung perpetuieren besonders in den Städten die proletarische Existenz unter Beibehaltung eines desaströsen, wenn nicht degoutanten Lebensstils. Fischer beharrt auf der Korrelation von körperlicher Verelendung und relativ niedrigem Einkommen weiter Bevölkerungskreise, um die realexistierende Ungleichheit hervorzuheben, die es angesichts des Ideals einer in allen Teilen gesunden Gesellschaft zu überwinden gilt. So sehr Fischer auch den sozialen Wandel anerkennt, wie er sich gegenwärtig in der Industriegesellschaft durch Gesetzgebung und Verwaltung, Selbsthilfe und Arbeitgeberinitiativen vollzieht, bewegt sich dieser für ihn doch an der Oberfläche, solange er nur die materielle Versorgung sicherstellt. Die Sozialhygiene hat dem Rechnung zu tragen, indem sie ihr Spektrum erweitert. Fürsorgebedürftigkeit erstreckt sich nach Fischer nicht länger nur auf die Unter-, sondern auch auf die Mittelschicht, die einen Proletarisierungsprozess durchläuft. Fürsorgekriterien sind jenseits rein monetärer Bedrängnis nach den Signaturen der Zeit die »soziale Lage« oder das »soziale Elend«. Den Sachverhalt, den bezogen auf ganze Bevölkerungsgruppen diese Wendungen zum Ausdruck bringen, gibt unser heutiger Äqivalenzbegriff »Perspektivelosigkeit« wieder. In der Sozialhygiene bricht sich die Erkenntnis Bahn, dass neben dem Einkommen der soziale Gesamtstatus mit seinen übrigen gesellschaftlich beeinflussten Variablen wie Wohnung, Wohnlage, Familienstand, familiäre Legitimität, Kinderzahl, Bildung, Lebensführung, Berufsart, Arbeitsplatz (-sicherheit), Selbständigkeit, wirtschaftliche Sicherheit, Versicherung, (Haus-) Besitz, Wohlhabenheit, Selbstbestimmtheit, Stellung, Prestige, individueller Gesundheitszustand und Lebensalter über Gesundheit als gesellschaftlich»kulturelle« Größe entscheidet. Von größter Bedeutung für das gesundheitliche Wohlergehen der arbeitenden Bevölkerung erscheinen am ehesten Wohlstand und Bildung, die Stellung, Ausmaß der gesellschaftlichen Integration oder Sitz und Stimme im Leben der Gesellschaft bestimmen. Der Umschwung in der Sozialhygiene von entbehrungsbedingter Krankheit zu gesellschaftsbezogener Gesundheit verdankt Fischer die nachdrücklichsten Impulse. Er repräsentiert am stärksten den Anspruch auf gesundheitsförderliche Struktur einer nicht nur gruppengegliedert, sondern auch als globale Kultureinheit verstandenen Gesellschaft. Schließlich begegnen uns bei Fischer auch Vorstellungen über durchgreifende Gesellschaftsreformen in weiterer Zukunft. Dem Geburtenrückgang, dessen demographische Konsequenz er übrigens weniger dramatisch beurteilt als Grotjahn, lässt sich vielleicht nur durch eine radikale Reform der Einkommensverhältnisse mit Umverteilung des Volksvermögens wirksam entgegentreten. Das maßlose, konsum- und genussfreudige Großstadtleben verlangt zur Revision ungesunder Lebensweisen nach einer moralhygienisch-kulturellen Totalsanierung. Auf dem Gebiet des Heilwesens ist auf dem Hintergrund der nicht zuletzt von der Sozialhygiene geschaffenen Strukturen eine Sozialisierung des Arztberufs zu erwarten.
12. Zusammenfassung und Schlussbetrachtung
12.1 Bevölkerungslehre Alle drei Sozialhygieniker der ersten Stunde – Grotjahn, Gottstein und A. Fischer – verstanden sich von ihrer wissenschaftlichen Herkunft her ebenso wie hinsichtlich ihrer gesundheitspolitischen Zielvorstellungen als ausgesprochene Bevölkerungspolitiker. Die statistisch beschreibende und berechnende Bevölkerungslehre (Demographie) war ihr geistiges Lebenselixier.1 Diese untersucht u.a. durch Vergleich erhobener Zahlen- und Berechnungswerte Zustände und Veränderungen der Gesellschaftsstruktur aus natürlichen und sozialen Gründen (z.B. Altersauf bau, Bevölkerungsbewegungen) als Grundlage künftiger Handlungsentscheidungen.2 Allgemeine Aufmerksamkeit erregten um die Jahrhundertwende bei den die Bevölkerungsentwicklung verfolgenden Wissenschaftlern der kontinuierliche Anstieg der mittleren Lebenserwartung und der inzwischen ebenfalls stetige Geburtenrückgang.3 Als Triebkräfte für die Ausbildung der beiden Phänomene sehen die Großen der Sozialhygiene eine Kette von Ursachen, aber mit unterschiedlicher Präferenz. Grotjahn glaubt, die sinkende Sterblichkeit sei hauptsächlich bedingt durch Städteassanierung und Verbesserung der Ernährung. Für Gottstein erklärt sich die Zunahme der mittleren Lebenserwartung (seit 1880) vorrangig mit der Besserung der Volksgesundheit durch Ausbreitung von Wohlstand und Bildung. Nach A. Fischer verbirgt sich hinter dem schlichten Anstieg der Lebenserwartungskurve der Bevölkerung eine Diskrepanz. Die Sterblichkeit der Gesamtbevölkerung hat sich in der Zeit vor dem Weltkrieg aufgrund der Verbesserung der Lebenshaltung für weite Volkskreise tatsächlich vermindert, nicht aber auch die Mortalität der Lohnarbeiter insbesondere jenseits des 50. Lebensjahrs, worin sich die gesundheitliche Ungleichheit 1 | Folgerichtig erscheint der Begriff »Demographie« als Hinweis auf die Beibehaltung des Forschungsgebiets im gesamten Zeitraum von 1902-1933 im Titel verschiedener sozialhygienischer Periodika. 2 | Gottstein 1926, Kap. »Bevölkerungslehre«, S. 15ff. 3 | »Epidemiologischer Übergang« 1837-1918, Spree 1992, S. 15. – Grotjahn gebraucht zwar nicht den Begriff der mittleren Lebenserwartung, aber natürlich entgeht ihm nicht der Sachverhalt, z.B. 1926, S. 53f., 86ff.
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zwischen den Volksschichten und auch in der medizinischen Behandlung der Bevölkerung dokumentiert. Die Leistung des Medizinfortschritts für die Erhöhung der Lebenserwartung hat vor den führenden Sozialhygienikern einen schweren Stand. Gottstein bemängelt, sie habe sich zunächst nur für die »besitzenden Klassen« lebensverlängernd ausgewirkt. Werden die Verdienste der modernen Medizin für die Lebensdauer also von Gottstein und A. Fischer nur eingeschränkt gewürdigt, so versagt ihnen Grotjahn überhaupt jede Anerkennung. 4 Bezüglich des Geburtenrückgangs äußern die Altmeister einhellig die Meinung, dass für diesen vordergründig die fortentwickelte Präventivtechnik verantwortlich zu machen ist. Aus den unterschiedlichsten sozialen und kulturellen Gründen werden die modernen Möglichkeiten von der Bevölkerung zunehmend genutzt, zuletzt auch vom Proletariat. Daraus resultiert in der Gesellschaft ein Trend zur gewollten Kinderlosigkeit oder Beschränkung der Kinderzahl.5 Die Nachhaltigkeit dieses Prozesses und seine Folgen auf Dauer für die Bevölkerungsentwicklung werden dann abweichend eingeschätzt. Gottstein sieht im Geburtenrückgang die »ernsteste Gefahr«, hoff t aber aus epidemiologischer Sicht auf das Greifen autoregulativer Mechanismen. Fischer relativiert die fatalen Aspekte mittels statistischer Erwägungen, er erkennt »vorläufig« in Deutschland keine von dem (übrigens europaweiten) Geschehen ausgehende Bedrohung. Grotjahn beurteilt den Geburtenrückgang als potentielle demographische Katastrophe, die ohne gesetzlich-politische Gegensteuerung Entvölkerung und/oder Kulturbrüche hervorrufen muss. Blendet man ideologischen Unterton und eugenische Absicht aus, wird man dieser Bewertung der bevölkerungspolitischen Situation in Mitteleuropa zu einem Frühzeitpunkt der Entwicklung grundsätzliche Richtigkeit zuerkennen. Grotjahn ist der einzige aus dem Gründerkreis, der die Wucht des Problems erfasst, dessen Tendenz zur Unumkehrbarkeit und die formale Dringlichkeit zielgerichteten bevölkerungspolitischen Handelns begreift.6 Der Geburtenrückgang präsentiert sich analog zur mittleren Lebenserwartung (»Epidemiologischer Übergang«) als konsistentes säkulares Demographie-Phänomen im Zusammenhang mit der stetig ansteigenden technischen Zivilisation. Beide Phänomene enthüllen sich als Zivilisations4 | Grotjahn 1926 S. 53f., 86 ff,; 1929, S. 186; Gottstein 1920, S. 42ff., 50ff., 62ff., vgl. ders. 1924, S. 433f.; Fischer 1925, S. 84, 92, vgl. 327ff. – Interessanterweise ist bei den frühen Sozialhygienikern bereits ein guter Teil des Ursachenspektrums für die Verlängerung der mittleren durchschnittlichen Lebenserwartung vertreten, das seit McKeown und die anschließende Diskussion zur Deutung des »säkularen Sterblichkeitsrückgangs« ins Feld geführt wird (Umwelthygiene, Ernährung, Wohlstand, Bildung, Lebenshaltung, Verminderung der Arbeitsbelastung), s. Spree 1992, S. 46ff. 5 | S. z.B. Gottstein 1924, S. 434; »gewollt« wird Kinderlosigkeit wegen des »Wohnungs- und Wirtschaftselends«, der Geburtenabfall lässt sich aber durch »aktive Gesundheitspolitik« stoppen. 6 | Gottstein 1920, S. 47ff., 68ff., 86ff.; Fischer 1926, S. 204ff.; Grotjahn 1923, S. 484ff.; 1926, S. 84, 101ff., 104ff., 111ff. u.o. in seinen Schriften.
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erscheinungen mit Zeitbombeneffekt, die u.U. vielleicht auch außergewöhnliche Maßnahmen zu rechtfertigen scheinen und sicherlich unser ethisches Selbstverständnis kontinuierlich auf die Probe stellen.7
12.2 Das Modell »Arztpraxis und Sozialhygiene« Die drei Wortführer einer neuen Denk- und Berufsrichtung, die angetreten waren, die gesundheitliche Benachteiligung der ökonomisch und sozial Schwachen in der Massengesellschaft und ihre aufgrund der wirtschaftlichen Entbehrung gesteigerte Morbidität und Mortalität mit wissenschaftlichen Mitteln zu bekämpfen, waren durchweg Sprösslinge aus Familien der gehobenen Mittelschicht. Fernab von den Elendsquartieren des Proletariats wuchsen sie in den wohlhabenden Verhältnissen eines bildungsbeflissenen Bürgertums auf. Es gibt keine Belege dafür, dass sie schon in Kindheit und Jugend im Lebensalltag mit Kreisen aus der Arbeiterbevölkerung in engere Berührung gekommen seien. Nach dem jeweiligen Medizinstudium erwiesen sich alle drei gleichermaßen als engagierte Ärzte und geborene Wissenschaftsnaturen, die ihren Forschungsgeist mit in ihre großstädtischen Arztpraxen einbrachten. Hier sahen sie sich alsbald einer Patientenschaft konfrontiert, die zu einem Großteil den unteren mittellosen Bevölkerungsschichten entstammte. Hautnah erlebten sie den Komplex »Krankheit und soziale Lage«, an den Krankheitsbildern des Alkoholismus (Grotjahn), der ansteckenden Kinderkrankheiten und der Tuberkulose (Gottstein) oder der tödlichen Säuglingsinfektionen und des Puerperalfiebers (Fischer). Auf diese in eigener Praxis selbst erkundeten Krankheiten bezogen sich ihre Interventionen und wissenschaftlichen Veröffentlichungen. Praktische Tätigkeit und sozialhygienisch-epidemiologische Forschung verschmolzen zur Einheit. – Eine Vorstellung von der praktischen Tätigkeit des ärztlichen Sozialhygienikers gibt Gottstein mit seiner Schilderung der Tagesarbeit des »Hausarztes«, der mit seinen regelmäßigen Hausbesuchen Gruppenmedizin betreibt, ungerufen-vorsorglich Krankheitsverläufe und die gesundheitliche Konstanz der bürgerlichen Familie überprüft und bei seiner nachgehenden Fürsorge womöglich beim Dienstmädchen eine Lungentuberkulose diagnostiziert.8 So erstand das Modell einer beruflichen Kombination von Arztpraxis und sozialhygienischer Betreuung, Forschung und ärztlicher Fürsorgepraxis, der Prototyp einer bevölkerungsmedizinischen Versorgung, aus dem dann später – weit mehr als aus dem privaten dilettierenden karitativen Engagement, wie es Labisch/Tennstedt annehmen9 – das Glanzstück der deutschen 7 | Die Verkopplung der erwähnten Phänomene über den Generationenvertrag (Kinderarmut und Vergreisung vs. Erfüllung des Vertrags) kam den Sozialhygienikern nicht zum Bewusstsein. 8 | Gottstein in: Grote 1925, S. 61f. (= 9f.). 9 | Zur gleichen Auffassung einer essentiell-regelhaften Konstellation »Arzt-
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Sozialhygiene, die wissenschaftlich fundierte Gesundheitsfürsorge (die hausbesuchende, nachsorgende, immer die ganze Familie und ihr Wohnumfeld gesundheitlich-sozial observierende Fürsorgeschwester eingeschlossen) hervorgehen sollte. Diesem Modell oder Prototyp eiferten mit ihrem Praxispersonal noch in den 20er Jahren unzählige passionierte Ärzte und Fachärzte (besonders Pädiater, Dermatologen, Gynäkologen und Psychiater) nach insbesondere in den Hochburgen industriegesellschaftlichen Lebens als eigentliche Rollenträger der Sozialhygiene.10 Zusammen mit den kommunalen Diensten schufen sie die gesundheitsfürsorgerische Infrastruktur, die auch in wirtschaftlichen und politischen Krisenzeiten einen Rückgang von Morbidität und Mortalität, insbesondere der Säuglings- und Tuberkulosesterblichkeit gewährleisten konnte.11 Indem die drei Spitzen der Sozialhygiene über Jahrzehnte ihre ärztliche Aufgabe mit sozialhygienischem Forschungsinteresse verbanden, erzielten sie ein doppeltes, ein nach rückwärts und ein nach vorwärts gerichtetes Ergebnis. Einmal setzten sie den Schlussstein auf die deutsche sozialhistorische Tradition einer durchgehenden Gesundheitsbewegung unter ärztlicher Führung seit der Medizinischen Reform des Jahres 1848. Ihr Prototyp war Salomon Neumann, der Berliner Arzt, der an seiner Arbeiterklientel in den Stadtvierteln die Beziehung zwischen Arbeiterstatus und vorzeitigem Tod praxis – Sozialhygiene« gelangt Thomann im Einklang mit Aussagen Fischers. Diesem zufolge waren es »in der Praxis stehende() Ärzte()«, die die soziale Hygiene als Wissenschaft konzipierten, weil sie »täglich« die Gesundheitsgefahren, wie sie sich aus dem Lebensumkreis ihrer Patienten ergaben, vor Augen geführt bekamen. Für Thomann steht fest, dass »fast alle sozialhygienisch tätigen Ärzte […] aus der ärztlichen Praxis« hervorgingen, ders. 1979, S. 256. 10 | Labisch/Tennstedt 1985 I, S. 34. 11 | Dass das geschilderte erweiterte Modell, der Prototyp einer volksweiten Gesundheitsfürsorge, tatsächlich geeignet gewesen wäre, über vom NS-Regime vertriebene Experten, also über Exilanten deutsche Kulturleistung in andere Länder, insbesondere in Entwicklungsländer zu exportieren und Innovationsschübe im Gesundheitswesen auszulösen, zeigt das Beispiel des Pädiaters Albert Eckstein, Mitglied der Medizinemigration in die Türkei ab 1933. Schüler des jüdischen Pädiaters Arthur Schlossmann und dessen Nachfolger an der Medizinischen Akademie und der Kinderklinik Düsseldorf, wurde er 1935 zum Leiter der Kinderabteilung des Staatlichen Modellkrankenhauses in Ankara ernannt. Im damaligen Entwicklungsland Türkei bestand eine hohe Säuglingssterblichkeit zumal auf dem Land überwiegend durch Sommerdiarrhoen, wie sie früher schon Gottstein in Berlin erforschte. Für Eckstein und seine (nicht angestellte, aber selbst publizierende) Ehefrau stellte sich nun die Aufgabe, aufgrund eigener Erhebungen auf Reisen durch das Land unter Berücksichtigung der landestypischen Bedingungen eine Epidemiologie der Krankheit zu erarbeiten, die Voraussetzung war für eine optimale Therapie über ergänzende Versorgungsstrukturen. Ecksteins Bemühungen in vierjähriger Tätigkeit ist es zu danken, dass die Säuglingssterblichkeit in der Türkei von 35 % im Jahre 1935 auf 12 % Ende der 40er Jahre zurückging, Erichsen in: Scholz/Heidel 2004, S. 73ff.
12. Z USAMMENFASSUNG
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statistisch belegte.12 Zweitens begründeten sie ein vornehmlich in den deutschen Großstädten vielfach reproduziertes und in seiner Mustergültigkeit erfolgreiches Pilot-Modell: der niedergelassene oder beamtete Arzt als zugleich epidemiologisch denkender oder arbeitender und durch seinen Bezug auf Gruppen chronisch Kranker aus allen Volksschichten auf Bevölkerungsgesundheit angelegter Sozialhygieniker. Mit beiden Attitüden im Schnittpunkt zwischen ärztlicher Praxis und Wissenschaft wirkten sie als Katalysatoren arztständischer Professionalisierung und fortschreitender Medikalisierung der deutschen Gesellschaft – heute nicht unumstrittene, damals m.E. unumgängliche Prozesse sozialgeschichtlicher Entwicklung.
12.3 Die Heraufkunf t einer kollek tivistischen Denk weise im Massenzeitalter Die erkenntnistheoretische Ausgangssituation war für alle Sozialhygieniker die gleiche. Industrialisierung, Urbanisierung, Großstadt und Großstaat, Bevölkerungswachstum und Massenbildung steigerten die bürgerlichen Lebens- und Gemeinschaftsverhältnisse ins Gigantische. Gemäß der neuen Dimension gewann in der Gesundheitslehre (Hygiene/Sozialhygiene) im Gegensatz zu der dem Individuum verpflichteten (noch vortherapeutischen) klinischen Medizin13 das kollektive Moment die Oberhand. In einem Zeitalter, in dem die klinische Medizin als individuale, meist nur für die Oberklassen zugängliche Heilkunde immer neuen Triumphen entgegeneilte, entstand konkurrierend eine Medizin als soziale Wissenschaft von der gesundheitlichen Entwicklung des gesellschaftlichen Kollektivs als Gesamtheit aller Bevölkerungsklassen. Die Folge war eine umstürzend neue Denkweise, die das sozialhygienische Schrifttum als gemeinsames Charakteristikum durchzieht. Eine oft überraschende, unkonventionelle Einschätzung der bisherigen, auf das Individuum abgestellten Erkenntnisgehalte trat auf den Plan. Das Gesundheitsschicksal des Einzelnen beurteilte man zunehmend in seiner Abhängigkeit von der gesundheitlichen Verfassung und Leistungsfähigkeit der Bevölkerungsmasse. Es ging nicht länger nur um Gesundheit und Krankheit des Individuums, sondern um Volksgesundheit und Volkskrankheit als deren Determinanten. Der Perspektivenwandel führte zu einer entscheidenden Änderung der Erkenntnis- und Erfassungstrukturen. Zum adäquaten Erfassungsinstrument für die Massenentwicklungen auf Gesundheitsebene wurde das Zahlenwerk bzw. die Rechnungskunst der Statistik sowie als neue Form begründeter Vergewisserung die Epidemiologie. Man sollte nicht übersehen, dass die Epidemiologie für die moderne Erkenntnistheorie Kantischer Prägung einen gewaltigen Schritt nach vorn bedeutete, indem sie 12 | Frevert 1984, S. 228f. 13 | Zur Effektivität der Medizin in der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts s. Heinzelmann 1998, S. 114.
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diese um eine neue Erfassungskategorie bereicherte. Das klassische (dem Labor zugehörige) naturwissenschaftliche Forschungsinstrumentarium allein14 genügte den neuen Anforderungen nicht mehr. Man bedurfte einer Vielzahl von Wissenschaftsdisziplinen, deren Arbeitsmethoden die Lebensgesetze kollektiver Gebilde oder die Strukturen von Massenphänomenen zu durchdringen vermochten. Den gesundheitlichen Großproblemen gegenüber benötigte man den interdisziplinären Einsatz vereinter Wissenschaftskräfte zur gesellschaftlichen Gesundheitssicherung. Gesundheit wurde nicht länger retrograd, durch Therapie aus ihrem Gegenteil, sondern antegrad im Sinne von Prophylaxe, Prävention, Gesundheitsförderung auf gesellschaftskommunikativem Weg konzipiert. In der Wisssenschaftsgeschichte begann die Ära interdisziplinärer Strategien.
12.4 Übergang von »Krankheit und soziale Lage« auf Bevölkerungsgesundheit Aufgrund ihrer Praxiserfahrung gelangten die drei Hauptvertreter der Sozialhygiene zu der einhelligen Überzeugung, dass Gesundheit und verlängerte Lebenserwartung nicht länger den Wohlhabenden vorbehalten bleiben dürften, vielmehr die »hygienische Kultur verallgemeinert« werden müsste.15 Mit ihren öffentlichen Aktivitäten bewiesen sie sozial- und gesundheitspolitischen Willen (nicht zu verwechseln mit parteipolitischer Positur). Zur Gleichheit vor dem Recht und sozialer Chancengleichheit addierten sie die Gleichheit nach der Gesundheit, d.h. gesundheitspolitisch zunächst: gleiche medizinische Versorgung.16 Die in der praktischen Arbeit der Sozialhygieniker zu Tage tretende Generalisierungstendenz schloss aber nach der anderen Richtung die Erfahrung mit ein, dass neben Säuglingsinfektionen vor allem chronische Erkrankungen, z.B. Tuberkulose, Geschlechtskrankheiten, nervöse Störungen, Herzkreislaufkrankheiten, Krebs, erbliche Krankheitsanlagen und Erbkrankheiten nicht nur in den unteren Schichten vorkommen, sondern auch Wohlhabende und Reiche nicht verschonen, also alle Volksklassen bedrohen und ganze Bevölkerungen potentiell destruieren. Gottstein weist in eigenen Studien nach, dass nicht nur primär beengte Wohnverhältnisse Tuberkulose begünstigen, sondern dass auch umgekehrt ein langer Krankheitsprozess das Abgleiten in erbärmliche Wohnverhältnisse und damit den sozialen Abstieg erst induziert.17 Ihm war es am ernstesten darum zu tun, Mosse/Tugenreichs These »Krankheit und soziale Lage« in einer doppelten Richtung in reziproker Beziehung zu verstehen: (schlechte)«soziale Lage« nicht nur als 14 | Rothschuh 1962 (2. Aufl.). Erstaunlicherweise fi ndet die Epidemiologie als Methode naturwissenschaftlicher Erkenntnistheorie hier keine Erwähnung! 15 | Grotjahn schon 1912; 1923, S. 9f. 16 | Gottstein 1926, S. 438ff. 17 | Gottstein 1932, S. 4ff.
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Grund, sondern auch als Folge von Volkskrankheiten im Sinne von »Massenerscheinungen«. Erst das gab ihm die Basis für den Ausbau der Gesundheitsfürsorge mit Früherkennung, Frühbehandlung und nachgehender Pflege.18 Der Weg verläuft also für die Sozialhygieniker in unterschiedlicher Gewichtung und Deutlichkeit von den gesellschaftlichen Proletarier- und Arbeitergruppen am Rand oder im Untergrund der Gesellschaft (Grotjahn)19 über immer größere Bevölkerungsgruppen (Fischer: »Proletarisierung weiter Schichten des Mittelstandes«20) zur Bevölkerung als Ganzes (Gottstein).21 Das sozialhygienische System der Gesundheitssicherung bezieht schließlich die gesamte Bevölkerung in sich ein. Dieser Paradigmenwechsel selbst ist der Sozialhygiene als Wesenszug indigen und erwächst im historischen Prozess aus ihrer Bevölkerungsorientierung. Zur Krankheit in bestimmten Bevölkerungsgruppen kommt jetzt die Bevölkerungsgesundheit überhaupt als Konsequenz aus der Schwerpunktsverlagerung von der (individual-)medizinischen Therapie (Gesundheit ex eventu) zur medizinisch-sozialen Prophylaxe (Gesundheit a priori). Mit seinen Thesen vom Recht auf und der Verpflichtung zur Gesundheit schlägt Fischer spätestens nach dem Krieg die präventiv-gesundheitsförderliche Saite an,22 die zur gleichen Zeit mit Gesundheitsbildung und -propa-
18 | Gottstein 1926, S. 47; vgl. Koppitz/Labisch 1999, S. XXXIV. 19 | Z.B. Grotjahn 1923, S. 16ff., 265, 273f. – In der Monographie von 1898 besteht beim Alkoholismus die Hauptklientel aus »Arbeitern und Proletariern«, späterhin formiert sie sich aus der »arbeitenden Bevölkerung« und den »arbeitenden Klassen unter dem Druck der sozialen Ungunst«. – Der Autor möchte aber unter dem Wort »sozial« keineswegs nur »wohltätig für die unteren Bevölkerungsschichten« verstehen; der Arzt dient mit seiner »zielbewussten sozialen Betätigung [...] dem Volksganzen und der Gesellschaft«. Als Funktionsglied des öffentlichen Lebens strebt er nicht nach unentgeltlicher ärztlicher Behandlung der unteren Volksschichten, sondern nach Umformierung des Volksganzen in einer Weise, dass es die wirtschaftliche und körperliche Integrität des Individuums zu verbürgen vermag, Grotjahn ebd. S. 7, 12. 20 | Fischer 1925, S. 255, vgl. S. 162. 21 | Gottstein 1924, S. 8ff. u.ö. – Zu einer völlig anderen Beurteilung der perspektivischen Ausweitung der fortschreitenden Sozialhygiene durch ihre Begründer kommt Tutzke unter marxistischem Blickwinkel. Nach ihm kaprizierten sich Grotjahn und Gottstein als bürgerliche Sozialhygieniker im kapitalistischen Umfeld auf die »unteren Bevölkerungsschichten«, nur A. Fischer gelangte defi nitorisch zur sonst später dem »Ausland« vorbehaltenen Doppelperspektive von individual-sozialer Schichtenorientierung und Bevölkerungsorientierung, ders. 1958, S. 80ff. – Mit der Dialektik zwischen Krankheitsmaximum in den Schichten mit Armut und Unbildung einerseits und Krankheitsminimum bei alle betreffender Bevölkerungsgesundheit andererseits wurden die Sozialhygieniker nie ganz fertig. Das erste ist im zweiten aufgehoben – im doppelten Sinn von »bewahrt« und »überwunden«. 22 | Fischer 1925, S. 5ff.
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ganda auch das sozialhygienische Repertoire Gottsteins bereichert.23 Beide Autoren, die zu den jüdischen Leistungsträgern der Sozialhygiene gehören, wechseln von der Krankheitsorientierung, die 1923 noch Grotjahns »Soziale Pathologie« dominiert, entschlossen zur Gesundheitsorientierung/Gesundheitsförderung hinüber.24
12.5 Wissenschaf tliche Ansät ze der Sozialhygiene Aus dem Voraufgegangenen ist zu ersehen, dass sich das Gedankengebäude der Sozialhygiene auf einem weitgehend gemeinsamen Erkenntnisfundament erhebt. Das schließt jedoch nicht aus, dass die drei »Architekten« bei ihrem Auf bauwerk von verschiedenen Ansätzen ausgingen. Labisch/ Tennstedt versuchen, sie nach vermeintlichen angestammten Forschungsrichtungen einzuteilen (sozialwissenschaftliche, bakteriologische, kulturhygienische Richtung).25 Gottsteins Leitstern in der Sozialhygiene war aber weniger (allenfalls indirekt) die Bakteriologie, an der er scheiterte,26 sondern eindeutig die Epidemiologie (wie mutatis mutandis für die anderen auch). Die sozialwissenschaftliche Theorie war grundlegend für alle, nicht nur für Grotjahn, der sich lange vor den Studien bei Gustav von Schmoller die Grundlinien seines sozialhygienischen Entwurfs am Modell der Volkskrankheit Alkoholismus erarbeitete. Bereits in seinem literarischen Erstling von 1898 zeichnen sich die Konturen einer eugenischen Sichtweise ab, sofern für ihn die genannte Krankheit in einem Großteil der Fälle einen erblichen Minderwertigkeitsfaktor voraussetzt. Fischers Ansatz war in Konsequenz der gemeinsamen Aufgabe die gesundheitspolitische Aktion (Mutterschaftsversicherung, Reichswochenhilfe) und die Auswertung des amtlichen statistischen Materials, nicht die Kulturhygiene, die erst im letzten Drittel seines Arbeitslebens (angeblich seit 1918, eher seit 1923) eine Rolle spielte. Als Startpunkte in der Sozialhygiene gelten uns demnach für Grotjahn Sozialwissenschaft/Eugenik, für Gottstein Epidemiologie/Bakteriologie und für Fi-
23 | Gottstein z.B. 1926, S. 6ff., 10f., 468ff., 476ff.; 1920, S. 9. 24 | Auch das Programm der praktischen Eugenik Grotjahns ist schließlich ein bevölkerungsweites Programm, dass allerdings – abgesehen von seiner Undurchführbarkeit – von der unbelegten Prämisse ausgeht, dass z.B. Beamte und Offi ziere, also Angehörige der oberen Klassen, genetisch als höherwertig einzustufen sind. – Zu den Begriffen Gesundheits- und Krankheitsorientierung s. Hurrelmann/Laaser 1998/2004, S. 22ff.; Heinzelmann 1998, S. 33, 38, 95, 157. 25 | Labisch/Tennstedt 1985, S. 140; nach Labisch 1992 sind charakteristisch für Gottstein die »sozial-epidemiologische Wendung der Bakteriologie« (neu gegenüber 1985!), für Grotjahn ein »theoretischer« Ansatz aus den Sozialwissenschaften und für Fischer die Betonung des »kulturhygienischen Aspekt(s)« zur Steigerung der Handlungskompetenz außerhalb der Medizin, ders. 1992, S. 167. 26 | Vgl. Kap. 8.3, Fußnote 12.
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scher Statistik, Gesundheitspolitik/Gesundheitsberichterstattung, später (im zweiten Anlauf) Kulturhygiene. In den Grundfragen herrschte unter den Großen eine geradezu spontane Übereinstimmung (sozialwissenschaftlich-nationalökonomischer Ansatz). Das schließt aber eine Typologie der Wissenschaftsinitiatoren nach internen Funktionen und Arbeitsschwerpunkten nicht aus. In der Sozialhygiene verteilen sich die Verdienste der Prototypen wie zugedachte Rollen: ihre formale Begründung durch Grotjahn als Fürsprecher einer Sozialen Pathologie und als Eugeniker, ihre praktische Umsetzung durch Gottstein in Form der Gesundheitsfürsorge als administrativer Intervention und ihre Vollendung im System durch Fischer als Analytiker der amtlichen Statistik. Die Präferenzen, die die drei in der angegebenen Reihenfolge in der Sozialhygiene am Ende ihrer beruflichen Lauf bahn bezeugen, sind Eugenik, Gesundheitsfürsorge/Wohlfahrtspflege und Kulturhygiene. Dabei erscheint es schon selbstverständlich, dass sich die Baumeister des großen Projekts ausnahmslos als hervorragende Schriftsteller, Lehrbuchautoren und versierte Historiker erwiesen. Affinität zur Geschichte erscheint in damaliger Zeit als Topos für den humanistisch gebildeten deutschen Gelehrten. Nach Labisch gab es seinerzeit viele »Vertreter der Gesundheitswissenschaften«, die ihre Arbeit nicht nur medizinhistorisch legitimierten, sondern historisches Material auch in die aktuelle wissenschaftliche Diskussion einbrachten.27 Tatsächlich aktivierten Sozialhygieniker wie Gottstein und Fischer Geschichte für Zwecke der Gegenwart, beuteten sie aus für Gegenwartslösungen. So bezog Gottstein seine Erkenntnis über das Verhalten der Seuchen aus der Seuchengeschichte,28 Fischer veranlassten die medizinischen Topographien des 18. Jahrhunderts zu Überlegungen über Gesundheitsberichterstattung.29 Wirkte Grotjahns literarischer Stil anfangs noch akademisch-bemüht, eigenwillig und umständlich, so gewann er in den späteren Jahren an Unbefangenheit und Brillanz. Beide jüdischen Mitbegründer, Gottstein und Fischer, leisteten Exzellentes auf historischem Gebiet, letzterer verfügte als Historiker über aussergewöhnliches Potential. In unbestrittener Weise vermochte er die Kette moderner sozialhygienischer Denkweisen in deutschen Landen auf der Linie von der Medizinischen Reform 1848 über Franz Anton Mai und Johann Peter Frank bis zu den medizinischen Topographien des 18. Jahrhunderts zurückzuverfolgen. Niemand anderem als ihm gebührte der Auftrag des Reichsgesundheitsamts zur Abfassung einer »Geschichte des deutschen Gesundheitswesens«.30 – Auch als Lehrbuchautor überragt Fischer die anderen, da es ihm in unnachahmlicher Manier gelang, die Flut sozialhygienischer Wissens- und Aufgabenstoffe im übersichtlichen System zu bewältigen. – Mit ihren Einstellungen, Ansätzen und Zielvorgaben verkörpern die drei Leitfiguren der Sozialhygiene auf wei27 28 29 30
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Labisch 1997, S. 681. Gottstein 1897. Fischer 1923, 1933 u.ö. 2 Bd. Berlin, 1933.
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ten Strecken Einheit und Richtungsvielfalt des durch sie begründeten Wissenschaftszweigs.31 Es gab allerdings auch handfeste Meinungsverschiedenheiten in der Wissenschaftsgruppe vor allem mit Grotjahn, die zu seinen Lebzeiten wie auf Absprache nicht oder nur verdeckt ausgetragen wurden. Im Kreise der Mitarbeiter und Freunde betrachtete man ihn, in »zeitgeistiger« Sprache ausgedrückt, eben als »Führer«,32 dessen Beschädigung eine solche des ganzen jungen Wissenschaftszweigs nach sich ziehen musste. In seiner Gedenkrede 1931 und später im Aufsatz 1932 äußert sich Gottstein relativ offen gegen Grotjahns – in Wahrheit wohl am ehesten auf seine Eugenik zu beziehendes – Helfersyndrom, wie dieser es 1932 formuliert,33 sein mangelndes Verständnis für die reziproke Grund-Folge-Beziehung zwischen sozialer Lage und Krankheit (s. Kap. 12.4), die auf letzteres auf bauende Gesundheitsfürsorge und gegen seinen »Staatssozialismus«.34
12.6 Ätiologisches Mehr fak torenmodell Die Begründung der Sozialhygiene als Wissenschaft vollzog sich als Aufbruch aus einer fragilen Phase der deutschen Sozialpolitik. Die Sozialversicherung richtete sich initial auf die Interessen der Industriearbeiterschaft. Ihre Ausgestaltung beanspruchte Jahrzehnte und kam erst in der Weimarer Republik zum Abschluss. Vor und nach dem Krieg überließen ihre Lücken eine riesige Volksmasse aus Familienangehörigen und anderweitig (nichtindustriell) Erwerbstätigen den gesundheitlichen Problemen ihrer sozialen Lage. Für diese vernachlässigten Volksgruppen existierte schon vor der Jahrhundertwende eine privat/halboffizielle öffentliche Handlungspraxis in Form der karitativen und kommunalen Gesundheitsfürsorge und der Wohlfahrtspfl ege. Die Sozialhygiene als Wissenschaft sah ihre Aufgabe nun darin, »ordnende Leitsätze« (Grotjahn)35 zu formulieren, um Vorstellungen über das Wesen von in bestimmten Sozialschichten vorherrschenden Mängeln und Volkskrankheiten zu ermitteln und Abwehrmaßnahmen zu organisieren und ggf. zu institutionalisieren. Das setzte voraus, dass die Auffassung von Krankheit eine radikale Änderung erfuhr. Grotjahn und seine Freunde beurteilten in diesem Sinne Krankheiten weniger symptomorientiert aus 31 | Auch Grotjahn bezog seine Theorien über Degeneration und Dysgenesie wohl oder übel auf die ganze Bevölkerung, wobei er – der Sozialdemokrat und Arbeiterfreund! – auch ohne statistischen Beleg bürgerliche und oberen Schichten (exemplarisch Beamte und Offi ziere) genetisch höher einschätzte als das Proletariat, das in größerem Ausmaß als die erstgenannten degenerierenden Einflüssen ausgesetzt war, s. Fußnote 24. 32 | Gottstein 1932, S. 11. 33 | Grotjahn 1932, S. 4, s. Kap. 6, Fußnote 13. 34 | Gottstein 1932, S. 2ff. 35 | Grotjahn 1923, S. 6 f.
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der Perspektive der betroffenen Organe oder Organsysteme (Krankheitssitz bzw. Krankheitsmorphologie von Sydenham bis zur modernen Pathologie) als vielmehr überwiegend aus der Perspektive mannigfacher sozialer Ursachen (Krankheitsätiologie).36 Gottstein war der erste erklärte Sozialhygieniker, der in seiner »Epidemiologie« von 1897 der ätiologischen Mehrfaktorentheorie eine weitere Komponente hinzufügte, indem er die Lehre von einer erworbenen oder erblichen Konstitution auf die Gesellschaft übertrug, die damit z.B. bei Epidemien im Sinne einer wechselnden Abwehrkraft abgestuft auf die pathogenen Reize reagiert.37 Mit der Vorstellung einer konstitutionell bedingten erblichen Krankheitsanlage eröffnete er in der Sozialhygiene formal auch die Diskussion über Entartung. Aber nach ihm und übrigens auch nach Fischer ist im Spektrum der Volkskrankheiten die erbliche Komponente für die Krankheitsmanifestation in der Regel nicht isoliert verantwortlich, sondern innerhalb des pathogenetischen Prozesses allenfalls im Schwarm aller jeweils hinzutretenden Faktoren. – Für Grotjahn bedeutete »Soziale Pathologie« die Lehre von den Krankheiten aus sozialer und/oder hereditärer Ursache in der Massengesellschaft, also den Volkskrankheiten, die für ihn mehr den ganzen Organismus befallende Allgemeinkrankheiten als spezielle Organkrankheiten darstellten. Schneller als Gottstein verließ Grotjahn in seinem Buch über »Alkoholismus« 1898 das Terrain der infektiösen Epidemiologie und vollzog den Übergang zur nichtinfektiösen Epidemiologie als der Lehre von den Volks- oder Zivilisationskrankheiten überhaupt, in der er alle seine pathogenetischen Vorstellungen über soziale Ausgrenzung, Lebensstildefekte, erbliche Krankheitsanlagen und Entartung sowie seine eugenischen Überzeugungen unterbringen konnte. Die ätiologische Mehrfaktorentheorie eines Grotjahn, Gottstein und Fischer ist zweifellos der Vorläufer unseres heutigen Risikofaktorenmodells, demzufolge innerhalb bestimmter aktueller Gesellschaftskonstellationen morphologische, funktionelle und erbliche Anomalien im Rahmen eines komplexen pathogenetischen Prozesses bei der Manifestation volksweiter Zivilisationskrankheiten zusammenwirken.
12.7 Volksseuchen als Herausforderung an die nationale Kultur – Bekämpfung bis zur totalen Eliminierung Die Erkenntnis der Teilhabe multipler Variabler, vor allem aber erblicher Anlagen an Entstehung und Verlauf der Volkskrankheiten stellte die Sozialhygieniker vor ein entsprechendes therapeutisches Problem. In jener 36 | Ätiologische Krankheitslehre anstelle einer morphologischen, Gottstein 1932, S. 2. 37 | Gottstein erinnert ausdrücklich – wie schon mehrfach gesagt – an Virchows Wort von den Volkskrankheiten als den den Zustand der Gesellschaft reflektierenden Warnungstafeln, ders. 1897, S. 361.
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Erkenntnis wurzelt Grotjahns »therapeutischer Nihilismus«38 z.B. gegenüber den chronischen Infektionskrankheiten: es sind zu viele und zusätzlich therapieresistente (erbliche!) Faktoren beteiligt, als dass ihnen – noch dazu im Rahmen einer Massenbehandlung – ärztliche Kunst im Grunde etwas anhaben könnte. Der Pessimismus hinsichtlich einer Heilbarkeit von Volkskrankheiten trübte den Blick und das wache Gefühl für den Aufgang der Chemotherapie (1906/10 Paul Ehrlich Salvarsan, 1920 Frederick G. Banting und Charles H. Best Insulin, 1928 Alexander Fleming Penicillin, 1935 Gerhard Domagk Sulfonamide, Tuberkulostatika), der die Individualmedizin nur kurze Zeit später rehabilitierte und mit der Bevölkerungsmedizin wieder auf gleiche Höhe brachte. Die »klassische« Sozialhygiene verharrte im Bann der chronischen Seuchen und Leiden. Mochte die Individualmedizin im Einzelfall Heilung erzielen, operierten die Volkskrankheiten als eigenständige Größen im separaten Planquadrat. Einzelerfolge der Individualmedizin konnten ihre Fortexistenz in keiner Weise berühren. Für Grotjahn und Gottstein ließen sich Bevölkerungskrankheiten (außer in Frühphasen) mit medizinisch-konventionellen Mitteln nicht bezwingen. Ausschlaggebend waren dabei für den ersten degenerative, für den zweiten epidemiologische Bevölkerungsprozesse. Selbst bei gelegentlicher individualmedizinischer Heilbarkeit regenerierten sich nach Gottstein die Bevölkerungskrankheiten aus dem Untergrund gesellschaftlicher Verwahrlosung immer wieder neu.39 Die zivilisatorische Inkurabilität verstanden die Sozialhygieniker als Anklage gegen die herrschende Kultur. Daraus ergab sich die Notwendigkeit der bevölkerungsmedizinischen Intervention mit dem Ziel der Krankheitsausrottung. Grotjahn suchte letztere in ferner Zukunft durch sozialtechnologisch-eugenische Ausrottung der Krankheitsanlage zu erreichen. Gottstein nahm die Krankheiten in ihrer Gegenwartsgestalt ins Visier: Sie lassen sich im klinischen Sinn ausradieren, wenn sie vor dem Krankheitsbereich mit Maßnahmen zur Prophylaxe und im Krankheitsbereich mit ärztlich-sozialpflegerischen Maßnahmen in konzertierter gesellschaftlicher Aktion koordiniert angegangen werden. Mit dem wirtschaftlichen und gesundheitlichen Niedergang in Deutschland während der Nachkriegszeit kam die Stunde Gottsteins. Als kommunaler Verwaltungsmediziner und staatlicher Administrator organisierte er Krankheits-Prophylaxe und -Auslöschung im System der wissenschaftsorientierten kommunalen, gegliederten Gesundheitsfürsorge. Allein dieser kollektive Apparat erschien ihm geeignet, Volkskrankheiten im Vor- oder Frühstadium zu erfassen und medizinische und ökonomische Hilfe zu koordinieren. Nur durch Fürsorge- und Wohlfahrtswesen in Einem ließ sich dem Flächenbrand wehren durch Austreten der Krankheitsherde an der Ausbruchsstelle. Es gibt Anhaltspunkte dafür, dass auch Fischer in der gleichen Richtung (prinzipielle Unheilbarkeit von Volksseuchen, speziell der [Lungen-]Tuberkulose) gedacht hat. Im Tuberkulosekapitel seines »Grundriss« zitiert er die 38 | Grotjahn 1929, S. 186, vgl. Kaspari 1989, S. 336. 39 | Gottstein 1911, S. 41ff.; vgl. ders, 1925, S. 78; vgl. 1924, S. 138.
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Meinung Brauers und Grotjahns, dass bei der »Bekämpfung der Tuberkulose als Volkskrankheit« die Heilstätten nicht dazu in der Lage seien, »stets wiederkehrende(), neue() Erkrankungen« zu verhüten. 40 Von Heilungsraten bei Lungentuberkulose ist nicht die Rede, allenfalls von Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit und vom Rückgang der internationalen Tuberkulosesterblichkeit. Am Beispiel der Tuberkulose veranschaulicht Fischer angesichts der Schwierigkeiten der Ausbreitungskontrolle die Notwendigkeit eines polypragmatischen Vorgehens in Vorsorge und Therapie. 41 Er unterstreicht die Bedeutung der auf Gottsteins Anregung erstellten Richtlinien zur Bekämpfung der Tuberkulose, die nicht nur die Fürsorge für Erkrankte und Gefährdete, sondern auch den »Schutz der Gesunden« (z.B. in Form einer bevölkerungsweiten »gesundheitlichen Durchmusterung«) erörtern. 42 Die Hauptlast der Versorgung bei einer Volkskrankheit wie Tuberkulose fällt in Kreisen und Städten auf die von Ärzten geleitete Gesundheitsfürsorge, wobei die Fürsorgebedürftigkeit (z.B. nichtversicherter Mittelstand, Studenten) die eigentliche Hilfsbedürftigkeit übersteigt. 43 Die Fürsorgestellen nehmen sozialfürsorgerische und sozialärztliche Aufgaben wahr, in ihnen verschmelzen ärztliche Fürsorge und Wohlfahrtspflege. 44 Nicht zu verkennen ist ein Ton therapeutischer Verzweiflung, wenn Fischer formuliert: »Wir brauchen nicht nur ein Tuberkulosegesetz, sondern eine Gesetzgebung gegen die Tuberkulose«. 45
12.8 Soziale Gleichheit durch gleiche Gesundheitsbedingungen Unter Hinnahme der gegebenen Gesellschaftsstruktur mit ihrer ausgeprägten ökonomischen Schichtung trachtete Gottstein nach einen Ausgleich der gesundheitlichen Nachteile, die den Massen der Bevölkerung durch soziale Zurücksetzung und Ungleichheit widerfuhren. Nach wie vor bestehen Unterschiede der Gesundheit, wie sie in Sterblichkeit und Gebrechensinzidenz zum Ausdruck kommen, der gesundheitliche Fortschritt beschränkt sich auf die wirtschaftlich besser Gestellten (ähnlich ja auch Fischer, s.o. Kap.11). Ungünstigere wirtschaftliche Lage bedeutet häufigere und längere Erkrankung, ungünstigeren Krankheitsausgang, schließlich Bahnung neuer Erkrankungen und körperlichen Verfall, wie auch umgekehrt Krankheit und Krankheitsfolgen häufig Ursachen wirtschaftlicher Notlagen bewirken und die Sorgfaltswahrung bei der Kindererziehung untergraben. 46 – Die Ge40 41 42 43 44 45 46
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Fischer 1925, S. 375. Ebd. S. 372ff. Ebd. S. 376f. Ebd. S. 374, 376f., 429ff. Ebd. S. 376, 431. Ebd. S. 378; vgl. 372ff., 376f., 429ff. Gottstein 1924, S. 434f., 465.
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sundheitsfürsorge in Gemeinschaft mit dem gesamten Heilwesen und dem klassenlosen Krankenhaus im Gesundheitswesen schaff t soziale Gleichheit in dem einen entscheidenden Punkt gleicher Gesundheitsverhältnisse. Sie berücksichtigt, indem sie nicht zuletzt Bildungsarbeit leistet, auch wirtschaftlich-soziale und »erziehliche« Aspekte. 47 Auf diese Weise findet in einer schichtengegliederten Gesellschaft soziale Gleichheit dennoch prinzipielle Anerkennung durch Gewährleistung gleicher Gesundheitsbedingungen. Ein zweiter Pfeiler des gesundheitsorientierten Gleichheitsgrundsatzes in unserer Gesellschaft ist nach Gottstein das öffentliche klassenlose Krankenhaus (in politischer oder kirchlicher Trägerschaft). Es versorgt die »Erkrankten der gesamten Bevölkerung« und deckt den Bedarf »sämtlicher Schichten«. Speziell viele Städte begnügen sich in ihren Häusern mit »eine(r) einzige(n) Klasse« und verzichten auf »Sonderabteilungen mit erhöhter Behaglichkeit«. »Streng festzuhalten« ist an dem Grundsatz, »daß der Arzt und Hygieniker Unterschiede in der Behandlung und gesundheitlichen Versorgung nach der wirtschaftlichen Lage nicht gelten lassen dürfen«. 48 Auch Fischer nimmt Gesundheit zum Ausgangspunkt, soziale Ungerechtigkeit zu brandmarken und in der Gesellschaft wenigstens prinzipiell Gleichheit zu verankern. Wie Gottstein sucht er, über Gesundheit einen für alle Bürger unabhängig von der sozioökonomischen Lage einheitlichen, grundrechtlichen Status zu konzipieren, der alle bisher Benachteiligten in die Gesellschaft integriert. Dazu fordert er 1915/16, nach dem Krieg »gesetzlich« ein Recht auf Gesundheit zu statuieren (d.h. faktisch in eine künftige neue Verfassung einzufügen), das im Sinne der Biformität von Rechten auch die Pflicht zu einer gesundheitsgemäßen Lebensweise und damit Gesundheitsförderung involviert. Gleiche Gesundheitsversorgung (prophylaktisch oder therapeutisch) ist für die Sozialhygieniker Angelpunkt und Wahrzeichen für politische Gleichheit und soziale Gerechtigkeit in einer Gesellschaft. Denn in einer aus ökonomischen Schichten aufgebauten demokratischen Bildungs- und Leistungsgesellschaft kann Gleichheit zwischen allen Bürgern nur gewährleistet sein, wenn mit der gesundheitlichen Integrität die Dignität der Person zur Anerkennung gelangt. 49
47 | Gottstein ebd. S. 465. 48 | Bei »Bemittelten« ließen sich allenfalls Unterbringung in kleineren Zimmern und teurere Verpflegung gegen Aufpreis vertreten. »Behandlung, Pflege, Versorgung, hygienische Einrichtungen aber müssen unter allen Umständen die gleichen sein; jeder Unterschied nach der Vermögenslage ist hier schlechthin untragbar«, Gottstein ebd. S. 348ff. 49 | U.a. Fischer 1916, S. 129ff., 142f. – 90 Jahre später zeigt sich in der deutschen Gesundheitspolitik, dass sozialer Gleichheits- und Gesundheitsgedanke weiter parallel marschieren. Die Gesundheitsreform kämpft mit der Schwierigkeit, soziale Gleichheit und Gerechtigkeit, die in der Massengesellschaft nur teilweise erreichbar erscheinen, zumindest noch in dem herausragenden Punkt der »Gesundheitsversorgung« zu realisieren.
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Salomon Neumann, Veteran der Medizinischen Reform der Revolutionsjahre um 1848, der 1847 als 28-Jähriger seine berühmte Programmschrift über »Die öffentliche Gesundheitspflege im Staate des Eigenthumsrechts« veröffentlichte, war durchaus noch Zeitgenosse Gottsteins und A. Fischers.50 In seinem Todesjahr 1908 war ersterer 51 Jahre, der zweite 35 Jahre alt. Beide Gelehrten standen unzweifelhaft unter dem Eindruck seiner Thesen, nach ihren eigenen Texten jedenfalls mehr, als es die Zitate seines Namens in ihren Schriften erkennen lassen.51 Mit Neumann reicht ein avantgardistischer Bogen von der »Sozialen Medizin«52 in die Sozialhygiene als Wissenschaft hinein.53 – Im Kreise der »Medizinischen Reformer« empfand man das Recht auf staatlichen Schutz der Gesundheit als Selbstverständlichkeit, die keiner breiteren Diskussion bedurfte.54 Der mit viel Ironie und jugendlichem Sarkasmus durchsetzten Umständlichkeit, mit der Neumann im 1. Teil seines Buches (»Kritisches«) das Eigentumsrecht der Besitzlosen an ihrer Gesundheit im Versteckspiel mit der Zensur aus dem Eigentumsrecht
50 | 1905 wurde er noch Ehrenmitglied der auf Betreiben Grotjahns gegründeten Gesellschaft für Sozialmedizin, Hygiene und Medizinische Statistik, Laaser 1991, S. 723. 51 | In der Zeit zwischen 1908 (dem Todesjahr Neumanns) und den 70er Jahren war Fischer in der Tat der einzige Historiker, der sich um eine ausführliche ergobiographische Würdigung des sozialmedizinischen Vordenkers bemühte. Beide Männer verband ihre Anteilnahme an der gesundheitlichen Lage des Arbeiters. Fischer selbst gelang es allerdings nicht, an den von der Familie sorgsam gesammelten Nachlass Neumanns heranzukommen. So bat er die Tochter Neumanns um einen Beitrag zu Lebens- und Wirkgeschichte des Vaters, Meyer-Neumann in: Sozialhygienische Mitteilungen 1933. S. Karbe 1983, S. 69, Anm. 6; 83f., Anm. 189. Im übrigen zeigte die einschlägige Historiographie an Neumann bis in die 70er Jahre kein Interesse. Seine gelegentliche Erwähnung täuscht nicht darüber hinweg, dass man ihn im Grunde totschwieg, a.a.O. S. 66f. 52 | Neumann führte den Begriff bereits 1843 in die Fachliteratur ein, Teleky 1950, S. 5. 53 | Neumann war möglicherweise in der »Medicinischen Reform« eine Art geistiger Antriebsmotor, wie durch Analyse des die Medizinalreform tragenden Schrifttums (980 Publikationen nach E. Ackerknecht!) noch gezeigt werden müsste. Sein Gedankengut dürfte in vorherrschendem Umfang den publizistischen Forderungen Virchows und Leubuschers zur Medizinalreform Gestalt verliehen haben, z.B. »den Forderungen nach Anerkennung des Rechts auf Gesundheit« [...], nach »Sicherung einer gesundheitsgemäßen Existenz durch den Staat, nach freier Assoziation der Ärzte bei gleichzeitiger Organisation der ärztlichen Tätigkeit durch den Staat, (nach) Bildung eines Ministeriums für öffentliche Gesundheitspflege mit einer Abteilung für medizinische Statistik sowie Gesundheitsämtern« u.a. m., Karbe 1983, S. 23, 71 Anm. 37 und 38. Auch Laaser scheint in der »Medicinischen Reform« Neumann eine Prärogative vor Virchow zuzugestehen, ders. 1991, S. 720. 54 | Deppe 1975, S. 279, vgl. Stollberg in: Schaeffer et al. 1994, S. 33.
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im Rechtsstaat ableitet,55 verdanken wir eine nach außen plakative, Aufmerksamkeit heischende Analyse des Problems. Dem armen Kranken darf man keine »schlechtere Arznei, schlechtere Kost, schlechtere Pflege, schlechtere Wohnung wie einen schlechteren Arzt« zukommen lassen. Das Prinzip einer »geizigen Barmherzigkeit«, wie es sich auch in staatlichen Sonderregelungen für Arme niederschlägt, vermag nichts gegen die krasse Ungerechtigkeit, mit der bei der Krankenbehandlung zwischen arm und reich unterschieden wird. Ein wirksameres Prinzip ergibt sich aus dem Eigentumsrecht jedes einzelnen Staatsbürgers, auch des geringsten Tagarbeiters an seiner angeborenen physischen Arbeitskraft bzw. Gesundheit. Sie ist in vielen Fällen zwar sein einziger Besitz, immer aber Produktivkraft für den Staat. Deshalb hat sich dieser die Gesundheit seiner Bürger etwas kosten zu lassen, denn nicht Barmherzigkeit ist die Materie, die Gesundheit auch zum Wohle des Staates verbürgt, vielmehr ist es die »zarte Materie der Geldsachen«. Seine These vom Eigentumsrecht, angeborenen Recht, Naturrecht, ja »Menschenrecht«56 auf Gesundheit hebt Neumann um eine Nuance über die »Medizinischen Reformer« hinaus: Ist in Form der unversehrten Arbeitskraft die Gesundheit als Grundlage des eigenen Glücks wie des Staatswohls anerkanntes Eigentumsrecht jeden Staatsbürgers gleich welchen Standes (auch ohne Besitztum), so kettet sie Arme und Reiche gemeinschaftlich an den Staat.57 – Damit deklariert Neumann Gesundheit zu einem der Punkte in der Gesellschaft, an dem Gleichheit, das problematischste der Ideale der Französischen Revolution, materialisiert werden kann.58 Gesundheit wird bei ihm zum kompromisslosen Staatsziel; sie avanciert damit, wie es neuerdings Stollberg herausgearbeitet hat, zum »höchste(n) soziale(n) Gut« und in der abgeleiteten Rechtsform zum »Mittel sozialer Integration«.59 – Formal führen die Überlegungen Neumanns hart an einen Gedanken heran, der für die heutigen Gesundheitswissenschaftler eine vordergründige Herausforderung darstellen sollte: materielles (außer einem selbst gelegenes) Mindesteigentum neben dem laufenden Einkommen als Grundlage einer Gesundheit unter einheitlichen volkswirtschaftlichen Bedingungen, materielle Sicherheit als gesundheitsstabilisierender Rahmen für gleiche Gesundheitschancen im Lebenswettbewerb. Was den »labouring poor«, den »gleitend Armen« in der Zeit der Industrialisierung vielfach fehlte, sodass auch höheres Einkommen ihre soziale Lage nicht verbesserte, waren Eigen55 | Deppe 1975, ebd. – Der satirische Grundcharakter, der dem Werk auch literarischen Wert verleiht, erscheint bisher nicht eigentlich erkannt, eine dahingehende Untersuchung ist sicherlich ein »Desiderat«. 56 | Neumann 1847, S. 70. 57 | Ders.a.a.O., S. 66ff. – Wahrscheinlich erhebt Neumann in seinem Buch 1847 zum ersten Mal die »Zielstellung einer gesunden Bevölkerung« zur Pflicht des Staates und der Gesellschaft, Lasser 1991, S. 719. 58 | Neben den beiden andern Anknüpfungspunkten »Recht vor dem Gesetz« und »Chancengleichheit« in Bildung und Beruf. 59 | Stollberg in: Schaeffer et al. 1994, S. 32.
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tum und die Möglichkeit zur persönlichen Rücklagenbildung. Wohlstand für alle hieße auch Eigentum für alle – dies erst bewirkte gesundheitspsychologisch volle Integration und stärkste Überlebensmotivation. Das Ausmaß der elementaren Übereinstimmung zwischen Neumann und den Sozialhygienikern (besonders Gottstein) erkennt man im 2. Teil des Buches (»Positives«), in dem der Autor auf dem Weg über eine »vernünftige« Medizinalverfassung den Arztberuf inhaltlich neu definiert. Die Statistik, so unzureichend sie noch ist, sensibilisiert den Arzt für die eigentlichen (sozialen) Krankheitsursachen und -(be)wirkungen und liefert ihm die Grundlage für Art und Ziel seines Vorgehens. Die Sterblichkeitsstatistik belegt, dass Armut und Unbildung die »unerschöpflichen Quellen« von Tod, Krankheit und Siechtum sind, Wohlstand und Bildung dagegen die Lebensdauer verlängern. Deshalb muss die Tätigkeit des Arztes, gestützt auf eine staatlich garantierte Medizinalverfassung, auf die Masse der Besitzlosen und Ungebildeten ausgerichtet sein. Die Hauptaufgabe des Arztes besteht also darin, die Gesundheit der »einfach« Besitzlosen oder des durch Krankheit besitzlos Gewordenen zu schützen. Der Arzt sollte nicht nur in Ausübung eines gewinnbringenden Gewerbes dem Wohlhabenden und Gebildeten, womöglich als befreundeter Hausarzt, zur Seite stehen, sondern vor allem dort in Erscheinung treten, wo es ihn bis jetzt »am wenigsten giebt«,60 in sozialen Notstandsgebieten. Von Staat und Gemeinden autorisiert, wirkt er hier mit den Mitteln der materiellen Unterstützung und geistigen Auf klärung (also mit den hauptsächlichen Verfahren der späteren Gesundheitsfürsorge). Im Rahmen der öffentlichen Gesundheitspflege übernehmen dabei Staat und Gemeinden die Kosten für die medizinische Versorgung der Besitzlosen. Die »Ungleichheit der Gesellschaftsmitglieder«61 lässt sich so wenigstens auf dem Gesundheitsgebiet grundsätzlich kompensieren.62 – Zum Zwecke der einen gleichen Gesundheit für alle ist die ärztliche Tätigkeit so zu organisieren, dass einerseits der gewerbliche Eigennutz eingeschränkt bzw. positiv instrumentalisiert, andererseits die ärztliche Freiheit gewahrt wird. Den Kompromiss findet Neumann in einem semisozialisierten Ärztekonzept, wie es später auch Gottstein und Fischer beschäftigt (s.u.). Durch Gliederung der Ärzteschaft nach zwei Prinzipien erreicht man die Bindung an ihre gesellschaftliche Funktion. Zum einen widmen sich wie bisher von Staat und Gemeinde beamtete Ärzte der öffentlichen Gesundheitspflege, die die Versorgung der Besitzlosen z.B. in der Armenkrankenpflege einschließt. Zum andern ermöglicht der Staat durch gesetzliche Bestimmungen die Bildung sich selbst verwaltender freier Ärzteassoziationen auf Kreis- und Provinzialebene, die gemeinsam mit den Behörden öffentliche Institutionen wie Gesundheitsamt, statistisches Amt, Leichenschau, Forensik und Sanitätspolizei betreiben. Die konsiliarische Tätigkeit der assoziierten Ärzte verfehlt
60 | Neumann 1847, S. 84, vgl. S. 81. 61 | A.a.O. S. 79. 62 | A.a.O. S. 78ff., 89ff., 100f.
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auf Dauer auch nicht ihre Anziehungskraft auf das »besitzende Publikum«,63 sodass schließlich private und öffentliche Gesundheitspflege miteinander verschmelzen.64 Dass die Verstaatlichung des Ärzteberufs ein Weg sein könnte zur gesundheitlichen Gleichstellung aller, war allen drei Altmeistern der Sozialhygiene bewusst. Schwierigkeiten bei der Entscheidung bereitete ihnen, die selbst lange Zeit als Ärzte in niedergelassener Praxis tätig waren, das Prinzip der freien Arztwahl. In der Frühzeit der Sozialhygiene befürworteten zunächst auch Gottstein 1908 auf kommunalem Gebiet in Großstädten, Fischer 1913 in der 1. Aufl. seines »Grundriss« wegen der »vom gesundheitlichen Standpunkt aus zu erkennenden Vorzüge« die Verbeamtung des Ärztewesens.65 Nicht zuletzt auch mit Rücksicht auf die körperschaftlichen Willensäußerungen der Ärzteschaft neigte man im weiteren Verlauf der Diskussion letztendlich zum Kompromiss. – Freie Niederlassung hat nach Gottstein zur Folge, dass sich die Ärzte in den reichen Großstädten und in den »Stadtteilen der Vermögenden« massieren. Die freie Erwerbstätigkeit verführt den Arzt dazu, »den Begüterten vor dem Armen zu begünstigen«. Das »System des Arztes als Beamter« hat sich in Deutschland bewährt bei der Bekämpfung der Seuchen und der Behandlung von Seuchenkranken und Armen. Der hauptamtliche Fürsorgearzt (als Pendant zum Individualarzt oder Heilarzt) steht ohnehin im Beamtenverhältnis. Im Lande der Kurierfreiheit wäre es aber eine »innere Unmöglichkeit«, gerade den ärztlichen Experten im Allgemeinen zur Festanstellung zu zwingen. Einen Mittelweg bietet die Gemeinschaftspraxis. Die Gleichbehandlung der Ärmeren in den Städten ist durch Krankenhäuser und Ambulatorien gesichert.66 – Eine »Sozialisierung 63 | A.a.O. S. 107. 64 | A.a.O. S. 101ff. u.ö. – Auf originelle Weise verstand es Laaser 1991, die retrospektive Bedeutung und die prospektive Aktualität Neumanns durch Vergleich mit dem modernen amerikanischen Epidemiologen Geoff rey Arthur Rose herauszustellen. Beide stimuliert ein mit Bescheidenheit verknüpftes humanistisches Engagement. Im Übergang von der kasuistischen Medizin zur Bevölkerungsmedizin gelangt Neumann zur Sozialstatistik, nach der jeder soziale Einzelfaktor in Wechselbeziehung steht zur Gesundheit der Gesamtheit; Rose entwickelt (im Gegensatz zur Hochrisikostrategie) eine Bevölkerungsstrategie, nach der die normale Mehrheit einer Population sich ändern muss, um der kranken Minorität zu helfen, die Gesundheit der Gesellschaft also als unabänderliches Ganzes fungiert. – Beide Ärzte fordern von der Sache her ein »neues Gleichgewicht« zwischen Individualmedizin und öffentlicher Gesundheit. Trotz gegenwärtiger Überlagerung des sozialen Aspekts durch den ökologischen verbleibt als internationale Aufgabe die Beseitigung der durch Unterdrückung und Kolonisierung bewirkten wirklichen Armut auf den »Entwicklungskontinenten«. Eine »Trendwende in der Lebenserwartung« und ein »gesundes Leben der Gesamtbevölkerung« in diesen Ländern gehören zweifellos virtuell zu den Idealzielen der beiden visionären Sozialmediziner, Laaser 1991, S. 719ff. 65 | Fischer 1925, S. 450. 66 | Gottstein 1924, S. 280ff.
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des Heilwesens«, so die Verlautbarung eines 1919 von Fischer geleiteten Ausschusses zum Thema, ließe sich rechtfertigen, soweit es darum geht, »allen Deutschen« zu einer guten ärztlichen Versorgung im Krankheitsfall, in der Prophylaxe und in der Gesundheitsförderung (»Pflege der Gesundheit«) zu verhelfen, was durch Mitversicherung der Familienangehörigen und durch Ausbau der Gesundheitsfürsorge »in allen ihren Zweigen« bzw. Mehranstellung von hauptamtlichen Fürsorgeärzten geschehen kann. Überhaupt sind Ärzte zum großen Teil bereits Beamte, zumindest im Sinne einer festen Besoldung. Schon aus finanziellen Gründen muss eine weitergehende Verstaatlichung des Ärztewesens gegenwärtig unterbleiben, der Weg dorthin wird aber »immer kürzer«.67 – Ohne Umschweife bekannte sich Grotjahn zur »Sozialisierung des Heilwesens«. Nach dem Krieg aktivierte er seine alten Kontakte zur Sozialdemokratischen Partei. Ihm war klar, dass er seine sozialhygienischen (sc. eugenischen) Vorstellungen leichter in einer sozialistisch-planwirtschaftlichen als in einer privatkapitalistischen Gesellschaftsform in die Tat umsetzen konnte. Die Überführung des gesamten Heil- und Gesundheitswesens einschließlich der Ärzteschaft in den »Gemeinbetrieb« beinhaltet die Ausdehnung der Sozialversicherung auf »alle Volksangehörigen«. Wie seine Gründerkollegen zeigt sich Grotjahn in der Sozialisierungsfrage gegenüber den Ärzten dann doch konziliant. Das sozialisierte Gesundheitswesen rüttelt in keiner Weise am Prinzip der freien Arztwahl. Dem Patienten bleibt freigestellt, ob er sich in der Praxis eines niedergelassenen Arztes oder in einem »Zentralbetrieb« (Fürsorgestelle, Ambulatorium, Poliklinik, Zentralberatungsstelle der Krankenkasse oder Krankenhaus) behandeln lassen will.68 Zwischen dem Programm des apodiktischeren (legislatorisch gesonnenen) Grotjahn und den Gedankengängen des eher unschlüssigen Fischer ist die prinzipielle Übereinstimmung dennoch unverkennbar.69 Die Reihe bahnbrechender Errungenschaften belegt den gesundheitswissenschaftlichen Charakter der Sozialhygiene und der Arbeit ihrer Protagonisten. Um diesen Umstand noch deutlicher zu veranschaulichen, seien abschließend die wesentlichen Innovationen in Stichworten zusammengestellt. Dauerhaft sind dies auf theoretisch-methodischem Gebiet Interdisziplinarität, Statistik, Epidemiologie auf Grundlage einer ätiologischen Vielfaktorentheorie, gesellschaftliche Zentrierung von Gesundheit im Sinne von Bevölkerungsgesundheit, kollektive und individuelle Gesundheitsorientierung, die Verwirklichung des Gleichheitsgedankens unter Bezugnahme auf ein weiträumiges Gesundheitsmodell, die Verankerung von Gesundheit 67 | Fischer 1925, S. 451ff., 457. 68 | Grotjahn 1923, S. 436ff., 442ff.; Kaspari 1985, S. 146f., 179f., 188, 191. 69 | Die Kontrovese um die Sozialisierung des Arztwesens reflektiert natürlich die Einschätzung der Rolle des Staates bei der Existenzgestaltung des Bürgers. Als Sozialdemokrat steht Grotjahn für staatliche Daseinsregulation und -kontrolle, während Gottstein und Fischer einen mehr pragmatisch-linksliberalen Standpunkt vertreten
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im öff fentlichen System mit Verkopplung von Gesundheitsfürsorge und Wohlfahrt in allen Sparten; auf medizinischem Gebiet die richtungweisende Einschätzung funktioneller Leiden, psychischer Beeinträchtigungen, der Erbkrankheiten und der chronischen Erkrankungen überhaupt, das Konzept der Risikofaktoren, die Bekämpfung der Volkskrankheiten durch großzügige Prophylaxe, systematische Früherkennung/Frühdiagnose, Vorsorgeuntersuchungen, Reihenuntersuchungen, die Förderung der Rehabilitationsmedizin; auf sozial-gesundheitsspezifischem Gebiet die Bekämpfung des Bevölkerungsrückgangs, Säuglings-, Kinder- und Jugendfürsorge, Gesundheitsförderung durch gesundheitliche Aufklärung, Verbindung von Sozialhygiene und Gewerbemedizin, die Fortentwicklung des Krankenversicherungs- und Krankenhauswesens, die Einbeziehung des niedergelassenen Arztes in die Gesundheitspflege und das Antidiskriminierungsprinzip wie bei Geschlechtskrankheiten und Alkoholismus,70 Sexualwissenschaft und Sexualreform.
12.9 Der Untergang In seinen Arbeiten zur Geschichte der Erforschung der Atherosklerose und koronaren Herzkrankheit schildert F. H. Epstein die jüngste Entwicklung auf dem Gebiet von Public Health in den USA und in Westeuropa. Bis zum 2. Weltkrieg war die Atheroskleroseforschung Domäne pathologischer, klinischer und laborchemischer Sondierung. Durch den Krieg riss der Forschungskette ab, es kam zu einer vollständigen Stagnation. In diesem Vakuum trat Ende der 40er Jahre wie aus dem Nichts die KHK-Epidemiologie auf den Plan, vergleichbar einer Nova oder dem »großen Knall«. Sie eröffnete, als Anwendung der Epidemiologie auf eine nichtinfektiöse Erkrankung und in diesem Sinne als fast noch heimatlose Methode, auf ein und demselben alten Forschungsgebiet explosionsartig eine neue Forschungsära, die zu nie geahnten Erfolgen führen sollte. Die Ursachen des eruptiven Geschehens auf leerer Wissenschaftsstätte in jenen »magischen Tagen« umgibt nach Epstein etwas Mystisches, wie es dem Erwachen kreativer Ideen stets zukommt. Von einigen wenigen entzündet, entwickelte sich bald ein von unzähligen Experten aus verschiedensten Fachbereichen in den USA und in Europa in breiter Front getragener Wissenschaftsaufschwung.71 Das von Epstein gezeichnete Bild passt auch zur Situation der drei Gründungsväter der Sozialhygiene 50 Jahre zuvor. Das Terrain der Sozialpraxis war für die Direktiven einer wissenschaftlichen Sozialhygiene zumindest präpariert. In Preußen/Deutschland erhielt sich von der »Medicinischen Reform«, den Krankenkassen, der Krankenarmenfürsorge über Bismarcks 70 | Das nicht immer durchgehalten wird, s. Grotjahns Feldzug gegen die Astheniker! 71 | Epstein 1996, S. 1755f., 1792; ders. 1990 a, S. 435f., 438ff.; ders. 1990 b, S. 705ff.
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Sozialversicherung bis zu den weit gestreuten Stellen privater, karitativer, kirchlicher und kommunaler Gesundheitsfürsorge und Wohlfahrtspflege ein beständiges, aber eher auf niedrigem Niveau stagnierendes sozialreformerisches Potential. Die Sozialhygiene als Wissenschaft trat um 1900 relativ spät in das Zeitgeschehen ein, aber mit ungestümer Produktivität und in ihrer 2. Phase in den 20er Jahren mit bemerkenswertem Erfolg. Das Ende überkam die Sozialhygiene, wenn auch nicht ganz ohne Vorzeichen, unüberbietbar abrupt. Die erbamungslose totale Liquidation der Sozialhygiene aus rassistischen und politischen Gründen durch die NS-Gewaltherrschaft schon in den ersten Tagen des Systems entbindet uns nicht davon, untergründigen Eigenursachen für einen schleichenden Verfall nachzuspüren. Ab der 2. Hälfte der »Blütezeit« in den 20er Jahren erschienen drei hochrangige Sammelwerke auf dem Buchmarkt, die einem Rechenschaftsbericht der Sozialhygiene mit Rechnungslegung und Bilanzaufstellung gleichkommen.72 Als Gipfelpunkte sozialhygienischer Kulturleistung bedeuten diese Werke auch den Schwanengesang eines Wissenschaftsfachs ohne Lobby, dem ein Weg ohne Wiederkehr bestimmt war. a) Als erste erkannten die Sozialhygieniker die Bedeutung der chronischen Krankheiten für die Volksgesundheit. Im Vordergrund standen zunächst die infektiösen chronischen Krankheiten wie Tuberkulose und Syphilis. Aber schon Grotjahn hatte 1898 in seinem Inaugurationsbuch für die Sozialhygiene den epidemiologischen Charakter des Alkoholismus als nichtinfektiöser chronischer Volkskrankheit erfasst. Sehr bald vervollständigte sich das sozialhygienische Spektrum nichtinfektiöser Volkskrankheiten vor allem durch Krankheitsbilder wie geistig-seelische Störungen und Erbkrankheiten.73 Um dieses Krankheitsspektrum mit Tuberkulose und Syphilis im Zentrum gruppierten sich die sozialhygienischen Fürsorgemaßnahmen. Akutinfektiöse Krankheitsereignisse wie Säuglings- und Müttersterblichkeit (durch Darmerkrankungen bzw. Kindbettfieber) und Kinderkrankheiten spielten daneben für die Sozialhygieniker weiter eine Hauptrolle. – Mit bedingt durch die Erfolge auf allen bearbeiteten Gebieten zerbröckelte mit der Zeit das umrissene Krankheitsspektrum, im Zuge der gesellschaftlichen Veränderungen verbrauchte es sich gewissermaßen selbst. Merkwürdigerweise entging den Sozialhygienikern Bedeutung und Ausmaß im Wandel 72 | Gottstein et al. 1925ff., 6 Bd.; Grotjahn et al. 1929 und 1930, 2 Bd.; Gottstein (Hg.) 1930, 7 Bd. 73 | Terminologisch fi ndet die Redewendung »Epidemiologie nichtinfektiöser Erkrankungen« schon in der sozialhygienischen Ära Eingang in den deutschen literarischen Sprachgebrauch (z.B. »Epidemiologie des Krebses«, Wolff 1927, S. 2030). Wagner hat also Unrecht, wenn er die Erstverwendung in der deutschen Literatur erst später bei W. Rimpau ansiedelt; im angelsächsischen Sprachbereich ist es seit den 40er Jahren üblich, von Epidemiologie der Hypertension, des Ulcus pepticum, des Karzinoms und subklinischer Krankheitsformen zu sprechen, Wagner in: Tutzke (Hg.) 1976, S. 116ff.
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des zeitgenössischen chronischen Krankheitspanoramas. Zur Ergänzung und Erweiterung ihres Krankheitsspektrums hätte die Epidemiologisierung neuer oder neu erkannter, aber klinisch schon länger erforschter chronischer Zivilisationskrankheiten wie Gefäßsklerose, Herzkreislaufkrankheiten, Hypertonie, Diabetes mellitus, andere Stoff wechselkrankheiten, Fettleibigkeit, Krebs oder Abnutzungskrankheiten des Bewegungsapparates nahe gelegen, die aber allenfalls punktuell gelegentliche Berücksichtigung erfuhren.74 Ein medizinischer Massenstoff wäre auf die Sozialhygieniker zugekommen, der wenigstens im Augenblick (unter Ausklammerung der anstehenden politischen Entwicklung) ihre Arbeitskraft hätte neu ausfüllen, sie selbst zur Aneignung neuer Methoden und zur internationalen Zusammenarbeit hätte stimulieren können.75 Die Aushöhlung des für die Gesundheitsarbeit wegweisenden Krankheitsspektrums durch Versagen einer fortschreitenden Epidemiologisierung bzw. das Versäumnis einer aktualisierenden Fortschreibung des epidemiologische Krankheitsregisters brachte die Sozialhygiene wissenschaftlich ins Defizit. Materialiter tat sich vor ihr ein Gefälle auf, die Stimmung in der Umgebung Grotjahns schien über Jahre gedrückt.76 Die epidemiologische Anordnung chronischer Krankheiten wurde in der Sozialhygiene auch dadurch korrumpiert, dass Grotjahn sie dazu benutzte, erbliche Krankheitsanlagen und ererbte »Minderwertigkeiten« (Tuberkulose, Alkoholismus, geistig-psychische Störungen) zu gruppieren, um sie eugenischen Interventionen zugänglich zu machen. So wurden durch ihn bevölkerungsmedizinische Maßnahmen mehr und mehr von der sozialen Gegenwart auf biologische Erneuerung in einer utopischen Zukunft umgestellt. Eine »Epidemiologie erblicher Minderwertigkeiten« im Zentrum musste die Sozialhygiene insgesamt in Frage stellen. b) Als wichtigste konstituierende Methode hoben die Stifter der Sozialhygiene die Statistik ins Rampenlicht. Tatsächlich verfügten sie im deutschsprachigen Raum mit Harald Westergaard, Friedrich Prinzing, Friedrich Burgdörfer, Emil Roesle, Karl Kisskalt, Franz Zizek, Wilhelm Weinberg, Karl Freudenberg, Wilhelm Winkler und Emanuel Czuber über eine ganze Reihe sich auch monographisch auszeichnender statistischer Lehrmeister. Natürlich waren die englischen statistischen Lehrbücher und Arbeiten in Deutschland bekannt (Karl Pearson, G. Udny Yule), aus den USA machte sich Raymond Pearl als Lehrbuchautor hier einen Namen. Die statistische 74 | Man konstatierte die Veränderung in den bevölkerungsmedizinischen Kulissen, zog aber kaum Forschungskonsequenzen. So wusste man natürlich, dass die Krebserkrankungen die Tuberkulose von der 1. Stelle in der Todesursachenstatistik inzwischen verdrängt hatten und dass der Diabetes mellitus »im Kommen« war, z.B. Wolff 1927, S. 2028f. 75 | Zur Entfremdung zwischen der Bevölkerungsmedizin und der Thematik der Hochschulmedizin mag die ambivalente Stellung der ersteren zur Individualmedizin und ihre Skepsis gegenüber deren pharmakologischer Präparatetherapie beigetragen haben. 76 | Z.B. Tutzke 1979, S. 74f.
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Präferenz in der angelsächsischen Epidemiologie stand aber im Gegensatz zu den Gepflogenheiten in der deutschen Fachpublizistik. Standardmethoden, wie sie in der »einzigartigen Todesursachen- und Berufssterblichkeitsstatistik Englands« traditionell angewandt werden, waren bei den deutschen Wissenschaftlern bis dato »kaum im Gebrauch«.77 Der Sachverstand in statistischer Wahrscheinlichkeitsrechnung lag bei den meisten deutschen Hygienikern und Epidemiologen der Zeit unter dem im angloamerikanischen Raum üblichen Standard.78 Nur wenige Sozialhygieniker betätigten sich als eigenständig statistisch arbeitende Epidemiologen wie Adolph Gottstein, Alfons Fischer, Georg Wolff und Hans Haustein.79 Grotjahn stellte selbst keine relevanten statistischen Berechnungen an, sondern arbeitete im Wesentlichen mit übernommenem basisstatistischen (»elementaren«) Tabellenmaterial. Die Statistik als Forschungsverfahren höherer mathematischer Observanz (mit Analyse zufallsabhängiger Variabler) wurde in der Sozialhygiene keineswegs in breitem Ausmaß etwa nach dem Vorbild der angelsächsischen Länder in erweiterter und fortentwickelter Form z.B. in der epidemiologischen Ursachenforschung eingesetzt, sondern verkümmerte in dieser Hinsicht eher zum Stief kind oder methodischen Schwachpunkt. Bezeichnend dafür ist Mitte der 20er Jahre der Versuch Georg Wolffs, der statistisch-mathematischen Forschungsmethode mit komplexeren analytischen Verfahren in der Sozialhygiene neue Geltung zu verschaffen.80 Zu einem virtuellen Neuaufstieg, vielleicht gar nach Art der von Epstein beschriebenen Nachkriegs-Epiphanie der angloamerikanischen analytischen und experimentellen Epidemiologie, fehlte es zu diesem Zeitpunkt der Sozialhygiene aber bereits an tieferer statistisch-methodischer Substanz. c) Destabilisierend wirkte gewiss auf die deutsche Sozialhygiene im Zeitalter zunehmender internationaler Vernetzung vor dem 1. Weltkrieg ihre Neigung zu introvertierter Abschottung gegenüber dem Ausland, nach Kriegsende die erzwungene Isolation durch Ausschluss von der Mitgliedschaft in internationalen Gremien. Erst 1926 wurde Deutschland in den 1919 gegründeten Völkerbund aufgenommen. Deutschland und die Sowjetunion verweigerten sich auch vor Aufnahme nicht der Mitarbeit in den Gesundheitsorganisationen. So war Grotjahn in Genf Mitglied der Kommission für den Hygiene-Unterricht,81 Benno Chajes seit 1922 Mitglied des Korrespondierenden Ausschusses für Gewerbehygiene des Internationalen
77 | Wolff in: Grotjahn 1929, S. 299, 304f. 78 | Gottstein 1937, S. 104. – Zur Lage der deutschen Medizinalstatistik in den 20er Jahre s. Tutzke 1967, S. 22f. Prinzing als einer ihrer Vertreter war Autodidakt und hielt sich mit seinen Arbeiten innerhalb der Grenzen der »niederen« Mathematik, ebd. S. 17f. 79 | Vgl. Wolff 1929, S. 304f. 80 | Wolff 1927, S. 2025ff. 81 | Kaspari 1989, S. 285, 289.
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Arbeitsamts in Genf mit »eher geringer« Möglichkeit zur Einflussnahme.82 Internationalen Kontakt hielt Grotjahn überwiegend über seine Korrespondenz zwar auch mit amerikanischen, aber hauptsächlich mit ost- und südosteuropäischen Partnern. Zu häufigeren Reisen ins europäische Ausland fand er, der »keiner lebenden Fremdsprache mächtig war«, erst »am Ende des 6. Lebensjahrzehnts« (ab 1924) Gelegenheit. Niemals ließ er dabei von seiner dilettantischen Methode des Studiums des Sozial- und Gesundheitsstatus der europäischen Nachbarvölker vor Ort durch Stippvisiten in Arbeitervierteln und Bahnhofswartesälen 3. Klasse.83 Rühmliche Ausnahme einer wissenschaftlichen Weltläufigkeit im sozialhygienischen Lager des Begründers Grotjahn bildet die mit enger fachlicher Kooperation verbundene Hospitanz Georg Wolffs bei Mayor Greenwood in London (Kap. 15). d) Eine weitere Belastung für die Einheit sozialhygienischer Forschung bedeuteten die thematischen Abwanderungen, wie sie sich aus Sonderinteressen ergaben. Epstein schildert am Beispiel der aufkommenden neuen angloamerikanischen Epidemiologie nach dem 2. Weltkrieg überzeugend, welches Ausmaß an gutem Willen und Verständnis unter den beteiligten Wissenschaftlern die gemeinsame Sache zu einer derartigen Erfolgs-Story potenzierte. Dazu musste der produktive Geist der Zusammenarbeit über die entscheidenden Jahre (»the magic of these days«) aufrechterhalten werden.84 Auch für die Sozialhygieniker war Solidarität charakteristisch, sie ist es, die die Urheber des Fachs bis heute als geschlossene Gruppe erscheinen lässt. In der Literatur ausgetragenen namentlichen Kontroversen untereinander gingen sie grundsätzlich aus dem Weg. So gelang es ihnen, während Auf bau und Umsetzung ihres Ideengebäudes in Ansatz und Ziel ihrer Arbeit über lange Zeit Einigkeit zu bewahren. Unter der gewiss starken Decke persönlicher Konformität kam es jedoch im letzten Drittel der Wirkungsgeschichte der Sozialhygiene durch thematische Abwanderungen zu einer Beeinträchtigung ihrer inneren Konsistenz. Allen Sozialhygienikern waren Vererbungslehre, Konstitutionslehre unter Berücksichtigung von Erbfaktoren und Degenerationstheorie als Bildungsthemen der Zeit ab origine geläufig, Gottstein hatte sich sogar aktiv an der Erarbeitung der Konstitutionslehre beteiligt. Aber Grotjahns zunehmende Konzentration in der Sozialhygiene auf ererbte Minderwertigkeit und Eugenik und letztendlich seine Bestrebung, Sozialhygiene gegen Eugenik als Wissenschaftsfach unter der Hand auszutauschen, schufen im Zusammenhang mit der Verschärfung der politischen Krisensitutation ein Spannungspotential von explosiver Sprengkraft. Auch A. Fischers an sich berechtigter, aber niemals voll verwirklichter Versuch einer Umwandlung der Sozialhygiene in Kulturhygiene mit moralhygienischer Prägungstendenz und sein Wechsel auf historisches Forschungsfeld, auf dem ihm imponierende Funde gelangen, wirkten in seiner angestammten Disziplin eher als erosive Absetzbewegung. 82 | Weder 2000, S. 197ff., 315. 83 | Kaspari a.a.O., S. 283, 288ff. 84 | Epstein 1996, S. 1792.
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e) Den Sozialhygienikern, allen voran Grotjahn, fehlte in vieler Hinsicht der Sinn für die gesellschafts- oder staatsethische Seite des Bedürftigenproblems, zumindest die Kraft dazu, diese Seite zu formulieren und im öffentlichen Bewußtsein voranzutreiben. Von »Betroffenheit« ist manchmal wenig zu spüren, Soziales wird gelegentlich recht geschäftsmäßig abgehandelt (positiv gesehen auch als Folge eines ganz unpathetischen Umgangs mit der Materie). – »Fürsorge« oder besser Hilfe zur Selbsthilfe auf sozialem Feld ist aber bleibende und höchste Aufgabe für Staatsbürger und Gesellschaft. Hier geht es nicht darum, Techniken zu entwickeln, wie man durch hygieneartige Reinigung Bevölkerungsgesundheit erzielt, sondern um Erfüllung einer steten sozialen Verpflichtung. Paradoxerweise ist sie es, die die jeder Bevölkerung auferlegte Gruppe von wie auch immer Benachteiligten zur Quelle der Bereicherung des Gemeinwohls werden lässt. f) Die äußeren Ereignisse in Deutschland ab 1929 gaben das Signal für das Abgleiten der Sozialhygiene aus ihrer selbstverursachten inneren Schieflage heraus in die existentielle Katastrophe. Die ökonomische Crash-Serie von 1929/31 warf die Weimarer Demokratie aufs Krankenlager. 1931 ergriff die Deutschen ökonomische Panik. Die lokal-kommunalen Wohnungs- und Wohlfahrtsprogramme erwiesen sich den Crashs in Amerika und Zentraleuropa gegenüber besonders anfällig, da sie abhängig waren von Städtischen Sparkassen und amerikanischen Anleihen. Es kam zu einer Überreaktion im Sparhaushalt mit grausamen Einschnitten bei allen Sozialausgaben.85 Die Wirtschaftskrise beraubte die Gesundheitsfürsorge in allen ihren Zweigen eines Großteils der ihr zuvor zugebilligten öffentlichen Mittel. Dieser Schlag traf das Rückgrat der Sozialhygiene. Als bedrohlichem neuen Phänomen sah sie sich zudem einem Heer von Langzeitarbeitslosen konfrontiert, mit dem in dieser Lage weder sie noch die junge Arbeitslosenversicherung fertig werden konnten. Das fundamentale Wort von der Arbeitskraft als einzigem, aber bei Gesundheit stets zuverlässigem Besitz verlor seine Gültigkeit. Der Weimarer Wohlfahrtsstaat und mit ihm die Sozialhygiene, die ihn in Gemeinschaft mit Planwirtschaftlern aufgerichtet, aber noch nicht vollendet hatte, traten den Weg an in den Abgrund des Nationalsozialismus.86 g) Parallel zur Wirtschaftskrise intensivierte sich die politische Krise. Mit den Ermächtigungsgesetzen zum Notverordnungsregime schickte sich der Reichstag zur Probe selbst in den Urlaub, Verantwortliche der ungeliebten Republik übten sich vielfach in Staatsstreich und präfaschistischer Diktatur. Bei den Nazis waren die Sozialhygieniker, die sich in Berlin und den preußischen Industrie- und Ballungszentren im Rahmen einer anspruchsvollen Gesundheits- und Sozialfürsorge in Praxen, Fürsorgestellen und Ambulatorien der sozioökonomisch Derangierten annahmen, ohne geschlossen der »Volksentartung« entgegenzutreten, vor allem aus politischen und mehr noch aus rassistischen Gründen verhasst.87 Ihre Kaltstellung war 85 | Weindling 1989, S. 441. 86 | Vgl. Weindling a.a.O., ebd. 87 | Eckart 1994, S. 285, 288.
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von langer Hand vorbereitet, nach der »Machtübernahme« ging alles sehr schnell. Das »Sozialhygienische Seminar«, in das Grotjahn 1930 sein Institut für soziale Hygiene hatte umbenennen lassen,88 wurde noch 1933 durch das Ordinariat für Rassenhygiene, das Fritz Lenz übernahm, verdrängt. Da sich in Berlin »überwiegend jüdische Dozenten [...] mit sozialhygienischen Themen beschäftigt hatten«, beschleunigte allein die Entlassung jüdischer Hochschullehrer den äußeren Zerfall eines Hochschulfachs, das mit seinem »einst breitgefächerten Angebot an sozialhygienischen Veranstaltungen« den geistigen Reichtum der Elite-Universität vermehrt hatte. Bis 1935 waren zwei Drittel der planmäßigen sozialhygienischen Lehrveranstaltungen entfallen, der Rest erlitt eine dem Geist der Zeit entsprechende thematische und inhaltliche Deformierung.89
12.10 Grotjahns Beitrag zum Niedergang Weindling,90 hier offenbar im sozialistischen Fahrwasser, plädiert in Fall Grotjahn für mildernde Umstände. Der Einsatz Grotjahns für die Eugenik war ein Spiel mit dem Feuer. Mit der Eugenik als internationaler Bewegung teilte er die Aversion gegen die »surplus people«,91 die bunte Schar der Devianten in der Bevölkerung. Das eigentliche Drohmittel in seiner Hand gegen breite Bevölkerungsschichten war die Asylierung zur Verhinderung der Fortpflanzung »Minderwertiger« und erbpathologisch Stigmatisierter. Ihm zufolge traf das Verdikt der Minderwertigkeit bis zu ein Drittel der Bevölkerung. Ein kulturell-rassistisches Vorurteil hegte er gegen die Polen. Professionellen Machtzuwachs und Medikalisierung in der Gesellschaft spannte er als Mittel für seine eugenischen Zwecke ein. Und dennoch bewegte sich Grotjahn in den Augen Weindlings »nur« im geistigen Strom der Zeit, der durch einen biologistischen Denkstil bestimmt war. Dieser resultierte aus der Darwinschen Evolutionstheorie, die im Kampf gegen die kirchliche Orthodoxie zu einer »ursprünglich befreienden Popularisierung von Wissenschaft« geführt hatte. In diesem intellektuellen Umfeld brachte sich der »Theoretiker« Grotjahn lediglich als Sprachrohr ein für weit verbreitete Meinungen der »professionellen Mittelklasse und der herrschenden Elite«. Die Eugenik besetzte als integraler Bestandteil Demographie und Wohlfahrtspflege, eroberte die Medizin und präsentierte sich als »technokratische Ideologie der Mittelklassen«.92 Die verheerende durchgängige Vorstellung von der erblichen Konstitution zur Tuberkulose, die die hauptsächliche Grundlage abgab für die Asylierungsphantasien, mildert Weindling ab durch absichtsvollen Hinweis auf eine Passage in der »Sozia88 89 90 91 92
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Weder 2000, S. 305f. A.a.O. Weindling 1984, S. 6ff. A.a.O. S. 9f.; vgl. Kühl 1997, S. 32, 247, Anm. 61. Weindling a.a.O. S. 8, 18.
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len Pathologie« von 1923. Ihr zufolge ist Tuberkulose kein überwiegend hereditäres Schicksal, sondern ein komplexer Vorgang, bei dem zwischen den Polen »Ansteckung« und »ererbter Minderwertigkeit« beim Zusammenspiel der Faktoren u.U. die soziale Umwelt den Ausschlag gibt. In dieser Szenerie erscheint schließlich der Lehrstuhl für Sozialhygiene in Berlin als Regulationsinstrument gegen eine radikale agitatorische Behandlung sozialer Probleme mit Hilfe der von Grotjahn in seinem Programm versprochenen Normierung der Verhältnisse durch Wissenschaft.93 Im Fall Grotjahn auf Protofaschismus zu erkennen, wäre nach Weindling »schlichtweg absurd«, aber auch die Diagnose eines »professionellen medizinischen Imperialismus« wirkt noch ernüchternd genug.94 Wenn Weindling mit seiner Analyse recht hätte, was wäre Grotjahn von historischer Seite noch Gravierendes vorzuwerfen? Beschwichtigend offeriert Weindling eine Neuauflage der Tutzke’schen Zeitgeisttheorie. Was so viele Menschen in ihrer Zeit national und international für richtig hielten, lässt sich einem einzelnen wie Grotjahn nicht als protofaschistisches Ideengut auslegen Aber Grotjahn reflektierte in seinen eugenischen Schriften nicht einfach einen Zeitgeist, der auch klassengebunden so homogen gar nicht existiert haben konnte. Vor allem war der »Theoretiker« Grotjahn nicht bloßer Meinungsübermittler, Sprachrohr der Meinungen zeitgenössischer Intellektueller, die sich wohl auch selbst zu artikulieren wussten, sondern er war, wie wir gezeigt haben, als Hauptvertreter der nichtrassistischen Eugenik in Deutschland der führende Meinungsbildner, der das Ideal der internationalen Eugenik, als Wissenschaft und Praxis zu reüssieren, mit tragischer Verbissenheit verfolgte. Aber die Eugenik erwarb weder auf ideologiefreiem akademischen Boden Wissenschaftsrang noch verbuchte sie Fortschritte in der Praxis.95 Die »Zeit« war nicht »reif« für das Projekt, wie Grotjahn selbst erkannte.96 Was ihn in die Nähe eines faschistischen Politbereichs rückt, ist nicht die zeitgeistige biologistische Vorstellung von der technologischen Möglichkeit einer Beeinflussung menschlicher Vererbungsvorgänge, sondern der Wille zur schnellstmöglichen radikalen und staatsmachtgestützten Realisierung einer entsprechenden »rationellen« Planung, die Art und Weise der angestrebten Ausführung in bevölkerungsweitem Umfang. Das Hauptmittel der erzwungenen Asylierung betroffener »Minderwertiger« erweckt unabweislich Assoziationen zu Herrschaftsmethoden des NS-Regimes. Der »Zeitgeist« der Weimarer Republik zielte weniger auf Manipulation der Massen, wie sie zur Durchführung der eugenischen Pläne notwendig gewesen wäre, als auf Bewahrung persönlicher Freiheit und demokratischer Rechte.
93 | A.a.O., S. 15f. 94 | A.a.O. S. 19. 95 | Zum angestrebten Status der Eugenik als Einheit von Wissenschaftlichkeit und politischer Praxis s. Kühl 1997, S. 28, 33, zum Verwissenschaftlichungsprozess s. Fußnote 113. 96 | Z.B. Grotjahn 1908, S. 397f., ders. 1926, S. 176, 258f., vgl. 186.
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Im Folgenden versuchen wir, unsere Kritikpunkte an Grotjahns Eugenik in einem abschließenden Überblick zu bündeln. 1. Erkenntnistheoretischer Kritikpunkt. – Als Eugeniker blieb Grotjahn in der Sozialhygiene isoliert und fand sich innerhalb der von ihm begründeten sozialhygienischen Schule diesbezüglich in der Rolle eines Einzelkämpfers wieder. Seine Integrationskraft versagte beim Thema Eugenik. Es gelang ihm nicht, seine Mitstreiter in der Sozialhygiene jemals zu gemeinsamer Forschung auf eugenischem Gebiet zu animieren. Seine Freunde in der Sozialhygiene leisteten ihm in der Eugenik lediglich formal Gefolgschaft, arbeiteten selbst nicht auf dem Gebiet und beschränkten sich in ihren Schriften, in der Regel auf gedrängtem Raum, auf das Stoff-Referat. Dabei sparten sie nicht mit Abschwächungen und Gegenargumenten, wie wir mit unseren Analysen ihrer Originaltexte belegen konnten.97 – Gottstein blieb es vorbehalten, aus epidemiologischer Sicht den eugenischen Ansatz Grotjahns als a priori undurchführbar und damit als lupenreine Utopie zu entlarven.98 Beides, der primär utopische Charakter der Grotjahnschen Thesen und deren erkenntnistheoretische Liquidation durch Gottstein ist der Forschung bisher entgangen. Freund und Feind behandeln stattdessen auf schwankendem Erkenntnisgrund Grotjahns Eugenik wie eine zumindest nach dem Erkenntnisstand der Zeit wissenschaftlich diskutable Theorie. Erkenntnistheoretisch war sie eben das auch damals nicht. Den meisten Sozialhygienikern der Berliner Schule in den 20er Jahren verweigert Weindling die selbstgewählte Berufsbezeichung und versieht sie fast durchweg mit dem Prädikat »Eugeniker«. Von Amts wegen wurden diese meist im öffentlichen Dienst sozialhygienisch Tätigen oft in Ausschüsse, Gremien, Kommittes entsandt, die sich mit eugenischen Fragen befassten. Aus dem Archivmaterial (Name der Kommission, Sitzungsprotokolle, Initiativanträge, Stellungnahmen u.a.) glaubt Weindling, vielfach schon aus der bloßen Präsenz und ohne Rücksicht auf taktische Situation, Weisungsbindung, Zufalls-Konstellation etc. eugenische Überzeugungen ableiten zu können. Angesichts der grundsätzlichen inneren Distanz der maßgeblichen Sozialhygieniker gegenüber Grotjahns Eugenik halten wir dieses Verfahren für einen unzulässigen Lauschangriff, dem keinerlei Beweiskraft zukommt, da er Lebensvorgänge ausspioniert ohne Bezug zum endgültigen Ergebnisstand. Das Verfahren zeigt, dass auch genaues Aktenstudium in den Archiven nicht davor bewahrt, sich auf ideengeschichtlichem Forschungsterrain zu verirren.99 97 | Im Zusammenhang mit Kritik wird der Name Grotjahn im SozialhygieneBlock aus Loyalitätsgründen meistens nicht genannt. 98 | S. Abschnitt 7.3.3, S. 145. 99 | Weindling 1989 sehr oft bei Aktenberichten über Kommissionssitzungen u.ä. – Ein klassisches Beispiel einer solcherart »Abhörwanzen«-Historie ist die Abstempelung Benno Chajes‹ als radikaler Eugeniker aufgrund von Aussagen in einer Sitzung des Preußischen Landesgesundheitsrats 1932. Chajes, im »Kompendium«
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2. Menschenrechtlicher Kritikpunkt. – Die Eugenik plädiert erstmals in der Menschheitsgeschichte für systematische Eingriffe und organisierte Kontrolle staatlicher Verwaltungen in der denkbar privatesten Sphäre des Menschen, seinem sexuellen und generativen Verhalten, zum Zwecke der Erhaltung und Verbesserung der Bevölkerungsgesundheit. In der Version Grotjahns verfolgt die Hygiene der menschlichen Fortpflanzung das Ziel, bei gegebener Indikation die Reproduktion der Betroffenen sicher zu unterdrücken. Das Regelwerk, auf dem der »rationelle Typus der Fortpflanzung« auf baut,100 kann nur funktionieren, wenn ihm eine im eugenischen Sinn veränderte Bewusstseinslage der Bevölkerung entspricht. Beratung, Empfehlung oder Verhaltensanweisung können demnach nur Vorfeldmaßnahmen sein, die die Sicherheitslücken im System nicht abdecken. Wirkliche Funktionssicherheit gewährleisten letztlich nur Zwangsmaßnahmen auf gesetzlicher Grundlage wie Anstaltsunterbringung und Zwangssterilisation. Grotjahns zeitlebens gehegte Vorliebe für Asylierungsmaßnahmen geht auf die frühen Jahre der Sozialhygiene und einige damals für letztere grundlegende Ideen zurück. Das wird deutlich in Grotjahns Monographie »Krankenhauswesen und Heilstättenbewegung« von 1908. In der Massengesellschaft kommt es zu einer Gewichtsverlagerung im Krankheitspektrum zugunsten der chronischen Krankheiten.101 Begünstigt durch äußere und innere Faktoren, entwickeln sich diese Krankheiten in der Regel zu Volkskrankheiten. Deren adäquater Versorgung hat die Errichtung von Krankenanstalten Rechnung zu tragen. Für sie sind Institutionen zu errichten, die eine adäquate Versorgung der Kranken ermöglichen. – Als Beispiel für den Sachverhalt beruft sich Grotjahn auf die Anstaltsbehandlung der Lungentuberkulose. Mit individueller Therapie lässt sich allenfalls ein kleiner Teil der an Lungentuberkulose Erkrankten im Frühstadium heilen oder bessern. Die Therapieversuche fruchten aber nichts gegen die Tuberkulose als Volkskrankheit, als solche ist sie im Wesentlichen unheilbar. Deshalb sollte man sich in den Heilstätten nicht auf das Heilen der Tuberkulose »kaprizieren«. Im Kampf gegen die Tuberkulose spielt der sozialhygienische Aspekt eine bedeutsamere Rolle als der medizinisch-therapeutische.102 Die Gedankenführung läuft hinaus auf die Schaff ung eines zweiten Heilstättentyps, des »Asyls« zur lebenslangen Unterbringung bzw. Isolierung der fortgeschritein Gegner der Sterilisation überhaupt, empfahl im vorgesehenen Sterilisierungsgesetz die Verankerung der Zwangssterilisation unter strengen Kautelen als Möglichkeit für Sonderfälle. Nach Weder handelt es sich dabei um eine diskussionstaktische Argumentation, um den Gesetzesentwurf ganz auszuhebeln und neu zu verhandeln, ders. 2000, S. 272f. 100 | Grotjahn 1926, S. 82. 101 | Dementsprechend verdrängt die physikalische Therapie z.B. in Sanatorien mehr und mehr die medikamentöse, Grotjahn 1908, S. 11, 15. In seiner Praxis behandelt er um die Jahrhundertwende vorwiegend mit Diät, Bädern, Massagen, Elektroschocks und Hypnose, Weindling a.a.O. S. 13f. 102 | Grotjahn a.a.O. S. 151ff., 157ff., 373.
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tenen Fälle. Einmal gelingt damit die Ausschaltung der wichtigsten Ansteckungsquelle, sodann verhindert die »möglichst ausgebreitete() Detention« von Kranken aus der Gruppe der 20-30-Jährigen, die das Hauptkontingent der terminal Lungentuberkulösen stellen, dank des in den »Heimstätten« zwangsläufig gegebenen Zölibats die Weitervererbung der zugrunde liegenden konstitutionellen Minderwertigkeit.103 Bei der Ausgestaltung des Krankenhauswesens in den letzten Jahrzehnten in Deutschland tendiert nach Grotjahn die Entwicklung in zwei Richtungen: zur vorübergehenden »Hospitalisierung« bei akuten oder terminalen Prozessen und zur »Asylierung« als dauernde »Verpflanzung« chronisch Kranker, Anomaler, Siecher oder Verkrüppelter in nach Krankheitsart spezialisierte Anstalten.104 Soviel Hervorragendes im Hospitalneubau geleistet wurde, soviel ist bei der Errichtung neuer Asyle nachzuholen. Im Zeitalter der zukünftig vielleicht verhütbaren, aber nach Verankerung im Kollektiv grundsätzlich unheilbaren, d.h. medizinisch-therapeutisch nicht ausrottbaren chronischen Krankheiten, Schädigungen oder Volkskrankheiten ergibt sich ein Zwang zur »Verallgemeinerung« des Asylwesens. Der Hauptvorteil der Asyle liegt in der Möglichkeit, zugleich mit der Pflege den menschlichen Artprozess sicher zu steuern. Ein flächendeckendes Asylwesen würde im internationalen Wettbewerb zu einem Vorsprung verhelfen bei der Überwindung der Entartungsgefahr durch »in humaner Form« erfolgende »Ausjätung der somatisch und psychisch minderwertigen Individuen«.105 Menschenrechte standen hoch im Kurs im demokratischen Gemeinwesen der Weimarer Republik. Grotjahn war sich dieser gesellschaftlichen Situation voll bewusst und beschreibt sie auch so. Die Bevölkerung wacht eifersüchtig über die schwer errungene »persönliche Freiheit«. In den Asylen ist die persönliche Bewegungsfreiheit stark eingeschränkt und die Lebensweise zölibatär. Im Ganzen dürfte sich Grotjahn darüber im Klaren gewesen sein, dass gegenwärtig angesichts der öffentlichen Meinung einer Anstaltsunterbringung hauptsächlich aus eugenischen Gründen patientenund familienseitig kaum jemals aus freien Stücken zugestimmt werden würde. Andererseits duldet die »Verallgemeinerung« des Asylwesens keine Lücken. In seiner literarischen Argumentation bedient sich Grotjahn von früh an, so schon in seinem Buch von 1908, einer Rhetorik, die neben nicht seltenen sprachlichen Ausfällen vor taktischen Winkelzügen, Euphemismen, Widersprüchen und dunkel grollenden Prophezeiungen nicht zurückschreckt. »Die Zukunft wird ohne Zweifel anders denken«, spätere Zeiten werden weniger »duldsam« sein gegenüber chronisch Kranken und Defekten, die Gesunde gefährden oder belasten. Ungeachtet eines »Mittelwegs« zur »weitgehenden Asylierung des [...] defekten Teiles der Bevölkerung« über die Gewährung von Unterhaltsleistungen nur in Form von Anstalts-
103 | A.a.O. S. 373ff., 381ff., 398. 104 | A.a.O. S. 367, Fußnote 1. 105 | A.a.O. S. 381ff.
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fürsorge, focussiert Grotjahn in Wahrheit von Anfang an auf eine durch gesetzliche Kautelen abzusichernde »obligatorische Detention«.106 Seine eigentliche Spezialität in der negativen Eugenik ist die Asylierung. Als Zwangsmaßnahme bevorzugt er die Asylierung vor der Sterilisation. Letztere gilt ihm als »immerhin eingreifende Methode()«, eine »so stark das Selbstbestimmungsrecht des Individuums berührende Maßnahme«, dass sie – eine rechtliche Regelung vorausgesetzt – nur gegenüber Schwachsinnigen, Epileptikern und einzelnen Psychopathen gerechtfertigt erscheint, bis zu ihrer routinemäßigen Anwendung sollten aber noch »Jahre oder Jahrzehnte« abgewartet werden.107 – Tatsächlich sind es Grotjahns Asylierungsphantasien, die erkennen lassen, in welchem Ausmaß er in der Eugenik eine Beugung der Menschenrechte in Kauf nimmt. Erschreckend ist bereits die mit 1,2 Millionen errechnete Zahl von asylbedürftigen chronisch Kranken und Defekten.108 Zur Finanzierung ihrer Heimstätten (nicht aus Gründen des Selbstwertgefühls!) sollen die Anstaltsinsassen zu Krankenarbeit herangezogen werden.109 Grotjahns eugenisches Logo ist nicht die Zwangssterilisation, sondern das »obligatorische« Asylwesen, die Sicherungsverwahrung sozial und/oder genetisch Unliebsamer aus nichtigen oder zweifelhaften Gründen mit Einweisung in einfache, billige Heimstätten kleiner und mittlerer Größenordnung,110 die an »Arbeitslager« erinnern, im Schnellverfahren im Zusammenspiel zwischen Behörden und Ärzten auf der Grundlage einer speziellen Gesetzgebung. Zweifellos erweist sich Grotjahn hier als
106 | A.a.O. S. 384, 397ff. – Einer hohlen kryptischen Redeweise bediente sich Grotjahn noch in einer Rede 1930 (zugleich unter Kundgabe seiner puristisch-perfektionistischen Denkweise), als er davon sprach, dass »erst späteren Geschlechtern« das Ziel der Sozialhygiene zuteil würde, »sich selbst überflüssig zu machen«. Auf das irritierte Auskunftsverlangen A. Fischers hin antwortete er, »Ziel« bezöge sich auf »eine Zeit, in der es gelungen ist, wenigstens den sozialen Faktor als Krankheitsursache auszuschalten« – sc. und nur noch mit dem erblich-degenerativen zu tun zu haben. Zwischen dem arglosen Fischer und dem auf Abdruck seiner Rede bedachten Grotjahn klaffen zumindest moralisch Welten. Auch Thomann zeigt sich nicht weniger ahnungslos: er versteht Grotjahns Erklärung als guten Schlusspunkt nach einer jahrelangen »Zusammenarbeit«, ders. 1979, S. 274. 107 | Grotjahn 1926, S. 201, 319. 108 | A.a.O. S. 389 einschließlich Fußnote. Die Liste der oft anstaltsbedürftigen Volksleiden scheint erweiterungsfähig: Geistes- und Nervenkrankheiten, Psychopathien, Epilepsie, Alkoholismus, Lungentuberkulose, venerische Erkrankungen, Körperdeformitäten, sensorische Defekte, erbliche Diathesen, Kriminalität, Verwahrlosung, Vagabundage und Siechtum. Nicht zu reden von den 20 Millionen Minderwertigen, denen nicht am Rande, sondern im Herzen der Gesellschaft in menschenrechtswidriger Weise Fortpflanzungsrestriktionen aufzuerlegen sind. 109 | A.a.O. S. 117ff., 177ff., 393f. 110 | Oft, z.B. a.a.O. S. 158.
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Musterbeispiel professionellen Hegemoniestrebens und als Meister gesellschaftlicher Medikalisierung.111 Abschließend verdient die um sich greifende These, Grotjahns Eugenik sei Ausdruck des damaligen Zeitgeists, eine kurze Erörterung. Sein Enthusiasmus für ein verallgemeinertes Asylwesen, den er in der Eugenik über eine 30-jährige literarische Schaffensperiode hartnäckig aufrechterhielt, trägt phänotypisch monomanische Züge. So sehr ihm als Arzt ein Gefühl für körperliche Desintegration eignete (relative Distanz zur Zwangssterilisation!), so sehr mangelte ihm jedes Verständnis für die psychische Invasivität einer lebenslangen Internierung. Unwissentlich und unwillentlich arbeitete er mit an einem technischen Modell für künftige politische Machtausübung. Grotjahns Asylmonomanie erklärt sich ebenso wenig aus dem Zeitgeist allein wie es der Nationalsozialismus tut. Den Zeitgeist dürften beide wie andere weitgehend geteilt haben. Auch in ihrem Fall kommt es darauf an, ob und wie sie vom Zeitgeiststandpunkt akklamativ oder kritisch in die Zukunft hin fortschritten.Wenn beide ein Zeitgeist verbindet, dann auf biologistischem Boden der der Technokratisierung mit dem Interesse an der Manipulierbarkeit der Massengesellschaft, der gleich gefährlich war für beider Performance. Wie wir noch nachfolgend zeigen, bestand keine Veranlassung, sich der Zeittendenz unter Missachtung der Menschenrechte auch in der Sozialhygiene zu beugen. Beide, Grotjahn und faschistisches System, schöpften teilweise aus der gleichen irrationalistischen Zeitquelle mit dem Erfolg einer Übereinstimmung in puncto Internierung unter dem Dach totalisierter Staatsmacht (s.u.).112 Auch das Phänomen einer internationalen Eugenik entlastet Grotjahn natürlich nicht. Mit dem ersten ordentlichen Lehrstuhl für Sozialhygiene eroberte er in Wirklichkeit einen solchen für Eugenik, wie es ihn so in der Welt nicht gab. Die internationale Eugenik konnte sich bis zum weltweit ausstrahlenden Desaster der deutschen Rassenhygiene nicht als Wissenschaftsfach etablieren, so viele hervorragende Wissenschaftler der verschiedensten Fachrichtungen sich ihr auch zurechneten.113 Als Lehrstuhlinhaber war Grotjahn in der deutschen nichtrassistischen Eugenik die ausschlaggebende Autorität. Während er das selbstbegründete Fach in eugenische Bevölkerungslehre umzuwandeln suchte, waren es jüdische Sozialhygieniker (Gottstein, Schlossmann, Teleky, auch A. Fischer) mit ihren Abwehrgesten gegen seine Eugenik, die zu Symbolfiguren aufstiegen einer deutschen Sozialhygiene auf dem Gipfelpunkt.
111 | Führungsanspruch der Ärzteschaft in den Asylen a.a.O. S. 375. 112 | Zeitgeist setzt sich immer aus mehreren Facetten zusammen, wie z.B. in den 20er Jahren in Deutschland aus Biologismus, Demokratiebewusstsein, aber auch Irrationalismus etc. 113 | Zu den internationalen Versuchen einer Verwissenschaftlichung (Akademisierung) der Eugenik s. z.B. Kühl 1997, S. 37ff., 74ff.
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3. Politischer Kritikpunkt. – »Rationelle« Geburtenregelung und Elternschaftsversicherung, wie viel mehr noch die invasiven Maßnahmen der negativen Eugenik wären – wie vorher schon ausgeführt und hier nur der Vollständigkeit halber wiederholt – auf Schirmherrschaft und Funktionärsapparat eines totalitären Staates angewiesen gewesen. Erfassung, Diagnose, Rubrizierung, Auswahlverfahren, Kontrolle, Schulung, Zwangsmaßnahmen bedurften unausweichlichen staatlichen Zugriffs. Schon der für die Aktion erforderliche Zeitraum von mehreren Generationen (bis zu 300 Jahren) hätte ein gleichbleibend stabiles, autoritäres politisches System vorausgesetzt. Eine »spezielle Gesetzgebung« zur Einschränkung der Freiheitsrechte im Interesse der Eugenik hätte sich in einem parlamentarisch kontrollierten demokratischen Verfassungsstaat niemals auf Dauer durchsetzen lassen. Grotjahns Vorschlag einer Sozialisierung des Heilwesens bildet im Zusammenhang mit seiner Eugenik eine wichtige Vorstufe des vorgesehenen staatlichen Dirigismus in Koalition mit der Ärzteschaft. Bevölkerungsgesundheit erreicht man nur (über Eugenik) in einem sozialisierten Gemeinwesen.114 4. Wissenschaftstheoretischer Kritikpunkt. – Der Gedanke Grotjahns und der frühen Sozialhygieniker, dass Krankheit und Gesundheit von drei Grundfaktoren abhängen – äußere Reizkonstellation, soziale Umwelt und erbliche Anlage – bestimmt bis heute medizinische und gesundheitswissenschaftliche Vorstellungswelt. Weindling hat noch einmal darauf hingewiesen, dass soziale Hygiene und Eugenik von gegensätzlichen Positionen der Gesundheitssicherung ausgehen, die erstere bedient sich eines ökologischen, die andere eines biologisch-erblichen Ansatzes.115 Unter der Annahme, den erblichen Ansatz nicht vernachlässigen zu dürfen, hat Grotjahn Sozialhygiene und Eugenik zu einer wissenschaftstheoretischen Einheit zusammengeschmiedet. In diesem Experiment hat er zur Verminderung der zerstörerischen inneren Spannung, deren zerreißende Kraft auch die anderen Sozialhygieniker verspürten, der Eugenik schließlich das Übergewicht zugemessen.116 A. Elster erkannte schon 1908 diesen Übergriff auf ein fremdes Gebiet als belastenden Störfaktor und schlug vor, das Entartungsproblem in das Wissenschaftsfach 114 | Grotjahn dachte nicht »antiliberal«, wie Kaspari beschönigend annimmt, sondern antidemokratisch-totalitär. Was ihn diskreditiert, war nicht die Eugenik an sich als international verbreitete Ideologie im Hintergrund, sondern waren seine Thesen zur ihrer nationalen zwangsstaatlichen Durchführung. Diese bedurfte im Grunde eines sozialistischen Staatswesens, wie es sich im »Volksstaat« nach Überwindung der Monarchie (»demokratische Entwicklung«) in Deutschland und anderen europäischen Ländern anbot. Kaspari schließt daraus: »Gerade der demokratische Volksstaat sollte bei Grotjahn zum Vorreiter der Eugenik werden« – eine Schlussfolgerung im krassen Gegensatz zur Sachlage, ders. 1989 (b), S. 330, 325f., vgl. Grotjahn 1926, S. 83. 115 | Weindling 1984, S. 6. 116 | Öfter, z.B. Grotjahn 1926, S. 97, 265; 1927, S. 97. – Vgl. Kaspari 1989 (b), S. 306.
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der Rassenbiologie zu verweisen. Die Sozialhygiene hätte die Fortschritte der von ihr selbst als noch unterentwickelt empfundenen Vererbungslehre abwarten, sich auf wirtschaftlich-soziale Ziele beschränken und ihren Kurs je nach wissenschaftlich-biologischem Fortschritt ausrichten können. Zu diesem Zeitpunkt war Grotjahn bereits zu eingefleischter Eugeniker, um das »Angebot« annehmen zu können. Er verpasste damit die historische Chance einer lebensnotwendigen wissenschaftstheoretischen Korrektur.117 Als Sozialhygieniker (nicht als Eugeniker) gehört Grotjahn in die Tradition der neuen deutschen Gesundheitswissenschaften. Gerade im Blick auf den hinhaltenden untergründigen Widerstand jüdischer Sozialhygieniker ist nicht ganz einzusehen, Eugenik oder gar Rassenhygiene in ihr Ahnenerbe mit einzubeziehen. Grotjahn handelte eigenwillig und nicht immer aufrichtig, als er die Eugenik der Sozialhygiene aufdrängte und diese in Gefahr brachte, von jener als Juniorpartner assimiliert zu werden. Trotz gegenteiliger Beteuerungen ihrer interessierten Vertreter war die Schnittmenge zwischen den beiden wissenschaftstheoretisch unterschiedlichen Arbeitsgebieten gering. Nur dann ergibt sich zwischen beiden eine indirekte und zudem unwahrscheinliche gedankliche Überschneidung, wenn man annehmen wollte, dass höherwertige Populationen durch ungünstige soziale Umstände an ausreichender Reproduktion gehindert und durch minderwertige Gruppen überwuchert werden könnten. An unserer Sichtweise ändert auch nichts der Hinweis auf die Konstitutionslehre Gottsteins: diese war (und ist bis heute) eine Komponentenstruktur, in der der Erbfaktor im Massengeschehen aufgrund der im Vererbungsgang wirksamen Autoregulation eine eher untergeordnete Rolle zugewiesen bekam. Eugenik und Rassenhygiene gelten uns nicht unbedingt als Konzeptionen von public health, wenn sie auch auf unter Umständen revidierbare erbliche Vorgänge in Bevölkerungen hingewiesen haben und in extremer Weise Anfälligkeiten verkörpern, die in der Moderne jeder Wissenschaft, so auch public health, anhaften dürften.118
117 | S. Tutzke 1958, S. 74. – Völlig unverständlich und unbelegbar ist die Behauptung Labischs, Grotjahns Eugenik besonders in ihrer Frontstellung gegen die Rassenhygiene sei »von Anfang an ein genuiner Bestandteil der Sozialhygiene« gewesen. Der Autor kommt prompt ins Schleudern, wenn er erklärt, die projektierten und realisierten eugenischen Maßnahmen vor 1933 gingen keineswegs ausschließlich auf das Konto einer rassistisch untersetzten Rassenhygiene, sondern »ordneten sich vielmehr völlig in das Gedankengut der Sozialhygiene und Gesundheitsfürsorge ein«, ders. 1997, S. 683. 118 | Stollberg 1994, S. 38ff. Vgl. dazu auch 7.3.3, Fußnote 195.
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Diagramm 1: Kalkulierte Zahl und Art sozialhygienischer Großveröffentlichungen 1891-1933
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Teil III E xistenzkampf im Terror der NS-Machtübernahme
13. Zur historiographischen Problematik der Ver folgung von Ärzten und Sozialhygienikern in der Zeit des Nationalsozialismus
13.1 Ärzteemigration aus Berlin und dem Reich 1933-1938 Im Jahre 1933 fand die in Deutschland in der Weimarer Zeit als Wissenschaft und Praxis erstarkte Sozialhygiene durch den Nationalsozialismus ihr abruptes Ende. Instrumentell gelang die Zerschlagung durch eine rasche Abfolge von gesetzlichen Maßnahmen, die auf rassische und politische Säuberung der gesamten Ärzteschaft durch Berufsausschluss abzielten und auf Exilierung und Eliminierung der betroffenen Standeskollegen hinausliefen. Die Rasanz der gesetzlich verbrämten Eingriffe in die ärztliche Berufstätigkeit und heuchlerische Täuschungsmanöver brachten die Emigrationsmaschinerie nur zögerlich in Gang. Es waren zunächst nur Jüngere und politisch oder rassisch-politisch Stigmatisierte, die aus Berlin prozentual zu einem höheren Anteil als aus dem übrigen Deutschland kurz entschlossen emigrierten. Die »nur« rassisch Verfolgten nahmen zunächst eine mehr abwartende Stellung ein.1 Nach Leibfried gab es von 1933-1938 »mehr als 10.000 verfolgte deutsche Ärztinnen und Ärzte, die in ihrer Mehrheit aus Deutschland noch fl iehen konnten«.2 Die Formulierung dieser Zahlenangabe verweist auf die Unsicherheit in der Erfassung. Sicher ist, dass knapp 6.000 jüdische Ärzte/-innen, die nicht selten zugleich Sozialisten waren, sich bis 1938 dem nationalsozialistischen Terror durch Flucht ins Ausland entziehen konnten und damit die größte Emigrantengruppe darstellen.3 Die Zahl der zweiten kleineren Hauptgruppe der im weitesten Sinne sozialistischen Exilärzte/-innen, die 1 | Leibfried 1982, S. 4. 2 | Ebd., S. 3. 3 | A.a.O., S. 11, 14.
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eine »gemischte« jüdisch-sozialistische Untergruppe einschließt, scheint sich bis heute aus den statistischen Unterlagen nicht exakt bestimmen zu lassen. Sie wäre in unserem Zusammenhang deshalb interessant, weil sie die in der Mehrheit politisch »affizierten« jüngeren Früh-Exilanten aus Berlin umfasst, die sich häufig Palästina4 und die USA (auch über Zwischenstationen) als ihre künftige Wirkungsstätte erwählten und von denen wir noch am ehesten annehmen können, dass einige von ihnen zuvor als Sozialhygieniker tätig gewesen waren. 3.600-3.900 deutsche und österreichische Flüchtlingsärzte wanderten zwischen 1933-1942 in die USA ein (= 60-65 % des US-Immigrationspotentials).5 Wie sich aus unseren Nachberechnungen ergibt, erfassen die in der genannten Arbeit veröffentlichten tabellarischen Statistiken mit Verteilung der Zulassungen und Ablehnungen auf die einzelnen Jahre und verschiedene Zeitabschnitte allerdings eine weit geringere Einwanderungszahl von maximal 1.300 berufsaktiven Immigrationsärzten. Das ist auch damit zu erklären, dass die deutschsprachigen asylsuchenden Ärzte/-innen in den USA nur zum Teil beruflich rehabilitiert wurden und ihre medizinische Tätigkeit wiederaufnehmen konnten, zum andern Teil umfassten sie abweisungsbedingt gezwungene oder freiwillige Berufswechsler, altersbedingt nicht mehr arbeitsfähige bzw. pensionsreife und emigrationsnah verstorbene Exilanten, die sich im statistischen Zahlenwerk en bloc kaum wiederfinden.
4 | Die Zahlen der bis zum gesetzlichen Zulassungsstop 1935 nach Palästina ausgewanderten deutschen Ärzte (errechnet nach Leibfried, S. 30, Anm. 33; zu Dornedden s.a.a.O., 15f.) betragen: 1933 ca. 109 – 110 (nach Dornedden 164, 55 Personen wären dann nicht zugelassen bzw. neuapprobiert, hinzuzurechnen sind ggf. noch einige aus der Gruppe mit unbekannt gebliebenem Auswanderungsziel); 1934 ca. 197; 1935 ca. 256, insgesamt 562 im Zielland neuapprobierte Ärzte (hierbei offenbar Neuapprobation und Zulassung gleichgesetzt, Leibfried a.a. O.). Die Zahl der in den Jahren bis 1935 tatsächlich nach Palästina eingewanderten Ärzte ist wohl höher anzusetzen, da nicht alle eine Neuapprobation bzw. Zulassung beantragt oder erhalten haben dürften. Bei der angegebenen Gesamtzahl von 929 zu diesem Zeitpunkt zugelassener deutsch-jüdischer Ärzte handelt es sich aber eindeutig um einen Rechenfehler. Die Zahl entspricht 45 % aller damals in Palästina tätigen Ärzte. Der angegebene Prozentsatz soll sich aber in Wahrheit ja nur auf den Anteil von Neuzulassungen aus Deutschland beziehen (a.a.O.). Nach dem in der Literatur mitgeteilten Zahlenmaterial entfallen in der fraglichen Zeit 30, 40 und 45 % der neuzugelassenen Ärzte in Palästina auf deutsche Emigranten, also entspricht insgesamt einer Zahl von 562 Einwanderern. Addiert man zu dieser Zahl anteilmäßig noch Flüchtlinge hinzu, deren Auswanderungsziel in der Statistik unbekannt geblieben ist, kommt man auf eine Gesamtziffer von ca 565-570 berufsausübender ärztlicher Palästinaimmigranten deutsch-jüdischer Abstammung. 5 | Pearle 1984, S. 113, 115ff.
13. Z UR
HISTORIOGRAPHISCHEN
P ROBLEMATIK
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13.2 Identifikation der emigrier ten wissenschaf tlichen Sozialhygieniker mit den Hauptemigrationszielen USA und Palästina Arbeitsziel ist es nun, aus dem Heer von 10.000 rassisch, rassisch-politisch und rein politisch verfolgten (= jüdischen, »sozialistischen« und »gemischt-stigmatisierten«) Arztemigranten diejenigen herauszufinden, die sich in der Weimarer Zeit als publizierende, wissenschaftlich orientierte Sozialhygieniker betätigt haben. Diese Aufgabe ist – bezogen auf die profilierten ärztlichen Sozialhygieniker – durch das »Biographische Handwörterbuch der deutschsprachigen Emigration 1933-1945« (Röder 1980-1983) im Rahmen des historisch Möglichen weitgehend gelöst (vgl. Fußnote 8). Einschränkungen bei der Quellenlage ergeben sich aus den Praktiken der nationsalsozialistischen Gewaltherrschaft. Die vorliegenden Statistiken, deren oft fehlerhaften und widersprüchlichen Zahlenangaben mit Skepsis zu beurteilen sind,6 und die Ärztelisten ohne Angaben der Fachrichtungen eignen sich nicht als Grundlage für die biographisch-strukturelle Recherche. Am Anfang, 1933, konzentrierte sich das Gros der ärztlichen Auswanderungwilligen auf Berlin, mehr auf politisch oder kombiniert rassisch-politisch als isoliert rassisch Verfolgte und auf jüngere Intellektuelle. Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass sich unter diesen (noch relativ wenigen) Arztemigranten eine gewisse Anzahl nach Art und Ausmaß unterschiedlich sozialhygienisch orientierter Mediziner befand, da Berlin zur damaligen Zeit als »reformpolitisches Zentrum«7 und Eldorado der deutschen Sozialhygiene galt. – Die strukturelle Recherche hat bei den Emigranten zwischen publizierenden, wissenschaftlich orientierten und nicht oder gelegentlich publizierenden, mehr praktisch orientierten Sozialhygienikern zu unterscheiden.8 – Wichtig ist die Frage nach der im Exil verbleibenden Lebenszeit, ob diese relativ wenigen Exilanten lange genug überlebten, um sich in ihren Gastländern professionalisieren und dort konstruktiv arbeiten zu können. Die Asylbewerber aus Deutschland als potentielle Konkurrenten begegneten weltweit einer sich beschleunigenden beruflichen und sozialen »Abdichtungsspirale« auf Seiten der organisierten einheimischen Ärzteschaft, die sie beruflich neutralisierte.9 Die Hauptzielländer der jüdischen und nichtjüdischen Emigranten, Palästina und die USA, in denen die Abschottungsmechanismen erst etwas später einsetzten, sind speziell in die Untersuchung einzubeziehen (»[...] die USA – neben Palästina [...] das vornehmste Einwanderungsland für Ärzte«).10 6 | Leibfried 1982, S. 14, 29, vgl. Leibfried/Tennstedt 1980. S. 76ff., 100ff. 7 | Leibfried 1982, S. 14. 8 | Die praktisch orientierten Sozialhygieniker und nicht prominente »marginale« Kollegen sind in der Regel im »Biographischen Handbuch«, das in Bd. II nur Angehörige aus den Bereichen »The Arts, Sciences, and Literature« berücksichtigt, auch nicht angeführt. Zu ihnen s. unsere Tab. 7 und 8. 9 | Ebd., 23, 21; vgl. Pearle 1984, S. 115ff. 10 | Pearle a.a.O., S. 112; Leibfried a.a.O., S. 15, 20, 30f.
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13.3 Die biographische Forschungslage zum Personenkreis speziell der wissenschaf tlichen Sozialhygiene nach 1933 In der Zeit der Hitler-Diktatur war innerhalb weniger Jahre die produktiv-elitäre Gruppe jüdischer und »sozialistischer« Ärzte aus der deutschen Geschichtsund Kulturlandschaft verschwunden – durch Elimination oder Emigration. An die Phase der Vernichtung und Vertreibung hatte sich eine jahrzehntelange Periode des Verschweigens angeschlossen. Zu Beginn der 80er Jahre des vergangenen Jahrhunderts setzte eine kleine Gruppe von Wissenschaftlern aus dem nordwestdeutschen Raum11 dazu an, 50 Jahre nach der Katastrophe das biographische Schicksal der aus Deutschland in der Hitler-Zeit vertriebenen jüdischen und sozialistischen Ärzte systematisch-historisch aufzuarbeiten. Das Forschungsinteresse richtete sich besonders auf die Emigranten unter den ärztlichen Regimeopfern und hier wieder speziell auf die Sozialhygieniker, deren sozialpolitische Modelle aus der Weimarer Zeit sich als wertvolle Alternativen möglicherweise bis heute hätten Gültigkeit bewahren können.12 Hatte man sich bisher zur Erfassung ärztlicher Massenschicksale in der Nazizeit statistischer Zahlenwerke und der zeitgenössischen bürokratischen Namenslisten (meist ohne Fachdifferenzierung) bedient, bemühte man sich jetzt um die biographische Konturierung der Opfer speziell aus dem sozialhygienischen Fachbereich (vgl. Tab. 6-9). Die Biographien sollten dazu beitragen, das Gesicht der deutschen Sozialhygiene für die Zeit, in der sie verstummte, wieder anschaulich werden zu lassen. Trotz der gewachsenen Zeitdistanz hofften die Autoren (nach dem Motto »spät, aber noch nicht zu spät«), durch biographische/autobiographische Recherchen bei überlebenden Exilanten und deren Angehörigen sowie die Auswertung von Nachlässen in den örtlichen Archiven noch eine erfolgreiche Exploration zustande zu bringen und wenigstens partiell einer exklusiven Geschichte der nationalsozialistischen Ärzteverfolgung vorarbeiten zu können.13 11 | Leibfried 1982; Leibfried/Tennstedt 2. Aufl. 1980, Kathleen M. Pearle 1984; Labisch/Tennstedt 1985. 12 | Die ostdeutsche Autorengruppe um D. Tutzke (Tutzke 1976; ders. 1981), die in den 70er Jahren die Geschichte der deutschen Sozialhygiene als Wissenschaft in Kurzbeiträgen beleuchtet, verzichtet auff älligerweise ganz auf die Darstellung ihres biographischen Ausgangs mit Kaltstellung, Vernichtung und Exilierung. 13 | Leibfried/Tennstedt (1980), S. 138: »Eine Geschichte der Vertreibung der medizinischen Wissenschaftler ist unseres Wissens nicht geschrieben worden. Sie wäre sicherlich sehr aufschlussreich für den Verlust des wissenschaftlichen Ranges der deutschen medizinischen Fakultäten, die noch in der Weimarer Zeit d a s Zentrum medizinischer Forschung in der Welt waren«. Belege für diese hohe Auffassung von der deutschen Medizin in den 20er Jahren bringen die Autoren nicht, immerhin sind an jener von amerikanischer Seite Zweifel angemeldet worden (Loewenstein 1980, Pearle 1984). Es existieren insgesamt zwei publizierte biographische Personenregister zur Geschichte der gesundheitsorientierten Sozialpolitik bis 1933 in der Weimarer Republik (Frankenthal 1981 mit 145 Namen) und in Kaiserreich/
13. Z UR
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Die involvierten Forscher demonstrierten ihre Arbeitsweise an den Biographien/Autobiographien von zwei in die USA ausgewanderten jüdischen Sozialhygienikern.14 Mit Hilfe von Interviews mit überlebenden Zeitzeugen oder im Idealfall mit dem Exilanten selbst vor Ort erstrebten sie eine Rekonstruktion des Lebens und sozialen Netzwerks, die die Bedeutung der Titelfigur und ihres Lebenswerks über die Zeiten hinweg bis in unsere Gegenwart erhellen sollte. In unserer rückbesinnnenden Vorstellung denken wir beim Begriff »der Ärzte-Emigration«, also der Exilierung eines ganzen Kontingents der deutschen Ärzteschaft während der Hitler – Diktatur, unwillkürlich an einen erzwungenen Exodus en bloc, eine eher kontrollierte Auswanderung im Kollektiv. In Wirklichkeit zerbrach das Emigranten-»Kollektiv«, wie die zitierten Autoren in ihren Dokumentationen zeigen konnten, in eine weltweite Diaspora, wo jeder einzelne sich auf sich allein gestellt sah. Auf den Schock einer »unglaublichen« politisch-ideologischen Existenzbedrohung in Deutschland folgte in der Regel der Schock einer für viele ebenfalls unfassbaren beruflichen Diskriminierung im Exilland mit Verweigerung des »sozialen Asyls« durch »selbstdefinitorische Monopolisierungsprozesse« in der konkurrenz-besorgten heimischen Ärzteschaft.15 Sehr schnell entWeimarer Republik (Labisch/Tennstedt 1985 mit 186 Namen). Für unsere Zwecke bieten die Register die Schwierigkeit, dass Ärzte in ihnen gegenüber Juristen, Ministerialbeamten, Verwaltungsangehörigen und Parteipolitikern aller Couleur eher weniger Berücksichtigung finden und dass bei den Ärzten ihr sozialhygienisches Engagement und wissenschaftliches Werk oft nur ungenau oder vage umschrieben wird. Die meisten der Genannten arbeiteten während der erwähnten Zeiträume in Berlin. – Kurzbiographien mehr am Rande und in Anmerkungsform enthalten auch 2 weitere Arbeiten der erwähnten Autorengruppe (Leibfried 1982; Leibfried/Tennstedt 1980). In dem zuletzt angeführten Buch sind auch die Listen der Krankenkassen über den Ausschluss nichtarischer und politisch suspekter Ärzte von der »Rechnungserstattung« 1933/34 in Berlin und im Reich wiederabgedruckt, die als reine Namenslisten ohne weitere Angaben zur Person oder Fachrichtung der Forschung kaum weiterhelfen. Das zitierte Buch 1982 präsentiert neben Kurzbiographien vornehmlich aus dem Kreis des »Vereins sozialistischer Ärzte« eine kleine Bibliographie von Autobiographien und autobiographische Notizen nicht erkennbar sozialhygienisch tätiger Ärzte sowie die Lebensläufe von 2 sozialhygienischen Praktikern und 2 nicht sozialhygienisch tätigen Medizinern (3 nach Palästina, 1 nach England ausgewandert). In Bezug auf die Sozialhygiene wurden die Forschungsergebnisse völlig in den Schatten gestellt durch das in der gleichen Zeit veröffentlichte zweibändige »Biographische Handbuch der deutschsprachigen Emigration 1933-1945« (Röder 1980-1983), in dem von einer internationalen Forschergruppe fast alle für eine Geschichte der wissenschaftlichen Sozialhygiene in der Emigrationszeit erforderlichen biographischen und bibliographischen Angaben kompetent und authentisch zusammengetragen sind. 14 | Löwenstein 2. Aufl. 1980; Frankenthal 1981. 15 | Leibfried 1982.
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sprach es internationaler Konvention, auch nachweislich qualifizierte Ärzte erst nach Wiederholung des Studiums/der Examina und dem Erwerb der jeweiligen Staatsbürgerschaft in den Medizinberuf zu reintegrieren, andere verblieben in berufsfremder Lohnarbeit,16 nur relativ wenigen gelang in der Emigrationsphase auf Anhieb die professionelle Rehabilitation im adäquaten Tätigkeitsbereich (vgl. Tab. 6-9). Die Katastrophe der Vertreibung, das Handicap der beruflichen Neuorientierung, Vereinsamung, zumindest zeitweilige Armut,17 fortgeschrittenes Lebensalter und Gesundheitseinbußen führten vermutlich auch in Fällen eines geglückten wissenschaftlichen Wiedereinstiegs zu einer Beeinträchigung der publizistischen Produktivität und damit der Mitgestaltung von Materien aus Public Health. In einem Zeitraum von etwa 20 Jahren ab 1914 konnte Frankenthal auf ca. 30 medizinische und sozialhygienische Veröffentlichungen zurückblicken, in den letzten 20 Jahren ihrer US-Emigration brachte sie es auf insgesamt 5 wissenschaftliche Arbeiten.18 Ebenfalls 20 Jahre ab 1914 benötigte Löwenstein, um 132 Bücher und Zeitschriftenartikel (ohne Buchbesprechungen) erscheinen zu lassen, aus seiner Exilzeit verzeichnet seine Bibliographie dagegen nur eine Arbeit 1970. Der Mann, der sich nach 1933 wie ein »angehaltener D-Zug unter Dampf« fühlte, kommt in seinem Curriculum 1980 zu der resignierenden Bilanz, er sei trotz Tätigkeit als health officer und Aktivitäten in Verbänden, wissenschaftlichen Gesellschaften und den Vereinten Nationen »in den USA nie wieder hochgekommen«.19 Das biographisch/autobiographische Verfahren der nordwestdeutschen Autoren erwies sich in der Folgezeit sehr bald als nicht weiter ausbaufähig. Schließlich kommt man zur Feststellung von »zwar aufwendigen, aber nicht durchweg ertragreichen biographischen Forschungen« und verweist auf den »im Rahmen biographischer Recherchen ausufernden Schriftverkehr«.20 Ein internationales Autorenkollektiv um W. Röder bewältigte die monumentale Aufgabe einer biographischen Rekonstruktion der terrorbedingten deutschen Emigration.21 Nach Publikation des einschlägigen Handbuchs wurde das Bremer/Osnabrücker Gemeinschaftsprojekt als praktisch hinfällig abgebrochen.
16 | Der Zahnarzt Dr. med. Ewald Fabian arbeitete bis zu seinem Tod ca. 1944 in New York als »Packer«, Löwenstein a.a.O., S. 54. – Dr. med. Salo Drucker (s. Tab. 2) musste sich mit einem Job als Hilfskraft in der Bibliothek der Columbia-Universität begnügen. 17 | Frankenthal 1981, S. 249, 252f.; Löwenstein 1980, S. 26. 18 | 1 Monographie, 4 Zeitschriftenaufsätze, a.a.O. S. 268ff. 19 | A.a.O. S. 24, 30, 61ff., 665. 20 | Labisch/Tennstedt 1985, S. VIIIf. 21 | Röder, W.; Strauss, Herbert A. (Hg.): Biographisches Handbuch der deutschsprachigen Emigration nach 1933, Band I. II/1 und II/2, 1980; 1983.
13. Z UR
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DER
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Vom Standardwerk zum biographischen Schicksal der prominenten deutschsprachigen Emigration in der Hitlerzeit erschien der Band I in deutscher Sprache 1980, die Bände II/1 und II/2 wurden 1983 in englischer Sprache aufgelegt, ein Registerband in deutscher und englischer Sprache vervollständigten das Werk. Über Ärzte, Zahnärzte, Pharmakologen und Sozialmediziner enthält es 513 Artikel mit Biographien, Bibliographien und bibliographischen Hinweisen. Aus diesen 513 Ärzten und zusätzlichen, in der oben dargestellten Literatur genannten Medizinern konnten wir 35 Namen relevanter wissenschaftlicher Sozialhygieniker herausfi ltern. Die StichwortBiographien im Handbuch sind sorgfältig erarbeitet, aufgrund der Bibliographien ließe sich das jeweilige literarische Werk nach seinem Grundmuster rekonstruieren. Die Aufgabe, den Anteil der deutschen Sozialhygieniker, die ab 1933 Deutschland verlassen mussten, biographisch und ergographisch zu identifizieren, um ggf. auch deutsche Traditionslinien in ihrer Arbeit im Exil zu verfolgen, ist damit in Angriff genommen. Seit Mitte der 90er Jahre läuft in Deutschland ein Projekt, das mit einer Serie monographischer Dissertationen zur deutschen Sozialhygiene ein Gesamtbild zu erstellen sucht, das u.U. erlaubt, aus ihm auch die Bedeutung deutscher Sozialhygieneemigranten für ihre Gastländer herauszulesen.22 Die Schwierigkeit bei der Identifi kation und Zusammenstellung von Sozialhygienikern unter den Arzt-Emigranten aus der biographischen Literatur einschließlich der Artikel des biographischen Handbuchs liegt in der Vielschichtigkeit des Fachs. Mit ihm kommen praktisch alle medizinischen Fachrichtungen in Berührung, sodass Kinderärzte, Gynäkologen, HNO-Äzte, Augenärzte, Dermatologen, Hygieniker/Bakteriologen, Psychiater, auch Anatomen als Konstitutionsforscher und Zahnärzte leicht in die Sozialhygiene einbezogen werden und sich darin auch (meist nebenamtlich) professionalisieren und profi lieren. Im Handbuch wird bei den Berufsbezeichnungen für die hauptamtlichen Sozialhygieniker, die mit der Emigration in den Fachbereich von public health hinüberwechselten, entsprechend der Multidimensionalität des Fachs weiter differenziert zwischen Betitelungen wie social hygienist, hygienist, city physician, public health official, public (medical, health) administrator, government consultant, specialist in preventive (occupational, social, environmental) medicine, specialist in health care, specialist in sports medicine and physical education, sexologist, medical statistician und epidemiologist. Im Übrigen ist jede Biographie und Bibliographie der angeführten prominenten Ärzte und Fachärzte darauf hin anzusehen, inwieweit ein sozialhygienisches bzw. public health-Engagement vorliegt. Für die Zwecke unserer Arbeit scheiden alle (auch heute namhaften) Gesundheitswissenschaftler aus, die als Kinder, Studenten oder Jungärzte während der Zeit des Nationalsozialismus emigrierten, ohne dass es ihnen möglich gewesen wäre, Struktur und Praxis der deutschen Sozialhygiene noch selbst aus eigener Anschauung kennenzulernen, die sich also erst im Emigrationsland dem Fach Public Health zugewandt haben. 22 | Antoni 1997, S. 302.
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Lediglich 0,3 % der 10.000 Arzt-Emigranten sind als wissenschaftlich tätige oder wissenschaftlich orientierte Sozialhygieniker erfassbar. Hinsichtlich der beruflichen Aktivitäten der von uns z.T. in Tab. 6-9 aufgelisteten 35 wissenschaftlichen Sozialhygieniker im Exil bietet sich ein recht unterschiedliches Bild. 18 von ihnen konnten in hauptamtlichen Fachpositionen ihre Karriere fortsetzen, davon 10 als akademische Lehrkräfte, 8 in Beratungs- und Verwaltungsfunktionen. 3 Fachvertreter betätigten sich weiter nebenamtlich-publizistisch auf dem Fachgebiet. – Dagegen blieb 10 Experten aufgrund von Krankheit, Alter bzw. der ihnen noch vergönnten Lebenszeit im Exil oder ihrer beruflich-sozialen Stellung die Fortführung ihrer wissenschaftlich-sozialhygienischen Tätigkeit im Wesentlichen versagt. 1 Sozialpolitiker und 3 Wissenschaftler kehrten unmittelbar nach dem Krieg (1947/48) nach Deutschland zurück, die letzteren als Hochschullehrer. – Das durchschnittliche Lebensalter aller von uns erfassten Sozialhygiene-Emigranten betrug 1933 44,3 Jahre. Die Frühasylanten von 1933 hatten zu diesem Zeitpunkt ein Durchschnittsalter von 43 Jahren erreicht, die Spätasylanten aus den Jahren 1938/39/45 entschlossen sich zur Emigration in einem Durchschnittsalter von bereits 58 Jahren! Rechnet man zum durchschnittlichen Emigrationsalter noch die Zeitdistanz von ca. 5 Jahren zwischen Ankunft und erneuter Professionalisierung im Exilland hinzu, die soziale Adaptation, Studium, Examina und Naturalisation erforderten, so ergibt sich für die Frühexilanten 1933 bei Wiederaufnahme der Karriere ein Durchschnittsalter von 48 Jahren, bei den Spätexilanten ein solches von 63 Jahren. Lässt sich anhand der Arbeit der Emigranten in ihren Zielländern ein Bild der deutschen Sozialhygiene zeichnen, das einen Eindruck von den von ihr ausgehenden Wirkungen über das Jahr 1933 hinaus zu vermitteln vermag? Ist es möglich, in Public Health-Konzepten der Kriegs- und Nachkriegszeit deutsche sozialhygienische Traditionslinien herauszuheben, wie sie über das Gedankengut von im Gastland in Wissenschaft und Praxis erfolgreichen Emigranten hätten potentiell zur Geltung gebracht werden können? Gelang es den wenigen, dazu diasporal verstreuten Exilanten, aus ihrem hergebrachten Können und Wissen in den Gastländern auf ihren Arbeitsgebieten wichtige Anstöße zu setzen? Oder ist es nicht eher wahrscheinlich, dass ihre Aktivitäten vom örtlichen, mit den nationalen Verhältnissen kompatibeln Wissenschaftsbetrieb absorbiert wurden? Einigen wenigen jüdischen Exil-Autoren ist es gelungen, in die USA oder nach Palästina zu emigrieren und dort, weil es ihre »Exilzeit« zuließ, in entsprechenden Positionen weiter zu publizieren (Frankenthal, Goldmann, Korach [George], Teleky und Wolff ). Andere wie Löwenstein in den USA und Hodann in Schweden erlebten positionsbedingt einen verheerenden Einbruch ihrer literarischen Produktivität. Wir werden im Folgenden auch unter ergographischem Gesichtspunkt auf das Emigrantenschicksal von vier jüdischen Sozialhygienikern eingehen. – Im übrigen erscheint es uns zunächst als dringendste Notwendigkeit, das eigentliche, den Grundstock bildende Traditionsgut, von dem alle Emigranten zehrten, soweit sie ihre sozialhygienische Tätigkeit im Gastland fortsetzten, aus dem m.E. bis heute nicht ausreichend gewürdigten
13. Z UR
HISTORIOGRAPHISCHEN
P ROBLEMATIK
DER
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Quellenmaterial der Epoche in den fachwissenschaftlichen Monographien, Lehrbüchern, Leitfäden, Aufsätzen, Jahresberichten und Handbüchern problemgeschichtlich näher zu erkunden.23
23 | Als gedruckte Hauptquellen zur Erstinformation und für Eingangsrecherchen stehen zur Verfügung: – Publikationen und Statistiken (deutsche: Artikel von Hans Dornedden, Verzeichnisse der Deutschen Krankenkassen; jüdisch-israelische: Verlautbarungen der Reichsvertretung der Juden in Deutschland, Mitteilungen von Fritz Aaron; nationale: s. Leibfried 1982, S. 29ff. Anm.; amerikanische: s. Pearle 1984, S. 131ff. Anm.); – Kurz-Biographien und Personenregister (vor allem Labisch/Tennstedt 1985, Bd. 2, S. 376ff.; Frankenthal 1981, S. 306 ff; Löwenstein 1980, S. 50ff.; Leibfried/ Tennstedt 1980, S. 377ff.; Leibfried 1982, bes. Text-Apparate); Wieler 1995; – Autobiographien (Loewenstein 1980, Frankenthal 1981, Hagen 1978); – Handbücher, vor allem Roeder/Strauss (Hg.): Biographisches Handbuch der deutsch-sprachigen Emigration nach 1933, BHB), 3 Bd., 1980-1983. Zur weiteren Quellensuche neben Archiven in Bund und Ländern am ehesten als Hauptarchiv Leo Baeck Institute New York und Jerusalem.
Blumenthal – Onk Boenheim – Int Bonhoefer – Ps Chajes Christian Coerper v. Drigalski Fetscher Gaffky Goldmann Grotjahn v. Gruber Hueppe Kaup Kirchner Krautwig Kuhn Lent Lentz Mosse Oettinger Pinkus – D Reiter Rott Rubner – Phy Schlossmann – K Spiethoff – D Staemmler Teleky – K Wolff
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30
Beyer 1947, 62 J. Hagen 1949, 56 J. Ickert 1943, 60 J. Klose 1935, 48 J. Redetzky 1947, 46 J. Schröder 1938, 45 J.
»Späthabilitierte« Sozialhygieniker
Sozialhygieniker als Eugeniker/Rassehygieniker Fischer, E. Grotjahn Krohne Kuhn Lenz Muckermann Rüdin
Publizierende »Praktiker« und Medizinalbeamte
Bejach Beyer Blaschko Bluhm Bornstein Fischer, A. Frankenthal Frey Gottstein Hamburger Hamel Haustein Hirschfeld Hodann Löwenstein Peyser Prinzing Redeker Roeder Salomon, W. Schopohl Tugendreich Wendenburg Bejach Benjamin Beyer Blumenthal Boenheim Chajes Czellitzer v. Drigalski Drucker, Alex. Drucker, Salo Fetscher Frankenthal Goldmann Hamel Haustein Hodann Korach Löwenstein Moses Muckermann Oettinger Redetzky Roeder Schmincke Schopohl (Weiss PsyA) Weiss Wolff
Berufsverbot, Entlassungen, vorz. Pension., gewalts. Tod Blumenthal Boenheim Chajes Drucker, Alex. Frankenthal Freudenberg Gebhard Goldmann Hodann Kantorowicz (Gordon) Korach (George) Lewinsohn Löwenstein Roeder Salomon, Alice Teleky Tugendreich Weiss – PsyA Wolff
Emigranten
1937-1964 19381945-1953 19371939-1957 1938-1948 1938-1967 1935-1952
Brasilien USA Palästina USA USA NY USA USA NY USA
ca. 1935-1941 n. 1933-1945 1933-1938 1940-1956 1937-1976 -1947 -1985 1937-1970 1940-1946 1938-1977 (?)
Exilzeit im Zielland (FettdruckZahlen= längere Exilzt)
USA
Lettland USA Palästina USA USA Niederlande USA USA Schweden USA
Zielland
HISTORIOGRAPHISCHEN
P ROBLEMATIK DER
Tabelle 6: Übersicht über die wissenschaftlich arbeitenden deutschen Sozialhygieniker im 1. Drittel des 20. Jh.; überwiegend Berlin; Berufsverbote und Emigration 1933 mit Zielländern und Exilze it. – In den Rubriken auch Mehrfachnennungen. Abkürzungen: D = Dermatologie; Int = Innere Medizin; K = Kinderheilkunde; Onk = Krebsforschung; Phy = Physiologie; Ps = Psychiatrie; PsyA = Psychoanalyse. – Fettdruck = jüdischer oder teiljüdischer Herkunft oder Mischehe
Habilitierte Sozialhygieniker/Hygieniker (auch Titularprof.) (überwieg. in Hygiene)
Nr.
13. Z UR V ERFOLGUNG | 333
Bornstein, Karl
5
Frankenthal, Käthe
Frey
Goldstein, Margarete
Gottstein
Gueth
9
10
11
12
13
14
+
+
+
+
+
+
+
+
Arzt bei der Sittenpolizei Berlin
1919-1933
1920-1922 1922-1933
Amts-/ Berufszeit
Schulgesundheitspflege
Infektionskrankheiten, Arbeitsmedizin, ö. Gesundheitswesen
Ehe- und Sexualberatung, Geburtenkontrolle, Schulgesundheitspflege
Rettungswesen
Schulgesundheitspflege
Gesamte Sozialhygiene Geschichte des Gesundheitswesens
Suchtkrankenfürsorge
Hygienische Volksbelehrung Blätter für Volksgesundhtspflege
Alkoholintoxikation, Frauenfürsorge, Rassenhygiene
Geschlechtskrankheiten
1914-1927
1906-1919 1919-1924
1923 (?)1933
1920-1937
1928-1933
1920-1930
1927-1933
1902-?
1902-1933
1917-1933
1919-?
Berufsdermatosen, venerische Krkht. 1888-1922
Gewerbehygiene, Sozialhygiene
Gesundheitshaus Kreuzberg
Sachgebiete
Stadt(medizinal)rat, Geh. San.rat Ministerialdirektor Gesamte Sozialhygiene (Leitung des preuß. Gesundheitswesenswesens) Hebammen-, Tuberkulose und Krüppelfürsorgegesetz Akademien für Sozialhygiene
Stadtschulärztin Neukölln
Abteilungsleiter im Reichsgesundheitsamt
Stellvertr. Stadtärztin, Schulärztin Neukölln
Direktor des Rettungsamts Berlin
Schulärztin Gesundheitsamt Prenzlauer Berg
Niedergelassener Arzt für Innere Medizin Karlsruhe
Stadtarzt Wedding
Niedergelassener Arzt Berlin
Mitarbeiterin K.-W.-Inst. für Biologie Berlin
Niedergelassener Dermatologe Berlin
Ministerialbeamter
Stadtarzt Nowawes bei Berlin Stadtarzt Kreuzberg
Stellung
USA (NY)
Emigration/ Zielland
1920-1937
Exilzeit
Tabelle 7: Übersicht über die biographisch erfassten, wissenschaftlich und/oder praktisch orientierten nichthabilitierten Sozialhygieniker im ersten Drittel des 20 Jh., überwiegend Berlin
Flake, Minna
Frank, P.
8
Drucker
Bluhm, Agnes
4
Fischer, A.
Blaschko
3
7
Beyer
2
+
Sozialhyg Publikat.
AL S
6
Bejach
Name
1
Nr.
334 | S OZIALHYGIENE G E SUNDHEIT SWIS SENSCHAF T
Hamel
Hilferding
Hirschberg, Felix
Hirschfeld, Magnus
Hodann
Kahle, Dr. phil.
Klingelhöfer, Katharina
Löwenstein
Marx, N.
Meyer-Brodnitz
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
+
+
+
+
+
+
+
Sozialhyg Publikat.
Schwangeren- u. Säuglingsfürsorgen
Wirtschafts- und Sozialpolitik
Sozialhygiene Gewerbehygiene
Allgemeinmedizin, Statistik
Geschlechtskrankheiten Prostitution, Säuglingsfürsorge
Sexual- und Eheberatung Geburtenregelung
Gesundheitsfürsorge Gesundheitshaus Kreuzberg
Sexualberatung, Sexualaufklärung
1924-1933
1922-1925 1925-1933
? - 1936
1921-1925
1919-1933 1922-1933
1919-1930
1920-1924
1920-1924
Palästina
Frankreich
USA
Schweden
Frankreich
Südamerika
Frankreich
Emigration/ Zielland
1933-1962
1938-?
1933-1946
1930-1935
? - Ende der 50`er Jahre
1933-1941
Exilzeit
P ROBLEMATIK
Ambulationsarzt Berlin
Ambulatoriumsarzt Berlin
Kommunalarzt Nowawes bei Berlin Leitender Stadtarzt Lichtenberg
Stadtschulärztin Neukölln
Bezirksbürgermeister und Dezernent für Gesundheitswesen Kreuzberg
Leiter Sexualberatungsstelle Inst. für Sexualwissenschaft Stadtarzt, L. Ges.-amt Reinickendorf
1920-1924 1924-1933
Amts-/ Berufszeit
Tuberkulosebekämpfung 1918-1926 Volksheilstätten, ö. Gesundheitswes. 1926-1933
Haut- und Geschlechtskrankheiten
Sachgebiete
Institut für Sexualwissenschaft mit Sexualbera- Sexualwissenschaft tungsstelle
Stadtarzt Tempelhof
Reichsfinanzministerium
Reichsinnenministerium Leiter d. Reichsgessundheitsamts
Sozialhygien. Berater des DRK Niedergelassener Dermatologe
Stellung
HISTORIOGRAPHISCHEN DER
Tabelle 8: (Fortsetzung) Übersicht über die biographisch erfassten, wissenschaftlich und/oder praktisch orientierten nichthabilitierten Sozialhygieniker im ersten Drittel des 20 Jh., überwiegend Berlin
Haustein
Name
15
Nr.
13. Z UR V ERFOLGUNG | 335
Silberstein
Weiss
Wendenburg
34
35
36
+
+
+
+
+
+
+
+
Leiter Gesundheitsamt Gelsenkirchen
Akademieabschluss Sozialhygiene Ambulatoriumsarzt
Stadtmedizinalrat Neukölln
Ministerialreferent, -rat, -direktor (Preußen) Leiter des RGA – Institut für öffentliche Hyg.
Stadtrat für Gesundheitswesen Neukölln
Niedergelassener Chirurg
Stadtarzt Treptow
Stadtarzt Mühlheim, Kreisarzt Mansfeld Reg. U. Medizinalrat Osnabrück Medizinaldezernent PP Berlin
Bahnarzt
Ltd. Arzt Geschlechtskrankenstat. Städt. Obdach Berlin, Frauenkrankenhaus Reinickend.
Stadtrat/Stadtarzt Charlottenburg Lehrer Sozialhyg. Akademie Charlottenburg
Stellung
Gesamtes ö. Gesundheitswesen
Sozialhygiene Innere Medizin
Krankenhauswesen, Gesundheitsvorsorgeeinrichtungen, Säuglingsfürs.
öffentliches Gesundheitswesen
Sexual- und Eheberatung Geburtenregelung
Sozialpolitik, Gesundheitspflege
Ambulatorien, Tagesheime für Kinder arbeitender Mütter
Tuberkulosefürsorge Gesundheitsverwaltung ö. Gesundheitsdienst
Medizinische Statistik
Geschlechtskrankheiten
Sozialhygiene, Anthropometrie
Sachgebiete
1924-1929 1929-1933
1927-1933
?-1938
1923-1933
1920-1926 1926-1930 1930-1946
1895-1929
1908-1933
1920-1933
Amts-/ Berufszeit
Frankreich
China
Palästina
Emigration/ Zielland
1930-1935
1939-1942
Exilzeit
Tabelle 9: (Fortsetzung) Übersicht über die biographisch erfassten, wissenschaftlich und/oder praktisch orientierten nichthabilitierten Sozialhygieniker im ersten Drittel des 20 Jh., überwiegend Berlin
Schopohl
33
Roeder
30
Rosenthal
Redeker
29
Schmincke
Prinzing
28
32
Pinkus
27
+
Sozialhyg Publikat.
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31
Oettinger
Name
26
Nr.
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14-17 E xemplarische biographische Profile der jüdischen Sozialhygieneemigration seit 1933
14. Benno Chajes (1880-1938): Altmeister der Kriegs- und Nachkriegsgeneration der Sozialhygiene – Vom Hochschullehrer zum Aufbaupionier im E xil
Personaler Typus: Mediator zwischen den Fachzweigen Sozialhygiene und Gewerbehygiene. Betrieb Feldforschung am Arbeitsplatz, förderte die Berufskunde als Basis der Gewerbehygiene und damit die Einbindung der Gewerbehygiene in die Prinzipien der Sozialhygiene. Auch als Praktiker Universalist und Pragmatiker, besonders angesichts der Herausforderung des Exils. Weitere Hauptgebiete: Gesundheitssystem und -verwaltung.
14.1 Arzt und Hochschullehrer in Berlin bis 1933 Benno Chajes (Chajot), geb. 1880, darf man den Ehrentitel eines »Altmeisters« der Sozialhygiene zuerkennen, trotz der eher jugendlichen Aura, die den 1938 in der Schweiz mit 58 Jahren relativ früh Verstorbenen als Hochschullehrer in Berlin und als Fortgestalter des Gesundheitswesens in Palästina umgibt. Die Bezeichnung »Altmeister« gebührt ihm zumal auch als Verfasser des »Kompendiums der Sozialen Hygiene«, das zwischen 1921 und 1931 in 3 Auflagen erschien, vor allem wenn man bedenkt, dass die Ära der Sozialhygiene neben den lexikalischen Handbüchern zwar unzählige Publikationen, aber insgesamt nur drei den Stoff übersichtlich darstellende Lehrbücher hervorgebracht hat. Ein erstes Kurzlehrbuch für seine Vorlesungstätigkeit als Dozent für Gewerbehygiene war bereits 1919 erschienen. Nach dem Studium der Medizin in Freiburg und Berlin arbeitete er im
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Anschluss an seine Promotion von 1903-1911 als Klinikarzt in Berlin mit einer kurzzeitigen Unterbrechung 1907 durch eine Tätigkeit am Hospital St. Louis in Paris. Wegweisende klinische Lehrer in Berlin waren der Dermatologe/Venerologe Alfred Blaschko und der Urologe Hans Heinrich Goldschmidt. 1911 eröffnete Chajes als Facharzt für Haut- und Geschlechtskrankheiten und Urologie eine Privatklinik in Berlin-Schöneberg. Wie sein Freund und Mentor Alfred Grotjahn bekannte sich Chajes politisch zur Sozialdemokratie und erwies sein parteipolitisches Engagement als SPD-Abgeordneter in der Stadtverordnetenversammlung in Berlin-Schöneberg (während seiner Frühzeit als praktizierender Arzt) und im Preußischen Landtag (während der Spätphase als Hochschullehrer). Von 1919-1933 wirkte Chajes als ordentlicher Dozent (später Honorarprofessor) für Gewerbe- und soziale Hygiene an der Technischen Hochschule in Charlottenburg. 1932 wurde er zusätzlich Honorarprofessor an der Universität Berlin, an der er noch im gleichen Jahr als beamteter a. o. Professor die Nachfolge von Alfred Grotjahn auf dessem Lehrstuhl für Soziale Hygiene antrat (bemerkenswerterweise im Donnergrollen des heraufziehenden politischen Unwetters nur in Form eines Extraordinariats!). – An Grotjahns Sozialhygienischem Seminar wurden seit 1920 bis zum politisch bedingten Ende in ununterbrochener Reihenfolge Sozialhygienische Übungen veranstaltet, die das Gesamtspektrum der Sozialhygiene behandelten und die neben den insgesamt 63 Promovenden allen interessierten Medizinern und nichtmedizinischen Akademikern offenstanden. Nach Grotjahns Tod 1931 führten zunächst dessen Habilitand Georg Wolff und der Medizinalstatistiker Karl Freudenberg die Übungen weiter. Ihre Leitung oblag dann Chajes in der Folgezeit seit seinem Amtsantritt 1932 bis zu seinem Fortgang 1933. 1 Im Folgenden hat die Darstellung der innovatorischen Aktivität Chajes’ im Exil- und Heimatland Palästina zur Wahrung des lebensgeschichtlichen Zusammenhangs und der inneren Logik seines komplexen Persönlichkeitsbilds der Schilderung des publizistischen Lebenswerks in Deutschland voranzustehen.
1 | Niederland 2004, S. 37ff.; 1984, S. 169ff.; Schneck 2004, S. 249, 252ff.; 1994, S. 496ff.; profundeste und vorbildlichste ergobiographische Darstellung eines über 60 Jahre lang vergessenen Sozialhygienikers aus der Führungsriege der Weimarer Zeit: Weder 2000, S. 15-28, 81-132 u. oft; Nadav 1994, S. 461-471; Labisch/Tennstedt 1985, S. 390; Strauss/Röder Bd. I 1980, S. 110f.; Leibfried/Tennstedt 1980 (2. Aufl.), S. 112, 114, 118; (Tennstedt 1982;) Tutzke 1970, S. 335ff. – Im Weiteren verzichten wir für das rein biographische Faktenmaterial, soweit es im Detail in den Standardbiographien und Übersichtsarbeiten leicht zugängig ist, auch bei den »Profi len« im allgemeinen auf das Zitat literarischer Belege.
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14.2 Chajes in der Emigration, E xkurs: Die Lage im Gesundheitswesen des Ziellands Eret z Isreal/Palästina zur Zeit der »deutschen Flut« Nach Regine Erichsen lässt sich in Entwicklungsländern die Wirkungsgeschichte von Emigranten aus Industrieländern auf das Gastland nur auf dem klargestellten Hintergrund der für dieses Land typischen kulturellhistorischen, sozialen und politischen Verhältnisse aufzeigen.2 Auf welche gesundheits- und sozialpolitischen Umstände stieß nun Chajes bei seiner Einwanderung in Palästina? Die britische Mandatsregierung kümmerte sich mitnichten um die medizinische Versorgung des jüdischen Bevölkerungsteils (Yishuv), der demgemäß auf eigene Faust für den Aufbau eines Gesundheitsdienstes Sorge tragen musste. In den 20er Jahren nahmen sich 2 Organisationen dieser Aufgabe an: die Hadassah, das Hilfswerk der American Zionist Women’s Association, und die Kupath-Cholim, die Einheitskrankenkasse der Arbeitergewerkschaft Hisdraduth. Die beiden Institutionen schufen in einer Art sozialpolitischem Niemandsland unter dem Einfluss sozialistischer Pioniere nach den Prinzipien Selbsthilfe und Solidarität einen sozialisierten Gesundheitsdienst. Die zentralistisch-bürokratische Form entsprach am ehesten den noch im Land grassierenden Epidemien und vor allem dem Bedürfnis nach Kollektivität in der mittellosen Bevölkerung. Die genannten Organisationen verfügten über eigene Kliniken in Metropolen und Provinz sowie über ein Netz von Ambulatorien, die Ärzte unterstanden in der Regel einer von beiden als Festangestellte. Die Spezialisierung war noch gering ausgeprägt. Abgelehnt wurden freie Arztwahl sowie Privatklinik und private Praxistätigkeit. – Die »deutsche Flut« 19331935,3 die die Zahl der Ärzte in Palästina vervierfachte, 4 tendierte gegen den berufspolitischen Mainstream und war damit dazu prädestiniert, deutsche Sozialelemente in die Gesellschaft des neuen Heimatlandes einzuspeisen (z.B. auf gesundheitlichem Gebiet das Konzept der Krankenkassen als reine Versicherungsgesellschaften ohne eigenen Gesundheitsdienst bzw. angestellten Ärztestamm, hohe Spezialisierung, freie Arztwahl).5
2 | Erichsen 2004, S. 65-81, hier 73. 3 | Zitat nach J. Kleeberg, Baader 2004, S. 22. 4 | Sehr oft in der Emigrationsliteratur, z.B. Baader 2004, S. 20. 5 | Niederland 2004 (s. Anm. 1); 1984, S. 150ff.; W. 2000, S. 310ff.; Nadav 1994, S. 462ff., 468ff.; Preuss 1936, S. 299.
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14.3 Chajes als Gesundheitspionier in Palästina 1933-1938: Zwischen Gesundheitssozialismus und »Freier Arzt wahl« Alle Kriterien eines Emigrationserfolgs im Zielland treffen in Chajes’ Fall zusammen und lassen sich sozusagen im cumulo demonstrieren. Er war Frühemigrant in ein unterentwickeltes Land mit zunehmender Industrialisierung, die politisch-sozioökonomische Grundstruktur seiner neuen Heimat trug sozialistisches Gepräge, politisch-ökonomisch tendierte er persönlich eher in Richtung eines demokratischen Wirtschaftsliberalismus, beruflich war er ein hochrangiger Experte auf dem personell hierorts noch unterbesetztem Gebiet der Gewerbehygiene und des medizinisch-sozialpolitischen Managements. Im September 1933 begab er sich auf den Weg in die Emigration nach Palästina. Hier nahm er seinen Wohnsitz in Tel Aviv. Im Herbst 1933 wandte er sich als Angestellter der Kupath-Cholim (Krankenkasse der Arbeitergewerkschaften) den durch schnelle Urbanisierung und Industrialisierung (vgl. Deutschland im frühen 19. Jahrhundert) aufgestauten Problemen der Arbeitsmedizin (Gewerbehygiene) zu. Mehrere Monate lang visitierte er den Bestand der industriellen Betriebe im Land. Über seine Beobachtungen insbesondere von gewerbehygienischen Mängeln erstattete er der Gewerkschaft allmonatlich Bericht. Als Frühemigrant erhielt er im März 1934 seine Zulassung als Arzt, befand sich offenbar in günstiger Vermögenslage und eröffnete eine dermatologische Privatpraxis am ehesten für eine deutschsprachige Emigrantenklientel. Wie vormals in Deutschland blieb auch im Entwicklungsland Palästina/ Israel der Arbeitsschutz für lange Zeit ein Stiefkind administrativer Betriebsamkeit. Deshalb initiierte Chajes 1935 mit Unterstützung der Gewerkschaften speziell für die an der Küste gelegenen Industriestädte Tel Aviv und Haifa einen ständigen »Zentralausschuß für Gewerbe- und Sozialhygiene« und wurde zu dessem Leiter bestallt. Die »Zentralstelle« sollte, quasi als Kompensation zum Mangel an Arbeitsschutz und Sozialversicherung, professionelle theoretische Vorarbeit leisten, um »mit der Arbeiterschaft selbst«6 Maßnahmen in Fragen des Arbeitschutzes, der Arbeitsbedingungen und der Verhütung von Betriebsunfällen zu erarbeiten. Das »Komitee« erstellte den ersten systematischen Forschungsbericht über Betriebsunfälle und Sicherheitsvorkehrungen in der Bauindustrie und untersuchte die hygienischen Zustände in Fabriken. Ohne staatliche Sanktionierung blieb aber den Unternehmungen des Ausschusses zur Unfallverhütung ein durchschlagender Erfolg bei den Arbeitnehmern in Sachen Arbeitssicherheit versagt. Chajes verlegte sich deshalb auf Aufklärung der Arbeiterschaft durch Vorträge, Propaganda in der Arbeiterpresse und Plakataktionen. 1935 schickte er eine von ihm in Tel Aviv arrangierte Ausstellung von über 200 internationalen Plakaten zur Unfallverhütung als Wanderausstellung weiter in alle großen 6 | Nadav 1994, S. 468.
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Zentren des Landes. – Wegen der trotz allem anhaltenden externen und internen Kooperationsprobleme wurde Mitte des Jahres der Zentralausschuß aufgelöst, seine Aufgaben wurden lokalen Ausschüssen übertragen, Chajes behielt dabei bis zu seinem Tod unverändert den Funktionsstatus als Berater und Koordinator. Sein »Komitee« gilt als Vorgänger des bis heute bestehenden »Instituts für Sicherheit und Hygiene« beim Arbeitsministerium – In seinem Protest 1937 gegen die Bebauung des Strandabschnitts von Tel Aviv setzte er seine Autorität für den Erhalt von Umwelt ein.7 Übrigens sind die Siedlungen im Bauhausstil in Tel Aviv bleibende Zeugnisse für den Export deutschen Kulturerbes in Israel durch emigrierte jüdische Architekten. Neben seinen gewerbehygienischen Aktivitäten im Rahmen der sozialisierten Gesundheitsfürsorge der Arbeitergewerkschaft nahm Chajes Gelegenheit, auch auf dem freien privatwirtschaftlichen Gesundheitsmarkt Fuß zu fassen. Zusammen mit zwei Ökonomen verwirklichte er 1934 unter dem Namen »Shiloah« das Projekt einer privaten Krankenversicherung für Krankenhausaufenthalt und -behandlung. Das Unternehmen folgte der Linie der »Salus« in Deutschland. Ihre Ausgestaltung ausdrücklich »nach deutschem Muster« bedeutete auch die Unterstellung der kommerziellen Interessen unter die Aufsicht gemeinnütziger Kontrollinstanzen. Das Projekt wollte Chajes‘ durch eine private Krankenversicherung vervollständigen und so das Prinzip der freien Arztwahl (einen Eckstein im deutschen Medizinalrecht) in die jüdisch-palästinensiche Ärzteschaft einbringen. – Auch am privaten Krankenhausbau beteiligte sich Chajes in maßgeblicher Position. Auf seine Initiative hin und unter seiner anteiligen Projektleitung entstand 1935 die private Belegklinik »Assutah«. Die moderne Anlage beeindruckte im Land als »Gemeinschaftswerk«, in dem – wie es dezidiert hieß – die in der »Einwanderung aus Deutschland«8 aufgespeicherten Potentiale ihre Umsetzung erfuhren.9 Nichts zeigt deutlicher als die geschilderten Initiativen Chajes’ pragmatische sozialpolitische Einstellung. Unbefangen, im Bewusstsein der alle Möglichkeiten einschließenden Anforderung und geprägt von der deutschen Sozialtradition, ging er an die Neugestaltung eines Gesundheitssystems ex nihilo, von dem nur einige Materialien im sozialpolitischen Niemandsland herumlagen. Es war, als erwachte in ihm in der Immigration der alte Gründergeist, der die Weimarer Sozialhygieniker in den letzten Jahren verlassen zu haben schien. Chajes ist ein gutes Beispiel für die Paradoxie der jüngsten Emigrationsgeschichte, dass sie im Erfolgsfall wie in Palästina im Widerschein der mörderischen Treibjagd gegen jüdische Spitzenkräfte ausgerechnet deutsche Sozialkultur im Emigrationsland ihren Zielpunkt 7 | Niederland 2004 (s. Anm. 1), 1994, S. 171. 8 | W. S. 275-316, hier 313. 9 | Literatur bis Leibfried/Tennstedt 1981 wie Fußnoten 1 und 8; s. ggf. zusätzlich eine Dissertation von Anne Roth, Berlin seinerzeit noch in Arbeit, in der auch das hebräische Quellenmaterial ausgewertet werden sollte, nach Mitteilung von W. S. 312, Anm. 27.
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finden lassen muss. Benno Chajes in Tel Aviv und Walter Strauss10 in Jerusalem, dort erster Leiter eines »Gesundheitshauses«, vermochten in Palästina »tatsächlich Pionierarbeit zu leisten«, indem sie ihre in Deutschland gewonnenen sozialhygienischen und arbeitsmedizinischen Normen im Geiste des traditionellen jüdischen Altruismus und Pragmatismus dem Auf bau des eigenen Gesundheitswesens zugrunde legten.11
14.4 Ergographischer Überblick: Der Berliner Universitätslehrer Chajes als Ver fechter der Einheit von Berufs-/Gewerbehygiene und Sozialhygiene Für Chajes liefen Sozial- und Gewerbehygiene stets parallel. 1919 erhielt er an der Technischen Hochschule Charlottenburg als ordentlicher (nebenamtlicher) Dozent einen Lehrauftrag für Gewerbehygiene, las aber gleichzeitig regelmäßig auch über »Soziale Hygiene«. Als Dozent und Gremienmitglied der 1920 eingerichteten Sozialhygienischen Akademie Charlottenburg konnte er die Gewerbehygiene in die sozialhygienische Ausbildung der Anwärter auf Berufsstellen für Kreis-, Kommunal-, Schul- und Fürsorgeärzte angemessen plazieren. Als 1. Buch verfasste er 1919 für seine Vorlesungstätigkeit als Gewerbehygieniker den »Grundriss der Berufskunde und Berufshygiene« (2. Aufl. 1929), der zusammen mit seiner 2. Monographie,12 dem »Kompendium der Sozialen Hygiene« von 1921 auf dem fachlichen Großgebiet eine didaktische Duplizität von übersichtlichen Kurzlehrbüchern bildete, die geeignet war, die jungen Fächer in ihrer Zusammengehörigkeit unter dem Dach der Sozialhygiene zu konturieren. Als Operationszentrale sowohl für seine gewerbeärztlichen als auch sozialhygienischen Aktivitäten wählte Chajes anstelle von korporativem Apparat und Festanstellung dermatologische Kassenpraxis und Ambulatorium (die meisten Gewerbehygieniker bevorzugten als Arbeitsbasis die Berufsstellung des Gewerbearztes). Diese Konstellation erlaubte ihm bei Gewerbekrankheiten, wie bei allen Erkrankungen überhaupt, über den Krankheitsbefund hinaus den sozialhygienischen Blick hinter die Kulissen. Um die Anfragen der Krankengeld zahlenden Krankenkassen nach der Dauer der voraussichtlichen Berufsunfähigkeit der jeweils erkrankten Berufstätigen zu beantworten, ging Chajes dazu über, sich in den Fabriken und Unternehmen selbst nach den an der Arbeitsstelle potentiell wirksamen Ursachen aufgetretener
10 | Niederland 2004, 1984; Nadav 1994, S. 469. 11 | Schneck 2004, S. 254. 12 | Als Publizist ist Chajes zeitlebens hauptsächlich mit Beiträgen zu Zeitschriften und Handbüchern in Erscheinung getreten. Die faktisch erste, jedoch nicht wissenschaftlich relevante Broschüre aus seiner Feder, »Haut- und Haarpflege«, erschien 1909, immerhin mit einer 2. Aufl. 1918.
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Krankheitsbilder umzusehen, wie er in seinem berufskundlichen Grundriß selbst erzählt.13
14.4.1 Berufshygiene Aus den Erfahrungen seiner Praxis drängten sich Chajes also zwei Fragenkomplexe auf, die seiner Gewerbehygiene ihr sozialhygienisches Profi l verleihen: die Frage nach den außerbetrieblichen Lebensumständen und die nach den berufsspezifischen Vorgängen am Arbeitsplatz selbst (Berufskunde). Die beiden Aspekte, die Anliegen der modernen Arbeitsmedizin vorwegnehmen, verknüpfte er im Begriff »Soziale Hygiene der Arbeit« (steht im »Kompendium« alternativ für Gewerbehygiene bzw. Berufshygiene). Bei der Beurteilung von Berufskrankheiten sollten nicht nur Betrieb und arbeitshygienisches Milieu, sondern auch die außerbetrieblichen sozialen Lebensverhältnisse des Probanden insgesamt als potentielle Mitverursacher von Schädigungsfolgen Berücksichtigung finden, ggf. epidemiologisch im Rahmen berufsbezogener Morbiditätsstatistiken (zur Erfassung auch unspezifischer, aber berufsgruppentypischer Erkrankungen!). Nicht weniger entsprach es einer unkonventionellen weitgefächerten sozialhygienischen Sichtweise, wenn Chajes sich nicht länger mit der befundmäßig definierten Berufsschädigung und deren Ausheilung oder Entschädigung begnügen mochte, sondern darüber hinaus berufskundlich den Arbeitsprozess selbst analysiert wissen wollte. Von Beginn an (als Schüler Blaschkos und als Kassenarzt) setzte er als Gewerbehygieniker auf eine Art Betriebsbegehung aus der ärztlichen Praxis heraus (sozusagen in sozialhygienischer Manier), um die Arbeitsabläufe der verschiedenen Berufe in der Realität der Arbeitswelt besser verstehen zu lernen. Aus diesem Arbeitsansatz erwächst im »Grundriß« Chajes’ Verdienst, die Berufskunde geradezu ins Zentrum der Gewerbehygiene gerückt zu haben. – Darüber hinaus verankerte Chajes die Gewerbehygiene in der Sozialhygiene, indem er am Arbeitsplatz mit den Mitteln der Feldforschung die jeweilige Prozessbeziehung zwischen Berufstätigem als Person und den Produktionsmitteln analysierte. Damit im Zusammenhang setzte er für die Zukunft große Hoffnungen auf die Arbeitsphysiologie. Von deren Forschungsergebnissen versprach er sich im Sinne seiner sozialhygienischen Prägung die Förderung der Prophylaxe gewerblicher Schädigungen. Die gewerbehygienische Prophylaxe hatte grundsätzlich früh einzusetzen bei der richtigen Berufswahl. Sie zu erleichtern, war Aufgabe der auch ärztlich abgeschirmten Berufsberatung, die auf ein Team von Experten, vor allem Psychologen und Lehrern, zurückgreifen konnte. Bei der Beratung sollte neben den Berufsanforderungen an den individuellen Leistungsstand des Jugendlichen dessen gesamtes soziales Lebensumfeld als Kriterium für die die künftige Entwicklung zur Geltung kommen.14 Struktur und Praxis seiner gewerbehygienischen Tätigkeit und seine 13 | W. S. 149. 14 | W. S. 148ff.
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Stellung als Hochschullehrer ermöglichten Chajes die Zusammenarbeit mit einflussreichen Organisationen wie Krankenkassen, Gewerkschaften und Deutsche Gesellschaft für Gewerbehygiene.15 Auf diesem Weg öff neten ihm auch Fachzeitschriften und Jahrbücher ihre Spalten. Mit den gewonnenen Kontakten schuf er sich eine breite Wirkungsebene, um seinen Teil zum Fortschritt der Gewerbehygiene in Forschung und Praxis beizutragen. Sein Interesse galt der Aufklärung der Arbeitnehmer über die vom jeweiligen Beruf ausgehenden Gesundheitsgefahren und der Aktivierung der Arbeiter zur Mitwirkung bei der Verhütung von Unfällen und Berufskrankheiten. Komplementär dazu betrieb er die gewerbehygienische Ausbildung der Betriebsräte und schaltete sich in die »Gewerbehygienischen Vortragskurse« für Führungskräfte in den Industriezentren ein. Die Berufskrankheitenverordnung von 1925 stellte auch die gewerbehygienische Kompetenz der Kassenärzte auf die Probe. Zu deren Stärkung bedurfte es ärztlicher Fort- und Weiterbildungskurse, an denen auch Chajes als Referent partizipierte.16 Als wichtigste Reaktion auf die 1. Berufskrankheitenverordnung organisierte er im Einverständnis mit den Kassen in seinem Ambulatorium eine Untersuchungsstelle für Gewerbekrankheiten, um die Kassenärzte bei entsprechenden Verdachtsdiagnosen bei der Abklärung zu unterstützen und entschädigungspflichtige Erkrankungen sicher herauszufi ltern. In 6 Jahren (von 1926-1931) kamen über 10.000 Verdachtsfälle zur ambulanten (und ggf. stationären) Nachuntersuchung bzw. Beobachtung.17 – Im ADGB verfolgte Chajes die Begründung einer sozial- und gewerbehygienischen Zentralstelle, die schließlich in der »Abteilung für Gewerbeaufsicht, Gewerbehygiene und Gesundheitsschutz« als funktionstüchtige Institution Gestalt annehmen sollte (seit 1927 unter Leitung von Franz Karl Meyer-Brodnitz).18
14.4.2 Sozialhygiene 14.4.2.1 Kompendium der Sozialen Hygiene Chajes‘ Kurzlehrbuch bringt von der Sozialhygiene nichts wesentlich Neues, aber vom Neuen im Sozialprozess, der Sozialhygiene, zuverlässig das Wesentliche im Überblick.19 Das Kompendium ist seine »erste und einzige systematische Darstellung« des Stoffs,20 im Blick auf seine jedenfalls sys15 | W. S. 164ff., 176ff. 16 | W. S. 154ff. 17 | W. S. 166ff. 18 | W. S. 173ff. 19 | Die Berliner Fakultät attestiert im Zusammenhang mit Chajes’ Berufung dessen sozialhygienischen Veröffentlichungen einen »guten Blick für das praktisch und didaktisch Notwendige«, sein ausdrücklich genanntes »Compendium über soziale Hygiene« verfällt aber im Verein mit seinen anderen Büchern dem Verdikt der »Kompilation«, W. S. 290f. 20 | W. S. 254.
14. B ENNO C HA JES : A LTMEISTER
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tematische Struktur nach A. Fischers »Grundriss«, den es nicht zitiert, die zweite dieser Art überhaupt. Inhaltlich bezeugt es vielerorts seine Nähe zu Gottstein/Tugendreichs kurz zuvor erschienenem »Sozialärztliches Praktikum«, das es zitiert, wenn auch nur im Literaturverzeichnis.21 Als Kompendium, also auch bestimmt zum Gebrauch in der Praxis, übermittelt es die allen Fachvertretern gemeinsame Grundüberzeugung vom Junktim zwischen Wissenschaft und Praxis in der Sozialhygiene. Chajes’ beide Kurzlehrbücher über Gewerbehygiene und Sozialhygiene erschließen im Fachbereich eine neue Dimension der Didaktik, die Studierende und Postgraduierte aller Sozial- und Verwaltungsberufe auf Fortbildungsebene nach Art eines modernen Intensivkurses über einen diversifizierten Stoff instruiert.22 Das Gliederungsschema des Kompendiums gleicht auffallend dem des »Grundriss« von A. Fischer – ein Beweis dafür, dass letzterer auf die richtige »Lehrformel« für die Sozialhygiene gestoßen war. Abweichungen ergeben sich lediglich durch zwei Umstellungen (in etwa auf der Linie Grotjahns): Die soziale Pathologie rückt wieder mehr in den Anfangsteil, die Eugenik (Fortpflanzungshygiene) wird aus dem Bereich physischer Modalitäten ausgegliedert und ans Ende in die Nähe sozialhygienischer Maßnahmen verschoben. Im übrigen orientiert sich der Verfasser wie Fischer zunächst an der »technischen« Hygiene und beginnt im Anschluss an deren Forderungen für das Wünschenswerte mit der vorfindbaren Beschaffenheit der sozialen Lebensbedingungen (Wohnung, Ernährung, Kleidung). Die anschließende Besprechung der sozialen Pathologie erweist sich als sinnvoll, da sie die Entstehung der Volkskrankheiten aus den sozialen Lebensumständen leichter zu demonstrieren erlaubt. Die folgenden Partien behandeln die Gesundheitsfürsorge für die schutzbedürftigen Lebensaltersstufen, Gesundheitsmaßnahmen für die arbeitende Bevölkerung, schließlich Gesetzgebung und Versicherungswesen zum Schutz der Berufstätigen und das Gesundheitswesen. Vor und nach dem Krieg grassierten in Deutschland Wohnungnot und Wohnungselend und erfuhren besonders in den Großstädten eine enorme Ausweitung. Dabei wirkten Mangel an bezahlbaren Kleinwohnungen und Wohnungsüberfüllung als Mit- oder Hauptursachen bei Säuglingssterblichkeit, infektiösen Kinderkrankheiten, Tuberkulose, bronchopulmonalen Infekten, Darmkatarrhen, Geschlechtskrankheiten und Geburtenrückgang. Wohnungsfürsorge und Wohnungsämter suchten nach dem Krieg durch Bewirtschaftung, Wohnungspflege und -aufsicht der Wohnungsmisere zu wehren. Einen durchschlagenden Erfolg auf dem Wohnungssektor verspricht in Deutschland aber nur der gemeinnützige Wohnungsbau, in dem Staat, Kommunen, Landesversicherungsanstalten, Unternehmen und Bauge21 | Man vergleiche nur die Kap. »Fürsorge für Geschlechtskranke« bzw. »Geschlechtskrankheiten« Gottstein/Tugendreich 1921, S. 282ff.; Chajes 3. Aufl. 1931, S. 58ff. 22 | Vom Kompendium erschienen insgesamt 4 Übersetzungen in osteuropäische Sprachen und ins Japanische, Chajes 1931, unpaginiertes Vorwort.
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nossenschaften nach Art einer sozialen Bauwirtschaft zusammenarbeiten. Der Vorsprung Englands im Wohnungsbau führte zu deutlich besseren Gesundheitsverhältnissen als sonst in Mitteleuropa. Aber insgesamt gilt: Schlechte Wohnungsverhältnisse sind »nur ein – allerdings sehr wichtiger – sozialhygienisch bedeutungsvoller Faktor«.23 In Bezug auf Gesundheitsrelevanz steht für den Gewerbehygieniker Chajes die Art der Erwerbstätigkeit im Vordergrund.24 Auch der Ernährungsfaktor beeinflusst nach wie vor die Volksgesundheit. Kriegs- und nachkriegsbedingte Hungerperioden und Teuerungen ließen die Sterblichkeit, besonders an Tuberkulose, ansteigen, Teuerungen verstärken in der Bevölkerung zumindest die Morbidität.25 Bei der Tuberkulose hat sich der Schweregrad der Erkrankung nach der Seite zu den leichteren Formen hin verschoben. Die Verringerung der Letalität der Tuberkulose lässt sich dann so erklären, dass bei gleich bleibender Krankheitsfrequenz interkurrente Krankheiten als Todesursache mitspielen. Zur wichtigen Frage der Vererbung einer erblichen Tuberkuloseanlage äußert sich Chajes widersprüchlich. Kinder tuberkulöser Eltern sind stärker »disponiert«, wobei dem »Milieu« eine große Bedeutung zukommt, denn man kann durch geeignete Vorkehrungen solche Kinder vor der Erkrankung bewahren. Auch die Feststellung des Statistikers Weinberg, derzufolge die Tuberkulosesterblichkeit von Kindern tuberkulöser Eltern höher liegt als die von solchen nichttuberkulöser Eltern, widerspricht nicht der Milieutheorie der Tuberkuloseentstehung. Weinbergs Ergebnisse sind durch das soziale Milieu bedingt und kein Beweis für erbliche Disposition! Wirtschaftliche Faktoren wie Wohnung, Ernährung und Beschäftigung (z.B. auch Heimarbeit) tragen die Hauptverantwortung für die Tuberkuloseverbreitung. Den Schlussabsatz des Tuberkulosekapitels bildet dann unvermittelt die lapidare Erklärung, dass mit der Erhöhung der Überlebensfrequenz Tuberkulöser auch die Zahl tuberkulosedisponierter Kinder anwachse. Die Verminderung der Tuberkulosesterblichkeit sei nach Grotjahn verbunden mit einer »entartenden Wirkung«, der »in geeigneten Fällen« durch Empfehlung von Präventivmitteln zur Verhinderung der Fortpflanzung Rechnung zu tragen sei. Die schroffen Übergänge sind begründet einmal in Chajes’ Referatestil, der auch ein Nebeneinander divergierender Texte zulässt, und seiner Loyalität gegenüber dem (oft zitierten) prominenten Berliner Kollegen Grotjahn, dessen »offiziöser« Meinungsbildung er sich entgegen seiner eigenen Überzeugung formal unterstellt.26 Insgesamt ist für den Sozialhygieniker bei seiner Arbeit der äußere soziale Ursachenkomplex bestimmend. Beim Alkoholismus z.B. interessiert er sich mehr für die offensichtliche Wirkungsmacht des »gesamten Milieus« als die der ggf. beteiligten, nicht immer exakt einschätzbaren endogenen Faktoren (psychopathische Anlage, epileptische Diathese). Prohibition verringert 23 24 25 26
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Chajes S. 33. Ders. S. 28. Ders. S. 27ff.; 39ff. Ders. S. 47ff., 57.
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Kriminalität und Vagabundage. Parallel zu verschiedenen sozialen Lebensumständen (Lohn, Arbeitsbelastung, Wohnung, Ernährung) verändert sich nach vergleichenden Untersuchungen an proletarischen Bevölkerungskollektiven das Ausmaß des Alkoholkonsums. Von diesen Erfahrungen her sind alle bekannten privaten und öffentlichen, ambulanten (Fürsorgestellen) und stationären (Trinkerheilstätten) Rehabilitationsansätze berechtigt.27 Die Gesundheitsfürsorge verfolgt in den vier Altersstufen vom Säugling über das Kleinkind, die Schuljugend bis zum jugendlichen Berufsanfänger die »hygienische Förderung der heranwachsenden Generation« durch Beratung sowie soziale und wirtschaftliche Unterstützung. Chajes verwendet hier auch neuere Statistiken, die die kriegsbedingten Schädigungen der jungen Generation verdeutlichen. Die Säuglingsfürsorge, die auch die Fürsorge für Schwangere und Wöchnerinnen umfasst und sich mehr und mehr allen Bevölkerungskreisen öff net,28 verschreibt sich mit zunehmendem Erfolg in ärztlich geleiteter Sprechstunde und bei Hausbesuchen von Fürsorgeschwestern der Bekämpfung der Säuglingssterblichkeit, wie sie bei Säuglingen unbemittelter und/oder kinderreicher Familien und solchen unehelicher (meistens berufstätiger) Mütter durch Pflegemängel und Ernährungsfehler besonders häufig anzutreffen ist. Auch die Kleinkindersterblichkeit an Infektionskrankheiten und bronchopulmonalen Infekten präsentiert sich mehr in wirtschaftlich schlechter gestellten Volksschichten. Die ansteigende Zahl berufstätiger Frauen erfordert den Ausbau der Kleinkinderfürsorge zur halbgeschlossenen Form mit mehr Krippen und Kindergärten zur Ganztagsbetreuung von Kindern. – Durch das Schularztwesen bietet sich die einmalige Gelegenheit, zahlreiche chronische Schädigungen und Körpermängel, deren Krankheitswert sich klinisch noch kaum manifestiert, frühzeitig aufzudecken, ihrer Verschlimmerung vorzubeugen und damit eine nachfolgende höhere Erwachsenenmorbidität zu vermeiden. In der Gesundheitserziehung der Jugend insgesamt erkennt Chajes dem Sport einen hohen Stellenwert zu. Zur Sportförderung wünscht er sich mehr Sportplätze, die Spezialisierung zu Sportärzten und sportärztliche Beratungsstellen. Der Massensport macht sportliche Betätigung attraktiv für die jungen Berufstätigen und übrigens auch für die weibliche Bevölkerung. Auch Berufswahl und Lehrstellenvermittlung gehören unter Berücksichtigung sozioökonomischer Momente in die Beratungskompetenz des Schularztes. – Den »Gebrechlichen«, wie sie durch den Schularzt häufi g erstmals erfasst werden, widmet Chajes in seinem kleinen Buch einen eigenen Abschnitt. Er begrüßt die neuere Gesetzgebung als Rahmenvoraussetzung für eine Reduktion der Zahl körperlich Gebrechlicher im Kleinkindesalter. 40 % der angeborenen Gebrechen sind geistiger Art, ihre ermittelte absolute Zahl von ca. 80.000 erhöht sich noch durch die Dunkelziffer der asymptomatisch Beeinträchtigten, deren geistiger Defekt erst bei erhöhter Beanspruchung zutage tritt. Der Autor hält es für »zweifellos möglich« und für »eine der 27 | Ders. S. 72ff., 77. 28 | Ders. S. 87.
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Hauptaufgaben« der Fürsorge, »durch entsprechende erzieherische und soziale Maßnahmen die Entwicklung schwerer psychischer Defekte, besonders im Pubertätsalter, hintanzuhalten«.29 In der Berufshygiene lehnt sich Chajes in der 3. Aufl. auf 43 Seiten, immerhin fast 1/3 der Textseiten des Buchs, an sein berufskundlich orientiertes gewerbehygienisches Kompendium an.30 Chajes kommt ja als Sozialhygieniker intellektuell-mental und methodisch von der Gewerbehygiene her, deren Bedeutung für das Konzept Sozialhygiene sich noch in Mosse/Tugendreichs Standardwerk von 1912 widerspiegelt.31 Neben Teleky zeichnet er sich gegenüber anderen Sozialhygienikern dadurch aus, dass er mit seinem »Doppelberuf« als Gewerbe- und Sozialhygieniker den von der Sozialversicherung mit den Bereichen Unfall, Invalidität und Arbeitsschutz abgesteckten Kapazitätsrahmen für berufliche Sozialkompetenz konsequent ausfüllt. Der Sinn seines Lehrvaters Grotjahn für Gewerbehygiene und Gesundheitsfürsorge war unterentwickelt.32 Aus Chajes’ Sicht dagegen ist Berufshygiene im Verein mit Berufskunde einer der »wichtigsten Abschnitte der sozialen Hygiene«.33 Die Gruppe der industriell und handwerklich tätigen »Arbeiter« (neben den Beschäftigten in Handel und Verkehr) zählte 1925 14, 4 Millionen, davon waren 3, 5 Millionen, etwa ¼, weiblichen Geschlechts. Die Gesamtzahl der weiblichen gewerblich Berufstätigen betrug fast 36 % aller Beschäftigten. Die Frau und Mutter eignet sich weniger als der Mann zur Erwerbstätigkeit, die in der Regel zu einer Doppelbelastung an Arbeitsstelle und im Familienhaushalt ausufert. Die erwerbstätige Frau riskiert durch Exposition ihres empfindlicheren Organismus gegen gewerbliche Schädigungseinflüsse nicht nur die eigene Gesundheit, sondern auch die der kommenden Generation. Arbeitsphysiologisch führt Arbeitstätigkeit verhältnismäßig rasch zur Ermüdung, ohne dass der physiologische Kräfteverschleiß zeitgleich von Müdigkeitsgefühl begleitet sein muss. Dauerbeanspruchung des Organismus auf der Grundlage rationeller Ausschöpfung der Arbeitskraft ohne Berücksichtigung seiner physiologischen Leistungsreserven gipfelt in chronischer Übermüdung bzw. Erschöpfung, die sich z.B. in den Krankheitsbildern Neurasthenie und Arterienverkalkung (besonders auch bei den Berufstätigen im Handel) somatisieren. Gegenmittel sind Ruhepausen, Erholungsurlaub und Arbeitszeitverkürzung, besonders letztere ist geeignet, die Arbeitsproduktivität noch zu steigern. – Bei Chajes gewinnt die Gewerbehygiene bereits Züge moderner Arbeitsmedizin, sofern er in ihr Arbeitsplatzforschung (Berufskunde) mit apparativen »psychotechnischen« Eignungstests und fortentwickelter Berufsberatung verbindet. Bestimmte Eigenschaften des 29 30 31 32 33
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Ders. S. 96; 82ff., 89ff., 91ff., 94ff. Ders. S. 100, Anm. Koelsch in: Mosse/Tugendreich 1912, S. 154ff. Vgl. W. S. 291. Chajes S. 100.
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Arbeitssuchenden sind mit den Anforderungen der verschiedenen Berufe oder die Merkmale eines bestimmten Berufs mit dem Eignungsbild des Untersuchten ins Verhältnis zu setzen. Bei der Beurteilung der Berufseignung sind nicht nur körperliche und geistig-psychische Befähigung, sondern auch sozialhygienische Zusammenhänge wie wirtschaftliche und soziale Verhältnisse im häuslich-familiären Umfeld des Berufsaspiranten zu berücksichtigen. Nur auf diesem Wege lassen sich Bedürfnis des Einzelnen nach Berufszufriedenheit und Interesse der Gesamtheit in Einklang miteinander bringen.34 Die Eugenik erscheint in Chajes Sozialhygiene wie bei anderen Sozialhygienikern marginalisiert und verkürzt.35 Die Vererbungslehre besonders beim Menschen lässt trotz jüngster Fortschritte die Sozialhygiene bei der Handlungsanleitung noch vielfach im Stich und in der Frage der Vererbung organischer oder geistiger Krankheitsanlagen im Ungewissen. Veränderungen der Erbanlagen des Einzelnen beeinflussen in der Summe die Beschaffenheit einer Bevölkerung. Ursachen solcher Veränderungen sind Mutationen, Auslese und Rassenmischung (in Europa kaum von Bedeutung). Die entscheidende auslesebedingte Veränderung ist die Gegenauslese. Sie kommt dadurch zustande, dass geistig und körperlich höherstehende Volksteile durch geringere Kinderzahl allmählich abnehmen und den minderwertigen Schichten das Feld überlassen. Von dieser Einstellung aus befürwortet Chajes eine mehr positive Eugenik mit Besserung der allgemeinen wirtschaftlichen Lebensbedingungen und Begünstigung der Kinderreichen, letztere im Sinne der Grotjahnschen Elternschaftsversicherung auf Kosten der Kinderlosen oder kleinen Familien. Dennoch unterliegt die Förderung der Fortpflanzung der Tüchtigen Einschränkungen. Es gibt keinen Beweis dafür, dass durch Reduktion geistig und sozial höherwertiger Bevölkerungsschichten Kulturbegabung verloren geht, die nicht durch die nachrückenden Volksschichten ausgeglichen werden könnte. Die Vererbungsforschung verfügt bisher über keine Kriterien für den Vererbungsgang geistiger Eigenschaften. Bei Zugewinn an Tüchtigkeit lässt sich nicht eindeutig zwischen erblichen und sozioökonomischen Einflüssen unterscheiden. So bleibt nichts anderes übrig, als die »Ertüchtigung sämtlicher Volksschichten« anzustreben. Der negativen Eugenik zur Verhinderung der Fortpflanzung Minderwertiger steht Chajes insgesamt skeptisch gegenüber. Die radikalen Methoden (Eheverbote, Sterilisation, Asylierung) kommen als Breiten- oder Sofortmaßnahmen nicht in Frage. Selbst die »humane« Methode der Geburtenprävention zum speziellen Zweck durch Präventivmittel verspricht kaum Erfolg. Denn Präventivmittel sind zwar in der Bevölkerung zur Konzeptionsverhütung und Infektionsprophylaxe weit verbreitet, eine »rationelle Anwendung auch im eugenetischen Sinne« steht aber noch aus, solange ihr eugenischer Wert angesichts des gesetzlichen Werbeverbots nicht durch systematische 34 | Ders. S. 102ff., 109ff., 119ff. 35 | Auf 7 von 150 Textseiten, der Text der 3. Aufl. beginnt bei S. 7.
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Aufklärung und Propaganda zum Bestandteil des öffentlichen Bewusstseins gemacht werden kann.36 Die »vorausschauende Auslese« erschöpft sich schließlich in Eheberatung und Austausch von Gesundheitszeugnissen. Dass die sozialhygienischen Maßnahmen auf eugenischem Gebiet fakultativen Charakter tragen, verweist wieder in die Richtung der positiven Eugenik: sie kommen dem intelligenteren Teil der Bevölkerung zugute und bewirken so eine »intellektuelle und moralische Auslese«.37
14.4.2.2 Wirkungsbereiche im sozialhygienische Praxisalltag Die 4 Arbeitsbereiche Praxis, Gremien, Fachpresse und Hochschulen spielen in Alltag und Realität des Sozialhygienikers Chajes die maßgebliche Rolle. Dass dieser als Handlungsbasis an seiner Praxis bzw. Privatklinik festhielt, ist kennzeichnend für die Geschichte der Sozialhygiene. Niedergelassene Fachärzte wie Venerologen, Pädiater, Gynäkologen, HNO-Ärzte und auch praktische Ärzte nahmen besonders in Berlin seit je die Schlüsselstellung in der sozialhygienischen Feldarbeit ein. Dem Konzept der wissenschaftlichen Sozialhygiene entsprechend, war es der Praktiker (immer mehr auch auf nichtmedizinischer und nichtakademischer Ebene), der soziale Krankheitsherde aufspürte und bekämpfte. Für den Venerologen Chajes ergab sich daraus neben der patientenseitig freien ärztlichen Behandlung die Aufgabe der Aufklärung, Verhütung durch umfassende Prophylaxe, Hilfestellung durch Eheberatung und Beratung zur Gestaltung der Lebensverhältnisse. Hinzu kamen im dermatologisch-venerologischen Praxisalltag Probleme der Anzeigepflicht und der Prostituiertenversorgung. Im »Ausschuss zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten« setzte sich Chajes für die Behandlung nichtversicherter Geschlechtskranker auf Staatskosten ein. In der »Deutschen Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten« feilte er an der Seite Alfred Blaschkos am Entwurf des »Gesetzes zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten« aus dem Jahre 1927. In seinem Kommentar zum Entwurf begrüßte er die Freistellung der Prostitution von der bisherigen Reglementierung, die Pflicht zur ausschließlich schulmedizinischen Behandlung und die Zulassung offener Werbung für Schutzmittel. Im Optimalfall wollte er ohne Behandlungszwang und Anzeigepflicht auskommen. Wenn nicht sitten-, so doch gesundheitspolizeiliche Eingriffe erschienen berechtigt gegenüber Prostituierten, die Geschlechtskrankheiten als »Berufskrankheiten« betrachteten und sich wegen des Verdienstausfalls während des Zeitraums einer Behandlung einer solchen widersetzten.38 Fast über die ganze Weimarer Periode hinweg spielte Chajes eine bedeutsame Rolle als führender Fachjournalist und Redakteur. Das Programm eines sozialhygienischen Zentralorgans konnte er auch über die Inflation hin 36 | Chajes S. 148. 37 | Ders. S. 149f.; 144ff. 38 | W. S. 214ff.
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retten, indem er seine »Zeitschrift für soziale Hygiene, Fürsorge- und Krankenhauswesen« (1919-1923) im Folgejahr in die »Zeitschrift für Schulgesundheitspflege und soziale Hygiene« aufgehen ließ. In beiden Zeitschriften war er jeweils Erst- bzw. Mitherausgeber und allein- bzw. mitverantwortlicher Schriftleiter.39 Als Fachpressenexperte vermochte Chajes unter den schwierigen politischen und wirtschaftlichen Bedingungen der Weimarer Ära das von ihm redigierte Zentralorgan auf einem hinlängliches Kontinuitätsniveau zu halten. Im Frühjahr 1931 gab er bei Verschlechterung der politischen und wirtschaftlichen Stimmungslage seine langjährige Position bei dem renommierten Blatt auf, noch im gleichen Jahr stellte die Zeitschrift ihr Erscheinen ein. Chajes gebührt das Verdienst, mit seinem Projekt eines Zentralorgans unter schwierigen Bedingungen die Aufgabe gemeistert zu haben, einem unspezifischen Publikum mit vielseitigem Tätigkeitsspektrum eine zuverlässige und schnelle Orientierung über die Fortschritte auf dem Gebiet der Sozialhygiene zu leisten.
39 | W. S. 216ff. – Die beiden konsekutiven Zentralorgane liefern für die Weimarer Zeit einen guten Überblick über den Fortgang der sozialhygienischen Diskussion und die Fortschritte in den Fürsorgebereichen In der 1. Zeitschrift wurde im größeren Umfang die gesetzliche Regelung des Problems Geschlechtskrankheiten und Prostitution angesprochen. Die Arbeiten zur Gewerbehygiene behandelten besonders Ausbau und Reform der Gewerbeaufsicht mit Kooperation zwischen technischem Beamten und gleichberechtigtem Gewerbearzt. In Bevölkerungspolitik und Eugenik ging es um Maßnahmen zur Beeinflussung von Geburtenrückgang und des biologischen Fortpflanzungsstandards. Auf dem Gebiet des Gesundheitswesens forderte man im Blatt die Zentralisierung der öffentlichen Gesundheitspflege und -fürsorge in einem Gesundheitsamt und die Neuordnung des Arztwesens in Richtung Sozialisierung und Ambulatoriumstätigkeit. In der als Zentralorgan nachfolgenden Zeitschrift (die zur Hälfte der Schulgesundheitspflege, Säuglings-, Kinder- und Jugendfürsorge gewidmet war) nahmen im sozialhygienischen Teil mehr und mehr Struktur und Thematik veränderte Gestalt an. Venerologie und Gewerbehygiene verloren an Terrain. Das »Gesetz zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten« fand positive Resonanz, gewürdigt wurde die Einbeziehung der Berufskrankheiten in die Unfallversicherung. Eine Aufwertung erfuhr der Grenzbereich zwischen Schulgesundheitspflege und Gewerbehygiene mit Artikeln über den Arbeitsschutz für Kinder und Jugendliche und ärztliche Berufsberatung. Beim Komplex des Gesundheitswesens klang die Sozialisierungsthematik wieder an bei dem Versuch, Kommunalärzte und freie Ärzteschaft in der Gesundheitsfürsorge gerade auch im Blick auf »Massennotstände« zu koordinieren. Neu zur Diskussion gestellt wurde die Theorie der Sozialhygiene auch mit kritischen Äußerungen bis hin zur Infragestellung. Eugenik und Rassenhygiene begaben sich auf den Weg einer zunehmenden Radikalisierung.
15. Georg Wolf f (1886-1952): Konzeptionswandel in der Sozialhygiene – vom Medizinalstatistiker und Hochschullehrer zum Outdoor-Epidemiologen in den USA Personaler Typus: Fürsorgearzt in der Schulgesundheitspflege, Verwaltungsmediziner im Hauptgesundheitsamt, Sachwalter der Bio(Anthropo)metrie und einer fortentwickelten epidemiologischen Statistik, Epidemiologe (Tuberkulose- und Krebsepidemiologie)
15.1 In Berlin bis 1937: Stadtschularzt – Abteilungsleiter im Hauptgesundheitsamt, Habilitation bei Grotjahn als Epidemiologe Bei Georg Wolff (Gordon) als Sozialhygieniker der 2. Generation bestimmt vorrangig nicht das Berufsideal des sozial und praxisfeldengagierten niedergelassenen Arztes, sondern fachwissenschaftliches Interesse die einzuschlagende Berufslauf bahn. Für letztere ist es durchaus bezeichnend, dass der Berufsweg des 15-Jährigen (geb. 1886) nach der mittleren Reife 1901 über einen Zeitraum von 4 Jahren mit einem Zwischenspiel als kaufmännischer Angestellter in der chemischen Industrie beginnt. Nach extern abgelegtem Abitur 1906 und dem Studium der Medizin in Berlin promovierte Wolff 1912 mit einer Arbeit über Probleme des Ernährungsstoff wechsels beim Säugling. Von 1911-1914 arbeitete er als Medizinalassistent am Robert-Koch-Institut in Berlin, an den Universitätskinderkliniken in Berlin und Greifswald sowie an der Infektionsabteilung des Rudolph-Virchow-Krankenhauses in Berlin. Im Heeresdienst war er von 1914-1916 als Truppenarzt eingesetzt, von 1916-1918 leitete er ein bakteriologisches Labor für Fleckfieber und Malaria in Rumänien. Trotz einer erkennbaren Neigung zum Fach Pädiatrie dachte Wolff im Unterschied zu vielen zeitgenössischen Sozialhygienikern offenbar zu keinem Zeitpunkt daran, eine Facharztausbildung anzustreben, um von Arztpraxis oder Klinik in das Feld der Sozialhygiene hineinzuwirken. Geleitet
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von seinen bakteriologischen Erfahrungen und angesichts erster Publikationen auf diesem Gebiet verfolgte er nach dem Krieg von vornherein das Ziel einer administrativ-wissenschaftlichen Karriere in der kommunalen Medizinalverwaltung. Von 1919-1923 war er als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Hygiene und Bakteriologie des Hauptgesundheitsamts der Stadt Berlin beschäftigt. Im Zusammenhang mit ersten epidemiologischen Studien zur Grippeepidemie der Nachkriegszeit in Deutschland gelangte Wolff von der Bakteriologie/Hygiene zur Sozialhygiene und beteiligte sich seit dem Sommersemester 1920 über mehrere Semester an den Sozialhygienischen Übungen Alfred Grotjahns. Parallel dazu absolvierte er Kurse an der Akademie für Sozialhygiene in Berlin-Charlottenburg. In seinen größeren epidemiologischen Publikationen geht es zunächst um das klassische Inauguralthema der Sozialhygiene, die Tuberkulose. 1926 erschien seine Monographie über Tuberkulosesterblichkeit und Industrialisierung Europas. Der internationale Aspekt intensivierte sich, als Wolff durch Vermittlung der Hygiene-Abteilung des Völkerbunds in Genf in eine Kooperation mit Major Greenwood vom Statistical Service of the National Institute for Medical Research in London eintrat. Hier signalisierte er einen künftigen Paradigmenwechsel im Fach auch in Deutschland durch die Rezeption der englischen mathematisch-biologischen statistischen Methodik. Mit einer gemeinsam mit Greenwood 1928 publizierten Arbeit über statistische Studien zur Tuberkulose dokumentierte er diesen Entwicklungsschritt (s.u. Ergographischer Überblick). In seiner Stellung als Stadtschul- und später Stadtoberschularzt im Bezirk Prenzlauer Berg 1923-1929 konnte Wolff endlich auch sein epidemiologisch-sozialhygienisches Forschungsstreben erstmals mit der klinischen Präferenz in Verbindung bringen, die er pädiatrischen Fragestellungen zugestand – eine Verbindung, die auch seine Forschungsarbeit in den USA charakterisierte. Er schrieb über Scharlach, Diphtherie und Infektionsprophylaxe in Schulen. Sein Hauptaugenmerk richtete er auf das »gesunde« Kind vom Schulanfänger an. Welche Folgen zeitigte der Hunger während der Kriegs- und Nachkriegzeit in Berlin für die körperliche Entwicklung in der städtischen Schuljugend? In einer anthropometrischen Studie untersuchte er von der Einschulung an Körpergewicht und -länge aller Kinder der Schuljahrgänge 1924-1931. Mit dieser Arbeit habilitierte er sich 1930 bei Grotjahn in Sozialhygiene.1 Auch die anderen Berliner Schulärzte erhoben bei den Schülern Daten zu Körperlänge und -gewicht zwecks anthropometrischer Eruierung der Folgen von kriegsbedingter Unterernährung. Der Medizinalstatistiker Karl Freudenberg zog aus diesem Material 1926 das Fazit, dass sich die Körperlänge erbbedingt nach der Gaußschen Kurve verteilt, die differente Verteilung des Gewichts dagegen die umweltbedingten Einflüsse hervorhebt.2 1 | »Der Einfluß der Hungerperiode während des Krieges auf das Größenwachstum der Schulkinder«. 2 | Stöckel 1994, S. 481, Anm. 31.
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Seine statistisch-epidemiologischen Studien brachten Wolff 1929 zurück ins Hauptgesundheitsamt der Stadt Berlin, wo er bis 1933 als Direktor der Medizinalstatistischen Abteilung wirkte. Von 1931-1933 veröffentlichte er im Auftrag der Landesregierung und des Preußischen Städtebunds umfangreiche Jahresgesundheitsberichte über die preußischen Regierungsbezirke in den 3 Jahren zuvor.
15.2 Tod und Todesursachen unter den Berliner Juden – Spätemigration in die USA Nach seiner Zwangspensionierung 1933 zögerte Wolff lange, Deutschland zu verlassen. Posthum zu Aufsehen und Renommee gelangte seine 1937 zusammen mit Franz Goldmann (»vormals Privatdozenten an der Universität Berlin«) im Auftrag der Reichvertretung der Juden verfasste statistische Studie »Tod und Todesursachen unter den Berliner Juden«. In dem auf Betreiben der Gestapo entfernten Kapitel über »Selbstmord« verglichen die Autoren die Zeitabschnitte 1924-1926 und 1932-1934 sowie die Suizidraten in jüdischen und nichtjüdischen Populationen bezogen auf je 100000 Personen. In »normalen« Zeiten bestand kein signifi kanter Unterschied zwischen den Suizidraten, 1932-1934 lag die Zunahme bei den Juden mit 50 % signifi kant über der Anstiegsrate bei Nichtjuden.3 Ein Stipendium der School of Hygiene and Public Health der John Hopkins University in Baltimore ermöglichte Wolff 1937 die Emigration über England in die USA. Trotz seiner Spezialisierung in Statistik und Epidemiologie rächte sich jetzt (wie bei anderen, wenn auch nicht so drastisch) der späte Zeitpunkt seiner Emigration noch dazu in die größte Fortschrittsnation der Welt. Deren liberal-kapitalistischer Zuschnitt widersprach auch in Public Health dem wohlfahrtsstaatlichen Ansatz der deutschen Sozialhygiene. Die mathematisch-biologische Epidemiologie besaß in ihrem Quellgebiet im angloamerikanischen Bereich einen Vorsprung vor dem kontinentalen Europa. Unter dieser Konstellation war Wolff gezwungen, über Jahre ein Wanderleben zu führen als wissenschaftlicher Mitarbeiter an Forschungseinrichtungen des amerikanischen Gesundheitsdienstes. Bis zu seiner Einbürgerung 1944 bestritt er seinen Lebensunterhalt mit Forschungsstipendien und Studienbeihilfen auf wechselnden Arbeitsplätzen. Als Arbeitsstationen nennen wir die Division of Public Health Methods am National Institute of Health des United Public Health Service in Washington 1941, die Carnegie Institution of Washington, Genetic Research Unit in Cold Spring Harbor, Long Island N. Y. 1943, ab 1944 das US Children’s Bureau, Division of Statistical Research in Washington, das Arbeitsministerium und das Pentagon. In all diesen Wanderjahren bewältigte er einen stetigen Aufstieg in seiner Position. Aber das Gipfelplateau erreichte er erst mit seiner 3 | Tutzke 1972, S. 123.
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Ernennung zum Chef der Biometrie-Sektion im Medizinischen Dienst des Civil Aviation Bureau im Juli 1952. Hier (im 67. Lebensjahr) verhalf ihm das Schicksal zum ersten Mal in Amerika zu festem Boden unter den Füßen zum Ausbau einer wirklich »guten« Existenz (»Grace à cette situation il toucha pour la première fois un ›bon‹ traitement«. 4 Nur 2 Monate später verstarb Wolff an einem Herzinfarkt.5 Das Verdienst Wolffs besteht darin, versucht zu haben, neben der klassischen klinischen Statistik von der Observanz eines Friedrich Prinzing die anglo-amerikanische, mathematisch-biologische Statistik vom Rang eines Karl Pearson in der deutschen Sozialhygiene zu etablieren, wo man teilweise noch der Meinung war, Statistik überhaupt sei entbehrlich.6 1926/27 eignete er sich in London als Autodidakt die Methodik der modernen Statistik an, die seine künftigen epidemiologischen Arbeiten bestimmte. In Deutschland allerdings verblieb ihm aufgrund der politischen Ereignisse bis 1933/37 nur wenig Zeit zu einer breiteren literarischen Verwertung. Dennoch kann man sagen, dass von ihm ein erster Impuls ausging für Rezeption und Anwendung einer Methode, die erst nach dem 2. Weltkrieg die Epidemiologie auch in der deutschen Sozialmedizin auf eine neue Grundlage stellen sollte. In den USA hielt sich Wolff an seine alten Spezialgebiete. Bis 1945 erschienen von ihm 12 Zeitschriftenaufsätze und eine Broschüre, für die Zeit danach (seit der Übersiedlung ins U.S. Children’s Bureau in Washington) sind keine weiteren Publikationen belegt. Die Arbeiten behandeln die Themen Tuberkulosesterblichkeit, anthropometrische Befunde bei weißen und schwarzen Schulkindern und Unfallmortalität bei Kindern und Jugendlichen. Inwieweit diese Arbeiten, insbesondere zur Anthropometrie, von einem engen Schüler Grotjahn’s verfasst, in Public Health etwa als Muster deutscher Sozialhygiene zur Geltung gekommen und in welcher Weise sie richtungweisend geworden sein könnten, sollte eingehender untersucht werden, schon um die Tranferleistung der Sozialhygieneemigranten in den USA deutlicher zu erfassen. Immerhin nimmt Walksman noch 1964 in einer Monographie über den »Sieg über die Tuberkulose« dreimal Bezug auf Wolff mit Zitaten aus dessen epidemiologisch-statistischen Studien zur Tuberkulose.
15.3 Ergographischer Überblick Seit Anfang der 20er Jahre beschäftigte sich Wolff anhaltend und intensiv mit Tuberkuloseepidemiologie im internationalen (europaweiten) Vergleich. 4 | Tutzke a.a.O., S. 124. 5 | Schneck 2004, S. 249, 252ff.: ders. 1994, S. 249-252, 255 Anm. 23; Weder 2000, S. 284, 289 (auch Anm. 84 und 87), 388, 448; Antoni 1997, S. 134, 149; Stöckel 1994, S. 473, 484, 486, 489; Labisch/Tennstedt 1985, S. 161, 576, 514f.; Strauss/Röder Bd.1 1983, S. 110f.; Tutzke 1972, S. 121ff.; ders. 1970, S. 335ff.; ders. 1968, S. 256ff.; Grotjahn 1932, S. 251. 6 | Tutzke 1972, S. 124 und oft in der Übersichtsliteratur.
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In mehreren Publikationen bearbeitete er die Daten zur Tuberkulosesterblichkeit, die er den Todesursachen- und Mortalitätsstatistiken der amtlichen statistischen Bulletins der europäischen Staaten entnahm. 1928 veröffentlichte er zusammen mit Major Greenwood als Resumee seines Londoner Studienaufenthalts eine Arbeit, in der die Autoren aus dem Datenmaterial mittels mathematischer statistischer Technik ein Maximum an tragfähigen, für die sozialhygienische Praxis tauglichen Aussagen zum Thema herauszudestillieren suchten.
15.3.1 Aufschwung in Statistik durch deutsch-englische Kooperation: Greenwood und Wolf f über »Einige methodisch-statistische Studien zur Epidemiologie der Tuberkulose« 1928 Es handelt sich hier zweifellos um eine programmatische Arbeit, an deren Inhalt die Historiker zu Unrecht bisher achtlos vorbeigingen. Am Beispiel der (in der Ära bereits aussterbenden) Tuberkulose, dem Initiationsthema im Entwicklungsgang der deutschen Sozialhygiene zur Wissenschaftsdisziplin werden hier 3 Vorstellungskreise dargelegt: 1. das Modell von Risiko- und Protektionsfaktoren für Krankheitsentstehung; 2. die Industrialisierung als potentielle Quelle von Gesundheitsförderung und 3. die Bedeutung von statistisch-analy tischer Epidemiologie für die Krankheitsbekämpfung. Damit schickte sich Wolff an, in der zweiten sozialhygienischen Auf bruchperiode in der Weimarer Zeit 7 im Bereich der Epidemiologie die Weichen für die Zukunft zu stellen, wenn ihm auch die Fatalität des NS-Staats in der Zeit bis 1933 eine zu kurze Frist beließ, in der eingeschlagenen Richtung der deutschen Sozialhygiene erfolgreich voranzuschreiten. Das Ziel der Arbeit war ein praktisches: durch analytische Epidemiologie den Stellenwert der Risiko- resp. Protektivfaktoren für Tuberkulose (»tuberkulosefördernde und -hemmende Momente« wie Lebensstandard, Exposition, Wohndichte, Durchseuchung, Klima und Disposition) zu ermitteln und einer gezielten Seuchenbekämpfung zugrunde zu legen. Als Ausgangspunkt diente der zeitliche und örtliche Vergleich der Tuberkulosesterblichkeit in den europäischen Ländern. Das Ergebnis widersprach immerhin zunächst einer weit verbreiteten herkömmlichen Anschauung von gesunder Arbeit in frischer Luft auf dem Land bei weitläufiger Besiedlung. Im zeitlichen Vergleich wurde nämlich im zurückliegenden Zeitraum der letzten 50 Jahre gerade in den Industriestaaten ein kontinuierlicher Abfall der Gesamtmortalität und der Tuberkulosesterblichkeit beobachtet, wobei letzterer mit Reduktion auf ca 50 % wesentlich stärker ausgeprägt war als ersterer mit einer solchen auf nur 70 %. In den Agrarstaaten dagegen stagnierten die Ziffern oder sanken relativ gering ab. Kurzzeitige Anstiege beider Werte machten
7 | Zur Periodisierung der Sozialhygiene vgl. Antoni 1997, S. 34.
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sich nur während der Kriegsjahre und isoliert in Deutschland während der Inflation bemerkbar. Auch beim »örtliche Vergleich der Länder untereinander zur gleichen Zeit« im Jahrfünft zwischen 1905-1910 triumphierten die Industriestaaten mit einer »erheblich geringeren Tuberkulosesterblichkeit« gegenüber den Agrarstaaten.8 Innerhalb der Staaten galt unverändert der alte Grundsatz, dass Leben und Arbeit auf dem Land weniger zu Tuberkulose disponieren als die Verhältnisse in einer Industriestadt mit dichter Besiedlung und kräftezehrender Fabriktätigkeit. Dass trotzdem die Industriestaaten mit und ohne größeren Agraranteil eine niedrigere Tuberkulosesterblichkeit aufzuweisen hatten als die Agrarstaaten, konnte nur mit dem unterschiedlichen ökonomisch-sozialen Gesamtstatus der Länder zusammenhängen. Im örtlichen Vergleich wurde deshalb nicht nur der Anteil der Industrialisierung in den Ländern, sondern in den Städten Paris, London und Berlin auch der Anteil der Armen als unabhängig Veränderliche mit »Tuberkulosesterblichkeit« als der abhängig Veränderlichen in Beziehung gesetzt. – Im Fall »Tuberkulose und Armut« fiel in Paris der Korrelationskoeffizient mit + 0,932 hochpositiv aus. Mit Hilfe des Korrelationskoeffizienten und der Standardabweichungen der beiden Häufigkeitsreihen wurde über die Regressionswerte die Regressionsgerade abgeleitet, die die wahrscheinlichsten Werte der Tuberkulosesterblichkeit für die gegebenen Armenanteile anzeigt. Je höher der Armenanteil in den jeweiligen Stadtvierteln kletterte, umso stärker vermehrten sich, und zwar im Quadrat der Armenanzahl (s.u.), die Todesfälle an Tuberkulose. Unter den günstigen Indexvoraussetzungen in Paris wurde die Tuberkulosesterblichkeit hier zum Indikator, ja geradezu zum »Attribut der Armut«9. – Im Fall »Tuberkulose und Industrialisierung« entsprach der schon aus den Zahlenreihen erkennbaren allgemeinen Tendenz eine eindeutig negative Korrelation mit einem Korrelationskoeffizienten von – 0,647 +/- 0,105, aus der Regressionsgleichung wurden die Werte der Tuberkulosesterblichkeit für die Darstellung der Regressionsgeraden errechnet als Ausdruck für die wahrscheinlichsten Werte der Tuberkulosesterblichkeit bei gegebenem Industrialisierungsgrad. Je weiter in einem Land die Industrialisierung fortgeschritten war und im Zusammenhang damit Zivilisation und Lebensstandard anstiegen, umso mehr schraubten sich die Todesraten an Tuberkulose nach unten. Der Industrialisierung wohnt mithin die Fähigkeit inne, offenbar über Anhebung des allgemeinen Wohlstands Krankheiten einzuschränken und zu besiegen. Es kam also den Autoren, und, wie wir in der Person Wolffs sehen, den deutschen Sozialhygienikern der Zeit darauf an, möglichst nahe an Risikoprofi l und Kausalkomplex der Volkskrankheiten heranzukommen, um sie effektiv bekämpfen und sie präventiv angehen zu können. Dazu benötigten sie die Hilfe einer exakten mathematisch-statistischen Bearbeitung des gegebenen Datenmaterials. Was wir hier bei Wolff beobachten können, ist die 8 | Greenwood/Wolff 1928, S. 106. 9 | A.a.O. S. 111.
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erstaunliche Objektivität, mit der in der Sozialhygiene der 20er Jahre aus der Perspektive des modernen Sozialstaats nicht zuletzt aufgrund der Sprache der Statistiken eine insgesamt positive Einschätzung von Industrialisierung und Industrie die Oberhand gewann. Die Industrialisierung verursachte nicht nur Schäden etwa durch Ausbeutung und Überlastung, sie hatte auch gewaltige Vorteile für die ganze Gesellschaft. Sie verschaff te den Massen Arbeit, Brot und in der Form der Sozialversicherung paritätische Vorsorge, sie entwickelte mit dem Ausbau der Infrastruktur, Zivilisation und Kultur eine lebenswerte und -fördernde Wohlstandsgesellschaft. Sie enthielt sozusagen einen gesundheitsfördernden Kern, denn sie begründete in Europa den wirtschaftlichen Aufschwung, der durch ökonomische, hygienische und soziokulturelle Verbesserungen allen Schichten der Gesellschaft bis auf den Grund zugute kam. Sie ermöglichte »(die) Erhöhung des durchschnittlichen Volkswohlstandes, die Hebung der gesamten Volksbildung durch obligatorischen Schulunterricht, die Verbesserung des Arbeiterschutzes und die Durchführung der zahlreichen hygienischen Maßnahmen, von der Städtesanierung bis zur modernen Fürsorge«. Die positiven wirtschaftlichen Ergebnisse der Industrialisierung sorgten dafür, dass die von ihr angerichteten Schäden letztendlich »überkompensiert« wurden.10 Ein Nachteil internationaler Vergleiche der geschilderten Art waren die Fehlerquellen, wie sie sich in Form uneinheitlicher Nomenklatur, unterschiedlicher Totenscheindiagnostik und besonders fehlender Standardisierung der Sterbeziffern darstellten. Beim zeitlichen (Längsschnitt-)Vergleich kommt es zu einer Kompensation dadurch, dass die Fehler in den jeweiligen Ländern in derselben Richtung wirken, während ein solcher Ausgleich beim örtlichen (Querschnitt-)Vergleich nicht stattfindet. Trotzdem besitzen zeitnahe örtliche Vergleiche »besondere Bedeutung«, weil große Unterschiede in den örtlichen Sterbeziffern kausale Rückschlüsse zulassen, die uns in die Lage versetzen, »aus der statistisch-epidemiologischen Erkenntnis praktisch wichtige Arbeit für die Seuchenbekämpfung (zu) leisten«. In kleineren Untersuchungsbereichen (z.B. Städten, Stadtbezirken statt Ländern) erleben wir nicht nur gleichförmigere Lebensbedingungen, sondern es ist zudem leichter möglich, Indices für zu untersuchende Wirkgrößen zu finden (z.B. Wohlstandsindex). In eleganter Weise formulierte Hersch den Wohlstandsindex für die Bevölkerung in Paris: er bezeichnete in den Arrondissements alle diejenigen als Arme, die nicht der Pariser Wohnsteuer unterlagen. Hersch konnte ohne Korrelationsberechnung anhand seiner Zahlen für Paris zeigen, dass die Tuberkulosesterblichkeit im Quadrat der Armen wächst. Daraus entwickelte er für Paris eine »tuberkulöse Charakteristik« (Maximum der zu erwartenden Tuberkulosesterblichkeit in einer Armenbevölkerung von 100 %), die auch geeignet erscheint als Vergleichsmaßstab für die Tuberkulosegefährdung in anderen Städten. Hersch’s Berechnungen nach der Methode des Quadrats der Armut von 1911-1913 in Paris wurden von Greenwood und Wolff für die Jahre 1921-1922 nachgeprüft und den Er10 | A.a.O. S. 107f.
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gebnissen zusätzlicher Korrelations- und Regressionsberechnungen (s.o.) gegenübergestellt. Die Tendenz des Hersch’schen Modus erwies sich als richtig, die Nachprüfung bestätigte die Hersch’sche Regel »weitgehend«, die Übereinstimmung in den Zahlenwerten war »recht vollkommen«.11 Mit Hilfe der mathematisch-statistisch errechneten Zahlenwerte lässt sich unter den konkurrierenden Risikofaktoren eine Rangordnung herstellen, der für die Tuberkulosebekämpfung praktische Bedeutung zukommt. – Unter den konkurrierenden Faktoren beschreibt die Durchseuchung einen biologisch-immunologischen Abwehrvorgang, dessen Reichweite und Durchschlagskraft von gegenläufigen Faktoren der Umwelt abhängen und häufig nicht ausreichen, den Ausbruch der Krankheit zu verhindern, wenn die individuellen Widerstandskräfte versagen, die »Durchseuchungsresistenz« durchbrochen wird, wiederholte Infektionsattacken erfolgen und vor allem die hygienischen und sozialen Umweltbedingungen (wie bei den Armen in den Massenquartieren von Paris) die Infektion begünstigen. – An allen biologischen Prozessen ist immer ein konstitutioneller Faktor beteiligt. In der Epidemiologie der Tuberkulose als Infektionskrankheit überwiegen aber ganz offensichtlich Exposition und Kondition über Disposition und Konstitution. Der konstitutionelle Faktor lässt sich kaum aus dem Komplex der wirksamen Umweltfaktoren herauslösen. Sein Manko besteht darin, dass er sich der exakten Bestimmung entzieht. Eine vererbungsbiologische Beweisführung entfällt. Der Kampf um die »Züchtung des Edelmenschen« ist ein aussichtsloses Unternehmen, das die Abwehrmaßnahmen gegen krankheitsfördernde schädliche Umwelteinflüsse nur beeinträchtigt. – Auch das Klima an sich ändert wenig am Verlauf der Tuberkulosekurve, eher spielen die »Folgen des Klimas für Wohnungsweise und Berufsarbeit« eine Rolle12. In klimatisch ähnlichen Ländern zeigt die Tuberkulosesterblichkeit ganz unterschiedliches Verhalten!13 Über das Endergebnis einer epidemiologischen Untersuchung entscheidet die Statistik. Nach der Logik der Zahlen gehört die Armut in all ihren Facetten an die Spitze der Rangordnung der Risikofaktoren für Tuberkulose. Umgekehrt ist der evidente Rückgang der Tuberkulosesterblichkeit in allen Kulturländern ein Lobgesang auf den sozial fortschrittlichen Industriestaat, der sich Armutsbekämpfung und Wohlfahrtspflege zueigen macht. Schließlich klingt hier ein Gedanke Grotjahns an, den dieser unbewusst-verbrämt aus imperialistischer Vergangenheit herübergerettet hat: der Gedanke vom gesundheitlichen und sozialen Wettstreit zwischen den Weltmächten (jetzt eher industriellen Supermächten). In einen solchen sind die Industriestaaten eingetreten, soweit sie die Ausrottung der Tuberkulose als »Teil der sozialen Frage und damit als eine Kulturaufgabe von internationaler Bedeutung« erfassen.14 11 12 13 14
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A.a.O. S. 126. A.a.O. S. 108. A.a.O. S. 139. A.a.O. S. 140.
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15.3.2 Die theoretischen Vorausset zungen der Sozialen Hygiene 1929 1929/30 begannen Grotjahn und Freunde mit der Herausgabe eines neuen Periodikums zur berufsbegleitenden Unterrichtung aller im sozialen Gesundheitsbereich Tätigen. Die Leistungen von »Sozialhygiene und Gesundheitsfürsorge«, wie sie ihre Tätigkeitsfelder in einem Atemzug benennen, sollten auf den hochentwickelten Arbeitsgebieten vor den Augen der Wissenschaftskollegen im ständigen Fluss Revue passieren. Bereits nach 2-jähriger Laufzeit musste das Periodikum sein Erscheinen einstellen. So wurde es in einem 2-bändigen Werk am Ende einer Ära zu einer Art Rechenschaftsbericht über das gemeinschaftliche Oeuvre, das ja für Wissenschaftserkenntnis und soziale Praxis über die nationalen Grenzen hinaus von säkularer Bedeutung war.15 – Im 1. Band 1929 zieht Wolff in einem längeren Beitrag Bilanz aus der zurückliegenden sozialpolitischen Entwicklung und sucht Wesen und Aufgaben der Sozialhygiene aus ihrem geschichtlichen Werdegang zu präzisieren.16 Ausgehend von den wissenschaftstheoretischen Fragestellungen der Anfangszeit kennzeichnet er den Entwicklungswandel bis zur spätzeitigen Gegenwart durch eine gesellschaftszentrierte Begriffsbestimmung. Der Sozialen Hygiene geht es nicht nur um die Gesundheit der unteren Volksschichten, ihr Attribut »sozial« steht (wie im Grunde schon bei Grotjahn) nicht für den »humanen«, sondern den »gesellschaftlichen« Aspekt (»das Moralische versteht sich in jeder Wissenschaft von selbst«). Die Aufgabe der Sozialen Hygiene ist es, sozialwissenschaftlich im Massenexperiment und epidemiologisch-statistisch die Bedeutung des »Gesellschaftslebens« insgesamt für die »gesundheitliche Lage der durchschnittlichen Bevölkerung«, also für die Volksgesundheit überhaupt aufzuweisen. Die Perspektive der Gesundheitsarbeit verlagert sich endgültig von den Gliedformationen einer Gesellschaft auf diese selbst als Ganzes. Die »wirtschaftliche und soziale Struktur der Gesamtheit« im Sinne von Volkswohlstand und -bildung 17 prägt »in hohem Grade« die Gesundheit des einzelnen.18 Nach Wolff umfasst die Sozialhygiene die Gesundheitsfürsorge für die ganze Bevölkerung, ihre (noch) gesunden unselbständigen und erwerbstätigen Teile, und die Krankenfürsorge für alle angeboren oder erworben Geschädigten, also die chronisch Kranken oder Behinderten sowie die Eheberatung als Anfang einer praktischen Eugenik. Ihr Konzept ist die Konsequenz der industriestaatlichen Entwicklung. Industrie und Sozialstaat sind für Wolff die entscheidenden Bezugsgrößen im Wechselspiel der Sozialpolitik. Die Sozialhygiene schaff t im Dienste des Staates die theoretischen Voraus15 | Grotjahn et al. (Hg.) 1929/30, S. Vf.; vgl. Kaspari 1985, S. 402. 16 | Vor 1933 lobte Gottstein den »großen und inhaltsreichen sorgfältigen Aufsatz«, ders. 1932, S. 5f. und 9f. Dennoch wurde der Text nach 1945 nie eingehender behandelt. 17 | Wolff 1929, S. 311. 18 | A.a.O. S. 294ff.
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setzungen für eine optimale quantitative und qualitative Bevölkerungspolitik in der Industriegesellschaft. Zielgrößen der von der Sozialhygiene lancierten Sozial- und Gesundheitspolitik sind der starke Sozialstaat und eine durch Rationalisierung wettbewerbsstarke Industrie (»Privatwirtschaft«). Unter ihrem Dach kann sich »der Arbeiter das einzige Kapital, das er selbst in den Produktionsprozeß bringt, seine Arbeitskraft« erhalten.19 Wie eine Vorahnung schimmert durch diese Vorstellungen das Bild einer sozialen Marktwirtschaft zur Sicherung der Lebensgrundlage der Massen. Aber bei Wolff erblickt man auch die andere Seite der Medaille. Im Lichte der durch die Arbeitsschutzgesetzgebung vollendeten Bismarckschen Sozialversicherung verbindet sich ihm Sozialstaatsideologie mit beflissener Industriegläubigkeit, als seien beide, Staat und Industrie, berechenbare Größen. Gesundheit verdankt sich dem prosperierenden Staat. Der Fehler ist darin zu suchen, dass Wolff Gesellschaft, Gesamtheit und Staat voreilig gleichsetzt. Der freie, fremdzweckentbundene Gesundheitsgedanke, der im Vorjahrhundert die Gesundheitsströmungen beflügelte, erscheint zumindest teilweise der Staatsräson geopfert. Alle Gesundheit geht vom (Wohlfahrts-)Staat aus. Dem begrüßenswerten Satz von der Beeinflussung der Gesundheit des einzelnen durch den Zustand der Gesamtheit fehlt im Kontext als essentieller Gegenpart die ergänzende Einsicht, dass sich im freien, autonomen Gesundheitsziel des einzelnen die Wurzeln einer gesunden Gesellschaft verbergen. Bei Wolff dagegen dominiert die staatlich-sozioökonomische Abzweckung. Die Ziele der Gesundheitspolitik »kommen letzten Endes dem Staat und der Privatwirtschaft zugute. Denn der arbeitende und Werte schöpfende Mensch ist das kostbarste Gut des Staates«.20 Der mit der Bismarck’schen Sozialgesetzgebung aufgekommene »Staatssozialismus« wird konsequent weitergeführt, die Kontrolle der Gesundheit mit Hilfe und zugunsten von Staat und Industrie durchorganisiert. Auf diese Weise gelingt eine Art sozialpolitischer Quadratur des Kreises, während Massenarbeitslosigkeit das Straßenbild zu prägen beginnt. Staatsmacht und Industriekapital bringen Ordnung ins soziale Haus, mögen durch die Hintertür auch Rassenhygieniker in die Keller steigen. Die industriegestützte Verstaatlichung von Gesundheit verbreitet am Ende einen Hauch von totalem Sozialstaat.21 Wolffs Standortbestimmung aus der Rückschau vermittelt eher den Eindruck einer Stagnation als eines visionären Zukunftsausblicks. Dem Aufsatz ist die Krisenstimmung der Zeit anzumerken. Sozialhygiene und 19 | A.a.O. S. 321. 20 | A.a.O. S. 322. 21 | Professionalisierung und administrative Strukturierung im Beratungsstellen- und Wohlfahrtswesen mussten per se das latente Risiko eines korporativen und autoritären Missbrauchs herbeirufen, dem allderdings als Gegengewicht ein funktionierendes demokratisches Regulationssystem hätte entgegenstehen sollen. Die Deutungen des Sozialgeschehens in der Weimarer Republik bei Weindling gehen m.E. in diesem Punkt im Einzelnen zu weit, zeigen aber dennoch eine historische Grundtendenz auf: ders. 1992, S. 332ff., bes. 343f., 348, 368, 398, 418.
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Gesundheitsfürsorge werden ihrer selbstgestellten Aufgabe im Dienste der Volksgesundheit gerecht. Der Rückgang der Säuglings- und Tuberkulosesterblichkeit und anderer »unnatürlicher Todesursachen« durch ärztliche Fürsorgetätigkeit und damit die Steigerung der mittleren Lebenserwartung demnächst beim Stand von 60/65 Jahren dürften in absehbarer Zeit auf ihre »natürliche Grenze« stoßen.22 Wolffs Stellung zu seinem Lehrer Grotjahn scheint ambivalent. Er nutzt jede Gelegenheit, ihn zustimmend zu zitieren, aber verschweigt seinen Namen im keineswegs seltenen Kritikfall besonders auf dem Gebiet der Eugenik. Eine Reihe überfälliger Einsichten charakterisieren die Abweichungen. Die Entwicklung einer Massenbevölkerung geht nicht nur nach rational-kalkulierbaren Gesichtspunkten vonstatten, sondern unterliegt auch nicht vorhersehbaren Variablen. Die Gesellschaft verfügt über »reaktive Eigenschaften«, die sie zur Selbstregulation befähigen. Die differentielle Geburtenrate, die größere Geburtenfreudigkeit der unteren gegenüber den gehobenen Schichten gehört der Vergangenheit an.23 Als vollends unbewiesene Prämisse entpuppt sich die Behauptung einer Proportionalität von Erbqualität und sozialer Schichtung, wonach die jeweils höhere Schicht das stärkere Begabtenreservoir vorhält.24 Obwohl der Stadtoberschularzt aus eigener beruflicher Erfahrung in erwiesenen Fällen eugenischen Zwangsmaßnahmen (Sterilisation, Schwangerschaftsunterbrechung bei schwachsinnigen Elternpaaren mit mehr als »zwei oder drei« ebenfalls »minderwertigen« Abkömmlingen) das Wort redet, beurteilt er die Eugenik durchaus kritisch. Der um sie geführte Diskurs leidet unter einem »rassenpolitischen Beigeschmack«. Der Ausschluss minderwertiger Erbanlagen ist »beim Menschen nicht leicht zu erreichen«. Auch eine erbliche Anlage zur Lungentuberkulose lässt sich »bei dem gegenwärtigen Stand der Forschung« nahezu ausschließen. Gegen eine »erbbiologische Beeinflussung« sprechen die Beobachtungen zu Häufigkeit und Verlauf der Krankheit unter den Bedingungen der zivilisatorischen Entwicklung, die alle auf äußere Faktoren hindeuten. Deren Beseitigung überwältigt in naher Zukunft die Seuche »fast allein«, auf die »immer problematischen Ergebnisse der menschlichen Erblichkeitslehre« braucht man in diesem Zusammenhang nicht zurückzugreifen. Diese sind vielmehr Anlass, sich dagegen zu wappnen, »das höchste Gut des menschlichen Individuums, das Selbstbestimmungsrecht und die persönliche Freiheit« um radikaler Lösungen willen aufs Spiel zu setzen.25
22 | Wolff 1929, S. 312. 23 | Nach Weingart et al. bediente man sich ihrer noch als Argument, »als sie sich schon als Übergangsphänomen erwiesen hatte«, dies. 1988/92, S. 134. 24 | Wolff 1929, S. 315. 25 | A.a.O. S. 318f.
16. Franz Goldmann (1895-1970): Avantgardist der praktischen Umsetzung von Sozialhygiene in der Gesundheitsver waltung. Transfer von Bausteinen für eine gesetzliche Krankenversicherung in die USA
Personaler Typus: Gesundheitssystemforscher, Gesundheitsökonom, hervorragender Didaktiker, mitreißender Lehrer (»splendid lecturer«), im Exil in den USA gesundheitspolitischer Querdenker mit dem Konzept einer gesetzlichen Krankenversicherung, humanitärer Idealist. Berlin als Reichs-Metropole war die Hochburg der deutschen Sozialhygiene. Erster Weltkrieg und Nachkriegszeit mit ihren wiederholten ökonomischen Krisen entfachten hier die Phase einer praktizierten Sozialhygiene und verhalfen dieser in das Stadium ihrer »normativen«, d.h. heilzielgerichteten Realisierung. Von daher kann es nicht wundernehmen, dass die Mehrzahl der Sozialhygieniker der 2. Generation – Ärzte, Verwaltungsmediziner und Dozenten – für die Hauptstadt als beruflicher Wirkungsstätte optierten. Atmosphäre und Ausstrahlung der Stadt ließen im Kontakt mit den staatlichen Instanzen ihre Projekte auf allen Feldern der sozialen Gesundheitsarbeit nicht selten zu Entwürfen mit Modellcharakter geraten. Unter den Sozialhygiene-Experten fanden sich viele Juden, die sich am ehesten aufgrund von Erfahrungen ihrer jüdischen Herkunft und überkommener kultureller Neigungen von dem Berufsbild angezogen fühlten. In Berlin lebte Goldmann, 1895 in Elberfeld geboren, insgesamt 26 Jahre. Hier verbrachte er seine Schulzeit und beendete, unterbrochen von Studiensemestern in Freiburg und Kriegsdienst in Feldlazaretten, das Medizinstudium 1920 mit Approbation und Promotion. Es folgten 2 Jahre der praktischen Ausbildung als Assistentarzt in Berliner Universitätskliniken, im Stadtkrankenhaus Westend und in einer Kassenarztpraxis. Durch Teilnahme am Sozialärztlichen Seminar des »Instituts für Soziale Hygiene« in dieser Zeit kam er in persönliche Verbindung mit Grotjahn als Seminarlei-
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ter. Dieser war es, der den Blick des noch nicht professionalisierten jungen Arztes vom praktizierten ärztlichen Beruf auf die Karriere in der Gesundheitsverwaltung lenkte. Im Herbst 1922 trat Goldmann eine Stelle im Hauptgesundheitsamt in Berlin an, dem die Gesundheitsämter bzw. die Stadtärzte in den 20 Stadtbezirken unterstanden. In seinen Arbeitsbereich fiel zunächst das Krankenanstaltswesen, das neben Krankenhäusern verschiedenartige städtische Heil- und Pflegestätten umfasste. 1925 wurde Goldmann stellvertretender Leiter der neu geschaffenen Sozialhygienischen Abteilung und Dezernent für alle Sparten der Gesundheitsfürsorge. 1929 erhielt er den Ruf als Oberregierungsrat und Dezernent für Gesundheitsfürsorge in die Medizinalabteilung des Reichministeriums des Innern. In dieser Position gelangte er sozialpolitisch und legislativ zu erheblichem Einfluss. Seit 1926 nahm der ausgewiesene Verwaltungsmediziner eine ausgedehnte Lehrtätigkeit auf sich an insgesamt 5 Fachschulen für Fürsorgeärzte, Fürsorgerinnen und Sozialbeamte. Die verwaltungsärztliche Tätigkeit lieferte Goldmann ähnlich wie Gottstein das Material für zahlreiche arbeitsbegleitende Veröffentlichungen. Durch seine mehr als 50 Publikationen bis zur Emigration wurde er als Gesundheitspolitiker international bekannt. Seinen wissenschaftlichen Ruf untermauerte vollends die zusammen mit Alfred Grotjahn verfasste Monographie »Die Leistungen der deutschen Krankenversicherungen im Lichte der Sozialen Hygiene«, Berlin 1928, die das Internationale Arbeitsamt noch im gleichen Jahr in englischer und französischer Version edierte1 und von deren Wertschätzung Goldmann noch im amerikanischen Exil profitierte.2 Nach dem Tode Grotjahns habilitierte er sich 1932 an der Berliner Medizinischen Fakultät in Sozialhygiene über den ihm aus seinen beruflichen Hauptaufgabenbereichen geläufigen Themenkreis Krankenversicherung, Krankenhaus- und Tuberkulosefürsorge. 1933 nach seiner Entlassung begann für Goldmann (nach kurzem Zwischenspiel bei der Hygieneabteilung des Völkerbunds in Genf) eine mehrjährige Ära der Existenz im Ungewissen in Deutschland.3 Erst 1937 gelang ihm die Emigration über Luxemburg in die USA.
16.1 Ein Generationenalter im E xil: Lehre und Forschung in Yale und Harvard 1937-1957, Emeritus Prof. 1958-1970 Wie kaum ein anderer seiner vertriebenen Kollegen aus der Sozialhygiene startete Goldmann in den USA mit Rückenwind. Als er 1937 im Zielland ein1 | A. S. 318; seine Gesamtbibliographie ohne Zweitveröffentlichungen umfasst 252 Titel. 2 | A. S. 180. 3 | Hier publizierte er noch zusammen mit Georg Wolff die statistische Untersuchung über »Tod und Todesursachen unter den Berliner Juden«, Berlin 1937.
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traf, standen die Zeichen für ihn als Sozialmediziner für den Neueinstieg in eine angemessene akademische Lauf bahn so günstig wie nie zuvor oder danach in Amerika. Theodor Roosevelt bekannte sich in seiner Politik des »New Deal« 1933-1939 zur Überwindung der Wirtschaftskrise mit dem fortan erfolgreichen »Social Security Act« auch zu einer Sozial- und Gesundheitsreform. 4 Die Ausbildungskapazitäten für Public Health entsprachen in keiner Weise den neuen Anforderungen. Lehrinstitute waren aufzustocken, neue zu begründen und optimale einheitliche Ausbildungsprogramme aufzustellen. Die für Goldmann maßgebliche Hilfsorganisation, das Emergency Committee in Aid of Displaced Foreign Scholars (Vizepräsident war sein Mentor Charles-Edward A. Winslow), hatte sich zum obersten Ziel gesetzt, das wissenschaftliche Potential von kompatiblen Einwanderern für den nationalen Forschungsbetrieb zu sichern.5 Ende 1937 erhielt Goldmann einen auf ein Jahr befristeten Forschungsauftrag (Fellowship) an der School of Medicine, Department of Public Health der Yale-University. An dieser Fachabteilung wurde er nach einer halbjährigen Arbeitslosigkeit 1939 zum Associate Clinical Professor ernannt.6 Damit bekleidete er an der Yale-Universität zumindest in den ersten Jahren, bis zur Beförderung zum Clinical Professor, keineswegs eine Dauerposition nach europäischem Muster. Vielmehr basierte sein anfänglich gesponserter Arbeitsplatz auf Zeitverträgen, die jeweils verlängert werden mussten. Es handelte sich auch nicht um eine Vollzeitstelle, sondern um einen unterbezahlten Teilzeit-Lehrauftrag, der für sich allein keinen festen Lebensunterhalt gewährleisten konnte. Goldmann war also auf das amerikanische »System der kleinen Jobs« angewiesen, in dem er sich wohl auch aufgrund seiner Erfahrungen mit nebenamtlichen Betätigungen im Berliner Fortbildungsbetrieb gut zurechtfand. Von seinem Standort an der prestigeträchtigen Yale-Universität bemühte er sich erfolgreich um möglichst viele Extraaufträge, Vorträge, Gastvorlesungen, Dozentenstellen, Veröffentlichungen und Beraterverträge, die ihn und seine Ziele in weiten Kreisen bekannt machten. Seine Arbeitsenergie und »unglaubliche Produktivität« befähigten ihn dazu, trotz dieser Bürde an Zusatzaufgaben seine Hauptprojekte, die Neuorganisation der Studiengänge und das Konzept einer nationalen gesetzlichen Krankenversicherung in wenigen Jahren zum Abschluss zu bringen. 1945 konnte er der Nachfolgeorganisation des »Committees« mit Stolz über seine Leistungen berichten.7 Dennoch verließ Goldmann 1947 Yale, als die Fakultät nach der Emeritierung seines Mentors Winslow an Ruf verlor, und wechselte nach Harvard, wo er sich mit der Stelle eines Associate Professors begnügte. Dafür konnte er hier sein Unterrichtsprogramm noch ausbauen, mit großen Organisationen zusammenarbeiten und sich zusätzlich neuen Arbeitsgebieten zuwenden. Überschattet wurde die Zeit in Harvard durch den Geist des Mc4 5 6 7
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A. S. 170ff. A. S. 172ff. A. S. 179ff., 188. A. S. 192ff., 224f.
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Carthyismus, der auch die sozialpolitischen Reformer hinter die Schranken zurückdrängte. 1957 wandte Goldmann nach einer Kontroverse über Fragen des Lehrangebots 1 Jahr vor seiner Emeritierung Harvard enttäuscht den Rücken. Sein Tod 1970 in Delray Beach, Florida, in den Trümmern seines Hauses nach einem Hurrikan entbehrt nicht ganz eines mysteriösen Begleitumstands: Ein Hurrikan mit Todesopfern ist zum Todeszeitpunkt am Ort nicht gemeldet.8
16.2 Ergographischer Überblick: Beispiel eines fast gelungenen Kultur transfers (»Mr. Medicare«) Als Arbeitsschwerpunkte in der Sozialhygiene erkor sich Goldmann von Beginn an Krankenversicherung/Krankenhauswesen, Verwaltungsmedizin, Gesundheitsfürsorge, Gesundheitsökonomie und Gesundheitssystemforschung. Er behielt wie Wolff im Exil seine Arbeitsschwerpunkte bei, erweiterte sie noch und ergänzte sie durch neue wie Entwicklung von Studienprogrammen und Ausbildungsgängen. In der Gesamtheit entsprachen sie im Gegensatz zu den Forschungsthemen seines Habilitationskollegen in einem unterentwickelten Fach der aktuellen Diskussionslage. Seine Arbeit war stets ausgerichtet auf sozialpolitische Reform – in der Zeit von Weimar wie während des Exils in den USA. Zu ihr gab es nach seinen Analysen keine Alternative. Der Kostenanstieg in der Medizin durch Labor- und Apparatemedizin und Ausbau des Facharztwesens ebneten den Weg in die Mehrklassenmedizin. Die demographische Entwicklung mit Überalterung und Verschiebung des Krankheitsspektrums auf die Seite der chronischen und altersbedingten Leiden brachten das Gesundheitswesen hinsichtlich Angebots- und Kostenstruktur auf den Prüfstand. Nach heutigen Begriffen ging es Goldmann als Sozialhygieniker um die gleichmäßig-gerechte Verteilung der Ressourcen und die Bezahlbarkeit des Systems in einer unbeständigen Massengesellschaft. Nur die gesetzliche Krankenversicherung für alle eignete sich nach ihm als Grundlage für eine gerechte medizinische Versorgung. – Als Zweites drängte er auf eine Ökonomisierung des Gesundheitswesens. Dabei waren vor allem die dem staatlichen Krankenhauswesen zugewachsenen Aufgaben zu entzerren und neue Versorgungstrukturen zu schaffen. Kostenentlastung für das Krankenhauswesen versprach sich Goldmann von beratend/präventiven und rehabilitativen Fürsorgediensten, entsprechender Krankenhausfürsorge, Modellen und Einrichtungen für Alters8 | Eine umfassende und gleichmäßige Darstellung in Deutschland und im US-Exil erfahren Curriculum und Lebenswerk Goldmanns nur bei Antoni 1997. Als weitere lebensgeschichtliche Belegstellen seien genannt: Schneck 2004, S. 249ff.; ders. 1994, S, 494ff., 502f.; Labisch/Tennstetdt 1985, S. 413ff.; Strauss/Röder 1983, S. 391; Tutzke 1979, S. 48f.; ders. 1968, S. 259ff.; Grotjahn 1932, S. 251. – Zum bibliographischen Nachweis biographischer Einzelfakten s. Kap. 12. 1, Fußnote 1.
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patienten und chronisch Kranke. Weiterhin standen Leichtkrankenhäuser, Schwerpunktabteilungen, Krankenhausbedarfspläne und die Festlegung durchschnittlicher Liegezeiten für jeweilige Krankheitsentitäten (Fallpauschalen) im Reformkatalog.9 An der Yale-Universität stieß Goldmann bei Analyse des amerikanischen Gesundheitssystems auf ein Gewirr von staatlichen und privaten Kompetenzen (»Mosaik ohne Design«).10 Er stellte sich die Aufgabe, durch Vorgaben zu Planung und Koordination die Rahmenbedingungen für ein geordnetes staatliches Gesundheitssystem abzustecken. In 2 Büchern, »Public Medical Care« 1945 und »Voluntary Medical Care Insurance in the United States« 1948, unterzog er sozusagen »mit Blick von außen« jeweils das Gesundheitswesen und das Versicherungswesen des Gastlands mit z.T. erstaunlicher Offenheit einer kritischen Analyse. Nach seiner Auffassung stand angesichts des aus privaten und lokal/staatlichen Initiativen zusammengewürfelten Systems zu befürchten, dass – ungeachtet staatlicher Hilfe für Bevölkerungsminderheiten – im Krankheitsfall einer großen Zahl von Unbemittelten aus dem Mittelstand jede Art medizinischer Betreuung versagt bleiben müsste bzw. einfach fehlte.11 Durch Einführung einer gesetzlichen Krankenversicherung für alle mit zentraler Koordination der Leistungen auf Gemeindebasis glaubte er, in der Bevölkerung den Sinn für soziale Verantwortung und Solidarität gegenüber dem einzelnen erkrankten Mitbürger wecken zu können.12 Die adäquate medizinische Versorgung erachtete er als Menschenrecht (!) und sah sie ganz im Geist der Berliner Sozialhygiene als elementares Lebensbedürfnis in einer Reihe mit Wohnung, Ernährung, Kleidung und Ausbildung.13 Den Hauptfehler im System bildeten die freiwilligen Versicherungen, die Risikogruppen ausschließen oder einschränken und schließlich doch der staatlichen Versorgung anheim stellen.14 Goldmanns Vorstellungen fanden Beifall in Öffentlichkeit und Gremien, ließen sich aber letztendlich in einer liberalistischen Wirtschaftsnation legislatorisch nicht durchsetzen. Trotz Anpassung an die amerikanische Mentalität in den ersten Exiljahren vermochte er es bei seinen wiederholten Anläufen nicht, die ubiquitäre Lebensphilosophie des Landes mit ihrer Ablehnung planwirtschaftlicher und obrigkeitsstaatlicher Einschnitte im Gesundheitssektor und ihrer Betonung der sozialen Verantwortung des Einzelbürgers zu unterlaufen.15 Als vorbildlich und reformerisch für die in den USA noch durchaus unter9 | A. S. 288ff. 10 | A. S. 227f., 235 u. ö. 11 | A. S. 292. – Der untere Mittelstand war für Goldmann die tatsächlich medizinisch unversorgte Bevölkerungsgruppe, ebd., S. 234. 12 | A. S. 235, 291f. 13 | A. S. 226, vgl. 236. 14 | A. S. 260ff. 15 | A. S. 179, 254f., 292.
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entwickelte Public Health-Sparte erwiesen sich Goldmanns aus Deutschland importierte Arbeitsweise und Didaktik. Er unternahm zur Erforschung des landestypischen Gesundheitssystems Feldstudien in gesundheitsdienstlichen Teilbereichen und Institutionen und veröffentlichte Zwischenberichte über seine Befunde. Von dieser Praxis ließ er sich bei Aufstellung eines neuartigen Unterrichtsprogramms leiten. Dieses war praxisorientiert angelegt und sollte jeweils auf die angestrebte Berufslauf bahn hin ausgerichtet sein. Kernstück des für Goldmann typischen Unterrichtskonzepts (neben aktuellen Themen gewidmeten Vorlesungen, Kursen und Seminaren) war eine bestimmte Anzahl von Feldstudien, die die Studenten jeweils auf von ihm selbst ausgesuchten Forschungsstationen selbständig auszuführen hatten. Diese Didaktik diente ihm dazu, analytische und konzeptionelle Leistungsstärken bei den Studenten zu mobilisieren. – Goldmann erweiterte zudem das universitäre Lehrangebot über den Kreis der Public HealthStudenten hinaus auf Medizinstudenten und künftige Fürsorgeärzte, indem er diesen Interessenten einen Qualifikationsweg über spezielle kurz- oder längerfristige Kurse und Seminare eröffnete. Richtungweisend wurden seine Vorschläge zum Weiterbildungswesen in Public Health für ärztliche und nichtärztliche Angehörige der verschiedensten Gesundheitsberufe in Verwaltung, Fürsorge und öffentlicher Systemplanung mit gezielten Lehrprogrammen und adäquaten Anforderungsprofi len. Die breitgefächerten Unterrichtsprogramme fanden in den USA weithin Anklang und blieben vielerorts nicht ohne Einfluss. Um das Ausbildungssystem in Public Health hat sich Goldmann unbestreibare Verdienste erworben.16
16 | A. S. 196ff., 201ff., 207ff., 215f.
17. Max Hodann (1894-1946): Einzug der Sexualwissenschaf t in die Sozialhygiene – Literat einer repressionsfreien Sexualpädagogik
Personaler Typus: Der Zeit vorauseilender Sexualpädagoge, hervorragender Publizist, Volksaufklärer im sexologischen und gesellschaftlich-weltanschaulischen Sinn, Visionär eines Gesellschaftswandels durch Lösung der »sexuellen Frage«
17.1 Pionierarbeit in der Reichshauptstadt – Arzt für Sexualmedizin im sozialen Brennpunk t – Publizist im Dienste der Sexualpädagogik und Sexualreform Ab seinem 10. Lebensjahr verbrachte Max Hodann, geboren 1894 in Neisse (Schlesien), mehr als die Hälfte seines Lebens – 30 Jahre – in Berlin. Hier wurden in der unmittelbaren Vor- und Nachkriegszeit sowie während des Krieges selbst die Weichen für sein Leben gestellt. Medizinstudium, Beschäftigung mit Sozialhygiene und Sexualmedizin, Militärarzttätigkeit, Promotionsarbeit, Jugendbewegung und Verkehr in linksradikalen Intellektuellenkreisen schufen in ihm ein Mosaik spezieller Eindrücke, das ihn auf die Fährte eines einzigartigen Berufsweges drängte. – Bereits 1914 tauchte Hodann, einem Hinweis seines Studienkollegen Hans Haustein folgend, unter den ersten Hörern Grotjahns in dessem noch im Dachgeschoss des Berliner Hygienischen Instituts veranstalteten Sozialhygienischen Seminar auf, dem er über lange Jahre als ständiges Mitglied verbunden blieb. Sein 1. Referat im Seminar über Alfredo Niceforos »Anthropologie der nicht besitzenden Klassen« verhalf Hodann nach eigener Einschätzung dazu, Medizinerstatus und sozialistische Politikaktivitäten miteinander zu verknüpfen. Dem schriftstellerisch-anekdotischen Genie des vielseitigen Buchautors verdanken wir einen Nachlass-Text, in dem er Grotjahn authentisch als fröhlichen Magier
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schildert, der der jungen Medizinergeneration eine zukunftweisende Geheimbotschaft entziffert.1 Das 1913 aufgenommene Medizinstudium beendete er 1919 unter Beteiligung Grotjahns als Referenten (also praktisch als dessen erster Doktorand) mit einer Dissertation über »Die sozialhygienische Bedeutung der Beratungsstellen für Geschlechtskranke (unter besonderer Berücksichtigung der Landesversicherungsanstalt Berlin)«, die sofort als Buch erschien2 und in der Fachwelt für Diskussion sorgte.3 Auch unter Verwertung seiner Kriegserfahrungen als Militärarzt in einem Speziallazarett für Geschlechtskranke in Polen reflektierte er hinsichtlich der untersuchten Beratungsstellen im Endeffekt auf eine Vernetzung von Beratung und Therapie (im Sinne kostenloser ärztlicher Leistung für jeden, der sie benötigt). – Hervorgegangen aus Wandervogel und Freideutscher Jugendbewegung, suchte Hodann seit seiner frühen Studentenzeit in Überwindung einer rein psychologischen Oppositionshaltung nach publizistisch agierenden, relevanten Gruppierungen mit der Struktur für politische und soziale Mitgestaltung. Vom Anfang seiner Berufswahl an entschied er sich dafür, seine Vision von einheitlich politischem und sozialem Engagement als Publizist, als aufklärender Propagandist auf volksbildenden Vortragsveranstaltungen und im Rahmen einer volksnahen verständnisvollen Korrespondenz zu verwirklichen. Eine feste berufliche Basis für seine öffentliche Wirksamkeit gewann Hodann 1921 mit dem Eintritt in das städtische Gesundheitswesen als Kommunalarzt und Leiter des Gesundheitsamts in Nowawes (Babelsberg). Von 1922-1933 leitete er als Stadtarzt das Gesundheitsamt in Berlin-Reinickendorf. – Zur ersten Begegnung mit der Sexualwissenschaft kam es auf fachliterarisch-publizistischer Ebene. In zwei Aufsätzen 1916 unterzog der junge Medizinstudent Hans Blüher’s psychoanalytisch ausgerichtete Schriften zum Thema Erotik und bürgerliche Jugendbewegung einer kritischen Analyse. Als größte Ausbeute seiner ersten literarischen Unternehmung auf sexualwissenschaftlichem Gebiet musste er es empfinden, dass er bei dieser Gelegenheit den sexologischen Wissenschaftszar der Zeit, Magnus Hirschfeld, kennenlernte. Über die Brücke dieser Verbindung gelangte er 1927 in Hirschfelds Institut im Nebenamt unter Beibehaltung seiner Hauptarbeitsstelle als Stadtarzt auf die wie auf ihn zugeschnittene Position eines Leiters der Sexualberatungsstelle. – In beiden Berliner Positionen (als Stadtarzt und Berater im Sexualwissenschaftlichen Institut) entfaltete er eine höchst originelle Aktivität. Seine Sprechstunden in den Beratungsstellen handhabte er mehr im Sinne ärztlicher Ordination, in den Vortragsveranstaltungen beantwortete er Fragenzettel aus dem Publikum in anonym1 | Die Anekdote aus dem in Stockholm archivierten autobiographischen Fragment Hodanns wird in der Sekundärliteratur mindestens dreimal im Wortlaut wiedergegeben: Tennstedt 1983, Labisch/Tennstedt 1985 und Schneck 1997. 2 | Archiv für Soziale Hygiene XVI, 1, 1920. 3 | Als Auff älligkeit mag man es empfi nden, dass Grotjahn einem seiner frühesten Schüler und genuinen Adepten der Sozialhygiene trotz seiner enormen literarischen Produktivität niemals die Habilitation nahegelegt zu haben scheint..
17. M A X H ODANN : E INZUG
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allgemeiner Form, diese und in Briefen gestellte Fragen verwandte er als Quellenmaterial für seine Publikationen. Durch seine Publizistik nahm er maßgeblichen Einfluss in Deutschland auf Sexualpädagogik, Erziehungsreform, Sexualreform und Sexualpolitik. Seine schriftstellerische Begabung war unverkennbar, das Themenspektrum reichte dementsprechend über die Fachliteratur hinaus von politischen Fragen über »Anthropogeographie« bis hin zu Reiseanalysen verschiedener Länder, besonders der Sowjetunion. Allgemein sozialhygienisch beschäftigte er sich in Beiträgen mit Prävention, Alkoholismus, Tuberkulosefürsorge, Sozialisierung des Heilwesens und Gesundheitspropaganda. 1933 bereitete dem populären Reformer, der der Sozialhygiene in Berlin eine weitere tragende Säule eingefügt hatte, aus rassistischen und politischen Gründen das abrupte Aus.
17.2 E xil 1933-1946: Rastlose Irr fahr t eines Asthmakranken durch Europa Nach den formalen Kriterien der neueren Emigrantenliteratur erfüllte Hodann alle Voraussetzungen für eine erfolgreiche Emigrantenexistenz, die erheblichen Gewinn für ihn selbst und vor allem für den gesellschaftlichen Ordnungsbestand, zumindest die Sexualpädagogik im Gastland hätte mit einschließen können. Jung, als Autor über die Landesgrenzen hinaus bekannt, politisch vorausschauend, verabschiedete er sich entschlossen nach zeitweiliger Inhaftierung noch 1933 aus Deutschland ins sofortige Exil. Doch ähnlich vielen jüdischen Emigranten, die sich im mitgeschaffenen deutschen Kulturraum heimisch gefühlt hatten, haftete an ihm – das zitierte emigrationshistorische Gesetz modifizierend – trotz tolerabler Existenzumstände ein merkwürdiges Odium des Scheiterns. In 13 Jahren gelangte er in 7 europäische Länder. Das Exil gestaltete sich unstet. Lange Zeit blieb Hodann ohne feste Arbeitsstelle, ohne geregeltes Einkommen, klagte oft über Geldmangel und musste Schulden aufnehmen. Er lebte von Vortrags- und Autorenhonoraren. Der Plan einer Übersiedlung in die Sowjetunion mit Übernahme einer zugesicherten festen Position 1936 zerschlug sich, weil Hodann für den Rest seines Lebens an einem chronisch-rezidivierenden Asthma bronchiale erkrankte. Trotz seiner Krankheit beteiligte er sich als Arzt am Spanischen Bürgerkrieg auf Seiten der Internationalen Brigaden. Von Mai 1937-September 1938 arbeitete er bis zur militärischen Niederlage im chirurgischen Bereich, im Sanitätsdienst und als Leiter von Kinder- und Waisenheimen. Letzte Station seines Exils war ab 1940 Schweden, das sich – nicht anders als andere (nicht neutrale) Länder auch – den deutschsprachigen ärztlichen und wissenschaftlichen Emigranten gegenüber restriktiv erzeigte. Jahre später, erstmals im Exil, verfügte er von März 1944-Juli 1945 über einen festen Arbeitsplatz als psychologischer Experte bei der britischen Gesandtschaft in Stockholm, wo er dann aber nicht länger gebraucht wurde. Hodanns Krankheit und Tod erinnern an das Schicksal seines österreichi-
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schen Schriftsteller-Kollegen aus späterer Zeit, Thomas Bernhard (58-jährig gest. 1989). Er starb, allein in seiner Wohnung, am 17. Dezember 1946 im Status asthmaticus. Neben ihm lag, ungenutzt, die spritzfertig aufgezogene Ampulle Adrenalin. 4
17.3 Ergographischer Überblick In der Rückblende und namentlich aus der Perspektive der »sexuellen Revolution« der 60er Jahre des vorigen Jahrhunderts kann das Werk Hodanns, seine Publizistik, pädagogische Technik, Einfühlsamkeit in die gesellschaftliche Relevanz der Sexualproblematik, reformerische Dynamik und schließlich die alles überhöhende Einbindung der Sexualpädagogik in die Sozialhygiene nicht hoch genug eingeschätzt werden. Im Kontrast zu dieser Bewertung wiegt es schwer, dass die sexualwissenschaftliche und -pädagogische Literatur aus dem 1. Jahrhundertdrittel, einschließlich der Hodanns, in den Bibliotheken der Tabuisierung und Indizierung verfiel und folglich der Zugang zu den literarischen Quellen heute erheblichen Hindernissen ausgesetzt ist.5 Zudem wurde das schmale Jahrzehnt der höchsten literarischen Produktion 1923-1933 durch die tragischen Ereignisse des Exiljahrs noch zusätzlich verkürzt, als dass es über den Exilzeitpunkt hinweg noch im wesentlichen Umfang zu Neuauflagen seiner Schriften hätte kommen können. Persönlich und sachlich verkörpert Hodann auf seinem Spezialgebiet vom theoretischen Ansatz bis zum praktischen Einsatz alles, was sich Grotjahn unter einer wissenschaftlich realisierten Sozialhygiene vorgestellt hat. Die amtliche Geschlechtskrankenfürsorge als gesellschaftliche Infektionsprophylaxe war ein genuines Gebiet der Sozialhygiene, das weitere Arbeitsfelder wie Eugenik, Schwangerschafts- und Eheberatung, Geburtenregelung, Schwangerschaftsabbruch und Mütterberatung einschloss.6 Hodann befürwortete seit seiner Promotionsarbeit die Verbindung von Beratung und Therapie. Entscheidend aber war, dass er das Ressort unter sexualwissenschaftlichen Gesichtspunkten auf eine qualitativ einzigartig verbreiterte Grundlage stellte. In seinem sozialhygienischen Konzept vereinten sich Erkenntnisse aus Sexualwissenschaft, Reformpädagogik, Jugendbewegung, Marxismus und Psychoanalyse. In Sexualberatung, Publizistik, Vortragsarbeit und Klienten-Korrespondenz entwickelte er eine Sexualpädagogik, die neuartige gesundheitspflegerische und -fürsorgerische Elemente in die 4 | Weder 2000, S. 223, 241, 416f.; Schneck 1994, S. 498f., 501; Wolff 1993 (monographische Darstellung von Leben und Werk unter Verwendung von 133 S. umfassenden autobiographischen Aufzeichnungen); Bergmann 1991, S. 233ff.; Labisch/ Tennstedt 1985, S. 92, 143, 224, 430f.; Peters 1984; Tennstedt 1983, S. 558f.; Röder/ Strauss 1980; Müssener 1974, S. 199, 446; Tutzke 1970, S. 337; Grotjahn 1931, S. 251. 5 | Wo. S. 9, 71. 6 | Wo. S. 35ff., 217ff.
17. M A X H ODANN : E INZUG
DER
S EXUALWISSENSCHAFT
IN DIE
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sozialhygienische Praxis einbrachte.7 Es ging nicht länger nur um körperliche Krankheit oder Bedrohung, sondern um epidemieartig verbreitete gesellschaftliche Devianzen ohne somatischen Krankheitscharakter wie Onanie oder Homosexualtiät u.a., die der »sozialen Pathologie« anzurechnen waren. Hodann erblickte seine Aufgabe auf der Beratungsstelle und in der Öffentlichkeit (Vorträge, Fragezettel, Korrespondenz) in der sexualpsychologischen Befreiung durch Auf klärung (»enlightment«) auch über den repressiven Charakter des herrschenden patriarchalischen Gesellschaftssystems.8 Die Weimarer Republik bot mit ihrer freiheitlichen Verfassung und ihrem demokratischen Staatsideal einen günstigen Nährboden für die Inangriffnahme einer von vielen als allseits fällig betrachteten durchgreifenden Gesellschaftsreform. Ältere und neuere gesellschaftlich fortschrittliche Zeitströmungen erlebten einen enormen Aufschwung. Erheblich an Beachtung und Einfluss in weiten Publikumskreisen gewannen in den 20er Jahren die auf weit entwickelte Sexualwissenschaft gestützte Sexualreformbewegung, die Frauenbewegung und die Reformpädagogik.9 Alle drei Aktionsgruppen verzeichneten Berührungspunkte mit der Sozialhygiene, aber erst in Person und Arbeit Hodanns wurden die Beziehungen evident. In Sexualwissenschaft und volksnaher Beratungspraxis erarbeitete Hodann eine neue Sexualpädagogik. Immer drängte er dabei auf gesellschaftliche Veränderung, weil die Gesellschaft in allen ihren Gruppierungen (Elternhaus, Schule, jugendliche Arbeits- und Freizeitwelt) der Sexualität in ihrer Sozialordnung nur mit Repression begegnete. Auf diese Weise schürte sie in der Jugend auf dem Sexualgebiet nur Unwissenheit und Einschüchterung, die sie hilflos zurückließen gegenüber dem elementaren Druck ihrer eigenen sexuellen Reife.10 In der Wiedergabe seiner Beratungskorrespondenz dokumentierte Hodann das unter der herrschenden Gesellschaftsmoral verdrängte Sexualelend, das dem im äußerlichen Gesellschaftsbild dominierenden sozialen Elend sicherlich in nichts nachstand (Sexualelend und Sexualberatung. Briefe aus der Praxis. 1928). Ausgehend von der Gleichberechtigung der Geschlechter, zielte Hodanns Sexualpädagogik dagegen auf sexuelle Befreiung. Als ihre Grundpfeiler rangierten die wohlweislich voneinander zu unterscheidenden Verfahren der Sexualauf klärung und der Sexualerziehung. Die erstere vermittelt von Kindheit an Sexualwissen, die zweite verwendet dieses Wissen vornehmlich bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen zur Persönlichkeitsgestaltung im Sinne einer Einordnung des Liebeserlebens in die eigene personale Existenz.11 Die Hauptlast der Sexualpädagogik überlässt er nicht den Eltern, sondern verteilt sie auf die pädagogisch kompetenten gesellschaftlichen Formationen Schule und Jugendgruppen (schulische und außerschulische 7 | Wo. S. 163ff., 167ff., 182ff. 8 | Wo. S. 109, 147. 9 | Wo. S. 87ff., 91ff., 139ff., 225ff. 10 | Wo. S. 109. 11 | Wo. S. 229ff., 233ff.
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Gesundheitserziehung). Hier erwirbt die junge Generation im offenen und ungezwungenen Dialog im Geiste einer neuen gesellschaftlichen Ordnung sexuelles Selbstbewusstsein.12 Befreite Sexualität ist innnerhalb der bestehenden Gesellschaftsordnung auf Dauer zwar nicht vorstellbar, aber dennoch verbietet sich die Instrumentalisierung der sozialärztlichen Sexualerziehung als Mittel zum politischen Zweck. Absoluter Vorrang gebührt der Hilfe für die Betroffenen in der konkreten Situation, in die die politische Reflexion allenfalls mit einfließen darf.13 Auf jeden Fall erhoff te sich Hodann, nicht ganz widerspruchsfrei, durch seine Sexualpädagogik eine gesellschaftsverändernde Einwirkung durch Auf brechen moralisch-repressiver Strukturen. Hodanns Ideen über eine repressionsfreie Sexualmoral fügen sich auch gut ein in den breiten Kontext der Lebensreformbewegung, ihrer befreienden Gesundheitsorientierung und Jugend/Körper-Kultur.14 Seine »Lehrbücher« schrieb Hodann für Menschen aller generativ relevanten Altersstufen in verständlicher, der Zielgruppe angepassten Sprache, zwei seiner erfolgreichsten Bücher sind in Dialogform abgefasst (Bub und Mädel 1924; Geschlecht und Liebe in biologischer und gesellschaftlicher Beziehung, 1927). Sein fachpädagogisches Hauptwerk (Sexualpädagogik. Erziehungshygiene und Gesundheitspolitik 1928) enthält Aufsätze aus mehr als einem Jahrzehnt. Als »wissenschaftliches Vermächtnis« Hodanns gilt sein im Exil entstandenes Buch »History of Modern Morals«, 1937: in dieser Geschichte der sexuellen Befreiung schildert er die wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Stufen der Sexualreform vornehmlich aus der Sicht der von ihm miterlebten Entwicklung in Deutschland.15 – Repressionsbedingte Indizierung, politische Intransigenz und Antisemitismus16 löschten trotz seiner ungewöhnlichen Publikumswirksamkeit zu Lebzeiten Werk und Schicksal Hodanns aus dem kollektiven Bewusstsein der Nachfahren.17
12 13 14 15 16 17
| | | | | |
Wo. S. 150ff., 157ff. Wo. S. 244ff., 250. Vgl. Wo. S. 142f. Die Bibliographie Hodanns verzeichnet insgesamt 232 Titel, Wo. S. 268ff. Vgl. Fußnote 5. Vgl. aber die Aussagen von Zeitzeugen Wo. S. 167f.
18. Statt eines Rückblicks: Ludwig Teleky (1872-1957) über die Gesundheitsfürsorge in den westlichen Industrieländern
Ludwig Teleky, 1909 erster habilitierter Sozialhygieniker im deutschen Sprachraum (im Fach Soziale Medizin an der Universität Wien), Mitherausgeber des deutschen Handbuchs 1925/27, des »Standardwerks unserer Wissenschaft«,1 schrieb 1950 als jüdischer Emigrant in New York mit Unterstützung des Emergency Committee in Aid of Displaced Foreign Medical Scientists2 eine vergleichende Geschichte der Gesundheitsfürsorge in Deutschland, England und den USA. – Die Einrichtungen der Gesundheitsfürsorge in allen westlichen Kulturstaaten auch in Mitteleuropa gingen ursprünglich aus privaten Unternehmungen hervor.3 Deutschland gewann aber gegenüber den anderen Ländern der westlichen Welt, die speziell in der Versicherungsfrage als »Vertreter der individuellen Freiheit« auftraten, einen zeitlichen Vorsprung, indem es – den »historisch gewordenen behördlichen Verwaltungsapparat« und die Sozialversicherung auf seiner Seite – die Gesundheitsfürsorge, durchaus unter Respektierung vorhandener privater Projekte, durch Eingliederung in den öffentlichen Dienst nach administrativ-amtlichen Prinzipien organisierte. 4 Sozialisierung und Zentralisierung der Fürsorgedienste verhinderten im Massenstaat frühzeitig ein »Fürsorgechaos«.5 Dieses Vorgehen entsprach einem Trend, der sich in der Auffassung von Staat und Gesellschaft bis heute (1950) weltweit abzeichnet. Der Einzelne ist nicht länger ein »Ding für sich selbst«, der zum Wohle auch des Ganzen möglichst sich selbst und seinen Kräften überlassen bleiben sollte, sondern die Gesamtheit kann nur gedeihen, wenn sie sich als die übergeordnete Ein1 2 3 4 5
| | | | |
Teleky 1950, S. 5. A.a.O., Vorwort. A.a.O., S. 49, 141. A.a.O., S. 49. Nach einem Wort Tugendreichs 1910, a.a.O., S. 106.
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heit für das Wohlergehen jedes ihrer Glieder aktiv einsetzt. Auch in den USA fallen dem Staat »allmählich« Rechtstitel und Verpfl ichtung zu, über prophylaktische Schutzmaßnahmen hinaus die Gesundheit seiner Bürger von sich aus zu fördern.6 – In Deutschland sah sich die Gesundheitsfürsorge als »Volksgesundheitspflege« vor die Aufgabe gestellt, mit Mitteln und Techniken öffentlicher Verwaltungspraxis die Ungleichheit nach der Gesundheit in den unbemittelten Klassen zu überwinden und die »Errungenschaften der modernen Forschung« in die »weiten Massen des Volkes« hineinzutragen.7 Das führte dazu, dass Mitte der 20er Jahre die Fürsorge, insbesondere die Säuglingsfürsorge, ihre Hilfe nicht nur Armen und Unbemittelten angedeihen ließ, sondern zur Beratungsstelle für die Gesamtbevölkerung wurde, in der sich alle Ratsuchenden in regelmäßigen Intervallen kostenfrei vorstellen konnten und geschulte Ärzte und Fürsorgerinnen in Zusammenarbeit mit den weiterbehandelnden niedergelassenen Kollegen nach einheitlichen Gesichtspunkten die optimale medizinische Versorgung konzipierten.8 Mitte der 20er Jahre verloren die Fürsorgestellen den Charakter einer Einrichtung für Arme oder für Unbemittelte und wurden zu einer hygienischen Beratungsstelle für die Gesamtbevölkerung, geführt von Ärzten und ausgebildeten Fürsorgerinnen, wobei bei optimaler Kooperation das Behandlungsmonopol bei den niedergelassenen Kollegen verblieb. – In Amerika erkannte man erst relativ spät, dass die Freiheitsrechte des Einzelnen sich nicht dazu eignen, sich gegen die Mitverantwortung der Gesellschaft für Gesundheit und Gesundheitsförderung ausspielen zu lassen. Seit den 30er Jahren beobachten wir nunmehr aber eine umso schnellere Entwicklung eines zeitgemäßen Gesundheitssystems. Unter bundesstaatlicher Protektion erringen Gesundheits- und Fürsorgewesen ein modernes soziales Gepräge, wie es in Europa schon zuvor für diese Einrichtungen eine Selbstverständlichkeit war. Damit nähert sich die westliche Zivilisation einem ihrer wesentlichsten Fortschrittsziele: die Errungenschaften der Hygiene und Medizin im Bedarfsfall gleichmäßig an alle weiterzugeben.
6 | A.a.O., S. 140. 7 | A.a.O., S. 4. 8 | A.a.O., S. 104ff.
18. STAT T
EINES
R ÜCKBLICKS : L UDWIG TELEKY Deutschland
ÜBER DIE
G ESUNDHEITSFORSORGE | 379
England
USA
Nr.
Zweige
1
Zugang des Arbeiters zu Arzt und Krankenhaus
1883 obligatorische (Arbeiter-)Krankenversicherung
1911 obligatorische Krankenversicherung Geringere Zahl an Hospitälern, überwiegend private Träger, keine Krankenhausbehandlung, keine Behandlung durchSpezialisten
Keine obligatorische Krankenversicherung* Geringere Zahl an Hospitälern, Aufnahme ohne Kostenzusicherung nur in den kommunalen Häusern
2
Gesundheitsfürsorge
1900 öffentliche Fürsorgestellen 1920 Sozialhygienische Akademien 1922 Staatsprüfung für Fürsorgerinnen
Local self government mit großem Anteil privater Wohlfahrt*
Freiwillige Organisationen (Voluntary Health Agencies)*
3
Tuberkulose
1908-1933 auf 80 % ansteigende behördenund SV-geleitete Tb-Fürsorgestellen
1921 Dispensaries unter ärztlicher Leitung
Freiwillige Agencies seit den 30er Jahren* 1935 19 Staaten mit Tb-Programmen
4
Geschlechtskrankheiten
1914 Beratungsstellen der LVA’en 1924 Fürsorgestellen für Gefährdete
Seit 1917 unentgeltliche Behandlungsstellen
Bekämpfung auf Vereinsbasis und durch Staaten* 1935 28 Staaten mit Kontrollprogramm 1935 Social Security Act
5
Mütter-, Säuglingsund Kleinkinderfürsorge
1878 Wochengeld 1905 Säuglingsberatungsstellen* 1910 zunehmende Verstaatlichung und Kommunalisierung 1914 Reichswochenhilfe
Local self government mit großem Anteil privater Wohlfahrt *
1909 US Children Bureau (überwiegend Propaganda) Nur geringe öffentliche Zuschüsse* 1933 Health Centers
6
Schulgesundheitspflege
1897 Schularzt Wiesbaden 1925 städtische Schulspeisungen
1907 Schulärzte – obligatorische Schuluntersuchungen 1907 Schulspeisungen
1902 Schulfürsorge New York 1910 School-lunches Formularuntersuchung bei Einschulung durch Hausarzt*
7
Soziale Hygiene als Wissenschaft
1909 1. PD (Wien), 1912 1. ao. Professur (München) 1921 1. o. Professur (Berlin)
1943 Institute of Social Medicine Oxford, Birmingham und Edinburgh
1947 Institute of Social Medicine New York
Tabelle 10: Vergleich der Entwicklung der staatlich/kommunal kontrollierten Sozialhygiene bzw. Gesundheitsfürsorge in 3 westlichen Kulturstaaten nach Teleky * Fettdruck = nicht öffentlich-staatlich/kommunal; privater Grundcharakter Tabellenentwurf Heinzelmann nach Teleky 1950
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Diagramm 2: Vergleich staatlich/kommunal kontrollierter Gesundheitsfürsorge in 3 Kulturländern
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19. Ausklang und Retrospektive: Sozialhygiene als erste deutsche Gesundheitswissenschaft – der neue Denkstil ihrer deutsch/ deutsch-jüdischen Avantgarde 1897-1933
1 Um 1900 waren im Laufe der 150 Jahre zuvor in Europa und in den USA alle Bausteine und Einzelmaterialien zu einer Sozialhygiene als Abschluss vielgestaltiger Gesundheitsbestrebungen zusammengetragen. Die Arbeiten von René Sand und George Rosen u.a. belegen dies unzweifelhaft. Diese Tatsache erschwert die Beurteilung der deutschen, besonders auch von jüdischen Kräften getragenen Sozialhygiene im ersten Drittel des vorigen Jahrhunderts. Was brachte sie eigentlich Neues? Die Ausgestaltung einer Lehre von einer gesellschaftsumfassenden Gesundheit schien zum Greifen nah. Vorhanden war eine riesige Baustelle mit allen nur wünschenswerten Materialien und dem zugehörigen Equipment; es fehlten dagegen noch die Architekten und Konstrukteure, die willens und fähig waren, aufgrund einer grandiosen Planung im Geiste des Zeitalters ein modernes, öffentliches und freizugängliches Gebäude zu errichten, in dem Wissen und Können zugunsten gesellschaftlicher Gesundheit erarbeitet und von hier aus weitergegeben werden konnten. Den Sozialhygienikern gelang es, das projektierte glanzvolle Gebäude aufzurichten und zu vollenden, sie erfassten in ihrer »angekommenen« Zeit – »pleroma tou chronou« – die Aufgabe geradezu spontan aus freien Stücken und schufen einen von Wissenschaft und staatlich verfasster Gesundheitsfürsorge flankierten und alimentierten monumentalen Organismus, der Weltgeltung errang. Mit dieser Leistung waren sie zu ihrer Zeit weltweit tatsächlich unvergleichlich und einzigartig. Die Arbeiten der oben zitierten verdienten Autoren, die diesen Umstand nicht berücksichtigen, wirken von daher weniger als Beiträge zur historischen Analyse als vielmehr zur bibliographischen Grundlegung. Gerade wenn man sich die Sozialhygieniker als Gruppe, zumindest als Kerntruppe vorstellt und sich nicht nur am Einzelnen und seinem Werk abringt, wird man weniger zur persönlichkeitsbezogenen Vergötterung oder
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Heroisierung tendieren, wird sich aber gleichwohl dem Eindruck des Gesamtwerks, in dessen Dienst alle gestanden haben, nicht entziehen können. Das einzige Verdienst der Sozialhygieniker ist – und das ist übergenug! –, die weit verstreuten unterschiedlichsten privaten, karitativen und örtlichen Sozialinitiativen mit eigenständigen Methoden unter Flankendeckung durch Wissenschaft zu einem modernen, raumübergreifenden hochfunktionalen Betriebssystem zusammengeschmiedet zu haben. Erstaunlich ist, dass alle Beteiligten im so verfassten Deutschen Reich in dem Augenblick, als die moderne Gesellschaft ihnen die Instrumente dazu bot, diese auch einmütig ergriffen und zur Gestaltung eines völlig Neuartigen nutzten. Ein Antrieb für diese Entwicklung dürfte in der Spannungsatmosphäre in den Jahren um den Ersten Weltkrieg, der Mutter der politischen und moralischen Dauerkrise der Industrieländer unserer Zeit, zu suchen sein. Durch die Sozialhygiene, die als Einheitsgebilde in der Epoche eines katastrophenträchtigen globalen Umbruchs auf den Plan trat, eroberte ein tiefverwandelter Denkstil die Weltbühne. Er war darauf gerichtet, Grenzen zu überwinden, zu globalisieren, interdisziplinär die unterschiedlichsten Methoden anzuwenden, sich im Infinitesimalen zu bewegen, die Erkenntnistheorie um die Dimension der Epidemiologie zu erweitern, das Geheimnis des numerisch Massenhaften aufzuspüren und dem Wesen physischer Existenz, der Gesundheit, so nahe wie möglich zu kommen.
2 Woran die internationale Eugenik zeit ihrer Existenz scheiterte, nämlich sich irgendwo weltweit als Wissenschaft zu etablieren, dies gelang der von Alfred Grotjahn, dem nichtjüdischen vermeintlichen Begründer, als Schwesterdisziplin betrachteten Sozialhygiene in Deutschland nahezu auf Anhieb. Wissenschaft wurde sie durch ihre eigentümliche Methodik, Zielausrichtung und Systemgestaltung. Damit schuf sie die Voraussetzung, für ihre Einsichten und Initiativen auf dem Gebiet der sozialen Gesundheit internationales Gehör zu erlangen. – Der zweite große Zukunftsschritt war, dass sie es vermochte, mit der regional und kommunal organisierten Gesundheitsfürsorge, also abgedeckt durch die öffentliche Hand, flächendeckend ganze Bevölkerungen in den sozialen Gesundheitsschutz einzubeziehen. Weniger das Tun und Schreiben der einzelnen Akteure im Team als vielmehr das aus dem neuen Denken, aus dem als Kompromiss zwischen den staatstheoretischen Grundpositionen des 19. Jahrhunderts (liberal und konservativ) geborenen Gesamtwerk wurde zum in der ganzen Welt bewunderten Modell. Es ist ein müßiges Unterfangen und macht keinen Sinn, das Geburtsdatum der Sozialhygiene als Wissenschaft bestimmen zu wollen. Die Sozialhygiene debütierte in der Wissenschaftswelt nicht punktuell/momentan, sondern festigte dort ihren im Namen unzähliger sozialer Gesundheitsansätze angestrebten Platz in einem mehr als zwei Jahrzehnte andauernden Prozess,
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UND
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von den jeweiligen einschlägigen Frühschriften Adolf Gottsteins 1897 und Alfred Grotjahns 1898 an bis zu Errichtung des weltweit ersten ordentlichen Lehrstuhls für Sozialhygiene an der Universität Berlin 1920. Auch lässt sich ein Einzelner als Begründer des Wissenschaftsfachs nicht distinkt ausmachen. Zwar wird in Fachkreisen von Anfang an unisono Alfred Grotjahn als solcher genannt (wohl aufgrund seiner hartnäckigen Propagierung des Begriffs »Sozialhygiene« entgegen dem Angebot auch besserer Alternativen), doch ergeben sich für den minutiösen Forscher Zweifel am Klischee. Dem Wissenschaftshistoriker geht es heute in seiner Entwicklungsbezogenheit überhaupt weniger um die biographische Größe eines individuellen Inaugurators. Bleibt man dennoch auf der Ebene dieserart Untersuchung, würde man vielleicht eher Adolf Gottstein als Urheber ansprechen müssen: der jüdische Wissenschaftler hatte durch seinen Anteil am Auf bau der Konstitutionslehre schon früh den Erbaspekt in die sozialhygienischen Überlegungen eingebracht, als Erster durch eigene statistische Arbeiten die Statistik als Leitmethode in der Sozialhygiene verankert und schon im Initialstadium mit seinen epidemiologischen Studien in breiter Front der Epidemiologie als sozialhygienischer Grunddisziplin den Weg gebahnt. Aber wirklich charakteristisch für die Sozialhygiene, wie auch in jüngster Vergangenheit für die deutschen Gesundheitswissenschaften ist, dass eben nicht ein Einzelner, sondern erkennbar eine Gruppe von Gelehrten daranging, die disparaten sozialhygienischen Ansätze zu einem umfassenden und dennoch seine Legitimationsaufgaben erfüllenden Wissenschaftsgebilde zusammenzuführen. Auff ällig an der Gruppe ist im Vergleich zu anderen Wissenschaftszweigen der Zeit (mit Ausnahme der Psychologie) die numerische Überpräsenz und fachliche Hegemonie der deutsch-jüdischen Fraktion im Berufsbereich. Dieser Tatbestand offenbarte sich jählings 1933 zu dem Zeitpunkt, als das Wissenschaftsfach durch den Verlust gerade der vielen jüdischen Mitarbeiter personell fast ausblutete. Das kleine Fach machten verhältnismäßig zahlreiche intensiv publizierende, meist auch lehrende jüdische Forscher über die Grenzen Deutschlands hinaus bekannt, wie Adolf Gottstein, Alfons Fischer, Max Mosse, Gustav Tugendreich, Ludwig Teleky, Arthur Schlossmann, Alfred Blaschko, Arthur Crzellitzer, Hans Haustein, Benno Chajes, Georg Wolff, Franz Goldmann, Max Hodann, Alfred Korach(-George) u.a. 1933 wurden meist aus rassistischen Gründen zwischen 30 und 40 namhafte Sozialhygieniker ins Exil gedrängt, wo sie oft strengen Einwanderungsregeln unterlagen, die sie vielfach daran hinderten, ihre berufl iche Tätigkeit wieder aufzunehmen und in ihren Zielländern erneut sozialhygienische Wirksamkeit zu entfalten. Eine kleinere Zahl jüdischer Wissenschaftler, die meist die Frühemigration verfehlten, fielen den mörderischen Aktionen der NS-Schergen zum Opfer. In Würdigung dieser Umstände und im Blick auf Salomon Neumann, den führenden Kopf der »Medicinischen Reform« um 1848
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(nicht nach, sondern neben Rudolf Virchow) sowie auf August Hirsch, den Begründer der geographischen Pathologie u.a. erscheint es berechtigt, bei dem neuartigen monolithischen Wissenschaftsfach von einer sektoralen wesenhaften deutsch/deutsch-jüdischen Interessenkongruenz auszugehen. Jüdische Geisteskultur auf der Ebene eines säkular-kosmopolitschen Bildungsbürgertum und die ihr eigene Intellektualität sind bei der Entwicklung der deutschen Sozialhygiene nicht nur bemerkenswert, sondern von konstitutiver Bedeutung.
3 Das Anliegen der Sozialhygiene war – wir müssen es hier noch einmal betonen – taktisch ein zweifaches: einmal die sozial-gesundheitliche Praxis durch Wissenschaft wirkungsvoll zu gestalten und sodann die praktische Gesundheitsarbeit, die Arbeit an der Bevölkerungsgesundheit z.B. in der Gesundheitsfürsorge als ihrem Hauptsektor durch Auf bau einer »Verfassung«, durch Stabilisierung im System jetzt und in der Zukunft überlebensfähig zu machen. Gerade auch die Sorge um die Bevölkerungsgesundheit in der Welt von morgen, im Zeitalter kommender Generationen stand in ihrem Programm. Von Anfang an suchte die Sozialhygiene deshalb in irgendeiner Form, insgesamt auf den verschiedenen Wegen eher indirekt, die Anbindung an den Staat. Tatsächlich wurde über Gottstein die Gesundheitsfürsorge, das Herzstück der Sozialhygiene, langzeitig überlebensfähig und weiträumig sowohl effektiv als effizient durch eine semisozialisierte »Verfassung« in Form ihrer überwiegenden Kommunalisierung. Die Schwächen dieses »Systems« zeigten sich in der Wirtschaftskrise 1929 ff., in der die Kommunen unter der Last ihrer amerikanischen (!) Anleihen fast zusammenbrachen, und in den Folgen des »Gesetzes zur Vereinheitlichung des Gesundheitswesens« 1933, durch die sich die kommunalen Institutionen dem Zugriff eines ruchlosen Machtstaates ausgeliefert sahen. Dennoch erlebte das Prinzip auf verschlungenen Wegen bis in unsere Tage in der Sozial- und Gesundheitsgesetzgebung eines freiheitlichen deutschen Staatswesens eine gewisse Renaissance. Es gehörte durch Festigung des Sozialgedankens beim politischen Wiederaufbau nach 1945 zu den Kräften, die über die »soziale Marktwirtschaft« den deutschen demokratischen Sozialstaat konstituierten. Das Phänomen der Staatsaffinität sozial-gesundheitlicher Bevölkerungsarbeit verweist auf ein der Sozialhygiene von Anfang an innewohnendes Spannungselement, das diese zunehmend verunsicherte und das untrennbar mit dem Namen Grotjahns verknüpft ist. Es hat dafür gesorgt, dass sich innerhalb der Gründerriege sozusagen unter der der Decke ein »Fall Grotjahn« entwickeln konnte.
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4 Der agile, vielseitig interessierte Arzt und Publizist erfuhr seine Lebensund Lauf bahnprägung durch die Schule der »Internationalen Eugenik«, einer seit Ende des 19. Jahrhunderts bis zur faschistischen Katastrophe weltweit angesehenen Bewegung, in der er sich besonders in seiner Frühzeit aktiv betätigte. Deren beiden Grundprinzipien der Legitimierung durch Wissenschaft und Bewährung der Erkenntnisse durch Praxisumsetzung übertrug er auf die Sozialhygiene, für deren Heraufkunft als einheitlicher Prototyp er sich in jenen Jahren einsetzte. Durch seine neuartigen Perspektiven erwarb er sich als sozialhygienischer Arzt unstreitige Meriten. In der Pathologie rückte er die Ätiologie vor Symptomatologie und Formenlehre an die erste Stelle, um in eben dieser Ätiologie im Ursachengeschehen neben dem Umweltfaktor gleichwertig den Erbfaktor zu installieren. Damit verstärkte er in der Medizin die Anstrengungen zur Erforschung der Erbkrankheiten und schärfte zugleich den Sinn für die nähere oder weitere genetische Bedingtheit von Gesundheit und ihren Störungen vor allem chronischer Art in der Gesellschaft. Die Entdeckung der nichtinfektiösen, nach heutigen Erkenntnissen vielerlei genetisch determinierten »Volkskrankheiten« geht in hohem Maße auf sein Konto. Der Erbfaktor als Teilstück im Risikofaktorenmodell der Volkskrankheiten gewann noch in jüngerer Zeit wachsende Bedeutung. Der Autor der »Sozialen Pathologie« verfing sich jedoch in fataler Weise auf ideologischem Parkett, als er aus der Sozialhygiene heraus, letztendlich ex cathedra vom ordentlichen Lehrstuhl des Fachgebiets aus die nationale Version einer radikalen, sich ganz im Geiste der internationalen Mutterbewegung als wissenschaftliches und zugleich praktikables Projekt verstehenden Eugenik kreierte. Seine »praktische« Eugenik sollte möglichst ab sofort, wenn auch über einen langen Zeitraum, ein therapeutisches-interventionelles Programm verwirklichen zur Förderung und allmählichen Verbesserung des Gesundheitszustands großer Bevölkerungsgruppen, ja ganzer Bevölkerungen. Dazu war allerdings die konkrete Ausführung, wie taktisch-kryptische Formulierungen im seinem Schrifttum verraten, der Kontrolle bzw. dem autoritären Regime eines konsolidierten totalitären Staates zu unterwerfen. Nun lässt sich bei kollektiv sozial-gesundheitlicher Obsorge, im Wohlfahrtsstaat oder gar Versorgungsstaat Staatsaffinität, wie oben angemerkt, nie gänzlich vermeiden. Grotjahns Lösungsvorschlag für das gesellschaftliche Degenerations- bzw. Minderwertigenproblem mit amtlich-bürokratischer Erfassung von gesundheitlichen und genetischen Daten aller Bürger, prospektiv auch der nächsten Generationen in bevölkerungspolitischem Stil und die »gesetzliche« Auferlegung von Maßregeln im generativen Bevölkerungsverhalten bedeutete aber die finale Zuspitzung des Staatsprinzips in der Gesundheitsgesellschaft. Grotjahn und seine Freunde, als sie die Sozialhygiene konzipierten, bekannten sich als Ärzte innerhalb der Medizin zur (sozialen) Ätiologie, Frühdiagnose sowie Prävention/Prophylaxe in Form bevölkerungsweiter gesundheitspolitischer Intervention, die sie als Hauptpfeiler ihrer sozialen Gesundheitslehre/-fürsorge zugrunde legten. Was sie dagegen aus der Requisitenkammer der überkom-
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menen Medizin verwarfen oder zumindest radikal ins Abseits stellten, waren die individuelle medizinische Therapie und ihr Wirksamkeitsanspruch. Das geschilderte Modell, insbesondere auch mit Gesundheitsförderung durch eine die individuelle Therapie ersetzende bevölkerungsspezifische Intervention, faszinierte Grotjahn speziell im Hinblick auf seine innerhalb der Sozialhygiene auf Praxistauglichkeit fortzuentwickelnde Eugenik. Die hier sich darstellende Möglichkeit sozialtechnologisch exakter interventioneller Eingriffe zur Gesundheitsmaximierung an Großeinheiten wie ganzer Populationen bildete für den naturwissenschaftlich orientierten Arzt offenbar von Frühzeiten an bis zuletzt eine unwiderstehliche Versuchung.
5 Grotjahn hätte sich vom Erkenntnisstand seiner Theorie der erblichen Anlagestörungen aus auf das Gebiet der Diagnostik beschränken, im individuellen Fall Diagnostik betreiben, präventionell durch Beratung der Weitergabe der Anlage entgegenwirken und sich auf die soziale Abfederung der Betroffenen konzentrieren können (wie es die anderen Sozialhygieniker im Wesentlichen auch taten). Die entschiedene Wendung von der medizinischen Diagnose pathologischer Erbfaktoren zur Prävention und damit zur kollektiven Therapieseite hin, genauer zur bevölkerungspolitischen Sozialtherapie der Erbschäden mit den Zwangsmitteln einer kollektiven Eugenik unter totalitärem Staatsdach lässt sich nur erklären aus dem für einen perfektionistischen Charakter wie Grotjahn verführerischen sozialtechnologisch glatten Interventionsansatz. Dennoch hätte er – wollte er einer Katabasis eis allo genos entgehen – ähnlich wie die Erforschung der Erbstörungen auch ihre individuelle oder kollektive Therapie der Medizin oder den biologischen Schwesterdisziplinen überlassen müssen. Auch damals schon verbot sich jenseits des vielberufenen Zeitgeists für jeden besonnen Forscher aus mehreren Gründen ein solches Mammutprojekt nach Umfang und Zeitdauer wie die sozialtechnische Elimination unliebsamer Erbanlagen. Statistisch gab es keinen Anhalt für ein Fortschreiten der Degeneration im (interventionsfreien) Erbgang der Bevölkerung, eher sprach alles dagegen (1). Die radikale Methode erforderte unabweislich den Zwangsstaat (2). Die Gängelung der Bevölkerung auf generativem Gebiet mittels psychoinvasiver Methoden spottete jedem ethischem Standard (3). Die immer größere Volkskreise anvisierende Asylierungskampagne in Grotjahns wissenschaftlichen Publikationen leistete einer politischen Internierungsmentatlität Vorschub, die den NS-Machthabern bei ihren Terrormaßnahmen gegen unliebsame Staatsbürger zustatten kam (4). Der Fusion von Sozialhygiene und Eugenik bei ständigem Grün für Letztere, wie sie Grotjahn in maliziöser Weise betrieb, eignete ein Autolyse-Effekt: Sollte dem eugenischen Bevölkerungsexperiment Erfolg beschieden sein, wäre die Sozialhygiene quasi von selbst erledigt (5). Epidemiologisch und unter statistisch-mathematischen Kautelen leidet die Anordnung der Grotjahn’schen »Therapiestudie« unter
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dem Strukturfehler, dass sich die Voraussagbarkeit der Ergebnisse eines zeitgerichteten Untersuchungablaufs auf maximal 2 Jahrzehnte beschränkt, nicht aber wie beim eugenischen Großprojekt über mehrere Jahrhunderte ausdehnt. Aus wissenschaftstheoretischer Sicht offeriert sich das Projekt damit von vornherein als Utopie (6).
6 Obwohl Gottstein und seine sozialhygienischen Stifterkollegen in keiner Weise dem eugenischen Automatismus in der Bevölkerungslehre verfielen, verwahrten sie sich zu seinen Lebzeiten nicht ausdrücklich gegen Grotjahns Spiel mit dem Feuer. Erst posthum entlarvte Gottstein als Erster und Einziger ohne Namensnennung Grotjahns eugenischen Praxisversuch als Utopie. Wie sich die Sozialhygieniker gegenüber der Eugenik Grotjahn’scher Prägung distanzierten – bei formaler Rezeption ihrer Beratungsform –, lässt sich nur auf literarographischem Weg durch Analyse ihrer einschlägigen Literaturbeiträge erfassen. Vor allem Gottstein und Alfons Fischer waren es demnach, bei denen sich der neue freie Denkstil, den auch Grotjahn in seiner Frühzeit als Sozialhygieniker auszeichnete, ungetrübt entfalten konnte. Beide leisteten entscheidende Beiträge zur Szientifikation der Sozialhygiene, Gottstein durch seine Epidemiologie, in der nicht nur demonstrative, sondern auch analytische Statistik zur Anwendung kam, Fischer durch die literarische Systematisierung des Quellenstoffs. Als Mitbegründer der in ihrer Bedeutung gar nicht hoch genug einzuschätzenden Konstitutionslehre gehört Gottstein zu den Schöpfern der in der Krankheitslehre bis heute gültigen mehrgliedrigen Ätiologieformel. Schließlich erarbeitet er sich den Spitzenplatz in der Sozialhygiene, indem er ihrem Hauptressort, der Gesundheitsfürsorge, durch Kommunalisierung eine hocheffiziente halböffentliche Verfassung als Existenzgrundlage verschaff te, die ihr eine Nachwirkung bis in unsere Tage ermöglichte. Die Sozialhygiene stellt sich bei zusammenfassender Betrachtung ihrer Literatur im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts als wissenschaftliche Avantgardedisziplin deutsch/deutsch-jüdischer Provenienz dar mit neuen Beurteilungskriterien für Gesundheit und Krankheit in Bevölkerung und Gesellschaft. Einmal handelt es sich bei ihr nach dem gedruckten Quellenmaterial in Theorie und Praxis um die legitime Vorläuferschule der heutigen, sich seit ca. 1980 formierenden deutschen Gesundheitswissenschaften. Mit ihren Perspektiven, Inhalten und Methoden ist sie sodann bereits selbst Gesundheitswissenschaft. Für die Sozialhygiene beanspruchte den Begriff (im Singular) in der Literatur ertmals Gottstein 1904 (und nicht – wie bisher angenommen – erst im Handbuch von 1925). Als Gesundheitswissenschaft konstruiert die Sozialhygiene Gesundheit nicht länger aus der Sicht allein des Individuums. In den Vordergrund stellt sie das Kollektiv, anfänglich das der unteren Volksschichten, aber im Gang der Zeit das Gesamtkollektiv der Bevölkerungsmasse. Die Gesundheit des Einzelnen hängt ab vom epidemio-
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logischen Geschehen, wie es sich aus der Konstellation sozio-ökonomischer, ökologischer und genetischer Eckdaten und Rahmenbedingungen ergibt. Es ist der Zustand einer Bevölkerung oder Gesellschaft, der letztendlich über die Gesundheit des Einzelnen enscheidet – nicht nur körperlich, sondern bis hinein in den Bereich individueller psycho-sozialer Kompetenz.
Anhang
Siglenverzeichnis 2. Kapitel We. = Wehler 1997; Ni. = Nipperdey 1990; F. = Frevert 1984
6. Kapitel G. = Grotjahn 1932; K. = Kaspari 1989
7. Kapitel A. = Grotjahn 1898; SP = Grotjahn 1923 (3. Aufl.); Kü. = Kühl 1997; G. = Grotjahn 1926
8. Kapitel Go. I/II = Gottstein 1923/1999; K/L = Koppitz/Labisch 1999
9. Kapitel Go. = Gottstein 1897; GT = Gottstein/Tugendreich 1920 (2. Aufl.); NG = Gottstein 1920 (a); KV = Gottstein 1920 (b); HW = Gottstein 1924; SG = 1926; EPI = Gottstein 1937
10. Kapitel Th. = Thomann 1980
11. Kapitel Fi. = Fischer 1925 (2. Aufl.); GG = Fischer 1914; SH/SM = Fischer 1932
14. Kapitel W. = Weder 2000
17. Kapitel Wo. = Wolf 1993
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Gedruck te Quellen Brix, J.; Lindemann, H. (Hg.): Handwörterbuch der Kommunalwissenschaften, 2. Aufl., Jena 1939 Chajes, B.: Kompendium der Sozialen Hygiene, Berlin 1921 (1. Aufl.), 1923 (2. Aufl.), 1931 (3. Aufl.) Fischer, A.: Die sozialhygienischen Zustände in Deutschland nach amtlichen Veröffentlichungen aus dem Jahre 1909, in: Deutsche Vierteljahresschrift für öffentliche Gesundheit, Bd. 42-46, 1910-1914. 1910: S. 416ff.; 1911: S. 420ff.; 1912: S. 369ff.; 1913: S. 421ff.; 1914: S. 555ff. – : Grundriß der Sozialen Hygiene, Karlsruhe 1913 (1. Aufl.), 1925 (2. Aufl) – : Gesundheitspolitik und Gesundheitsgesetzgebung, Berlin, Leipzig 1914 – : Die gesundheitspolitischen Aufgaben nach dem Kriege, in: Arch. Soz. Hyg. Demographie 11, 1916, S. 141ff. – : Neue Fragestellungen auf dem Gebiete der Hygiene, Veröff. a. d. Geb. Medizinalverw. 8, 1918, S. 3ff.; in: Lesky 1977, S. 217ff. – : Der Begriff »Gesundheit«, Sozialhygienische Mitteilungen 1932 (a), S. 66-70 – : Soziale Hygiene, mit besonderer Berücksichtigung der sozialen Medizin, in: Klemperer, G.; Klemperer, F. (Hg.): Neue Deutsche Klinik, Handwörterbuch der praktischen Medizin, Bd 10, 1932 (b), S. 34ff. – : Geschichte des deutschen Gesundheitswesens, 2 Bände, Berlin 1933 (a) (Faksimile-Nachdruck 1960) – : Überblick über die Geschichte der Rassenhygiene in Deutschland, Sozialhygienische Mitteilungen 17, 1933 (b), S. 42ff. – : Die Entwicklung der Eugenik im Deutschen Reich während des 20. Jahrhunderts, mit besonderer Berücksichtigung der Bestrebungen zur Verhütung erbkranken Nachwuchses, in: Sozialhygienische Mitteilungen 17, 1933 (c), S. 76ff. – : Zwanzig Jahre Badische Gesellschaft für soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik, in: Sozialhygienische Mitteilungen 19, 1935, S. 110ff. Gottstein, A.: Allgemeine Epidemiologie, Leipzig 1897 – : Geschichte der Hygiene im 19. Jahrhundert, Berlin 1901 – : Die soziale Hygiene, ihre Methoden, Aufgaben und Ziele, in: Zschr.f. Soziale Medizin 2, 1907, H. 1, S. 3ff., H. 2, 100ff. – : Die Regelung des Gesundheitswesens in den deutschen Großstädten, Dtsch. Med. Wschr. 34, 1908, 512ff., 553ff., 598ff. – : Die Entwicklung der Hygiene im letzten Vierteljahrhundert, Zschr.f. Sozialwiss. 12, 1909, S. 65ff. – : Beeinflussung von Volksseuchen durch die Therapie, zugleich ein Beitrag zur Epidemiologie der Krätze, in: Med. Reform 19, 1911, S. 41ff. – : Alfred Grotjahn (Berlin), Soziale Pathologie (Literaturbericht), Dt. med. Wschr. 38, 1912, S. 527f. – ; Tugendreich, G.: Sozialärztliches Praktikum, Berlin 1918, 2. Aufl. 1920 – : Krankheit und Volkswohlfahrt (= Wege der Volkswohlfahrt 4), Vereinigung wissenschaftlicher Verleger, Berlin 1920 (a)
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Literatur verzeichnis Das Ausmaß der (heute über elektronische Kataloge relativ leicht erfassbaren) Sekundärliteratur zu unserem Themenkreis ist Legion. Man kann sie zwar insgesamt lesen, aber im Rahmen unserer Arbeit nicht in Gänze diskutieren. Von daher beschränkt sich unser Literaturverzeichnnis auf eine Auswahl. Ackerknecht, E. H.: Beiträge zur Geschichte der Medizinalreform von 1848, Leipzig 1932; in: Sudhoffs Archiv 25, 1932, 61ff.; 112ff. (Armen-Krankenversorgung S. 138ff., abgedruckt in: Lesky 1977, S. 147ff.) Anon.: »Gottstein, Adolf«, in: Lexikon des Judentums, Gütersloh 1967, S. 483 Antoni, Chr.: Sozialhygiene und Public Health. Franz Goldmann (18951970), Husum 1997 Baader, G.: Der Einfluss deutsch-jüdischer Emigranten auf die Entwicklung der medizinischen Grundlagenfächer für die Schaff ung einer medizinischen Fakultät an der Hebrew University of Jerusalem, in Scholz/Heidel 2004, S. 19ff. Badura, B.: Gesundheitswissenschaften und öffentliche Gesundheitsförderung, in: Schwarzer, R. (Hg.): Gesundheitspsychologie. Göttingen 1990, S. 51ff. Barkow, R.: Die Sexualpädagogik von 1918-1945, Diss. masch., Münster 1980 Becker, P. E.: Zur Geschichte der Rassenhygiene. Wege ins Dritte Reich, Bd. I; Bd. II: Sozialdarwinismus, Rassismus, Antisemitismus und Völkischer Gedanke, Stuttgart, New York 1988 und 1990 Bergmann, H.-J.: Max Hodann (1894-1946) – Sexualreformer und Antimilitarist, in: Ruprecht, T. M.; Jenssen, Chr. (Hg.): Äskulap oder Mars? Ärzte gegen den Krieg, Bremen 1991 – : Max Hodann – Versuch einer Annäherung, Berlin 1990 Betke, H.: Adolf Gottstein zum Gedächtnis des 100. Geburtstages am 2. November 1957, in: Klein. Wschr. 35, 1957, 1147f. Beyer, H.: Max von Pettenkofer. Arzt im Vorfeld der Krankheit, Leipzig 1981 (2. Aufl.) Blohmke, M.; Schäfer, H. (Hg.): Handbuch der Sozialmedizin, Band 1, Stuttgart 1975 Bourdieu, P.: Die biographische Illusion, in: Zschr.f. Biogr.forschg u. Oral Hist. 1990, S. 75ff. Buchholz, K. et al. (Hg.): Die Lebensreform, Entwürfe zur Neugestaltung von Leben und Kunst um 1900, 2 Bände, Darmstadt 2001 Coerper, C.: Sozialhygiene. Ein Abriß ihrer Struktur und ihrer Aufgaben. Öff. Gesundhd. 21, 1959/60, S. 134ff. Deppe, H.-U.; Regus, M. (Hg.): Seminar: Medizin, Gesellschaft, Geschichte. Beiträge zur Entwicklungsgeschichte der Medizinsoziologie, Frankfurt 1975
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– ; Tennstedt, F.: 50 Jahre »Gesetz über die Vereinheitlichung des Gesundheitswesens«. Gesellschaftliche Bedingungen öffentlicher Gesundheitsvorsorge. Problemsichten und Problemlösungsmuster kommunaler und staatlicher Formen der Gesundheitsvorsorge, dargestellt am Beispiel des öffentlichen Gesundheitsdienstes. Gesammelte Aufsätze einer historisch-soziologischen Untersuchung, Schriftenreihe der Deutschen Zentrale für Volksgesundheitspflege, Bd. 49, Frankfurt 1988, S. 63ff. – ; Tennstedt, F.: Der Weg zum »Gesetz über die Vereinheitlichung des Gesundheitswesens« vom 3. Juli 1934, 2 Bände, Düsseldorf 1985 Leibfried, S.: Stationen der Abwehr, Berufsverbot für Ärzte, in: Bulletin des Leo-Baeck-Instituts, Bd. 62, New York 1982, S. 3ff. – ; Tennstedt, F.: Berufsverbote und Sozialpolitik 1933, Bremen, 2. Aufl. 1980 Lesky, Erna (Hg.): Sozialmedizin, Entwicklung und Selbstverständnis, Darmstadt, 1977 Loewenstein, G.: Kommunale Gesundheitsfürsorge und sozialistische Ärztepolitik zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus – autobiographische, biographische und gesundheitspolitische Anmerkungen, Bremen, 1980 (2. Aufl.) Mann, G.: Medizinisch-biologische Ideen in der Gesellschaftslehre des 19. Jahrhunderts, in: Med.-hist. J. 4, 1969, S. 1ff. Müller, W, Laaser, U., Kröger und Murza, G.: Zur Weiterentwicklung des öffentlichen Gesundheitsdienstes – Wertung der gesundheitspolitischen und wissenschaftlichen Literatur, in: Öff. Gesundh.-wes. 50, 1988, S. 303ff. Müssener, H.: Exil in Schweden. Politische und kulturelle Emigration nach 1933, München 1974 Nadav, D. S.: Zwischen Sozialhygiene und dem Auf bau des öffentlichen Gesundheitswesens des Jishuv, in: Fischer 1994, S. 461ff. Niederland, D.: The Influence of German Jewish Physicians on the Development of the Medical Services and Professional Values in Eretz Israel 1933-1948, in: Scholz/Heidel 2004, S. 37ff. – : Deutsche Ärzte-Emigration und gesundheitspolitische Entwicklungen in »Eretz Israel« (1933-1948), Med.-hist. J. 29, 1985, S. 149ff. Niedermeyer, A.: Wahn, Wissenschaft und Wahrheit, Wien, München 1956 Nipperdey, Thomas: Deutsche Geschichte 1866-1918, 1. Band: Arbeitswelt und Bürgergeist, München 1990 – : Deutsche Geschichte 1800-1866, Bürgerwelt und starker Staat, München 1987 (4. Aufl.) Nowack, o. Vn.: Die öffentliche Gesundheitspflege, in: Wuttke 1904, Band I Pearle, K.: Ärzteemigration nach 1933 in die USA: Der Fall New York, in: Med.-hist. J. Bd. 19, 1984, S. 112ff. Peters, J.: Exilland Schweden. Deutsche und schwedische Antifaschisten 1933 –1945, Berlin 1984
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Thissen, R.: Die Entwicklung der Terminologie auf dem Gebiet der Sozialhygiene und Sozialmedizin im deutschen Sprachgebiet bis 1930, Köln, Opladen, Teile abgedruckt in: Lesky 1977, S. 444ff. Thomann, K.-D.: Alfons Fischer (1873-1936) und die Badische Gesellschaft für soziale Hygiene, Köln 1980 – : Die Zusammenarbeit der Sozialhygieniker Alfred Grotjahn und Alfons Fischer, in: Med.-hist. J. 14, 1979, S. 251ff. Tutzke, D. (Hg.): Zur gesellschaftlichen Bedingtheit der Medizin in der Geschichte, Jena 1981 – : Alfred Grotjahn. Reihe Biographien hervorragender Naturwissenschaftler, Techniker und Mediziner, Bd. 36, Leipzig 1979 – : Entwicklung der bürgerlichen Sozialhygiene in Deutschland, in: ders. 1976; in: ders. 1981, S. 104ff. – (Hg.): Zur Entwicklung der Sozialhygiene im 19. und 20. Jahrhundert, Berlin 1976 – : Der Beitrag Alfons Fischers zur Entwicklung der Sozialhygiene als Wissenschaft, in: Wiss. Zeitschr. Univ. Halle 23, H. 4, 1974 (a), S. 84ff. (so in der Literatur angegeben, dort aber nicht abgedruckt!, deshalb auch nicht eingesehen) – : Zur geschichtlichen Entwicklung der medizinischen Statistik. Schriftenr. Naturw. Techn. Med. 11, 1974 (b), S. 72ff. – : Zur geschichtlichen Entwicklung der medizinischen Statistik. Schriftenr. Naturw. Techn. Med. 11, 1974 (c), S. 72ff. – : Der Schriftwechsel zwischen Rainer Fetscher und Alfred Grotjahn, Z. ges. Hyg. 18, 1972 (a), S. 819ff. – : In memoriam G. Wolff (1886-1952). Pour le 20ieme anniversaire de sa mort 16. 09. 72. Revue d’histoire de la médecine hébraique, 25, 99, 1972 (b), S. 121ff. – : Die sozialhygienischen Übungen an der Berliner Medizinischen Fakultät von 1920-1933, Z. ges. Hyg. 16, 1970, S. 335ff. – : Die Habilitanten Alfred Grotjahn’s (1869-1931). Clio. Med. 3, 1968 (a), S. 251ff. – : Die Wiederbesetzung des Berliner Ordinariats für Sozialhygiene nach Alfred Grotjahn. Z. ges. Hyg. 14, 1968 (b), S. 452ff. – : Die Bedeutung Friedrich Prinzings für die medizinische Statistik. Med. hist. J. 2, 1967, S. 13ff. – : Alfred Grotjahn und die Sozialhygiene, Habilitationsschrift Leipzig 1952 Vossen, J.: Gesundheitsämter im Nationalsozialismus. Rassenhygiene und offene Gesundheitsfürsorge in Westfalen 1900-1950, Eiss. Essen 2001 – : Die Entwicklung des öffentlichen Gesundheitsdienstes in Preußen/ Deutschland und seine Aufgaben in Sozialhygiene und Sozialmedizin, 1899-1945, in Schagen/Schleiermacher (Hg.) 2005, 4. Teil: Texte, Beitrag Nr. 5 Waller, H.: Sozialmedizin, Stuttgart 1990 – : Gesundheitswissenschaften, Stuttgart 1997
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Weder, H.: Sozialhygiene und pragmatische Gesundheitspolitik in der Weimarer Republik am Beispiel des Sozial- und Gewerbehygienikers Benno Chajes (1880-1938), Husum 2000 Wehler, H.-U.: Deutsche Gesellschaftsgeschichte, III, Berlin 1995 Weingart, P.; Kroll, J.; Bayertz, K.: Rasse, Blut und Gene. Geschichte der Eugenik und Rassenhygiene in Deutschland, Frankfurt 1988/92 Weindling, P.: Health, race and German politics between national unification and Nazism 1870 and 1945, Cambridge 1989 – : Soziale Hygiene: Eugenik und medizinische Praxis – Der Fall Alfred Grotjahn, in: Das Argument. Jahrbuch für kritische Medizin. Sonderband AS 119, Berlin 1984, S. 6ff. Weinland 1984 Wieler, J.; Zeller, S. (Hg.): Emigrierte Sozialarbeit, Freiburg i. Br. 1995 Winter, I.: Über den Stellenwert sozialer Aspekte in der klinischen Medizin des 19. Jahrhunderts, Wiss. Z. Univ. Halle XXIII, 74 M., H. 4, S. 10ff.; in: Tutzke 1981 (a), S. 146ff. – : Zur Entwicklung sozialen Denkens in der klinischen Medizin des 19. Jahrhunderts, NTM 11 (1974) 1, S. 90ff.; in: Tutzke 1981 (b), S. 154ff. Winter, K.: Alfred Grotjahn – seine Bedeutung für unsere Zeit, Dt. Gesundheitswesen 25, 1970, S. 517ff. – : Lehrbuch der Sozialhygiene, Berlin 1967 (4. Aufl.) Wolff, Wilfried: Max Hodann (1984-1946), Sozialist und Sozialreformer, Hamburg 1993 Wolfssohn, M.; Brechenmacher, Th.: Deutschland, jüdisch Heimatland. Die Geschichte der deutschen Juden, vom Kaiserreich bis heute. München 2008 Wuttke, R. (Hg.): Die deutschen Städte, Geschildert nach den Ergebnissen der ersten deutschen Städteausstellung zu Dresden 1903, Band I und II, Leipzig 1904
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Tabellen Tabelle 1 (S. 41): Einige in der Tradition der Sozialhygiene vorgegebene Aufgabenbereiche von Public Health Tabelle 2 (S. 86): Motive für öffentliche Gesundheit im Zeitalter von Revolution und Säkularismus (Beachte sachliche und historische Überschneidungen) Tabelle 3 (S. 101): Meilensteine im Werdegang der deutschen Sozialhygiene als Wissenschaftsdisiziplin Tabelle 4 (S. 156): Formaler Vergleich zwischen den statistischen Dokumentationen in den sozialhygienischen Standardwerken Grotjahns (1923), A. Fischers (1925) und Chajes (1931) Tabelle 5 (S. 197): Zusammenstellung der unterschiedlichen an der Sozialhygiene in Deutschland beteiligten Fachberufe (Professionsmorphologie der Sozialhygiene) Tabelle 6 (S. 333): Übersicht über die wissenschaftlich arbeitenden deutschen Sozialhygieniker im 1. Drittel des 20. Jahrhundert; überwiegend Berlin Tabelle 7 (S. 334): Übersicht über die biographisch erfassten, wissenschaftlich und/oder praktisch orientierten nichthabilitierten Sozialhygieniker im 1. Drittel des 20. Jahrhunderts, überwiegend Berlin. Tabelle 8 (S. 335): (Fortsetzung:) Übersicht über die biographisch erfassten, wissenschaftlich und/oder praktisch orientierten nichthabilitierten Sozialhygieniker im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts, überwiegend Berlin. Tabelle 9 (S. 336): (Fortsetzung:) Übersicht über die biographisch erfassten, wissenschaftlich und/oder praktisch orientierten nichthabilitierten Sozialhygieniker im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts, überwiegend Berlin. Tabelle 10 (S. 379): Vergleich der Entwicklung der staatlich/kommunal kontrollierten Sozialhygiene bzw. Gesundheitsfürsorge in 3 westlichen Kulturstaaten nach Teleky
Grafiken Diagramm 1 (S. 319): Kalkulierte Zahl und Art sozialhygienischer Großveröffentlichungen 1891-1933 Diagramm 2 (S. 380): Vergleich staatlich/kommunal kontrollierter Gesundheitsfürsorge in 3 Kulturländern
Abbildungen Quelle: A. Grotjahn/I. Kaup: Handwörterbuch der Sozialen Hygiene, 2 Bde., Leipzig, 1912. – Abbildung 6: Titelseite des »Gottstein/Tugendreich«, 1. Aufl., 1918
Abbildung 1: Französische Schleifmethode. (Aus der Sammlung Teleky, Wien)
Abbildung 2: Feilenschleiferei-Werkstätte in Wien. (Aus der Sammlung Teleky, Wien)
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Abbildung 3: Staubabsaugung an einer Krempelmaschine in einer Putzwollfabrik
Abbildung 4: Herstellung von Pelzwaren in Heimarbeit ein einer Hofwohnung. (Aus der Wohnungsenquete der Ortskrankenkasse der Kaufl eute usw. zu Berlin.)
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Abbildung 5: Blusen- und Wäschenäherei in Heimarbeit (mit erkrankten Personen). (Aus der Wohnungsenquete der Ortskrankenkasse für den Gewerbebetrieb der Kaufl eute usw. zu Berlin.)
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Abbildung 6: Leitfaden für das Berufsbild des Fürsorgearztes
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Abbildung 7: Städtische Säuglingsfürsorge VI. Cöln-Nippes
Abbildung 8: Baderaum der Auguste-Viktoria-Krippe in Berlin. (Berlinder Krippenverein.)
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Abbildung 9: Gang der Schulkinderuntersuchung in Stuttgart. (Die einzelnen Manipulationen finden selbstverständlich in verschiedenen Räumen statt und sind nur zum Zwecke des Photographierens in ein Zimmer zusemmengestellt.)
Abbildung 10: Bauverein zur Erbauung preiswerter Wohnungen, E.G.m.b.H, Leipzig
Personenregister Seitenzahlen in kursiv = ausführliche Behandlung von Personen oder Beiträgen auf den betreffenden Seiten. Die Namen aus den Tabellen 6-9 wurden nicht ins Personenregister aufgenommen.
Aaron, Fritz 331 Ackerknecht, Erwin 47, 299 Adam, Curt 280 Antoni, Christine 329, 356-357, 368ff. Arons, Leo 111 Aschoff, Ludwig 282 Baader, Gerhard 339 Badura, Bernhard 37-38, 209 Baeck, Leo 331 Banting, Frederick 296 Becker, Peter Emil 141 Bejach, Edgar 118 Benjamin, Georg 118 Bergmann, Hans-Joachim 374 Bernhard, Thomas 374 Bernstein, Eduard 112 Best, Charles 296 Binding, Karl 173 Bismarck, Otto Fürst von 55, 60-64, 148, 154, 304, 362 Blaschko, Alfred 26, 43, 338, 343, 350, 383 Blohmke, Maria 17, 40, 103 Blüher, Hans 372 Blumenthal, Ferdinand 208 Bourdieu, Pierre 21 Brand, Heinz-Jürgen 93-94 Brauer, Ludolph 297 Brechenmacher, Thomas 46 Brix, Josef 187 Broca, Pierre Paul 210 Buchholz, Kai 89, 97, 245 Buchner, Hans 81 Burgdörfer, Friedrich 306 Cabanis, Pierre-Jean Georges 81, 84 Carus, Carl-Gustav 210 Casper, Johann Ludwig 56
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Chajes, Benno 26, 41, 101, 103, 156, 307, 312, 337ff., 383 Chamberlain, Houston Steward 157 Conti, Christoph 89 Crzellitzer, Arthur 26, 43, 383 Czuber, Emanuel 306 Darwin, Charles 152, 158-159, 163-164, 172, 191, 193, 225, 231, 235, 310 Deppe, Hans 299-300 Diekhöfer, Klemens 90 Diepgen, Paul 94-96, 98-99 Dietrich, Eduard 114 Doerr, Robert 233 Domagk, Gerhard 296 Dornedden, Hans 324, 331 Drigalski, Wilhelm von 26, 118 Drucker, Alexander 118 Drucker, Salo 328 Eckart, Wolfgang Ulrich 30, 44, 47, 133, 148, 153, 184, 309 Eckstein, Albert 19, 288 Ehrlich, Paul 296 Einstein, Albert 48 Elster, Alexander 317 Engel, Ernst 257 Epstein, Frederick H. 94, 304, 307-308 Erichsen, Regine 19, 288, 339 Ewert, G. 103 Fabian, Ewald 328 Fischer, Alfons 18-19, 22, 26-27, 41-42, 74, 77, 81, 83, 98-99, 101-103, 110, 116117, 124, 133, 156, 170, 241ff., 249ff., 285-288, 291-293, 295-299, 301-303, 307-308, 315-316, 319, 345, 383, 387 Fischer, Wolfram 38 Fleming, Alexander 296 Flügge, Carl 116-117 Fogel, Robert W. 231 Foucault, Michel 56, 81 Frank, Johann Peter 81, 156, 254, 293 Frankenthal, Käte 208, 326-328, 330-331 Frecot, Janos 89 Freudenberg, Karl 306, 338, 354 Frevert, Ute 52, 56ff., 60ff., 69, 71, 81, 199, 289 Galton, Francis 158, 163 Gastpar, Alfred 194, 198 Gebhard, Bruno 38, 156
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Geigel, Alois 67, 93 Geißler, Oswald 242, 246 George, alias Alfred Korach 113, 330, 383 Gobineau, Arthur de 157, 173 Göckenjan, Gerd 56 Goldmann, Franz 26, 41, 118, 120, 173, 330, 355, 365ff., 383 Goldschmidt, Hans Heinrich 338 Gottstein, Adolf 17-19, 22, 26-28, 39, 41-43, 72-75, 77, 83, 96, 99-103, 110, 136, 138-139, 143, 156, 162-163, 170, 175, 177ff., 189ff., 269, 285ff., 305, 307-308, 312, 316, 318-319, 345, 361, 366, 383-384, 387 Gralka, Richard 97 Greenwood, Major 38, 308, 354, 357ff. Grieser, Andreas 254 Griesinger, Wilhelm 56 Grote, Louis R. 21, 31, 179, 186, 287 Grotjahn, Alfred 18-19, 21-22, 25-26, 28-29, 38-39, 41-43, 46, 56, 64, 67, 7172, 79-80, 82-83, 88-89, 91, 94, 96-97, 101-103, 107ff., 125ff., 156, 179-182, 206, 208, 210, 213, 219, 225, 227-231, 236, 238-239, 243, 245, 250, 253, 257, 263-265, 274-276, 282-283, 285-287, 290ff., 304ff., 319, 338, 345-346, 348349, 353-354, 356, 360-361, 363, 365-366, 368, 371-372, 374, 382-387 Grotjahn, Martin 121 Grotjahn, Paul Hermann Georg 108 Gruber, Max von 116, 259, 265 Hagen, Wilhelm 331 Hamburger, Carl 26, 173 Hamel, Carl 114-115 Hankins, Thomas L. 21 Haustein, Hans 26, 43, 118, 307, 371, 383 Hauptmann, Gerhard 110 Heidel, Caris-Petra 19, 288 Heinzelmann, Wilfried 84, 89-90, 120, 176, 215, 289, 292 Henoch, Eduard Heinrich 56 Hentschel, Volker 148 Hersch, L. 359-360 Hertwig, Oskar 124 Herzl, Theodor 18 Hirsch, August 93-94, 384 Hirschfeld, Magnus 372 Hoche, Alfred 173 Hodann, Max 26, 110, 118, 330, 371ff., 383 Hueppe, Ferdinand 73, 96, 100, 163, 181-182, 189 Hurrelmann, Klaus 18, 35-37, 42, 74, 78, 209, 239 Illich, Ivan 81 Imhof, Artur E. 67
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G E SUNDHEIT SWIS SENSCHAF T
Jacobi, Ludwig 61 Junge, Gustav 120 Kantorowicz, Myron Gordon 96, 100, 102 Karbe, Karl-Heinz 69, 299 Kaspari, Christoph 38, 46, 88-89, 107ff., 129-130, 136, 156, 169, 173-174, 296, 303, 307-308, 317, 361 Kaup, Ignaz 26, 101, 103, 116 Kaznelson, Siegmund 49 Keil, U. 17 Kisskalt, Karl 209, 306 Kleeberg, J. 339 Koelsch, Franz 26, 348 Kohli, Martin 21 Korach (-George), Alfred 113, 330, 383 Koppitz, Ulrich 175, 177ff., 186, 237-238, 291 Krabbe, Wolfgang R. 67, 89 Krautwig, Peter 26, 194, 201 Kriegel, Friedrich 101, 114-115, 182 Kühl, Stefan 27, 157ff., 169-172, 310-311, 316 Laaser, Ulrich 17-19, 23, 35-38, 42, 49, 74, 78, 209, 239, 292, 299, 302 Labisch, Alfons 18, 36, 56, 67, 70-71, 73ff., 87, 95-99, 133, 163, 170, 175, 177ff., 186-187, 211, 221, 228-229, 238, 287, 288, 291-293, 318, 327-328, 331, 338, 356, 368, 372, 374 Lamarck, Jean Baptiste de Bonet de 128 Ledebour, Georg 111 Leibfried, Stephan 45, 47, 323-328, 331, 338, 341 Lennhoff, Rudolf 182 Lenz, Fritz 166, 171, 235, 237, 310 Lesky, Erna 38, 96, 99-100, 103, 116, 133, 198, 251, 253 Leubuscher, Rudolf 56, 60, 132, 299 Levy, Michael 81 Lewinsohn, R. 144, 173 Leyden, Ernst von 56 Liebreich, Oskar 73, 163, 189-190 Loewenstein, Georg 326-328, 331 Loewenthal, K. 118 Lorentz, Friedrich 280 Mai, Franz Anton 247, 254, 293 Mann, Gunter 93 Mann, Thomas 109 Martius, Friedrich 73, 100, 162-163, 182 Marx, Karl 111-112, 124, 374 McCarthy, Joseph Raymond 367-368
P ERSONENREGISTER | 415
McKeown, Thomas 286 Mendel, Gregor 158, 210, 225 Metternich, Klemens Wenzel Fürst von 68 Metzner, Karl 280 Meyer-Brodnitz, Franz Karl 344 Meyer-Neumann, Elsbeth 299 Mises, Ludwig von 175, 238-239 Moses, Julius 26 Mosse, Max 26, 49, 51, 56, 101, 103, 116-117, 290, 348, 383 Müssener, Helmut 374 Nadav, Daniel S. 338-340, 342 Naumann, Friedrich 112 Neumann, Salomon 18, 49, 56, 60, 132, 229, 251, 288, 299-302, 383 Niceforo, Alfredo 371 Niederland, Doron 338-339, 341-342 Nipperdey, Thomas 45-46, 53, 61-62, 68-69 Nowack 93, 98 Oesterlen, Friedrich 73, 81, 93, 262 Ortega y Gasset, José 37 Ostwald, Wilhelm 116 Pearl, Raymond 175, 238-239, 306 Pearle, Kathleen M. 324-326, 331 Pearson, Karl 306, 356 Peters, Jan 374 Pettenkofer, Max von 73-74, 79, 81, 93, 96, 98-100, 164, 210, 254 Peyser, A. 173 Ploetz, Alfred 115, 128, 152, 163, 170, 191 Preuss, Walter 339 Prinzing, Friedrich 209, 306-307, 356 Reich, Eduard 56, 81, 93, 96, 99 Rimpau, W. 305 Roeder, Werner 30, 327-328, 331, 338, 356, 368, 374 Roesle, Emil 115, 306 Roosevelt, Theodor 367 Rose, Goeff rey Arthur 18, 302 Rosen, George 28-29, 73, 75 Rosenbach, Ottomar 73, 100, 163 Roth, Anne 341 Roth, Karl-Heinz 124, 167 Rothschuh, Karl-Eduard 29, 79, 84, 88-90, 97, 103, 177, 251, 290 Rott, Fritz 26, 114-115, 118 Rousseau, Jean Jaques 88
416 | S OZIALHYGIENE
AL S
G E SUNDHEIT SWIS SENSCHAF T
Rubner, Max 73-74, 79, 93, 100, 102, 164 Rüdin, Ernst 124, 171 Rürup, Reinhard 68 Salamander, Rachel 47-48 Salomon, Alice 26 Salomon, W. 142-143 Sand, René 28, 75, 117 Schadow, Johann Gottfried 210 Schäfer, Hans 17, 40, 103 Schaeffer, Doris 299-300 Schagen, Udo 40 Schallmayer, Wilhelm 163, 170, 262 Schiller, Friedrich von 102 Schipperges, Heinrich 29, 176-177 Schleiermacher, Sabine 40 Schlossmann, Arthur 17, 26, 41, 43, 186, 288, 316, 383 Schmoller, Gustav 114, 163, 292 Schneck, Peter 38, 47, 338, 342, 356, 368, 372, 374 Schoeps, Hans Joachim 177 Scholz, Albrecht 19, 288 Schulze, Gerhard 107, 112-113, 120, 122, 124 Schwabe, Heinrich 259 Schwartz, Friedrich-Wilhelm 35, 37-38, 153 Schwarzer, Ralf 37 Schweniger, Ernst 121 Seidler, Eduard 48 Sigerist, Henry 38 Simons, John 156 Spree, Reinhard 52, 56, 231, 285-286 Srubar, Ilja 48 Stein, Lorenz von 247, 251 Stier, E. 194 Stöckel, Sigrid 354, 356 Stollberg, Gunnar 23, 79, 81, 98, 175, 299-300, 318 Strauss, Herbert A. 328, 331, 338, 356, 368, 374 Strauss, Walter 342 Ströbel, Heinrich 109 Stürzbecher, Manfred 178 Südekum, Albert 109 Sudermann, Hermann 110 Sydenham, Thomas 295 Szöllösi-Janze, Margit 21
P ERSONENREGISTER | 417
Taylor, Frederick W. 159 Teleky, Ludwig 17, 26, 29, 35, 38, 41, 101, 116, 186, 203, 299, 316, 330, 348, 377ff., 383 Tennstedt, Florian 36, 67, 70-71, 73-74, 76, 78-79, 87, 95-98, 133, 211, 229, 287-288, 292, 325-328, 331, 338, 341, 356, 368, 372, 374 Thissen, Rudolf 99, 103, 133, 198, 253 Thomann, Hans-Dieter 30, 116, 242ff., 248, 288, 315 Tönnies, Friedrich 109, 114 Toulouse, Henri 89 Tugendreich, Gustav 26, 49, 51, 56, 101, 117, 184-185, 194, 198, 290, 345, 348, 377, 383 Tutzke, Dietrich 55-56, 103, 107, 110, 113, 115, 117-120, 122-124, 130, 136, 165, 168169, 175, 201, 246, 253, 291, 305-307, 311, 318, 326, 338, 355-356, 368, 374 Virchow, Rudolf 18, 56, 60, 69, 75, 93, 98, 110, 129, 132, 191, 198, 200, 212, 214, 251, 253-254, 295, 299, 353, 384 Vollnhals, A. 118 Vossen, Johannes 40 Wagner, Dietrich 305 Walksman 356 Weder, Heinrich 47, 101, 117, 308, 310, 313, 338ff., 356, 374 Weber, Alfred 256 Wehler, Hans-Ulrich 51ff., 62-64, 68-69, 81, 149 Weigert, Carl 179 Weinberg, Wilhelm 306, 346 Weindling, Paul 113-115, 124, 153, 160-161, 169-170, 309-313, 317, 362 Weingart, Peter 81, 89, 155, 158, 161-162, 166, 169-172, 363 Weinland 108 Weismann 128, 158 Westergaard, Harald 209, 306 Weyl, Theodor 38, 93 Wieler, Joachim 38, 331 Wiggershaus, Rolf 245 Winkler, Wilhelm 306 Winslow, Charles-Edward A. 367 Winter, Irina 55-56, 96, 99 Winter, Kurt 17, 123-124, 126 Woelk, Wolfgang 18, 36, 73ff., 78-80, 221 Wolff, Georg 38, 41, 51, 94, 103, 118, 124, 150, 173, 305-308, 330, 338, 353ff., 366, 368, 383 Wolff, Wilfried 374ff. Wolffsohn, Michael 46 Woltmann, Ludwig 157 Yule, G. Udny 306
418 | S OZIALHYGIENE
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G E SUNDHEIT SWIS SENSCHAF T
Zadek, Ignaz 278 Zeller, S. 38 Ziemssen, Hugo Wilhelm von 73, 93 Zizek, Franz 306 Zola, Emile 110 Zola, Irving Kenneth 81
Science Studies Christopher Coenen, Stefan Gammel, Reinhard Heil, Andreas Woyke (Hg.) Die Debatte über »Human Enhancement« Historische, philosophische und ethische Aspekte der technologischen Verbesserung des Menschen April 2010, ca. 300 Seiten, kart., ca. 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1290-5
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