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German Pages 266 Year 2003
SIEGFRIED HERMES
Soziales Handeln und Struktur der Herrschaft
Soziologische Schriften Band 75
Soziales Handeln und Struktur der Herrschaft Max Webers verstehende historische Soziologie am Beispiel des Patrimonialismus
Von
Siegfried Hermes
Duncker & Humblot . Berlin
Die Philosophische Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Bonn hat diese Arbeit im Jahre 2001 als Dissertation aufgenommen.
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
Alle Rechte vorbehalten
© 2003 Duncker & Humblot GmbH, Berlin
Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0584-6064 ISBN 3-428-10902-3 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706@
Vorwort Leben und Werk Max Webers haben über die Jahrzehnte nichts von ihrer Faszination eingebüßt, und längst ist die Weber-Forschung hierzulande und anderswo zu einem Großforschungsunternehmen mit bibliothekenfüllenden Arbeitsergebnissen geworden. Auch die Transformationsproblematik ("Handeln und Struktur") und der Herrschaftstypus des Patrimonialismus sind thematische "Werkstücke", für die es in der Weber-Bibliothek bereits eigene Signaturen gibt. Warum also noch eine Weber-Arbeit zu eben diesem Thema? Ich meine, die historisch-kritische Edition von "Wirtschaft und Gesellschaft" im Rahmen der Max Weber-Gesamtausgabe bietet die wirklich einzigartige Möglichkeit, werkgenetische und systematische Fragestellungen bei der Deutung der großen (überwiegend nachgelassenen) historischen Soziologie Max Webers in neuer Weise miteinander zu verbinden, die Fundamente eingetretener Interpretationswege zu prüfen, vielleicht auch neue einzuschlagen. Einen Beitrag dazu möchte die vorliegende Studie leisten. Es handelt sich hierbei um die leicht überarbeitete Fassung einer Dissertation, die der Philosophischen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn im Sommersemester 2000 vorgelegen hat. Angeregt wurde sie nicht zuletzt durch die Mitarbeit an der historisch-kritischen Edition von Max Webers sogenannter Rechtssoziologie im Rahmen der Max Weber-Gesamtausgabe. Für die Fertigstellung danke ich vielen Menschen, von denen ich einige an dieser Stelle ausdrücklich hervorheben möchte. An erster Stelle gebührt mein herzlicher Dank Herrn Professor Dr. jur. Wemer Gephart für vielfliltige wertvolle Anregungen, stetige Ermutigung und eine schier unerschöpfliche Geduld mit dem Verfasser. Wie viel ich in der Sache seinen eigenen Arbeiten zur Soziologie Max Webers verdanke, wird der interessierte Leser leicht entdecken können. Beate Brandenburg, Benedikt Giesing, Jonas Grutzpalk, Dietmar Haase und Michael Hasse haben verschiedene Teile des Manuskripts sorgfältig Korrektur gelesen und kritisch kommentiert. Chih-Cheng Jeng hat mir bei der formalen Gestaltung wertvolle Hilfe geleistet. Ihnen allen danke ich dafür sehr. Dem Verlag Duncker & Humblot danke ich für die Aufnahme des Buches in die Reihe "Soziologische Schriften" und insbesondere Herrn Hartmann für die gute Zusammenarbeit bei der Drucklegung. Last but not least gilt mein Dank Klaudia Haase, ohne die die Arbeit nie zu einem Ende gelangt wäre. Ihr möchte ich das Buch widmen. Bonn, im März 2003
Sieg/ried Herrnes
Inhaltsverzeichnis Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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I. Einführung: BegritTsbildung, Handlungstheorie und historische Soziologie bei Max Weber........ ......... ...... ...... ........... ............ ....... ... ........
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1. Patrimonialismus als Problem der Weberschen Rationalisierungsthese ..........
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2. Patrimonialismus als Problem der Weberschen Idealtypenlehre .... . ...... . .....
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3. Patrimonialismus als Problem der Weberschen Handlungslehre . . . . . . . . . . . . . . . . .
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11. Methodik der verstehenden Soziologie .................... . . . .. . .. . . . . . . . . . . . . . .
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I. Werkgeschichtliche Aspekte von Handlungs- und Herrschaftslehre .............
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2. Handeln und Herrschaft in der verstehenden Soziologie ........................
53
3. Legitimität und Legalität in der verstehenden Soziologie ............. . .........
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111. Patrimonialismus und Rationalisierung ........................................ 114 1. Typen der Herrschaft: Patrimonialismus und Feudalismus ...................... 117 a) Die Typen des politischen Patrimonialismus ................................ 119 b) Die Typen des ständischen Patrimonialismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 c) Der okzidentale Lehensfeudalismus als Sonderfall des ständischen Patrimonialismus ................................................................ 128 2. Typen des Staates: Rationaler Staat und Patrimonial-Staat...................... 131 a) Herrschaftssoziologie als Strukturtypologie oder Entwicklungsgeschichte Der Fall des Patrimonial ismus .............................................. 135 b) Die Staatlichkeit des Patrimonialismus ...................................... 139 c) Die Patrimonial struktur des Staates ......................................... 151 3. Entwicklungsbahnen patrimonialer Herrschaft I: Der Patrimonialismus in den orientalisch-asiatischen Imperien............................................... 157 a) Zerfallstendenzen patrimonial-imperialer Herrschaft ...... . ............. . ... 167 b) Patrimonialismus und Bewässerungswirtschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 c) Eroberung und arbiträrer PatrimoniaJismus ................................. 176
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Inhaltsverzeichnis 4. Entwicklungsbahnen patrimonialer Herrschaft 11: Okzidentaler Patrimonialismus und politische Rationalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 a) Der Patrimonialstaat im Mittelalter ......................................... 182 b) Der Dualismus von Kirche und Staat........................................ 201 c) Stadt und Staat seit dem Mittelalter ......................................... 217
IV. Schlußbetrachtung: Handlung, Ordnung und Rationalisierung. . . . . . . . . . . . . . .. 233 Literaturverzeichnis .................................................................. 247 Sachverzeichnis....................................................................... 261
Abkürzungen Die Werke Max Webers werden wie folgt zitiert: Einleitung (1916)
Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Religionssoziologische Skizzen. Einleitung, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, 41 (1916), S. 1-30.
GARSI
Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd. I, Tübingen 91988 (,1920).
GARS 11
Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd. 2, hg. von Marianne Weber, Tübingen 71988 (,1921).
GARS III
Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd. 3, hg. von Marianne Weber, Tübingen 81988 (,1921).
GASW
Gesammelte Aufsätze zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, hg. von Marianne Weber, Tübingen 21988 (,1924).
GAWL
Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, hg. von Johannes Winckelmann, Tübingen 71988 (,1922).
Gedenkrede
Gedenkrede Max Webers auf Georg Jellinek, in: Rene König/ Johannes Winckelmann (Hg.), Max Weber zum Gedächtnis. Materialien und Dokumente zur Bewertung von Werk und Persönlichkeit (Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 7), Köln/Opladen 1963, S. 13 -15.
GPS
Gesammelte Politische Schriften, hg. von Johannes Winckelmann, Tübingen 41980 (,1921).
Grundriss
Grundriss zu den Vorlesungen über Allgemeine (,theoretische') Nationalökonomie (1898), Tübingen 1990.
MWG
Max Weber-Gesamtausgabe, im Auftrag der Kommission für Sozialund Wirtschaftsgeschichte der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, hg. von Horst Baier u. a., Tübingen.
1/2
Die römische Agrargeschichte in ihrer Bedeutung für das Staatsund Privatrecht (1891), hg. von Jürgen Deininger, 1986.
1/4
Landarbeiterfrage, Nationalstaat und Volkswirtschaftspolitik. Schriften und Reden 1892-1899, hg. von Wolfgang J. Mommsen in Zusammenarbeit mit Rita AIdenhoff, 1. Halbband, 1986.
1/22-5
Die Stadt, hg. von Wilfried Nippel, 1999.
10 11/5
Abkürzungen Briefe 1906-1908, 1990.
11/6
Briefe 1909-1910, 1994.
11/7
Briefe 1911-1912,2 Halbbände, 1998. Hg. von M. Rainer Lepsius und Wolfgang J. Mommsen in Zusammenarbeit mit Birgit Rudhard und Manfred Schön.
MWS
Studienausgabe der Max Weber-Gesamtausgabe, Tübingen.
1/2
Die römische Agrargeschichte in ihrer Bedeutung für das Staatsund Privatrecht (1891), hg. von Jürgen Deininger, 1988.
l/17
Wissenschaft als Beruf (1917/1919) - Politik als Beruf (1919), hg. von Wolfgang J. Mommsen und Wolfgang Schluchter in Zusammenarbeit mit Birgitt Morgenbrod, 1994.
WG
Wirtschaft und Gesellschaft, hg. von Johannes Winckelmann, Tübingen 5 1972 eI921).
Wirtschaftsgeschichte
Wirtschaftsgeschichte. Abriß der universalen Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, aus den nachgelassenen Vorlesungen besorgt von Johannes Winckelmann, Berlin 1991 eI923).
Zwischenbetrachtung (1916)
Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Religionssoziologische Skizzen, Zwischenbetrachtung. Stufen und Richtungen religiöser Weltablehnung, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, 41 (1916), S. 387 -421.
Einleitung Die intensive Beschäftigung mit der Soziologie Max Webers, besonders die Mitarbeit an der historisch-kritischen Edition der sog. Rechtssoziologie im Rahmen der Max Weber-Gesamtausgabe, hat den Verfasser zunehmend für Fragen der Werkgenese interessiert. Die Innenansicht der Texte macht schnell klar, wie komplex die wissenschafts- und disziplingeschichtlichen Einflüsse sind und wie unübersichtlich der Entstehungskontext besonders des monumentalen Torsos "Wirtschaft und Gesellschaft" ist. Obwohl Friedrich Tenbruck bereits in den siebziger Jahren für eine Revision der Winckelmann-Edition von "Wirtschaft und Gesellschaft" auf der Grundlage einer kritischen Überprüfung des Textbestandes plädierte, machte erst Winckelmanns eigener Forschungsbericht zur Entstehungsgeschichte von Max Webers Beitrag für den "Grundriss der Sozialökonomik" (GdS)' den Abschied von "Wirtschaft und Gesellschaft" in der bisherigen editorischen Gestalt zwingend. Die historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke Max Webers (MWG) präsentiert nun also auch "Wirtschaft und Gesellschaft" in einer Form, die textkritischen Maßstäben entspricht und gerade dem fragmentarischen Charakter des Torsos editorisch Rechnung trägt. Aufflillig unbeeindruckt von dem Großunternehmen zeigt sich bislang dagegen die Weberforschung. Wo der Nutzen des zeit-, geld- und arbeitsintensiven Unternehmens nicht direkt in Abrede gestellt wird, attestiert man den MWG-Bänden mehr oder minder hohe Sachkompetenz bei der textkritischen und sachkommentierenden Bearbeitung der Texte, ist dankbar für die bibliophilen Ausgaben, ärgert sich über deren Preis, geht aber ansonsten zur Tagesordnung über: Rezeptionslinien, die an die MWG anknüpften, lassen sich vorerst - noch - nicht ausmachen. In der Soziologie mag das daran liegen, daß die für sie zentralen Texte Webers, namentlich seine wissenschaftstheoretischen Arbeiten und eben "Wirtschaft und Gesellschaft", noch nicht ediert sind? Tatsächlich hätten aber bereits Tenbrucks Warnungen vor den Fallstricken einer konstruierten Texttradition den soziologischen Adressaten die inhärente Problematik einer allzu unbefangenen Weber-Rezeption vor Augen führen können. Die Mahnrufe verhallten aber weithin ungehört. Tenbruck warf Fragen auf, die man als 1 Johannes Winckelmann. Max Webers hinterlassenes Hauptwerk: Die Wirtschaft und die gesellschaftlichen Ordnungen und Mächte. Entstehung und gedanklicher Aufbau, Tübingen 1986. 2 Aus dem Nachlaß sind von "Wirtschaft und Gesellschaft" zwischenzeitlich die Teilbände "Die Stadt" (MWG I/22-5, hg. von Wilfried Nippel), "Religiöse Gemeinschaften" (MWG I122-2, hg. von Hans G. Kippenberg) sowie "Gemeinschaften" (MWG I/22~ 1, hg. von Wolfgang J. Mommsen) erschienen.
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Einleitung
Provinzen der Klassiker-Exegetik, Philologie und - vielleicht noch - Wissenschaftshistorie betrachtete; das Bild des Soziologen Max Weber, das man in den überlieferten Texten vor sich hatte, würden sie - darin waren sich die unterschiedlichsten Interpreten einig - nicht um ein Jota korrigieren können. Also fügte man die Teile zum Ganzen und parzellierte das Ganze in Teile, entdeckte den Methodologen, den Ökonomen, den Historiker, den Juristen und natürlich den Soziologen Max Weber, dessen Werk freilich das Werk war, von dessen Einheit man zwar keine Überlieferung, aber immerhin eine Vorstellung hatte. Es paßt in dieses Bild, daß aus existenzphilosophischer Sicht gerade das Fragmentarische des Werkes eine Einheits- bzw. Ganzheitsperspektive begründete. Mit Systematisierungseifer bemächtigte sich die Weberforschung der Wissenschaftslehre, der Religions- und der Herrschaftssoziologie, ohne sonderliche Aufmerksamkeit für werkgeschichtliche und philologische Einwände an den Tag zu legen, was erklärlich ist, standen diese doch den Systematisierungsleistungen völlig disparat gegenüber. In Zeiten einer historisch-kritischen Gesamtausgabe aber darf die verzweigte Werkgeschichte namentlich von "Wirtschaft und Gesellschaft", darf das Auseinanderbrechen des Torsos in Vorkriegsmanuskripte (1910-1914) und die Texte der sog. Ersten Lieferung (1920/21) nicht mehr einfach übersehen werden? Die Weberforschung steht an der Schwelle einer Neuentdeckung des "Klassikers", die eine kritische Durchmusterung ihres eigenen Deutungskanons mit einschließt. Dieser textkritischen Forschungsperspektive sieht sich die vorliegende Arbeit zuerst verpflichtet. Neben dem fehlenden Blick für die Textgenese hatte die Kärnerarbeit auf den parzellierten Forschungsfeldem - Erkenntnistheorie, Handlungstheorie, Herrschafts-, Rechts- und Religionssoziologie - eine weitere schwerwiegende Konsequenz. Die Frage nach dem Zusammenhang von Methodologie und einer historisch-kulturvergleichenden .Soziologie, .wie sie Weber in "Wirtschaft und Gesellschaft" sowie in den Studien zur "Wirtschaftsethik der Weltreligionen" betreibt, wurde selten gestellt und noch seltener überzeugend beantwortet. Man nahm diesen Zusammenhang entweder als selbstverständlich an und betrachtete dann das jeweils andere als Fundament oder Hintergrund der bearbeiteten Fragestellung, oder die methodologischen Postulate wurden für die materiale Soziologie als nicht vollziehbar gewertet, was deren Verwendung als "Steinbruch" um so mehr zu legitimieren schien. Und sprach nicht sogar die Werkgeschichte für diesen Umgang mit den Texten, waren nicht die methodologischen Arbeiten zeitlich so klar abgesetzt von den großen kultursoziologischen Studien, daß fraglich sein konnte, inwieweit sie tatsächlich als Richtschnur für Max Webers empirisches Forschungsprogramm fungierten? 3 Vgl. dazu die Debatte zwischen Hiroshi Orihara und Wolfgang Schluchter um den Status der Vorkriegsmanuskripte zu "Wirtschaft und Gesellschaft": Hiroshi Orihara, Max Webers Beitrag zum "Grundriss der Sozialökonomik", in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 51 (1999), S. 724 ff.; Wolfgang Schluchter; "Kopf" oder "Doppelkopf' Das ist hier die Frage. Replik auf Hiroshi Orihara, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 51 (1999), S. 735 ff.
Einleitung
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Die Handlungstheorie immerhin, die Weber 1913 unter dem Titel "Über einige Kategorien der verstehenden Soziologie" publizierte und als "Soziologische Grundbegriffe" von "Wirtschaft und Gesellschaft" 1920 in einem neuen terminologischen Gewand vorlegte, stand in offenkundigem Zusammenhang mit diesen Studien. Weber selbst hatte sie als "methodische Grundlegung" u. a. der sachlichen Untersuchungen von "Wirtschaft und Gesellschaft" bezeichnet.4 Ihre Grundgedanken reichen sogar - bei näherer Betrachtung - bis in die Zeit der Auseinandersetzung mit "R. Stammlers ,Überwindung' der materialistischen Geschichtsauffassung" (1907)5 zurück. Der Zusammenhang von Handlungslehre und materialer Soziologie ist also auch werkgeschichtlich nicht von der Hand zu weisen. Dasselbe gilt aber für die Begriffslehre. Noch in der "Vorbemerkung" zu den "Soziologischen Grundbegriffen" verweist Weber auf die im Objektivitätsaufsatz (1904) ausgeführte Idealtypenlehre. Und aus der Korrespondenz mit dem Verleger geht hervor, daß Weber noch kurz vor seinem Tod eine Sammelausgabe seiner methodologischen und methodischen Aufsätze beabsichtigte, ein Unternehmen, das kaum Sinn gemacht hätte, wenn Weber die dort vertretenen Auffassungen zwischenzeitlich aufgegeben hätte. So ist es zwar tatsächlich wichtig zu sehen, was Weber in seinen historisch-soziologischen Arbeiten "effektiv gemacht" hat, aber eben keineswegs unwichtig zu fragen, in welchem Verhältnis die Ergebnisse zu den Postulaten der Idealtypen- und Handlungslehre stehen. 6 Die Problematik wird nicht aus der Welt geschafft, indem man die bekannten Entlehnungen aus dem Fundus der neukantianischen Erkenntnistheorie v.a. Heinrich Rickerts einfach "logische Bekleidungsstücke" nennt, "die passen müssen, so sehr wichtig [ ... ] aber eigentlich nicht (sind).,,7 Ganz abgesehen davon, daß hier - um im Bild zu bleiben - "Stoff" und "Kleid": "Methodologie" im Sinne von Methodenreflexion und "Methode" im Sinne von Begriffsbildung und -verwendung nicht unterschieden werden, ist schon die Formulierung verräterisch, denn was "passen muß", kann so sehr unwichtig eigentlich gar nicht sein. Max Weber selbst hat seine methodologischen Aufsätze nach der lahrhundertwende keineswegs als forschungspraktisch folgenlose logische Fingerübungen betrachtet - das zeigen die wiederGAWL, S. 427 Fn. 1. Vgl. GAWL, S. 291 ff. 6 Vgl. Jürgen v. Kempski, Zur Logik der Ordnungsbegriffe, besonders in den Sozialwissenschaften, in: Hans Albert (Hg.), Theorie und Realität. Ausgewählte Aufsätze zur Wissenschaftslehre der Sozialwissenschaften, Tübingen 2 1972, S. 115 ff., hier S. 120: ,,Erstaunlicherweise hat man sich aber nun nicht darum bemüht, diese in ,Wirtschaft und Gesellschaft', in den Abhandlungen zur Religionsphilosophie vorgeführte ,idealtypische' Begriffsbildung genau zu analysieren, sondern man hat bis zum Überdruß Webers Abhandlungen zur Wissenschaftslehre diskutiert, obwohl diese nur als sekundäre Quelle in Frage kommen. Denn wie bedeutend Webers logische Studien auch immer sein mögen, die Frage hinsichtlich des ,Idealtypus' war doch wohl: Was hat Weber effektiv gemacht? und nicht die: Was hat er sich dabei gedacht?" 7 Wilhelm Hennis, Max Webers Fragestellung. Studien zur Biographie des Werks, Tübingen 1987, S. 184. 4
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Einleitung
holten Verweise darauf, gerade im Zusammenhang mit seinen empirischen Studien. Diese Arbeiten stehen ausdrücklich im weiteren Kontext der logischen und methodischen Fundierung der Sozialwissenschaften als eigenständiger Wissenschaftszweig. Webers materiale Soziologie muß folglich allererst in dem Begründungszusammenhang gesehen werden, in dem sie steht. Das gab den zweiten Anstoß zur vorliegenden Studie, die am Beispiel eines herrschaftssoziologischen Begriffs - des Typus der patrimonialen Herrschaft gleichsam einen Blick in die soziologische Werkstatt Max Webers wirft. Sie kann dabei vielfach nur eine - gleichwohl notwendige - Vorarbeit für weitere Untersuchungen bieten. So sind zunächst einmal die unterschiedlichen Problemdimensionen des Patrimonialismusbegriffs als solche darzustellen, ist m.a.W. der Typusbegriff in seiner wertmäßigen Verankerung an der okzidentalen Kulturentwicklung, seinen handlungstheoretischen Implikationen sowie seiner idealtypischen logischen Struktur zu veranschaulichen (Kap. I). An dieser Stelle in extenso etwa die Folgen der neukantianischen Einflüsse auf die materiale Soziologie Webers diskutieren zu wollen, hätte, wie allein die neueren Arbeiten zum Verhältnis von Weber und Rickert zeigen, den Rahmen der Arbeit gesprengt und mußte daher unterbleiben. Diese Frage, die die Forschung bisher nur theoretisch behandelt hat, wäre zukünftig mit direktem Bezug auf die kulturvergleichende historische Soziologie Max Webers neu zu stellen. Hinsichtlich der Handlungstheorie besteht die Schwierigkeit der Darstellung darin, daß Weber die handlungsförmige Konstitution sozialer Ordnung in seinen Strukturanalysen stillschweigend voraussetzt, jedenfalls keine weiteren Ausführungen darüber macht, wie er sich die Transformation von sozialem Handeln zu sozialer Ordnung vorstellt. Ob dieser Sachverhalt so unproblematisch ist, wie Weber anzunehmen scheint, läßt sich aus forschungspraktischen Gründen allerdings erst im Anschluß an die Darstellung der patrimonialen Strukturformen und Organisationsstadien diskutieren. Komplizierend tritt hinzu, daß sowohl die Handlungslehre als auch die Herrschaftslehre in zwei verschiedenen textlichen Fassungen überliefert sind. Umfangreiche - und bisher fehlende - Vergleichsanalysen sind deshalb erforderlich gewesen, um die Konsistenz und Kompatibilität der kategorialen Grundlagen festzustellen, auf denen die weitere Darstellung beruht (Kap. 11). Der Exemplifikation der genannten Problemkomplexe (idealtypische Begriffsbildung, Handlungsebene, Rationalisierungsthese) dient der empirische Teil der Arbeit: die idealtypischen Konstellations- und Verlaufsanalysen des politischen Patrimonialismus (Kap. III), an die sich als äußere und innere Klammer die Diskussion der Transformationsproblematik als Schlußkapitel anschließt (Kap. IV). Letzteres verzichtet deshalb auf eine ausführliche Zusammenfassung der Resultate, die in den Einzelkapiteln erfolgt. Der empirische Teil wiederum - auch darauf sei ausdrücklich hingewiesen - beabsichtigt keine Detailkritik der Weberschen Herrschaftssoziologie am Maßstab der neueren politisch-anthropologischen und soziologischen Forschung, sondern erörtert das PatrimonialismusKonzept im Kontext der Forschungslogik Max Webers. Wenn neuere Forschungs-
Einleitung
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literatur zur sozialen Evolution bzw. zur politischen Verbands- und Staatsbildung dennoch soweit als möglich verwertet wurde, so hat dies primär den forschungspragmatischen Grund, den historisch-soziologischen Erörterungen ein gewisses zeiträumliches Gerüst einzuziehen, da Weber nahezu vollständig auf die Darstellung in chronologischen oder geographischen Zusammenhängen verzichtet. 8 Daß außerdem gezeigt werde, wie sehr die Spezialforschung von Weber angeregt worden ist, direkt oder indirekt an ihn anschließt, gelegentlich auch, wo sie ihn überholt hat, ist wünschenswert und ein möglicher Nebemirfolg, keineswegs aber der Zweck dieser Arbeit. Begriffliche Erörterungen waren auch im empirischen Teil nicht zu entbehren: Werkgeschichtlich wegen der bereits erwähnten Tatsache, daß die Herrschaftslehre in zwei Fassungen vorliegt. Methodologisch, weil der Zusammenhang von soziologischer Begriffsbildung und materialer Soziologie Gegenstand der Untersuchung ist. Systematisch, weil verschiedene Varianten sowohl des Patrimonialismus-Konzepts wie des Staats begriffs existieren. Die Rekonstruktion konzentriert sich auf die Frage der politischen Rationalisierung im Okzident, d. h. auf die Entstehungsbedingungen des rationalen Anstaltsstaates, während andere Rationalitätskomplexe, für die der Patrimonialismus in Webers Erklärungsansatz nicht minder bedeutsam ist, nur unter dem Gesichtspunkt des Politischen Beachtung finden. Es handelt sich hierbei um eigene Forschungsgegenstände, deren Bearbeitung das hier gezeichnete Bild der entwicklungsgeschichtlichen Bedeutung des Patrimonialismus vervollständigen könnte. Neben Detailerkenntnissen zur Weberschen Handlungs- und Herrschaftslehre, u. a. zur Kategorie des Einverständnisses, zum Geltungsbegriff eider zum Staatsbegriff legt der Verfasser auf ein Resultat der Arbeit besonderes Gewicht: daß nämlich erst aus der Perspektive der Verschränkung von Begriffs-, Handlungs- und Ordnungsebene im soziologischen Werk Max Webers deutlich wird, wie sehr die Begriffe und Typologien, speziell die der soziologischen Handlungslehre, Produkte seiner universalhistorisch-kulturvergleichenden Forschungsinteressen sind. Und die Pointe liegt gerade darin, daß dieses Resultat aus Webers methodologischen Grundüberzeugungen folgt. Man nimmt in der Handlungslehre notwendig einen halbierten Weber wahr, wenn der Bezug auf die materiale Soziologie ausgeblendet wird, so wie man einen halbierten Weber vor sich hat, wenn die historisch-soziologischen Arbeiten ohne ihre methodologischen und methodischen Implikationen aufgenommen werden. v.a. unter diesem - gewissermaßen propädeutischen interpretatorischen Anspruch stehen die folgenden Seiten.
8 Ein Zug, der nicht erst Webers spätere "soziologische" Arbeiten kennzeichnet. sondern den - wie ]ürgen Deininger; Einleitung zu MWG 1/2 Die römische Agrargeschichte. S. 1 ff.• hier S. 41 mit Fn. 21 berichtet - die Zeitgenossen schon an der Habilitationsschrift zur römischen Agrargeschichte bemängeln.
I. Einführung: BegritTsbildung, Handlungstheorie und historische Soziologie bei Max Weber Trotz einer höchst wechselvollen Rezeptions- und Wirkungsgeschichte 1 hat das Werk Max Webers bis heute nichts von seiner Anziehungskraft verloren. Dennoch sieht sich jede neue Weber-Studie aufgrund des erreichten Theorieniveaus und des erheblich fortgeschrittenen empirischen Kenntnisstandes besonderen Begründungszwängen ausgesetzt. Von dem soziologischen Weber-Interpreten wird erwartet, daß er - sofern er nicht gerade Wissenschaftsgeschichte betreibt - den Theoriestandort angibt, von dem aus er die Auseinandersetzung mit Weber aufnimmt, um diesen entweder als notwendige, in dieser oder jener Hinsicht überwundene Vorstufe des modemen gesellschaftstheoretischen Diskurses - eben als "Klassiker" der Disziplin - auszuweisen oder mindestens, um "mit Weber gegen ihn,,2 zu systematisch neuen Einsichten zu gelangen. Eine Arbeit, welche eine werkadäquate Analyse einer bestimmten Weberschen Herrschaftskategorie beabsichtigt, ohne ausdrücklich eine strukturfunktionale oder systemtheoretische, marxistische oder marxistisch orientierte Perspektive zu unterlegen, scheint deshalb besonders begründungsbedürftig. Denn der Verdacht liegt nahe, daß die Ergebnisse, weil nicht auf der Höhe der Forschung oder des erreichten Theorieniveaus, - mit Weber zu sprechen - als "veraltet" und "überholt" gelten müßten,3 noch bevor sie formuliert wären. Oder das Projekt trifft auf das nicht weniger ungünstige Vorurteil, schon deshalb "intellektuell unredlich" zu sein, weil eine gleichsam voraussetzungslose Textinterpretation nun einmal schlechterdings nicht möglich sei. Diese und andere denkbare Einwände zielen letztlich alle auf die Frage des interpretatorischen Umgangs gerade mit den als "klassisch" geltenden Texten einer Disziplin. Es gibt hier aber verschiedene, je für sich begründete Herangehensweisen. 4 Die nur nachvoll1 Vgl. Amold Zingerle. Max Webers historische Soziologie. Aspekte und Materialien zur Wirkungsgeschichte, Darmstadt 1981; Hans Derks. Das Ende eines einmaligen Phänomens? Die Max Weber-Literatur 1920-1988, in: Zeitschrift für Soziologie, 18 (1989), S. 282 ff.; Johannes Weiß (Hg.), Max Weber heute. Erträge und Probleme der Forschung, Frankfurt a.M.1989. 2 So die bündige Formulierung Wolfgang Schluchters. Die Paradoxie der Rationalisierung. Zum Verhältnis von ,Ethik' und ,Welt' bei Max Weber, in: ders., Rationalismus der Weltbeherrschung. Studien zu Max Weber, Frankfurt a.M. 1980, S. 9 ff., hier S. 36.. 3 Vgl. GAWL, S. 592, 206. 4 Vgl. Beate Rössler, Gültigkeit und Vielfalt. Einige Bemerkungen über das Verstehen philosophischer Texte, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 43 (1995), S. 31 ff.; dies., Die Theorie des Verstehens in Sprachanalyse und Hermeneutik, Berlin 1990.
I. Begriffsbildung, Handlungstheorie und historische Soziologie bei Max Weber
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ziehende Darstellung der Webersehen Thesen zum Zweck einer "Sachverhaltsklärung" wäre eine davon. Eine immanent-kritische Position bezöge die Textinterpretation dann, wenn sie durch systematische Rekonstruktion des Argumentationsganges innere Widersprüche, Unklarheiten, Inkonsistenzen aufzudecken und zu lösen versuchte. 5 Eine primär anwendungsorientierte Perspektive schließlich würde ohne Berücksichtigung ihres theoretischen und empirischen Herkunftskontextes einzelne Begriffe, Konzepte, Theoreme des Quellentextes für eigene Fragestellungen nutzhar machen. 6 Oder aher die Klassikerinterpretation dient als Folie für die Entfaltung des eigenen Theorieansatzes. 7 Im Einklang mit Webers allgemeiner Auffassung über den wissenschaftlichen FortschrittS wären die erwähnten Vorbehalte aber ersichtlich nur für den Standpunkt der heiden letztgenannten Wege der Klassikerinterpretation stichhaltig. Wenn sich also die vorliegende Studie in systematisch-rekonstruktiver Absicht mit einem zentralen herrschafts soziologischen Begriff Max Webers beschäftigt, sind das erreichte soziologische Theorieniveau und der historische Forschungsstand kein gültiger Maßstab. Das impliziert freilich auch, daß hier weder eine konventionelle Begriffsgeschichte, noch eine lediglich bilanzierende Darstellung des patrimonialen Herrschaftstypus im Werk Max Webers beabsichtigt ist. Vielmehr soll es darum gehen, die "terminologische, klassifikatorische und heuristische" Funktion 5 Wolfgang Schluchters Weber-Interpretation (u. a. Religion und Lebensführung, 2 Bde., Frankfurt a.M. 1991) ist ein prominenter Fall dieser Art von Textinterpretation. Hierher gehört auch die Art gesichtspunktabhängiger Weber-Deutung, wie sie Wemer Gephart bietet (u. a. Gesellschaftstheorie und Recht. Das Recht im soziologischen Diskurs der Modeme, Frankfurt a.M. 1993, S. 419 ff.). 6 Dazu zählen alle Weber im buchstäblichen Sinn als "Steinbruch" nutzende Arbeiten. Hinsichtlich des Patrimonialismusbegriffs z. B. die in der Modemisierungs- bzw. Entwicklungsländerforschung mit reformulierten Patrimonialismus- bzw. Neopatrimonialismus-Konzepten arbeitenden Forschungsansätze. Aus der Fülle der einschlägigen Forschungsliteratur seien beispielhaft genannt: Günther Roth, Personal Rulership, Patrimonialism and EmpireBuilding in the New States, in: World Politics, 20 (1968), S. 164 ff.; Simon Schwartzman, Back to Weber: Corporatism and Patrimonialism in the Seventies, in: James M. Malloy (Hg.), Authoritarianism and Corporatism in Latin America, Pittsburgh 1977, S. 89 ff.; H.C.F. Mansilla, Neopatrimonialistische Aspekte von Staat und Gesellschaft in Lateinamerika. Machtelite und Bürokratismus in einer politischen Kultur des Autoritarismus, in: Politische Vierteljahresschrift, 31 (1990), S. 33 ff. 7 Vgl. z. B. die Weber-Rezeption bei Richard Münch, Theorie des Handeins. Zur Rekonstruktion der Beiträge von TaIcott Parsons, Emile Durkheim und Max Weber, Frankfurt a.M. 1988, S. 427 ff., 549 ff. und Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handeins, 2 Bde., Frankfurt a.M. 1988, Bd. 1, S. 25 ff.; Bd. 2, S. 449 ff. 8 Vgl. die bekannte Formulierung in "Wissenschaft als Beruf', GAWL, S. 592: "Das ist das Schicksal, ja: das ist der Sinn der Arbeit der Wissenschaft, dem sie, in ganz spezifischem Sinne gegenüber allen anderen Kulturelementen, für die es sonst noch gilt, unterworfen und hingegeben ist: jede wissenschaftliche ,Erfüllung' bedeutet neue ,Fragen' und will ,überboten' werden und veralten." Es folgt Webers Charakterisierung des Wissenschafts-Ethos: "Wir können nicht arbeiten, ohne zu hoffen, daß andere weiter kommen werden als wir" (vgl. auch ebd., S. 206).
2 Hennes
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I. Begriffsbildung, Handlungstheorie und historische Soziologie bei Max Weber
eines "idealtypischen Begriffs,,9 in Webers Werk aufzuweisen. Was aber sollte der Nutzen einer Fragestellung sein, die einem einzelnen soziologischen Begriff Webers in seinen höchst disparaten Werkbezügen nachgehen will, und was prädestiniert ausgerechnet den Patrimonialismusbegriff zu diesem Zweck? Die Antwort auf den ersten Teil der Frage ist metatheoretischer. methodologischer und empirisch-soziologischer Natur. Die folgenden Abschnitte sollen dies näher ausführen und dabei zugleich die Wahl des Patrimonialismusbegriffs - das betrifft den zweiten Teil der Frage - plausibilisieren.
1. Patrimonialismus als Problem der Webersehen Rationalisierungsthese Was den metatheoretischen Aspekt betrifft. so ist zunächst die als communis opinio der Weber-Forschung anzusehende überragende Bedeutung des okzidentalen Rationalisierungsprozesses für Max Weber näher zu betrachten. 1O Die berühmte "Vorbemerkung" des ersten Bandes seiner vergleichenden Studien zur Wirtschaftsethik der Weltreligionen leitet Weber mit der oft zitierten Wendung ein: "Universalgeschichtliche Probleme wird der Sohn der modernen europäischen Kulturwe1t unvermeidlicher- und berechtigterweise unter der Fragestellung behandeln: welche Verkettung von Umständen hat dazu geführt, daß gerade auf dem Boden des Okzidents, und nur hier, Kulturerscheinungen auftraten, welche doch - wie wenigstens wir uns gern vorstellen - in einer Entwicklungsrichtung von universeller Bedeutung und Gültigkeit lagen.,,11
Die Eigenart jener okzidentalen Kulturerscheinungen aber kennzeichnet ein "spezifisch geartete[r] ,Rationalismus,,,.12 Das - wie sich noch zeigen wird 13 wertphilosophisch verankerte Interesse an der okzidentalen Sonderentwicklung steht gleichsam als Motto über der mindestens bis zum Kriegsausbruch 1914 reichenden Werkphase, die im wesentlichen mit der Arbeit an "Wirtschaft und Gesellschaft" und den Aufsätzen zur "Wirtschaftsethik der Weltreligionen" zusammen9 WG, S. 10. Zur idealtypischen Begriffsbildung siehe unten Kap. II, Kap. III. 2. und die zusammenfassenden Bemerkungen in Kap. IV. 10 Statt aller sei hier verwiesen auf Wolfgang Schluchter, Die Entwicklung des okzidentalen Rationalismus. Eine Analyse von Max Webers Gesellschaftsgeschichte, Tübingen 1979. Als prominente Ausnahme muß wohl weiterhin der mit einer Art heiligem Zorn wider die soziologische, speziell die strukturfunktionale und die "evolutionstheoretische" Weber-Interpretation wütende Wilhelm Hennis gelten (Max Webers Fragestellung, passim; ders., Max Webers Wissenschaft vom Menschen. Neue Studien zur Biographie des Werks, Tübingen 1996, bes. S. 3 ff.). Schluchter bleibt ihm die Antwort nicht schuldig (z. B. Religion und Lebensführung 11, passim) - ohne weiter auf die Kontroverse einzugehen sicher ein außerordentlich lehrreiches Beispiel für einen mißlingenden Wissenschafts-Diskurs. 11 GARS I, S. I. 12 GARS I, S. 11. 13 Siehe unten Kap. IV.
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fällt. 14 Dann freilich liegt nicht nur das von Schluchter betonte wechselseitige Ergänzungs- und Interpretationsverhältnis zwischen den Studien zur "Wirtschaftsethik der Weltreligionen" und der systematischen Religionssoziologie von "Wirtschaft und Gesellschaft" nahe,15 sondern ist an sich eine entsprechende wechselseitige Verschränkung der einzelnen Abschnitte von "Wirtschaft und Gesellschaft" und den kulturvergleichenden religionssoziologischen Studien immer zugleich unter dem Blickwinkel der okzidentalen historischen Sonderentwicklung zu erwarten. 16 Es verwundert daher nicht, daß Weber "die Herrschaftssoziologie aus Wirtschaft und Gesellschaft gezielt in der ,Wirtschaftsethik der Weltreligionen' benutzt.,.!7 Die allgemeinen Typen und Zusammenhänge, die er durch die Verhältnisbestimmung der verschiedensten Gemeinschaftsformen zur Wirtschaft in den älteren Teilen von "Wirtschaft und Gesellschaft" herausdestilliert, 18 bilden erkennbar das begriffliche Grundgerüst des gerade um diese soziologischen Faktoren (Herrschafts-, Wirtschafts-, Rechtsstruktur) erweiterten Erklärungsansatzes der Studien zur "Wirtschaftsethik der Weltreligionen".19 Umgekehrt kann man häufig genug beobachten, wie die Forschungsarbeit für die Studien zur "Wirtschaftsethik der Weltreligionen" ihrerseits einfließt in die stärker systematisch und begrifflich ausgerichteten Teile von "Wirtschaft und Gesellschaft", implizit bei der Begriffsbildung, explizit zu deren "Illustration". Zwar ist diese Art der internen Arbeitsteilung gerade in den älteren Teilen von "Wirtschaft und Gesellschaft", in denen entwicklungsgeschichtliche (begriffsanwendende ) neben eigentlich begriffsgenerierende Abschnitte treten, noch nicht streng durchgeführt. Doch zeigt der von Weber selbst in Druck gegebene erste (jüngere) Teil von "Wirtschaft und Gesellschaft", daß ihm für seinen Grundrißbeitrag als Ganzes wohl die soziologische Typenbildung und Begriffskasuistik als Aufgabe vorgeschwebt hat. Insoweit läßt sich also das Verhältnis von "Wirtschaft und Gesellschaft" und "Wirtschaftsethik der 14 Der durch den Fortgang der MWG vertieften Einsicht in die Werkgeschichte trägt Wolfgang Schluchter durch eine minutiöse Periodisierung von Webers Arbeiten an seinem Grundrißbeitrag, zunächst zwischen 1910 und 1914, dann 1919/20, Rechnung (Max Webers Beitrag zum "Grundriss der Sozialökonomik", in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 50 (1998), S. 327 ff., bes. 334-340; ders., Replik, S. 741 f.), damit zugleich frühere Periodisierungsvorschläge korrigierend (vgl. z. B. Rationalismus der Weltbeherrschung, S. 274). 15 Schluchter, Religion und Lebensführung 11, S. 18 Fn. 10, passim. 16 So auch Schluchter, Religion und Lebensführung 11, S. 561, 588 f. 17 Schluchter, Religion und Lebensführung 11, S. 576 f. Fn. 9. Zur Entstehungsgeschichte von "Wirtschaft und Gesellschaft" vgl. Winckelmann, Hauptwerk, S. 22 ff. und unten Kap. 11.1. 18 Vgl. den BriefMax Webers an Paul Siebeck vom 30. Dez. 1913, mitgeteilt bei Winckelmann, Hauptwerk, S. 36. 19 Gegenüber dem idealistischen Ansatz der Protestantismusstudie, in der es Weber primär um die Bedeutung des religiösen Faktors für die Entwicklung des modemen Kapitalismus geht, beabsichtigt er in den Studien zur "Wirtschaftsethik der Weltreligionen" auch der anderen Seite des Kausalzusammenhangs, den materiellen Bedingungen der religiösen Entwicklung, nachzugehen. 2*
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Weltreligionen" als Arbeitsteilung zwischen Begriffskonstruktion und Begriffsverwendung begreifen, bei der beide eben in einem wechselseitigen Ergänzungs- und Interpretationsverhältnis stehen. 2o Unter Berücksichtigung der Tatsache, daß in den älteren Manuskriptteilen zu "Wirtschaft und Gesellschaft" die Dynamik des historischen Geschehens noch deutlich erkennbar ist, gewinnt man den Eindruck, daß jene Verhältnisbestimmung - je stärker sie sich für Weber seit 1915 abzeichnete, um so mehr - auch die schließlich beabsichtigte "lehrbuchhafte" Gestaltung von "Wirtschaft und Gesellschaft" nahelegte. 21 Zwei Dinge sind bisher festzuhalten: zum einen das die Aufsätze zur "Wirtschaftsethik der Weltreligionen" leitende Interesse an der Erklärung des okzidentalen Rationalisierungsprozesses durch die vergleichende Betrachtung der Entwicklung in anderen Kulturkreisen; zum anderen der enge Zusammenhang der beiden Großprojekte "Wirtschaft und Gesellschaft" und "Wirtschaftsethik der Weltreligionen". Wenn nun "Wirtschaft und Gesellschaft" die Aufgabe der Begriffsbildung und -kasuistik zufallt, wenn die Begriffe "soziologischen Zwecken" dienen und ihre Eignung nur durch das Merkmal des Erfolgs "für die Erkenntnis konkreter Kulturerscheinungen" erweisen,22 dann ist die Erklärung des ",Rationalismus' der okzidentalen Kultur,,23 der primäre Zweck einer soziologischen Begriffsbildung, deren Erfolg sich an der Brauchbarkeit für diesen Zweck bemißt. Diese Auffassung vertritt auch Schluchter, für den die Webersche Soziologie "gesichtspunktabhängig (ist) insofern, als sie in einem besonderen, nicht in einem allgemeinen Interesse an Kultur und Gesellschaft gründet, in dem Interesse an der Eigenart und der Entstehung des ,Rationalismus' der okzidentalen Kultur, auf das auch die Analyse anderer Kulturen bezogen bleibt.,,24
Weber habe in diesem Sinne seine Begriffsbildung als nicht endgültig verstanden. Schluchters Folgerung, daß sie deshalb aber nicht an sich schon "unsystematisch und nur für seine besondere Problemstellung brauchbar sei",25 erscheint hinVgl. Schluchter; Religion und Lebensführung 11, S. 561. Siehe dazu unten Kap. 11. 1. 22 Vgl. GAWL, S. 193: "Und in der Tat: ob es sich um ein reines Gedankenspiel oder um eine wissenschaftlich fruchtbare Begriffsbildung handelt, kann apriori niemals entschieden werden; es gibt auch hier nur einen Maßstab: den des Erfolges für die Erkenntnis konkreter Kulturerscheinungen in ihrem Zusammenhang, ihrer ursächlichen Bedingtheit und ihrer Bedeutung. " In den "Soziologischen Grundbegriffen" (WG, S. 13) bemerkt Weber über seine sozialen Handlungstypen, sie böten keinesfalls erschöpfende Klassifikationen, "sondern für soziologische Zwecke geschaffene, begrifflich reine Typen, denen sich das reale Handeln mehr oder minder annähert oder aus denen es - noch häufiger - gemischt ist. Ihre Zweckmäßigkeit für uns kann nur der Erfolg ergeben." Nimmt man ihn beim Wort und behält seine materiale Soziologie im Blick, wird man annehmen dürfen, daß Weber hier von seinen soziologischen Zwecken spricht. Übereinstimmend Schluchter; Religion und Lebensführung 11, S. 23 f. Fn. 31. 23 GARS I, S. 11. 24 Schluchter; Religion und Lebensführung 11, S. 23 f. 25 Schluchter; Religion und Lebensführung 11, S. 24. 20 21
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gegen nur in ihrem ersten Teil unproblematisch. Denn immer wieder begründet Weber die systematisierende und purifizierende Darstellung der Zusammenhänge zwischen religiösen Ethiken und praktischer Lebensführung, speziell auf dem Gebiet des Wirtschaftshandeins, in den Studien zur "Wirtschaftsethik dltr Weltreligionen" mit dem Hinweis auf "die Vergleichspunkte mit der weiterhin zu analysierenden okzidentalen Entwicklung".26 Jene Studien beabsichtigten mitnichten umfassende Kulturanalysen, sondern akzentuierten "in jedem Kulturkreis ganz geflissentlich das, was im Gegensatz stand und steht zur okzidentalen Kulturentwicklung", orientierten sich also durchaus an dem, "was unter diesem Gesichtspunkt bei Gelegenheit der Darstellung der okzidentalen Entwicklung wichtig erscheint".27 Begriffsbildung und Begriffsverwendung in den "Wirtschaftsethiken der Weltreligionen" und - die wechselseitigen Bezüge vorausgesetzt - in "Wirtschaft und Gesellschaft" müßten dieses Erkenntnisinteresse widerspiegeln. Allein das entzöge sie ja dem Vorwurf der Willkür8 und ermöglichte ihren "Erfolg" im Webersehen Sinn. Wenn Weber Konfuzianismus, Buddhismus, Hinduismus, Islam und Christentum unter wirtschaftsethischer Perspektive analysiert, so gehen als Merkmale der jeweiligen religiösen Ethik eben diejenigen Momente in die soziologische Begriffsbildung ein, welche direkte oder indirekte Einflüsse auf die ökonomische Lebensrationalisierung haben. Webers Begriff der religiösen Ethik komponiert also lediglich einzelne, unter einem speziellen Erkenntnisinteresse wichtige Bestandteile der Ethik "zu einem in sich einheitlichen Gedankengebilde,,?9 Der Erklärungs ansatz der "Wirtschaftsethik der Weltreligionen" hat aber den Anspruch, neben dem praktischen Einfluß der religiösen Ethiken auf die (ökonomische) Lebensführung auch die andere Seite der Kausalbeziehung, den Zusammenhang der religiösen Ethik mit allgemeinen soziologischen Strukturbedingungen, zu berücksichtigen. Die für diese soziologischen Bedingungskonstellationen zu bildenden Begriffe müssen sich dann zweckmäßigerweise auf diejenigen Züge der materiellen (Wirtschafts-, Sozial-, Rechts-, Herrschafts-)Strukturen konzentrieren, welche als kausal relevante Faktoren jener Eigenart religiöser Ethiken in Frage kommen. Es mag also - wie Schluchter meint30 - durchaus zutreffen, daß Webers Begriffe nicht nur für "seine besondere Problemstellung" brauchbar sind, aber die Notwendigkeit ihrer Revision ebenso wie die Möglichkeit ihrer Reformulierung bei anderer Problemstellung folgt eben aus ihrer spezifischen soziologischen Zweckbestimmung. Nur wird das in der an Weber anschließenden und dessen Begriffe rezipierenden Forschung selten expliziert. Ein angemessenes Verständnis der Webersehen Begriffsbildung ist aber ohne Kenntnis dieser zugrundeliegenden Problemstellung gar nicht möglich. 26 27
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GARS I, S. 12. GARS I, S. 13; vgl. ebd., S. 265. Vgl. GARS I, S. 267. GAWL, S. 191. Schluchter, Religion und Lebensführung 11, S. 24.
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Der Begriffsapparat zumindest der späteren Soziologie Max Webers ist also wesentlich geprägt durch sein Interesse am Rationalismus der okzidentalen Kultur. Gerade dies läßt sich nun, um zum Ausgangspunkt der bisherigen Überlegungen zurückzukehren, am Beispiel des Patrimonialismusbegriffs exemplarisch demonstrieren. Dafür sprechen v.a. ein werkgeschichtliches und ein systematisches Argument. Auf werkgeschichtlicher Ebene kann man sich davon überzeugen, daß Weber den Patrimonialismusbegriff eigens für den herrschaftssoziologischen Abschnitt seines Grundrißbeitrags aufgegriffen31 und für seine soziologischen Zwecke "terminologisch, klassifikatorischund heuristisch,,32 nutzbar gemacht hat. Immerhin hat Weber noch in der dritten überarbeiteten Fassung seines Handwörterbuchartikels über die "Agrarverhältnisse im Altertum,,33 den Begriff nur gelegentlich und nur in seinem konventionellen Sinn haus- bzw. grundherrschaftsartiger Beziehungen verwendet. 34 Die in der Herrschaftssoziologie von "Wirtschaft und Gesellschaft" mit den Begriffen "Patrimonialismus", "patrimoniale Herrschaft" bzw. "Patrimonialstaat" bezeichneten Strukturformen traditionaler, d. h. zunächst vorrationaler und in gewissem Sinn vorbürokratischer Herrschaft werden in den "Agrarverhältnissen" theoretisch wie historisch-konkret als typisch wiederkehrendes Endstadium eines imperialen Entwicklungszyklus der vorderasiatisch-orientalischen Kulturstaaten (Ägypten, Mesopotarnien, hellenistische Staaten) skizziert und typologisch unter den Begriff der (universalen) "Leiturgiemonarchie,,35 gebracht. Webers unermüdliche Hervorhebung des wesentlichen Einflusses der politischen Organisation auf die wirtschaftliche Entwicklung36 wie gleichermaßen auf 31 Auf die Herkunft des Begriffs aus der juristischen Staatslehre des 19. Jh.s, speziell bei Carl Ludwig v. Haller (Restauration der Staats-Wissenschaft oder Theorie des natürlichgeselligen Zustands der Chimäre des künstlich-bürgerlichen entgegengesetzt, 6 Bde., Winterthur 1816 ff.) weist Weber ebenso hin wie auf seine terminologische Anknüpfung an Georg v. Below (Der deutsche Staat des Mittelalters. Ein Grundriß der deutschen Verfassungsgeschichte, Leipzig 1914); vgl. WG, S. 137. 32 Entsprechend dem Aufgabenprofil der idealtypischen Begriffsbildung, wie es Weber in den "Soziologischen Grundbegriffen", WG, S. 10 beschreibt. 33 In: Handwörterbuch der Staatswissenschaften, Bd. 1, 3 1909, S. 52-188 (abgedr. in: GASW, S. 1- 288). Es handelt sich dabei tatsächlich um eine typologisch-vergleichende Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der Hauptgebiete der antiken Kultur (vgl. die Herausgeberfußnote, GASW, S. 1 Fn. 1). Webers zentrales Interesse gilt hier den Entstehungs- und Entwicklungsbedingungen des antiken Kapitalismus. Begrifflich orientiert sich die Analyse an dem Gegensatz zwischen mittelländisch-okzidentaler Küstenkultur und ägyptisch-orientalischer Stromuferkultur (vgl. GASW, S. 4) und einem im Zusanunenhang mit der charakteristisch verschiedenen städtischen Entwicklung generierten dualen Modell politischer Organisationsstadien (vgl. ebd., S. 35 ff.). Übrigens hat Weber dieses in der "Einleitung. Zur ökonomischen Theorie der antiken Staaten welt" ausgeführte theoretische Analysegerüst der dritten Fassung des Artikels neu eingefügt. 34 Z. B. GASW, S. 39. Zur Weberschen Begriffsverwendung siehe unten Kap. 111. 1. 35 GASW, S. 43. Bei der Erläuterung des politischen Organisationsstadienmodells gebraucht er den Ausdruck "autoritärer Leiturgiestaat" (vgl. GASW, S. 39 f.). 36 In den "Agrarverhältnissen" hat Weber diesen Zusammenhang für die antiken Kulturgebiete systematisch analysiert.
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die Rechts-, Religions- und allgemeine Kulturentwicklung 37 führt zu dem zweiten, einem systematischen Argument. Die patrimoniale Herrschaftsstruktur hat nach Weber den allgemeinen Charakter der Staatswirtschaften im Ägypten des Alten und Neuen Reiches,38 in den mesopotamisehen und hellenistischen Staaten, schließlich im spätantiken römischen Staat ebenso geprägt wie die chinesischen, indischen, islamischen Patrimonialstaaten die jeweilige Religionsentwicklung. Wahrend sie dort zur Identifizierung der "Brutstätte" des antiken Kapitalismus (die klassische hellenische Polis und v.a. der römische republikanische Stadtstaat) durch die Darstellung der abweichenden städtischen Entwicklung im Orient dient,39 so kennzeichnet sie hier unter dem Gesichtspunkt des modemen Kapitalismus einen wichtigen Kausalfaktor für den sehr andersartigen Verlauf und Einfluß der ostasiatischen bzw. islamischen Religionsentwicklung. In beiden Fällen muß sich jedenfalls die (idealtypische) Verwendung des Patrimonialismusbegriffs auf diejenigen Merkmale und Zusammenhänge konzentrieren, die entweder direkt Erklärungskraft besitzen für die "Begünstigungs-, Indifferenz- oder Obstruktionsverhältnisse" (Schluchter) zwischen Herrschaftsund Wirtschaftsordnung (wie in den "Agrarverhältnissen") oder die Eigenart anderer Kulturerscheinungen (z. B. solche der jeweiligen Religion) in ihren "ökonomisch relevanten,,4Q Zügen wesentlich mitbedingen, und zwar derart, daß sie aus dieser Sicht zumindest ökonomisch relevant erscheinen. 41 Man kann demnach "Wirtschaft und Gesellschaft" im Sinne einer universalhistorisch-kulturvergleichenden Entwicklungsgeschichte lesen, für die der okzidentale Rationalismus das "heuristische Telos" abgibt. Der modeme Kapitalismus (Betriebs-Kapitalismus), das formal rationale Recht und der modeme (Anstalts-)Staat sind Aspekte jenes Rationalismus, die die Darstellung in "Wirtschaft und Gesellschaft" kulturvergleichend verfolgt. Dabei stehen die einzelnen gesellschaftlichen Teilordnungen in Wechselwirkungsverhältnissen, entfalten aber nicht minder ihre Eigengesetzlichkeit, die etwa im Falle der Rechtsentwicklung durchaus ökonomisch relevant ist oder sein kann. Den okzidentalen Rationalisierungsprozeß kann man mit Weber als Prozeß der Ausdifferenzierung eigengesetzlicher Lebensordnungen beschreiben, wenn die von ihm immer auch gesehenen Wechselwirkungs- und strukturellen Wahlverwandtschaftsverhältnisse angemessen berücksichtigt werden. 42 37 So selbstverständlich ihm im übrigen die theoretische und praktische Rolle des umgekehrten Kausalzusammenhangs ist. 38 Das im Ägypten des Neuen Reiches perfektionierte Leiturgiewesen (d. h. ein unter naturalwirtschaftlichen Verhältnissen entstandenes und mit dem Übergang zur Geldwirtschaft rationalisiertes Fron- und Steuersystem) dient Weber in den "Agrarverhältnissen" sogar zum Namensgeber für die damit verbundene autoritäre Herrschaftsform. 39 Dazu ausführlich unten Kap. III. 4. c). 40 Über die Aufgaben der Sozialökonomik vgl. GAWL, S. 162 f., 165. 41 Zu diesem Zweck analysiert Weber die allgemeinen politischen Rahmenbedingungen und Herrschaftskonfigurationen in den vergleichenden Studien zur "Wirtschaftsethik der Weltreligionen".
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Auch die patrimonialen politischen Herrschaftsformen gehen strukturwirksame Verbindungen mit wirtschaftlichen, rechtlichen, religiösen Ordnungskonfigurationen ein, die Weber in den betreffenden Einzelabschnitten von "Wirtschaft und Gesellschaft" thematisiert. Vor dem Hintergrund des okzidentalen Rationalismus als "heuristischem Telos,,43 gewinnt so der Patrimonialismus ebenso seinen typologischen Ort wie die "Hausgemeinschaft", die "Magie" oder die "charismatische Rechtsoffenbarung". Was ihm besonderes Interesse verleiht und gerade in den historisch-soziologischen Studien zur "Wirtschaftsethik der Weltreligionen" sichtbar wird, ist seine ambivalente Stellung zu gesellschaftlichen Rationalisierungsprozessen. So ist er gleichermaßen Entwicklungsfaktor des chinesischen "stationären" Rationalismus44 wie des okzidentalen dynamischen Rationalismus45. In "Wirtschaft und Gesellschaft" widmet sich Weber daher den typischen Strukturund Kulturwirkungen des Patrimonialismus. Dadurch geraten diejenigen institutionellen Aspekte (ökonomischer, rechtlicher, politischer Natur) in den Blick, um die die motivationelle Seite des Erklärungsansatzes der Studien zur "Wirtschaftsethik der Weltreligionen" ergänzt werden sollte. Dies verdeutlicht nochmals den in der Weberschen Problemstellung liegenden und auf die Begriffsbildung des ausgeführten Forschungsprogramms46 durchschlagenden engen Zusammenhang von "Wirtschaft und Gesellschaft" und "Wirtschaftsethik der Weltreligionen". Es zeigt, wie 42 In "Wirtschaft und Gesellschaft" beschränkt Weber seinen Erklärungsanspruch zumeist auf die allgemeinen und typischen Zusammenhänge, während erst die historische Einzelanalyse die konkrete Zurechnung der individuellen Kulturerscheinungen leisten könne. Zur Herkunft des Wahlverwandtschaftstheorems vgl. Schluchter, Religion und Lebensführung I, S. 74 nebst Fn. 118. 43 Wolfgang Schluchter, der diesen Ausdruck wählt, spricht an anderer Stelle auch von einem "heuristischen", nicht-normativen "Eurozentrismus" (Religion und Lebensführung 11, S. 22; I, S. 87 f., 94). 44 Vgl. GARS I, S. 534: "Der konfuzianische Rationalismus bedeutet rationale Anpassung an die Welt." 45 Denn die Verwaltungs-, Rechts- und zuletzt auch Wirtschaftsrationalisierung verdankt dem frühneuzeitlichen Fürstenabsolutismus - einer ihrer Struktur nach patrimonialen Herrschaftsform - wesentliche Impulse. Diese eigentlich nicht in der Linie der inhärenten "Entwicklungstendenzen" des Patrimonialismus liegenden, insofern paradoxen Wirkungen bestätigen die Notwendigkeit kulturvergleichender Betrachtung, indem sie in diesem Fall Webers Augenmerk auf die verschiedene Eigenart der Patrimonialbürokratie (Fachjuristen hier, Literatenbeamten dort) und auf die ebenso heterogenen patrimonialen Bündniskonstellationen (mit bürgerlich-kapitalistischen Kreisen hier, typisch traditionalistischen Interessentenkreisen dort) lenkt. 46 Die Studien zur "Wirtschaftsethik der Weltreligionen" hätten nach dem Vorwort Marianne Webers im dritten Band der "Gesammelten Aufsätze zur Religionssoziologie", welcher Webers Abhandlung über "Das antike Judentum" sowie einen Abschnitt über das Pharisäerturn im Anhang enthält, noch eine Ergänzung der Judentumstudie um eine Analyse der Psalmen und des Buches Hiob, außerdem eine Darstellung des talmudischen Judentums, des Urchristentums, des orientalischen und okzidentalen Christentums und des Islams umfaßt. Vgl. GARS 11, Vorwort, und die von Schluchter, Religion und Lebensführung 11, S. 593 f. gegebene Übersicht über den von Weber geplanten Aufbau und die Bandfolge der "Gesammelten Aufsätze zur Religionssoziologie".
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sehr Begriffsbildung und -verwendung in den beiden Projekten Webers eigenen soziologischen Zwecken folgen und daß demzufolge ein adäquates Verständnis jedes einzelnen Weberschen Begriffs, so auch des Patrimonialismusbegriffs, den Problemkontext zu berücksichtigen hat, in dem er steht.
2. Patrimonialismus als Problem der Webersehen Idealtypenlehre Die methodologische Seite des Begründungszusammenhangs betrifft den logischen Status des Patrimonialismusbegriffs, der als idealtypischer Begriff über gewisse erkenntnistheoretische Prämissen47 mit der leitenden Fragestellung nach der okzidentalen Sonderentwicklung, dem spezifischen Rationalismus der okzidentalen Kultur, verknüpft ist. Weber spricht denn auch von jenem Rationalisierungsund Vergesellschaftungsprozeß, "dessen fortschreitendes Umsichgreifen in allem Gemeinschaftshandeln wir auf allen Gebieten als wesentlichste Triebkraft der Entwicklung zu verfolgen haben werden. ,,48 Auf der Ebene des politischen Verbandes nun findet dieser Prozeß seine Entsprechung in der Herausbildung eines formal rationalen Verwaltungstyps, der bürokratischen Verwaltung. 49 Als Unterscheidungskriterien seiner Herrschaftslehre nennt Weber zwei: zum einen die Legitimitätsgründe der Herrschaft, zum anderen die soziologische Struktur des Verwaltungsstabs und der Verwaltungsmittel. 5o Wenn in beiden Hinsichten die "bürokratische Verwaltung" als reinster Typus der "legalen Herrschaft" den spezifischen Rationalitätstypus von Herrschaft darstellt, dann bemißt sich der Erfolg der Begriffsbildung daran, wie trennscharf demgegenüber die Typen der traditionalen bzw. charismatischen Herrschaft - unter Rationalitätsgesichtspunkten - sind. Daß Weber bei der Analyse der Herrschaftsformen "von dem uns geläufigsten und rationalsten Typus", dem der bürokratischen Verwaltung, ausgeht,51 darf daher nicht allein oder primär seinem anti-evolutionistischen Credo zugerechnet werden. 52 Die nähere Begründung liefert er vielmehr selbst in der "Vorbemerkung" zum Abschnitt über "Die legale Herrschaft mit bürokratischem Verwaltungsstab": "Es wird hier absichtlich von der spezifisch modemen Form der Verwaltung ausgegangen, um nachher die anderen mit ihr kontrastieren zu können. ,,53 Die formal rationale Struktur der bürokratischen Verwaltung gibt somit den Gesichtspunkt für die Dazu unten Kap. II und IV. WG, s. 196; vgl. GAWL, S. 470 f. 49 WG, S. 550. 50 "Die drei reinen Typen der legitimen Herrschaft", in: GAWL, S. 475 -488, hier S. 475. 51 WG, S. 550. In der jüngeren Herrschaftssoziologie, WG, S. 122 heißt es: "Dabei wird zweckmäßigerweise von modemen und also bekannten Verhältnissen ausgegangen." 52 Vgl. Hennis, Max Webers Fragestellung, S. 203 ff. In sehr bestimmtem Sinn ist ja das genaue Gegenteil der Fall. 53 WG, S. 124. 47 48
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weitere Begriffsbildung. Zwar gehen die historischen Erscheinungen - in diesem Fall also die gegebenen Herrschafts- bzw. Verwaltungs strukturen - niemals ohne Rest in den konstruierten "reinen (ldeal-)Typen" auf, hat die "Terminologie und Kasuistik [ ... ] also in gar keiner Art den Zweck und kann ihn nicht haben: erschöpfend zu sein und die historische Realität in Schemata zu spannen. ,,54 Doch können mit ihrer Hilfe immerhin Schneisen geschlagen werden in den "Strom des unermeßlichen Geschehens", dem "stets gleich unendlichen Strom des Individuellen",55 so daß "jeweils gesagt werden kann: was an einem Verband die eine oder andere Bezeichnung verdient oder ihr nahesteht",56 sich also etwa dem Typus der patrimonialen Herrschaft annähert oder ihm femsteht. "Genetische Begriffe" nennt Weber Idealtypen in diesem Sinn, Begriffe von Zusammenhängen, "welche, als im fluß des Geschehens verharrend, als historische Individuen, an denen sich Entwicklungen vollziehen, von uns vorgestellt werden.,,57 Insoweit ist zunächst der Typus des patrimonialen Verwaltungsstabes ebenso universaler Anwendung fähig wie der des rational-Iegalen. 58 Die Übergänge zwischen den Formen politischer Herrschaft sind aber in der historischen Realität fließend. 59 Deshalb erscheinen die Typenbegriffe - gerade im Hinblick auf eine an dem Prozeß "der Entbindung des politischen Rationalismus,,60 orientierte Perspektive - noch in einem anderen Sinn von methodischem Interesse: "Auch Entwicklungen lassen sich nämlich als Idealtypen konstruieren, und diese Konstruktionen können ganz erheblichen heuristischen Wert haben.,,61 Eine typenbildende Soziologie, die es sich schließlich als ihr Verdienst anrechnet, der Geschichte den Begriffsapparat für kausale Zurechnungsurteile bereitzustellen, muß sich auch für die allgemeinen sozialen Entwicklungsbedingungen und -tendenzen interessieren und diese in (idealtypischen) Stufenmodellen zu fassen suchen. Es gilt beispielsweise typologisch herauszuarbeiten, von welchen gesellschaftlichen Ausgangszuständen62 aus und unter welchen allgemeinen Bedingungen patrimoniale Herrschaftsstrukturen entstehen oder sich ggf. in welcher Art typischerweise umwandeln. 63 Das "nach rein militärischen Konstituenzien" WG, S. 154. So die Formulierung der erkenntnistheoretischen Ausgangslage im Objektivitätsaufsatz, GAWL, S. 184. 56 WG, S. 154; vgl. ebd., S. 124. 57 GAWL, S. 203. 58 Vgl. WG, S. 126. 59 Z. B. WG, S. 124, 126, 154; GARS I, S. 273; GASW, S. 43; WG, S. 550. 60 GARS I, S. 273. 61 GAWL, S. 203. 62 Diese sind selbst wiederum nur idealtypisch denk- und beschreibbar. 63 In diesem Sinn beabsichtigt Weber in der Herrschaftssoziologie mit dem Patrimonialismusbegriff nicht nur diejenigen Erscheinungen des historischen Geschehens, die ihm mehr oder minder entsprechen, zu identifizieren, sondern darüber hinaus die allgemeinen Entstehungs- und Entwicklungszusammenhänge des politischen Patrimonialismus aufzuklären. So 54 55
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konstruierte politische Organisationsstadienmodell in den "Agrarverhältnissen,,64 enthält mit den Typen des "bürokratischen Stadtkönigtums" und der daraus - durch einen Rationaiisierungsprozeß65 - hervorgehenden "autoritären Leiturgiemonarchie" die der Sache nach dem Begriff des Patrimonialismus in "Wirtschaft und Gesellschaft" entsprechenden Stufen einer alternativen Entwicklungsbahn der antiken politischen Organisation. In "Wirtschaft und Gesellschaft" nun bildet der Patrimonialismus ein bestimmtes Entwicklungsstadium der wirtschaftlichen, rechtlichen und politischen Ordnung, gemessen an ihrer jeweils rationalsten (modemen) Erscheinungsform: dem modemen Kapitalismus, dem formal rationalen Recht und der rational-legalen Herrschaft mit bürokratischer Verwaltung. Er repräsentiert damit zugleich die zu einer "Entwicklungstheorie des Rationalismus und der Rationalität" sich verdichtende Verbindung von Typen- und Stufenbegriff. 66 Webers idealtypische Entwicklungskonstruktionen treten hierbei in prinzipiellen methodischen Widerspruch sowohl zu zyklischen Verlaufstheorien, welche die soziale Evolution einer gesetzmäßigen Abfolge sich gleichmäßig wiederholender Entwicklungsstufen zuschreiben,67 als auch zu heglianisch-emanatistischen Wesenszeigt er die Tendenz des ,,reinen Patrimonialismus" unter gewissen einfachen Bedingungen Verkehrstechnik, Militärorganisation, Bedarfsdeckung des Verbandes - in präbendale, feudale oder rationale (bürokratische) Gebilde überzugehen bzw. umgekehrt: Entwicklungstendenz dieser zu sein; vgl. WG, S. 598 f., 602 Cf. 64 GASW, S. 44, 35 Cf. Zur theoriegeschichtlichen Bedeutung des Zusammenhangs von Wehrverfassung und politischer Verfassung in der Geschichtswissenschaft des 19. Jh.s vgl. Jürgen Deininger, Die politischen Strukturen des mittelmeerisch-vorderorientalischen Altertums in Max Webers Sicht, in: Wolfgang Schluchter (Hg.), Max Webers Sicht des antiken Christentums. Interpretation und Kritik, Frankfurt a.M. 1985, S. 72 Cf., hier S. 80. 65 Vgl. GASW, S. 38. 66 Schluchter, Religion und Lebensführung I, S. 93. Für die von Weber ausgezeichneten ,,Entwicklungsstufen" gilt dabei das Gleiche wie für die von ihm prinzipiell in Anführungszeichen gesetzten "Kulturstufen". Gegen eine von Richard Hildebrand (Recht und Sitte auf den primitiveren wirtschaftlichen Kulturstufen, Jena 2 1907; ders., Über das Problem einer allgemeinen Entwicklungsgeschichte des Rechts und der Sitte, Graz 1894) entworfene (organizistische) Theorie der universalen Rechts- und Kulturentwicklung, welche diese "nach Art biologischer Prozesse als ein gesetzliches Nacheinander verschiedener, überall sich wiederholender ,Kulturstufen' zu begreifen" versuche (GASW, S. 513 f.), hatte Weber in einer Abhandlung zum "Streit um den Charakter der altgermanischen Sozialverfassung" sein idealtypisches Verständnis der Konstruktion und Verwendung solcher "Kulturstufen" ins Feld geführt. "Wenn wir eine ,Kulturstufe' konstruieren, so bedeutet dieses Gedankengebilde, in Urteile aufgelöst, lediglich, daß die einzelnen Erscheinungen, die wir begrifflich zusammenfassen, einander ,adäquat' sind, ein gewisses Maß innerer ,Verwandtschaft' - so können wir es ausdrücken - miteinander besitzen, niemals aber, daß sie mit irgendeiner Gesetzmäßigkeit auseinander folgen. Mit anderen Worten: sie sind begriffliche Darstellungsmittel, aber nicht Grundlagen für ein Schlußverfahren nach dem berüchtigten Schema: ,Alle Menschen sind sterblich, Cajus ist ein Mensch, also ist er sterblich'" (GASW, S. 517). 67 In seiner Abhandlung über "Roscher und Knies und die logischen Probleme der historischen Nationalökonomie" kritisiert Weber die entscheidende erkenntnistheoretische Manipulation, mit deren Hilfe u. a. der zeitgenössische Historiker und "Stufentheoretiker" Karl Lamprecht zu seinen kulturellen Entwicklungsgesetzen gelangt: "Hypostasierung der ,Nation' als eines kollektiven Trägers derjenigen psychischen Vorgänge, welche nach ihm
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lehren,68 die die historischen Ereignisse als bloße Verwirklichungsfälle der in ihren theoretischen Konstruktionen begrifflich geronnenen metaphysischen Realitäten begreifen. 69 Die methodologische Differenz gegenüber diesen Theorierichtungen ist nach Weber unüberbrückbar: ..Aber ein schweres Mißverständnis des Forschungszieles der Kulturgeschichte ist es, wenn man die Konstruktion von ,Kulturstufen' für mehr hält, als ein Darstellungsmittel, und die Einordnung des Historischen in solche begrifllichen Abstraktionen als Zweck der kulturgeschichtlichen Arbeit behandelt [ ... ]; und ein Verstoß gegen die Forschungsrnethode ist es, wenn wir eine ,Kulturstufe' als etwas anderes als einen Begriff ansehen, sie wie ein reales Wesen nach der Art der Organismen, mit denen die Biologie zu tun hat, oder wie eine Hegeische ,Idee' behandeln, welche ihre einzelnen Bestandteile aus sich ,emanieren' läßt, und sie also zur Konstruktion von Analogieschlüssen verwenden [ •.. ].,,70
Idealtypische Entwicklungskonstruktionen dienen demgemäß nicht dazu, unbedingte Notwendigkeiten des historischen Geschehens, sondern bedingte ("objektive") Möglichkeiten desselben begrifflich darzustellen, um so im Vergleich mit der Wirklichkeit die tatsächlichen Kausalzusammenhänge erklären zu können. Vor diesem Hintergrund ist die Universalgeschichte nicht mehr - wie für die emanatistischen Stufentheorien - als Menschheitsgeschichte, gar Heilsgeschichte lesbar und damit einer Totalerkenntnis zugänglich, in der dem Fortschrittsbegriff konstitutive Bedeutung zukommt. Sie beschreibt nur noch den kulturwissenschaftlichen Gegenstandsbereich in seinen äußersten Grenzen, dem allein kulturvergleichende, gesichtspunktabhängige Partialerkenntnis abgewonnen werden kann. Angesichts der teleologischen Dependenz der kulturwissenschaftlichen Begriffsbildung hat hier ein seiner Wertkonnotationen entledigter Fortschrittsbegriff ausschließlich regulative Bedeutung?'
die ,Sozialpsychologie' erörtern soll" (abgedr. in: GAWL, S. 1- 145, S. 22 ff., hier S. 24 f. Fn.5). 68 In einem Brief an Franz Eulenburg bemerkt Weber zu den allgemeinen erkenntnistheoretischen und geschichtsphilosophischen Grundlagen der Sozialökonomik unmißverständlich: ..Zwei Wege stehen offen: Hegel oder - unsere Art die Dinge zu behandeln" (MWG II/ 6, S. 173). Was unter dieser letzteren zu verstehen sei, ist z. T. bereits angeklungen und wird noch Gegenstand näherer Betrachtung sein (siehe unten Kap. II). 69 Vgl. Schluchter; Religion und Lebensführung I, S. 51 ff., 65 ff., 98 ff.; Pietro Rossi, Vom Historismus zur historischen Sozialwissenschaft. Heidelberger Max Weber-Vorlesungen 1985, Frankfurt a.M. 1987, S. 20 ff.; Guy Oakes, Die Grenzen kulturwissenschaflicher Begriffsbildung. Heidelberger Max Weber-Vorlesungen 1982, Frankfurt a.M. 1990, S. 27 ff. 70 .. Der Streit um den Charakter der altgermanischen Sozialfassung", GASW, S. 513 ff., hier S. 517. 71 Vgl. Schluchter; Religion und Lebensführung I, S. 101, 106. Zu den Bedeutungsdimensionen des sozialen Fortschrittsbegriffs vgl. Webers Bemerkungen im Wertfreiheitsaufsatz, GAWL, S. 518 ff.
3. Patrimonialismus als Problem der Weberschen Handlungslehre
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3. Patrimonialismus als Problem der Webersehen Handlungslehre Grundlage der Erörterung von Webers Patrimonialismusbegriff ist die Verschränkung von Handlungs- und Ordnungsebene in seiner soziologischen Kategorienlehre. Denn die Herrschaftssoziologie basiert auf einem handlungstheoretischen Fundament. Das durch heterogene Interessenlagen motivierte Handeln erzeugt "objektive" Strukturen - ist umgekehrt seinerseits strukturbedingt. Folglich ist es wesentlicher Entstehungsgrund konkreter Rechts- bzw. Herrschaftsordnungen. Interessenmotiviertes Handeln aber ist durch seinen jeweils vom Akteur "subjektiv gemeinten" Sinn v.a. am erwarteten Verhalten anderer orientiert: soziales Handeln, und dabei verständlicher Deutung zugänglich. 72 Das "soziale Handeln" erst konstituiert den Gegenstandsbereich der Soziologie als Erfahrungswissenschaft. Institutionelle oder Struktur-Sachverhalte werden von Weber handlungstheoretisch aufgelöst. Die Handlungsbegrifflichkeit dient ihm gerade auch zum Verständnis der ökonomischen, religiösen, politischen etc. Kollektivgebilde, in die der einzelne mannigfaltig eingebunden ist und die deshalb für die Soziologie von besonderem Interesse sind. Daraus resultiert ein "methodologischer Individualismus,m, der mit Kollektivbegriffen wie "Staat", "Kapitalismus", "Kirche" etc. "lediglich einen bestimmt gearteten Ablauf tatsächlichen, oder als möglich konstruierten sozialen HandeIns Einzelner,,74 meint. Die Soziologie bediene sich dabei der juristischen Begriffe "um ihrer Präzision und Eingelebtheit willen",75 könne von Kollektivbegriffen aber auch deshalb nicht absehen, weil die handelnden Individuen Vorstellungen über die Existenz und Funktionsweise z. B. des Staates, der Bürokratie oder Justiz oder über die Geltung einer Rechtsordnung hätten und ihr eigenes Handeln an solchen irrealen Sinngebilden orientierten. 76 Auf den Staat bezogen will das etwa heißen: Bestimmte Menschen unterstellen die Geltung bestimmter Normen und die Legitimität der politischen Herrschaft und orientieren daran ihr Handeln. Andere prätendieren die Geltung jener Normen, WG, S. 1; vgl. GAWL, S. 429 ("Gemeinschaftshandeln"). Siehe dazu unten Kap. Ir. 2. Auf die Feststellung, daß die individualistische Methode keinesfalls eine Stellungnahme zugunsten eines normativ verstandenen "Individualismus" impliziere, legt Weber ausdrücklich Wert (vgl. WG, S. 9; GAWL, S. 439). Zweifellos gehen in diesen methodologischen Individualismus auch Grundpositionen der zeitgenössischen theoretischen Nationalökonomie ein, wie etwa die eigene Definition des Wirtschaftssubjekts erkennen läßt (vgl. Grundriss, S. 2). Zu nationalökonomischen Einflüssen auf Webers Handlungslehre vgl. Gephart, Gesellschaftstheorie und Recht, S. 430 ff. Inwiefern es sich dabei aber um einen "religionsgeschichtlich [und in diesem Sinn eben auch kulturgeschichtlich] reflektierten Individualismus" handelt (Hennis, Max Webers Wissenschaft, S. 61), wird in Kap. IV noch näher zu besprechen sein. 74 WG, S. 6 f.; vgl. GAWL, S. 439. 7S WG, S. 7; vgl. GAWL, S. 440. 76 Vgl. WG, S. 7. Vgl. insbesondere Weber,. Ausführungen zum Verhältnis von empirischer Staatsvorstellung und soziologischem Staatsbegriff in GAWL, S. 200 f. 72
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I. Begriffsbildung, Handlungstheorie und historische Soziologie bei Max Weber
die sie unter Anwendung geeigneter Mittel durchsetzen, sowie die Rechtmäßigkeit der Herrschaft, die sie faktisch ausüben. Durch diese Vorstellungen und Prätentionen als Motive des Handeins77 wird der Staat im soziologischen Sinn als lediglich "ein Ablauf von menschlichem Handeln besonderer Art" konstituiert. 78 Der idealtypische soziologische Begriff des Staates abstrahiert so einerseits bestimmte Wirklichkeits- und d. h. primär: Handlungszusammenhänge, muß dabei aber andererseits jene handlungsorientierenden gedanklichen Synthesen der historischen Menschen berücksichtigen. 79 Will nun die Soziologie z. B. die patrimoniale Herrschaftsstruktur deutend verstehen und in ihren ursächlichen Zusammenhängen erklären, so leistet ihr zu diesem Zweck die funktionale Betrachtungsweise eine wichtige Vorarbeit, indem sie das unter dem Gesichtspunkt der Entstehung und Erhaltung des "Ganzen" relevante Handeln der verschiedenen Funktionäre feststellt (im Beispiel etwa des Königs, des Militär- oder Priesteradels oder nicht-ständischer Beamtenschichten).80 Nun aber kommen die erwähnten gedanklichen Synthesen der historischen Menschen ins Spiel. Die Art, in der es besonders den maßgeblichen Funktionären einer politischen oder religiösen Gemeinschaft gelingt, ihre "Weltbilder" in die Köpfe der "einfachen" Mitglieder dieser Gemeinschaften zu verpflanzen, prägt entscheidend und in für den so~iologischen Beobachter "sinnhaft verständlicher" Weise deren Struktur. Denn gerade sie beeinflussen die Akteurmotive beim gemeinschaftskonstituierenden Handeln. Wie die Weltbilder patrimonial-bürokratischer, kriegerisch-feudaler, priesterlicher oder bürgerlicher Schichten die allgemeine Kulturentwicklung mitbestimmt haben, ist eine zentrale Fragestellung in der historischen Soziologie Max Webers. 81 So schufen konfuzianische Literaten und hinduistische Brahmanen geschlossene Weltbilder, die Leben und Welt als einen "in sich sinnvoll geordneten Kosmos" konzipieren. 82 Doch ist deren kulturpräVgl. WG, S. 5. GAWL, S. 440. 79 Vgl. GAWL, S. 200 f. Über hermeneutische und linguistische Wissenschaftstheorien wird Webers ,dekonstruktive' Methodik zunehmend von der modemen Geschichtswissenschaft rezipiert; vgl. Wolfgang Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt. Eine vergleichende Geschichte Europas von den Anfängen bis zur Gegenwart, Frankfurt a.M./ Wien 2000, S. 18. 80 WG, S. 8. 81 Dabei können nach Webers Analyse, die nicht "idealistische" und nicht "materialistische", sondern gesichtspunktabhängige ist, wiederum ökonomische oder militärische Entwicklungen eine maßgebliche Rolle spielen. "Spiritualistisch" (Hennis, Max Webers Wissenschaft, S. 71) mag immerhin die verstehende Soziologie insofern genannt werden, als ihr Gegenstand - kulturbedeutsame ,historische Individuen' - sinntragende Gebilde sind, welche die handelnden Akteure in unübersehbaren Handlungsketten zu sozialen Ordnungen verdichten. 82 Zum Zusammenhang des sinnvoll geordneten "Ganzen" von sozialen und kosmisc:hen Vorgängen mit dem Postulat einer "bewußt einheitliche[nJ sinnhafte[nJ Stellungnahme zu ihm", einer "Zusammenfassung also des praktischen Verhaltens zu einer Lebensführung" durch Prophetie, Theologie und "priesterfreie" Philosophie vgl. WG, S. 275. 77 78
3. Patrimonialismus als Problem der Weberschen Handlungslehre
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gende, weil handlungsorientierende Bedeutung nicht prinzipiell verschieden von der Wirkung feudaler Ehe-, Erziehungs- und Lebensführungsideale, wie sie empirisch etwa in lehnsrechtlichen Ordnungen, Minne und Tournier zur Geltung kommen. Weil solche Ideen als "empirisch in historischen Menschen wirksame Gedankenverbindungen"S3 maßgeblich die Interessenkonstellationen und damit das soziale Handeln innerhalb einer (politischen) Gemeinschaft bestimmen, lassen sich mit ihrer Hilfe "generelle Aussagen über kausale Verknüpfungen"S4 treffen, d. h. generelle Regeln des Geschehens im Sinn von "durch Beobachtung erklärte[n] typische[n] Chancen eines bei Vorliegen gewisser Tatbestände zu gewärtigenden Ablaufes von sozialem Handeln, welche aus typischen Motiven und typisch gemeintem Sinn der Handelnden verständlich sind. "S5 Am Beispiel des Konfuzianismus läßt sich dies gut veranschaulichen. Die konfuzianischen Ideen und Ideale (oder besser: Idealtypen dieser Ideen und Ideale)s6 gehen in den idealtypischen Begriff des chinesischen "theokratischen Patrimonialismus" ein. Darauf basiert die theoretische Konstruktion hypothetischer Handlungsverläufe, die ihn als einen "widerspruchslosen Kosmos gedachter Zusammenhänge"S7 erst konstituieren (z. B. im Hinblick auf Herrscherlegitimation, Gesetzgebung und Justiz, Religions-, Agrar- und Sozialpolitik etc.). Das konfuzianische Weltbild bietet darüber hinaus - darin liegt der wiederholt betonte heuristische Zweck der idealtypischen BegriffsbildungSS - etwa im Falle der Feudalisierung der PatrimoniaistrukturS9 - Anknüpfungspunkte für die soziologische Analyse von veränderten Handlungsverläufen infolge typisch veränderter Interessenund Ideenkonstellationen. Es bleibt jedoch zu berücksichtigen, daß ein Weltbild wie das der orthodoxen konfuzianischen Bürokratie die Interessen und damit das Handeln der heterogenen Akteure (Kaiser, alte Familien, Feudalherren, Sippen, Dörfer etc.) ganz unterschiedlich motiviert. Die Patrimonialherrscher instrumentalisierten die Konfuzianer gegen die alten Familien ebenso wie sie stets erneut versuchten, "mit Hilfe der Eunuchen und plebejischer Parvenus die Bindung an die ständisch vornehme Bildungsschicht der Literaten abzuschütteln.,,9o Die großen Familien wiederum waren die frühesten Feinde der Konfuzianer, weil sie eine auf die Dauer übennächtige Konkurrenz um die Ämterpfründen darstellten. 91 Der 83 84 85
GAWL, S. 205. GAWL, S. 323. WG, S. 9.
86 Denn GAWL, S. 201: "Der konkrete Inhalt aber, den der historische ,Staat' in jenen Synthesen der Zeitgenossen annimmt, kann wiederum nur durch Orientierung an idealtypischen Begriffen zur Anschauung gebracht werden." 87 GAWL, S. 190. 88 Vgl. GAWL, S. 190 ff.; 433 f.; WG, S. 10. 89 Zu den einzelilen Strukturtypen und ihren Entwicklungsfonnen siehe unten Kap. 1II. 1. und 1II. 3. 90 GARS I, S. 427; vgl. ebd., S. 326 ff. 91 Vgl. GARS I, S. 427.
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1. Begriffsbildung, Handlungstheorie und historische Soziologie bei Max Weber
Militäradel war der sozusagen natürliche Gegner einer letztlich pazifistischen Literatenschicht. 92 Als dauerhafte Konkurrenten auf dem Gebiet der religiösen Massenbedürfnisse erschienen v.a. die taoistischen Magier. Der Konfuzianismus konnte aber gegen alle Widerstände seine kulturprägende Kraft behaupten. Daraus resultierten gewisse "typische Chancen eines [ ... ] zu gewärtigenden Ablaufes von sozialem Handeln,,,93 auf religiösem Gebiet etwa, daß bei maßgeblichem Einfluß eines Standes wie der konfuzianischen Literaten auf die Lebensführung der "Massen" die Wege "individueller Heilsmethodik" versperrt waren und daher die Stufe prophetischer bzw. ethischer Religiosität nicht erreicht wurde. 94 Es handelt sich dann um eine mit dem "Chance"-Begriff formulierbare Erfahrungsregel über die bei Vorliegen gewisser Tatbestände eintretende Ablaufwahrscheinlichkeit eines bestimmten Gemeinschaftshandeins. Eine solche Erfahrungsregel formuliert Weber auch für die kausale Zurechnung der machtpolitischen Behauptung der konfuzianischen Literaten. Sie lautet sinngemäß: In befriedeten Einheitsreichen mit gefestigter politischer Tradition hat der überlegene Verwaltungsrationalismus95 und das hohe Prestige eines schrift- und ritualkundigen Standes beste Durchsetzungschancen. 96 Die Bildung von Typus-Begriffen sowie die Suche nach generellen Regeln des Geschehens gehören somit zu den Hauptaufgaben der verstehenden Soziologie. Ihr Gegenstand ist die Entstehung und Entwicklung verschiedenster (ökonomischer, politischer, religiöser) Gemeinschaftsformen, die durch eine spezifische Konstellation der relevanten handlungsmotivierenden Interessen und interessenleitenden Ideen oder Ideale gekennzeichnet sind. Stets unter der für die empirisch-soziologische Arbeit entscheidenden Frage: "welche Motive bestimmten und bestimmen die einzelnen Funktionäre und Glieder dieser ,Gemeinschaft', sich so zu verhalten, daß sie entstand und fortbesteht? ,,97 Oder: untergeht! Welches typisch verschiedene Zusammenhandein, und d. h. welche typisch verschiedenen Interessen prägen die Eigenart rational-legaler, traditionaler und charismatischer Herrschaftsverbände, 98 unter welchen sinnhaft verständlichen oder sinnfremd unverstehbaren99 92 93
94
Vgl. GARS I, S. 429 f. WG, S. 9. Zu dieser "negativen" religiösen Massenwirksamkeit des Konfuzianismus vgl. GARS I,
S.493.
Vgl. GARS I, S. 427. Vgl. GARS I, 328 f., 427 f., 429 f. 97 WG, S. 9. 98 Alle historischen Herrschaftsgebilde sind nach Webers Auffassung Annäherungen oder Mischforrnen dieser sog. ,,reinen Typen legitimer Herrschaft". 99 "Sinnfremde Vorgänge und Gegenstände kommen für alle Wissenschaften vom Handeln als: Anlaß, Ergebnis, Förderung oder Hemmung menschlichen Handeins in Betracht" (WG, S. 3). "Unverstehbare Daten", die menschliches Handeln schlechthin bedingen, sind in der historischen Soziologie Max Webers v.a. klimatische und geographische Faktoren. Vgl. GAWL, S. 431. 95
96
3. Patrimonialismus als Problem der Weberschen Handlungslehre
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Bedingungen entstehen sie bzw. verändern sie sich und - wenn letzteres - in Richtung welches typisch andersgearteten GemeinschaftshandeIns? Dies gilt es immer mitzulesen, wenn Weber in "Wirtschaft und Gesellschaft", speziell natürlich in den herrschaftssoziologischen Abschnitten, aber auch in den wirtschafts-, rechts- und religions soziologischen Kapiteln den historisch wiederkehrenden Machtkämpfen, Machtinteressenten und Resultaten der politischen Konkurrenzkämpfe, deren ökonomischen und militärischen, rechtlichen und religiösen Zusammenhängen nachgeht und all das in (relativ wenigen) Idealtypen bzw. idealtypischen Entwicklungskonstruktionen zusammenzufassen versucht. Zweck dieser einführenden Darlegungen war es, die unterschiedlichen Deutungsebenen einer textimmanenten Diskussion der Weberschen Handlungs- und Ordnungsbegriffe exemplarisch aufzuzeigen. Spätestens seit "Wirtschaft und Gesellschaft" sowie den Studien zur "Wirtschaftsethik der Weltreligionen" steht die soziologische Begriffsbildung Max Webers unter der Leitperspektive des "Rationalismus der okzidentalen Kultur". Den in logischer Hinsicht konstruktiven Charakter seiner Begriffe sucht Weber durch idealtypische Formung auszudrücken. Individualistische methodische Prämisse ist dabei der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt. Der Patrimonialismusbegriff ist wegen seiner augenfalligen Verankerung an der Rationalisierungsthematik, wegen seiner idealtypischen Struktur, die gerade die Differenzpunkte zur modemen politischen Herrschaftsorganisation betont und nicht zuletzt wegen der Implikationen traditionaler Herrschafts- und Gesellschaftsstrukturen für das Postulat sinnverstehender Deutung 100 besonders geeignet, diese Art soziologischer Begriffsbildung zu veranschaulichen.
!OO
Vgl. GAWL, S. 136 ("Postulat verständlicher Deutung"). Siehe unten Kap. IV.
3 Hennes
11. Methodik der verstehenden Soziologie Zur sog. Wissenschaftslehre Max Webers hat sich über die Jahrzehnte eine umfängliche Spezialliteratur angesammelt. I Eine wesentliche Konfliktlinie bildet hier die Frage nach ihrer wie immer verstehbaren "Einheit" in Verbindung mit dem Problem des Begründungsverhältnisses von Methodologie und empirischer Forschung bei Weber. 2 Neuere Studien3 thematisieren dabei in zunehmendem Maße das "methodologische Verhältnis" zwischen Weber und Rickert und kommen - mit Blick auf die Konsequenzen für Webers Soziologie - zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen. Das kann hier nicht vertiefend diskutiert werden, doch lassen sich vor dem Hintergrund der bisherigen Ausführungen dazu einige Überlegungen anschließen. Rickerts Ausgangsfrage war, ob eine von der naturwissenschaftlichen nicht ontologisch, sondern logisch verschiedene Erkenntnisart möglich sei. In seinem Buch über die "Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung,,4 gelangt er zu der formallogischen Unterscheidung naturwissenschaftlicher und kultur- (oder: geschichts-)wissenschaftlicher Erkenntnis. Die Naturwissenschaften verfolgen demnach den Zweck, die extensiv (auf ihr Ganzes bezogen) und intensiv (auf ihre Teile I Bis heute wegweisend sind: Alexander v. Schelting, Max Webers Wissenschaftslehre, Tübingen 1934; Dieter Henrich, Die Einheit der Wissenschaftslehre Max Webers, Tübingen 1952; Horst Baier; Von der Erkenntnistheorie zur Wirklichkeitswissenschaft. Eine Studie über die Begründung der Soziologie bei Max Weber, Münster 1969; Friedrich H. Tenbruck, Die Genesis der Methodologie Max Webers, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 11 (1959), S. 573 ff. 2 Während Schelting, Henrich, Ulrich Steinvorth (Max Webers System der verstehenden Soziologie, in: Zeitschrift für allgemeine Wissenschaftstheorie, 13 (1982), S. 48 ff.) u. a. Einheit und Konsistenz der Weberschen Wissenschaftslehre behaupten, haben u. a. der frühe Tenbruck (Genesis, bes. S. 576, 578-583, 625 f.) und Thomas Burger (Max Weber's Theory of Concept Formation. History, Laws and Ideal Types, Durham 21987, S. 4 f.) die Unabgeschlossenheit und Kontextgebundenheit der wissenschaftstheoretischen Arbeiten Webers behauptet und den forschungspraktischen Wert dieser Wissenschaftslehre entsprechend relativierend eingeschätzt. 3 So z. B. Karl-Heinz Nusser; Kausale Prozesse und sinnerfassende Vernunft. Max Webers philosophische Fundierung der Soziologie und der Kulturwissenschaften, Freiburg / München 1986; Gerhard Wagner; Geltung und normativer Zwang. Eine Untersuchung zu den neukantianischen Grundlagen der Wissenschaftslehre Max Webers, Freiburg i.Br./München 1987; Peter-Ulrich Merz, Max Weber und Heinrich Rickert. Die erkenntniskritischen Grundlagen der verstehenden Soziologie, Würzburg 1990; Oakes, Begriffsbildung. 4 Heinrich Rickert, Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung. Eine logische Einleitung in die historischen Wissenschaften, Tübingen 1902. Die 3. und 4. Auflage des Werkes ist übrigens Max Weber gewidmet.
11. Methodik der verstehenden Soziologie
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bezogen) unendliche Wirklichkeit im Hinblick auf das Allgemeine, Gattungsmäßige zu erkennen. Sie bilden Begriffe, die gleichzeitig möglichst umfangreich und inhaltsleer sind und zur begrifflichen Darstellung rein quantitativer Beziehungen in der Form allgemeingültiger Gesetze dienen. Die Geschichte dagegen sucht Erkenntnis der Wirklichkeit in ihrer Eigenart. Es geht ihr gerade nicht um allgemeine, rein quantitative, sondern um individuelle, qualitative Relationsbegriffe. Angesichts der extensiv und intensiv unendlichen und als solche unbegreiflichen Wirklichkeit kommt nun für die logische Möglichkeit einer von der naturwissenschaftlichen Gesetzeserkenntnis verschiedenen kulturwissenschaftlichen Wirklichkeitserkenntnis alles auf ein diese ermöglichendes Prinzip an. Diese Aufgabe erfüllt das von Rickert sog. Prinzip der theoretischen Wertbeziehung. Durch Beziehung der Wirklichkeit auf "universelle ,Kulturwerte",5 wird das "historische Individuum" (im Sinne von Personen, Institutionen oder Ereignissen) konstituiert und so zum Gegenstand kulturwissenschaftlicher Erkenntnis. Der im transzendentalphilosophischen Denken des Neukantianismus unüberwindbare Hiatus zwischen abstrakt-allgemeiner Vernunft und konkret-individueller Wirklichkeit führt erst über das Wertbeziehungsverfahren zur kulturwissenschaftlichen Gegenstandskonstitution. 6 Kulturwissenschaftliche ("individualisierende") Begriffsbildung bricht also die unendliche Mannigfaltigkeit der Wirklichkeit auf, indem sie dieses "heterogene Kontinuum" durch theoretische Beziehung auf einen Wert "zu einer einzigartigen Verknüpfung empirischer Ursache-Wirkungsbeziehungen, zu einem unverwechselbaren Komplex" anordnet,7 den Rickert "historisches Individuum" nennt. 8 Stark vereinfacht bildet das die erkenntnistheoretische Basis, auf der Weber sein Konzept der idealtypischen Begriffsbildung in zwar nicht dem Namen, aber der Sache nach origineller Weise entwickelt. 9 An die begriffliche GegenstandskonstiGAWL, S. 181. Gerade die Wertphilosophie Windelbands und Rickerts deutet Wagner, Geltung und normativer Zwang, bes. S. 122 ff., 158 ff. als das problematische philosophische Gepäck, das Webers Methodologie mit sich trage. Denn diese Hintergrundphilosophie stehe nicht in der Tradition Kants, sondern in der Nachfolge der neuscholastischen Wertphilosophie Hermann Lotzes. Infolgedessen werde hier der Erkenntnisakt nicht in kritizistisch-konstruktivistischem Sinn, sondern als "onto-theologischer" Urteilsakt begriffen, d. h. als Zwang "zum Anerkennen eines feststehenden, im Urteil nicht weiter manipulierbaren, subjektunabhängigen Soseins" (ebd., S. 134 f.). Erst Goethes polytheistisch gefärbte Welt- und Wirklichkeitsauffassung habe dem späten Weber "eine zeitgemäße Vorstellung von Subjekt und Welt, Handeln und Ordnung" erlaubt (ebd., S. 165 ff., hier S. 167). - Zu neueren Versuchen, die erkenntnisund werttheoretischen Grundlagen im Werk Max Webers freizulegen vgl. Wemer Gephart, Handeln und Kultur. Vielfalt und Einheit der Kulturwissenschaften im Werk Max Webers, Frankfurt a.M. 1998, S. 93 ff. 7 Gerhard Wagner! Heinz Zipprian, Methodologie und Ontologie: Zum Problem kausaler Erklärung bei Max Weber, in: Zeitschrift für Soziologie, 14 (1985), S. 115 ff., hier S. 121. 8 Zum "historischen Individuum" vgl. Rickert, Grenzen, S. 336 ff., 368 f. 9 Verschiedene Autoren weisen auf die Nähe des Weberschen Idealtypus zu Georg Jellineks "empirischem Typus" hin; so u. a. Gephart, Gesellschaftstheorie und Recht, S. 556 Fn. 547; Michael Zängle, Max Webers Staatstheorie im Kontext seines Werkes, Berlin 1988, S. 15; Andreas Anter, Max Webers Theorie des modernen Staates. Herkunft, Struktur und 5
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II. Methodik der verstehenden Soziologie
tution schließt sich für den empirischen Forscher die historische Zurechnungsfrage als Folgeproblem des infiniten Ursachenregressus an. Zu dessen Lösung zieht Weber die aus der juristischen, genauer: strafrechtlichen Dogmatik stammende Theorie der objektiven Möglichkeit und adäquaten Verursachung, also das Denken in Möglichkeitsurteilen oder kontrafaktischen Bedingungen, heran. 1O So zeichnet sich Webers methodologische Position dadurch aus, daß sie für ihr epistemologisches Fundament, ihre Begriffsbildungslehre und ihre Zurechnungstheorie Elemente verschiedener Disziplinen verknüpft. Sie schöpft neben der neukantianischen Erkenntnistheorie und Logik auch aus nationalökonomischen, juristischen, historischen und psychologischen Quellen. Die Liste von Webers Gewährsmännem reicht dabei von Windel band und Rickert über Gottl, v. Kries und Radbruch bis zu Simmel, Tönnies und Vierkandt. Mit einigem Recht hat man seine Methodologie deshalb auch als einen "kreativen Eklektizismus" bezeichnet. 11 Im Mittelpunkt des Interesses soll hier jedoch Webers Handlungslehre stehen, 12 wobei es nötig sein wird, später auf den Zusammenhang zwischen Methodologie Bedeutung, Berlin 21996, S. 22 f.; Stefan Breuer, Georg Jellinek und Max Weber. Von der sozialen zur soziologischen Staatslehre, Baden-Baden 1999, S. 9 Fn. 5. Georg Jellinek selbst stellt diesen Zusammenhang ausdrücklich her (Allgemeine Staatslehre, Berlin 3 1914, S. 40 Fn. 1). Dennoch erweckt seine ausführliche Erörterung des empirischen Typus als Abstraktion und konstruktive Zusammenfassung der einer Klasse von Erscheinungen gemeinsamen Merkmale stark den Eindruck des Gattungsbegrifflichen (vgl. ebd., S. 36 ff.). Jellinek gewinnt den "empirischen Typus" - analog zur neukantianischen Disjunktion von Seiendem und Sein-Sollendem, empirischer und normativer Sphäre - als methodischen Antipoden zum "idealen Typus", z. B. dem idealen Staat in einem normativ-ontologischen Sinn. Es kennzeichnet die eigenartige heuristische Zwischenstellung von Webers Idealtypus tatsächlich angemessener, wenn dieser ihn gelegentlich als gleichsam ,empirisches Pendant' des Jellineksehen idealen Typus beschreibt, dem nur logische Vollkommenheit, nicht normative Vorbildlichkeit zukomme. Deshalb liegt auch durchaus keine "Begriffsverwechselung" auf Webers Seite vor - wie Anter, Max Webers Theorie, S. 23 meint -, sondern eine wohlbewußte Begriffsadaption. 10 So sind beispielsweise - im Anschluß an den Althistoriker Eduard Meyer - die Perserkriege ein von Weber oft verwendetes Beispiel für die kausale Zurechnung historischen Geschehens durch Konstruktion "objektiver Möglichkeiten" auf der Grundlage genereller ErfalJrungsregeln, hier der persischen Instrumentalisierung der Priesterschaften unterworfener Völker zu Herrschaftszwecken (vgl. Eduard Meyer, Geschichte des Altertums, Bd. 3: Das Perserreich und die Griechen, Stuttgart 1901, S. 420, 444 ff., bes. 448). Ausführlich hat Alexander v. Schelting diese Art von Kausalurteilen analysiert (Max Webers Wissenschaftslehre, S. 255 ff., bes. 269 ff.). Zur Denkform hypothetischer Kausalverläufe bei Weber vgl. Gephart, Gesellschaftstheorie und Recht, S. 449 ff. Die große Bedeutung kontrafaktischer Urteile wird auch in der Geschichtswissenschaft zunehmend methodologisch reflektiert; u. a. Alexander Demandt, Ungeschehene Geschichte. Ein Traktat über die Frage: Was wäre geschehen wenn ... ?, Göttingen 1984; Peter Burg, Kontrafaktische Urteile in der Geschichtswissenschaft. Formen und Inhalte, in: Archiv für Kulturgeschichte, 79 (1997), S. 211 ff. 11 Wagner / Zipprian, Methodologie und Ontologie, S. 116. 12 Außen vor bleibt also ganz bewußt die schwierige Frage, inwiefern Webers historische Zurechnungslehre in Verbindung mit einer transzendentalphilosophischen Gegenstandskonstitution Konsistenzprobleme erzeugt und wie diese ggf. zu lösen sind. Dazu Wagner / Zipprian, Methodologie und Ontologie, S. 116 ff.: Entscheidend sei, daß Weber mit der Theorie
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(im Sinne einer Logik der Begriffsbildung) und Methode, von Idealtypenlehre und Handlungstheorie zurückzukommen. 13 Denn offenbar liegt in den methodologischen Arbeiten Webers nach der lahrhundertwende der Schlüssel für das Verständnis der Vermittlung von Handlungs- und Strukturebene, die durch das unvermittelte Nebeneinander von handlungstheoretischer Kategorienlehre und historisch-kulturvergleichender Soziologie als Problem wahrnehmbar wird. Da in der vorliegenden Arbeit die patrimoniale (politische) Herrschaft im Kontext der allgemeinen Rationalisierungstheorie Webers analysiert wird, ist jener allgemeine Zusammenhang am politischen Patrimonialismus zu spezifizieren. Das setzt freilich die vorherige Rekonstruktion dieser Herrschaftsform in der historischen Soziologie Webers voraus. Weil andererseits die Struktur- oder Ordnungsebene handlungsförmig konstituiert wird (so sehr freilich umgekehrt das Handeln strukturell determiniert ist), liegt ihr in der verstehenden Soziologie die Handlungstheorie logisch zugrunde und fungieren Chance-Begriff und Idealtypus als entscheidende "Transformationsmodi".14 Das folgende Kapitel beschäftigt sich deshalb zunächst mit der "Methodik" der verstehenden Soziologie, d. h. der soziologischen Handlungslehre, wie sie Weber im Kategorienaufsatz (und später in den "Soziologischen Grundbegriffen") "zur methodischen Begründung sachlicher Untersuchungen"15 entwirft.
Im Anschluß an Heinrich Rickerts in den "Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung" geführten Nachweis über die logische Heterogenität von naturwissenschaftlicher und kulturwissenschaftlicher Begriffsbildung hatte Weber den logischen Status der idealtypisch zu formenden soziologischen Begriffe v.a. im Objektivitätsaufsatz eingehend behandelt. 16 Er hatte dabei nicht versäumt darauf hinzuweisen, daß auch andere Disziplinen wie die theoretische Nationalökonomie und die Geschichtswissenschaft Idealtypen bilden und verwenden. Idealtypische Begriffe waren also zwar das den Kulturwissenschaften, aber eben nicht das allein der objektiven Möglichkeit nur das als kulturwissenschaftliches Explanandum begreifen könne, dem er auf begriffslogischer Ebene den Status von Eigennamen oder "starren Bezeichnungsausdriicken" verleihe. Das "historische Individuum" müsse in allen objektiv möglichen Situationen dasselbe bezeichnen. Weil Rickerts Begriffsbildungslehre genau dies nicht leisten könne, müsse Weber insoweit sowohl dessen Begriff des historischen Individuums abweichend gebrauchen, als auch die transzendentalistische Wirklichkeitsauffassung durch eine realistische ersetzen (vgl. ebd., S. 118, 129). 13 Siehe unten Kap. IV. 14 Vgl. hierzu Thomas Schwinn, Max Webers Konzeption des Mikro-Makro-Problems, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 45 (1993), S. 220 ff.; allgemein leffrey C. Alexander u. a. (Hg.), The Micro-Macro Link, Berkeley u. a. 1987. 15 GAWL, S. 427 Fn. 1. 16 Zum Idealtypus vgl. v.a. noch Alexander v. Schelting, Die logische Theorie der historischen Kulturwissenschaft von Max Weber und im besonderen sein Begriff des Idealtypus, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, 49 (1922), S. 623 ff., bes. 708 ff. Ähnlich wie "Roscher und Knies" (GAWL, S. 7 Fn. 1) verstand Weber den Objektivitätsaufsatz als Versuch, "die Brauchbarkeit der Gedanken dieses Autors [Rickert, S.H.] für die Methodenlehre unserer Disziplin zu erproben" (GAWL, S. 146 Fn. 1).
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der Soziologie!? spezifische Darstellungsmittel. Gegenstand dieser Begriffsbildung sollte menschliches Handeln sein, aber auch darin unterschied sich die Soziologie noch nicht prinzipiell von anderen gleichfalls am Handeln interessierten Disziplinen wie Rechtswissenschaft, Psychologie und Nationalökonomie. Nicht zufällig behandelt Weber deshalb im Kategorienaufsatz vergleichsweise ausführlich das Verhältnis der verstehenden Soziologie zur Psychologie!8 und Rechtsdogmatik!9, nachdem er zuvor den "Sinn einer ,verstehenden' Soziologie" begründet hat und danach zur Vorstellung einiger soziologischer Grundbegriffe übergeht. Die Eigenständigkeit einer soziologischen Methode und Begriffsbildung war eben erst einmal nachzuweisen. ,Staat', ,Kapitalismus', ,Patrimonialismus', ,Feudalismus' bilden zunächst - ihrer logischen Natur nach - Idealtypen, welche "bestimmte Beziehungen und Vorgänge des historischen Lebens zu einem in sich widerspruchslosen Kosmos gedachter Zusammenhänge,,20 vereinigen. Sie sind Begriffe von "einer rein logischen Vollkommenheit",2! die ausdrücklich nicht normativ oder exemplarisch wertend ("als Vorbild") gemeint sind. Die idealtypische Begriffsbildung ist dabei für die verstehende Soziologie als einer auf die Erkenntnis kulturbedeutsamer Wirklichkeit gerichteten "Wirklichkeitswissenschaft" unverzichtbar. 22 Die kulturbedeutsame Eigenart der okzidentalen Kultur aber ist ein alle Lebensbereiche durchdringender und prägender Rationalismus, dessen Erklärung mittels idealtypischer Begriffsbildung sich die verstehende Soziologie zur Aufgabe macht. Andererseits ist die soziale Welt handlungsförmig konstituiert und diesem Umstand muß die soziologische Methodik Rechnung tragen. Deshalb macht sie das faktische oder als möglich konstruierte "Gemeinschaftshandeln" (Kategorienaufsatz) 17 Den Status einer selbständigen akademischen Disziplin hatte die "Soziologie" in Deutschland zu diesem Zeitpunkt noch nicht, was freilich den methodischen Rechtfertigungsdruck eher verschärfte. Es ist ein wissenschaftsgeschichtliches Kuriosum, daß der um den Historismus des 19. Jh.s geführte Methodenstreit in Jurisprudenz, Nationalökonomie und Geschichtswissenschaft in Deutschland letztlich das Forum für die Ausdifferenzierung dieser neuen Disziplin bildete. 18 Vgl. GAWL, S. 432-438. 19 Vgl. GAWL, S. 439 f. 20 GAWL, S. 190. 21 GAWL, S. 200. 22 GAWL, S. 170 f. Die Sozialwissenschaft als "Wirklichkeitswissenschaft" zu begreifen ist übrigens keine Webersche Erfindung. Schon 1892 nennt Georg Simmel die Geschichtswissenschaft "die Wirklichkeitswissenschaft schlechthin" im Gegensatz gegen alle Gesetzeswissenschaft. Ihre Eigenständigkeit resultiere letztlich aus dem Wert, den sie der "Kenntnis der [historischen] Tatsachen" zuschreibe: "es erscheint für uns wertvoll, die einzelnen Personen und die einzelnen Ereignisse zu kennen, durch die die Entwicklung unseres Geschlechts hindurchgegangen ist, und dieses Interesse hat Selbständigkeit und Äquivalenz gegenüber dem an den Gesetzen [ ... ]" (Die Probleme der Geschichtsphilosophie. Eine erkenntnistheoretische Studie, in: ders., Aufsätze 1887 -1890 u. a. (GSG 2), Frankfurt a.M. 1989, S. 297 ff., hier S. 348 f.). Anklänge an Max Webers erkenntnistheoretische Fundierung der Soziologie sind unverkennbar. Vgl. hierzu auch Tenbruck, Genesis, S. 622 ff., 625.
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bzw. "soziale Handeln" ("Soziologische Grundbegriffe") zum Ausgangspunkt ihrer Begriffsbildung. Entsprechend definiert Weber in § 1 der "Soziologischen Grundbegriffe,,23 die Soziologie als "eine Wissenschaft, welche soziales Handeln deutend verstehen und dadurch in seinem Ablauf und seinen Wirkungen ursächlich erklären Will.,,24 Warum können der Patrimonialherrscher und die einzelnen Patrimonialbeamten ein ihren Anordnungen entsprechendes Verhalten der Beherrschten erwarten, warum legen diese eine die Befehlsgewalten anerkennende Fügsamkeit an den Tag, warum orientieren beide ihre Handlungen an ganz spezifischen Erwartungen gegenüber den jeweils anderen: diese Fragen verweisen auf die äußeren Machtmittel (Verwaltungs- und Kriegsbetriebsmittel) und die inneren Rechtfertigungsgründe ("Legitimität") der Herrschaft. Macht, Herrschaft, politischer Verband, Legitimitätsgründe (der Herrschaft) und Legitimitätsgarantien sind daher herrschaftssoziologische Kategorien, die in der verstehenden Soziologie handlungsbegrifflich gefaßt werden. Die Kategorienlehre der verstehenden Soziologie liegt aber in zwei mindestens terminologisch deutlich voneinander abweichenden Fassungen vor. Während die Vorkriegsmanuskripte von "Wirtschaft und Gesellschaft" - darunter die ältere Herrschaftssoziologie - überwiegend begrifflich auf den Kategorienaufsatz verweisen,25 basiert der jüngere Teil, die sog. Erste Lieferung, auf den "Soziologischen Grundbegriffen". Für herrschaftssoziologische Erörterungen ist dieser Sachverhalt deshalb wichtig, weil Weber für das schließlich lieferungsweise vorgesehene Erscheinen seines Grundrißbeitrags nach dem Krieg einen gegenüber dem älteren offenbar stark überarbeiteten herrschaftssoziologischen Teil noch selbst in den Druck gegeben hat. Die Frage ist: Sind mit dem veränderten begrifflichen Gerüst methodische und sachliche Innovationen verbunden, die für die herrschaftssoziologische Analyse berücksichtigt werden müssen? Für eine genaue Verhältnisbestimmung der beiden Kategorienlehren ist zunächst ein werkgeschichtlicher Überblick zu Webers Beitrag für den "Grundriss der Sozialökonomik" (GdS) erforderlich.
1. Werkgeschichtliche Aspekte von Handlungsund Herrschaftslehre Es zeigt sich, daß der schließlich separat in der Zeitschrift "Logos" veröffentlichte Aufsatz "Über einige Kategorien der Verstehenden Soziologie,,26 in engem Zusammenhang steht mit der allgemeinen Entstehungsgeschichte von Webers BeiWG, S. 1. Vgl. die Fonnulierungen im Kategorienaufsatz, GAWL, S. 429 f. 25 Infolge des unterschiedlichen Bearbeitungsstandes der einzelnen Texte freilich nicht durchweg konsistent. 26 Erschienen ist der Aufsatz in: Logos. Internationale Zeitschrift für Philosophie der Kultur, 4 (1913), S. 253-294 (abgedr. in: GAWL, S. 427 -474). 23
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trag für den GdS. Nachdem ihn der Verleger Paul Siebeck als organisierenden Mitherausgeber für eine Neuauflage des Schönbergschen "Handbuchs der Politischen Ökonomie" gewonnen hatte,27 intensivierte Weber 1908/09 seine Bemühungen um die Anwerbung geeigneter Mitarbeiter entsprechend jener Gesamtgestaltung des Werkes, die er im Mai 1909 als provisorischen Stoffverteilungsplan dem Verleger übersandte. 28 Bereits am 20. April 1909 hatte sich Weber über mögliche eigene Beiträge zum Grundriß, darunter ein Abschnitt über Methodik der Sozialwissenschaften, gegenüber Siebeck geäußert: "Die ,Methodologie' würde ich ev. übernehmen (einschl[ießlich] der Beziehungen zu Jurisprudenz und Soziologie u.s.w.), ebenso den Schluß des Ganzen (,Sozialphilosophie,).,,29 Der Vorschlag enthält - wie sich zeigen wird - in allgemeiner Formulierung diejenigen Sachkapitel, für die Weber in dem überlieferten Stoffverteilungsplan aus dem Jahre 1910 die Verantwortung übernimmt. Für das Verständnis von sachlichem Gehalt und werkgeschichtlicher Stellung des Kategorienaufsatzes ist Webers Unterscheidung von "Logik" bzw. "Methodologie" und "Methodik" wichtig: Beide Gebiete markieren für ihn durchaus verschiedene Aufgabenbereiche. In einem Brief an Friedrich Gottl 30 meint er, dessen Verhältnisbestimmung zwischen Logik und Methodologie anläßlich eines Aufsatzmanuskripts für das ,Archiv' kritisierend: "Die Logik fragt den Teufel damach, ob ihre Ergebnisse zu praktischen Anweisungen tauglich sind." Logik hat keine unmittelbar forschungspraktische Relevanz für die Einzelwissenschaften. Methodologie im Sinne von Fachlogik bezweckt demgegenüber eine speziellere Form der Erkenntnislogik, d. h. - über die nötige disziplinäre Abgrenzung hinaus eigentliche Methodenreflexion. Sie ist gleichsam Logik der einzelwissenschaftlichen Methode und als solche Mittler zwischen den Einzelwissenschaften und der Philosophie als Erkenntnistheorie, die mit ihrer Methodenreflexion - wie sich 27 Der "Grundriss der Sozialökonomik" war ursprünglich als Neuauflage des Schönbergsehen "Handbuchs der politischen Ökonomie" geplant, bekam aber spätestens mit Webers formeller Übernahme der Redaktion den Charakter einer vollständigen Neubearbeitung, was letztlich - nach heftigen Auseinandersetzungen des Verlags mit den Erben Schönbergs (die z. T. grotesken Verwicklungen, die für den Grundriß-Redaktor Max Weber damit verbunden sind, werden in dem Briefe-Band 1909/10, MWG II/6, ausführlich dokumentiert) - in dem geänderten Titel zum Ausdruck kommt. 28 Der "provisorische Stoffverteilungsplan" ist nicht überliefert, da der Verleger ihn Weber zurückschickte, "ohne eine Abschrift davon genommen zu haben" (vgl. MWG II/6, S. 132 Fn. 3). Der als Zirkular überlieferte Stoffverteilungsplan ist abgedruckt bei Winckelmann, Hauptwerk, S. 150-153. 29 MWG 11/6, S. 105 f. 30 Brief vom 29. März 1906, MWG II/5, S. 65. Webers Admonita betreffen - in seiner Eigenschaft als Mitherausgeber des "Archivs für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik" durchgesehene - Teile des Manuskripts von Friedrich Gottl, Zur sozialwissenschaftlichen Begriffsbildung. I. Umrisse einer Theorie des Individuellen, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, 23 (1906), S. 403 -470; II. Der Stoff der Sozialwissenschaft, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, 24 (1907), S. 265-326; III. Geschichte und Sozialwissenschaft, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, 28 (1909), S. 72-100.
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Weber ausdrückt - allzu häufig über die Köpfe der ersteren hinweg fliegt. 31 Indirekt können demnach methodologische Erörterungen durch Schärfung des Methodenbewußtseins auch auf die Methodenentwicklung einwirken. In diesem Sinne sind sowohl die "Kategorien" des Logos-Aufsatzes wie die "Soziologischen Grundbegriffe" allerdings auch Resultat von Webers methodologischen Arbeiten. Die Methodologie im Sinne erkenntnistheoretischer "Selbstbesinnung" der Einzeldisziplinen betrachtet also nach Webers Verständnis die logische Eigenart der jeweiligen Erkenntnisziele und -wege, also insbesondere die logische Struktur der einzelwissenschaftlichen Begriffsbildung. 32 Soweit sie das tut, richtet sie erkenntniskritisch den Blick auf die von den Einzelwissenschaften zur Erreichung jener Erkenntnisziele entwickelte und angewendete Methodik, ohne diese systematisch entfalten zu müssen. Fachlogik in diesem Sinn betreibt Weber in den wissenschaftstheoretischen Aufsätzen nach der Jahrhundertwende?3 Es handelt sich um logische Untersuchungen der kulturwissenschaftlichen Erkenntnismittel und -zwecke. Kategorienaufsatz und "Soziologische Grundbegriffe" dagegen explizieren - soweit für die Abgrenzung der Soziologie gegenüber benachbarten Disziplinen nötig - die logischen Grundlagen, um aber dann in der Hauptsache die darauf ruhende soziologische Begriffsbildung in eine zweckmäßige Form zu gießen. Als es um die separate Publikation des Kategorien-Aufsatzes geht, schreibt Weber an Rickert dementsprechend, daß er den Aufsatz "mit einigen ,methodischen' Bemerkungen eingeleitet" habe, "unter absoluter ,Minimisierung' jedoch alles rein Logischen".34 Wenn nun Weber in dem eingangs zitierten Brief an den Verleger davon spricht, ggf. die "Methodologie" übernehmen zu wollen, "einschl[ießlich] der Beziehungen zur Jurisprudenz und Soziologie",35 so scheinen ihm hier doch zuerst fachlogische Erörterungen vorgeschwebt zu haben und allenfalls im Zusammenhang mit der Abgrenzungsproblematik ("Beziehungen zur Jurisprudenz und Soziologie") auch die Thematisierung methodischer Sachverhalte. Dies hängt augenscheinlich mit dem von Anfang an unklaren Status zusammen, den das "logischVgl. GAWL, S. 215 f. Fachlogische Erörterungen motiviert Weber mit der für die betroffenen Fachwissenschaftler z. T. geradezu unverständlichen fachphilosophischen Reflexion der logischen Fundamente ihrer Wissenschaften und nennt derartige Erörterungen dann "Methodologie" ("Kritische Studien", GAWL, S. 215 ff., hier S. 216). 33 "Roscher und Knies" (1903 -06); "Kritische Studien auf dem Gebiet der kulturwissenschaftlichen Logik" (1906), abgedr. in: GAWL, S. 215-290; "Die ,Objektivität' sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis" (1904), abgedr. in: GAWL, S. 146-214; "R. Stammlers ,Überwindung' der materialistischen Geschichtsauffassung" (1907), abgedr. in: GAWL, S. 291-359. 34 Brief an Heinrich Rickert vom 5. Sept. 1913, zit. nach Wolfgang J. Mommsen, Zur Entstehung von Max Webers hinterlassenem Werk "Wirtschaft und Gesellschaft. Soziologie", Europäisches Zentrum für Staats wissenschaften und Staatspraxis Berlin, Discussion Paper Nr. 42, Juni 1999, S. 21. 35 Brief an Paul Siebeck [nach dem 20. April 1909], MWG 11 /6, S. 103 - 106, 105 f. 31
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methodologische" Kapitel hatte,36 das Weber im Rahmen des GdS bearbeiten wollte. Logische Untersuchungen über die Eigenart der fachwissenschaftlichen Fragestellungen konnte man in einem wirtschaftswissenschaftlichen Sammelwerk sicher an prominenter Stelle plazieren, aber eine "Methodik" der Sozialwissenschaften, gar eine "soziologische" Methodenlehre, die doch dem Verständnis aller Einzeluntersuchungen zugrunde zu legen war? Weber muß die Unmöglichkeit dieses Vorhabens deutlich geworden sein, gleichzeitig aber - je mehr sein eigener Grundrißbeitrag sich zu einer "geschlossenen soziologischen Theorie und Darstellung,,37 entwickelte - die Notwendigkeit, die methodischen und - soweit erforderlich - logischen Grundlagen dieser Theorie und zwar in ihrem Rahmen mitzuliefern. Diesen prinzipiellen Wandel von Webers Überlegungen zu dem ins Auge gefaßten "Logik und Methodologie"-Kapitel legt jedenfalls die Werkgeschichte, soweit sie unter Zuhilfenahme der Korrespondenz rekonstruiert werden kann, nahe. Noch bevor er dem Verleger den überlieferten Stoffverteilungsplan im Mai 1910 zusendet, schreibt ihm Weber: "Ich glaube, daß ich Ihnen später vorschlagen werde, die Logik und Methodologie von mir fortzulassen, ev. l:nur:1 als Sonderbroschüre mit Vorzugspreis für Abnehmer des Handbuchs zu drucken - um Platz zu gewinnen für sachliche Artikel. Methodik ist ,Wissenschaft über die Wissenschaft', gehört heut eigentlich nicht hinein. ,,38
Zwar werden hier - höchst mißverständlich - Logik bzw. Methodologie und Methodik begrifflich konfundiert, doch läßt der Zusammenhang keinen Zweifel, daß Weber ursprünglich einen Abschnitt über die logischen Grundlagen der Sozialwissenschaften, nicht aber eine Methodenlehre im engeren Sinne hatte ausarbeiten wollen. Das wird im Mai 1910 durch den Stoffverteilungsplan bestätigt. Danach teilte sich Weber im Kapitel III des Ersten Buches den Abschnitt ,,4. Wirtschaft und Gesellschaft" zu mit den Unterabschnitten: "a) Wirtschaft und Recht (I. prinzipielles Verhältnis, 2. Epochen der Entwicklung des heutigen Zustands). b) Wirtschaft und soziale Gruppen (Familien- und Gemeindeverband, Stände und Klassen, Staat). c) Wirtschaft und Kultur (Kritik des historischen Materialismus)."
Außerdem aber im Kapitel "IV. Wirtschaftswissenschaft" den ersten Abschnitt: "Objekt und logische Natur der Fragestellungen." 36 Es ist sehr bezeichnend, daß Weber in brieflichen Äußerungen, an der prinzipiellen terminologischen Unterscheidung festhaltend, in der Regel von dem Kapitel über "Logik und Methodologie" spricht, das er zu bearbeiten gedenke. So in den Briefen an Paul Siebeck vom 20. April 1909 (MWG II/6, S. 105: "Methodologie"), vom 28. März 1910 (MWG II/6, S. 447: ,,Logik u. Methodologie"), und vom I. Mai 1910 (MWG II/6, S. 485: "Logik der Sozial wiss [enschaften1"). 37 Brief an Paul Siebeck vom 30. Dez. 1913, zit. nach Winckelmann, Hauptwerk, S. 36. 38 Brief an Paul Siebeck [vor oder am 28. März 19101, MWG II/6, S. 447.
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Weber stellte also ein Logik-Kapitel über Erkenntnisgegenstand und -mittel der Sozialökonomik in Aussicht. Am 1. Mai 1910 teilt er Paul Siebeck brieflich mit: "Was meinen Artikel über die Logik der Sozialwiss[enschaften] anlangt, so wird er nach Lage des Raums nicht im Handbuch bleiben können. ,,39 Damit kam er auf die früher geäußerten Bedenken zurück und schien dennoch im Einvernehmen mit dem Verleger an dem Plan festgehalten zu haben, die "Logik der Sozialwissenschaften" als Sonderbroschüre zu veröffentlichen. So heißt es noch im "Vorwort" zum Grundriß 1914: "Seiner Eigenschaft als Sammelwerk entspricht es, wenn vermieden worden ist, neben der rein historisch darstellenden Analyse der wissenschaftlichen Methoden der Sozialökonomik eine systematische Erkenntnistheorie der Sozialwissenschaften - welche [ ... ] einem besonderen Beiheft vorbehalten bleibt - in das Werk selbst aufzunehmen. ,,40
Als das den Sozialwissenschaften - zu denen Nationalökonomie, Soziologie und Geschichtswissenschaft gleichennaßen gehören - gemeinsame Spezifikum hatte ja Weber im Objektivitätsaufsatz die idealtypische Begriffsbildung logisch auseinandergesetzt. 41 Die "Gesetze" der theoretischen Nationalökonomie galten ihm als Idealtypen unter dem Gesichtspunkt des Grenzkosten- bzw. Grenznutzenprinzips ebenso wie die soziologischen Herrschaftstypen idealtypische Begriffe unter dem Gesichtspunkt des Legitimitätsprinzips waren. Die grundsätzliche Verschiedenheit der Orientierung des Handeins an zweckrationalen Nutzenkalkülen einerseits, wertrationalen Verpflichtungs- und Autoritätsvorstellungen andererseits zeigt allerdings das methodische Erfordernis einer über den wirtschaftssoziologischen Anschluß an die Grenznutzentheorie hinausweisenden begrifflichen Grundlegung der von Weber in seinem Kapitel beabsichtigten Analyse der Wirtschaft in ihren Beziehungen zu den übrigen gesellschaftlichen Ordnungen und Mächten (v.a. Recht, Herrschaft, Religion).42 Die Ausgliederung der "Logik" damit zu begründen, daß die Mitherausgeber "den methodisch und politisch verschiedensten Lagern zugehören",43 daß der Eindruck vennieden werden sollte, als gäbe es einen gemeinsamen methodischen Standpunkt, auf den die Beiträge rekurrierten, wie es im "Vorwort" zum GdS geschieht, ist dagegen eigentlich unplausibel. Denn eine "Logik der Sozialwissenschaften",44 von der Weber selbst immer wieder spricht, jene Methodik im Sinne von "Wissenschaft über Wissenschaft", hätte doch zuallererst die den Sozialwissenschaften (gegenüber den Naturwissenschaften) gemeinsamen logischen Brief an Paul Siebeck vom 1. Mai 1910, MWG 11/6, S. 485. Zit. nach Winckelmann, Hauptwerk, S. 165. 41 Vgl. bes. GAWL, S. 189 ff. 42 Vgl. die abweichende Argumentation bei Schluchter; Religion und Lebensführung 11, S.623. 43 "Vorwort" zur "Einteilung des Gesamtwerkes" von 1914 (Werkplan), zit. nach Winckelmann, Hauptwerk, S. 166. 44 So die Formulierung in dem - bereits zitierten - Brief an Paul Siebeck vom 1. Mai 1910, MWG 11/6, S. 485. 39
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Grundlagen, die logische Eigenart ihrer Begriffsbildung und nicht die für die Abgrenzung der Einzeldisziplinen untereinander bzw. die selbst intern abweichende Begriffsbildung maßgeblichen Methodengesichtspunkte zu diskutieren. 45 Eine "soziologische Methodenlehre" aber, wie sie der Logos-Aufsatz bietet, hätte in keiner wie auch immer räumlich vom Grundriß getrennten, mit ihm gleichwohl unvermeidlich im Zusammenhang gelesenen "Sonderbroschüre" etwas zu suchen gehabt. Eine solche mußte entweder völlig unabhängig publiziert werden oder als "methodische Begründung sachlicher Untersuchungen,,46 dort zum Abdruck kommen, wo die Methode an den Sachproblemen ausgeführt wird. Beides ist - genau genommen - geschehen. Im Juli 1913 teilt Weber Heinrich Rickert mit,47 baldmöglichst einen Aufsatz "Zur Methodik der verstehenden Soziologie" in der von diesem mitherausgegebenen Zeitschrift "Logos" veröffentlichen zu wollen. Im September folgt die Ankündigung, dem zuständigen Redakteur der Zeitschrift den Aufsatz schicken zu wollen, "der fertig da liegt, in seinem ursprünglichen Teil schon seit 3/ 4 JatIren, jetzt durchgesehen und mit einigen ,methodischen' Bemerkungen eingeleitet, unter absoluter ,Minimisierung' jedoch alles rein Logischen.,,48 Der Aufsatz, der dann im dritten Heft des Logos-Jahrgangs 1913 unter dem Titel "Über einige Kategorien der Verstehenden Soziologie" erschien, enthält in einer Erläuterungsbemerkung den Hinweis Webers, es handele sich bei dem zweiten Teil des Aufsatzes um "ein Fragment aus einer schon vor längerer Zeit geschriebenen Darlegung, welche der methodischen Begründung sachlicher Untersuchungen, darunter eines Beitrags (,Wirtschaft und Gesellschaft') für ein demnächst erscheinendes Sammelwerk dienen soUte und von . welcher andre Teile wohl anderweit gelegentlich publiziert werden. ,,49
Liest man die beiden Stellen zusammen, so lassen sich daraus einige Schlußfolgerungen ziehen: 45 Weber hatte sich schließlich auch nicht gescheut, anläßlich der Übernahme seiner Mitherausgeberschaft des "Archivs für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik" I 904 eine Prograrnmschrift, den Objektiviilitsaufsatz, zu publizieren, der aUe diese Fragen behandelte, obwohl oder gerade weil dort Autoren mit unterschiedlichen Methodenstandpunkten veröffentlichen sollten. 46 Damit beschreibt Weber in der Einleitungsfußnote des Kategorienaufsatzes die zum Zeitpunkt der Publikation bereits länger vorliegenden, methodisch gemeinten Teile desselben (vgI. GAWL, S. 427 Fn. 1). 47 Brief an Heinrich Rickert vom 3. Juli 1913, GStA BerIin, Rep. 92, NI. Max Weber, Nr. 25, BI. 77: ,,[ ... ] ich möchte gern in einem Logos-Heft Raum für einen Aufsatz: ,Zur Methodik der verstehenden Soziologie' (eine ziemlich kurze Sache [ ... ])." Der Titel läßt die inkonsistente und widersprüchliche Verwendung des Ausdrucks "Methodik" erkennen (der insoweit für die jeweiligen Kontexte zu explizieren ist), denn "Methodik" im Sinne von "Wissenschaft über Wissenschaft" bietet der Kategorienaufsatz gerade nicht oder doch nur am Rande, sondern: soziologische Grundbegriffe, auf denen die Methode der verstehenden Soziologie (als Handlungslehre) basiert. 48 Brief an Heinrich Rickert vom 5. Sept. 1913, zit. nach Mommsen, Entstehung, S. 21. 49 GAWL, S. 427 Fn. 1.
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Erstens: Der Text, der "fragmentarisch" im Kategorienaufsatz von 1913 aufgeht, enthielt offenbar auch umfangreichere logische Erörterungen. Das spricht dafür, daß er wohl im Zusammenhang mit dem für den Grundriß geplanten Abschnitt über die logisch-erkenntnistheoretischen Grundlagen der Sozialwissenschaften stand. Zweitens: Zur "methodischen Begründung sachlicher Untersuchungen" waren die methodischen Überlegungen über die noch in den Kontext einer Fachlogik oder Methodologie im präzisen Sinn gehörende Frage des Verhältnisses zu benachbarten Disziplinen hinaus auf die Begriffsbildung, im Falle soziologischer Fragestellungen eben soziologischer Grundbegriffe, zu erstrecken. Demnach könnten neben den Kapiteln 11 und III des Kategorienaufsatzes, die das Verhältnis der Soziologie zur Psychologie und Rechtsdogmatik behandeln, auch die Abschnitte IV bis VII, welche die Grundbegriffe der verstehenden Soziologie ausführen, zur Frühfassung des Aufsatzes gehören, von der Weber in der Einleitungsfußnote der publizierten Version spricht. 50 Drittens: Von den methodisch zu begründenden sachlichen Untersuchungen sollte Webers Grundrißbeitrag ("Wirtschaft und Gesellschaft") nur einer sein. Nimmt man die auffällig exklusiven Bezüge Webers auf Resultate vergleichender religionssoziologischer Forschung im Kapitel 1151 als Indizien für die Weber zum Zeitpunkt der Niederschrift gedanklich nahestehenden Arbeiten, so dachte er sicher auch an die vergleichenden Studien zur "Wirtschaftsethik der Weltreligionen" als weiterem Forschungsprojekt, an dem es die "Methodik der verstehenden Soziologie" zu erproben galt. Viertens: Der Kategorienaufsatz ist ein vermutlich um das Einleitungskapitel "Sinn einer ,verstehenden' Soziologie" ergänztes Fragment einer älteren "Darlegung". Da er in seiner ursprünglichen Fassung umfangreichere logische Partien enthalten haben wird, Weber andererseits noch im "Vorwort" zum GdS 52 eine "systematische Erkenntnistheorie der Sozialwissenschaften" - in einem gesonderten Beiheft - ankündigt, hätten diese darin ihren Platz haben können, zumal sie ja im Umfeld genau dieser Fragestellung und im Kontext des GdS entstanden sind.
Von den im Nachlaß aufgefundenen Textfragmenten könnte zu dem ursprünglichen Manuskript dieses Methodenaufsatzes insbesondere der "Die Wirtschaft und die Ordnungen,,53 betitelte Teiltext gehört haben. 54 Dieser verlängert die soziolo50 Vgl. zu dieser Frage die Argumente bei Schluchter, Religion und Lebensführung H, S. 565 f. 51 Vgl. GAWL, S. 433 ("magisch ,religiöses' Sichverhalten"), S. 434 ("Nietzsches Theorie des Ressentiment" im Zusammenhang mit der "Theorie des ökonomischen Materialismus"), S. 436 ("mystisch-kontemplative Religiosität" und "Prädestinationsglauben" als Beispiele dafür, daß die verstehende Soziologie nicht "die logisch rational erschließbaren", sondern die " ,psychologischen , Zusammenhänge" als die das "reale Handeln" bestimmenden betrachtet). Vgl. dazu Schluchter, Religion und Lebensführung H, S. 566. 52 Vgl. Winckelmann, Hauptwerk, S. 165.
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gisehe Kategorienlehre auf die verschiedenen normativen Ordnungen (Recht und Konvention), ihr Verhältnis zueinander (und zur "Sitte") sowie auf die allgemeinen Beziehungen zwischen Rechtsordnung und Wirtschaftsordnung. Er hätte - so ist mit Blick auf den neuen "Werkplan", den Weber im Frühjahr 1914 vorlegte,55 zu vermuten - Bestandteil seines eigenen Grundrißbeitrags werden können. "Wirtschaft und Gesellschaft" war zwischenzeitlich zur selbständigen Abteilung mit gleichnamigen Titel avanciert. Weber hatte darin den ersten Abschnitt über "Die Wirtschaft und die gesellschaftlichen Ordnungen und Mächte" zu bearbeiten. Der sog. Werkplan lieferte eine Kapitelübersicht für seinen Beitrag, die im wesentlichen der dem Verleger brieflich bereits Ende 1913 avisierten Gliederung entsprach. 56 Er zeichnete damit in der Tat die Umrisse einer soziologischen Darstellung, "weIche alle großen Gemeinschaftsformen zur Wirtschaft in Beziehung setzt". Zu der "geschlossenen Theorie und Darstellung" gehörte aber für Weber zweifellos die Entwicklung des methodischen Fundaments, d. h. der handlungstheoretischen Grundbegriffe der verstehenden Soziologie, ohne das die weitere sachliche Darstellung in ihrer Eigenart ja unverständlich bleiben mußte. Demgemäß sah der Werkplan unter Punkt 1 vor: "Kategorien der gesellschaftlichen Ordnungen. Wirtschaft und Recht in ihrer prinzipiellen Beziehung. Wirtschaftliche Beziehungen der Verbände im allgemeinen."
Zwar hatte Weber den Kategorienaufsatz nun publiziert, und es ist kaum anzunehmen, daß er ihn ein zweites Mal in unveränderter Form veröffentlicht hätte. Entscheidendes Motiv für die separate Veröffentlichung mochte sein, daß es sich sozusagen um die allgemeine methodische und begriffliche Grundlegung seiner (der "verstehenden") Soziologie handelte, weIche eben nicht nur für den Grundrißbeitrag, sondern auch für andere von ihm geplante "sachliche Untersuchungen" maßgeblich sein sollte. 57 Daß daneben aber grundrißintem die Entscheidung für eine Ausgliederung des Logik-/Methodologie-Kapitels den Separatdruck veranlaßt haben könnte,58 erscheint unglaubwürdig. Zum einen ist immer - noch im 53 In der Winckelmannschen Edition von "Wirtschaft und Gesellschaft" (Tübingen 51976) abgedr. als erstes Kapitel des zweiten (älteren) Teils (Nachlaß) unter dem Titel "Die Wirtschaft und die gesellschaftlichen Ordnungen", S. 181-198. 54 So im Ergebnis auch Schluchter, Max Webers Beitrag, S. 338 f.; Orihara, Max Webers Beitrag, S. 728 - 730. Zur sachlichen Bestätigung dieser Hypothese siehe Kap. II. 2. 55 Abgedr. bei Winckelmann, Hauptwerk, S. 168-171. 56 Brief an den Verlag vom 30. Dez. 1913, mitgeteilt bei Winckelmann, Hauptwerk, S. 36. 57 Vgl. auch Orihara, Max Webers Beitrag, S. 733. 58 Wolfgang Schluchter führt aber genau dies als Argument ins Feld (Religion und Lebensführung II, S. 607 f.; ders., Max Webers Beitrag, S. 337). Das ist unverständlich, weil doch auch er zugeben muß, daß 1. Weber zwischen Erkenntnistheorie und Methodenlehre sehr wohl unterschieden hat, 2. noch im "Vorwort" des GdS von 1914 - wie schon 1910 gegenüber dem Verleger - die "systematische Erkenntnistheorie der Sozialwissenschaften" einem gesonderten "Beiheft" vorbehalten wird und 3. Weber laut Werkplan von 1914 eine
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"Vorwort" zum ersten Grundriß-Band von 1914 - von einem Sonderheft die Rede, in welches die "systematische Erkenntnistheorie der Sozialwissenschaften" aufzunehmen sei. Ein - wenn auch weniger offenkundiger - Zusammenhang mit dem GdS wurde damit doch - anzunehmenderweise gewollt - beibehalten, anderenfalls hätte sich ja der Hinweis im "Vorwort" erübrigt. 59 Und zum anderen nimmt Weber in der von ihm 1914 ausgearbeiteten neuen Stoffgliederung, die doch in zeitlicher Nähe zu jenem "Vorwort" steht, ein grundbegriffliches Einleitungskapitel ausdrücklich in die Gliederung des eigenen Beitrags auf. Um sozialwissenschaftliche Erkenntnistheorie sollte es dabei mitnichten gehen, sondern um die methodische und primär begriffliche Begründung "sachlicher Untersuchungen". Das Kapitel "Kategorien der gesellschaftlichen Ordnungen" hätte zumindest die im Kategorienaufsatz entwickelten soziologischen Grundbegriffe (oder etwas Vergleichbares) enthalten, das über "Wirtschaft und Recht in ihrer prinzipiellen Beziehung" sachlich vermutlich dem Manuskript über "Die Wirtschaft und die Ordnungen" entsprochen, welches seinerseits auf den Stoffverteilungsplan von 1909/ 10 zurückweist. Darin hatte Weber als erstes Kapitel des eigenen Beitrags über "Wirtschaft und Gesellschaft" - wie gesagt - die Behandlung des Themas "Wirtschaft und Recht (1. Prinzipielles Verhältnis, 2. Epochen der Entwicklung des heutigen Zustands)" vorgesehen. Der dritte Teil der laut Werkplan von 1914 den eigenen Beitrag einleitenden Kategorienlehre: "Wirtschaftliche Beziehungen der Verbände im allgemeinen" fände sein sachliches Äquivalent an sich in dem bei Winckelmann als "Wirtschaftliche Beziehungen der Gemeinschaften (Wirtschaft und Gesellschaft) im allgemeinen" betitelten Kapitel 11 des zweiten (älteren) Teils von "Wirtschaft und Gesellschaft". 60 Sowohl dieses Textfragment als auch "Die Wirtschaft und die Ordnungen" sind über ihre Verweisstruktur außerdem mit dem Kategorienaufsatz verzahnt, also vielleicht Bestandteil jenes ursprünglich einmal zusammenhängenden Manuskripts, von dem Weber in der Einleitungsfußnote des Kategorienaufsatzes spricht. 61 In der einen oder anderen Form hätte der Kategorienaufsatz als "soziologische Begriffslehre" zweifellos Aufnahme in Webers Grundrißbeitrag gefunden, und in der Tat bleibt die Terminologie des ganzen älteren Teils von "Wirtschaft und Gesellschaft" ohne ihn unverständlich. 62 Doch ist es bekanntlich zu der von Weber noch für den Spätsommer des Jahres 1914 geplanten Drucklegung seiner "geschlossenen Theorie und Darstellung" nicht mehr gekommen. Methodenlehre (die dem Logos-Aufsatz doch in irgendeinem Maß hätte entsprechen müssen) dem eigenen Beitrag voranstellt, während es bei der Ausgliederung des Logik-Kapitels bleibt. 59 Vgl. Winckelmann, Hauptwerk, S. 165. 60 In diesem Sinn deuten den Text Mommsen, Entstehung, S. 37; Orihara, Max Webers Beitrag, S. 729 f.; ablehnend Schluchter; Replik, S. 741 f. 61 Vgl. GAWL, S. 427 Fn. 1. 62 Vgl. hierzu auch Orihara, Max Webers Beitrag, S. 730, 732 f., der an der "Kopfstellung" des Kategorienaufsatzes für Webers Grundrißbeitrag festhält und deshalb den Wiederabdruck dort für die wahrscheinliche Disposition Webers bis zum August 1914 hält; diese These ablehnend Schluchter; Replik, S. 741.
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Mit Ausbruch des Krieges unterbrach Weber seine Arbeit daran und begann erst 1917/18 wieder mit einer vollständigen Überarbeitung des "alten Buches". Noch 1917 erwägt er, einen Sammelband seiner logisch-methodologischen Aufsätze, darunter den Kategorienaufsatz "in etwas geänderter (gemeinverständlicher) Form", vorzubereiten. 63 Das wiederum läßt zwei Schlußfolgerungen zu: An den Grundgedanken und -begriffen des Kategorienaufsatzes hält Weber 1917 ebenso unverändert fest wie an denen seiner methodologischen Arbeiten aus dem ersten Jahrzehnt des 20. Jh.s, speziell denen des Objektivitätsaufsatzes. 64 Er möchte den ersteren lediglich in eine verständlichere Form bringen. Das wiederum ist die Formulierung, mit der er die späteren "Soziologischen Grundbegriffe" mit dem früheren Logos-Aufsatz "Über einige Kategorien der Verstehenden Soziologie" ins Verhältnis setzt. 65 Ausdrücklich erklärt Weber, die "Soziologischen Grundbegriffe" aus einer Umarbeitung des Kategorienaufsatzes gewonnen zu haben, die er vielleicht Ende 1917 schon in Angriff genommen hat. Der werkgeschichtliche Befund zum Verhältnis von Kategorienaufsatz und "Soziologischen Grundbegriffen" spricht für die Vermutung, daß die Änderungen des letzteren wesentlich solche terminologischer, nicht substantieller Natur sind. Für die Herrschaftssoziologie muß sich das durch eine vergleichende Gegenüberstellung der sie tragenden Grundbegriffe erweisen. Die Herrschaftssoziologie ist allerdings das einzige Sachkapitel des älteren Teils von "Wirtschaft und Gesellschaft", das Weber selbst noch in einer überarbeiteten Fassung 1920 in den Druck geben konnte. Als Bestandteil von "Wirtschaft und Gesellschaft" ist auch sie eng mit der Entstehungsgeschichte des GdS verbunden. Weber hatte - wie gesehen - bereits früher methodische Überlegungen für seinen "großen" Grundrißbeitrag angestellt und diese dann bis zur Bildung ihm zweckmäßig erscheinender soziologischer Begriffe vorangetrieben. Um nun zu ermessen, was grosso modo an begriffsbildender Vorarbeit für den geplanten "großen" Beitrag "Wirtschaft und Gesellschaft" erforderlich gewesen wäre, ist ein Blick auf die Abschnitts- und Unterabschnittstitel hilfreich: "Wirtschaft und Gesellschaft" lautet der Abschnittstitel, "Wirtschaft und Recht", "Wirtschaft und soziale Gruppen", schließlich: "Wirtschaft und Kultur" betitelt Weber die einzelnen Unterkapitel im Stoffverteilungsplan von 1910. Die auszuarbeitende Kategorienlehre mußte also zunächst das nötige begriffliche Instrumentarium für die soziologische Analyse der gesellschaftlichen Ordnungen und (kollektiven) Akteure bereitstellen. Darüber hinaus mußte sie die allgemeinen Beziehungen zwischen sozialen Ordnungen, speziell: zwischen Rechtsordnung und Wirtschaftsordnung, 63 Briefe an den Verlag vorn 24. Mai und 1. Dez. 1917, sowie vorn 8. Nov. 1919, mitgeteilt bei Winckelmann, Hauptwerk, S. 44, 47. 64 Auf die Idealtypenlehre des Objektivitätsaufsatzes verweist Weber noch in den "Soziologischen Grundbegriffen", WG, S. 4. 65 Vgl. WG, S. 1: "Gegenüber dem Aufsatz im Logos IV (1913, S. 253 ff. [ ... ]) ist die Terminologie tunlichst vereinfacht und daher auch mehrfach verändert, um möglichst leicht verständlich zu sein."
1. Werkgeschichtliche Aspekte von Handlungs- und Herrschaftslehre
49
ganz ebenso zum Gegenstand ihrer Begriffsbildungsarbeit machen wie die allgemeinen Beziehungen der verschiedenen "sozialen Gruppen,,66 zur Wirtschaft. Wie Weber in dem Abschnitt über "Wirtschaft und Recht" Ausführungen über ihr "prinzipielles Verhältnis" vorgesehen hatte, so vielleicht auch in dem Kapitel "Wirtschaft und soziale Gruppen" eine Darlegung der "wirtschaftlichen Beziehungen der ,sozialen Gruppen' im allgemeinen." Diese Überlegung lenkt den Blick auf den Werkplan von 1914. Die dort für seinen Beitrag gebotene Gliederung kündigte ja unter Punkt I ein methodisches Einleitungskapitel an, das thematisch genau jener "kategorialen" Grundlegung entsprach, die - in weiten Teilen zumindest - vielleicht einmal den Ursprungstext des Kategorienaufsatzes gebildet hat. "Kategorien der gesellschaftlichen Ordnungen. Wirtschaft und Recht in ihrer prinzipiellen Beziehung. Wirtschaftliche Beziehungen der Verbände im allgemeinen."
Jedenfalls dürfte Weber in dieser Werkphase (zwischen 1909 und 1912) Teile der Rechtssoziologie, der Religionssoziologie, vermutlich auch solche der Staatsund Herrschaftslehre ausgearbeitet haben. Es ist ein gegenüber dem Verleger auffällig wiederkehrendes Argumentationsmuster, den Abgabetermin für den eigenen Beitrag von der sachlichen Qualität der Beiträge anderer GdS-Autoren abhängig zu machen. So etwa, wenn er Anfang 1913 die Fertigstellung oder nötigenfalls die Überarbeitung des eigenen Beitrags zu "Wirtschaft und Gesellschaft - ind. Staat und Recht" an die Qualität des Bücherschen Einleitungsartikels knüpft. 67 Doch war diese Hinhaltetaktik wohl nur vordergründig ausschlaggebend, die zeitliche Verzögerung vielmehr auch direkt der Tribut, den Weber dem gewachsenen theoretischen und systematischen Anspruch des eigenen Beitrags zollen mußte. Je mehr er eine geschlossene soziologische Theorie der Beziehungen von Wirtschafts- und Gemeinschaftsformen bieten wollte, desto weniger konnte es ihm praktisch darum gehen, die Lücken anderer auszugleichen; seine Soziologie mußte selbständig im Grundriß-Rahmen stehen. Und das war - wie Weber noch in demselben Brief ausdrücklich erkennen läßt der Maßstab für die bis Anfang 1913 ausgearbeiteten Teile, denn sein Artikel gebe eigentlich "eine vollständige soziologische Staatslehre im Grundriß".68 Immerhin dürften wesentliche Teile der "umfassende[n] soziologische[n] Staats- und Herr66 An die Stelle dieses von Weber später nur noch selten gebrauchten Begriffs treten im älteren Manuskript die verschiedenen "Gemeinschaftsformen", in der sog. Ersten Lieferung (und speziell den "Soziologischen Grundbegriffen") wiederum besonders die verschiedenen Verbands typen als Sozialbeziehungsformen. Überhaupt verliert im Spätwerk der Gemeinschaftsbegriff seine frühere grundlegende Bedeutung. 67 Brief an den Verlag vom 23. Jan. 1913, zit. nach Winckelmann, Hauptwerk, S. 30. Büchers Grundrißartikel ist unter dem Titel "Volkswirtschaftliche Entwicklungsstufen", in: GdS, I. Abteilung: Wirtschaft und Wirtschaftswissenschaft, Tübingen 1914, S. 1-18 erschienen. 68 Brief an den Verlag vom 23. Jan. 1913, zit. nach Winckelmann, Hauptwerk, S. 30.
4 Hennes
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II. Methodik der verstehenden Soziologie
schafts-Lehre", wie es im Brief vom 30. Dez. 1913 heißt, in diesem Jahr ausgearbeitet worden sein. Ein Indiz dafür könnte die Differenz in der Wortwahl der erwähnten Briefe sein ("soziologische Staatslehre" im Jan. 1913 bzw. "soziologische Staats- und Herrschafts-Lehre" im Dez. 1913), soweit sie auf die Fixierung von Webers Herrschaftsbegriff hindeutet. 69 Wenn Weber nun am Ende desselben Jahres die Unzulänglichkeit des Bücherschen Beitrags gegenüber dem Verleger als Grund für die Ausarbeitung des eigenen Beitrags deklariert, so war das so wenig "adäquate" Ursache wie sie es zu Anfang des Jahres war. Vielmehr lag der Keim zu einem solchen Programm schon in dem soziologischen "Zuschnitt" der von ihm zu bearbeitenden Partien seit dem Stoffverteilungsplan von 1909/10 und hängt vielleicht mit der in ihrem Kontext verfaßten "methodischen Begründung sachlicher Untersuchungen" zusammen. Daß Weber den im Frühjahr 1914 vorliegenden Artikel Wiesers über Wirtschaftstheorie zum Anlaß nimmt, dem Verleger eine neuerliche Überarbeitungsfrist für das eigene Manuskript abzuringen, da er bei diesem vor allem die Verhandlung bestimmter "soziologische[r] Probleme" verrnisse,70 wirkt wie schon im Falle Büchers sachlich wenig überzeugend. Bücher behandelt die volkswirtschaftlichen Entwicklungsstufen, Wieser die Wirtschaftstheorie: Es erscheint sachlich wenig einleuchtend, wie eine geschlossene und dazu pointiert soziologische Theorie die vermeintlich oder wirklich aufgetretenen Desiderata historisch- bzw. theoretisch-nationalökonomischer Beiträge überzeugend hätte ausgleichen können, ohne ihren methodisch und sachlich eigenständigen Charakter zu verlieren. 7l Webers Beitrag hätte mit anderen Worten auch ohne Büchers, Wiesers etc. "Minderleistungen" kaum anders ausgesehen, wenn er denn - wie schließlich geplant - im September 1914 als druckreifes Manuskript vorgelegen hätte. Weber benötigte einfach noch Zeit und brachte das Manuskript auch zum vorgesehenen neuen Abgabeterrnin nicht mehr zur Druckreife. 72 69 Der Hinweis bei Edith Hanke, Max Webers ,Herrschaftssoziologie'. Eine werkgeschichtliche Studie, in: dies./Wolfgang J. Mommsen (Hg.), Max Webers Herrschaftssozio10gie,Tübingen 2001, S. 19 ff., S. 39 Fn. 86. Jedoch hatte Weber, worauf Hanke selbst hinweist (ebd., S. 22), schon Ende 1910 an Robert Michels' Parteien-Buch (Zur Soziologie des Partei wesens in der modernen Demokratie. Untersuchungen über die oligarchischen Tendenzen des Gruppenlebens, Leipzig 1911) dessen "ungeklärten" Herrschaftsbegriff moniert, sodaß sein eigener Herrschaftsbegriff im Kern vermutlich zu diesem Zeitpunkt feststand (vgl. Brief an Robert Michels vom 21. Dez. 1910, MWG II/6, S. 754-761, hier S. 756, 761). Andererseits spricht er ja bereits Anfang 1913 von den betreffenden Abschnitten seines Grundrißbeitrags als einer" vollständige[n] soziologische[n] Staatslehre". Zum Herrschaftsbegriff weiter unten Kap. II. 2. 70 Briefe an den Verlag vom 21. März und 2. April 1914: "Ich kremple also meine Sache, sobald ich heimkomme, zum 3. Male um und muß einen ganz dicken Abschnitt zufügen", zit. nach Winckelmann, Hauptwerk, S. 38. 71 Dies um so mehr, wenn man bedenkt, wie sorgfältig Weber noch im "Vorwort" zum GdS (1914) den Eindruck zu vermeiden sucht, daß es einen gemeinsamen methodischen Standpunkt der Autoren gebe (vgl. den Wortlaut bei Winckelmann, Hauptwerk, S. 165). 72 Vgl. hierzu und zum Folgenden die Überblicksdarstellung bei Mommsen, Entstehung, S. 39 ff.
1. Werkgeschichtliche Aspekte von Handlungs- und Herrschaftslehre
51
Denn der Krieg unterbrach vorerst alle weiteren redaktionellen und sachlichen Grundriß-Arbeiten. 1915 beginnt Weber gleichsam kompensatorisch bei Siebeck die vergleichenden religionssoziologischen Studien (im "Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik") zu veröffentlichen. Tatsächlich enthält die für die "Wirtschaftsethik der Weltreligionen" verfaßte und erstmals im Septemberheft 1915 des "Archivs für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik" publizierte "Einleitung" auch einen Anhang, in dem Weber der Öffentlichkeit zum ersten Mal seine Herrschaftstypologie mit der Bemerkung präsentiert, daß diese "an anderer Stelle, und zwar speziell unter dem Gesichtspunkt des Zusammenhangs mit der Wirtschaft, systematisch erörtert" werde. 73 Gemeint ist damit zweifellos die Herrschaftssoziologie von "Wirtschaft und Gesellschaft", die in ihrer älteren Fassung wohl schon Anfang, sicher aber Ende 1913 vorgelegen hat. Dem Verleger teilt er freilich im Mai 1916 mit, daß die Fertigstellung des eigenen Grundrißbeitrags bis nach dem Kriege werde warten müssen. 74 Und im Frühjahr 1917:75 "Ginge nur der Krieg zu Ende, daß ich an meinen Grundriß-Band käme! Es ist mir das jetzt einfach nicht möglich innerlich, und ich mache daher lieber an diesen Artikeln über Relig[ionsJ-Soziologie weiter. Aber meine Sehnsucht ist das Andere.,,76
Im November 1917 benachrichtigt er Siebeck über die Berufung nach Wien, wo er im Sommersemester 1918 "sein Buch für den Grundriß" lesen wolle. 77 Vermutlich seit den Wiener Lehrveranstaltungen arbeitete Weber an der Umgestaltung des "alten Buches", suchte die neu erschienene Literatur - soweit möglich - zu berücksichtigen und das Manuskript in eine "straffe", "lehrbuchhafte" Form zu bringen. Es müsse lieferungsweises Erscheinen für "Wirtschaft und Gesellschaft" vorgesehen werden, bedeutet er dem Verleger im Herbst 1919.78 Im September 1919 schickt er Siebeck den Anfang seines Manuskripts; der unmittelbar folgende Teil (Wirtschaftliche Grundbegriffe) bedürfe aber noch einmal der Durchsicht, käme also erst in einigen Wochen. Dem werde der daran anschließende Teil "Wirtschaft und Herrschaft" bald folgen. 79 Und im November 1919 entschuldigt er sich für den zögerlichen Eingang der Fortsetzungen, hält dies allerdings für unvermeidlich, 73 Einleitung (1916), S. 30. 74 Brief an den Verlag [vor dem oder am 10. Mai 1916], mitgeteilt bei Winckelmann, Hauptwerk, S. 43, 61. 75 Brief an den Verlag vom 20. Febr. 1917, zit. nach Winckelmann, Hauptwerk, S. 44. 76 Weber fühlte sich dem Verleger - gegenüber dem er ja den selbstgesetzten Abgabetermin für den eigenen Grundrißbeitrag mehrmals nicht hatte einhalten können - in dieser Sache eben wirklich verpflichtet. Man sollte deshalb diesen Zeilen keine Bedeutung hinsichtlich Webers sachlicher Priorität (die Studien zur "Wirtschaftsethik der Weltreligionen" oder "Wirtschaft und Gesellschaft") zumessen, sondern sie primär aus jenem "Verpflichtungsgefühl" verstehen. 77 Brief an den Verlag vom 26. Nov. 1917, zit. nach Winckelmann, Hauptwerk, S. 45, 61. 78 Briefe an den Verlag vom 25. Sept. und 27. Okt. 1919, mitgeteilt bei Winckelmann, Hauptwerk, S. 46 f. 79 Brief an den Verlag vom 25. Sept. 1919, mitgeteilt bei Winckelmann, Hauptwerk, S. 46. 4*
II. Methodik der verstehenden Soziologie
52
da die vorliegende Fassung genau nachgeprüft werden müsse. Er wolle dem Text eine "lehrhafte" Form geben, "um endlich ,Soziologie' streng sachlich-wissenschaftlich zu behandeln, statt der Dilettanten-Leistungen geistreicher Philosophen".so Aus allem ergibt sich, daß Weber zweifellos nicht beabsichtigte, das "alte Buch" in seiner vorliegenden Form zu veröffentlichen, auch nicht im Sinne einer "geschichtliche[n] Untersuchung unter Benutzung der theoretischen Begriffe als idealer Grenzfalle",sl der eine neu zu schreibende Kategorienlehre vorauszugehen hätte. An die - nach nur geringfügigen Vorgaben im alten Manuskript - hier (in der "Ersten Lieferung") zuerst ausgearbeitete WirtschaftssoziologieS2 hat er die streng typologisch gehaltene, auf eigentlich entwicklungsgeschichtliche Darstellung weitgehend verzichtende HerrschaftssoziologieS3 unmittelbar angeschlossen. Für diese gilt insoweit, was Weber seinen wirtschaftssoziologischen Grundbegriffen vorangesetzt hatte: "Jegliche ,Dynamik' bleibt vorerst noch beiseite."s4 Sie ist - gegenüber der älteren Fassung - nicht nur erheblich gestrafft, sondern auch - v.a. um die Abschnitte "Gewaltenteilung" und "Repräsentation" - ergänzt. Dennoch orientiert sie sich - von charakteristischen Umstellungen ("Feudalismus") und terminologischen Anpassungen ("Soziologische Grundbegriffe") abgesehen - sachlich weitgehend an der alten Vorlage. Doch zeigt die Anordnung zugleich, daß die Werkdisposition von 1914 abgewandelt ist. Die Herrschaftssoziologie folgt nicht mehr wie dort der Darstellung der großen Gemeinschaftsformen von der Hausgemeinschaft bis zum politischen Verband und Staat, sondern führt nach der Klärung der Grundbegriffe des Wirtschaftens mit einem antagonistischen Handlungsmotiv (nicht Zweck-, sondern Wertorientierung, nicht Nutzen-, sondern Legitimitätsprinzip)s5 die Diskussion der Beziehungen zwischen wirtschaftlichen und nicht-wirtschaftlichen "Ordnungen und Mächten" an. Im Anschluß an die "Soziologischen Grundbegriffe" (Kap. I), die "Soziologischen Grundkategorien des Wirtschaftens" (Kap. 11), die "Typen der Herrschaft" (Kap. III) und den nicht mehr abgeschlosseBrief an den Verlag Ende 1919, zit. nach Winckelmann, Hauptwerk, S. 47. GAWL, S. 205. 82 Kapitel 11 der Winckelmann-Edition: "Soziologische Grundkategorien des Wirtschaftens", WG, S. 31-121. 83 Kapitel III der Winckelmann-Edition: "Die Typen der Herrschaft", WG, S. 122 -176. 84 "Soziologische Grundkategorien des Wirtschaftens", Vorbemerkung, WG, S. 31. Ob sich Weber mit der Einschränkung ("noch") entwicklungsgeschichtliche Analysen an anderer Stelle des Werkes vorbehalten wollte und inwiefern dies auch die jüngere Herrschaftssoziologie betroffen hätte, sind an sich werkgeschichtlich und systematisch legitime Fragen. Die Erstherausgeber von "Wirtschaft und Gesellschaft" und ihnen folgend Winckelmann haben das in einer textkritisch m.E. jedoch unhaltbaren Weise für ihre Editionsstrategie geltend gemacht. Zur Widerlegung dieser Editionsstrategie (Drei- bzw. Zweiteilungsthese), die, bei Marianne Weber und Me1chior Palyi angelegt, Winckelmann nur verfeinert hat vgl. Wolfgang Schluchter, ,Wirtschaft und Gesellschaft'. Das Ende eines Mythos, in: ders., Religion und Lebensführung 11, S. 597 ff. 85 Vgl. Schluchter, Religion und Lebensführung 11, S. 623. 80 81
2. Handeln und Herrschaft in der verstehenden Soziologie
53
nen Text über "Stände und Klasssen" (Kap. IV) sollten - wie die internen Verweise ergeben - die großen Gemeinschaftsformen, von der Hausgemeinschaft über den Nachbarschaftsverband vermutlich bis hin zum Staat (vergleichbar dem Aufbau des alten Manuskripts), behandelt werden. Eine systematische Religions-, Rechtsund Staatssoziologie schienen geplant. Eine Gliederung des Ganzen gibt es aber nicht, ist jedenfalls nicht überliefert. Die Herrschaftssoziologie - von Anfang an integraler Bestandteil des Weberschen Grundrißbeitrags86 - rückt also in vollständig überarbeiteter und ergänzter, stark gekürzter und streng lehrbuchhaft gefaßter, dabei auf verändertem grundbegrifflichen Fundament stehender und gleichwohl sachlich weitgehend auf das alte Manuskript gestützter Fassung in die sog. Erste Lieferung von "Wirtschaft und Gesellschaft". Über die Relevanz der terminologischen und konzeptionellen Änderungen von Webers Grundrißbeitrag für die Herrschaftssoziologie87 soll nun der Vergleich der herrschaftssoziologischen Grundbegriffe und speziell des Legitimitätskonzepts in den beiden Kategorienlehren Aufschluß geben.
2. Handeln und Herrschaft in der verstehenden Soziologie Wenn Weber von Herrschaft als auf Befehls- und Fügsarnkeits- (oder: Gehorsams-)Verhältnissen beruhenden "sozialen Beziehungen,,88 spricht, dann geht es auf beiden Seiten - der der "Herrschenden" und der der "Beherrschten" - um bestimmte Handlungsorientierungen und darauf beruhende Handlungsverläufe. Politische Herrschaftsgebilde sind - wie alle Sozialordnungen - handlungsförmig konstituiert, d. h.: "wir (die Betrachtenden) urteilen, daß aufgrund einer bestimmt gearteten Einstellung bestimmter Menschen in einer einem durchschnittlich gemeinten Sinn nach angebbaren Art gehandelt wird und sonst gar nichts. ,,89 Die Handlungs- und Strukturbedingungen sozialer Ordnung in politischen Dauerverbänden90 sowie die Entstehung und Entwicklung unterschiedlicher Strukturformen von (autoritärer) Herrschaft sind Gegenstand der Weberschen Herr86 In dem Brief an den Verleger vom 23. Jan. 1913 bezeichnet er seinen "großen Beitrag" in einer hierauf bezüglichen Wendung ja bereits als eine" vollständige soziologische Staatslehre im Grundriß" (zit. nach Winckelmann, Hauptwerk, S. 30). Und am 30. Dez. 1913 kündigt er ihm bekanntlich eine "geschlossene soziologische Theorie und Darstellung" an, die u. a. "eine umfassende soziologische Staats- und Herrschafts-Lehre" enthalte (ebd., S. 36). 87 Dies betrifft namentlich die Umarbeitung der alten Kategorienlehre in den "Soziologischen Grundbegriffen" und die veränderte Stellung der Herrschaftssoziologie (vor der Rechts- und Religionssoziologie). 88 Von der präzisen Begriffsbestimmung der "Soziologischen Grundbegriffe" (§ 3, WG, S. 13 f.) ist hier zunächst noch abzusehen. 89 WG, S. 14. 90 Auch hier wiederum soll von der speziellen Definition des "politischen Verbands" in den "Soziologischen Grundbegriffen" noch abgesehen werden (vgl. § 16, WG, S. 29).
54
11. Methodik der verstehenden Soziologie
schaftssoziologie. Das grundbegriffliche Instrumentarium dafür entwickelt er im Kategorienaufsatz bzw. in den späteren "Soziologischen Grundbegriffen". Es existieren nun zwei Versionen der Herrschaftssoziologie. Neben dem äußerst material- und umfangreichen, dabei stark entwicklungsgeschichtlich gehaltenen älteren Manuskript einer soziologischen "Staats- und Herrschafts-Lehre'.91 steht das Kapitel III der "Ersten Lieferung" (die jüngere Herrschaftssoziologie) unter dem Titel "Die Typen der Herrschaft". Das letztere ergeht sich über weite Strecken in Begriffsdefinitionen, während historisches Material nur exemplarisch herangezogen wird. Die dynamische Spannung der Verhältnisse, die in den entwicklungsgeschichtlichen Passagen der älteren Herrschaftssoziologie noch deutlich erkennbar war, wird von der hier gebotenen Begriffskasuistik gleichsam sistiert.92 v.a. aber ruht das Kapitel III terminologisch auf den "Soziologischen Grundbegriffen", wäh91 Auch hier sei, da systematisch darauf einzugehen nicht möglich ist, auf den Einfluß hingewiesen, den Georg lellineks "Allgemeine Staatslehre" auf Webers "soziologische Staatslehre" ausgeübt haben mag. Die von lellinek vertretene, von Hans Kelsen abschätzig sog. Zwei-Seiten-Theorie des Staates - in der "Allgemeinen Staatslehre" zu einer "Allgemeinen Soziallehre des Staates" einerseits (ebd., S. 129 ff.) und einer "Allgemeinen Staatsrechtslehre" (ebd., S. 383 ff.) andererseits ausgearbeitet - nahm in gewisser Weise Webers Unterscheidung von soziologischer und juristischer, empirischer und normativer (dogmatischer) Betrachtung von Staat und Recht vorweg. Man kann insoweit Weber als soziologischen, Kelsen (Hauptprobleme der Staatsrechtslehre, Tübingen 1911; ders., Reine Rechtslehre, Wien 21960) als juristischen Testamentsvollstrecker lellineks bezeichnen. Mit dem Vorbehalt freilich, daß die im Blick auf den Gegenstand der Erkenntnis: "Staat" und "Recht", verfolgten differenten Begriffsbildungsinteressen von Soziologie und Rechtstheorie von Kelsen eingeebnet werden, indem er die spezifische rechtstheoretische bzw. rechtsdogmatische Betrachtungsweise "zur Eigenschaft des ,Gegenstandes' der begrifllichen Bearbeitung" hypostasiert. Gegenstand der begrifllichen Bearbeitung ist aber gar nicht das Recht im Kelsenschen nurnormativen Sinn, sowenig wie das Recht in irgendeinem soziologischen Sinn, sondern der Alltagsbegriff von Recht (Weyma Lübbe, Legitimität kraft Legalität. Sinnverstehen und Institutionenanalyse bei Max Weber und seinen Kritikern, Tübingen 1991, S. 58 mit Fn. I). Deshalb kann Weber sagen, die Soziologie verwende die um ihrer Präzision willen eingelebten juristischen Begriffe, unterlege ihnen aber einen soziologischen Sinn, der sich v.a. auch aus den "Vorstellungen", "Gedanken", "Synthesen" empirischer Menschen speise. Zu Kelsens Kritik an lellineks Zwei-Seiten-Lehre: Hans Kelsen, Der soziologische und der juristische Staatsbegriff. Kritische Untersuchung des Verhältnisses von Staat und Recht, ND Aalen 1962, S. 114 ff.; zur Kritik am Staatsbegriff der verstehenden Soziologie: ebd., S. 156 ff.; zur kritischen Bestandsaufnahme aus staatsrechtlicher Sicht: Hans-Joachim Koch (Hg.), Seminar: Die juristische Methode im Staatsrecht. Über Grenzen von Verfassungs- und Gesetzesbindung, Frankfurt a.M. 1977, S. 63 ff., 67 ff.; zum Rezeptionsverhältnis Weber I Kelsen: Norberto Bobbio, Max Weber und Hans Kelsen, in: Manfred Rehbinder I Klaus Peter Tieck (Hg.), Max Weber als Rechtssoziologe, Berlin 1987, S. 109 ff.; Fritz Loos, Max Webers Wissensehaftslehre und die Rechtswissenschaft, in: Rehbinder/Tieck (Hg.), Max Weber als Rechtssoziologe, S. 169 ff., hier S. 180, 182 f. 92 Nach Otto Hintze spielt die Kategorie der Entwicklung in Webers Werk eine nur untergeordnete Rolle; der Verfassungshistoriker müsse Webers Begriffssystematik um die Entwicklungsdimension vertiefen (Max Webers Soziologie (1926), in: ders., Soziologie und Geschichte. Gesammelte Abhandlungen zur Soziologie, Politik und Theorie der Geschichte, hg. von Gerhard Oestreich, Göttingen 21964, S. 135 ff., hier S. 144). Diese These hat - nach dem Gesagten - nur relative Berechtigung.
2. Handeln und Herrschaft in der verstehenden Soziologie
55
rend die ältere Herrschaftssoziologie begrifflich ohne den Bezug zum Kategorienaufsatz unverständlich bleibt. 93 Ein Vergleich der beiden Kategorienlehren94 muß zeigen, ob Webers Diktum zutrifft, es sei gegenüber dem Kategorienaufsatz in den "Soziologischen Grundbegriffen" nur "die Terminologie tunliehst vereinfacht und daher auch mehrfach verändert, um möglichst leicht verständlich zu sein. ,,95 Und ob, dementsprechend, die Annahme einer substantiellen Konkordanz von älterer und jüngerer Herrschaftssoziologie - von der Erweiterung und einer wichtigen Umstellung (Feudalismus) abgesehen - auch auf begrifflicher Ebene haltbar ist. Die viel - aber leider meist ohne Bezug zur materialen historischen Soziologie Max Webers - diskutierte Frage, ob die jüngere oder die ältere Fassung der soziologischen Grundbegriffe als differenzierter oder weiterführend zU betrachten sei,96 interessiert hier weniger unter theoriestrategischen Gesichtspunkten, denn im Hinblick auf die mit seiner Begriffsbildung von Weber verfolgten soziologischen Zwecke. Bereits eine schematische Gegenüberstellung läßt vermuten, daß die "Soziologischen Grundbegriffe" nach Aufbau und Inhalt aus dem Kategorienaufsatz hervorgehen. Zugleich wird dabei erkennbar, wie sie gegenüber diesem begrifflich verändert, ausgearbeitet und insgesamt typologisch und kasuistisch gefaßt sind. Werkgeschichtlich bekommt unter dieser Annahme die Hypothese auch sachlich einiges Gewicht, daß zur Urfassung des Kategorienaufsatzes das Textfragment über "Die Wirtschaft und die Ordnungen,,97 gehört haben könnte. Im § 4 der "Soziologischen Grundbegriffe" führt Weber unter den nicht-normativen Ordnungen sozialen Han93 Die Plausibilität der sog. ,,zweiteilungsthese", nach der die entwicklungsgeschichtlichen Untersuchungen der älteren Teile durch einen begriffsgenerierenden Teil eingeleitet werden, stößt angesichts des Überlieferungsstandes auf zumindest terminologische Schwierigkeiten, wie Schluchter; Max Webers Beitrag, S. 334/336 und Orihara, Max Webers Beitrag, S. 727 f. überzeugend nachgewiesen haben. 94 Der Vergleich konzentriert sich auf die grundbegrifflichen Abschnitte, spart also logische Erörterungen aus. Vgl. auch Klaus Lichtblau, "Vergemeinschaftung" und "Vergesellschaftung" bei Max Weber. Eine Rekonstruktion seines Sprachgebrauchs, in: Zeitschrift für Soziologie, 29 (2000), S. 423 ff. 95 WG, S. I, Vorbemerkung. Vielleicht fühlte sich Weber zu einer Umformulierung aufgefordert, weil einige seiner namhaften wissenschaftlichen Korrespondenten seinerzeit mangelnde Verständlichkeit des Kategorienaufsatzes moniert hatten. 96 Wolfgang Schluchter schreibt dieses Prädikat den "Soziologischen Grundbegriffen" als reifster Ausformulierung seiner soziologischen Handlungs- und Strukturtheorie zu, weil erst sie die für die gesamte Begriffskasuistik entscheidende Handlungstypologie enthalte (Handlungs- und Strukturtheorie nach Max Weber, in: Berliner Journal für Soziologie, 10 (2000), S. 125 ff., hier S. 129 f.). Dagegen sieht Habermas, Theorie des kommunikativen Handeins I, S. 377 ff. im Kategorienaufsatz die differenziertere, in den "Soziologischen Grundbegriffen" hingegen die engere Fassung. Mit dem Hinweis auf Webers Selbstdeutung der "Soziologischen Grundbegriffe" als vereinfachte und deshalb z. T. veränderte Variante des Kategorienaufsatzes weist Lichtblau, "Vergemeinschaftung" und "Vergesellschaftung", S. 439 wiederum zu Recht auf das wechselseitige Erklärungspotential hin, das die bei den Fassungen der Kategorienlehre füreinander besitzen. 97 Vgl. WG, S. 181 ff.
56
11. Methodik der verstehenden Soziologie
delns den "Brauch", die "Sitte", schließlich die (gleichartige) "Interessenlage" auf. 98 Eine begriffliche Klärung des soziologisch, etwa für die Entstehung von Verbindlichkeitsvorstellungen ("Konvention" oder "Recht") oder für die Bildung "sozialer Verkehrsgemeinschaften" bzw. "ethnischer Gemeinsamkeitsgefühle",99 so grundlegend wichtigen Tatbestandes der Sitte fehlt im Kategorienaufsatz, 100 während Weber die Sitte im Text über "Die Wirtschaft und die Ordnungen" ausführlich behandelt. 101 Dasselbe gilt für die durch zweckrationale Orientierung an gleichartigen Interessen bewirkte soziale Ordnung,102 wenngleich diese am Beispiel der Tauschvorgänge auf dem Markt im Kategorienaufsatz zur Demonstration der Kategorie des "Einverständnisses" Verwendung finden. 103 Ähnliches läßt sich für die im § 6 der "Soziologischen Grundbegriffe" als Recht und Konvention unterschiedenen "äußerlich garantierten" Ordnungen sagen: Es gibt keine Parallelstellen in der publizierten Fassung des Kategorienaufsatzes, 104 wohl aber behandelt der Text über "Die Wirtschaft und die Ordnungen" diese für das soziale Handeln grundlegend wichtigen normativen Ordnungen. 105 Zunächst also ein Überblick über Aufbau und Inhalt von Kategorienaufsatz (in Verbindung mit "Die Wirtschaft und die Ordnungen"I06) und "Soziologischen Grundbegriffen" (Tabelle).
Vgl. WG, S. 15. Vgl. WG, S. 186,236 f., 241 f. 100 Außer dem gelegentlichen Hinweis auf die durch" Geltungs-Einverständnis" (im Sinne einer generalisierten Normerwartung) sich von der bloßen Einge1ebtheit der Sitte unterscheidende Konventionalregel (GAWL, S. 460). "Geltungs-Einverständnis" ist hier sorgfaltig zu unterscheiden von "Einverständnisgeltung". Das Geltungs-Einverständnis meint die verbreitete (subjektive) Überzeugung von der objektiven Geltung solcher Regeln, die Einverständnisgeltung lediglich den Bestand verhaltensre1evanter generalisierter Erwartungsinhalte, also: die "empirische Geltung" bestehender Einverständnisse. Dazu weiter unten. 101 Vgl. WG, S. 187 ff. 102 Vgl. WG, S. 192, 194. 103 Vgl. GAWL, S. 453, 459. 104 Mit Ausnahme einer - vielleicht für die Publikation des Kategorienaufsatzes eingeschobenen - erläuternden Anmerkung über die nach der Art ihrer äußeren Garantien unterschiedenen Ordnungstypen "Recht" und "Konvention" (vgl. GAWL, S. 445 Fn. 1). Auch Webers Vorstellung vom Recht als garantierter normativer Ordnung macht - wie andernorts die soziologische Rezeption der Kategorien des "Reflexrechts" und des "subjektiven öffentlichen Rechts" (z. B. WG, S. 183, 387) - die Bedeutung von Georg Jellinek sichtbar, der in: Allgemeine Staatslehre, S. 334 ff., 788 ff. seine Lehre von den sozialen Garantien des Rechts entwirft. 105 Vgl. WG, S. 181 ff., 187 ff. 106 Die bisherigen Editionen von "Wirtschaft und Gesellschaft" haben diesen Nachlaßtext verschieden angeordnet (zuletzt: WG, S. 181 ff.). Da er möglicher Bestandteil der ursprünglichen Fassung des Kategorienaufsatzes ist, wird er für den Vergleich mit herangezogen. 98
99
2. Handeln und Herrschaft in der verstehenden Soziologie
57
Tabelle Aufbau der Kategorienlehren Max Webers
Kap.
Kategorien (1913)
§§
Soziologische Grundbegiffe (1920)
IV.
Gemeinschaftshandeln
2
soziales Handeln Typen der Handlungsorientierung
V.
Gesellschaftshandeln; geltende Ordnung
3 5
soziale Beziehung geltende Ordnung
VI.
Einverständnishandeln; geltendes Einverständnis
6 7
Ge1tungsgarantien Geltungsgründe
VI.
Arten der EinverständnisVergemeinschaftung (,Kampf') und Vergesellschaftung
8
VII.
Anstalt Verband Satzung Herrschaft
9
Arten sozialer Beziehungen ,Kampf' Vergemeinschaftung und Vergesellschaftung
12 13 15 16
Verband Satzung Anstalt Herrschaft, Herrschaftsverband
17
politischer Verband Staat
§§
Wirtschaft und Ordnungen (1910/13)
1 2
Rechtsbegriff Recht und Konvention
6
Rechtsbegriff Recht und Konvention
2
Recht, Konvention, Sitte und Interessenlage
4
soziale Ordnungstypen: Brauch, Sitte, Interessenlage
Das für die Soziologie, die verstehende Soziologie, relevante, weil besonders verständliche Handeln ist für Weber das an dem (oder den) anderen ausgerichtete Akteurverhalten. Solches Handeln heißt "Gemeinschaftshandeln"lo7 bzw. "soziales Handeln".108 Dieses Handeln orientiert sich insbesondere an den Erwartungen, die Ego über das Verhalten von Alter hat. 109 Da Alter ebenso Erwartungen bildet, können sich die Erwartungen von Ego auch auf Erwartungen von Alter beziehen. Die wechselseitige Orientierung an Erwartungen des anderen beinhaltet die mögliche Instabilität der sozialen Ordnung, deren Vermeidung schon im Kategorienaufsatz wesentlich auf die normative Erwartungsstabilisierung durch "Einverständnisse" und "gesatzte Ordnungen" zurückgeführt wird. 110 107 108
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In der Terminologie des Kategorienaufsatzes, GAWL, S. 441,442. In den "Soziologischen Grundbegriffen", WG, S. 11. GAWL, S. 441; WG, S. 12. Vgl. dazu Gephart, Gesellschaftstheorie und Recht, S. 479 f.
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11. Methodik der verstehenden Soziologie
Neben der die Erfolgschancen für die eigenen Handlungszwecke an dem erwarteten Verhalten anderer abschätzenden zweckrationalen Handlungsorientierung kennt Weber im Kategorienaufsatz wie in den "Soziologischen Grundbegriffen" die Orientierung an dem bewußt geglaubten Eigenwert eines bestimmten Verhaltens (z. B. die Gehorsamspflicht des Kindes gegenüber den Eltern, des Beamten gegenüber seinem (Dienst-)Herrn; der Mitglieder einer religiösen Gemeinschaft gegenüber bestimmten ethischen Postulaten) ohne Rücksicht auf die konkreten ErfolgschancenYl Das "wertrational"ll2 orientierte Handeln gilt aber als soziales bzw. Gemeinschafts-Handeln erst dann, wenn es - wie Weber sagt - "sinnhaft" auf das Verhalten anderer bezogen ist. 113 Das wertorientierte Verhalten des Kindes oder Sektenmitglieds beispielsweise wird dann erst im koordinierungsrelevanten Handlungskontext Familie bzw. religiöse Gemeinschaft und auf Grund der von diesen Gemeinschaften jeweils geltend gemachten oder für verbindlich gehaltenen utilitaristischen, ethischen oder religiösen Maximen zum sozialen Handeln. Darüber hinaus nennt Weber in den "Soziologischen Grundbegriffen" als Grenzfälle überhaupt sinnhafter, zugleich jedoch empirisch außerordentlich häufiger Handlungsmotivierung das affektuelle und das traditionale Verhalten, also die Orientierung des Hande1ns durch aktuelle Affekte und Gefühlslagen oder durch Verhaltensroutinen, deren ordnungskonstituierende Wirkung als "Brauch" und "Sitte" definiert werden. 114 Handeln - hält Weber ausdrücklich fest - ist in der weit überwiegenden Mehrzahl der Fälle gar nicht oder nur unklar sinnhaft orientiert, sondern überwiegend gefühls- und gewohnheitsmäßig determiniert: "Das reale Handeln verläuft in der großen Masse seiner Fälle in dumpfer Halbbewußtheit oder Unbewußtheit seines ,gemeinten Sinns'. Der Handelnde ,fühlt' ihn mehr unbestimmt, als daß er ihn wüßte oder ,sich klar machte', handelt in der Mehrzahl der Fälle triebhaft oder gewohnheitsmäßig. Nur gelegentlich, und bei massenhaft gleichartigem Handeln oft nur von Einzelnen, wird ein (sei es rationaler, sei es irrationaler) Sinn des Handeins in das Bewußtsein gehoben. Wirklich effektiv, d. h. voll bewußt und klar, sinnhaftes Handeln ist in der Realität stets nur ein Grenzfall." 115
Die sozialen Handlungstypen sind deshalb lediglich theoretisch konstruierte Idealtypen, denen sich das reale Handeln hinsichtlich seiner Sinnbezogenheit in mehr oder minder starkem Maße annähert. Und doch sind Handlungsroutinen, wie sie sich beispielhaft in "Sitten" und "Gewohnheiten" niederschlagen, wichtige GAWL, S. 442; WG, S. 12. Die Kategorie der "Wertrationalität" findet sich allerdings erst in den "Soziologischen Grundbegriffen". Im Kategorienaufsatz ist lediglich von "wertorientiertem" Gemeinschaftshandeln die Rede. 113 Vgl. WG, S. 11; GAWL, S. 442 und S. 429: "Das für die verstehende Soziologie spezifisch wichtige Handeln nun ist im speziellen ein Verhalten, welches 1. dem subjektiv gemeinten Sinn nach auf das Verhalten anderer bezogen, 2. durch diese seine sinnhafte Bezogenheit in seinem Verlauf mitbestimmt und also 3. aus diesem (subjektiv) gemeinten Sinn heraus verständlich erklärbar ist." 114 Vgl. WG, S. 15; "Die Wirtschaft und die Ordnungen", ebd., S. 187. 115 WG, S. 10. 111
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2. Handeln und Herrschaft in der verstehenden Soziologie
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Ausgangspunkte kontexttypischer, regelmäßiger Akteurhandlungen, die den dauerhaften Bestand sozialer, speziell auch: politischer Gemeinschaften garantieren. 116 Das gilt in entwicklungsgeschichtlicher Perspektive zumal für alle frühen Stadien der Gemeinschaftsbildung: ,,Je weiter rückwärts, desto umfassender ist die Art des Handeins und speziell auch des Gemeinschaftshandelns ausschließlich durch die Eingestelltheit auf das ,Gewohnte' rein als solches bestimmt, scheinen Abweichungen davon äußerst beunruhigend [und] auf den Durchschnittsmenschen psychisch ganz ähnlich zu wirken wie Störungen organischer Funktionen und [scheint die Aufrechterhaltung des Gewohnten] hierdurch garantiert zu sein." 117
Andererseits kann die bewußte Orientierung an der Sitte Vorstellungen von ihrer normativen Verbindlichkeit evozieren. Aus der zunächst gewohnheitsmäßig befolgten Sitte können demnach (konventionelle und Rechts-)Normvorstellungen entstehen, die den wechselseitigen Verhaltenserwartungen der Handelnden in dem von der - nunmehr geltenden - Sitte geregelten Gebiet besondere Stabilität verleihenYs Weber bezeichnet den Umstand, daß sich das Handeln in verschiedensten koordinierungsrelevanten "Umwelten" (Freundschaft, Markt, erotische Beziehung) an generalisierten ("gültigen" und in diesem Sinn: objektiv verbindlichen) Erwartungen orientiert, im Kategorienaufsatz als ,,Einverständnis,,.119 Er definiert: "Unter ,Einverständnis' nämlich wollen wir den Tatbestand verstehen: daß ein an Erwartungen des Verhaltens anderer orientiertes Handeln um deswillen eine empirisch ,geltende' Chance hat, diese Erwartungen auch erfüllt zu sehen, weil die Wahrscheinlichkeit objektiv 116 Über die allgemeine "gemeinschaftsbildende" Bedeutung der Sitte vgl. bes. das Kap. IV des älteren Teils von "Wirtschaft und Gesellschaft" über ethnische Gemeinschaftsbeziehungen, WG, S. 234 ff. 117 WG, S. 188 (Ergänzungen von Winckelmann). 118 Vgl. WG, S. 188, 191 f., 195. Und WG, S. 15: "Überall ist das tatsächlich Hergebrachte der Vater des Geltenden gewesen", eine Variation der Iellinekschen Fonnel von der "nonnativen Kraft des Faktischen" (Allgemeine Staatslehre, S. 332 ff., bes. 338 f., 352), wie gemeinhin angenommen wird. Aber schon Georg Simmel hat im 1892 erschienen ersten Band seiner "Einleitung in die Moralwissenschaft" die eigentümliche Komplementarität von nonnativer Aufladung eingeübter Verhaltensweisen und kognitiver Diffundierung sowohl für die kollektive wie für die individuelle Moral bemerkt. Man könne beobachten, schreibt er, wie "grade solche äußerlichen Vorschriften, deren Gründe vollkommen ins Unbewusste gesunken sind, mit der unausweichlichsten Gewalt wirken: Ritualgesetze, Umgangsfonnen, Sitten, deren Sinn längst durch veränderte Lebensbedingungen hinfällig geworden und die nur noch als Ueberlebsel einer nicht mehr angebbaren Zweckmäßigkeit fortbestehen" (GSG 3, Bd. 1, Frankfurt a.M. 1989, S. 35). Solche Verhaltensregeln gewännen, gerade weil sie "der Berührung mit dem Flusse lebendiger Entwicklung entzogen" seien "besondre Festigkeit und jenen dämonischen Reiz des Dogmatischen, für das der Verstand keinen Grund kennt, aber einen um so tieferen und mystischeren annimmt. Was durch Gründe gestützt wird, kann durch Gründe zu Fall gebracht werden, [ ... ] was keine Stützen hat und braucht, dem können keine fortgezogen werden" (ebd.). Und in vergleichbarer Weise nehme für den Einzelnen "der Trieb zu einem Thun, der sich durch lange Gewöhnung gebildet hat und dessen ursprüngliche Zweckmässigkeit in Vergessenheit gerathen ist, gewissennaassen den Gefühlston einer Pflicht gegen sich selbst, eines Sollens, an" (ebd., S. 42). 119 Vgl. GAWL, S. 452 ff.
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11. Methodik der verstehenden Soziologie besteht: daß diese anderen jene Erwartungen trotz des Fehlens einer Vereinbarung als sinnhaft ,gültig' für ihr Verhalten praktisch behandeln werden.,,120
Im Hinblick auf die logische Anordnung der Kategorien Einverständnis-, Gesellschafts-, Verbands- und Anstaltshandeln ist die Formulierung "trotz des Fehlens einer Vereinbarung" zumindest mehrdeutig. Sie kann entweder aussagen: ein Einverständnis im Sinn handlungsleitender generalisierter Erwartungen besteht immer (erst) dann, wenn keine Vereinbarung vorliegt. Oder: ein Einverständnis im Sinn handlungsleitender generalisierter Erwartungen besteht auch dann, wenn keine Vereinbarung vorliegt. Die erste Lesart scheint es zu stützen, wenn Weber die beiden Ordnungstypen Einverständnis und Vereinbarung gelegentlich als Antipoden präsentiert: "Dagegen das ,geltende' Einverständnis in seinem reinen Typus enthält nichts mehr von Satzung oder, speziell, von Vereinbarung.'d21 Der begriffslogischen Anordnung von Einverständnis-, Gesellschafts-, Verbands- und Anstaltshandeln entspricht jedoch die alternative Auslegung, da für diese Handlungsformen das Einverständnis ersichtlich das genus proximum ist. Unmißverständlicher wäre es deshalb, statt "trotz des Fehlens einer Vereinbarung" zu formulieren: ,unabhängig von der Existenz einer entsprechenden Vereinbarung', so daß jedenfalls auch diese - als rationaler (und ggf. ausdrücklicher) Spezialfall - unter den Begriff des Einverständnisses subsumierbar bliebe. Von der empirischen Geltung der "einverständlichen" Erwartungen ist solange auszugehen, als die Chance für ein - wie immer motiviertes - einverständnisgemäßes oder zwar einverständniswidriges, aber doch am Einverständnis orientiertes Verhalten in nennenswerter Weise gegeben iSt. 122 Allerdings besteht - wie Weber sagt 123 - zwischen subjektiven Akteurerwartungen und objektiver Geltungschance das Verhältnis gegenseitig adäquater Verursachung. Das Einverständnis hat eine objektive Geltungschance, weil die Einzelnen subjektiv im Durchschnitt ihr Handeln daran orientieren, was sie umgekehrt deshalb tun, weil die objektive Geltungschance besteht. Die Erwartungssicherheit steigt dagegen (subjektiv und objektiv) mit der Vorstellung der Akteure, durch die EinverständnisErwartungen normativ gebunden zu sein, "da die ,Erwartungen' [ ... ] um so mehr objektiv ,begründet' sind, je mehr mit Wahrscheinlichkeit darauf gezählt werden kann, daß die ,Einverstandenen' durchschnittlich ein (subjektiv) ,einverständnisgemäßes' Handeln als für sie (gleichviel warum) ,verbindlich' ansehen werden.,,124 120 GAWL, S. 456. 121 GAWL, S. 458. 122 Die "Chance" ordnungsorientierter Handlungsverläufe als definiens des soziologischen Geltungsbegriffs weist diesen als probabilistischen Begriff aus. Zu den juridischen Wurzeln des Normgeltungsbegriffs der verstehenden Soziologie und seiner logischen Struktur vgl. Weyma Lübbe, Der Normgeltungsbegriff als probabilistischer Begriff. Zur Logik des soziologischen Normbegriffs, in: Zeitschrift für philosophische Forschung, 44 (1990), S. 583 ff., bes. 593 ff. 123 Vgl. GAWL, S. 456.
2. Handeln und Herrschaft in der verstehenden Soziologie
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Die auf Einverständnis beruhende Herrschaft beispielsweise, die mehr oder minder berechtigte Erwartung also, für Anordnungen ("Befehle") Gehorsam zu finden bzw. dafür Gehorsam zu schulden, kann empirisch u. U. ausschließlich durch die Furcht der Beherrschten vor der Sanktions gewalt des oder der Herrschenden bestehen. Der Weg vom bloßen Herrschafts-Einverständnis zum Legitimitäts-Einverständnis führt über subjektive Verbindlichkeitsvorstellungen bei den Beherrschten, die ihrerseits Gegenstand der Erwartungsbildung werden. 125 Mit anderen Worten: Ein Legitimitäts-Einverständnis gilt empirisch dann und solange, wie die subjektive Verbindlichkeitsvorstellung gegenüber einer faktischen Befehlsgewalt als generalisierte Erwartung existiert und insbesondere von denen in Rechnung gestellt werden muß, die sie nicht teilen. Das Einverständnis 126 drückt also zunächst nur 124 GAWL, S. 457. Das "gleichviel warum" umschreibt zunächst unbestimmt die in § 7 der "Soziologischen Grundbegriffe", WG, S. 19 f. typologisch unterschiedenen Geltungsgründe der legitimen Ordnung, deren genus proximum wiederum der im § 5 als Begriffsmerkmal der legitimen Ordnung genannte "Legitimitäts-Glauben" ist. 125 Zum Herrschafts-Einverständnis vgl. GAWL, S. 456; zum "Legitimitäts-Einverständnis" vgl. ebd., S. 470. Die Gründe, aus denen einer Herrschaft Legitimität zugeschrieben wird, die Geltungsgründe der Herrschaft bilden das entscheidende Ordnungskriterium der Weberschen Herrschaftslehre. 126 Ausdrücklich wird von Weber die gedankliche Verbindung der Einverständnis-Kategorie mit Solidarität, Zustimmung oder stillschweigender Vereinbarung zurückgewiesen (vgl. GAWL, S. 457, 462 f., 471). Das ist insbesondere gegenüber Habermas, Theorie des kommunikativen Handeins I, S. 355, 357 festzuhalten, der das Einverständnis - ganz unweberianisch - in begründungstheoretischer Absicht ("rationales Einverständnis" im Sinne von Verständigung) interpretiert. Zu Recht monieren dies auch Gephart, Gesellschaftstheorie und Recht, S. 482 und Lichtblau, "Vergemeinschaftung" und "Vergesellschaftung", S. 439. Die Kontraindizierung gegenüber dem alltags sprachlichen Bedeutungsgehalt beeinträchtigt freilich im Falle des Einverständnisses die Verständlichkeit des Kategorienaufsatzes in besonderem Maße und mag mit dazu beigetragen haben, in den "Soziologischen Grundbegriffen" auf den Einverständnis-Begriff zu verzichten. - Denkbar ist, daß es sich beim "Einverständnis" um einen bei Ferdinand Tönnies entlehnten Begriff handelt, den Weber freilich handlungstheoretisch umprägt. Ferdinand Tönnies hatte die [g]egenseitig-gemeinsarne, verbindende Gesinnung, den "einige[n] Wille[n] einer Gemeinschaft" als "Verständnis (consensus)", gelegentlich auch als "stillschweigendes Ein-verständnis" bezeichnet (Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe der reinen Soziologie, Berlin 21912, S. 23). Man könne es mit einern Vertrag vergleichen, "aber nur, um sogleich den Kontrast desto energischer hervorzuheben (ebd., S. 26). Denn jede Vereinbarung beruhe auf zweiseitigen, für die Zukunft versprochenen bzw. akzeptierten Handlungen, sei also eine auf unterschiedliche Art herbeigeführte Einigung, die als solche auch stillschweigend zustande kommen könne. Das (Ein-)Verständnis aber "ist essentiell schweigend: weil sein Inhalt unaussprechlich, unendlich, unbegreiflich ist" (ebd.). Dieses präexistente und inkommunikable Gemeinschaftsbewußtsein wird bei Weber zur handlungstheoretisch verwertbaren Konsensfiktion, deren begriffliche Positionierung gegenüber der Vereinbarung (Vertrag) auch deshalb an Tönnies erinnert, weil sie von Webers eigener Begriffssystematik nicht getragen wird. Bis hin zur begriffssystematischen Entgegensetzung von "Einverständnis" und "stillschweigender Vereinbarung" ließe sich demnach die Rezeption Tönniesscher Kategorien verfolgen. Doch was in dessen "Begriffsontologie" durchaus Sinn macht, führt bei Weber trotz aller Betonung "fließender Übergänge" zwischen den typologisch unterschiedenen Handlungsorientierungen zu begriffslogischen Inkonsistenzen. Das übersieht Lichtblau, "Vergemeinschaftung" und "Vergesellschaftung", S. 431 Fn. 7,
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H. Methodik der verstehenden Soziologie
eine objektive (und durchschnittlich subjektiv erwartete) Chance aus, daß Menschen ihr Verhalten zueinander an zeitlich, sozial und sachlich generalisierten Erwartungen orientieren. In diesem Sinn gilt es empirisch. Einverständnismäßig kann eine Sitte wie eine konkrete Herrschaft bestehen, aber auch etwa eine Freundschaft, ein Kampf, ein politisches, ökonomisches oder erotisches Konkurrenzverhältnis. Entscheidend ist, daß Sozialbeziehungen durch generalisierte Akteurerwartungen strukturiert sind, die hingegen nicht notwendig sinnkongruent sein müssen. Dem Einverständnis des Kategorienaufsatzes entspricht nun in den "Soziologischen Grundbegriffen" der Begriff der sozialen Beziehung. Diese definiert Weber im § 3: "Soziale ,Beziehung' soll ein seinem Sinngehalt nach aufeinander gegenseitig eingestelltes und dadurch orientiertes Sichverhalten mehrerer heißen. Die soziale Beziehung besteht also durchaus und ganz ausschließlich: in der Chance, daß in einer (sinnhaft) angebbaren Art sozial gehandelt wird, einerlei zunächst: worauf diese Chance beruht.,,127
Wie das Einverständnis verhält sich die soziale Beziehung begrifflich indifferent gegenüber der Motiv-Seite der Akteurorientierung. Dem Herrscher kann primär aus Furcht gehorcht, die Sitte überwiegend gewohnheitsmäßig (traditional) oder zur Vermeidung erwartbarer Unbequemlichkeiten wegen ihrer tatsächlich verbreiteten Übung (zweckrational) beachtet werden,128 und normative Vorstellungen der Einverstandenen sind nur ein weiteres (allerdings besonders wichtiges) Handlungsmotiv. Das geltende Einverständnis ist zunächst lediglich eine "objektive", auf durchschnittlichen subjektiven Erwartungen der Handelnden basierende Ablaufwahrscheinlichkeit für ein aufeinander eingestelltes Gemeinschaftshandeln / soziales Handeln. 129 Auf seiten der Akteure besagt ,,[d]ie ,geltende' Orientiertheit an ,Erwartungen' [ .... ] beim Einverständnis [ ... ] lediglich: daß der eine durchschnittlich sein eigenes Verhalten auf einen bestimmten mehr oder minder häufig als ,gültig' angenommenen, dabei aber vielleicht höchst irrationalen Sinngehalt des (inneren oder äußeren) Verhaltens des anderen einstellen zu können die Chance hat. " 130
Sinnentsprechend heißt es über die soziale Beziehung, sie bestehe "ausschließlich und lediglich in der Chance, daß ein seinem Sinngehalt nach in angebbarer Art aufeinander eingestelltes Handeln stattfand, stattfindet oder stattfinden wird." 131 432 - wohl auch deshalb, weil seine Rekonstruktion der Webersehen Terminologie mit der an Tönnies orientierten Leitdifferenz Vergemeinschaftung I Vergesellschaftung eine m.E. weder für den Kategorienaufsatz noch für die "Soziologischen Grundbegriffe" entscheidende Begriffsachse wählt. 127 WG, S. 13. 128 Vgl. WG, S. 16. 129 Vgl. GAWL, S. 456. Dort auch Webers Bemerkungen über das Verhältnis gegenseitig adäquater Verursachung zwischen subjektiven Akteurerwartungen und objektiver Geltungschance des Einverständnisses. 130 GAWL, S. 459.
2. Handeln und Herrschaft in der verstehenden Soziologie
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Die dem Einverständnis-Begriff entsprechende soziale Beziehung ist weiterhin Oberbegriff einer ganzen Reihe von ihr als Unterfälle zugeordneten Sozialbeziehungsfonnen. Das Einverständnis scheint prima facie diese Rolle nicht spielen zu können. Zwar kann es irrationale (etwa bei Freundschaft und Feindschaft), konkret zweckrationale 132 oder auch (u. U. rationale) prinzipienartige Erwartungsinhalte I33 gleichennaßen umfassen. Seine begriffliche Grenze verlegt Weber jedoch ausdrücklich an die gesatzte Ordnung. 134 Wo nämlich die Inhalte der generalisierten Erwartungen (rational) "vereinbart" oder "oktroyiert", in beiden Fällen jedenfalls "gesatzt" sind,135 spricht Weber im Kategorienaufsatz von einer "Vergellschaftung", bei dem satzungsorientierten Handeln vom "Gesellschaftshandeln".136 Vergesellschaftung und Gesellschaftshandeln auf der einen, Einverständnis-Vergemeinschaftung und Einverständnishandeln auf der anderen Seite bilden also im Kategorienaufsatz scheinbar begriffliche Antipoden, während sie in den "Soziologischen Grundbegriffen" die typisierten Fonnen sozialer Beziehungen unter sich aufteilen. 137 Folgerichtig avanciert der Begriff der sozialen Beziehung hier zum allgemeinen Typus des wechselseitig erwartungsorientierten sozialen Handeins, dessen charakteristische Fonnen: Kampf (§ 8), Vergemeinschaftung und Vergesellschaftung (§ 9), Verband (§ 12) etc. als seine Unterfälle entwickelt werden. Daß 131 WG, S. 13. Keineswegs ist also - wie Lichtblau, "Vergemeinschaftung" und ,,vergesellschaftung", S. 437 meint - das Reziprozitätsverhältnis in der Handlungsorientierung der Akteure eine Erweiterung der grundbegrifflichen Handlungsterrninologie, denn bereits das "Einverständnis" des Kategorienaufsatzes enthält diesen Modus der reziproken Handlungskoordinierung. Das Einverständnis taucht deshalb auch in den Soziologischen Grundbegriffen nicht erst auf der Ebene der "legitimen Ordnung" auf. Und schon gar nicht gehen in dieser Kategorie "Geltungs-Einverständnis' bzw. [ ... ] ,Legitimitätseinverständnis '" (ebd., S. 438) auf, mit welchen Kategorien Weber vielmehr differente Arten der jeweiligen Handlungskoordination bezeichnet. Dazu weiter unten. 132 Weber erwähnt beispielhaft den Fall eines arbeitsteiligen Zusammenhandelns in einer Nothilfesituation, vgl. GAWL, S. 458. 133 Weber nennt alle möglichen Formen und Übergänge des "geregelten Kampfes" als Beispiele, vgl. GAWL, S. 464. 134 Vgl. GAWL, S. 458. 135 Vgl. GAWL, S. 442 f.: "Eine gesatzte Ordnung in dem hier gemeinten rein empirischen Sinn ist [ ... ] entweder 1. eine einseitige, im rationalen Grenzfall: ausdrückliche, Aufforderung von Menschen an andere Menschen oder 2. eine, im Grenzfall: ausdrückliche, beiderseitige Erklärung von Menschen zueinander, mit dem subjektiv gemeinten Inhalt: daß eine bestimmte Art von Handeln in Aussicht gestellt oder erwartet werde." Über die Problematik des Satzungsbegriffs im Zusammenhang mit der Verbandsdefinition siehe unten. 136 Vgl. die Webersehe Begriffsbestimmung von Vergesellschaftung bzw. Gesellschaftshandeln, GAWL, S. 442: "Vergesellschaftetes Handeln (,Gesellschaftshandeln') wollen wir ein Gemeinschaftshandeln dann und soweit nennen, als es 1. sinnhaft orientiert ist an Erwartungen, die gehegt werden aufgrund von Ordnungen, wenn 2. deren ,Satzung' rein zweckrational erfolgte im Hinblick auf das als Folge erwartete Handeln der Vergesellschafteten, und wenn 3. die sinnhafte Orientierung subjektiv zweckrational geschieht." 137 Vgl. insbesondere die Erläuterungspunkte 4, 5, 6 zu § 3 "soziale Beziehung", WG, S. 14 im Vergleich zu Webers Ausführungen zum Einverständnishandeln bzw. Erläuterungspunkt 7 bzgl. der Vergesellschaftung durch ,,rationale Vereinbarung".
11. Methodik der verstehenden Soziologie
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Weber dabei zwar den Begriff der Vergesellschaftung (§ 9) beibehält, auf die Kategorie des Einverständnisses aber verzichtet, bietet Anlaß jene mißverständlichen Formulierungen zum Verhältnis von Einverständnis- und Gesellschaftshandeln im Kategorienaufsatz selbst aufzuklären. Denn bereits dort ist das Dual Einverständnishandeln / Gesellschaftshandeln nicht antipodisch, sondern hierarchisch nach dem Muster Oberbegriff / Unterfall konzipiert. Weber faßt schon hier alle durch generalisierte ("gültige") Erwartungen strukturierten Handlungskontexte - darunter auch den rationalen Grenzfall: das Gesellschaftshandeln - als Formen des Einverständnishandelns bzw. des Einverständnisses. So heißt es ausdrücklich: "Flüssig ist natürlich der Übergang vom Einverständnishandeln zum Gesellschaftshandeln, - welches ja lediglich den durch Satzung geordneten SpezialJall darstellt. ,,138 Noch deutlicher wird die Rolle des Einverständnisses als genus proximum, wenn man sich die subjektiven Geltungsgrundlagen des Gesellschaftshandelns ansieht. Denn auch hier - wie schon beim Einverständnis - beurteilt Weber die (objektiven) Chancen der empirischen Geltung 139 um so günstiger, ,je mehr im Durchschnitt darauf gezählt werden darf, daß die Beteiligten ihr eigenes Handeln nicht bloß an den Erwartungen des Handeins der anderen orientieren, sondern je mehr bei ihnen die subjektive Ansicht in relevantem Maß verbreitet ist, daß die (subjektiv sinnhaft erfaßte) ,Legalität' gegenüber der Ordnung ,verbindlich' für sie sei."I40
Satzungsorientiertes Handeln kann also insbesondere normativ motiviert sein und dann - soweit entsprechende Verbindlichkeitsvorstellungen den normativen Inhalt eines Einverständnisses bilden - den Grad der empirischen Geltung der gesatzten Ordnung erhöhen. Das hält Weber bei der Erörterung des Einverständnisses ausdrücklich fest: "Auch Vereinbarungen ,gelten' letziich kraft dieses (Legalitäts-) Einverständnisses.,,141 Es kommt ein weiterer Aspekt hinzu. Vom Einverständnis ist hier auf verschiedenen Sinnebenen die Rede. Zum einen bildet die Satzung schon an sich den (rationalen) Spezialfall eines Einverständnisses. 142 Die für die GAWL, S. 460 f. (eigene Hervorhebung). 139 Vgl. GAWL, S. 445 f. Gerade die normative Stabilisierung der Akteurerwartungen dokumentiert die empirische Geltung einer Ordnung. Vgl. die bedenkenswerte Kritik von Lübbe, Legitimität kraft Legalität, S. 151 f. gegen Luhmanns Differenzierung von "Verhaltenssteuerung" und "Erwartungssicherung" als unterscheidbarer Rechtsfunktionen und im letzteren Fall speziell hinsichtlich seiner Rede von der "notfalls kontrafaktischen Stabilisierung von Verhaltenserwartungen" (Niklas Luhmann, Rechtssoziologie, Bd. I, Reinbek bei Hamburg 1972, S. 42 f.). "Kontrafaktisch" sei eine mögliche Gesetzesverletzungen mit in die Erwartungsbildung einbeziehende Handlungsorientierung gerade nicht, da sie mit einer anderen Verhaltenswahrscheinlichkeit rechne; "kontrafaktisch" sei vielmehr eine Erwartungsstabilisierung gegen tatsächliche Verhaltenswahrscheinlichkeiten. Die normative Handlungskoordinierung verlaufe faktisch denn auch über realistische Erwartungen der Handelnden hinsichtlich der empirischen Geltungschancen von Rechtsregeln trotz eines unterstellten Ausmaßes an GesetzesbfÜchen. 140 GAWL, S. 446. Vgl. für das "Einverständnis" die parallele Stelle, GAWL, S. 457. 141 GAWL, S. 457. 142 Überwiegend meint Weber mit der "gesatzten Ordnung" eine rational gesatzte Ordnung. Doch ist in dieser Hinsicht die "provisorische" Satzungsdefinition nicht eindeutig. Da138
2. Handeln und Herrschaft in der verstehenden Soziologie
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Vergesellschafteten "gültigen" gegenseitigen Erwartungen ergeben sich aus dem spezifizierten Inhalt der Satzung. Sodann soll aber die gesatzte Ordnung aufgrund des Legalitäts-Einverständnisses gelten, d. h. der generalisierten Erwartung subjektiver "Ordnungstreue". Das Einverständnis betrifft - vereinfacht fonnuliert - im einen Fall den Erwartungsinhalt, im anderen das Erwartungsmotiv, hier: den Verbindlichkeitsglauben der Akteure. Mit dem Legalitäts-Einverständnis ist die Perspektive auf die Motivebene der Einverständnisgeltung verschoben. Und zwar speziell auf den Aspekt eines Verpflichtungsglaubens. Ein solcher spielt aber zumal in Herrschaftsbeziehungen eine außerordentlich wichtige Rolle. Oktroyierte Ordnungen beispielsweise treten einverständnismäßig in Kraft, indem der Ordnungsinhalt die generalisierten Erwartungen der betroffenen Akteure bestimmt. 143 Die empirische Geltung dieses Einverständnisses schreibt Weber heterogenen Motivlagen zu. Die Geltungschance steigt hingegen mit dem verbreiteten Glauben an eine subjektive Verpflichtung, der Gegenstand einer generalisierten Erwartung wird. l44 Weber bezeichnet diesen Fall als Legitimitäts-Einverständnis. Die Herrschafts-Einverstandenen fühlen sich subjektiv verpflichtet oder erwarten den Verpflichtungsglauben bei anderen, letzteres insbesondere auch dann, wenn er ihnen selbst fehlt. Der Verpflichtungsglaube wird zur generalisierten Erwartung (Einverständnis). Diese für jede Herrschaft grundlegenden Handlungsfonnen werden noch weiter zu verfolgen sein,145 weil Weber hier die "Soziologischen Grundbegriffe" gegenüber dem Kategorienaufsatz erkennbar ausgearbeitet und dabei in einem wichtigen Punkt, nämlich dem restriktiver gefaßten Begriff der Geltung, auch inhaltlich verändert hat. Ausgangspunkt der bisherigen Überlegungen war das methodische Postulat der "verständlichen Deutung" und "ursächlichen Erklärung" sozialer Regelmäßigkeiten, die die empirischen Ordnungen sozialer Gemeinschaften bilden bzw. aus ihnen resultieren. Neben der Sitte als einer eingelebten Ordnung 146 hält Weber rein interessegeleitetes ("subjektiv zweckrationales") Handeln für einen wesentlichen sozialen Ordnungsfaktor, besonders auf ökonomischem Gebiet. 147 Im § 4 der "Sozionach müßte jede oktroyierte Ordnung - qua Oktroyierung - gesatzt sein. Begriffsbestandteil des Verbands begriffs ist dagegen die Oktroyierung ungesatzter, lediglich einverständnismäßig geltender Ordnungen. Dazu weiter unten. 143 Vgl. GAWL, S. 468. 144 Vgl. GAWL, S. 470: "Die Chance der empirischen Geltung des Einverständnisses wird auch hier unter sonst gleichen Umständen um so höher zu veranschlagen sein, je mehr im Durchschnitt darauf gezählt werden kann, daß die Gehorchenden aus dem Grunde gehorchen, weil sie die Herrschaftsbeziehung als für sich ,verbindlich' auch subjektiv ansehen." 145 Die Konstruktionsprinzipien der Idealtypen der "legitimen Herrschaft" werden im folgenden Kapitel besprochen. . 146 Sie gilt Weber in entwicklungsgeschichtlicher Sicht freilich zugleich als wichtigste Quelle der Entstehung normativer Ordnungen (vgl. WG, S. 187). 147 Vgl. WG, S. 15 und die parallelen Ausführungen aus "Die Wirtschaft und die Ordnungen", ebd., S. 194, 190 - vor dem Hintergrund der möglichen Zugehörigkeit dieses Textes zur ursprünglichen Fassung des Kategorienaufsatzes: "Soweit sie [die eine Ordnung konsti5 Henne.
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II. Methodik der verstehenden Soziologie
logischen Grundbegriffe" führt er neben Brauch und Sitte die "nackte Interessenlage" als Entstehungsbedingung sozialer Regelmäßigkeiten auf: ,,zahlreiche höchst auffallende Regelmäßigkeiten des Ablaufs sozialen Handeins, insbesondere (aber nicht nur) des wirtschaftlichen Handeins, beruhen keineswegs auf Orientierung an irgendeiner als ,geltend' vorgestellten Norm, aber auch nicht auf Sitte, sondern lediglich darauf: daß die Art des sozialen Handeins der Beteiligten [ ... ] ihren normalen, subjektiv eingeschätzten Interessen so arn durchschnittlich besten entspricht und daß sie an dieser subjektiven Ansicht und Kenntnis ihr Handeln orientieren [ ... ].,,148
Diesen Sachverhalt demonstriert Weber im Kategorienaufsatz wie in "Die Wirtschaft und die Ordnungen" am Beispiel ökonomischer Vorgänge, speziell am Markttausch und der für diesen charakteristischen zweckrationalen Handlungsorientierung der Tauschpartner und Marktinteressenten. Die übereinstimmenden Annahmen der Tauschenden über die Tauschkonditionen erklären sich - so Weberaus der Lage ,jedes Tauschenden beim Tausch, [die] innerhalb gewisser Grenzen durchschnittlich so gestaltet ist, daß sein Interesse ihm ein gewisses Maß von Rücksichtnahme auf die Interessen anderer normalerweise auferlegen wird, weil diese die normalen Bestimmungsgründe für diejenigen ,Erwartungen' sind, die er seinerseits von ihrem Handeln hegen darf.,,149
Bei rein zweckrationalem Tauschhandein zähle jeder der Beteiligten (mit einiger Berechtigung) darauf "der Gegenpart werde sich so verhalten, ,als ob' er eine Norm des Inhalts, daß man das gegebene Versprechen ,halten' müsse, als für sich ,verbindlich' anerkenne.,,150 Solche Komplexe von Gemeinschaftshande1n aber, "welche ohne eine zweckrational vereinbarte Ordnung dennoch 1. im Effekt so tuierenden Verhaltens- bzw. Handlungsregelmäßigkeiten, S.H.] überhaupt bewußt an Regeln orientiert sind - und nicht bloß dumpfer ,Gewöhnung' entspringen -, sind es teils solche der ,Sitte' und ,Konvention', teils aber, und sehr oft gänzlich überwiegend, Maximen subjektiv zweckrationalen Handeins im eigenen Interesse jedes der daran Beteiligten, auf dessen Wirksamkeit sie oder die anderen zählen und oft auch ohne weiteres, sehr häufig aber überdies noch kraft spezieller, aber nicht rechtszwanggeschützter, Vergesellschaftungen oder Einverständnisse objektiv zählen können." Man ersieht hieraus, was vorläufig genügen soll, daß der Rechtszwang, wo er besteht, nur eine - nicht unverzichtbare - äußere Garantie der sozialen Ordnung bietet (vgl. ebd., S. 17 f.). Soziologisch gesehen sind Rechtszwang und Sozialsanktion im engeren Sinne ("Konvention") nur komplementäre Ordnungsgarantien, "ein Superadditum, welches dem Grade von Wahrscheinlichkeit, mit welchem der Handelnde auf bestimmte Folgen seines Handeins zählen kann, hinzugefügt wird" (ebd., S. 192, auch S. 397 f.). 148 WG, S. 15. 149 GAWL, S. 453. 150 WG, S. 192. Über die juridische Formung und soziologische Sinnbestimmung von "Tausch" und "Markt" vgl. Gephart, Gesellschaftstheorie und Recht, S. 491 ff. Zwar ist der Tausch als geltende Vereinbarung unabhängig von "Motivlagen" oder "Interessen" definiert (vgl. ebd., S. 493 f. mit Bezug auf GAWL, S. 452), doch bestimmen andererseits "Motive", "Interessen" und "innere Lagen" ausschlaggebend Entstehung und Fortbestand verschiedener Arten von Gemeinschafts- und Einverständnishandeln und sind insoweit Gegenstand ,jeder inhaltlichen Soziologie" (GAWL, S. 460). In dieser Hinsicht interessieren hier Tauschakte als geltende Vereinbarungen.
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ablaufen, als ob eine solche stattgefunden hätte, und bei welchen 2. dieser Effekt durch die Art der Sinnbezogenheit des Handeins der Einzelnen mitbestimmt ist",l5l nannte Weber im Kategorienaufsatz - wie gesagt - Einverständnishandeln. Das zugrundeliegende Einverständnis beinhaltet eine objektive und durchschnittlich subjektiv von den Akteuren in Rechnung gestellte Chance, daß diese ihr Handeln innerhalb eines sozialen Handlungsfeldes an anerkannten ("gültigen") Erwartungen orientieren. Über die Motivseite solcher Erwartungshaltungen besagt die Kategorie des Einverständnisses dagegen nichts. 152 Das Einverständnis gilt empirisch, solange "in soziologisch relevantem Umfang" (wie Webers Standardformel für signifikante soziale Tatbestände lautet) einverständnisorientiert gehandelt wird, solange also im Beispiel die Tauschpartner auf dem Markt ihr Handeln an gültigen Erwartungen (z. B. des Inhalts, daß man den geschuldeten Preis zu zahlen, die geschuldete Sache zu leisten habe) orientieren. 153 Die Sicherheit der Tauschakte auf dem Markt im Verhältnis der Tauschpartner untereinander und gegenüber Dritten resultiert als geltendes Einverständnis für Weber freilich insbesondere aus einem. Verpflichtungs-Einverständnis: wechselseitigen Legalitätserwartungen der Marktteilnehmer gegenüber präsumierten Tauschregeln, die als praktisch geltend und subjektiv verpflichtend behandelt werden. Gerade der Markttausch macht den Status des Einverständnisses zwischen subjektiver Ungebundenheit l54 und objektiver Verbindlichkeit des Handeins erkennbar. Zwar beruht das Einverständnis der Marktteilnehmer primär auf zweckrationaler Erwägung eigener und fremder Interessen. 155 Doch daß allein diese den Sinngehalt der "gültigen Erwartungen" bei ihnen bilden, hält Weber für den "labilen Grenzfall" hin zu einem bloß erwartungsorientierten Gemeinschaftshandeln. 156 Die Geltungschancen des Einverständnisses sind vielmehr auch hier um so größer, 151 GAWL, S. 452 f. Die früher bezüglich des Fehlens einer Vereinbarung als definitorischem Bestandteil des Einverständnisses gemachte Einschränkung ist natürlich für die weitere begriffliche Verhältnisbestimmung von Einverständnis- und Gesellschaftshandeln, Verband und Anstalt zu berücksichtigen. 152 Vgl. GAWL, S. 456, 457. 153 Vgl. GAWL, S. 459. Die Normähnlichkeit der Einverständnisgeltung ist aber die adäquate Folge von "Legalitätserwartungen". 154 Lediglich von normativer Ungebundenheit ist hier selbstverständlich die Rede. In weichem eingeschränkten Sinn logisch die "Freiheit" individuellen Handeins behauptet werden kann, hat Weber im Roscher und Knies-Aufsatz erörtert (vgl. GAWL, S. 132 ff.; dazu Gephart, Handeln und Kultur, S. 56 ff.). 155 Vgl. die Formulierungen in "Die Wirtschaft und die Ordnungen", WG, S. 190, 192 und im Kategorienaufsatz, GAWL, S. 453. 156 Dem Gemeinschaftshandeln fehlt der Gegenseitigkeitsaspekt der Handlungsorientierung und Erwartungsbildung, den die Erwartungs-Erwartungen des Einverständnisses bzw. der sozialen Beziehung implizieren. Vgl. die systemtheoretische Formulierung des Problems der "doppelten Kontingenz der sozialen Welt" bei Luhmann, Rechtssoziologie I, S. 32-34 (übrigens mit einem problemgeschichtlichen Rekurs auf Max Weber ebd., S. 35 Fn. 15) , sowie ihre eingehende Kritik aus handlungstheoretischer Perspektive bei Lübbe, Legitimität kraft Legalität, S. 142 ff.
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H. Methodik der verstehenden Soziologie
"je mehr mit Wahrscheinlichkeit darauf gezählt werden kann, daß die ,Einverstandenen' durchschnittlich ein (subjektiv) ,einverständnisgemäßes' Handeln als für sie (gleichviel warum) ,verbindlich' ansehen werden"/57 weshalb speziell zwischen objektiv "geltendem Einverständnis" und subjektiv angenommener Verbindlichkeit gegenseitig "die Beziehung der verständlich adäquaten Verursachtheit" besteht. 158 Damit wird die empirische Geltung als adäquate Folge besonders von entsprechenden Verbindlichkeitserwartungen der Einverständnis-Beteiligten ausgesagt. Auf der Motivseite tritt hier freilich dem Prinzip der (zweckrationalen) Eifolgsorientierung das entgegengesetzte Prinzip eines (wertrationalen) Verpjlichtungsglaubens gegenüber. 159 Der "objektiven" Verbindlichkeit des Einverständnisses korrespondiert also selbst bei den Vorgängen auf dem Markt eine subjektive und darin scheint für Weber die eigentliche Bedeutung des Einverständnishandelns im Übergang von der nicht-normativ geordneten sozialen Welt (Sitte) zur fortschreitenden Etablierung zunächst "einverständnismäßig geltender", schließlich (rational) gesatzter Ordnungen zu liegen. 160 Gerade am Marktgeschehen als dem "wichtigste[n] Typus der gegenseitigen Beeinflussung des Handeins durch nackte Interessenlage" 161 veranschaulicht Weber mit der Kategorie des "Einverständnisses" die begrifflichen Antipoden zweckrationale Eifolgsorientierung und wertrationaler Verpjlichtungsglaube - gegenüber einverständlich gehegten Erwartungen. 162 Das Einverständnis umfasst apriori beide, da für seine Geltung das jeweils vorwaltende Handlungsmotiv begrifflich indifferent iSt. 163 Es erhöht dagegen die Stabilität (Einverständ157 GAWL, S. 457. 158 Folgt konsequent aus dem GAWL, S. 456 behaupteten Kausalverhältnis zwischen ob-
jektiver Geltungschance und subjektiven Erwartungen beim Einverständnis. Über die Kategorien der "objektiven Möglichkeit", als deren Variante in diesem Zusammenhang die Chance des (empirisch) geltenden Einverständnisses erscheint, und der "adäquaten Verursachung" vgl. "Kritische Studien", GAWL, S. 266 ff. 159 Im Sinne der in den "Soziologischen Grundbegriffen" typologisch unterschiedenen Handlungsorientierungen, vgl. WG, S. 12. Über die typisch gleichartige Orientiertheit und Wirkungsweise des (rationalen) ökonomischen Handeins bemerkt Weber ebd., S. 15: "Sie bildet in ihrer Bewußtheit und inneren Ungebundenheit den polaren Gegensatz gegen jede Art von innerer Bindung durch Einfügung in bloße eingelebte ,Sitte', wie andererseits gegen Hingabe an wertrational geglaubte Normen." 160 Vgl. GAWL, S. 460 f., 464, 471; WG, S. 188, 191 f., 195 f. Dieses heute als "Verrechtlichung" analysierte Phänomen ist nur ein Teilaspekt des von Weber diagnostizierten okzidentalen Rationalisierungsprozesses. In der Versachlichung und d. h. Entpersönlichung von Recht und Herrschaft liegt der gemeinsame Bezugspunkt von Verrechtlichungsthese und Bürokratiekritik. Vgl. Gephart, Gesellschaftstheorie und Recht, S. 581. 161 WG, S. 23, 15. 162 Eine andere Deutung von Markt und Herrschaft als zwei unterschiedlichen Steuerungstypen, welche hinsichtlich der sie tragenden Motivationsstrukturen im Falle des Marktes nicht bruchlos diffundieren, bietet 7iingle, Staatstheorie, S. 59. 163 GAWL, S. 457, 456: "Begrifflich gleichgültig sind die Motive, aus welchen dieses [einverständnisorientierte, S.H.] Verhalten der anderen erwartet werden darf." Vgl. auch die Unterscheidung von ,Zweck'- und ,Norm'-Maxime als handlungsleitende Motive der Tauschenden im Stammler-Aufsatz, GAWL, S. 334 ff.
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nischance) auch des Markthandeins, wenn es auf einem Einverständnis über die normative Verbindlichkeit präsumierter Tauschregeln beruht. 164 Am Beispiel des Marktes lassen sich somit die verschiedenen Bedeutungsdimensionen des Einverständnisses klären. Einverständnis zunächst im Sinne objektiver Verbindlichkeit aufgrund generalisierter Erwartungsstrukturen. Einverständnis sodann im Sinne gegenseitig erwarteter Zweck- oder Norm-Maximen I65 , d. h. auf der Motivebene von Einverständnissen im erstgemeinten Sinn (Interessenoder Verbindlichkeits-Einverständnis). Schließlich unterscheidet Weber noch eine weitere Bedeutungsvariante, die er "Geltungs-Einverständnis,,166 nennt. So könne "der [tatsächlich in ihrer Umwelt verbreitete, S.H.] subjektive Glaube an die objektive Geltung solcher Normen",167 wie der, daß gegebene Versprechen zu halten sind, den Tauschpartnem als Garantie für ihre gegenseitigen Erwartungen gelten. Ein Legalitäts-Einverständnis ist damit offenbar nicht impliziert, denn die bloße Annahme einer objektiv geltenden Ordnung sagt ja noch nicht, daß auch gegenseitige Legalitätserwartungen bestehen. Doch unabhängig von deren Vorhandensein wird der Handelnde ein Geltungs-Einverständnis im Sinne generalisierter Nonn-Erwartungen für die eigene Handlungsorientierung in Rechnung stellen müssen, was wiederum die empirische Geltung des Einverständnisses stabilisiert (darum: der Garantiecharakter). Analog läßt sich die handlungsbestimmende Wirkung einer tatsächlich bestehenden (rationalen) Satzung als Spezialfall eines (Geltungs-)Einverständnisses konzipieren. 168 Das Verbindlichkeits-Einverständnis drückt also die verallgemeinerte Erwartung einer Verbindlichkeitsvorstellung aufgrund ihrer tatsächlich verbreiteten Existenz aus. Das Verbindlichkeits-(Legalitäts-)Einverständnis des Kategorienaufsatzes 169 164 Die um ein empirisch geltendes Einverständnis bzw. um eine (rationale) Vereinbarung gelagerten Erwartungs-Erwartungen werden durch die wertrationale Motivierung eines einverständnis- bzw. vereinbarungsgemäßen Verhaltens stabilisiert. Die "Chance" der empirischen Geltung des Einverständnisses oder der Vereinbarung im Sinne ihres Befolgtwerdens steigt; vgl. GAWL, S. 457, 446. Daß dies aber begrifflich für das Einverständnis als solches, also beim Tauschakt die begründeten Erwartungen der Tauschpartner, "der andere Teil (werde) sich in einer der eigenen Absicht entsprechenden Art verhalten", nicht konstitutiv ist, sagt Weber in "Die Wirtschaft und die Ordnungen", WG, S. 192 f. sehr klar: "Irgendeine außerhalb ihrer beiden Personen liegende ,Ordnung', welche dies garantiert, anbefiehlt, durch einen Zwangsapparat oder durch soziale Mißbilligung erzwingt, ist dabei begrifflich weder notwendig vorhanden, noch auch ist die subjektive Anerkennung irgendwelcher Norm als ,verbindlich' oder der Glaube daran, daß der Gegenpart dies tue, bei den Beteiligten irgendwie notwendig vorausgesetzt." Sie verhielten sich - z. B. beim Tauschakt - ganz einfach so, als ob eine Norm, wonach (Leistungs-)Versprechen einzuhalten sind, für sie gelte. 165 Vgl. dazu die entsprechenden Ausführungen im Stammler-Aufsatz. 166 Vgl. GAWL, S. 460, wo Weber mit dem Ausdruck "Geltungs-Einverständnis" die Konvention von der Sitte unterscheidet. 167 "Die Wirtschaft und die Ordnungen", WG, S. 192 f. 168 Vgl. GAWL, S. 468. 169 So nennt Weber den empirische Geltung verbürgenden subjektiven Verbindlichkeitsglauben der Akteure gegenüber Einverständnissen und Vereinbarungen - in der Terminologie
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nennt Weber in den "Soziologischen Grundbegriffen": "Legitimitäts-Glauben".17o Das soziologische Substrat dieses Verbindlichkeitsglaubens hat Weber dann im Abschnitt über die Geltungsgründe legitimer Ordnung begrifflich ausdifferenziert. l7l Dem Umstand, daß eine (im Kategorienaufsatz: auch; in den "Soziologischen Grundbegriffen": erst) durch einen spezifischen Verbindlichkeitsglauben "geltende" Ordnung außerdem äußerlich und innerlich garantiert sein kann, trägt er in den "Soziologischen Grundbegriffen" durch die begriffliche Differenzierung von heterogenen "Garantien" Rechnung. l72 Daß letztlich die Kategorie des Einverständnisses so disparate Sachverhalte gleichzeitig meint und folglich deren Unterscheidung außerordentlich erschwert, dürfte nicht zuletzt Weber veraniaßt haben, sie aufzugeben und begrifflich anders zu fassen. Sie mußte ja konsequenterweise neben der (rationalen) Satzung, speziell der Vereinbarung,173 alle anderen Arten spezifischer Gegenseitigkeit der Handlungsorientierung bezeichnen, sich auf rationale wie irrationale, akute wie perennierende (u. U. in Regeln angebbare), kontinuierliche wie wechselnde Inhalte gleichermaßen erstrecken, schließlich: verbunden sein mit einem "objektiven" Begriff der empirischen Geltung, bei dem noch ganz abgesehen war von der subjektiven Handlungsmotivierung und der subjektive Verbindlichkeitsvorstellungen gegenüber dem Einverständnis oder der Vereinbarung zwar als Faktor der "adäquaten Verursachung" ihrer Geltung,174 aber eben nicht begriffskonstitutiv anführte. Soziale Ordnungen, die nach Weber den primären Gegenstand der Soziologie ausmachen, sieht er wesentlich durch den Umstand bedingt, daß soziales Handeln / Gemeinschaftshandeln nicht nur erfolgs- oder nutzenorientiert, sondern auch eigenwertorientiert verläuft, nach ",Geboten' oder gemäß ,Forderungen', die der Handelnde an sich gestellt glaubt. " 175 Zahlreiche soziale und speziell politische Erscheinungen erklärten sich letztlich aus der Übersetzung bestimmter subjektiver Verpflichtungsvorstellungen der Handelnden (z. B. gegenüber religiösen, sittlichen, konventionellen oder Rechts-Regeln, durch Pietäts- oder Ehrpflichtvorstellungen gegenüber einer Sache oder konkreten Person) in praktische Verhaltensmaximen. Mit anderen Worten: dadurch, daß Normvorstellungen zu Determinanten des sozialen Handeins würden. 176 Der für alle Arten von Rechts- und Herrschaftsder "Soziologischen Grundbegriffe" eine spezifisch wertrationale Handlungsorientierung im Sinne des "bewußten Glauben[s] an den [ ... ] unbedingten Eigenwert eines bestimmten Sichverhaltens rein als solchen" (WG, S. 12). 170 Vgl. § 5, WG, S. 16. m Vgl. § 7, WG, S. 19 f. 172 Vgl. § 6, WG, S. 17 f. 173 Deren Einbeziehung unter der vorgeschlagenen Änderung der Einverständnis-Definition folgerichtig ist. 174 Vgl. GAWL, S. 456, 446; ebd., S. 355 f. 175 WG, S. 12. 176 Diese Handlungsrelevanz von konventionellen und v.a. von Rechts-Regeln als das für die soziologische Betrachtung des "Rechts" und der "Rechtsordnung" (bzw. der "Kon-
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beziehungen grundlegende Sachverhalt der Existenz von Normvorstellungen als "faktischen Bestimmungsgründen realen menschlichen Handelns,,177 hat in den "Soziologischen Grundbegriffen" in der begrifflichen Sonderstellung der "legitimen Ordnung" (§ 5),178 ihrer Geltungsgrundlagen (§ 7) und Garantien (§ 6) Berücksichtigung gefunden. Recht und Rechtsordnung sind heute der (rationale) Normalfall normativer Ordnungen, durch die das Handeln der Einzelnen mitbestimmt ist: vention" und "konventionellen Ordnung") Wesentliche führt Weber immer wieder gegen Rudolf Stammler (Wirtschaft und Recht nach der materialistischen Geschichtsauffassung, Leipzig 21906) ins Feld, der die Auffassung vertritt, daß das "soziale Leben" nur als "geregeltes" überhaupt denkbar und deshalb auch nur als solches empirisch existent sei. "Recht" und "Konvention" bildeten dann die (apriorische und, da Stammler immer sogleich die Metabase ins Empirische schlägt, tatsächliche) "Form" des sozialen Lebens, in der dessen Inhalt, die materielle Bedürfnisbefriedigung, als "geregelt" erscheint. In einer scharfen Kritik der zweiten Auflage des Starnrnlerschen Werkes hatte Weber die erkenntnislogischen Schwächen des Buches schonungslos offengelegt und bereits im Titel Stammlers eigentümliche Umkehrung der Marxschen Geschichtsdialektik polemisch aufs Kom genommen (vgl. "Starnrn1ers ,Überwindung' ", GAWL, S. 291 ff. und "Nachtrag" [posthum publiziert], abgedr. in: ebd., S. 360-383). Weber hat dort v.a. die soziologische Perspektive auf normative (speziell: Rechts-)Ordnungen (gegenüber der juristisch-dogmatischen) erstmals ausführlich dargelegt und stets auf den dort entwickelten Standpunkt verwiesen (noch in den "Soziologischen Grundbegriffen", WG, S. 1, 17). Vgl. insbesondere auch den Nachlaßtext über "Die Wirtschaft und die Ordnungen", WG, S. 181 ff., bes. 191 ff.; im Kategorienaufsatz bes. GAWL, S. 439 f. und ebenso die aufschlußreiche Bemerkung in der Einleitungsfußnote dieses Aufsatzes, GAWL, S. 427 Fn. 1: "Man wird ferner leicht bemerken, daß die Begriffsbildung Beziehungen äußerer ·Ähnlichkeit bei stärkstem innerlichen Gegensatz zu den Aufstellungen R. Starnrn1ers (,Wirtschaft und Recht') aufweist, der als Jurist ebenso hervorragend, wie als Sozial theoretiker unheilvoll verwirrungstiftend ist. Das ist sehr absichtlich der Fall." Es galt eben den soziologischen Blick auf das soziale, speziell das normativ geordnete Handeln zu demonstrieren. Dazu erschien Weber die Auseinandersetzung mit dem "verwirrungstiftenden Sozialtheoretiker" Rudolf Starnrnler zweckmäßig, um auf diesem Wege den unvermeidlich zur Anwendung kommenden "scharfen, weil auf syllogistischer Interpretation von Normen ruhenden" juristischen Begriffen ihren soziologischen, "von dem juristischen der Wurzel nach verschiedenen, Sinn unterzuschieben" (GAWL, S. 440). Zur Bedeutung der Starnrn1erKritik für Webers (Rechts-)Soziologie als "verstehende empirische Wissenschaft" vgl. Fritz Loos, Zur Wert- und Rechtslehre Max Webers, Tübingen 1970, S. 93 ff. 177 "Die Wirtschaft und die Ordnungen", WG, S. 181; vgl. "Stammlers ,Überwindung"', GAWL, S. 348 ff. 178 Nicht zufällig im Anschluß an die "durch Interessenlage bedingt" bezeichneten Fälle v.a. der ökonomischen Ordnung (vgl. WG, S. 15). Das innere Gliederungsprinzip seiner grundbegrifflichen Ausführungen - nicht-reflexive Gewohntheit des Hande1ns ("Sitte"), reflexive Nutzenorientiertheit des Handeins ("Interessenlage"), reflexive Normorientiertheit des Handeins ("legitime Ordnung") - wird erkennbar, wenn Weber den "polaren Gegensatz" hervorhebt, in dem die primär interessebedingte Regelhaftigkeit, besonders des Wirtschaftshandeins, "gegen jede Art von innerer Bindung durch Einfügung in bloße einge1ebte ,Sitte', wie andererseits gegen Hingabe an wertrational geglaubte Normen" steht. Von der "Sitte" ist zuvor, am Anfang des § 4, die Rede, in § 5 folgt die Definition der "legitimen Ordnung" als Bestimmungsgrund des sozialen Handeins. Über die ambivalente Motivationsstruktur des Markthandelns siehe oben.
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"Daß unser ,soziales Leben' empirisch ,geregelt' [ ... ] verläuft, [ ... ] ist von dem Umstand, daß eine ,Rechtsordnung' empirisch, d. h. aber: als eine das Handeln von Menschen kausal mitbestimmende Vorstellung von etwas, das sein soll, als ,Maxime' also, existent ist, natürlich auf das allerfundamentalste mit determiniert." 179
Doch gilt dies über die durch positives Recht geregelten Lebensbereiche hinaus für alle nonnativ geordneten Verhältnisse und Gemeinschaften, von der pietätsbegründeten Familiengemeinschaft über eine auf moralischen Prinzipien basierende Partnerschaft bis hin zu der durch spezifische Würde- und Ehrvorstellungen regulierten ständischen Gruppe. Dementsprechend bezeichnet Weber in den "Soziologischen Grundbegriffen" alle als Handlungsmaximen fonnulierbaren Regeln oder Regelkomplexe (individueller oder genereller Natur, rationalen oder irrationalen Charakters, gesatzt oder nicht) als "Ordnung" einer sozialen Beziehung. I8o Die wichtige Rolle nonnativer Ordnungen als Faktor der Erwartungsstabilisierung wird (speziell mit Blick auf die Probleme der Staats- und Herrschaftssoziologie)I81 im § 5 der "Soziologischen Grundbegriffe" behandelt: "Handeln, insbesondre soziales Handeln und wiederum insbesondre eine soziale Beziehung, können von seiten der Beteiligten an der Vorstellung vom Bestehen einer legitimen Ordnung orientiert werden. Die Chance, daß dies tatsächlich geschieht, soll ,Geltung' der betreffenden Ordnung heißen.,,182
Die Geltung, und d. h. für die Soziologie: die empirische Geltung der Ordnung 183 wird hier in definitorischen Zusammenhang gebracht mit der Vorstellung 179 "Stammlers ,Überwindung''', GAWL, S. 347. 180 Vgl. WG, S. 16. 181 Daß aber die geltende Rechtsordnung auch für den Bereich des unmittelbar vom Grenznutzenprinzip (also durch die zweckrationale Erfolgsorientiertheit des HandeIns) dominierten Wirtschaftshandelns mindestens als Garantie ökonomischer Chancen eine nicht zu vernachlässigende Rolle spielt, erörtert Weber in "Die Wirtschaft und die Ordnungen", WG, S. 184, 190, 192 ff. und bes. S. 195 ff. 182 WG, S. 16. Vgl. auch die Bestimmung des soziologischen Rechtsbegriffs im Kategorienaufsatz, GAWL, S. 440. 183 Der binär kodierte Geltungsbegriff schließt streng genommen - wie Ziingle, Staatstheorie, S. 42 Fn. 11 in gut rechtspositivistischer Manier bemerkt - eine Quantifizierbarkeit oder Erzwingbarkeit aus. Loos, Max Webers Wissenschaftslehre, S. 181 betrachtet - wie Weber - das Moment der Quantifizierbarkeit als spezifische Differenz zum juristischen Geltungsbegriff; ähnlich Lübbe, Legitimität kraft Legalität, S. 82. Im übrigen sieht Weyma Lübbe den Rechtsgeltungsbegriff der verstehenden Soziologie von unterschiedlichen fachdisziplinären "Geltungsgrundlagen" des Rechtsgeltungsbegriffs (iSv positiver Satzung in der Rechtstheorie - iSv Handlungswirksarnkeit in der Soziologie - iSv rechtfertigenden Gründen in der Rechtsphilosophie) frei. Ihn kennzeichne vielmehr das Fehlen irgendweIcher spezifischer Geltungsgrundlagen: "Die Chance, daß viele ihr Handeln an der Vorstellung von der Geltung einer Ordnung faktisch orientieren, ist nämlich nicht der Grund für die empirische Geltung der Ordnung und erst recht keine etwa soziologiespezifische Begründung. Sondern diese Formel definiert, was mit der Rede von empirischer Geltung überhaupt gemeint ist. Gründe für die empirische Geltung der Ordnung sind dann Gründe, die die Handelnden haben, sich an der Ordnung zu orientieren" (ebd., S. 175, auch S. 84 f.). Insoweit spielten
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der Handelnden von deren Legitimität. Zunächst überrascht der Begriff an dieser Stelle. Im Kategorienaufsatz taucht er erst auf bei der Erörterung der als Herrschaft bezeichneten faktischen Oktroyierungsmacht, welche nach Weber die "empirische Verfassung,,184 des (z. B. politischen) Verbandes l85 bildet, und folglich der auf je . spezifischem Herrschafts-Einverständnis beruhenden oktroyierten Ordnungen ("Satzungen,,).186 Die Chance der empirischen Geltung des Herrschafts-Einverständnisses und - insofern sich die Herrschaft in der Oktroyierung von Ordnungen niederschlägt - der empirischen Geltung dieser Ordnungen,187 sei um so höher zu veranschlagen, ,je mehr im Durchschnitt darauf gezählt werden kann, daß die Gehorchenden aus dem Grunde gehorchen, weil sie die Herrschaftsbeziehung als für sich ,verbindlich' auch subjektiv ansehen.,,188 Soweit ein solcher (subjektiver) Verbindlichkeitsglaube der Verbands genossen gegenüber der Herrschaft und den durch sie oktroyierten Ordnungen als generalisierte Erwartung besteht, konstituiert er ein "Legitimitäts-Einverständnis".189 Seine objektive Geltungschance beruht - wie beim Einverständnis - auf der durchschnittlichen subjektiven Orientiertheit daran und umgekehrt (Verhältnis "gegenseitig adäquater Verursachung"). Auch Personen ohne Verpflichtungsglauben müssen deshalb im Falle des Legitimitäts-Einverständnisses mit seinem Vorhandensein bei anderen rechnen und darauf ihr Handeln einstellen. Insoweit erhöht die generalisierte Verbindlichkeitserwartung - wie gesehen - die Geltungschancen jeder (auf Einverständnis oder Satzung beruhenden) Ordnung. 190 Im Kategorienaufsatz spricht Weber neben dem Legitimitäts-Einverständnis gegenüber der Herrschaft vom Legalitäts- (bzw. Verbindlichkeits-)Einverständnis 191 bei Vergesellschaftung (bzw. Einverständnis-Vergemeinschaftung) eben auch Vorstellungen über rechtfertigende Gründe der Ordnung, speziell über ihre "ordnungsgemäße positive Satzung" eine Rolle. 184 Dieser soziologische Verfassungsbegriff beruht auf machttheoretischem Fundament und bezeichnet die faktische Machtverteilung innerhalb des Herrschaftsverbandes. Er findet sich - wie Weber selbst gelegentlich einräumt (WG, S. 27) - schon bei Ferdinand Lassalle, der die empirische Verfassung als Produkt innenpolitischer Machtverhältnisse beschrieben hat (Über Verfassungswesen. Ein Vortrag gehalten in einem Berliner Bürger-Bezirks-Verein, Berlin 1862, bes. S. 10, 15,31 f.). 185 Der zugrundeliegende Verbands-Begriff ist später mit dem der "Soziologischen Grundbegriffe" zu vergleichen. 186 Vgl. GAWL, S. 468 ff. Zum Begriff der "Satzung" bzw. "gesatzten Ordnung" vgl. ebd., S. 442 f. 187 D. h. der Ordnungstreue der Verbandsgenossen "durch mehr oder minder eindeutige sinnhaft loyale Orientierung ihres Handeins daran" (GAWL, S. 468). 188 GAWL, S. 470. 189 Vgl. GAWL, S. 470. 190 Vgl. GAWL, S. 457, 446. 191 Der umständliche Ausdruck "Verbindlichkeits-Einverständnis", den Weber nicht gebraucht, soll als sachliche Entsprechung des Weberschen Legalitäts-Einverständnisses (bei gesatzter Ordnung) fungieren. Sorgfältig ist der hier verwendete Legalitäts-Begriff vorerst zu unterscheiden von demjenigen der "Soziologischen Grundbegriffe". Während im Kategorienaufsatz Legalität eine satzungsgemäße Einstellung des Handeins meint, zu dem man sich
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und meint damit ein Einverständnis, das auf einer gegenseitigen Verpflichtungserwartung beruht. Im Falle der durch (v.a. politische) Verbände und Anstalten l92 oktroyierten Ordnungen tritt das Legitimitäts-Einverständnis der Herrschaft an die Stelle des Legalitäts- (bzw. Verbindlichkeits-)Einverständnisses gegenüber der Ordnung, da die generalisierten Verbindlichkeitserwartungen hier auf die Herrschaft rekurrieren. Der mögliche Inhalt dieser normativen Erwartungen bleibt freilich für das Legalitäts- (bzw. Verbindlichkeits-)Einverständnis ebenso unerörtert wie für das Legitimitäts-Einverständnis. In den "Soziologischen Grundbegriffen" ist von der legitimen Ordnung die Rede, nicht mehr - wie noch im Kategorienaufsatz - von Legalitäts- (bzw. Verbindlichkeits-) und Legitimitäts-Einverständnis. Die legitime Ordnung nämlich ist "eine mit dem Prestige der Vorbildlichkeit oder Verbindlichkeit, wir wollen sagen: der ,Legitimität' auftretende.,,193 Die Legitimität einer Ordnung besteht aber nach Weber darin, daß mindestens ein Teil der von der Ordnung Betroffenen diese auch aus einer gefühlten Verpflichtung innehalten. Den Verpflichtungsglauben nennt Weber "Legitimitätsglauben". Er muß genügend verbreitet sein, um die Geltung, Legitimitätsgeltung, der Ordnung zu begründen. Die Legitimitätsgeltung besagt also nicht, daß alle Handelnden einen Verbindlichkeitsglauben subjektiv haben, sondern nur, daß sie ihn bei anderen erwarten müssen und daß er von anderen erwartet wird, weil er tatsächlich in relevantem Umfang verbreitet ist. Die durch den Legitimitätsglauben (bei einer ausreichenden Zahl von Personen) bestimmte Legitimitätsgeltung und der so als Erwartungs-Erwartung formulierbare Legitimitätsbegriff kommen deutlich bereits im Verbindlichkeits- (Legalitäts-, Legitimitäts-) Einverständnis des Kategorienaufsatzes zum Ausdruck. Denn diese Einverständnisse basieren auf generalisierten Verbindlichkeitserwartungen und der durchschnittlichen Orientierung des Handeins daran. In auffälliger Weise wird aber weiter der Verbindlichkeitsglaube, der eo ipso "Legitimitäts-Glauben,,194 ist, mit dem Begriff der Geltung der Ordnung verbunden. Im Kategorienaufsatz ist das Verbindlichkeits-Einverständnis zwar besonders adäquate Ursache der empirischen Geltung einer Ordnung, aber nicht begriffskonstitutives Merkmal. Von der Geltung einer auf Einverständnis oder Satzung beruhenden Ordnung ist begrifflich solange auszugehen, wie in einem sozial ins Gewicht fallenden Maß das Handeln faktisch daran orientiert wird. 195 Nach der Terminologie der "Soziologischen Grundbe"gleichviel warum" verpflichtet fühlen kann, bezeichnet Weber in den "Soziologischen Grundbegriffen" mit der Legalität im Sinne der "Fügsamkeit gegenüber formal korrekt und in der üblichen Form zustandegekommenen Satzungen" (WG, S. 19) einen typischen Inhalt jenes Verbindlichkeitsglaubens (Legalitätsglaube). 192 Webers soziologischer Verbands- und Anstaltsbegriff ist unten noch eingehender zu besprechen. 193 WG, S. 16. 194 So der von Weber in den "Soziologischen Grundbegriffen", WG, S. 16 verwendete Ausdruck. 195 Im Abschnitt über "Vergesellschaftung" und "Gesellschaftshandeln" wird die empirische Geltung einer Ordnung bestimmt als "die Tatsache: daß das Handeln durch sinnhafte
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griffe" soll jedoch vom Gelten einer Ordnung nur noch dann die Rede sein, wenn das ordnungsorientierte Handeln mindestens auch durch subjektive Verbindlichkeitsvorstellungen, d. h. durch einen spezifischen Legitimitätsglauben motiviert ist. 196 Die empirische Geltung einer Ordnung erklärt sich in der Mehrzahl der Fälle aus einer Gemengelage von Motiven, darunter insbesondere die "Eingelebtheit" des nun normativ Gesollten ("Sitte") sowie die zweckrationale Erwägung (subjektiv) nachteiliger Folgen ordnungswidrigen Verhaltens (z. B. Strafe oder konventionelle Mißbilligung einer sozialen ,Umwelt'). "Aber der Umstand, daß neben den andem Motiven die Ordnung mindestens einem Teil der Handelnden auch als vorbildlich oder verbindlich und also gelten sollend vorschwebt, steigert naturgemäß die Chance, daß das Handeln an ihr orientiert wird, und zwar oft in sehr bedeutendem Maße.,,197
Erst dieser Legitimitätsglaube gegenüber einer Ordnung bei "mindestens einem Teil der Handelnden" macht sie zu einer geltenden. Mit anderen Worten: Erst die legitime Ordnung gilt (empirisch) und nur die in diesem Sinn geltende Ordnung ist legitim. Legitimität und Geltung fallen im Begriff des Legitimitätsglaubens einfach zusammen. Wenn es dann im § 7 der "Soziologischen Grundbegriffe" um die terminologische Substantiierung der typisch verschiedenen Inhalte dieser VerbindlichkeitsvorsteIlung geht 198 und Weber einsetzt: "Legitime Geltung kann einer Ordnung [ ... ] zugeschrieben werden [ ... ]",199 so ist die Formulierung letztlich eine Tautologie; besser hätte es "Legitimität" statt "legitimer Geltung" geheißen, denn eine andere als die legitime Geltung hatte er ja im § 5 für seine Zwecke definitorisch ausgeschlossen. Daß es aber eine empirisch geltende Ordnung auch unabhängig von subjektiven Verbindlichkeitsvorstellungen geben kann, war umgekehrt gerade das Begriffswesentliche im Kategorienaufsatz. Die definitorische Verhältnisbestimmung von legitimer Ordnung und Geltung im § 5 schließt sie dagegen streng genommen aus. 2OO Den bedeutsamen Wandel des Geltungsbegriffs zwischen Kategorienaufsatz und "Soziologischen Grundbegriffen" kann man mit Hilfe des Orientierung an ihrem (subjektiverfaßten) Sinn orientiert und dadurch beeinflußt wird" (GAWL, S. 445, 456; vgl. sinngemäß: "Die Wirtschaft und die Ordnungen", WG, S. 181 f.). 196 Vgl. WG, S. 16: "Wir wollen [ ... ] nur dann von einem ,Gelten' dieser Ordnung sprechen, wenn diese tatsächliche Orientierung an jenen [die Ordnung konstituierenden, S.H.] Maximen mindestens auch (also in einem praktisch ins Gewicht fallenden Maß) deshalb erfolgt, weil sie als irgendwie für das Handeln geltend: verbindlich oder vorbildlich, angesehen werden." 197 WG, S. 16. 198 Die - wie gesehen - im Kategorienaufsatz in den Ausdrücken "Legalitäts-Einverständnis" und "Legitimitäts-Einverständnis" als Erwartungs-Erwartung formuliert wird. 199 WG, S. 19. 200 Lübbe, Legitimität kraft Legalität, S. 43 ff. hebt Webers Differenzierung von soziologischen Geltungs- und Legitimitätsvorstellungen zunächst richtig hervor, findet diese entgegen der definitorischen Bestimmung des § 5 durch die Erläuterungsbemerkungen dazu letztlich aber auch in den "Soziologischen Grundbegriffen" unverändert.
11. Methodik der verstehenden Soziologie
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von Allerbeck201 zu Rekonstruktionszwecken entworfenen "sukzessiven Partitionierungsverfahrens,,202 veranschaulichen (Abbildung 1). SoZiologische Grundbegriffe
Kateg 0 rie n
Ordnung
Ordnung
~
nicht rational
~
rational
nicht rational
~
~oktroyjert
frei vereinbart
/'--...
ohne Legitirnitätsglaube geltend
rational
frei vereinbart oktroyiert ~egitim)
~
nicht geltend
geltend
~
ohne Verbindlichkeitsglaube
legal
Abbildung I: Wandel des Geltungsbegriffs bei Max Weber
Weber hatte im Kategorienaufsatz die möglichen Gründe subjektiver Verbindlichkeitsvorstellungen auch deshalb unerörtert lassen bzw. der Herrschaftslehre überweisen können,203 weil sie für seinen Geltungs-Begriff definitorisch nicht entscheidend waren. Anders nun in den "Soziologischen Grundbegriffen", in denen der Geltungsbegriff an den Legitimitätsglauben gebunden wird. Soll sich das soziale Handeln besonders auch an der Vorstellung vom Bestehen (oder wie man jetzt sagen kann: von der Geltung) einer legitimen Ordnung orientieren, rückt die Frage nach dem möglichen Inhalt des dann konstitutiven Legitimitätsglaubens in den Mittelpunkt. Aus welchen inneren Gründen fühlen sich Menschen den Geboten und Forderungen, die normative Ordnungen an sie stellen, verpflichtet? Im Schema der typischen Handlungsorientierungen ausgedrückt, ist eben nicht nach zweckrationalen, affektuellen oder traditionalen Motiven gefragt, die zur Innehaltung der Ordnung bewegen können, sondern nach dem Inhalt eines wertrationalen Glaubens an verbindliche Normen. Im § 7 differenziert Weber die Geltungsgründe legitimer Ordnungen. Es sind: 201 Vgl. Klaus Allerbeck, Zur formalen Struktur einiger Kategorien der verstehenden Soziologie, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 34 (1982), S. 665 ff. 202 Das Verfahren bezweckt die Darstellung der Webersehen Definitionsreihe mittels eines Baumdiagramms und durch Ergänzung der fehlenden Ausschreibungen Webers. 203 Vgl. GAWL, S. 470, wo Weber im Hinblick auf die wichtige Rolle des LegitimitätsEinverständnisses für den Charakter der Herrschaft bemerkt: "Die Herrschaft als wichtigste Grundlage fast alles Verbandshandeins, deren Problematik hier einsetzt, ist notwendig ein Objekt gesonderter, hier nicht zu erledigender Betrachtung. Denn für ihre soziologische Analyse kommt es entscheidend auf die verschiedenen möglichen, subjektiv sinnhaften, Grundlagen jenes ,Legitimitäts'-Einverständnisses an, welches überall da, wo nicht nackte Furcht vor direkt drohender Gewalt die Fügsamkeit bedingt, in grundlegend wichtiger Art ihren spezifischen Charakter bestimmt."
2. Handeln und Herrschaft in der verstehenden Soziologie
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a) "Tradition" im Sinne der "Geltung des immer Gewesenen", b) "affektueller Glaube" an die "Geltung des neu Offenbarten oder des Vorbildlichen", c) "wertrationaler Glaube" an die "Geltung des als absolut gültig Erschlossenen" und d) "Legalitäts"-Glaube an die "positive Satzung"?04
Es handelt sich hier offenbar um typisch verschiedene Arten eines wertrationalen Glaubens an verbindliche Normen,205 wofür die Parallelisierung zur allgemeinen Handlungstypologie sowie die Formulierung von c) leicht den Blick verstellen. Darüber hinaus zeigt die Klassifikation in ihrer Anordnung eine unverkennbar entwicklungsgeschichtliche Perspektive. Als ursprünglicher Entstehungsmodus von Normvorstellungen gilt Weber die Normativierung des Gewohnten: die Tradition?06 Innere (Furcht vor magischen Übeln) und äußere Faktoren (z. B. Gewaltandrohung) bewirken ihre besondere Änderungsresistenz, die nur durch traditionalistische Umdeutung des faktisch Neuen oder durch Neuoffenbarung charismatisch legitimierter Instanzen (Orakelpriester, Propheten, Rechtsweise) durchbrochen werden kann. Der "wertrationale Glaube an die Geltung des als absolut gültig Erschlossenen" räumt dem Naturrecht207 , welches Weber gelegentlich als Versachlichung des Charisma charakterisiert ("Charisma der Vernunft"), eine kategoriale Sonderstellung ein. 208 Über alle Arten der Oktroyierung neuer Ordnungen durch WG, S. 19. Die Aufzählung der Fügsarnkeitsmotive des Verwaltungsstabs gegenüber dem (politischen oder hierokratischen) Herrn in der jüngeren Herrschaftssoziologie, WG, S. 122 wird Anlaß geben, das Verhältnis des Legitimitätsglaubens zu dem wertrationalen Handlungstypus unten Kap. 11. 3 noch näher zu bestimmen. 206 Vgl. "Die Wirtschaft und die Ordnungen", WG, S. 187 ff. 207 Nicht die sachliche Differenz stark variierender Naturrechtskonzeptionen in der griechisch-römischen Antike, bei den Kanonisten und Romanisten des Mittelalters, in der Aufklärung oder im 19. und 20. Jh., sondern der allen gemeinsame apriorische Ge1tungsanspruch ist hier natürlich begriffswesentlich. 208 WG, S. 726: ,,[ ... ] die charismatische Verklärung der ,Vernunft' (die ihren charakteristischen Ausdruck in ihrer Apotheose durch Robespierre fand) ist die letzte Form, welche das Charisma auf seinem schicksalsreichen Wege überhaupt angenommen hat." Ingrid GilcherHoltey hat in der Person und historischen Bedeutung Robespierres die eigentümliche Personalisierung eines versachlichten Charisma herausgearbeitet. Robespierre fungiert als "Akteur der Vernunft, der sich selbst dem Glauben der Vernunft unterwirft", er ist ",Prophet' der Idee der Vernunft", jedoch nicht "charismatischer Führer" (Robespierre: Die Charismatisierung der Vernunft, in: Geschichte und Gesellschaft, 21 (1995), S. 248 ff., Zitate S. 250, 257). - In dem Glauben an absolut gültige Vernunftnormen kann man zugleich eine spezifisch rationale Variante des affektuellen Glaubens an neu geoffenbarte Regeln sehen. Nicht das Prestige von Orakeln oder Propheten verbürgt ihre Gültigkeit, sondern die mit dem Postulat der Letztbegründbarkeit auftretende Vernunft. Es handelt sich um eine Sublimierung jenes affektuellen Glaubens, deren Resultat seine Wertrationalisierung ist. Unterstellt man den Typus "wertrationales Handeln" als genus proximum der Arten des Legitimitätsglaubens, dann trifft auf das Verhältnis mutatis mutandis zu, was Weber über die Beziehung von affektueller und wertrationaler Handlungsorientierung sagt: "Affektuelle und wertrationale Orientierung des Handeins unterscheiden sich durch die bewußte Herausarbeitung der letzten Richtpunkte des Handeins und durch konsequente planvolle Orientierung daran bei dem letzteren. Sonst 204 205
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II. Methodik der verstehenden Soziologie
"weltliches imperium und theokratische Gewalten" führt die Entwicklung schließlich zur spezifisch modernen Form positiver (Rechts-)Satzung und zum Legalitätsglauben als einer in verschiedenem Grade wirksamen Verbindlichkeitsvorstellung. 209 Übrigens liegt dieses Schema der Geltungsgründe legitimer Ordnungen der Sache nach bereits der Rechtssoziologie von 1914 zugrunde (idealtypische Stufen der Rechtsentwicklung).210
Im Blick auf die Typologie der Handlungsorientierungen des § 2 sind die von Weber differenzierten Typen normativer Handlungsmotivierung (Legitimitätsgründe) wertrational verankert: "Stets ist (im Sinn unserer Terminologie) wertrationales Handeln ein Handeln nach ,Geboten' und gemäß ,Forderungen', die der Handelnde an sich gestellt glaubt.,,211 Als normative Inhalte eines Legitimitätsglaubens unterscheiden sich "Tradition" und "affektueller Glaube an die Geltung des neu Offenbarten" von ihren nicht-normativen Begriffspendants: traditionales und affektuelles Handeln. Tradition entsteht ja - wie Weber in "Die Wirtschaft und die Ordnungen" darlegt - u. a. dadurch, daß die Menschen das in der Sitte eingewöhnte Verhalten allmählich als Norm für das eigene Handeln auffassen,z12 Im übrigen trägt der Ausdruck "Glaube" - affektueller Glaube, wertrationaler Glaube, Legalitätsglaube - den normativen (religiös konnotierten) Bedeutungskern der Legitimitätszuschreibung. 213 Deshalb darf auch die Aufnahme des" wertrationalen Glaubens an die Geltung des als absolut gültig Erschlossenen" nicht als begrifflich inkonsistente Verdoppelung des normativen Aspekts der Handlungsorientierung mißverstanden werden. Vielmehr bildet er die rationale Variante des durch Rechtsoffenbarung erzeugten Verbindlichkeitsglaubens, den Weber deshalb als eigenhaben sie gemeinsam: daß für sie der Sinn des Handeins nicht in dem jenseits seiner liegenden Erfolg, sondern in dem bestimmt gearteten Handeln als solchen liegt" (WG, S. 12, eigene Hervorhebung). In der Eigenwertorientiertheit affektuellen wie wertrationalen Handeins liegt der Anknüpfungspunkt für die Entstehung normativer Handlungsmotive. 209 Schon die oktroyierten patrimonialen oder theokratischen Ordnungen sind teilweise rationale Satzungen (vgl. "Die drei reinen Typen der legitimen Herrschaft", GAWL, S. 483; Erläuterungspunkte 4 und 6 zu § 7 der "Soziologischen Grundbegriffe", WG, S. 20). 210 Vgl. WG, S. 446, 449, 504. 211 WG, S. 12. 212 Vgl. WG, S. 191. 213 Die religiöse Konnotation des Legitimitätsglaubens läßt sich tatsächlich in der Religionssoziologie konkretisieren. Wiederholt nennt es Weber eine gleichsam anthropologische Konstante, daß die "positiv Privilegierten" (z. B. sozial und politisch Mächtigen) ihre Vorzugslage gegenüber den anderen nicht nur genießen, sondern als gerechtfertigt, "legitim", empfinden wollen (vgl. WG, S. 299, 548 f.; GARS I, S. 242). Ihr Legitimitätsglaube ist insoweit ein zum Legitimitätsanspruch gegenüber den anderen funktionalisiertes Rechtfertigungsbedürfnis. Zur Legitimitätsbeschaffung eignen sich aber in besonderer Weise die ethischen Religionen, deren popularisierte Rechtfertigungslehren die ungleiche faktische Chancenverteilung zu begründen und so den nötigen Legitimitätsglauben auf seiten der negativ Privilegierten (z. B. der politisch Beherrschten) zu erzeugen vermögen. Nicht zuletzt daraus erklärt sich Webers besonderes Interesse für das Verhältnis von politischer und religiöser Macht. Vgl. hierzu Zängle, Staatstheorie, S. 68 ff.
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ständigen Typus von historisch ausreichendem Gewicht seiner Typologie der Legitimitätsgründe einfügt. Bezugspunkt des unter b) genannten affektuellen Offenbarungs-Glaubens ist das genuine (personale) Charisma, während der wertrationale Glaube an apriorisch gültige Normen auf eine spezifische Übergangsform des Charisma ("Charisma der Vemunft,,)214 im Zuge des Rationalisierungsprozesses verweist. Daß dieser letztlich die entwicklungsgeschichtliche Folie der Typologie bildet, folgt auch aus der systematischen Stellung dieser Form des Legitimitätsglaubens unmittelbar vor dem Typus des Legalitätsglaubens. Die Vorstellung nun, daß gesatzte Ordnungen verbindlich seien und man sich ihnen fügen solle, weil sie "formal korrekt", d. h. in einem dafür vorgesehenen und geregelten Verfahren, zustande gekommen sind (was Weber hier "Legalitätsglauben" nennt), ist nichts an sich Modemes. Auf früheren Stufen der gesellschaftlichen Evolution ist allerdings das "Gesetzgebungsverfahren" vielfach traditional gebunden und häufig mit magisch-charismatischen Prozeduren verknüpft. Entwicklungsgeschichtlich erst spät haben Satzungen den Charakter generell auf gleiche oder gleichartige Personen- und Sachbeziehungen anzuwendender Regeln gewonnen. Daher definiert Weber die gesatzte Ordnung im Kategorienaufsatz sehr allgemein: "Eine gesatzte Ordnung [ ... ] ist [ ... ] entweder 1. eine einseitige [ ... ] Aufforderung von Menschen an andere Menschen oder 2. eine [ ... ] beiderseitige Erklärung von Menschen zueinander, mit dem subjektiv gemeinten Inhalt: daß eine bestimmte Art von Handeln in Aussicht gestellt oder erwartet werde.'.215
Die hier v.a. interessierenden rationalen Satzungen politischer Verbände (aber nicht nur sie) sind nach Weber demgemäß entweder durch die Verbandsgenossen vereinbart (unter 2.) oder (historisch sehr häufig) durch Gewalthaber oktroyiert (unter 1.).216 Die Verbindlichkeitsvorstellung gegenüber oktroyierten Ordnungen (Legalitätsglaube)217 basiert somit überwiegend auf den Legitimitätsressourcen der "Oktroyierungsmacht", d. h. der Herrschaft. So heißt es: "Die Fügsamkeit gegenüber der Oktroyierung von Ordnungen durch Einzelne oder Mehrere setzt, soweit nicht bloße Furcht oder zweckrationale Motive dafür entscheidend sind, sondern Legalitätsvorstellungen bestehen, den Glauben an eine in irgendeinem Sinn legitime Herrschajtsgewalt des oder der Oktroyierenden voraus [ ... ].'.218 214 Vgl. Stefan Breuer; Bürokratie und Charisma. Zur politischen Soziologie Max Webers, Darmstadt 1994, S. 59: "Das Charisma löst sich dabei [im Prozeß der Rationalisierung, S.H.] von der ausschließlichen Bindung an eine Person, es wird überpersönlich und sachlich, zu einer Eigenschaft, die sich an Ideen, Programme und Institutionen heftet. Aus dem magischen und religiösen Charisma wird auf diese Weise ein Charisma der Vernunft, bei dem die personalen Träger nicht mehr als Personen, sondern als Repräsentanten von Ideen zählen." 215 GAWL, S. 442 f. 216 Vgl. GAWL, S. 468; WG, S. 19,27. 217 WG, S. 19: Legalitätsglaube als "die Fügsamkeit gegenüber formal korrekt und in der üblichen Form zustandegekommenen Ordnungen." 218 WG, S. 20. Weber verweist auf die weiteren begrifflichen Klärungen zur Herrschaftsproblematik in den §§ 13 und 16 über "Satzung" bzw. "Macht", "Herrschaft" und "Herr-
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Oder in der Terminologie des Kategorienaufsatzes und sachlich analog zu den dortigen Ausführungen über die Einverständnis-Geltung gesatzter Ordnungen: 219 Der Legalitätsglaube als inhaltliche Konkretisierung eines Legalitäts-Einverständnisses 220 (des "gleichviel warum") beruht in letzter Linie auf dem LegitimitätsEinverständnis 221 und damit auf den möglichen Geltungsgründen der Herrschaft. Mit anderen Worten: Wenn Legalitäts-Einverständnis und Legitimitäts-Einverständnis in den "Soziologischen Grundbegriffen" durch die auf Legitimitätsglauben beruhende Legitimitätsgeltung222 von Ordnungen ersetzt werden, so speziell im Falle gesatzter Ordnungen durch die Legitimitätsgeltung der Herrschaft. Der Legalitätsglaube ist insoweit nur derivativer Legitimitätsgrund. So konnten traditional legitimierte Herrscher faktisch Satzungen insbesondere für solche Bereiche oktroyieren, die von der Tradition noch nicht oder nicht umfassend geregelt waren. Möglich war auch die Kodifizierung des überkommenen Rechts, des Gewohnheitsrechts (Tradition), nicht selten in der ausdrücklichen Form einer Vereinbarung ("pactus", also: Satzung) zwischen König und Volk. Besonders aber der charismatische Herrscher konnte aufgrund seiner außeralltäglichen Qualitäten eine eigentlich traditionsbrechende Satzungskompetzenz für sich in Anspruch nehmen. In vormodernen Gesellschaften verbürgt deshalb nach Weber eine charakteristische Verknüpfung von Legalitäts-, Traditions- und Offenbarungsglaube die Legitimitätsgeltung oktroyierter Ordnungen (speziell: Satzungen). Inwiefern nun der modeme Legalitätsglaube die früheren Legitimitätsprinzipien (Tradition und Charisma) verdrängt hat und eine eigenständige Legitimationsquelle bildet, oder unter den Verhältnissen rational-legaler Herrschaft zumindest den führenden Legitimitätsaspekt abgibt, oder noch heute lediglich als derivative Legitimitätsvorstellung wirkt, die nicht ohne den Rekurs auf andere (v.a. die charismatische) auskommt, ist im folgenden Kapitel noch zu diskutieren. Um begriffliche Doppelungen bei den Legitimitätsgründen des § 7 zu vermeiden, sollten jedoch hinsichtlich der Typen des Legitimitätsglaubens die nicht gesatzten (Fälle a- c) von den gesatzten Ordnungen (Fall d) unterschieden werden. So wird deutlich, daß der Legalitätsglaube mit den Legitimitätsgründen der Herrschaft ganz heterogene Verbindlichkeitsmotive umfasst (v.a. auch Tradition und Charisma) und nicht per se dem Typus der rational-legalen Herrschaft zuzuordnen ist. 223 Auf die Problematik der schaftsverband", WG, S. 27 ff. sowie auf das Kapitel III über die "Typen der Herrschaft", WG, S. 122 ff. 219 Vgl. GAWL, S. 468 ff. 220 Das Legalitäts-Einverständnis - wie gesehen - im Sinn des Legitimitätsglaubens der "Soziologischen Grundbegriffe". 221 Vgl. GAWL, S. 470. 222 Wobei an das früher über den tautologischen Charakter des Kompositums "Legitimitätsgeltung" Gesagte erinnert sei. 223 Die Legitimitätsvorstellungen, an denen sich das reale Handeln orientiert (gegenüber den geltenden Ordnungen wie gegenüber der Herrschaft) sind eben sowenig eindeutig wie die allgemeinen Handlungsorientierungen (vgl. WG, S. 124, 154). Eine andere Zuordnung von Handlungs- und Legitimitätstypologie nimmt Zängle, Staatstheorie, S. 60 ff. im An-
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verschiedenen Legitimitätstypologien wird im folgenden Kapitel zurückzukommen sein. Im § 6 der "Soziologischen Grundbegriffe" entwickelt Weber ein Schema der Garantien für die Legitimität einer Ordnung: Solcher Faktoren also, die die Legitimitätsgeltung einer Ordnung und damit einen in relevantem Umfang verbreiteten Legitimitätsglauben fördern oder auf Dauer stellen bzw. gegen widerständige Überzeugungen absichern können. Vergleicht man die beiden Typologien der Legitimitätsgarantien (§ 6) und der Legitimitätsgründe (§ 7), so stellt man beachtliche Parallelen in Aufbau und Inhalt fest. Außerdem sind sie hintereinander geschaltet und ragen an begrifflicher Präzision hervor. Worin besteht also die Differenz? Eine immerhin plausible Erklärung könnte sein, zwischen Ursachen und Gründen, Betrachter- und Akteurperspektive zu unterscheiden?24 Ursachen erklären ein bestimmtes Verhalten, Gründe rechtfertigen es (subjektiv). Legitimitätsgründe wären solche, mit denen die Akteure selbst ihr Handeln motivieren können, während Legitimitätsgarantien von einem Beobachter zugeschrieben und zur Erklärung eines bestimmten Verhaltens herangezogen werden, ohne den Akteuren als Gründe (Motive) gegenwärtig sein zu müssen. Die eher kausale Terminologie im einen ("Garantien"), die eher intentionale im anderen Fall ("Gründe") sprechen ebenfalls für diese Deutung. Die Legitimitätsgeltung einer Ordnung kann insbesondere durch äußerlich wirkende Mittel gestützt werden. Sie kann "auch (oder: nur) durch Erwartungen spezifischer äußerer Folgen, also: durch Interessenlage; aber: durch Erwartungen von besonderer Art"Z25 garantiert sein. "Recht" und "Konvention" sind in diesem Sinn äußerlich garantierte Ordnungen. Innerhalb bestimmter sozialer Kreise können Regeln gelten, bei deren Verletzung der einzelne "soziale Mißbilligung" z. B. in Form des geschäftlichen Boykotts oder sozialer Ausgrenzung zu erwarten hat. Also ist die Fügung in die konventionale Ordnung das adäquate Verhalten, die ungünstigen Folgen zu vermeiden, wenn man die Konvention nicht ohnehin akzeptiert. 226 Die erwartbaren Folgen von Normverletzungen können schluß an Schluchter, Entwicklung des okzidentalen Rationalismus, S. 192 ff. vor. Durch einen strukturtheoretischen Ansatz, dem die Unterscheidung von Entwicklungs- und Strukturperspektive auf Handeln und Herrschaft zugrunde liegt, gelangt er zu einer Relationierung von Handlungs- und Herrschaftstypologie nach dem jeweils vorherrschenden Handlungsaspekt. In dieser Zuordnung korrespondiert dann dem zweckrationalen Handlungstypus die Herrschaft kraft Interessenkonstellation (Marktlage), dem wertrationalen die Herrschaft kraft alltäglicher Autorität (traditionale und legale Herrschaft) und schließlich dem affektuellen Handlungstyp die Herrschaft kraft außeralltäglicher Autorität (Charisma). Die hier vertretene Deutung betont demgegenüber den entwicklungsgeschichtlichen Aspekt. 224 Vgl. Peter Baumann, Die Motive des Gehorsams bei Max Weber: eine Rekonstruktion, in: Zeitschrift für Soziologie, 22 (1993), S. 355 ff., hier S. 359. 225 WG, S. 17. 226 Zur "Konvention" als äußerlich garantierter Ordnung vgl. "Soziologische Grundbegriffe", WG, S. 17 und "Die Wirtschaft und die Ordnungen", ebd., S. 187: "Unter ,Konvention' wollen wir dagegen den Fall verstehen, daß auf ein bestimmtes Verhalten zwar eine Hinwirkung stattfindet, aber durch keinerlei physischen und psychischen Zwang und überhaupt zum 6 Henne,
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aber außerdem soziale oder ökonomische Kosten sein, die durch das mögliche Eingreifen einer institutionalisierten Sanktionsmacht entstehen. Eine solche Ordnung, die "äußerlich garantiert ist durch die Chance [des] (physischen oder psychischen) Zwanges durch ein auf Erzwingung der Innehaltung oder Ahndung der Verletzung gerichtetes Handeln eines eigens darauf eingestellten Stabes von Menschen",227 nennt Weber "Recht" bzw. "Rechtsordnung".228 Zu den sozialen Gebilden, die ihre (Rechts-)Ordnungen mittels eines solchen "Zwangsapparates" durchsetzen, gehört neben anderen und in historisch zunehmendem Maß: der politische Verband. 229 Verbands- und Anstaltsbegriff23o, denen mindesten nonnalerweise und unmittelbar durch gar keine andere Reaktion als durch die bloße Billigung oder Mißbilligung eines Kreises von Menschen, welche eine spezifische ,Umwelt' des Handelnden bilden." Daß auch darin eine Zwangswirkung liegt und folglich der Zwang an sich kein geeignetes Kriterium zur Unterscheidung von Konvention und Recht bildet, erkennt Weber explizit an, indem er seine geordnete Ausübung, d. h. die Existenz einer Rechtszwangsinstanz, zum begriffswesentlichen Differenzpunkt macht (vgl. ebd., S. 191). 227 WG, S. 17 und die sinngleiche Fonnulierung in "Die Wirtschaft und die Ordnungen", ebd., S. 185, 182. 228 Für die Geltung der Rechtsordnung als legitime im Sinne der "Soziologischen Grundbegriffe", WG, S. 16 wäre die Vorstellung ihrer (subjektiven) Verbindlichkeit bei "mindestens einem Teil der Handelnden" vorauszusetzen. Von ihrer Geltung könnte - streng genommen dann nicht die Rede sein, wenn sie subjektiv ausschließlich zweckrational oder gewohnheitsmäßig befolgt würde. Das wäre begrifflich konsequent und zeigt Webers Interesse für eine Handlungsorientierung, die dem zweckrationalen Typus diametral entgegengesetzt ist: die wertrationale, speziell: den "Legitimitäts-Glauben". Dies ist gegenüber der Darstellung in "Die Wirtschaft und die Ordnungen", ebd., S. 181 ff. festzuhalten, wo die theoretische Möglichkeit ausschließlich nicht-nonnativer Fügsarnkeitsmotive lediglich die Charakterisierung der Ordnung als Recht im subjektiven Sinn verbiete. Dagegen gilt sie empirisch so lange, wie ein ordnungsorientiertes Handeln "in relevantem Umfang" stattfindet. Empirisch geltende Rechts-Ordnung ist sie darüberhinaus, solange ein Zwangsapparat ihre Durchsetzung wirksam garantiert (vgl. ebd., S. 182). 229 Zum ,,zwangsapparat" vgl. GAWL, S. 447. Die Maschinenmetapher ist ein im 18. und 19. Jh. verbreiteter Topos der staatswissenschaftlichen Literatur und für den Staat als Rechtszwangsinstanz namentlich von Rudolfv. Jhering, Der Zweck im Recht, Bd. I, Leipzig 31893, S. 234 ff., 327 geprägt worden (staatliche Rechtszwangsorganisation als ,,zwangsmaschine"). Jherings auch sonst unbefangener Gebrauch naturalistischer und organologischer Metaphorik exemplifiziert im übrigen den methodologisch unaufgeklärten Traditionsbestand der historischen Schule ebenso wie die Orientierung einer positivistischen Rechtswissenschaft am Vorbild der Naturwissenschaften im späteren 19. Jh. (vgl. Karl Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, Berlin u. a. 61991, S. 25). Zur ,Staatsmaschine' vgl. den begriffsgeschichtlichen Überblick bei Anter, Max Webers Theorie, S. 211 ff.; im Monarchiediskurs des ,Absolutismus': Barbara Stollberg-Rilinger, Der Staat als Maschine. Zur politischen Metaphorik des absoluten Fürstenstaats, Berlin 1986. 230 Weber rezipiert für seine Zwecke den juristischen Anstaltsbegriff, dessen rechtsgeschichtliche Herkunft aus dem spätrömischen Kirchenrecht und dessen dogmatische Ausarbeitung in der mittelalterlichen kanonistischen Korporationstheorie Otto v. Gierke eindrucksvoll entfaltet hat (Das deutsche Genossenschaftsrecht, Bd. 2: Geschichte des deutschen Körperschaftsbegriffs, Berlin 1873, S. 546 ff., 958 ff., bes. 546, 554, 959 sowie Bd. 3: Die Staats- und Korporationslehre des Alterthums und des Mittelalters und ihre Aufnahme in
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Weber im Kategorienaufsatz wie in den "Soziologischen Grundbegriffen" ihren "soziologischen Sinn unterschiebt", sind für die herrschaftssoziologische Fragestellung von erheblichem Interesse. Hat etwa - wie Schluchter annimmt231 - zwischen den beiden grundbegrifflichen Abhandlungen tatsächlich eine wesentliche Verschiebung der Verhältnisbestimmung zwischen Verband und Anstalt stattgefunden? Im Kategorienaufsatz lautet die Begriffsbestimmung des Verbands: "Als Verbandshandeln gilt uns ein nicht an Satzungen, sondern an Einverständnis orientiertes, also: ein Einverständnishandeln, bei welchem 1. die Zurechnung des Einzelnen iur Teilnahme einverständnismäßig ohne sein eigenes darauf zweckrational gerichtetes Zutun erfolgt und bei welchem ferner 2. trotz des Fehlens einer darauf abgezweckten gesatzten Ordnung dennoch jeweils bestimmte Personen (Gewalthaber) einverständnismäßig wirksame Ordnungen für das Handeln der einverständnismäßig zum Verband gerechneten Beteiligten erlassen, wenn ferner 3. sie selbst oder andere Personen sich zu eventuellen Ausübungen von physischem oder psychischem, wie immer geartetem, Zwang gegen einverständniswidrig sich verhaltende Teilnehmer bereit halten .•.232
Diese Definition ist nicht unproblematisch. Denn erstens stellt der Erlaß "einverständnismäßig wirksamer Ordnungen" durch bestimmte Personen doch sicher eine "einseitige (sogar ausdrückliche) Aufforderung von Menschen an Menschen" (Oktroyierung) dar, und hätte insoweit als "Satzung" im Sinne der "provisorischen" Begriffsbestimmung des Kategorienaufsatzes zu gelten. 233 Nun sollen aber definitions gemäß die oktroyierten Verbandsordnungen (im Unterschied zur Anstalt) keine (zweckvoll) gesatzten sein. Daraus folgt, daß nicht jede oktroyierte Ordnung - qua Oktroyierung - als gesatzte Ordnung zu bezeichnen ist, sondern erst die Oktroyierung einer rationalen (planvoll geschaffenen) Ordnung den Tatbestand der Satzung erfüllt. Webers weitere Verwendung des Satzungsbegriffs in diesem Sinn bestätigt das. 234 Die erwähnte provisorische Satzungsdefinition wäre Deutschland, Berlin 1881, bes. S. 116 ff., 243 ff., 799 ff.). Vgl. Webers Ausführungen dazu WG, S. 425, 429. Darauf wird verschiedentlich zurückzukommen sein. 231 Schluchter, Religion und Lebensführung H, S. 622. Verbandshandeln und Anstaltshandeln, jenes als ein Typus des Einverständnishandeins, dieses als eine Form des Gesellschaftshandelns stünden sich im Kategorienaufsatz polar gegenüber, während in den "Soziologischen Grundbegriffen" der Verband zum Oberbegriff für die Anstalt geworden sei. Die Gegenüberstellung von "Anstalt" und "Verband" ist auch bei Gephart, Gesellschaftstheorie und Recht, S. 494 ff. angelegt und dabei die "Verfassung" als "Scheidelinie" ausgemacht. Mit Weber wäre dagegen einzuwenden, daß ein Einverständnis über die "faktische Oktroyierungsmacht" die "empirisch geltende Verfassung" sowohl des Verbandes wie seines rationalen Spezialfalls: der Anstalt konstituiert (vgl. GAWL, S. 469), diese deshalb kein taugliches Unterscheidungskriterium ist. Um den Unterschied zum juristischen Verfassungsbegriff zu betonen, setzt Weber hinzu: "Satzungen geben daher über die empirisch geltende, letztlich stets aufverbandsmäßigem ,Einverständnis' ruhende, Oktroyierungsgewalt [zuvor als Verfassung bezeichnet, S.H.] nur unsicheren Aufschluß" (ebd., eigene Hervorhebung) und analog die Bestimmung des soziologischen Verfassungsbegriffs in "Die Wirtschaft und die Ordnungen", WG, S. 194 sowie speziell in den "Soziologischen Grundbegriffen", ebd., S. 27. 232 GAWL, S. 466. 233 Vgl. GAWL, S. 442. 234 Vgl. GAWL, S. 466, 468 f., 471. 6*
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insoweit zu präzisieren. Zweitens: Die Einleitungsformulierung zu Punkt 2 wiederholt - zu Unterscheidungszwecken - die schon beim Einverständnis ("trotz des Fehlens einer Vereinbarung") monierte Mehrdeutigkeit, die, soweit sie zur Disjunktion hier von gesatzten und einverständnismäßig geltenden Ordnungen führt, der Begriffslogik des Kategorienaufsatzes zuwiderläuft. Nach der Kasuistik von Einverständnis- und Gesellschafts-, Verbands- und Anstaltshandeln muß nämlich die Satzung als rationaler Spezialfall der einverständnismäßig geltenden Ordnung verstanden werden können, wie das gleicherweise für das begriffliche Verhältnis von Vereinbarung und Einverständnis, Vergesellschaftung und EinverständnisVergemeinschaftung, Anstalt und Verband zu postulieren wäre. Insoweit gelten die gegen die Einverständnis-Definition erhobenen Vorbehalte analog. Die wesentlichen Begriffsmerkmale des Verbands sind jedenfalls: askriptive Geschlossenheit,235 oktroyierte Ordnungen236 sowie ein Zwangsapparat. Was unterscheidet nun den Verband von der Anstalt? Weber definiert: "Wir wollen solche Gemeinschaften, bei denen dieser Sachverhalt - also: 1. im Gegensatz zum freiwilligen ,Zweckverein': die Zurechnung aufgrund rein objektiver Tatbestände unabhängig von Erklärungen der Zugerechneten, - 2. im Gegensatz zu den einer absichtsvollen rationalen Ordnung entbehrenden, in dieser Hinsicht also amorphen EinverständnisVergemeinschaftungen: die Existenz solcher rationaler von Menschen geschaffener Ordnungen und eines Zwangsapparates als einer das Handeln mitbestimmenden Tatsache, gegeben ist, als ,Anstalten' bezeichnen. ,,237
Die Anstalt ist also gekennzeichnet durch: (rational) regulierte Geschlossenheit, gesatzte rationale Ordnungen sowie einen Zwangsapparat. Die Weberschen Begriffsbestimmungen machen klar, daß von einem "polaren Gegensatz" zwischen Verband und Anstalt im Kategorienaufsatz schwerlich die Rede sein kann?38 Vielmehr erscheint die Anstalt als der rationale Spezialfall des Verbands und das genus proximum ist der Verband. Weber hat das auch ausdrücklich formuliert: So wie das Gesellschaftshandeln, d. h. das an rationalen Ordnungen wert- und zweckrational orientierte Handeln, "lediglich den durch Satzung geordneten Spezialfall [des EinverständnishandeIns, S.H.] darstellt",239 so ist das Anstaltshandeln240 Z. B. von Familiengemeinschaften, Sippen, Stämmen. Weber denkt hier wohl in erster Linie an "traditionale" Ordnungen und solche mit Offenbarungscharakter, die von politischen Gewalthabern durchgesetzt werden, ohne auf ihre Initiative ursprünglich zurückzugehen. "Gesatzt" im Weberschen Sinn sind - qua Oktroyierung - freilich auch sie. Dies ist eine Konsequenz des "provisorischen" Satzungsbegriffs im Kategorienaufsatz, GAWL, S. 442. Unter Berücksichtigung der vorgeschlagenen Präzisierung zeigt dann freilich gerade der Webersche Satzungsbegriff das hierarchische Ordnungsverhältnis der Kategorien "Einverständnis"-, "Verbands"- und "Anstaltshandeln". 237 GAWL, S. 466. Den "Zweckverein" als Idealtypus der Vergesellschaftung definiert Weber im Kategorienaufsatz, GAWL, S. 447. Begriffskonstitutiv sind die rational gesatzte Ordnung und - im Unterschied zur Anstalt - die voluntaristische Mitgliedschaft. 238 So aber Schluchter; Religion und Lebensführung 11, S. 622. 239 GAWL, S. 461. 240 Als Form des Gesellschafts- oder auch des Vergesellschaftungs-Hande1ns. 235
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"der rational geordnete Teil eines, Verbands' -handeins [als ein Typus des Einverständnishandeins, S.H.], die Anstalt ein partiell rational geordneter Verband. Oder - der Übergang ist soziologisch angesehen durchaus flüssig - die Anstalt ist zwar eine völlig rationale ,Neuschöpfung', aber doch nicht in einem gänzlich ,verbandsleeren' Geltungsbereich. ,,241
Mit anderen Worten: der Verband als Fonn der Einverständnis-Vergemeinschaftung 242 ist im Vergesellschaftungsfall und für die davon betroffenen Bereiche: Anstalt. Jeder Verband kann durch rationale Ordnung des ihm zuzurechnenden Handelns (Verbandshandeln)243 ganz oder teilweise den Charakter der Anstalt annehmen. Jede Anstalt ist notwendig entweder ein rational geordneter Verband oder der rational geordnete Teil eines übergeordneten Verbandes. Darin liegt geradezu der Kern des von Weber diagnostizierten Rationalisierungsprozesses, daß "im Verlauf der für uns übersehbaren geschichtlichen Entwicklung, zwar nicht eindeutig ein ,Ersatz' von Einverständnishandeln durch Vergesellschaftung, wohl aber eine immer weitergreifende zweckrationale Ordnung des Einverständnishandelns durch Satzung und insbesondere eine immer weitere Umwandlung von Verbänden in zweckrational geordnete Anstalten zu konstatieren,,244 ist. Gesellschaftshandeln und Anstalt sind somit die rationalen Spezialfälle von Einverständnishandeln und Verband. Einverständnishandeln, Einverständnis-Vergemeinschaftung und Verband sind die Grundkategorien aller irgendwie geordneten mikro- und makrosozialen Beziehungen, als deren rationale Spezialfälle Weber für die Zwecke der verstehenden Soziologie (heuristische Bedeutung der Zweckrationalität,245 RationalisieGAWL, S. 467. Zu der auf Einverständnis beruhenden Einverständnis-Vergemeinschaftung des Kategorienaufsatzes vgl. GAWL, S. 452 ff. 243 GAWL, S. 467; vgl. WG, S. 26. 244 GAWL, S. 471; vgl. die Parallel stelle in "Die Wirtschaft und die Ordnungen", WG, S. 196. Die Berührung mit den Tönniesschen Ordnungskategorien von "Wesen"- bzw. "Kürwillen" und der These einer sukzessiven Verdrängung des ersteren durch den letzteren, von ,organischen Gemeinschaften' durch ,künstliche Gesellschaften', wird an dieser Stelle besonders greifbar (vgl. Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft, S. 103 ff.; es gilt dabei freilich, sich die nicht nur analytische, zeitdiagnostische Rolle von Tönnies ' Begriffsinventar zur Analyse von Kollektivpersonen gegenwärtig zu halten, die - bei aller Vorsicht der Deutung doch letztlich den anti voluntaristisch-kollektivistischen Wesen willen der Gemeinschaft gegen den voluntaristisch-individualistischen Kürwillen der modernen Gesellschaft mobilisiert. Hierzu z. B. OUo Gerhard Oexle, Kulturwissenschaftliche Reflexionen über soziale Gruppen in der mittelalterlichen Gesellschaft: Tönnies, Simmel, Durkheim und Max Weber, in: Christian Meier (Hg.), Die okzidentale Stadt nach Max Weber. Zum Problem der Zugehörigkeit in Antike und Mittelalter (Historische Zeitschrift, Beiheft 17), München 1994, S. 115 ff., hier S. 120-124). - Dies und die Weberschen Formulierungen ("Ersatz", "Umwandlung") können im Zusammenhang mit der Diagnose eines fortlaufenden Transformationsprozesses dem Mißverständnis Vorschub leisten, als handele es sich - begrifflich - bei der Anstalt um einen Antipoden des Verbands. Verstärkt wird der Eindruck durch die tautologische Formulierung einer "Umwandlung" in "zweckrational geordnete Anstalten", denn gemeint sind natürlich "zweckrational geordnete Verbände", die insoweit "Anstalten" sind. 245 Vgl. GAWL, S. 432 ff.; vgl. auch WG, S. 3. 241
242
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11. Methodik der verstehenden Soziologie
rungs- und Vergesellschaftungsprozeß246 ) Gesellschaftshandeln, Vergesellschaftung und Anstalt ausgezeichnet hat. Deshalb galt es zu zeigen, daß die grundlegende Kategorie des Einverständnishandelns in den "Soziologischen Grundbegriffen" in dem für die dortigen weiteren Definitionen fundamentalen Begriff der sozialen Beziehung aufgegangen ist. 247 Und daß daher alle Formen sozialer Beziehungen - seien sie auf "subjektiv gefühlter (affektueller oder traditionaler) Zusammengehörigkeit der Beteiligten" beruhende Vergemeinschaftungen248 oder "auf rational (wert- oder zweckrational) motiviertem Interessenausgleich oder auf ebenso motivierter Interessenverbindung " basierende Vergesellschaftungen,249 seien sie Verbände250 oder durch positive Satzungen rational geordnete Anstalten 251 -letztlich, in der Terminologie des Kategorienaufsatzes zu sprechen, auf jeweils besondere Einverständnisse zurückgehen und also sämtlich Einverständnisgemeinschaften verschiedener Art sind. 252 Zurück zum begrifflichen Verhältnis von Anstalt und Verband. Nach der Begriffsbestimmung im Kategorienaufsatz wäre beispielsweise ein politisches Gebilde mit dem Fürsten als Gewalthaber, solange es rationale Satzungen entbehrte, primär auf traditionalem Fundament ruhte, ein patrimonialer politischer Verband. Mit dem Auftreten (rational) gesatzter Ordnungen würde aus dem patrimonialen Verband eine Anstalt, zumindest für den Geltungsbereich der Satzung. 253 Gesetzgeberisch ist der Fürst - wie Weber in der Rechtssoziologie betont254 - vielfach zuerst auf dem Gebiet des Strafrechts tätig geworden und hat hier rationale Strafrechtssatzungen geschaffen. Das patrimoniale Herrschaftsgebilde wäre demzufolge ein partiell anstaltsartig organisierter politischer Verband. Und der denkbarerweise Vgl. GAWL, S. 471, 461; "Die Wirtschaft und die Ordnungen", WG, S. 196. Vgl. WG, S. 13 f. 248 WG, S. 21. 249 WG, S. 21. 250 WG, S. 26. 251 WG, S. 28. 252 Die Einverständnis-Vergemeinschaftung des Kategorienaufsatzes ist demnach begrifflich nicht zu verwechseln mit der Vergemeinschaftung der "Soziologischen Grundbegriffe", sondern umfaßt diese als den auf affektuellem bzw. traditionalem Fundament ruhenden Unterfall. 253 Soweit Weber nun im Kategorienaufsatz den Staat als rational geordneten politischen Verband ("Anstalt") begreift, scheint die definitorische Einführung des "patrimonialstaatlichen Gebildes" in der älteren Herrschaftssoziologie andere begriffskonstitutive Faktoren heranzuziehen. Über haus- und grundherrliehe Gewalten hinausgehende öffentliche (Militärund Gerichts-)Gewalten sollen begrifflich entscheiden. Mit dem vergleichsweise weiten Satzungsbegriff des Kategorienaufsatzes läßt sich hingegen zwanglos eine Brücke zum dortigen Staatsbegriff schlagen. Der Patrimonialherrscher ordnet als Militär- und Gerichtsherr durch individuelle oder generelle Anordnungen, durch die Wahrnehmung von Satzungskompetenzen im weitesten Sinn also, den politischen Verband, der insoweit - in der Diktion der älteren Herrschaftssoziologie wie des Kategorienaufsatzes - ,Staat' ist. 254 Vgl. z. B. WG, S. 483. 246 247
2. Handeln und Herrschaft in der verstehenden Soziologie
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vollständig durch rationale Satzungen geordnete patrimoniale politische Verband bildete eben als solcher eine Anstalt. Wie sieht nun das Verhältnis in den "Soziologischen Grundbegriffen" aus? Dort heißt es: "Verband soll eine nach außen regulierend beschränkte oder geschlossene soziale Beziehung dann heißen, wenn die Innehaltung ihrer Ordnung garantiert wird durch das eigens auf deren Durchführung eingestellte Verhalten bestimmter Menschen: eines Leiters und, eventuell, eines Verwaltungsstabes, der gegebenenfalls normalerweise zugleich Vertretungsgewalt hat. ,,255
Die Begriffsmerkmale des Verbandes sind nach dieser Definition also: (regulierte) Geschlossenheit, Ordnungen (irgendwelcher Art) und ein Zwangsapparat. Zwar wird die Verbandskategorie durch die ggf. bloß relative Geschlossenheit gegenüber der des Kategorienaufsatzes umfassender. Das ermöglicht insbesondere die Einbeziehung des Vereins als "vereinbarter Verband", dessen Mitgliedschaft im verbandsdefinierten Rahmen durch Willenserklärungen der Beteiligten zustande kommt. 256 Gerade darin bleibt freilich die Parallele zur früheren Verbandsdefinition augenfällig, daß begrifflich jede rational geregelte Beschränkung oder Schließung des Verbands insbesondere aufgrund "rational (planvoll) gesatzte[r] Ordnungen,,257 nur einen Unterfall des Verbandes konstituieren würde, dieser also als Oberbegriff fungiert. Folglich soll " ,Anstalt , [ ... ] ein Verband heißen, dessen gesatzte Ordnungen innerhalb eines angebbaren Wirkungsbereiches jedem nach bestimmten Merkmalen angebbaren Handeln (relativ) erfolgreich oktroyiert werden.,,258 Die Kriterien des Verbandes sind ersichtlich durch das Merkmal der rationalen Geordnetheit spezifiziert. Die Anstalt als der ganz oder partiell rational geordnete Verband ist aber der begriffliche Standpunkt schon des Kategorienaufsatzes. Weitgehend sinnentsprechend - natürlich in der Diktion der jeweils verwendeten Terminologie - sind die sich an den spezifischen Oktroyierungscharakter der Anstaltssatzungen anschließenden Sach- und Begriffsklärungen. Als "Verfassung im empirischen Sinn" bezeichnet Weber die faktische Oktroyierungsmacht, die mit der tatsächlichen Einhaltung der gesatzten Ordnungen korrespondiert. 259 In der WG, S. 26. Vgl. WG, S. 28. In dieser Hinsicht bleibt der Verein (,,zweckverein") des Kategorienaufsatzes gegenüber dem der "Soziologischen Grundbegriffe" disparat. Er läßt sich zwar wie der Verband als Unterfall einer Einverständnisgemeinschaft konzipieren (Vereinssatzung als Einverständnis der Vereinsmitglieder), schließt aber die Zurechnung zum Verband als Oberbegriff (wegen der Differenz vereinbarte Ordnung/freiwillige Mitgliedschaft vs. oktroyierte Ordnung/Zwangsrnitgliedschaft) aus (vgl. GAWL, S. 447). Die Begriffsreihe lautet also: Einverständnisgemeinschaft - Verein/Verband - Anstalt. Dagegen in den "Soziologisehen Grundbegriffen": soziale Beziehung - Verband - Verein/ Anstalt. 257 WG, S. 28. 258 WG, S. 28. 259 Vgl. die entsprechenden Formulierungen im Kategorienaufsatz und in den "Soziologischen Grundbegriffen". GAWL, S. 469: "Denn in Wahrheit ist natürlich die jeweils nur 255
256
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II. Methodik der verstehenden Soziologie
empirischen Verfassung eines Verbandes drückt sich daher derjenige faktische Einfluß eines Einzelnen oder mehrerer auf das Verbandshandeln260 aus, den Weber definitorisch als Herrschaft bestimmt. 261 In der älteren Herrschaftssoziologie unterscheidet Weber noch "zwei polar einander entgegengesetzte Typen von Herrschaft": auf der einen Seite die "Herrschaft kraft Interessenkonstellation", deren reinster Typus "die monopolistische Herrschaft auf dem Markt" sei, auf der anderen die "Herrschaft kraft Autorität", als deren reinste Typen ihm hausherrschaftliehe, amtliche und fürstliche Gewalt erscheinen?62 In der jüngeren Fassung wird allerdings der Herrschaftsbegriff auf Autoritätsverhältnisse beschränkt, auch und gerade, wenn er auf andere als im engeren Sinn politische Verhältnisse Anwendung findet. An seine Stelle tritt für die nicht autoritären Fälle ungleicher Verteilung von Einflußchancen der Machtbegriff. 263 Gerade die faktische politische Herrschaft ist in der Regel Resultat eines (geregelten oder ungeregelten, friedlichen oder gewaltsamen) "Kampfes" zwischen politischen Machtprätendenten. Kampf als möglicher Inhalt (Sinngehalt) aller Arten von Einverständnisgemeinschaften (oder Vergesellschaftungen) bzw. sozialen Beziehungen, aber auch als eigenständige Form einer Einverständnis-Vergemeinschaftung (oder Vergesellschaftung) bzw. sozialen Beziehung, findet deshalb sowohl im Kategorienaufsatz 264 wie speziell in den "Soziologischen Grundbegriffen,,265 seinen kategorialen Niederschlag. Kampf und abschätzbare Chance: welchen Menschen, inwieweit und in welchen Hinsichten, sich letztlich die nach der üblichen Deutung jeweils gemeinten Zwangsbeteiligten praktisch durchschnittlich ,fügen' würden, der entscheidende Inhalt desjenigen ,Einverständnisses', welches die wirklich empirisch geltende ,Verfassung' darstellt." Und, WG, S. 27: "Verfassung eines Verbandes soll die tatsächliche Chance der Fügsamkeit gegenüber der Oktroyierungsmacht der bestehenden Regierungsgewalten nach Maß, Art und Voraussetzungen heißen." 260 Darunter fällt ggf. das Handeln der Verbandsorgane, also des Verwaltungsstabes, und das "verbandsbezogene", d. h. das unmittelbar mit dem Vollzug der Verbandsordnungen zusammenhängende Handeln der Verbandsmitglieder; vgl. GAWL, S. 467; WG, S. 26. 261 Vgl. WG, S. 122,28: "Herrschaft soll heißen die Chance, für einen Befehl bestimmten Inhalts bei angebbaren Personen Gehorsam zu finden." Vgl. die Bestimmung von Herrschaft beim Herrschafts-Einverständnis im Kategorienaufsatz (GAWL, S. 456) und die parallele Herrschaftsdefinition in der älteren Herrschaftssoziologie, wo bezeichnenderweise die Einverständnis-Kategorie fehlt (WG, S. 544). Für die Datierung der Nachlaßfragmente zur Herrschaftssoziologie dürfte das nicht unwichtig sein. 262 Vgl. WG, S. 542. 263 Vgl. WG, S. 122 f. 264 Vgl. GAWL, S. 463. 265 Der § 8, WG, S. 20 f. behandelt den Kampf als Form der sozialen Beziehung. Zum Kampf als Inhalt von "Vergemeinschaftungen" und "Vergesellschaftungen" vgl. § 9, WG, S. 22. Die zentrale Stellung des Kampf-Paragraphen in den ,,soziologischen Grundbegriffen" und speziell für die Staatssoziologie Max Webers hat Zängle, Staatstheorie, bes. S. 33 ff. herausgestellt. Anderer Auffassung ist Johannes Weiß, der dem ,Kampf' keine für Webers Kategorienlehre "konstitutive" Rolle zubilligen möchte, vielmehr in der Verwendung einer anthropologisch konnotierten Bedeutungsvariante (,Kampf' im Sinne von sozialer oder biologischer Auslese) zur Erklärung geschichtlich-gesellschaftlicher Konfliktlagen einen Verstoß gegen methodologische Grundsätze der verstehenden Soziologie ausmacht (Max Webers
2. Handeln und Herrschaft in der verstehenden Soziologie
89
Macht sind dabei ersichtlich Korrespondenzbegriffe. Dem Kampf als einem "die Durchsetzung des eigenen Willens gegen den Widerstand des oder der Partner,,266 bezweckenden Handeln korrespondiert "Macht" als "Chance, [ ... ] den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen [ ... ].,,267 Politik wiederum gilt Weber geradezu als Paradigma des Kampfes um Macht. 268 Und diese als Vehikel der Durchsetzung von Interessen. 269 Faktische Machtkonstellationen innerhalb politischer Gebilde sind in diesem Sinn immer zugleich spezifische Interessenbzw. Interessenten-Konstellationen, die nicht zuletzt auf den Inhalt der geltenden, speziell: gesatzten Ordnungen Einfluß nehmen. Der Begriff "Herrschaft" beschreibt daher die institutionelle Wendung von Machtbeziehungen. Über Herrschaft werden individuelle Entscheidungen oder generelle Regelungen effektuiert oder etabliert, die soziale Ordnung ermöglichen. Es folgen einige für die Herrschaftssoziologie relevante Begriffe, für die es zumindest in der publizierten Version des Kategorienaufsatzes keine Entsprechung gibt. So heißt "Herrschaftsverband" der Verband, dessen Mitglieder "llis solche kraft geltender Ordnung Herrschaftsbeziehungen unterworfen sind. ,mo Die Kategorie des Herrschaftsverbands ist allerdings kein echter Unterfall des Verbandsbegriffs, expliziert begrifflich lediglich - wie Weber in den Erläuterungsbemerkungen ausdrücklich einräumt - das schon im Verbandsbegriff implizit enthaltene Herrschaftsmoment. Weil der Verband durch die institutionalisierte Zwangsandrohung bzw. -anwendung zur Durchsetzung der Verbandsordnung definiert ist, sei jeder Verband "vermöge der Existenz eines Verwaltungs stabs stets in irgendeinem Grade Herrschaftsverband".271 Gegenüber dem Verbandsbegriff ist der Begriff des Herrschaftsverbandes insoweit unterbestimmt und für die weitere Begriffskasuistik wohl auch deshalb randständig. Der politische Verband (als Unterfall des Herrschaftsverbands) spezifiziert die übrigen Verbandsmerkmale durch die GebietsGrundlegung der Soziologie. Eine Einführung, München 1975, S. 96-98). Nach Wagner wiederum schließt Weber mit dieser auf "Kampf', "Auslese" und "Anpassung" fokussierenden Anthropologie an Hobbes' Konzipierung des sozialen Ordnungsproblems an, und zwar vermittelt über die strukturell analoge Erkenntnistheorie des Neukantianismus (Hobbes' Naturzustand / neukantianischer Wirklichkeitsbegriff; Hobbes' Gottesbegriff / neukantianischer Wertbegriff; Hobbes' Staatsbegriff / neukantianischer Kulturbegriff); vgl. Gerhard Wagner; Gesellschaftstheorie als politische Theologie? Zur Kritik und Überwindung der Theorien normativer Integration, Berlin 1993, S. 186 ff., bes. 193 - 200, 205 f. 266 WG, S. 20; vgl. GAWL, S. 463. 267 WG, S. 28. 268 In "Politik als Beruf', MWS 1/17, S. 36 heißt es: ",Politik' würde für uns also heißen: Streben nach Machtanteil oder nach Beeinflussung der Machtverteilung, sei es zwischen Staaten, sei es innerhalb eines Staates zwischen den Menschengruppen, die er umschließt." 269 Die folglich allen "geltenden" Ordnungen irgendwie zugrunde liegen. Vgl. GAWL, S. 452, 460; WG, S. 21 f. 270 WG, S. 29. 271 WG, S. 29 (eigene Hervorhebung). Es hätte gemäß der Verbandsdefinition besser geheißen: "vermöge der Existenz einer Zwangsgewalt", denn der "Verband" setzt zwar eine Sanktionsinstanz, nicht aber notwendig einen Verwaltungs stab voraus.
II. Methodik der verstehenden Soziologie
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geltung seiner Ordnungen und die typischerweise physischen Zwangsmittel seines Verwaltungsstabs (,,zwangsapparates,,).272 Hierbei ist nun nicht begrifflich, sondern empirisch der implizierte Gebietsverbandscharakter273 problematisch. Das darin für das geltende Recht geforderte Territorialitätsprinzip würde streng genommen zahlreichen unzweifelhaft politischen Verbands bildungen (z. B. die mittelalterlichen Kontinentalreiche im Vergleich zum normannischen England) infolge des herrschenden Personalitätsprinzips, wonach die Personenverbandszugehörigkeit über das anzuwendende Recht entschied, von der Begriffsverwendung ausschließen. 274 Dem entgeht der dem politischen Verband sachlich entsprechende Begriff der "politischen Gemeinschaft".275 Darunter will Weber eine solche verstehen, "deren Gemeinschaftshandeln dahin verläuft: ,ein Gebiet' (nicht notwendig: ein absolut konstantes und fest begrenztes, aber doch ein jeweils irgendwie begrenzbares Gebiet) und das Handeln der darauf dauernd oder auch zeitweilig befindlichen Menschen durch Bereitschaft zu physischer Gewalt, und zwar normalerweise auch Waffengewalt, der geordneten Beherrschung durch die Beteiligten vorzubehalten [ ... ].,,276
Die "geordnete Beherrschung" des Gebiets schließt die Geltung des Personalitätsprinzips definitorisch gerade nicht aus. 277 Den Staat als spezifisch modeme Form des politischen Verbands kennzeichnet sein Anstaltscharakter (rational gesatzte Ordnungen)278, sein Betriebscharakter (kontinuierlich zweckhandelnder Verwaltungsstab )279 und das legitime Gewaltmonopol. 280 Mit Hilfe des bereits bekannten Verfahrens abgestufter Dichotomisierung kann man die Begriffskasuistik des Verbands der entsprechenden - freilich weniger konsistenten - Begriffsreihe Vgl. WG, S. 29. Vgl. WG, S. 27. Weber hat hierfür die juristische Kategorie der "Gebietskörperschaft" aus der Gierke nahestehenden Staatsrechtslehre von Preuss rezipiert; vgl. Hugo Preuss, Gemeinde, Staat, Reich als Gebietskörperschaften. Versuch einer deutschen Staatskonstruktion auf der Grundlage der Genossenschaftstheorie, ND Aalen 1964 eI889), bes. S. 199 ff., 320 f. 274 Vgl. dazu etwa die Ausführungen in der Rechtssoziologie, WG, S. 417 f. 275 Im nachgelassenen Text über "Politische Gemeinschaften", WG, S. 514 ff. 276 WG, S. 514. 277 Es heißt übrigens nicht: "Unter dem politischen Verband wollen wir einen solchen verstehen, dessen Einverständnishandeln dahin verläuft usw." Grundbegriff ist hier noch die Gemeinschaft, nicht dagegen der in Übereinstimmung mit der Kasuistik des Kategorienaufsatzes im Werkplan von 1914 als Ordnungsbegriff vorgesehene (politische) Verband. Vgl. die "Einteilung des Gesamtwerkes", abgedr. bei Winckelmann, Hauptwerk, S. 168-171, hier S.169. 278 Vgl. WG, S. 29 und GAWL, S. 466. 279 Dies die Definition des "Betriebsverbands", WG, S. 28. 280 Vgl. WG, S. 29 f. Zum Prozeß der Monopolisierung der physischen Gewaltmittel durch den politischen Verband (in seiner modernen Form: den Staat) vgl. die beiläufige Bemerkung im Kategorienaufsatz, GAWL, S. 464. Auf die (m.E. nur scheinbare) Inkonsistenz und Entwicklung des Webersehen Staatsbegriffs hat Stefan Breuer aufmerksam gemacht (Max Webers Staatssoziologie, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 45 (1993), S. 199 ff.); siehe dazu unten Kap. III. 2. b). 272
273
2. Handeln und Herrschaft in der verstehenden Soziologie
91
des Kategorienaufsatzes vergleichend gegenüberstellen. Abgelehnt wird hierbei wie gesehen - die als Differenz zu den "Soziologischen Grundbegriffen" für den Kategorienaufsatz behauptete Entgegensetzung von Anstalt und Verband (Abbildung 2).281 Die alternative Lesart des Kategorienaufsatzes müßte demgegenüber folgende Begriffsanordnung aufweisen (Abbildung 3). SoiJologische Grundbegriffe
Kategorien
soziale Beziehung
Einverständnis-Gemeinschaft
~
offen
~
geschlossen
geschlossen
offen
~
~
ohne Erzwingungs- Verband charakter ~ Kirche Staat ohne rationale politische Anstalt ~ Satzung
VGes/ VGem* ohne politischer Verband Erzwingungscharakter ~
ohne Monopolcharakter
Staat
* VGes -
Vergesellschaftung VGem - Vergemeinschaftung
Abbildung 2: Typologie der Sozialbeziehungs- bzw. Gemeinschaftsformen nach "Soziologischen Grundbegriffen" und Kategorienaufsatz
Ve rg e me inschaJtung
~
Einverständnis-VGem
Vergesellschaftung
~
Verband
~
~
offen / Verein
politischer / hiero- ohne Erzwingungskratischer Verband charakter
Anstalt
~
Kirche
Staat
Abbildung 3: Typologie der Gemeinschaftsformen nach Kategorienaufsatz
* * * 281 Gegenüber dem von Allerbeck, Kategorien, S. 667 und - daran anschließend - Breuer, Staatssoziologie, S. 212 vorgeschlagenen Partitionierungsverfahren sind hier einige Änderungen vorgenommen, die im Hinblick auf die vorrangig interessierende Kasuistik des "politisehen Verbands" sinnvoll erschienen. Insbesondere wird darauf verzichtet, den Herrschaftsverband als begrifflich eigenständigen Typus zwischen "Verband" und "politischen Verband" einzuziehen und um den polaren (von Weber nicht ausgeschriebenen) Gegenbegriff eines "Verbandes ohne Herrschaftsbeziehung" zu ergänzen. Dafür spricht, daß Weber selbst einen Verband ohne Herrschaftsbeziehung - streng genommen - begrifflich ausschließt (siehe oben).
92
11. Methodik der verstehenden Soziologie
Bisher kann zusammenfassend festgehalten werden: Die "Soziologischen Grundbegriffe" lassen sich in weiten Teilen durchaus als Übersetzung des Kategorienaufsatzes lesen. Wichtige inhaltliche Verschiebungen bzw. Ergänzungen sind der enger definierte Geltungsbegriff,282 die Ausdifferenzierung der Handlungstypologie sowie - auf ihrer Folie - der Garantien und Geltungsgründe legitimer Ordnungen, die typologische Unterscheidung von Vergemeinschaftungen und Vergesellschaftungen als Formen sozialer Beziehungen, schließlich die Kasuistik des Verbandsbegriffs (Herrschaftsverband, politischer und hierokratischer Verband, Staat und Kirche).283 Der hier begrifflich scharf gefaßte und für die weiteren Betrachtungen zu berücksichtigende soziologische Sachverhalt ist die Tatsache, daß Handeln, speziell solches auf politischem Gebiet, einerseits interessen-, nutzen-, erfolgs- (also zweckrational) orientiert, andererseits aber in bedeutendem Maße normativ (also wertrational) motiviert ist. Die Geltung und (mehr noch) Stabilität bestehender Ordnungen 284 hängt deshalb besonders eng mit fundamentalen Verbindlichkeitsvorstellungen (Geltungsgründen der legitimen Ordnung) zusammen und im Falle des die eigenen Ordnungen zwangsweise durchsetzenden politischen Verbandes notwendigerweise mit den Legitimitätsgrundlagen der Verbandsherrschaft (Geltungsgründen der legitimen Herrschaft). Gerade die Rechtsordnung, die Weber begrifflich an einen Zwangsapparat als äußerer Geltungsgarantie knüpft, zeigt diese Legitimationsfunktion der Herrschaft (im politischen Verband bzw. Staat). Denn die politische Herrschaft kann, indem sie Legitimitätsglauben erzeugt, von Rechtszwang weitgehend absehen. Die Legitimität der Ordnung rekurriert dann auf diejenige der (Verbands-)Herrschaft. Folgerichtig heißt es über den Herrschaftsverband in den "Soziologischen Grundbegriffen": "Die Art wie, der Charakter des Personenkreises durch welchen, und die Objekte, welche verwaltet werden, und die Tragweite der Herrschaftsge\tung bestimmen die Eigenart des Verbandes. Die ersten bei den Tatbestände aber sind im stärksten Maß durch die Art der Legitimitätsgrundlagen der Herrschaft begründet [ ... ]. ,,285
3. Legitimität und Legalität in der verstehenden Soziologie Wenige herrschaftssoziologische Kategorien Max Webers hatten eine solche Wirkungsgeschichte wie das Begriffspaar Legitimität und Legalität. 286 Immer wieVgl. mit anderer Akzentsetzung Lübbe, Legitimität kraft Legalität, S. 41 ff. Immerhin ist nicht auszuschließen, daß der Kategorienaufsatz in seiner ursprünglichen Fassung - wie im Falle der Typen normativer Ordnungen (Konvention, Recht) und ihrer Garantien das vermutlich zugehörige Textfragment "Die Wirtschaft und die Ordnungen" auch im Hinblick auf die Herrschaft und den politischen Verband weitere grundbegriffliche Ausführungen enthielt. 284 Ihre sachliche Kenntnis und ein Geltungs-Einverständnis bei den Akteuren vorausgesetzt. 285 WG, S. 29. 282
283
3. Legitimität und Legalität in der verstehenden Soziologie
93
der entzündete sich dabei die Diskussion an dem problematischen Verweisungszusammenhang zwischen allgemeiner Handlungstypologie und den verschiedenen Legitimitätstypologien, wie sie im vorangegangenen Abschnitt bereits angesprochen wurde. Darüber hinaus spielen die idealtypisch gefaßten und in Wahrscheinlichkeitsurteilen ausgedrückten Legitimitätsformen der Herrschaft,287 infolge der strukturprägenden Wirkung, die ihnen nach Weber zukommt, die herrschaftssoziologische Verrnittlerrolle zwischen Handlungs- und Ordnungsebene. Die begriffliche Ausdifferenzierung der Geltungsgründe von Herrschaft und die stärkere typologische Kohärenz der "Soziologischen Grundbegriffe" und der "Typen der Herrschaft,,288 sowie der Strukturaspekt der Legitimitätsformen rechtfertigen ihre eingehendere Analyse an dieser Stelle. Der handlungstheoretisch entscheidende Aspekt des durch die soziale Beziehungsform Herrschaft bzw. durch das Herrschafts-Einverständnis konstituierten politischen Verbandes besteht darin, daß der Leiter (Herr) bei seinen Anordnungen (Befehlen) normalerweise auf den Gehorsam der Beherrschten (und ggf. des Verwaltungsstabes) rechnen kann. Der ordnungstheoretisch wesentliche Aspekt des politischen Verbandes liegt darin, daß die Herrschaft normalerweise durch einen mit dem Herrn seinerseits verbundenen Verwaltungsstab 289 ausgeübt wird. Die Webersche Herrschaftssoziologie konzentriert sich vorderhand auf die organisationstheoretische Seite, die Beziehungen zwischen politischem Herrn und Verwaltungsstab. 290 Soziologisch zweckmäßig ist das insoweit, als Weber die ihn interessierenden ökonomisch, rechtlich oder religiös relevanten Aspekte von Herrschaft wesentlich auf die Organisationsstruktur der Herrschaft zurückführt. 291 Die Beherrschten kommen als politische Akteure aber in zweifacher Hinsicht in Betracht: Partizipativ im weitesten Sinne als Beamte, Wehr- und Gerichtsgenossen oder politische Bürger, wenn infolge politischer und ökonomischer Umbrüche oder militä286 Vgl. Johannes Winckelmann, Legitimität und Legalität in Max Webers Herrschaftssoziologie, Tübingen 1952; Friedrich W. Stallberg, Herrschaft und Legitimität. Untersuchungen zu Anwendung und Anwendbarkeit zentraler Kategorien Max Webers, Meisenheim a.GI. 1975; Hans Peter Müller; Aspekte von Herrschaft und Legitimität bei Max Weber, in: Manfred Kopp/Hans Peter Müller (Hg.), Herrschaft und Legitimität in modernen Industriegesellschaften, München 1980, S. 8 ff.; Loos, Wert- und Rechtslehre, S. 113 ff.; Veit Michael Bader; Max Webers Begriff der Legitimität, in: Weiß (Hg.), Max Weber heute, S. 296 ff. 287 Zur Idealtypik und Möglichkeitsform der Legitimitätsgeltung vgl. WG, S. 123 f. 288 Kap. I und III der sog. Ersten Lieferung von "Wirtschaft und Gesellschaft" (1920). 289 Diesen nennt Weber in der älteren Herrschaftssoziologie - im Anschluß an die Diktion des Kategorienaufsatzes - ausdrücklich den "Apparat" des Herrn (GAWL, S. 447; WG, S. 549), während in den "Soziologischen Grundbegriffen" und in der jüngeren Herrschaftssoziologie statt dessen der Ausdruck "Verwaltungsstab" Verwendung findet (ebd., S. 26, 29, 122). 290 Dies und eine insgesamt weitgehend fehlende Anbindung der materialen Herrschaftssoziologie an die Typologie der Geltungsgründe der Herrschaft moniert v.a. Stefan Breuer (Max Webers Herrschaftssoziologie, in: Zeitschrift für Soziologie, 17 (1988), S. 315 ff.; ders., Max Webers Herrschaftssoziologie, Frankfurt a.M. 1991, S. 20 ff.). 291 Vgl. WG, S. 549.
94
11. Methodik der verstehenden Soziologie
rischer Entwicklungen die Machtlage innerhalb des politischen Verbandes sich verschiebt oder dieser auf veränderter sozialer und politischer Grundlage neu konstituiert wird. Oder wenn der Machthaber aus politischen Opportunitätsgründen mit nicht-ständischen bzw. nicht-privilegierten Schichten Bündnisse eingeht. Prinzipiell derart also, daß diese in irgendeiner Form an der ökonomischen, politischen und militärischen Machtverteilung partizipieren. 292 Entsprechend dem juridisch geformten Handlungsbegriff Webers sind die Beherrschten aber v.a. in ihrer Rolle als "Gehorchende" von Bedeutung, die sich den Anordnungen der politischen Leiter fügen (durch ein Tun, Dulden oder Unterlassen). Denn die heterogenen Gehorsamsmotive sind sowohl für die Struktur wie für die Stabilität der Herrschaft von entscheidender Bedeutung. Das wiederum gilt zumal für die Herrschaftsfigurationen des "traditionalen" Typs, die nicht allein quantitativ im Zentrum der Webersehen Herrschaftssoziologie stehen. 293 M.E. ist es jedoch irreführend anzunehmen, Weber habe im Kategorienaufsatz und in den älteren herrschaftssoziologischen Texten eine duale Legitimitätstheorie entworfen: auf der einen Seite mit dem Legitimitäts-Einverständnis des Kategorienaufsatzes das Konzept einer in Gründungs- und Krisenzeiten tragenden ..Legitimation von unten", auf der anderen Seite die Idee einer für den Alltag der (etablierten) Herrschaft typischen Art der ,,Legitimation von oben" mittels geeigneter ..Herrschaftslegenden" in der älteren Herrschaftssoziologie. Und daraus den Schluß zu ziehen, Weber habe die Typen der legitimen Herrschaft und die Formen der Herrschaftsorganisation begrifflich so verknüpft, daß Strukturiertheit und Legitimitätsintensität der Herrschaft im umgekehrt proportionalen Verhältnis zueinander stünden. 294 Zum einen: Im ..Legitimitäts-Einverständnis der Beherrschten" ist der Legitimitätsanspruch der Herrschenden impliziert (Referenzpunkt des LegitimitätsEinverständnisses ist die Herrschaftsbeziehung, das Herrschafts-Einverständnis). Das Legitimitäts-Einverständnis vereint Beherrschte und Herrschende in einer besonderen Einverständnisgemeinschaft, nicht etwa die Beherrschten gegen die oder zugunsten der Herrschenden.295 Die .. Perspektive" der Handlungskoordinierung ist beim Legitimitäts-Einverständnis die der in der Herrschaftsbeziehung einverständnismäßig Vergemeinschafteten, nicht: ..die der Beherrschten und der Ausnahrnesituation".296 Zum anderen: Wo die Herr292 Dennoch gilt ,Herrschaft' im Sinne von Verwaltung Weber als unentrinnbarer Tatbestand der politischen Gemeinschaft, der unter besonderen Voraussetzungen und zeitweise (der Fall "unmittelbar demokratischer Verwaltung") allenfalls zu minimieren, aber letztlich nicht zu vermeiden ist. 293 Zum außerordentlichen Gewicht der traditionalen (und charismatischen) Herrschaftsformen, speziell in der Herrschaftssoziologie und allgemein in der verstehenden Soziologie siehe unten Kap. III und IV. 294 Hanke, Max Webers ,Herrschaftssoziologie', S. 32 ff. 295 In der älteren Herrschaftssoziologie kann man das deutlich aus Webers Bestimmung der Herrschaftsbeziehung zwischen Patrimonialherr und politischen Untertanen ersehen. Weber schreibt, WG, S. 590: ..In aller Regel aber ist der politische Patrimonialherr mit den Beherrschten durch eine Einverständnisgemeinschaft verbunden, welche auch unabhängig von einer selbständigen patrimonialen Militärgewalt besteht und auf der Überzeugung beruht, daß die traditionell geübte Herrengewalt das legitime Recht des Herrn sei. Der von einem Patrimonialfürsten in diesem Sinne ,legitim' Beherrschte soll also hier ,politischer Untertan' heißen."
3. Legitimität und Legalität in der verstehenden Soziologie
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schaftsbeziehung als in irgendeiner Weise abhängig von den Überzeugungen, Wertvorstellungen, Geltungszuschreibungen der Beherrschten gedacht wird, ist vom Legitimitäts-Einverständnis ersichtlich gar nicht die Rede, sondern von den unterliegenden Legitimitätsgründen, dem jeweils bestimmten Inhalt des Legitimitäts-Einverständnisses, der sinnhaften Art eines "Legitimitätsglaubens". Weil Weber indessen "Herrschaft" unabhängig von Legitimitätsvorstellungen bestimmter Art definiert, sind diese per definitionem für jede Herrschaft begrifflich ein bloßes Akzidenz. Herrschaft kann ohne jedes Legitimitäts-Einverständnis funktionieren: das gilt nicht nur für die perfektionierte bürokratische Herrschaft, sondern typischerweise auch für das Anfangsstadium jeder Fremdherrschaft. Das hinzutretende Legitimitäts-Einverständnis stabilisiert die bestehende oder neu errichtete und konsolidiert die umkämpfte Herrschaft. Insoweit ruht selbst Webers Modell der bürokratischen Herrschaft auf einem Legitimitäts-Einverständnis zumindest des für ihr Funktionieren maßgeblichen Beamtenstabs, während eine charismatische Herrschaft den von ihr etablierten strukturfremden und strukturfeindlichen Zustand trotz noch so fester legitimatorischer Basis nicht auf Dauer stellen kann. Entscheidend aber für Webers Verhältnisbestimmung von Legitimitätstypen und Organisationsforrnen der Herrschaft ist nicht die mit dem Problem der Stabilität nahe gelegte Korrespondenz von Legitimations- und Organisationsgrad, sondern die Strukturwirksamkeit spezifischer Legitimitätsforrnen, und daß gerade das strukturfeindliche Charisma wesentliche Voraussetzungen für die Variabilität des Legitimitätsprinzips schafft.
Wenden wir uns nun dem Gehorsamsbegriff zu. In beiden Fassungen der Herrschaftssoziologie hält es Weber einleitend für wichtig darauf hinzuweisen, daß jedes echte Herrschaftsverhältnis eine mindestens residuale innerliche Disposition der Gehorchenden zum Gehorsam gegenüber den Befehlen des oder der Herrschenden voraussetzt: "Ein bestimmtes Minimum an Gehorchenwollen, also: Interesse (äußerem oder innerem) am Gehorchen, gehört zu jedem echten Herrschaftsverhältnis.,,297 Etwas konkreter heißt es in der älteren Herrschaftssoziologie über dies "Gehorchenwollen", es sei "normalerweise eine unentbehrliche Triebfeder" des Gehorsams. 298 Der soziologischen Codierung des zunächst rein psychologischen Sachverhalts entspricht begrifflich die Konzeption der Herrschaft als soziale Beziehung. Denn die "Chance, für einen Befehl bestimmten Inhalts bei angebbaren Personen Gehorsam zu finden,,299 besagt ja eine mit den durchschnittlichen subjektiven Erwartungen der Akteure korrelierende objektive Wahrscheinlichkeit, daß gegenüber den Befehlen der einen ("Herrschenden") andere ("Beherrschte") auf 296 Hanke, Max Webers ,Herrschaftssoziologie', S. 33; ähnlich Wolfgang J. Mommsen, Politik und politische Theorie bei Max Weber, in: Weiß (Hg.), Max Weber heute, S. 515 ff., hier S. 537. 297 WG, S. 122. 298 WG, S. 543. Ebd., S. 197 meint Weber über die Wirksamkeit des Rechtszwangs, diese hänge wie "ausnahmslos alle[r] Zwang, welcher den zu Zwingenden nicht lediglich wie ein totes Naturobjekt behandelt", von dessen Gehorchenwollen ab. Denn auch die schwersten Sanktionsmittel versagten, wenn die Beteiligten sich ihnen schlechterdings nicht fügten. "Dies heißt aber innerhalb eines weiten Bereichs immer: wo sie nicht zu dieser Fügsamkeit ,erzogen' sind." 299 WG, S. 28; vgl. ebd., S. 122,544.
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Gehorsam eingestellt sind. Die Einstellung auf Gehorsam impliziert jedoch eine mehr oder minder große Bereitschaft, ihn gefordertenfalls auch zu leisten. 3OO Im Gehorchenwollen drückt sich also auf seiten der Gehorchenden das voluntaristische Minimum der gegenseitigen Handlungseinstellung in einem hierarchischen Autoritätsverhältnis aus, wie es das (Herrschafts-)Einverständnis bzw. die Sozialbeziehung "Herrschaft" begrifflich fordern. 301 Weiter zur Frage der konkreten Motivierung des Gehorsams, zu dem, was Weber abwechselnd "Gehorsams"- oder (in der jüngeren Fassung) "Fügsamkeitsmotive" nennt: Aus welchen sinnhaft verständlichen Motiven wird Gehorsam geleistet? Und gibt Weber ein Klassifikationskriterium zur Ordnung der heterogenen Motive an die Hand? In der älteren Herrschaftssoziologie führt er die "Überzeugung von 300 Rezeptionsgeschichtlich ist interessant, wie sehr Webers soziologische Auffassung des Gehorsamsverhältnisses dem zeitgenössischen juristischen Diskurs über die Subjektkonstituierung im rechtsstaatlichen Herrschaftsverhältnis parallel läuft. Auf willenstheoretischem Fundament stehend und dabei Vorstellungen nationalökonomischer subjektiver Wertlehren (etwa über die handlungsbestimmende Rolle von Lust- oder Unlustgefühlen, die interessegeleitete individuelle Aufstellung und Abwägung von Bedürfnishierarchien etc.) für die Rechtsgeltungsproblematik verwertend, gelangen diese Ansätze doch zu Formulierungen des Problems der sozialen Handlungskoordination und besonders der Stabilisierungsfunktion des Rechts, die erstaunlich nahe bei Webers Lösung liegen. Warum - was in Kap. m. 2. b) noch ausführlich zu erörtern sein wird - Herrschafts- und Rechtsbegriff bei Weber ein fast symbiotisches Begriffspaar bilden, hängt neben ihrer Inhaltsentleerung und abstrakt-imperativischen Formalisierung möglicherweise auch mit ihrer normativen Aufladung durch rechtsstaatliche Bedeutungsgehalte zusammen. Dann ließe sich etwa Hölders Bestimmung des Herrschaftsverhältnisses im konstitutionellen Staat nicht nur als Vorwegnahme des Weberschen Herrschafts-Einverständnisses, sondern dieses umgekehrt sich als rechtsstaatstheoretische Residualkategorie deuten: "Ist in der absoluten Monarchie der Staatswille oder das Recht nichts anderes als Wille des Monarchen, so ist doch sein Wille Recht als ein nicht nur für ihn, sondern für seine Untertanen bestehender. Für sie hat er die Bedeutung nicht nur des Befehls, sondern auch der Verheissung. Diese hängt mit jenem eng zusammen als Verheissung der Hemmung ihres Lebens für den Fall des Ungehorsams. Sie ist aber auch Verheissung seiner Förderung. Im Begriffe der Verheissung liegt es, dass nach dem Willen ihres Urhebers ihr Empfänger ihre Erfüllung erwartet, und ihr Urheber kann diese nicht unterlassen, ohne für die Zukunft deren Erwartung zu zerstören. Ist sein für seine Untertanen bestehender Wille für ihr Verhalten massgebend, weil ihr ihm nicht gemässes Verhalten ihr Leben schädigt und ihr ihm gemässes Verhalten es fördert, so ist er für sein Verhalten gegen jene massgebend durch sein Interesse an dessen Geltung, die er durch sein ihm gemässes Verhalten befestigt und durch sein ihm nicht gemässes Verhalten erschüttert" (E[duard Otto] Hölder, Das positive Recht als Staatswille, in: Archiv für öffentliches Recht, 23 (1908), S. 321 ff., hier S. 332). 301 Baumann, Motive des Gehorsams, S. 356 Fn. 2 kompliziert den Sachverhalt unnötig, wenn er erklärt, bei Weber fänden sich streng genommen zwei Gehorsamsbegriffe. Gehorsam einmal im Sinne der Befolgung von Befehlen und zum anderen im Sinne der Bereitschaft zur Befolgung von Befehlen. Den ersten Begriff könne man als "Gehorchenwollen" lesen, während Weber sich überwiegend mit dem zweiten Gehorsamsbegriff beschäftige. M.E. gibt es nur diesen und sein Hauptinhalt liegt in jenem voluntaristischen Minimum, das Weber (begrifflich) für die Fügsarnkeitseinstellung der Gehorchenden im Herrschaftsverhältnis prinzipiell fordern muß. Da das so verstandene "Gehorchenwollen" noch diesseits aller speziellen Gehorsamsmotive steht, gilt es selbstverständlich auch für alle Fälle der konkret motivierten "Bereitschaft zur Befolgung von Befehlen".
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der Richtigkeit des Befehls", Pflichtgefühl, Furcht, stumpfe Gewöhnung, eigene Interessenlage als mögliche Gehorsamsmotive an. 302 Ähnlich erscheinen im Kategorienaufsatz Furcht, religiöser Glaube, Pietät gegen den Herrscher und zweckrationale Erwägung als Gehorsamsmotive gegenüber einer gesatzten Ordnung?03 Irgendeine Gewichtung oder Klassifizierung ist bis hierhin nicht erkennbar. 304 Das ändert sich mit dem Aufsatz-Fragment über "Die drei reinen Typen der legitimen Herrschaft".305 Über die Motive der Fügsamkeit306 bemerkt Weber gleich eingangs: "Sie kann rein durch Interessenlage, also durch zweckrationale Erwägungen von Vorteilen und Nachteilen seitens des Gehorchenden, bedingt sein. Oder andererseits durch bloße ,Sitte', die dumpfe Gewöhnung an das eingelebte Handeln; oder sie kann rein affektuell, durch bloße persönliche Neigung des Beherrschten, begründet sein.,,307 302 Vgl. WG, S. 545. 303 Vgl. GAWL, S. 468. Die einverständnismäßige Geltung der Ordnung sei zu verstehen als eine "Durchschnittschance, daß die nach (durchschnittlichem) Sinnverständnis als von der oktroyierten Satzung betroffen ,Gemeinten' sie auch tatsächlich - begrifflich einerlei ob aus Furcht, religiösem Glauben, Pietät gegen den Herrscher, oder rein zweckrationaler Erwägung oder welchen Motiven auch immer - praktisch als ,gültig' für ihr Verhalten behandeln, ihr Handeln also daran, im Durchschnitt im Sinn der Satzungsgemäßheit, orientieren werden." 304 Wie aus dem Kategorienaufsatz zu ersehen, liegt es in der Konsequenz des geltenden Einverständnisses, daß es über die seiner Geltung zugrundeliegenden Akteurrnotive begrifflich nichts aussagt. Siehe dazu oben Kap. 11. 2. 305 Das Fragment wurde im Nachlaß aufgefunden und von Marianne Weber posthum veröffentlicht (in: Preußische Jahrbücher, 187 (1922), S. 1-12). Es ist schließlich in die Sammlung der methodischen und methodologischen Arbeiten aufgenommen worden (abgedr. in: GAWL, S. 475-488). Die Datierung des Textes ist umstritten - wie für die meisten der überwiegend Webers Grundrißbeitrag zuzuordnenden Nachlaßmanuskripte. Johannes Winckelmann datiert die Entstehung des Textes um 1913 (Vorwort zu GAWL, S. IX; ders., Vorwort zu WG, S. XI); Wolfgang J. Mommsen verlegt seine Entstehung aus werkgeschichtlichen und philologischen Gründen in den .Kontext der Überarbeitung der alten Grundrißtexte 1918-1920 (Max Weber. Gesellschaft, Politik und Geschichte, Frankfurt a.M. 1974, S. 275 Fn. 58). Für beide Positionen - und auch noch die vermittelnde Breuers, die eine spätere bzw. späte Überarbeitung eines frühen Manuskripts annimmt (Herrschaftssoziologie (1991), S. 89 f.) - lassen sich gute Gründe anführen. Daß aber die Frage des Entstehungszeitpunkts für das Problem der Fügsarnkeitsmotive nicht an sich schon unerheblich ist - wie Baumann, Motive des Gehorsams, S. 362 Fn. 14 annimmt - zeigt dessen eigene Rekonstruktion. Die sachliche Ergänzung der Liste der Fügsarnkeitsmotive in der jüngeren Herrschaftssoziologie, nämlich um ideelle Interessen als wertrationale Motive (WG, S. 122), kann er nur deshalb so problemlos mit seiner Rekonstruktion in Einklang bringen, weil er offenbar den Aufsatz über "Die drei reinen Typen der legitimen Herrschaft" für das mindestens sachlich letzte Wort Webers in dieser Frage hält, was, wenn es nicht auch zeitlich das letzte ist, doch die Frage hätte aufwerfen müssen, warum Weber die Liste ergänzt hat und dann auch noch um wertrationale Motive, die Baumann mit dem besagten Aufsatz in der Kategorie des Legitimitätsglaubens aufgehoben glaubt. 306 "Motiv" im Webersehen Sinn als Vorstellungsinhalt, der dem Handelnden selbst oder dem Beobachter als "sinnhafter Grund" eines bestimmten Verhaltens, hier des Gehorsams, erscheint (vgl. WG, S. 5). 307 "Die drei reinen Typen der legitimen Herrschaft", GAWL, S. 475. 7 Hennes
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Gehorsam gegenüber Anordnungen beliebigen Inhalts kann somit zweckrational, traditional und affektuell motiviert sein. Doch sind es nicht solche Motive die einer Herrschaft Stabilität verleihen. Es muß nach Weber ein besonderes Motiv, der Glaube an die innere Rechtmäßigkeit der Herrschaft, an ihre Legitimität, verbreitet sein, "und die Erschütterung dieses Legitimitätsglaubens pflegt weitgehende Folgen zu haben. ,.308 Er macht im Falle empirisch ausreichender Verbreitung bei den Beherrschten die Herrschaft nicht nur zu einer legitimen, sondern auch und v.a. zu einer stabilen. Nur gewohnheitsmäßig oder aus gefühlsmäßiger Bindung an den Gewalthaber oder aus zweckrationalen Interessenerwägungen geübter Gehorsam kennzeichnet demnach eine tendenziell instabile und nichtlegitime Herrschaft. 309 Die Diskussion um die "nichtlegitime" oder "illegitime" Herrschaft hat sich v.a. am Fall der antiken und mittelalterlichen, durch Verbrüderung von Verbänden oder Individuen konstituierten okzidentalen Städte entzündet, die Weber im Werkplan von 1914 typologisch als "nichtlegitime Herrschaft" auszeichnet. 310 Sie leidet m.E. unter der irreführenden Identifizierung von Webers empirisch-analytischem Legitimitätskonzept - wie es in der Kategorienlehre entfaltet wird - mit einem formalrechtlichen Legitimitätsbegriff, den er zu heuristischen Zwecken besonders in der Stadtstudie, aber ebenso in der Rechtssoziologie gelegentlich verwendet. Die legitimistische (formaljuristische) Begriffsstrategie perpetuiert die maßgeblichen (quellenmäßig dokumentierten) "Herrschaftslegenden" einer Zeit auch und gerade gegen den soziologisch beobachtbaren Wandel empirischer Legitimitäts"Die drei reinen Typen der legitimen Herrschaft", GAWL, S. 475. Der oft gegen Weber erhobene Einwand, er sage nichts über Möglichkeit und Formen "illegitimer" Herrschaft (z. B. Amitai Etzioni, A Comparative Analysis of Complex Organisations, New York 1975, S. 14 f.) ist insoweit zu relativieren. Ebensowenig vermag die These zu überzeugen, Weber habe Herrschafts- und Legitimitätsbegriff so eng verknüpft, daß dadurch schon auf begrifflicher Ebene die Thematisierung von illegitimer Herrschaft und Legitimitätskrise ausgeschlossen würde (vgl. Mommsen, Politik und politische Theorie, S. 537). Begrifflich notwendige Existenzbedingung von Herrschaft ist der Legitimitätsglaube eben keineswegs. So zutreffend Stefan Breuer, Nichtlegitime Herrschaft, in: Hinnerk Bruhns/Wilfried Nippel (Hg.), Max Weber und die Stadt im Kulturvergleich, Göttingen 2000, S. 63 ff., hier S. 64-66. Vielmehr folgt aus der rein empirischen Verhältnisbestimmung von Legitimität und Herrschaft begriffslogisch die Möglichkeit nichtlegitimer Herrschaft. Erst daran knüpft Weber das Stabilitäts- und Institutionalisierungsthema. Daß sein Hauptinteresse tatsächlich primär den Typen der legitimen Herrschaft gilt, resultiert deshalb nicht zuletzt aus dem einfachen Tatbestand, daß auch jede de facto nichtlegitime Herrschaft Legitimitätsglauben zu erzeugen versucht und dadurch in eine legitime überzugehen tendiert. Typisch sind dafür die Eroberungsreiche bzw. Fremdherrschaften, deren Bestand sonst prinzipiell gefährdet wäre. Die Delegitimierung einer bestehenden Herrschaft führt langfristig zu ihrem Zusammenbruch und u. U. zur Dekomposition des (politischen) Verbandes, wenn es ihr nicht gelingt neue Legitimitätsquellen zu erschließen. Webers Thesen zur "Revolution", zur "Bürokratisierung" und zum "Staatsstreich" (gleichsam dem Pendant zur "traditionalistischen Revolution" (WG, S. 131) im Zeitalter bürokratischer Herrschaft) gehören systematisch in diesen Kontext; vgl. dazu Dirk Käsler, Revolution und Veral1täglichung. Eine Theorie postrevolutionärer Prozesse, München 1977; Breuer, Bürokratie und Charisma. 310 Nach Winckelmann, Hauptwerk, hier S. 169, wo es zu ,,8. Die Herrschaft" unter Punkt c) heißt: "Die nichtlegitime Herrschaft. Typologie der Städte". 308
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Einverständnisse. Dem soziologischen Betrachter gibt sie damit den festen Ausgangspunkt für die Analyse der tatsächlich bestehenden und sich wandelnden Legitimitätsmuster in politischen Verbänden. Wenn Weber also über den italienischen popolo sagt, er sei "der erste ganz bewußt illegitime und revolutionäre politische Verband",3lI gibt das eben die Perspektive der traditionell "legitimen" Herrschaftsträger wieder. Empirisch aber sagt das: Der von den Mitgliedern des popolo gegenüber den von ihnen geschaffenen und beschworenen partikularen Ordnungen und Institutionen ("Staat im Staat"312) gehegte Legitimitätsglauben manifestiert in entsprechenden symbolischen Akten den Legitimitätstransfer von der bisherigen "legitimen" Adelsherrschaft zu der faktischen und legitimen Zunftherrschaft. Aus der Perspektive des popolo ist nunmehr die traditionell "legitime" Geschlechterherrschaft "illegitim". Mit dem empirischen Legitimitätsbegriff läßt sich eben nur etwas sagen über die empirisch bestehende Chance für oder die Existenz von "Legitimitäts-Einverständnissen". Das Legitimitäts-Einverständnis qualifiziert bestehende Herrschaftsbeziehungen, die jedoch auch ohne oder mit anders adressiertem Legitimitäts-Einverständnis soweit aufrechterhalten werden können, wie die Durchsetzungschancen der Herrschaft reichen. So mag man Stefan Breuers Analyse der Weberschen Stadtstudie darin zustimmen, daß der Bereich nichtlegitimer Herrschaft in der okzidentalen Stadt letztlich auf die bemerkenswerten Ausnahmen der antiken Demokratie und der mittelalterlichen italienischen Stadtstaaten zusammenschrumpfe, weil nur dort eine eigentliche politische Neuordnung stattgefunden, ein neues "Legitimitätsprinzip" sich durchgesetzt habe, während es im übrigen bei unterschiedlichen Fonnen ständischer Gewaltenteilung im Rahmen oligarchischer bzw. patrimonial-feudaler Legitimitätsstrukturen geblieben sei. 313 Nur zielt hier der Begriff nichtlegitimer Herrschaft ganz ausdrücklich auf das, was Weber unter Rechtfertigungsgründen oder Geltungsgründen der Herrschaft verhandelt, auf das Warum? eines vorhandenen Legitimitäts-Einverständnisses, gar nicht auf das Ob?, d. h. den empirischen Begriff nichtlegitimer Herrschaft, den Breuer zunächst selbst ins Feld führt. 314 ,Nichtlegitim ' im Hinblick auf das jeweils dominante Legitimitätsprinzip ist dann aber weder das Ancien regime, noch die ,neue' Herrschaft, es sei denn, man bedient sich der erwähnten legitimistischen oder fonnaljuristischen Urteilskategorien der jeweils kämpfenden Parteien. Eine solche heuristische Begriffsstrategie, die m.E. Weber mit seiner Titelgebung im Werkplan von 1914 verfolgte, macht dann für die Analyse sich wandelnder Legitimitätsstrukturen durchaus wieder Sinn. Das, worauf es hier ankommt ist ja der Konflikt und die Reorganisation von Legitimitätsstrukturen. Das Konfliktfeld kann dabei v.a. mittels der fonnaljuristischen Betrachtungsweise abgesteckt werden, worin sich nicht zuletzt auch die soziologische Funktion rechtsdogmatischer Erwägungen bewährt. 315 311 WG, S. 776. 312 So Webers Fonnulierung WG, S. 776. 313 Breuer, Nichtlegitime Herrschaft, S. 67 ff., 76. 314 Vgl. ebd., S. 65. 315 Anders Breuer (ebd., S. 76) und im Anschluß an ihn Gerhard Dilcher (Max Webers ,Stadt' und die historische Stadtforschung der Mediävistik, in: Bruhns/Nippel (Hg.), Max Weber und die Stadt, S. 119 ff., hier S. 128). Wenn weiterhin Breuer, Nichtlegitime Herrschaft, S. 66 meint, eine "Typologie nichtlegitimer Herrschaft" habe Weber nicht entwickelt, "sie wohl auch nicht für möglich gehalten", und ähnlich Dilcher, Max Webers ,Stadt', S. 128 argumentiert, das Label ,Nichtlegitime Herrschaft' würde für Webers Stadtstudie letztlich deshalb unpassend gewesen sein, "weil für eine Theorie der Illegitimität in seinem fortentwickelten Legitimitätskonzept kein eigentlicher Platz mehr war", so resultiert das aus der
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Zurück zum Weberschen Legitimitätskonzept. Dem Legitimitätsglauben der Beherrschten entspricht auf seiten der Herrschenden der Anspruch, die politische Machtposition sowie den sozial und ökonomisch privilegierten Status rechtmäßig innezuhaben?16 Nun bestehen aber die Herrschaftsbeziehungen - und pari passu: Legitimitätsbeziehungen - nicht nur zwischen dem politischen Gewalthaber und den politisch Beherrschten, sondern zugleich zwischen ersterem und seinem Verwaltungspersonal - sieht man einmal von dem Spezialfall direkt-demokratischer Verwaltung ab. Bei enger Interessengemeinschaft zwischen Herr und Stab könne die Herrschaft - so Weber in der jüngeren Herrschaftssoziologie - u. U. sogar auf den Legitimitätsanspruch gegenüber den Beherrschten verzichten, doch sei dann "noch immer die Art der Legitimitätsbeziehung zwischen Herrn und Verwaltungsstab je nach der Art der zwischen ihnen bestehenden Autoritätsgrundlage sehr verschieden geartet und in hohem Grade maßgebend für die Struktur der Herrschaft". 317
Freilich stellt sich auch bei den Mitgliedern des Verwaltungsstabes zunächst die prinzipielle Frage nach den Gründen ihres Gehorsams gegenüber den Verfügungen des Gewalthabers. Und diese sind vorderhand nicht von den Motiven der übrigen Verbandsbeteiligten verschieden: "Dieser Verwaltungsstab kann an den Gehorsam gegenüber dem (oder: den) Herren rein durch Sitte oder rein affektuell oder auch durch. materielle Interessenlage oder ideelle Motive (wertrational) gebunden sein.,,318 Die von Weber idealtypisch gefaßten Handlungsorientierungen dienen ihm im allgemeinen also auch zur Beschreibung der Fügsarnkeitsmotive des Verwaltungsstabes. Ein Motiv allerdings wird gesondert aufgeführt und dadurch ausgezeichnet, weil es nach Weber erst die verläßliche Grundlage der Herrschaft schafft: der Legitimitätsglaube?19 Vergleicht man nun die allgemeinen Handlungsorientierungen mit den klassifizierenden Auflistungen der Fügsamkeitsmotive in den beiden vorgestellten Varianten, so fungiert der Legitimitätsglaube in beiden Fällen als dasjenige Gehorsamsmotiv, welches - ausreichende Verbreitung vorausgesetzt - einer Herrschaft Stabilität und Dauer verleiht. 320 Konfundierung der von Weber nachdrücklich unterschiedenen juristischen und soziologischen Betrachtungsweisen. Es verwundert zumal bei Di1cher, der wenig später den heuristischen Wert der von Weber eigens hervorgehobenen Differenz zwischen "formalrechtlicher" und "soziologischer" Perspektive für die Betrachtung des Neuen in den okzidentalen Stadtgemeinden betont (ebd., S. 129 f.). Man kann fragen, ob es glücklich war, im Rahmen einer soziologischen Typologie legitimer Herrschaft ein idealtypisch gemeintes formaljuristisches Konzept einzuführen. Methodologisch, entwicklungsgeschichtlich und rationalisierungstheoretisch macht es - hinsichtlich der Kulturbedeutung der okzidentalen Stadt - allemal Sinn. 316 WG, S. 122,549. 317 WG, S. 123. 318 WG, S. 122. 319 Vgl. WG, S. 122. 320 Der Legitimitätsglaube in begrifflich bestimmter Form ist übrigens erst Bestandteil der "Ersten Lieferung", wo er in den "Soziologischen Grundbegriffen", WG, S. 16 das Kriterium der legitimen Ordnung bezeichnet. Das herrschaftssoziologische Kapitel, WG, S. 122 greift dann darauf zurück. In Übereinstimmung mit der Begrifflichkeit des Kategorienaufsatzes
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Was versteht nun aber Weber als ,Legitimitätsglauben'? Im § 5 der "Soziologischen Grundbegriffe" wird der "Legitimitäts-Glauben" mehr en passant zur Bestimmung der Geltung einer legitimen Ordnung herangezogen. Menschen fügen sich danach einer bestehenden Ordnung, weil die Verhaltensgebote entweder durch Handlungsroutinen eingeübt sind, oder weil Normverletzungen konventionell negativ sanktioniert werden. Stabilitätssteigemd wirkt hingegen ein "in relevantem Umfang" verbreiteter subjektiver Verbindlichkeitsglaube, der dann die "legitime Geltung" der Ordnung verbürgt. Diese Verbindlichkeitsvorstellung nennt Weber "Legitimitäts-Glauben,,?21 Die durch heterogene Verbindlichkeitsvorstellungen motivierte Fügsamkeit gegenüber einer Ordnung oder Herrschaft322 wird in beiden Klassifikationen unterschieden von gewohnheitsmäßiger, affektuell bedingter oder interessenmotivierter Fügsamkeit - sämtlich nicht-normative Gehorsamsmotive. Als Klassifikationskriterium der zwei heterogenen Gruppen von Fügsamkeitsmotiven ergibt sich somit das Merkmal normativ / nicht-normativ. Ein normativ orientiertes Handeln dieser Art ist nun sicher das von Weber als "wertrational" bezeichnete eigenwertorientierte, erfolgsindifferente Handeln?23 Denn: "Stets ist [ ... ] wertrationales Handeln ein Handeln nach ,Geboten' oder gemäß ,Forderungen', die der Handelnde an sich gestellt glaubt. ..324 So scheint das Fehlen eines dem wertrationalen Handlungstyp entsprechenden Fügsamkeitsmotivs in dem Aufsatz "Die drei reinen Typen der legitimen Herrschaft" insofern folgerichtig, als man die wertrational motivierte Fügsamkeit im Legitimitätsglauben aufgehoben denken kann. Fraglich wird dann allerdings, warum Weber in der jüngeren Herrschaftssoziologie neben dem Legitimitätsglauben noch "ideelle (wertrationale)" Gehorsamsmotive des Verwaltungsstabs aufführt. 325 Redundant wäre die Aufzählung der Fügsamkeitsmotive nur, wenn sich der Legitimitätsglaube einfach unter die wertrationalen Gehorsamsmotive subsumieren ließe. Das will Weber aber offenbar gerade vermeiden. Gehorsam aus Legitimitätsglauben kann nicht einfach als wertrationales Gehorsamsmotiv verstanden werden. Vielmehr tritt er zu den übrigen Fügsamkeitsmotiven (speziell auch wertrationalen: Pflicht-, Würde-, Treue-Vorstellungen etc.) hinzu. Weil man andererseits den Gehorsam aus Legitimitätsglauben dennoch dem Typus des wertrationalen HandeIns zuordnen findet sich im Vorkriegsmanuskript über die Politischen Gemeinschaften, WG, S. 516 - dagegen nicht in den älteren herrschaftssoziologischen Teilen - nur die sinngemäße Entsprechung des Legitimitäts-Einverständnisses. Dies könnte ein weiteres Indiz dafür sein, daß der Aufsatz über "Die drei reinen Typen der legitimen Herrschaft" - zumindest in seiner überlieferten Fassung - jüngeren Datums ist, d. h. zeitlich eher in Zusan!ffienhang steht mit der Ausarbeitung der "Ersten Lieferung". 321 WG, S. 16. 322 Die Diskussion knüpft an das oben Kap. 11. 2. über die Geltungsgründe von Ordnung und Herrschaft Gesagte an. 323 Vgl. WG, S. 12. 324 WG, S. 12. 325 WG, S. 122.
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muß, ist zu fragen, inwiefern der Legitimitätsglaube die Wertrationalität spezifiziert. Die Differenz liegt aber in der sinnhaften Ausrichtung des Legitimitätsglaubens auf eine Ordnung oder Herrschaft, die mit einem Legitimitätsanspruch auftritt: "Keine Herrschaft begnügt sich, nach aller Erfahrung, freiwillig mit den nur materiellen oder nur affektuellen oder nur wertrationalen Motiven als Chancen ihres Fortbestandes. Jede sucht vielmehr den Glauben an ihre ,Legitimität' zu erwecken und zu pflegen.,,326
Amtspflicht-, Würde- oder Treuevorstellungen sind wertrationale Motive, die Gehorsam gegenüber einer Ordnung oder Herrschaft auch ohne jede beanspruchte oder geglaubte Legitimität motivieren könnten. Das Perennieren des bürokratischen Staatsapparates auch unter den Bedingungen einer revolutionären Umwälzung oder Okkupation ist Webers Hauptbeispiel für die Aufrechterhaltung einer Ordnung aus materiellen, v.a. aber auch ideellen (wertrationalen) Motiven des Beamtenstabes unabhängig von tatsächlich bestehenden Legitimitätsüberzeugungen?27 Die bisherige Klassifikation der Fügsamkeitsmotive läßt sich somit durch eine weitere Unterteilung spezifizieren. Neben der Unterscheidung nicht-normative/normative (wertrationale) wären letztere noch einmal zu differenzieren in solche ohne/mit sinnhaftem Legitimitätsbezug (Legitimitätsglaube). Den Fügsamkeitsmotiven ordnet sich die Wertrationalität, dieser wiederum der Legitimitätsglaube als Unterfall ein. 328 Da der Legitimitätsglaube jedoch das Unterscheidungsmerkmal der Weberschen Herrschaftstypologie bildet, stellt sich nunmehr die Frage nach dem Inhalt dieses Glaubens, die Frage nach den Legitimitätsgründen der Herrschaft. Aus welchen innerlichen Gründen schreiben die Beherrschten einer Herrschaft Legitimität zu? Herrschaft besteht nach Weber darin, daß einer beanspruchten Befehlsgewalt zuverlässig und "in relevantem Ausmaß" Gehorsam geleistet wird. Von legitimer Herrschaft spricht Weber dann, wenn sich die einen ("Herren") normativ berechtigt glauben, Anweisungen ("Befehle") zu geben und die anderen ("Beherrschte" und WG, S. 122. Vgl. WG, S. 128: "Er [der bürokratische Apparat, S.H.] funktioniert für die zur Gewalt gelangte Revolution und für den okkupierenden Feind normalerweise einfach weiter wie für die bisher legale Regierung. Stets ist die Frage: wer beherrscht den bestehenden bürokratischen Apparat?" 328 Dies übersieht m.E. Baumann, Motive des Gehorsams, S. 361 Fn. 12, der im Falle des "durch Pflichtgefühl wertrational motivierten Beamtengehorsams" (WG, S. 16) einen widersprüchlichen Gebrauch von Ordnungsbegriffen konstatiert, nämlich einen wertrational motivierten Gehorsam als eine Art von "Gehorsam aus Legitimitätsglauben" einerseits und den Legitimitätsglauben als "wertrationales Motiv von Gehorsam" andererseits. Denn die Ausschreibungen fehlen bei Weber m.E. nicht zufällig, wie der Vergleich zu WG, S. 26 zeigt, wo die Fügsarnkeitseinstellung des Verwaltungsstabs ebenfalls u. a. auf "wertrationale Hingabe (Lehens-, Amts-, Dienstpflicht)" zurückgeführt wird. Die Amtspflichtvorstellung ist ein wertrationales Gehorsamsmotiv, daß in Verbindung mit einer geglaubten Legitimitätsprätention zum Legitimitätsglauben als wertrationalem Gehorsamsmotiv wird - oder eben, bei fehlendem Glauben, nicht wird. 326 327
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"Verwaltungsstab") sich normativ verpflichtet fühlen, den Anweisungen nachzukommen. Der Legitimitätsanspruch der einen bzw. der Legitimitätsglaube der anderen, die inneren Rechtfertigungsgründe bzw. Legitimitätszuschreibungen der Herrschaft nehmen - dies ist der Kern der Weberschen Herrschaftstypologie - in Reinform nur dreierlei verschiedene Gestalt an, was das empirische Vorkommen von Misch- und Übergangsformen nicht aus-, sondern einschließen soll?29 Oft wird aus einer Mehrzahl von Gründen Legitimität beansprucht bzw. zugeschrieben, und es kommt dann darauf an, welche dieser Gründe in der jeweiligen Herrschaftsform überwiegen. 33o Weber unterscheidet Charisma, Tradition und Legalität als Geltungsgründe der legitimen Herrschaft. Die rational-legale Herrschaft ruht "auf dem Glauben an die Legalität gesatzter Ordnungen und des Anweisungsrechts der durch sie zur Ausübung der Herrschaft Berufenen,,?31 Einer traditionalen Herrschaft fügen sich die Betroffenen "kraft des Glaubens an die Heiligkeit der von jeher vorhandenen Ordnungen und Herrengewalten".332 Schließlich kann die Herrschaft charismatischen Charakters sein, d. h. "auf der außeralltäglichen Hingabe an die Heiligkeit oder die Heldenkraft oder die Vorbildlichkeit einer Person und der durch sie offenbarten oder geschaffenen Ordnungen ruhen".333 Ein erster Blick legt die Vermutung nahe, sowohl eine konkrete Ordnung wie eine konkrete Herrschaft könne für legitim gehalten werden aufgrund der Autorität der Tradition, wegen des herausragenden Prestiges eines Einzelnen (Magier, Kriegs-Held, Prophet) oder infolge der formal (rational) begründeten Ordnungsbzw. Herrschaftsgenese. Einer wertrational für absolut gültig und daher legitim befundenen Ordnung läßt sich ein inhaltlich entsprechender legitimer Herrschaftstypus nicht zuordnen. 334 Vgl. z. B. GAWL, S. 484; WG, S. 124. Allen Handlungen liegen heterogene Motive zugrunde, so daß es Weber als Aufgabe der verstehenden Soziologie beschreibt, den jeweils führenden und als solcher strukturprägenden Handlungsaspekt festzustellen. Vgl. WG, S. 124 (Erläuterungspunkt 2) und S. 154. 331 WG, S. 124; vgl. ebd., S. 550; GAWL, S. 475; GARS I, S. 267 f. 332 GAWL, S. 478; vgl. WG, S. 124, 550; GARS I, S. 269. 333 WG, S. 124; vgl. ebd., S. 550; GARS I, S. 270; GAWL, S. 481. Den Begriff des Charisma bzw. der charismatischen Herrschaft dankt Weber mehrfach (vgl. WG, S. 124, 654 f.; GAWL, S. 482 f.) Sohm, der ihn in seinem "Kirchenrecht" am Beispiel der Gewaltstruktur der frühchristlichen Kirche "der Sache, wenn auch nicht der Terminologie nach" entwickelt habe (WG, S. 124; vgl. Rudolph Sohm, Kirchenrecht, Bd. I, Leipzig 1892, S. 22 ff., 26 f., 28 ff., 51 ff.). Nun hat Sohm den charismatischen Charakter der frühchristlichen Gemeinde nicht nur beschrieben, sondern auch so benannt. Mit seiner unklaren Referenz meint Weber denn auch die universelle, typische Herrschaftsform, die in Sohms exemplarischer Entwicklungsgeschichte notwendig unerkannt geblieben sei (so GAWL, S. 482 f.). Zum eigentümlich rechtsfernen Gehalt dieser originär kirchenrechtlichen Kategorie vgl. Gephart, Gesellschaftstheorie und Recht, S. 585 f.; auch Heino Speer; Herrschaft und Legitimität. Zeitgebundene Aspekte in Max Webers Herrschaftssoziologie, Berlin 1978, S. 44-46. 334 Der folgende Vergleich bezieht sich auf die Geltungsgründe legitimer Ordnung (WG, S. 19) und die Geltungsgründe legitimer Herrschaft (ebd., S. 124,550). - Es gibt bekanntlich eine Vielzahl von Versuchen, die in dieser Hinsicht für unvollständig gehaltene Herrschafts329 330
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11. Methodik der verstehenden Soziologie
Zunächst ist hierbei einem scheinbaren Widerspruch der vorgeschlagenen Rekonstruktion zu begegnen. Bisher wurde der Legitimitätsglaube als Spezialfall einer wertrationalen Handlungsorientierung aufgefaßt. Unter den Legitimitätsgründen des § 7 der "Soziologischen Grundbegriffe" erscheint nun die wertrationale Geltung einer als absolut gültig erschlossenen Ordnung als Spezifizierung des Legitimitätsglaubens. Es kann aber nur entweder die Wertrationalität oder der Legitimitätsglaube die Funktion des Oberbegriffs übernehmen. Man muß sich zur Lösung des Problems nochmals Webers Begriff des wertrationalen HandeIns vor Augen führen: solches Handeln ist orientiert "durch bewußten Glauben an den [ ... ] unbedingten Eigenwert eines bestimmten Sichverhaltens rein als solchen und unabhängig vom Erfolg,,?35 Die naturalistische Normgenerierung durch normative Umprägung der "eingelebten Sitte" in der Zeit ("Tradition") befindet sich nach Weber auf dem Weg der Wertrationalisierung. 336 Die affektuell geglaubte Rechtsoffenbarung führt ebenso zu einem "Handeln nach Geboten [ ... ], die der Handelnde an sich gestellt glaubt", zu einer mehr oder minder bewußten Eigenwert-Schätzung dieses HandeIns also. Man kann insofern - wie bereits früher angedeutee 37 in der Typologie der Geltungsgrundlagen legitimer Ordnungen eine (entwicklungsgeschichtliche) Stufenfolge der im engeren Sinn reflexiven Komponente wertrationalen HandeIns sehen. In der Tat ist ja "die bewußte Herausarbeitung der letzten typologie zu ergänzen und einen vierten Herrschaftstypus zu (re-)konstruieren, der dem wertrationalen Handeln zuzuordnen wäre. R.L. Satow fügt den Typus der "value rational authority" hinzu (Value-rational Authority and Professional Organizations: Weber's Missing Type, in: Administrative Science Quarterly, 20 (1975), S. 526 ff.) und ähnlich verfahren Martin E. Spencer (Weber on Legitimate Norms and Authority, in: The British Journal of Sociology, 21 (1970), S. 123 ff., hier S. 129 f.) und Fritz Loos (Wert- und Rechtslehre, S. 124 ff., 127 ff.). Gegen die Annahme eines vierten Herrschaftstyps bei Weber sprechen sich u. a. aus Stefan Breuer (Herrschaftssoziologie (1988), S. 319), Martin Albrow (Weber on Legitimate Norms and Authority: a Comment on Martin E. Spencer's Account, in: The British Journal of Sociology, 23 (1972), S. 483 ff.) und Johannes Winckelmann (Legitimität und Legalität, S. 31 ff.). Für Martin Barker fallt die kantianisch formulierte Kategorie der Wertrationalität im Prinzip aus dem Rahmen einer Soziologie, die bereits in ihrer Handlungslehre, speziell: in der Erwartungsorientierung sozialen HandeIns, das zentrale Postulat des kategorischen Imperativs unterlaufe: die freie, vernunftbegabte, moralisch handelnde Persönlichkeit. Alter erscheine schon in den Typen des sozialen HandeIns nicht als Selbstzweck, sondern wesentlich als Mittel zu Ego-Zwecken. Erst recht pervertiere die Herrschaftsbeziehung dieses Ideal, weil die Beherrschten nicht eigene, sondern Zwecke der Herrschenden verwirklichten, selbst wenn sie deren Befehlen gehorchten, als ob sie sie um ihrer selbst Willen zur Maxime ihres Verhaltens machten. Eine Gemeinschaft frei und rational Ziele setzender und Werte verwirklichender Menschen sei in einer solchen Konzeption apriori ausgeschlossen (Kant as a Problem for Weber, in: The British Journal of Sociology, 31 (1980), S. 224 ff., bes. 238 ff.). J.J.R. Thomas bringt dagegen die Wertrationalität mit der demokratischen Herrschaft in Verbindung, die in ihrer direkt-demokratischen Form nur transitorische Bedeutung habe und unter modemen Bedingungen zum Legalitätstypus der Herrschaft tendiere (Weber and Direct Democracy, in: The British Journal of Sociology, 35 (1984), S. 216 ff., bes. 233 ff.). 335 WG, S. 12. 336 Vgl. WG, S. 12. 337 Siehe oben Kap. 11. 2.
3. Legitimität und Legalität in der verstehenden Soziologie
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Richtpunkte des HandeIns und [ ... ] konsequente planvolle Orientierung daran,,338 da am ehesten möglich und sogar unverzichtbar, wo eine Ordnung objektive Geltung als das normativ Richtige ("Vernünftige") beansprucht. 339 Solcher reflexiven Sublimierung setzen dagegen traditiortale und geoffenbarte, aber auch rational gesatzte (legale) Ordnungen modale Schranken. Tradition und Offenbarung sind naturgemäß dem subjektiven Verständnis nur begrenzt zugänglich. Der Legalitätsglaube wiederum verlegt den letzten Richtpunkt des HandeIns in die Satzungsprozedur, worin sich letztlich nur die prinzipielle Wandelbarkeit aller letzten Richtpunkte (Rechtspositivismus) ausdrückt. 34o Wenn hier von modalen Schranken der (wertrationalen) Eigenwertorientierung des HandeIns durch traditionale, geoffenbarte bzw. rational gesatzte Ordnungen die Rede ist, so heißt das umgekehrt, daß allein der wertrationale Geltungsglaube auf den normativen Bedeutungsgehalt einer Ordnung rekurriert, während im Gegensatz dazu traditionale, geoffenbarte und gesatzte Ordnung auf ihren Geltungsmodus (Tradition, Offenbarung, Satzung) verweisen. Mit anderen Worten: Legitimitätsquelle der wertrational geltenden Ordnung ist diese selbst und allenfalls indirekt eine Herrschaft. Als Legitimitätsquelle einer traditionalen, geoffenbarten oder gesatzten Ordnung kommt dagegen nicht diese selbst, sondern ein bestimmtes Handeln (die lange Übung oder priesterliche Tradition,341 die Orakel spendung oder Rechtsprophetie,342 endlich die Satzung einer Ordnung in irgendwie geregeltem Verfahren 343 ) in Betracht. Man kann den wertrationalen Legitimitätstypus als rationalen Grenzfall der Legitimität durch "Offenbarung" betrachten, bei dem sich der Verbindlichkeitsglaube vom charismatisch Qualifizierten ablöst und an die Ordnung als ideelles Sinngebilde anheftet. Das Fehlen eines dem wertrationalen Geltungstypus analogen Herrschaftstypus ist demnach nicht per se Ausdruck einer begriffssystematischen Inkonsistenz. 344 Weber hat die Legitimitätsgrundlagen der "geltenden Ordnungen" sorgfältig von denen der Herrschaft unterschieden. Begriffliche Synchronisierung wäre ihm, der WG, S. 12. Wie im Fall des von Weber als reinstem Typus wertrationaler Geltung angesprochenen "Naturrechts" (vgl. WG, S. 19), dessen metajuristischen Begründungsanspruch ("Recht des Rechtes") und historisch verschiedene Erscheinungsformen er in ihren allgemeinen Folgen für die Rechtsentwicklung erörtert (vgl. WG, S. 497 ff.). Alle Versuche, ein aus der Natur abgeleitetes Recht zu substantiieren, führten aber - wie Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 226 f. feststellt - nicht zu einem, sondern zu einer Vielheit einander widersprechender Naturrechte. 340 Der Legalitätsglaube widerspiegelt das Reflexivwerden des im Nat.urrecht fixierten Begründungsprinzips (vgl. Schluchter, Entwicklung des okzidentalen Rationalismus, S. 146), radikalisiert damit aber zugleich das Begründungsproblem. 341 Vgl. WG, S. 188,442,446. 342 Vgl. WG, S. 446, 452. 343 Vgl. WG, S. 449, 453. 344 Dies ist der "blinde Punkt" der allzu unhistorisch verfahrenden Rekonstruktionsversuche (z. B. bei Baumann, Motive des Gehorsams, passim), die in ihren Systematisierungsund Explikationsleistungen den entwicklungsgeschichtlichen Aspekt der Weberschen Typologien weitgehend ausblenden. 338 339
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H. Methodik der verstehenden Soziologie
auf sprachliche Präzision solches Gewicht legte, wenn er sie denn beabsichtigt hätte, gerade in den "Soziologischen Grundbegriffen" doch ein leichtes gewesen. Statt dessen verweist er für die Legitimitätsgrundlagen der Herrschaft auf das herrschaftssoziologische Kapite1. 345 Dies war sachlich insofern angemessen, als er die unterschiedlichen Geltungsgründe der Herrschaft zum Ausgangspunkt seiner herrschaftssoziologischen Strukturanalysen machen wollte. Ihre grundbegriffliche Behandlung im Kontext der Herrschaft (§ 16) hätte das aber an sich nicht schon erübrigt. Im Gegenteil: Man erwartet geradezu einen Titel über die Geltungsgrundlagen der legitimen Herrschaft in den "Soziologischen Grundbegriffen" und wird in dieser Hinsicht enttäuscht. Da Weber ausdrücklich auf das Kapitel III über Die Typen der Herrschaft verweist, liegt dem vermeintlichen Versäumnis offenbar eine bewußte Entscheidung zugrunde. Weiteren Aufschluß liefert der Wortlaut des § 7 über die Geltungsgründe legitimer Ordnung: "Legitime Geltung kann einer Ordnung von den Handelnden zugeschrieben werden: a) kraft Tradition [ ... ]; b) kraft affektuellen [ ... ] Glaubens [ ... ]; c) kraft wertrationalen Glaubens [ ... ]; d) kraft positiver Satzung, an deren Legalität geglaubt wird. Diese Legalität kann als legitim gelten a) kraft Vereinbarung der Interessenten für diese; ß) kraft Oktroyierung (aufgrund einer als legitim geltenden Herrschaft von Menschen über Menschen) und Fügsamkeit.,,346
Ausdrücklich bindet Weber den Legalitätsglauben - neben der hier nicht interessierenden vertragsförmigen Satzungsgenese ("Vereinbarung") - an die Legitimität der Herrschaft. D. h. aber doch umgekehrt, daß Tradition, Offenbarung und wertrationale Geltung begrifflich ohne direkten Bezug zur Herrschaft gebildet sind. Und darin drückt sich letzlieh der entwicklungsgeschichtliche Zuschnitt der Typologie aus. Der für modeme Gesellschaften typische herrschaftliche Ursprung ihrer, speziell auch die politischen Beziehungen regulierenden Ordnungen ist eben in entwicklungsgeschichtlicher Sicht eine durchaus späte Erscheinung. Nach Weber steht das Modell der naturalistischen Normgenese (Traditionsbildung) für die primäre Entstehung von Normen und Normvorstellungen. 347 Eine die Normen bewußt schaffende Macht (Herrschaft) fehlt oder ist vielmehr - wo sie besteht - in die Schranken der Tradition gebannt. 348 Nur ein besonders qualifizierter Stand von Rechtsweisen kann durch Offenbarung neuer Regeln die Tradition abändern?49 Diese Rechtsweisheit ist aber nach der charismatischen Rechtsauffassung prinzipiell unabhängig von der politischen Gewalt. Der Richter als politischer Beam345 Vgl. WG, S. 20, 29. 346 WG, S. 19 (z. T. eigene Hervorhebung). 347 Vgl. "Die Wirtschaft und die Ordnungen", WG, S. 188 f., 191 f.; Rechtssoziologie, ebd., S. 445 f., 448 f. 348 GAWL, S. 478; vgl. WG, S. 445 f. 349 Vgl. WG, S. 446.
3. Legitimität und Legalität in der verstehenden Soziologie
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ter350 hatte - wie es Weber ausdrückt - durch sein Amt nicht auch schon den Verstand zur Rechtsfindung oder das "Charisma der Rechtsweisheit,,?51 Bestimmen Tradition und charismatische Rechtsoffenbarung also ursprünglich weitestgehend die Grenzen der Legitimitätsgeltung bestehender politischer Herrschaft, so sind die durch den Gewalthaber oktroyierten Ordnungen in ihrem Verbindlichkeitsanspruch an die Legitimitätsgrundlagen seiner Herrschaft gebunden. Denn die Oktroyierung von Ordnungen (Satzung) setzt eine "Oktroyierungsmacht", d. h. eine wirkliche Satzungs- und Sanktionsgewalt (Herrschaft) voraus. Diese faktische Oktroyierungsmacht steigt unter sonst gleichen Bedingungen mit dem Maß der ihr zugeschriebenen Legitimität. 352 Legitimitätsquellen der Herrschaft aber sind wiederum Tradition, charismatische Befähigung des Herrschers oder unpersönliche Fundamentalnormen, auf die die politische Leitung die Rechtmäßigkeit ihrer Herrschaft zurückführt. Die systematisch wichtige innere Verbindung der beiden Typologien besteht somit nicht in der prinzipiellen Gemeinsamkeit der Geltungsgrundlagen legitimer Ordnung und legitimer Herrschaft. Sondern darin, daß auf der Stufe der gesatzten Ordnung die Herrschaft selbst als verbindlichkeitsstiftender Faktor auftritt und Legalitätsglauben gegenüber ihren Ordnungen als derivative Verbindlichkeitsvorstellung bei den Beherrschten erzeugt. Unmittelbar verpflichten normative Ordnungen den Einzelnen, unabhängig davon, ob sie naturalistisch generiert ("Tradition") oder Norm-Befehle eines politischen Gewalthabers sind. Satzung und Legalitätsglaube bringen allerdings den entwicklungsgeschichtlich wichtigen Tatbestand zum Ausdruck, daß nunmehr (gesatzte) Ordnungen im Rahmen der Legitimität einer Herrschaft legitim sind und nicht mehr länger oder aussschließlich: Herrschaft in den Grenzen der geltenden Ordnungen (v.a. Tradition) legitim ist. Berücksichtigt man diese entwicklungsgeschichtliche Folie bei der Verhältnisbestimmung zwischen den beiden Typologien, so kommt darin das begriffslogische Folge- und charakteristische Wechselverhältnis der Referenzebenen eines Legitimitätsglaubens zum Ausdruck (Abbildung 4). Nun wirkt die Verschiebung des Legalitätsglaubens gegenüber Satzungen auf die Legalität der (satzenden) Herrschaft, wie sie gerade der modeme Gesetz350 "Politischer Beamter" natürlich nicht im Sinne einer modernen bürokratischen Staatsverwaltung. In zahlreichen traditionalen Gesellschaften repräsentiert der Richter vielmehr die Gerichtsgewalt des politischen Herrn (Kaiser, König oder Fürst) oder übt sie zu Eigenrecht, aber im Auftrag des Herrn, insoweit also als dessen "Beamter", aus. 351 Vgl. WG, S. 451. Webers Auffassungen über die frühen Rechtsfunktionäre und Rechtsinstitutionen sind wesentlich geprägt durch die zeitgenössische rechtsgeschichtliche Forschung, wie sie namentlich durch Heinrich Brunner (Deutsche Rechtsgeschichte, 2 Bde., Leipzig 1887/1892), Richard Schröder (Lehrbuch der deutschen Rechtsgeschichte, Leipzig 3 1898), Rudolph Sohm (Die fränkische Reichs- und Gerichtsverfassung, Weimar 1871), Konrad Maurer (Vorlesungen über altnordische Rechtsgeschichte, 5 Bde., Leipzig 1907 ff.) und rechtsvergleichend durch Josef Kohler (zaltlreiche Publikationen v.a. in der ,,zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft") vertreten wurde. 352 Vgl. GAWL, S. 468 ff., 470.
H. Methodik der verstehenden Soziologie
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legitime Ordnung
Tradition
"f... ...
...
-
~ ;'
;';';'
Charisma Wertrationalität
......~...
..•.•.•../ •.•.../ ............................... legitime Herrschaft Abbildung 4: Legitimitätsgründe von Ordnung und Herrschaft gebungstypus postuliert, auf den ersten Blick tautologisch und gegenüber den (irrationalen bzw. rationalen) Begründungsleistungen von Tradition, charismatischer Offenbarung und Naturrecht zirkulär. Denn die Legitimität der gesatzten Ordnung setzt bei der rational-legalen Herrschaft die Legitimität der ihre Satzungskompetenz begründenden Normen voraus, die ihrerseits wiederum gesatzt sind etc. 353 . Häufig haben deshalb Weber-Interpreten die derivative Natur des Legalitätsglaubens zum Anlaß genommen, ihm den Status als eigenständiger Legitimitätstypus überhaupt, also insbesondere auch für die legale Herrschaft, abzusprechen. 354 Weber selbst scheint dem Legitimationsdilemma der legalen Herrschaft nur durch den problematischen Regreß auf ihre gleichzeitig traditionale und v.a. charismatische Verankerung zu entgehen?55 Die bürokratische Herrschaft als reinster Typus der legalen Herrschaft definiert er durch die notwendige Verbindung einer büroVgl. Habemuls, Theorie des kommunikativen Handeins I, S. 359 ff. Ein handlungstheoretischer Ansatz zur Rehabilitierung des Verfahrens glaubens findet sich dagegen bei Lübbe, Legitimität kraft Legalität; der systemtheoretische Ansatz bei Niklas Luhmann, Legitimation durch Verfahren, Neuwied/Beriin 1969. Gegenüber dem theoriestrategischen Dilemma sowohl des hermeneutischen (diskurstheoretischen) Rechtsparadigmas, das das Legitimitätsthema unter begründungstheoretischen Basisannahmen, folglich "unter Verlust des Legalitätsthemas" behandele, als auch des systemtheoretischen Paradigmas, für das koordinierungsrelevante Sinnkonstrukte wie "Legitimitätsüberzeugungen" oder "Konsens" in komplexen systemischen Prozessen auf eine Weise mediatisiert würden, die ihre intersubjektive Geltung ebenso wie ihre soziologische Rekonstruierbarkeit ausschlössen, beharrt Weyma Lübbe darauf, daß Webers Konzept der Legitimität kraft Legalität "logisch einwandfrei und empirisch-analytisch zweckmäßig ist" (Wie ist Legitimität durch Legalität möglich. Rekonstruktion der Antwort Max Webers, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, 79 (1993), S. 80 ff., hier S. 82, 88 f.). 355 Vgl. GAWL, S. 484, 473; WG, S. 154. 353
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3. Legitimität und Legalität in der verstehenden Soziologie
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kratischen Organisation mit einer nicht-bürokratischen (v.a. erb- oder amtscharismatischen) Spitze, d. h. aber zugleich durch die Verknüpfung mit anderen Legitimitätsprinzipien. 356 Eine oft vertretene Auffassung sieht Weber daher im Charisma (ob personales oder Amtscharisma oder - im demokratischen politischen System seine "herrschaftsfremde Umdeutung") Zuflucht nehmen, um dem modemen Legalitätsglauben nach dem Zusammenbruch der theologischen und philosophischen Begründungssysteme noch ein tragfähiges Fundament zu geben?57 Das Charisma ist freilich Ausdruck der Unbegründbarkeit aller Setzungen und verlangt von den Beherrschten das "Opfer des Intellekts" für rein subjektive, objektiv unbegründbare "Gewißheiten". Die damit inaugurierte Dezisionismus-Debatte gehört jedoch nicht mehr in den Rahmen dieser Untersuchung. Die vorgeschlagene Klassifikation muß vielmehr dem Umstand Rechnung tragen, daß nach Weber "Herrschaft" als Faktor der Genese von Normen und Verbindlichkeitsvorstellungen primär auf dem entwicklungsgeschichtlich "fortgeschrittenen" Niveau des Satzungsoktroi wirksam wird. Der der gesatzten (oktroyierten) Ordnung, gleichviel ob diese nur das bisher geltende Recht358 zusammenfassen oder daneben auch neues Recht schaffen will, entgegengebrachte Legalitätsglaube rekurriert dann letztlich auf die Legitimitätsgrundlagen der Herrschaft. Das traditionalistische Fundament einer konkreten Herrschaft legitimiert diese allerdings - wie Weber meint - historisch in den seltensten Fällen ganz sicher und setzt daher der Befehlsgewalt ("imperium,,359) nicht wirklich definitive Schranken?60 So bemerkt Weber: "Die Abgrenzung der Sphäre der unabänderlichen Tradition gegen diejenige des imperium ist [ ... 1durchaus schwankend, weil keine wichtige Entschließung von dessen Träger, wie
356 Vgl. WG, S. 126 f., 154. 357 Vgl. dazu die Deutungen bei Mommsen, Gesellschaft, Politik und Geschichte, S. 21 ff., 44 ff.; Ziingle, Staatstheorie, S. 18, 43 ff., 81; Breuer; Bürokratie und Charisma, passim; Anthony Giddens, Politics and Sociology in the Thought of Max Weber, London/Basingstoke 1972, S. 54 f. 358 "Recht" in dem von Weber definierten formalen Sinn einer zwangsgarantierten normativen Ordnung. Vgl. "Soziologische Grundbegriffe", WG, S. 18; "Die Wirtschaft und die Ordnungen", ebd., S. 183 f., 185; Rechtssoziologie, ebd., S. 397 f. 359 Der Begriff bezeichnet bei Weber - in Anlehnung an seine Herkunft aus der Darstellung des Instanzenzuges und der Kompetenzverteilung der römischen Magistratur (vgl. dazu Theodor Mommsen, Römisches Staatsrecht, Bde. I und 2, Leipzig 31887) - die verschiedenen Formen absoluter oder relativer Militär- und Gerichtsgewalten. 360 Entscheidend dafür ist nach Weber die noch fehlende oder nur latente Unterscheidung von der geheiligten Tradition als "legitimierender Norm" und dem dadurch begründeten "legitimen Befehl". Das imperium gilt daher nicht als sachliche Kompetenz, was jener Konzeption entsprechen würde, sondern als ,,konkrete rechtliche ,Qualität' seines Trägers" (WG, S. 448). "Traditionale" Norm und kraft traditionaler Autorität ergangener "Norm-Befehl" fallen insoweit zusammen, was das Verhältnis der "unabänderlichen Tradition" zum imperium insgesamt prekär gestaltet. Doch wird dadurch in Webers Sicht den eigentlichen Mächten der Rechtsrationalisierung: Charisma und (weltliches) imperium (bzw. Rechtsoffenbarung, Oktroyierung, schließlich: ,Satzung' im Sinne der willkürlichen Schöpfung von Recht) die Entfaltung ihrer traditionsbrechenden Dynamik ermöglicht. Vgl. ebd., S. 448 ff., 468 ff., 482 ff.
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II. Methodik der verstehenden Soziologie
"legitim" er auch zu herrschen beanspruchen möge, gefaßt wird, ohne nach Möglichkeit eine spezielle Offenbarung einzuholen.,,361
Satzung muß sich also ursprünglich entweder als Tradition oder als Offenbarung charismatischer Rechtspropheten ausgeben und ist insoweit kein anerkannter Modus der Rechtsfortbildung?62 Andererseits eröffnet die Labilität der Tradition, solange ihre Kanonisierung durch Spezialisten (Magier und Priester)363 noch nicht eingesetzt hat, der Rechtsneubildung (zunächst durch Präjudizien und Präzedentien)364 weitere Chancen. Aber nicht nur die mangelnde Fixierung der Tradition, sondern auch ihre generell begrenzte Reichweite bietet speziell den primären Legislationsorganen: Charisma und imperium, genügend Spielraum zur Adjustierung der traditionalen Ordnungen an veränderte politische und ökonomische Umweltbedingungen?65 Denn: die Rechtsoffenbarung "ist das urwüchsige revolutionierende Element gegenüber der Stabilität der Tradition und die Mutter aller ,Satzung' von Recht. ..366 Aus alledem resümiert Weber eine idealtypische Sequenz der Rechtsentwicklung: "Von der charismatischen Offenbarung neuer Gebote führt über das imperium hinweg der direkteste Weg der Entwicklung zur Rechtsschöpfung durch vereinbarte und oktroyierte ,Satzung·...367 Imperium aber, das sind für Weber "die primitiven außerhäuslichen Gewalten mit Einschluß der auf außerhäusliche Beziehungen übertragenen hausherrschaftsartigen (,patrimonialfürstlichen') Gewalt",368 speziell die Amtsgewalt bzw. Banngewalt von Fürsten, Magistraten, Beamten. 369 In Webers entwicklungsgeschichtlichem Schema der "Stufen und Richtungen der Rechtsrationalisierung" nimmt besonders das patrimonialfürstliche imperium als rechtsoktroyierende und rechtssatzende Macht370 (neben hierokratischen Gewalten)371 eine exponierte Stellung ein. 372 361 WG, S. 448 f. 362 Vgl. "Soziologische Grundbegriffe", WG, S. 19; "Die Typen der Herrschaft", ebd., S. 131; Rechtssoziologie, ebd., S. 442. 363 Magier, Zauberer, Priester als ursprüngliche Hüter und Interpreten der Tradition im Sinne einer schriftlich fixierten und systematisierten, religiösen oder weltanschaulichen Ordnung, vgl. WG, S. 446, 449. 364 "Das Präjudizienrecht ist die älteste Form der Neubildung von ,Gewohnheitsrecht'" (Rechtssoziologie, WG, S. 449; vgl. "Die Typen der Herrschaft", ebd., S. 131). 365 Vgl. WG, S. 442, 446. 366 WG, S. 446. 367 WG, S. 449, 504. 368 WG, S. 393, auch S. 388, 448. 369 Vgl. WG, S. 482 ff. 370 Beides hat Weber in der insoweit problematischen "provisorischen" Satzungsdefinition des Kategorienaufsatzes in Zusammenhang gebracht. Denn "Oktroyierung" und "Satzung" sind sorgfältig auseinander zu halten, was die Begriffslogik des Kategorienaufsatzes mindestens impliziert, die materiale Rechtssoziologie als selbstverständlich annimmt. Historisch haben viele den Eindruck von Satzungen erweckende Rechtskodifikationen gerade nicht den Charakter zweckrationaler Schöpfungen, sondern sind nur Zusammenfassungen des geltenden Gewohnheitsrechts, begrifflich also oktroyierte Ordnungen, nicht schon Satzungen. An-
3. Legitimität und Legalität in der verstehenden Soziologie
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Aber nicht nur für die Rechtsentwicklung, sondern ebenso für die ökonomische, politische und kulturelle Entwicklung spielt der Patrimonialismus eine strukturwichtige Rolle. Welche - materiale oder formale Rechtsrationalisierung; kapitalismushemmende ("leiturgische") oder kapitalismusbegünstigende Formen der Verbandsfinanzierung; material oder formal rationale Verbandsverwaltung 373 - hängt entscheidend ab von den "akquisitorischen" Fähigkeiten des Patrimonialherrschers, dem Maß also, in dem es ihm gelingt, die symbolischen und materiellen Reproduktionsgrundlagen des politischen Verbandes (Legitimität bzw. Steuern und militärische Machtmittel) unter seine Kontrolle zu bringen. Weil Herrschaft im Alltag primär Verwaltung ist,374 kommt zunächst das Verwaltungspersonal als Determinante des faktischen Machtpotentials der Patrimonialherrschaft in Frage. Zwar liegt schon in dessen Eigeninteresse an der Herrschaft eine gewichtige Bestandsgarantie. 375 Zugunsten des reinen Patrimonialismus wirken aber weiterhin die Legitimitätsbeziehungen zwischen Patrimonialherr und Verwaltungs stab, wenn der Legitimitätsglauben auf seiten des letzteren durch seinen spezifischen Legitimitätsbedarf evoziert wird, weil die ökonomische und soziale Privilegierung der Funktionäre ohne Verbindung mit den Legitimitätsquellen der Herrschaft nicht zu rechtfertigen wäre?76 Anders verhält es sich jedoch, wenn diese aufgrund eines ständischen Prestiges (Geburt, Bildung, militärischer oder religiöser Status) Eigenlegitimität beanspruchen können. 377 Bei fortgeschrittener ökonomischer, sozialer dererseits dürfen zahlreiche oktroyierte Ordnungen, obwohl (mehr oder minder) planvoll gesatzt,formell gerade nicht als Satzungen in Erscheinung treten, da die (politischen oder sonstigen) Gewalthaber nicht als zur positiven Rechtssetzung legitimiert gelten. Soweit rational geschaffen, wären sie begrifflich dennoch bereits Satzungen. Die Satzung ist mit anderen Worten der rationale Spezialfall einer Oktroyierung, wie die Anstalt der des Verbandes bzw. das Gesellschaftshandeln der des Einverständnishandeins. In der Rechtssoziologie unterscheidet Weber deshalb ausdrücklich Oktroyierung und Satzung (vgl. z. B. WG, S. 504). Durch die Plazierung des Satzungsbegriffs im Kapitel über das Gesellschaftshande1n, die Zuordnung zum Anstaltsbegriff und den äußerlichen Aufbau der Begriffskasuistik im Kategorienaufsatz (erst Gesellschafts-, dann Einverständnishandeln; erst Anstalt, dann Verband) begünstigt Weber die typisierte Entgegensetzung von Anstalt und Verband, die einige Autoren (z. B. Schluchter) herauslesen, und die m.E. in die Irre führt, wenn mit ihrer Hilfe eine veränderte Verhältnisbestimmung der Ordnungsbegriffe in den "Soziologischen Grundbegriffen" ausgemacht werden soll. Siehe oben Kap. H. 2. 371 Vgl. WG, S. 459 ff. 372 Vgl. WG, S. 468 ff., 482 ff. 373 Siehe dazu unten Kap. m. 3 und m. 4. 374 Vgl. WG, S. 126,545. 375 Vgl. WG, S. 122 f., 548 und "Soziologische Grundkategorien des Wirtschaftens", ebd., S. 118 f.; GAWL, S. 484. 376 Vgl. WG, S. 123. 377 Weber unterscheidet die "Stände" als Protagonisten der sozialen Ordnung von den "Klassen" als Akteuren in der Sphäre der ökonomischen Ordnung einerseits, den "Parteien" als solche der politischen Ordnung andererseits (vgl. WG, S. 539). Die politische Funktionalisierung des ständischen Prestiges gerade in traditionalen Gesellschaften zeigt den Grad der Interpenetration von sozialer, ökonomischer und politischer Sphäre. Auf die ständische
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11. Methodik der verstehenden Soziologie
und politischer Differenzierung beobachtet Weber in nahezu allen Patrimonialstaaten der Vergangenheit den Kampf der Patrimonialherren (Kaiser, Könige, Fürsten) mit ständischen Gewalten (Feudaladel, Klerus, Städte etc.) um die politischen, militärischen und ökonomischen Machtressoucen. Auf die (militärischen und administrativen) Dienste einer Aristokratie beispielsweise kann ein Patrimonialherrscher nur dann verzichten, wenn er über einen eigenen Verwaltungsstab verfügt, der aber seinerseits ständischen Charakter annimmt. So zeigt das Beispiel der universell für Herrschafts- und Verwaltungszwecke herangezogenen Kleriker, die ja nicht nur als Beamte, sondern zugleich als Legitimitätsbeschaffer fungieren, daß eine solche Herrschaft nicht nur militärisch (Kriegsadel), sondern auch ideologisch (religiös) substantiell limitiert sein kann. Vergleichbare Appropriationsprozesse haben deshalb hier wie dort ständische Formen des Patrimonialismus bewirkt, um deren sehr verschiedene entwicklungsgeschichtliche Rolle es in Webers kulturvergleichender Strukturanalyse der Herrschaft geht. Den rationalen Anstaltsstaat begreift Weber als Resultat eines einzigartigen Konzentrations- und Zentralisierungsprozesses?78 Gleichzeitig sieht er den modemen Staat als Ergebnis eines universellen "Rationalisierungs- und Vergesellschaftungsprozesses" ,379 was diesen grundlegend von jener, politischen Verbandsbildung unterscheidet, die unter traditionalen Bedingungen allein zu vergleichbaren Monopolisierungsleistungen in der Lage war: der Patrimonial staat. Daß der Patrimonialismus unter besonderen Bedingungen (im frühneuzeitlichen Okzident unter maßgeblicher Mitwirkung des hier zuerst aufgetretenen Fachbeamtentums) auf die Entwicklungsbahn des rationalen Staates einlenken konnte, war - so lautet hier das hypothetische Möglichkeitsurteil über den historischen Kausalverlauf - bei Ausbleiben dieser besonderen Umstände ebenso unwahrscheinlich wie seine Betätigung als Hauptagent und -interessent des Traditionalismus die Regel. 380
* * * Als Fazit der vergleichenden grundbegrifflichen Erörterungen bleibt also festzuhalten: Von der rein terminologischen Umstellung, der stofflichen Straffung und typologischen Konzentration, aber auch der teilweisen Ergänzung und Explikation Gewaltenteilung als folgenreiches Entwicklungsstadium des okzidentalen - im Unterschied zum orientalisch-asiatischen - Patrimonialismus wird unten Kap. III. 3. und III. 4. zurückzukommen sein. 378 Vgl. hierzu z. B. die im Vortrag über "Politik als Beruf', MWS 1/17, S. 40 f. gegebene Staatsdefinition. Der Prozeß der staatlichen Gewaltmonopolisierung ist für N orbert Elias bekanntlich wesentlicher Faktor jener Triebregulierung bzw. -sublimierung, die im Mittelpunkt des Zivilisationsprozesses steht (Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen, 2 Bde., Frankfurt a.M. 1976). 379 Vgl. GAWL, S. 470 f.; WG, S. 196. Der Rationalisierungsgedanke ist im übrigen schon in Ferdinand Tönnies' These von der zunehmenden Ablösung organischer Gemeinschaften durch gewillkürte Assoziationen vorgebildet und steht zweifellos auch im Hintergrund von Georg Simmels Analyse der modemen Gesellschaft. 380 Siehe unten Kap. III. 3. und III. 4.
3. Legitimität und Legalität in der verstehenden Soziologie
113
der jüngeren Herrschaftssoziologie abgesehen, resultieren aus dem veränderten Begriffsapparat der "Soziologischen Grundbegriffe" keine substantiellen Änderungen gegenüber der älteren Herrschaftssoziologie. Die später am Beispiel der Strukturtypen patrimonialer Herrschaft analysierten politischen Rationalisierungsprozesse und das vorerst nur als Problem benannte Transformationsthema (Handeln und Struktur)381 bleiben von dem beschriebenen Begriffswandel insoweit unberührt. Erst dieses Ergebnis rechtfertigt die Gleichbehandlung und zusammenhängende Interpretation der beiden Herrschaftssoziologien in den folgenden Kapiteln. Max Weber hat über die Jahre und die verschiedenen Arbeitsphasen an seinem Beitrag zum GdS hinweg weder den methodischen Zugriff der verstehenden Soziologie auf die soziale Wirklichkeit noch die Leitperspektive des spezifischen Rationalismus der okzidentalen Kultur grundlegend verändert. Das schließt Akzentverschiebungen in der Verwendung seiner Typenbegriffe nicht aus, wie das für die "patrimoniale Herrschaft" und den "Patrimonialstaat" die nächsten Abschnitte noch näher zeigen werden. Das methodische Fundament für die verstehende Soziologie war jedoch mit dem Kategorienaufsatz gelegt und Weber hat daran bis in die letzte Lebens- und Arbeitsphase hinein prinzipiell festgehalten. Weil er selbst aber den Strukturaspekt der Geltungsgründe der Herrschaft betont, war es erforderlich, die mit der Verschiebung des Geltungsbegriffs auf die "legitime Ordnung" zusammenhängende Kasuistik des Legitimitätsglaubens 382 einer gesonderten Betrachtung zu unterziehen. Die Legitimitätstypologie des § 7 der "Soziologischen Grundbegriffe" erwies sich dabei einerseits als Spezifikation des wertrationalen Handlungstypus, zeigte andererseits im Zusammenhang mit den Legitimitätstypen der Herrschaft ihr entwicklungsgeschichtliches Konstruktionsprinzip. Die legitimitätsstiftende Rolle der Herrschaft wiederum nimmt im politischen Patrimonialismus, der sich mit Tradition, Charisma und Satzungsglauben gleichermaßen verbindet, strukturentscheidende Gestalt an. Im folgenden soll es darum gehen, Begriff, Organisation und Entwicklungsstadien des Patrimonialismus unter dem Gesichtspunkt politischer Rationalisierung herauszuarbeiten. 383 Es gilt, am Beispiel des Patrimonialismus die Zweckmäßigkeit der Begriffsbildung384 - und zwar im Hinblick auf die Leitperspektive des okzidentalen Rationalismus, hier speziell: des Rationalismus der politischen Organisation - zu veranschaulichen.
Siehe unten Kap. IV. Vgl. die §§ 5 und 7 der "Soziologischen Grundbegriffe", WG, S. 16 f., 19 f. 383 Das dabei auch immer wieder ökonomische, rechtliche und religiöse Aspekte berücksichtigt werden müssen, folgt aus Webers überzeugendem Nachweis der strukturellen Wechsei wirksamkeit unterschiedlicher Lebensordnungen. 384 Vgl. WG, S. 13; GAWL, S. 193. 381
382
8 Henne.
III. Patrimonialismus und Rationalisierung Unbestritten nimmt die Herrschaft in Webers verstehender Soziologie einen prominenten Platz ein.' Das dokumentiert allein schon der Umfang der Herrschafts soziologie in seinem Grundrißbeitrag, v.a. in der nachgelassenen älteren Fassung. 2 Herrschaft freilich im Weberschen Verständnis asymmetrischer Machtverhältnisse ist keine spezifisch politische Erscheinung. Und doch wird bis in die handlungsbegriffliche Aufschlüsselung von Machtbeziehungen hinein deutlich,3 daß politische Herrschaftskonfigurationen gleichsam das induktive Material 1 Die politische Ordnung ist nicht bloßer Reflex ökonomischer Verhältnisse, sondern - vergleichbar der Religion - eine selbständige, sogar herausgehobene Wertsphäre und Lebensordnung (vgl. SchluchteT, Religion und Lebensführung I, S. 112). Rezeptions- und wirkungsgeschichtlich findet das außerordentliche Gewicht, das Weber der soziologischen Analyse politischer Herrschaftsverhältnisse eingeräumt hat, in der anhaltenden Weber-Rezeption durch die modeme politische Soziologie und Anthropologie seinen Niederschlag. Hierbei fällt weniger die konventionelle Klassikerreferenz als die offenkundige theoretische Anschlußfähigkeit der Weberschen Herrschaftssoziologie ins Auge. Für die Wiederbelebung der historischen Soziologie sowie den interdisziplinären Austausch mit den historischen Wissenschaften, der Anthropologie und Ethnologie war - das zeigen die Arbeiten Stefan Breuers, Shmuel N. Eisenstadts, Michael Manns, Reinhard Bendix', Perry Andersons u. a. - die (Neu-) Entdeckung der historisch-soziologischen Arbeiten Max Webers richtungweisend. 2 Von der rund 630 Seiten starken Winckelmann-Edition nimmt allein die Herrschaftssoziologie ungefähr die Hälfte des Raumes ein. Zu den sämtlichen Gemeinschaftsforrnen, die Weber in ihrer Beziehung zur Wirtschaft darstellen wollte, gehörten als besonders ausgezeichnete auch die politischen. Daß er die Analyse der Herrschaft einem eigenen Kapitel vorbehielt, ist dem begriffsimmanenten Universalismus dieser sozialen Beziehungsforrn einerseits, der durchaus eingeschränkten Perspektive Webers bei der Analyse politischer Herrschaftsstrukturen andererseits zuzuschreiben. Denn sein Interesse galt primär der "Herrschaft kraft Autorität", nicht der "kraft Interessenkonstellation", auch mehr den distributiven als den kooperativen Aspekten der Machtverteilung und zwar speziell innerhalb des politischen Verbandes, da er gerade die politische Herrschaft als wesentlichen - nicht einzigen und nicht notwendig allein ausschlaggebenden - Kausalfaktor der ökonomischen, rechtlichen, religiösen, allgemein: kulturellen Entwicklung betrachtete. Wirtschaft und Herrschaft. das zeigt besonders der Werkplan von 1914 (abgedr. bei Winckelmann. Hauptwerk, S. 168-171, hier S. 169), bilden die ideelle Klammer von Webers Gesellschaftsanalyse, gerade weil historisch unter den verschiedenen Gemeinschaftsforrnen der politische Verband eine im Verlauf der sozialen Evolution (Monopolisierung der legitimen Gewaltsarnkeit) zunehmend einflußreiche Rolle auch für die anderen gesellschaftlichen "Ordnungen und Mächte" spielt. Noch deutlicher dokumentiert die "Erste Lieferung" diese Klammerfunktion: auf das Kapitel II "Soziologische Grundkategorien des Wirtschaftens" (WG, S. 31-121) folgt das herrschaftssoziologische Kapitel III "Die Typen der Herrschaft" (WG, S. 122-176). Grenznutzenprinzip und Legitimitätsprinzip, instrumentelle und normative Verhaltensmodulierung bilden die antinomischen Strukturprinzipien der materialen Soziologie Max Webers.
III. Patrimonialismus und Rationalisierung
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der Begriffsbildung sind und in der materialen Herrschaftssoziologie sachlich im Vordergrund stehen. Auch in der systematischen Religionssoziologie von "Wirtschaft und Gesellschaft", in den Studien zur "Wirtschaftsethik der Weltreligionen" oder in der Rechtssoziologie kommt Weber immer wieder auf die Strukturforrnen der politischen Herrschaft als für die Religions- und Rechtsentwicklung wesentliche Determinante zu sprechen. Deshalb gehört die politische Ordnung ganz sicher zu den wichtigsten teils "ökonomisch bedingten", teils "ökonomisch relevanten" Kulturerscheinungen, mit denen Weber im Objektivitätsaufsatz den Gegenstandsbereich der "Sozialökonomik" umreißt. 4 Die Herrschaftsforrnen werden nun von Weber nach zwei Merkmalen typologisch differenziert: nach den inneren Rechtfertigungs- oder Legitimitätsgründen auf der einen, nach der Struktur der Verwaltung auf der anderen Seite. Beide sind derart aufeinander bezogen, daß die Legitimitätsgründe nicht nur den Herrschaftsbeziehungen zwischen politischem Herrn und Beherrschten eine verbindliche Deutungsbasis geben, sondern zugleich die Herrschaftsausübung, die kontinuierliche Verwaltung also, strukturieren. 5 Ein Seitenblick auf die - Weber weniger interessierenden6 - Frühstadien politischer Entwicklung läßt erkennen, wie das in ursprünglich egalitären tribaien Gesellschaften frei flottierende Charisma einen Prozeß der Rangvergesellschaftung anstößt, in dessen Verlauf Autoritäts- bzw. Herrschaftspositionen gefestigt werden können. Dies wiederum vertieft die Besitzdifferenzierung. Am Ende einer langen Entwicklung kann so das gesellschaftliche Integrationsprinzip revolutioniert werden und an die Stelle der Rangvergesellschaftung die Stratifikation (Schichtungs- oder stratifizierte Gesellschaft) treten.? Schon auf der Stufe des Rangsystems sind die für die soziale Reproduktion konstitutiven Verbindungen zu den übernatürlichen Mächten (Ahnen, Göttern) bei der führenden Lineage monopolisiert und ist im Prinzip wenigstens der Weg zu jenem Strukturwandel des Charisma beschritten, den Weber als Prozeß seiner Veralltäglichung, Institutionalisierung und Versachlichung beschreibt (Erb- bzw. Amtscharisma). Natürlich behauptet die Häuptlings-Lineage ihren Vorrang primär - noch - auf dem Wege der beanspruchten und zugeschriebenen Kontrolle über die symbolischen Reproduktionsbedingungen der Gemeinschaft. Zunehmende Quanten des ihnen durch Brautpreis, Geschenke, Opfer etc. zufließenden gesellschaftlichen Reichtums werden allerdings nicht mehr im Sinne der ursprünglich redistribu3 V gl. die Verbands- und Anstaltstypologie im Kap. VII des Kategorienaufsatzes ,,,Anstalt' und ,Verband''', GAWL, S. 465 ff. und die §§ 12 ff. der ..Soziologischen Grundbegriffe", WG, S. 26 ff. 4 Vgl. GAWL, S. 163. 5 Zum Verhältnis der verschiedenen Legitimitätstypologien im jüngeren Teil von ..Wirtschaft und Gesellschaft" siehe oben Kap. 11. 3. 6 Das betont auch Stefan Breuer, Der archaische Staat. Zur Soziologie charismatischer Herrschaft, Berlin 1990, S. 13; ders., Zur Soziogenese des PatrimoniaIstaates, in: ders./Hubert Treiber (Hg.), Entstehung und Strukturwandel des Staates, Opladen 1982, S. 163 ff., hier S.193. ? Über neuere Evolutionstheorien und deren Hauptthese eines entwicklungsgeschichtlich allmählichen Wandels von egalitären Stammesgesellschaften über Rangsysteme mit politischer Führung zu zivilisierten Schichtungsgesellschaften mit ..Staaten" vgl. Michael Mann, Geschichte der Macht, Frankfurt a.M./New York 1994, Bd. 1: Von den Anfangen bis zur Griechischen Antike, S. 69 ff. S*
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III. Patrimonialismus und Rationalisierung
tiven Ökonomie aufgespeichert und umverteilt, sondern zur Erhaltung der eigenen sozialen und politischen Führungspositionen verwendet, so daß am Ende ihre ökonomische Macht de facto zur Grundlage ihrer politischen Macht wird, welche ihnen umgekehrt weitere ökonomische Chancen eröffnet. Die Kontrolle der materiellen Reproduktionsbedingungen, der ungleiche Zugang zu den strategischen Ressourcen der Gesellschaft - kurz: Stratifikation - ist nunmehr die Quelle politischer Macht. Denjenigen, die die politischen Leitungspositionen buchstäblich besitzen, dient ein im Kern vollständig verändertes, zunächst regelmäßig traditionalisiertes - je nachdem institutionalisiertes und versachlichtes, jedenfalls vererb- oder übertragbares - Charisma als nunmehr sekundäre Herrschaftslegende. s Aus der ursprünglich traditionsfeindlichen Macht des genuinen (personalen) Charisma ist die traditionsbegründende Kraft des abgeleiteten (Erb- oder Amts-)Charisma geworden. Der entwicklungsgeschichtliche Doppelsinn des Herrschaftsgrundes (als Entstehungs- und Rechtfertigungsgrund der Herrschaft des charismatischen Kriegsfürsten) wird nunmehr auf seine Bedeutung als Rechtfertigungslehre verkürzt. Der "Erbmonarch" ist - begrifllich und historisch - der legitime Nachfolger des genuin charismatischen Herrschers. 9 Diese Appropriation und Legitimation politischer und ökonomischer Herrenrechte findet bei Weber ihren begriffsunmittelbaren Ausdruck in der Kategorie der patrimonialen Herrschaft. Denn die Rechte des politischen Herrn sind hier in charakteristischer Weise eigentumsartig aufgefaßt und die Herrschaftslegende zielt darauf, sie als (traditionales oder erbcharismatisches) Eigenrecht des Patrimonialherrn auszuweisen. Die Herrengewalt - sagt Weber - wird im Patrimonialismus zum Eigenrecht des Herrn, "ihm in (prinzipiell) gleicher Art appropriiert wie irgendein Besitzobjekt beliebigen Charakters, verwertbar (verkäuflich, verpfändbar, erbteilbar) prinzipiell wie irgendeine wirtschaftliche Chance". 10 Für die Terminologie soll "die Tatsache der prinzipiellen Behandlung von Herrenrechten und der mit ihnen verknüpften Chancen jeden Inhalts nach Art privater Chancen [ ... ] maßgebend sein." II
Wenn aber nach Webers kursorischen Bemerkungen zur Entstehung des Staates erst durch Institutionalisierung der Herrschaft das chronische Kriegsfürstentum zum Königtum und Staat transformiert wird,I2 dann setzt die kontinuierliche, mehr oder minder geordnete Beherrschung eines Territoriums und seiner Bevölkerung die Errichtung einer mehr oder minder differenzierten und stetigen Verwaltungsorganisation, eines entsprechenden Verwaltungs- und Militärstabes, voraus. Nur so S Den engen Zusarnrnenbang von Besitz und Legitimität und die Rolle gerade des traditionalisierten Charisma für die Legitimierung ökonomischer Herrenrechte betont Weber stets aufs neue (vgl. WG, S. 123,549, 148, 679). 9 Daß der Monarch "von Gottes Gnaden" - wie in der frühneuzeitlichen absolutistischen Staatsdoktrin der französischen Legisten - nur Gott und d. h. mit Webers lakonischer Formulierung: "praktisch gar nicht" verantwortlich ist, kann als historisch außerordentlich folgenreiche, praktisch-politische Konsequenz dieser vereinseitigten Legitimitätsvorstellung begriffen werden. Zu beachten ist allerdings der historische Wandel der Gottesgnadentumsvorstellung im monarchischen Diskurs zwischen Mittelalter und Neuzeit sowie zwischen Hochabsolutismus und aufgeklärtem Absolutismus; vgl. hierzu Horst Dreitzel, Monarchiebegriffe in der Fürstengesellschaft, Bd. 2: Theorie der Monarchie, Köln/Weimar/Wien 1991, S. 515 ff. 10 WG, S. 133. 11 WG, S. 137. 12 Vgl. WG, S. 671, 676.
1. Typen der Herrschaft: Patrimonialismus und Feudalismus
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ist die effektive Durchsetzung der Anordnungen der Zentrale sowie die Aufrechterhaltung der Ordnung nach innen und außen dauerhaft möglich. Um die Lösung dieses administrativen Problems soll es im folgenden gehen, nicht zuletzt im Hinblick darauf, warum der mittelalterliche und neuzeitliche okzidentale Patrimonialismus als Wegbereiter des Verwaltungsrationalismus im rationalen "Anstaltsstaat" fungieren konnte, während in den orientalisch-asiatisch-islamischen Patrimonialreichen ein vergleichbarer Rationalisierungsprozeß nicht stattfand oder in Ansätzen steckenblieb. Zunächst gilt es, den begrifflichen Ort des Patrimonialismus in Webers Herrschaftssoziologie näher zu bestimmen (Kap. III. 1 und III. 2). Im Anschluß sind die unterschiedlichen Entwicklungsbahnen des Patrimonialismus im Orient und in Asien einerseits, im Okzident andererseits auf der Folie von Webers Herrschaftssoziologie zu verfolgen (Kap. III. 3 und III. 4).
1. Typen der Herrschaft: Patrimonialismus und Feudalismus Asymmetrische Machtbeziehungen, Befehls- und Gehorsamsverhältnisse in Herrschaftsverhältnissen "kraft Autorität" bilden also den thematischen Schwerpunkt von Webers herrschaftssoziologischen Erörterungen. 13 Und zwar näherhin solche Herrschaftsbeziehungen, die - wie der Patrimonialismus - aufgrund spezifisch politischer Befugnisse (v.a. Militär- und Gerichtsgewalten) eine politische Herrschaft konstituieren. Die Differenz ist im Auge zu behalten, weil Weber in "Hausherrschaft" und "Grundherrschaft" Archetypen der patrimonialen Herrschaft ausmacht, die genuin nicht-politischen Charakters sind. 14 So ist zwar die politische Gewalt des Patrimonialherrn (Fürst, König) von der Hausgewalt des Hausherrn und der grundherrlichen Gewalt des Grundherrn materiell verschieden. Was alle diese Herrschaftsverhältnisse jedoch miteinander verbindet ist der eigentumsartige, insoweit - modern gesprochen - privatrechtliche Charakter der Leitungsbefugnisse. Der politische Patrimonialherr verfügt über die Gerichts-, Konskriptionsund sonstigen Befehlsgewalten wie über private Vermögensrechte. 15 Mit Blick auf den rationalen Anstaltsstaat kennzeichnet Weber die auffällige Eigenart der patrimonialen Verbandsstruktur: 13 Die Verengung des Webersehen Macht-Begriffs auf ihren "distributiven" Aspekt durch die Unterstellung eines stetigen Machtquantums (nur die Verteilung ändert sich) wird von Talcott Parsons um die ,,kollektive" Dimension, also die Erweiterung des verfügbaren Machtquantums über Menschen und Dinge durch Kooperation, ergänzt (vgl. The Distribution of Power in American Society, in: ders., Structure and Process in Modern Societies, New York 1960, S. 199 ff.). Zu diesem Problem, das hier nicht weiter zu erörtern ist, vgl. Mann, Macht I, S. 22 ff. 14 Vgl. WG, S. 583 ff., 389 f.: "Wir werden sehen, wie das Hausherrschaftsprinzip über seinen ursprünglichen Umkreis hinaus auch auf gewisse Arten der politischen Gewalt: das Patrimonialfürstentum [ ... ] übertragen worden ist" (eigene Hervorhebung). 15 Vgl. WG, S. 137. Dieses Merkmal ist für den Webersehen Patrimonialismusbegriff konstitutiv (vgl. ebd., S. 134, 136 f.).
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III. Patrimonialismus und Rationalisierung
"Die politische Gewalt hat dann eben juristisch keine anstaltsmäßige Struktur, sondern wird durch konkrete Vergesellschaftungen und Kompromisse der verschiedenen Inhaber und Prätendenten subjektiver Befehlsbefugnisse dargestellt. Die politische Gewalt gilt dann als von derjenigen des Hausvaters, Grundherrn, Leibherrn nicht wesensverschieden: der Zustand des ,Patrimonialismus,.,,16
Infolge der Strukturgleichheit unterscheidet Weber Hausherrschaft, Grundherrschaft und politische Patrimonialherrschaft an Hand ihrer differenten Gewaltsphären. Da aber die patrimoniale Grundherrschaft!? eine historisch außerordentlich wichtige Rolle in der Verwaltungsorganisation von Patrimonialstaaten spielt,!8 sind beide Formen begrifflich auseinanderzuhalten. Ausdrücklich hat Weber dies zumindest in der älteren Herrschaftssoziologie getan, wo die "politische" Patrimonialherrschaft als Spezialfall der patrimonialen Herrschaft figuriert: "Wo nun der Fürst seine politische Macht, also seine nicht-domaniale, physischen Zwang gegen die Beherrschten anwendende Herrschaft über extrapatrimoniale Gebiete und Menschen: die politischen Untertanen, prinzipiell ebenso organisiert wie die Ausübung seiner Hausgewalt, da sprechen wir von einem patrimonialstaatlichen Gebilde.,,19
Im weiteren Verlauf der Untersuchung relativiert er aber diese Unterscheidung, indem er überwiegend die substantivierte Form "Patrimonialismus" mit a potiori politischer Konnotation verwendet. In der jüngeren Herrschaftssoziologie (Kap. III von "Wirtschaft und Gesellschaft") werden die politischen von den nicht-politischen Formen des Patrimonialismus nicht ausdrücklich unterschieden und fehlt eine Definition des Patrimonialstaates ganz. Doch liegt auch dort der Akzent sachlich auf den politischen Erscheinungsformen, bezeichnenderweise freilich - aber begrifflich konsistent - ohne das Wort "politisch" in den Hauptausführungen auch nur zu verwenden. Darauf wird noch näher einzugehen sein?O Bisher ist festzuhalten, daß der Patrimonialismusbegriff der älteren wie der der jüngeren Herrschaftssoziologie - entgegen dem traditionellen Sprachgebrauch - v.a. auch für eine bestimmte, eben hausherrschaftsartig organisierte Form der politischen Herrschaft steht. Im Zusammenhang mit der Grundherrschaft verwendet Weber den Begriff hingegen primär zur Kennzeichnung der begriffsgenealogisch entscheidenden Strukturanalogie der Herrschaftsbeziehungen; dem entsprechen die "Grundherrschaft" als terminus technicus und der lediglich attributive Gebrauch des Patrimonialismusbegriffs. 2 ! Dies wirft die Frage nach dem begrifflichen Ort des Patrimonialismus in der Webersehen Herrschaftssoziologie auf.
16 17 18 19 20 21
WG, S. 388 (eigene Hervorhebung). Vgl. WG, S. 585. Vgl. WG, S. 620. WG, S. 585. Siehe unten Kap. III. 2. b) und III. 2. c). Siehe unten Kap. Ill. 2. c).
1. Typen der Herrschaft: Patrimonialismus und Feudalismus
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a) Die Typen des politischen Patrimonialismus Wie jede politische Herrschaft ist auch der Patrimonialismus - nach Webers Typisierungsvorschlag - zunächst durch seine Herrschaftslegende charakterisiert. Im weitesten Sinn bildet die Tradition (unter Einschluß bestimmter routinisierter Formen des Charisma: Erb- und Amtscharisma speziell) das legitimatorische Fundament patrimonialer Herrschaft. Der Legitimitätsanspruch strukturiert die Herrschaftsbeziehungen zwischen dem politischen Herrn und den Beherrschten sowie zwischen ihm und seinem Verwaltungsstab. Die unterschiedlichen Verwaltungsstrukturen stehen dann im Mittelpunkt der Herrschaftssoziologie. 22 Der Patrimonialismus ist ein Typus der traditionalen Herrschaft mit persönlichem Verwaltungsstab - neben den Formen der auf Tradition beruhenden Herrschaft ohne Verwaltungsstab: dem "primären Patriarchalismus" bzw. der "Gerontokratie".23 Unter dem Aspekt der faktischen Verfügungsgewalt über die Verwaltungsmittel (Monopolisierung durch Herrn oder Stab bzw. Teilung zwischen ihnen) unterscheidet Weber Rekrutierungsart, Sozial status und Besoldungsform des patrimonialen Verwaltungsstabs. Als typische Rekrutierungsformen nennt er die patrimoniale und die extrapatrimoniale Auswahl des Verwaltungsstabes. 24 Im .ersten Falle sind seine .Mitglieder dem Haushalt des Patrimonialherrn entnommen (Sklaven, Kolonen, Hausbeamte) und nicht im Besitz der Verwaltungsmittel. Die Patrimonialherrschaft nimmt die Form des ,,reinen Patrimonialismus" bzw. des "Sultanismus" an, je nach dem Grad ihrer Traditionsbindung bzw. arbiträren Struktur. 25 Im "alten Manuskript" entspricht dem die Unterscheidung von "patriarchalern" und "arbiträrem" Patrimonialismus,26 wobei der letztere Typus gelegentlich durch den Typus des orientalischen "Sultanismus" exemplifiziert wird. 27 Doch ist hier die Begrifflichkeit noch nicht wirklich konsequent durchgehalten, werden die beiden Typen (patriarchaler und arbiträrer Patrimonialismus) oft synonym verwendet. 28 22 Vgl. WG, S. 126,545. - Gegenüber dem Vorwurf einer organisationstheoretischen Verengung der Herrschaftssoziologie bliebe - sub specie traditionaler Herrschaft - zu fragen, wie denn dann eine universalhistorisch vergleichende Strukturtypologie der Herrschaft aus moderner Sicht, aber ohne modernisierende Tendenz anzulegen wäre. Auch Weber hat ja in der ,,Ersten Lieferung" den Formen der Herrschaft "von oben" solche "von unten" gegenübergestellt, nur unterliegt eben das "unten" historischem Wandel. 23 Besonders in Form der "Hausherrschaft" bzw. als Herrschaft der Sippen- oder Stammesältesten, vgl. WG, S. 133 (nach der Typenlehre der jüngeren Herrschaftssoziologie); vgl. die typologisch weniger stringenten Äußerungen ebd., S. 580 ff. (Patriarchalismus), 547 (Ältestenherrschaft). 24 Vgl. WG, S. 131,594 f.; GAWL, S. 479; "Politik als Beruf', MWS II 17, S. 39 f., 50 ff. 25 Vgl. WG, S. 134. 26 Vgl. WG, S. 604, 646, 650 ff. Gelegentlich, aber offenbar nicht definitorisch, spricht Weber auch hier vom "reinen Patrimonialismus", so z. B. ebd., S. 625. 27 Z. B. WG, S. 590, 640. 28 Möglicherweise ließe sich über eine genauere Analyse der verwendeten Begrifflichkeit eine Signifikanz dieser Abweichung feststellen, die u. a. Aufschluß über die Abfassungszeit
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Ill. Patrimonialismus und Rationalisierung
Die entwicklungsgeschichtlich und strukturell weitaus folgenreichere, in diesem Sinn: kulturbedeutsame Variante ist freilich die extrapatrimoniale Rekrutierung des patrimonialen Beamtenstabes. Diese kann wiederum zwei Formen annehmen. Entweder entnimmt der Herr seine Beamten "freien", d. h. nicht ganz rechtlosen, aber nicht-ständischen Schichten, behält jedoch die Kontrolle über die Verwaltungsmittel in seiner Hand. Die Verwaltungsstruktur bleibt dann im Horizont des reinen oder patriarchalen Patrimonialismus. Oder er muß - v.a. infolge akuter Verwaltungs- und Militärbedürfnisse - präexistente (ständische) Gewalthaber einbinden, die gegen bestimmte militärische oder administrative Dienstleistungen über mindestens einen Teil der Verwaltungs- und/ oder militärischen Mittel zu Eigenrecht verfügen. 29 Die faktische und u. U. rechtliche Gewalten-Teiluni o sprengt hingegen den Rahmen des reinen Patrimonialismus. Weber rechnet daher diese Fälle dem Typus des "ständischen Patrimonialismus" zu: "Während also beim reinen Patrimonialismus volle Trennung der Verwalter von den Verwaltungsmitteln stattfindet, ist dies beim ständischen Patrimonialismus gerade umgekehrt: der Verwaltende ist im Besitz der Verwaltungsmittel, aller oder mindestens eines wesentlichen Teils. ,,31 der älteren Herrschaftssoziologie bzw. ihrer Einzelkapitel geben könnte. Breuer, Herrschaftssoziologie (1991), S. 90 argumentiert in diese Richtung, wenn er die Verwendung des Gegensatzpaares patriarchaler I ständischer Patrimonialismus im Kapitel "Feudalismus, ,Ständestaat' und Patrimonialismus" und in der Rechtssoziologie (§ 6; übrigens auch im nachgelassenen Text "Die drei reinen Typen der legitimen Herrschaft") der Unterscheidung arbiträrer I stereotypierter Patrimonialismus im Kapitel "Patriarchale und patrimoniale Herrschaft" gegenüberstellt. In letzterem sei die Entscheidung zur Ausklammerung der Hausherrschaft aus dem Begriffshorizont des Patrimonialismus bereits gefallen, wie sie dann das Kap. III der "Ersten Lieferung" typologisch durch die Differenzierung von Patriarchaiismus und Patrimonialismus realisiere. Die Rechtssoziologie und das Feudalismus-Kapitel der älteren Herrschaftssoziologie wären demnach vor dem Patriarchalismus-Kapitel (nämlich 1913) entstanden. Diese Argumentation stößt auf immerhin erhebliche werkgeschichtliche Bedenken, die die Datierung der Rechtssoziologie, nicht minder aber die der Herrschaftssoziologie betreffen, welche man mit guten Gründen in das Jahr 1913 verlegt hat. V.a. aber widerstreitet ihr die Begriffsverwendung der älteren Herrschaftssoziologie selbst. Mindestens an einer Stelle des Abschnitts über "Patriarchale und patrimoniale Herrschaft" findet sich in definitorischem Duktus die Redeweise vom "ständischen Typus des Patrimonialismus" (WG, S. 596) und gleich an mehreren im Feudalismus-Kapitel das Begriffspaar arbiträrer I stereotypierter Patrimonialismus (z. B. ebd., S. 639 f., 643, 646). Im übrigen enthält m.E. der Patrimonialismusbegriff der "Ersten Lieferung" nur eine Ausdifferenzierung der traditionalen Herrschaftstypologie, die begriffslogisch bereits in der älteren Fassung angelegt ist. Denn mit dem Prädikat "patriarchal" qualifiziert der Ausdruck patriarchaler Patrimonialismus doch lediglich eine Strukturanalogie des genus "Patrimonialismus", der die Vorstellung heterogener Gewaltsphären bereits zugrunde liegt. Die Unterscheidung von Patriarchalismus und Patrimonialismus wenigstens, wie sie die jüngere Herrschaftssoziologie trifft, ist deshalb m.E. kein geeigneter Ansatzpunkt zur Rekonstruktion der Patrimonialismus-bezüglichen Begriffsusancen der älteren Fassung. 29 Vgl. GAWL, S. 479; WG, S. 134 f. 30 Die "ständische Gewaltenteilung" bildet den für die okzidentale Sonderentwicklung wichtigen Sondertypus, vgl. WG, S. 137, 158, 161; Gianfranco Poggi, Max Weber's Conceptual Portrait of Feudalism, in: The British Journal of Sociology, 49 (1988), S. 211 ff., hier S.215.
1. Typen der Herrschaft: Patrimonialismus und Feudalismus
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Andererseits setzt diese Form der "Dezentralisierung" und "Stereotypierung" der patrimonialen Herrschaftsstruktur eine ständisch qualifizierte Schicht nach dem Muster des okzidentalen Rittertums nicht notwendig voraus. Die monopolistische Aneignung der patrimonialen Ämter und damit verbundenen ökonomischen Chancen kann ebenso Ursache wie Folge einer konkreten Ständebildung sein. 32 Extrapatrimoniale Rekrutierung und ständische Qualifikation sind zwar typische Merkmale ständisch-patrimonialer Verwaltungsstäbe, aber nicht definitorisch für den "ständischen Patrimonialismus". Denn - nochmals - entscheideng ist die Verfügungsgewalt der patrimonialen Beamten über "bestimmte Herrengewalten und die entsprechenden ökonomischen Chancen,,?3 Prinzipiell ist eine solche Appropriation aber selbst an ursprünglich unfreie Mitglieder des Verwaltungsstabes (Angehörige des Fürstenhaushalts etwa) möglich. Sobald infolge der faktisch geteilten Verfügungsgewalt über die Verwaltungsmittel eine effektive Gewaltenteilung eintritt, nimmt die Herrschaftsstruktur nach Weber "ständischen" Charakter an. Dies wird klarer, wenn man den bereits erwähnten dritten Aspekt: die materielle Versorgung der Patrimonialbeamten, berücksichtigt. Für die Patrimonialreiche ist, je weiter zurück desto weniger, die mit zunehmender Bürokratisierung einhergehende Geldentlohnung typisch. Unter vorherrschend naturalwirtschaftlichen Bedingungen muß der Patrimonialherrscher die allmählich aus seinem Haushalt abgeschichteten Beamten vielmehr aus seinen eigenen Speichern und Magazinen, seinen Steuer- und Gebühreneinnahmen, schließlich durch Vergabe von Land als Pfründe oder Lehen für ihre Dienste entlohnen. Im Falle der Naturaleinkünfte, Steuerrechte und bestimmter Formen der Landvergabe spricht Weber von "Pfründen".34 Sie sind normalerweise individuell und lebenslänglich, d. h. nicht erblich, vergeben und dienen primär dem ökonomischen Zweck der Beamtenversorgung. 35 Die auf 31 WG, S. 135; vgl. ebd., S. 596; GARS I, S. 271; GAWL, S. 479; "Politik als Beruf', MWS 1/17, S. 39. 32 Vgl. WG, S. 180: ,,Jede feste Appropriation von Chancen, insbesondere [von] Herren [gewalten oder Erwerbs-]chancen, neigt dazu, zur Ständebildung zu führen. Jede Ständebildung neigt dazu, zur monopolistischen Appropriation von Herrengewalten und Erwerbschancen zu führen" (sinngemäße Ergänzungen von Winckelmann). Rechtlicher Ausdruck eines solchen Monopolisierungs- und Appropriationsprozesses können - wie im okzidentalen Mittelalter - vom Herrn erlassene Dienstordnungen sein, welche die ständischen Monopole mit rechtlichen Garantien versehen und die "Vergesellschaftung" von Herr und Ministerialen in einer "Rechtsgemeinschaft" herbeiführen (vgl. WG, S. 595 f.). Doch handelt es sich bei solchem Dienstrecht wohlgemerkt nicht um ein seinerseits norrnbegriindetes öffentliches Recht im modemen Sinn, sondern um ein vom Herrn einseitig geschaffenes Privilegrecht mit stark traditional stereotypierender Wirkung (vgl. WG, S. 584, 598). 33 WG, S. 134. 34 WG, S. 136; mit zunehmender Tendenz zur Abschichtung und Selbständigkeit des Beamten gegenüber dem Herrn differenziert als "Deputat"-, "Sportel"- und "Landpfründen", WG, S. 598 f. 35 Die primär ökonomische Bestimmung der Pfründe ist für die Unterscheidung gegenüber dem Lehen und damit für die begriffliche Differenz von "Präbendalismus" und "Feudalismus" wesentlich. Das hat Stefan Breuer nicht genügend beachtet und deshalb zu Unrecht "Präbendalismus" und "Pfründen-Feudalismus" (im Gegensatz zum "Lehens-Feudalismus")
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III. Patrimonialismus und Rationalisierung
Pfründenvergabe als materieller Basis beruhende "Patrimonialbürokratie" heißt "präbendale Amtsorganisation" oder einfach: "Präbendalismus".36 Die sekundär politische Wirkung dieser Verwaltungsstruktur, die faktische (und ggf. rechtliche) Stereotypierung der Patrimonialherrschaft, liegt in der Tendenz zur Appropriation und Erblichkeit der Ämter und Pfründen. 37 Gerade die mit der Verknüpfung von Amt und Pfründe erzeugten Beamtenaspirationen verleihen der patrimonialen Verwaltungsorganisation einen strukturkonservativen Zug, der sie gegen Rationalisierungsbestrebungen und damit unweigerlich verbundene Eingriffe in das "Netz der Pfründnerinteressen" abschottet. 38 Die formative Wirkung der Pfründnerinteressen hält Weber für eine typische Erscheinung der orientalisch-asiatischen Patrimonialstaaten, die nur chronische Revolutionen und Eroberungen zu stets neuen patrimonialen Machtkonzentrationen hätten umlenken können. 39 Begrifflich verbleibt der Präbendalismus auch bei theoretisch weitestgehender Pfründenappropriation ganz im Rahmen der patrimonialen Herrschaftskonfiguration. Eine starke Zentralgewalt kann die beamteten Pfründner mit geeigneten patrimonialen Herrschaftstechniken40 unter Kontrolle und so die Dekomposition der patrimonialen Staatsstruktur in Grenzen halten. 41 Doch selbst bei schwach ausgeprägter Zentralgewalt und fortgeschrittener Pfründenappropriation bleibt die die Pfründe kategorial vom Lehen unterscheidende innerliche Verknüpfung mit dem patrimonialen Komplex strukturprägend, so daß die präbendale Organisation die patrimonial staatliche Konfiguration letztlich nicht transzendiert: "der Pfründner war, wo die Pfründe alle Reste patrimonialer Herkunft abgestreift hatte, ein einfacher Nutznießer oder Rentner mit bestimmten sachlichen Amtspflichten, dem bürokratischen Beamten insoweit innerlich verwandt. ,,42 identifiziert (Der okzidentale Feudalismus in Max Webers Gesellschaftsgeschichte, in: Wolfgang Schluchter (Hg.), Max Webers Sicht des okzidentalen Christentums. Interpretation und Kritik, Frankfurt a.M. 1988, S. 437 ff.). Dann jedenfalls, wenn - wie ich annehme - die Pointe seines Aufsatzes darin bestehen soll, gegen Weber den Pfründenfeudalismus aus dem Umfeld seiner begrifflichen Behandlung im Zusammenhang mit dem Lehensfeudalismus herauszuziehen und ihn vollständig im Kontext der (ständischen) Patrimonialorganisation zu verorten. 36 Vgl. WG, S. 558, 628 und S. 136. 37 Vgl. WG, S. 127,599,602,628. 38 Vgl. WG, S. 602. Es handelt sich dabei übrigens um die in der präbendal-patrimonialen Konfiguration spezifisch gesteigerte materielle Interessiertheit der politischen und ökonomischen Profiteure des Herrschaftssystems an dessen Erhaltung, die generell einen "strukturellen Traditionalismus" begünstigt (vgl. "Soziologische Grundkategorien des Wirtschaftens", WG, S. 118 f.). Die Verpfründung kann - worauf Weber Wert legt - Resultat einer traditionalen Konstellation, ebenso aber - im Wege der Veralltäglichung - Entwicklungstendenz einer ursprünglich charismatischen Herrschafts- und Verwaltungsstruktur sein (vgl. WG, S. 660, 148). 39 Vgl. GARS I, S. 348; WG, S. 604 und unten Kap. III. 3. c). 40 Z. B. regelmäßige Bereisung des Herrschaftsgebietes (durch den Herrn selbst oder durch Sonderbeamte), kurze Amtsfristen, gebotene Ortsfremdheit der Beamten, Residenzpflichten und Geiselgestellung der großen Beamten, geheimdienstliche Überwachung etc. 41 Vgl. WG, S. 605 f.
1. Typen der Herrschaft: Patrimonialismus und Feudalismus
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b) Die Typen des ständischen Patrimonialismus Präbende ("Pfründe") und Präbendalismus sind also die eine Form der ständisch-patrimonialen Beamtenbesoldung und Verwaltungsstruktur, Lehen und (speziell: Lehens-)Feudalismus die andere. Was versteht nun Weber unter dem vielgebrauchten Begriff ,Feudalismus'? Die systematische Stellung des Feudalismuskapitels macht deutlich, daß er diesen primär als eine Struktur politischer Herrschaft oder politischer Integration begriffen hat. 43 Das schließt - wie Weber besonders am "okzidentalen Lehensfeudalismus" zeigt44 - u. U. weitreichende soziale, wirtschaftliche, rechtliche und (im engeren Sinn) kulturelle Wirkungen nicht aus, die indessen v.a. aus der spezifischen Organisationsform der politischen Herrschaft resultieren. 45 Soweit sie für die Rationalisierung des Politischen im Okzident, d. h. für die Entstehung des modernen Anstaltsstaats, bedeutsam waren, wird darauf noch zurückzukommen sein. 46
42 WG, S. 628. Wenn Breuer, Feudalismus, S. 442 hier den interpretatorischen Akzent auf die - wie immer dekomponierte oder segmentierte - (patrimoniale) Staatlichkeit legt, so ist dem nur zuzustimmen. Freilich betrifft seine Deutung die von Weber in der jüngeren Herrschaftssoziologie als Pfründenfeudalismus bezeichnete Organisationsform politischer Herrschaft. Seine weitere Argumentation identifiziert unausgesprochen Präbendalismus (vgl. WG, S. 136) und Pfründenfeudalismus (vgl. WG, S. 148, 151), um letzteren begrifflich ganz dem Kontext der patrimonialen Herrschaft zuzuschlagen und so die Sonderstellung allein des Lehensfeudalismus zwischen traditionaler und charismatischer Herrschaft zu erweisen. Breuer meint begriffssystematische Inkonsistenzen im Feudalismus-Konzept Webers aufklären und zurechtrücken zu können. Doch leiten m.E. unvermerkt sachliche Erwägungen seine Begriffsrekonstruktion, die zwar mit Webers Hinweis auf ,empirisch fließende Übergänge' zwischen "Pfründen-Feudalismus" und "reiner Präbendalisierung" begründbar wären, begriffssystematisch aber gerade deshalb die Rekonstruktion in Schieflage geraten lassen. - Allerdings scheint Breuers Deutung des Weberschen Feudalismus-Konzepts im Wandel begriffen (vgl. noch Herrschaftssoziologie (1991), S. 156 ff., 160,235 Fn. 34). 43 Vgl. Poggi, Feudalism, S. 212. Anders Mare Bloch, Die Feudalgesellschaft, Frankfurt a.M. u. a. 1982. Dem Webersehen Gesellschaftsbegriff (als "Vergesellschaftung") entspricht demgegenüber die Feststellung, daß erst die bürokratische Organisation - zumal gegenüber jeder feudal-ständischen Struktur - infolge ihrer nivellierenden und universalistischen Tendenzen die Beherrschten zu einem mehr oder minder homogenen politischen Verband: dem Staat, "vergesellschaftet" (vgl. WG, S. 569 f.). 44 In der älteren Herrschaftssoziologie hat Weber im Anschluß an die typologische Ausdifferenzierung eines weiten Feudalismusbegriffs den "okzidentalen Lehensfeudalismus" als Spezialfall des "freien Feudalismus" nicht zuletzt aufgrund seiner herausragenden entwicklungsgeschichtlichen Bedeutung ausdrücklich zum Gegenstand der weiteren Untersuchung erklärt, dem die abgewandelten Formen des orientalisch-asiatischen und islamischen Feudalismus lediglich vergleichend gegenübergestellt werden (WG, S. 627). 45 So hat Otto Hintze - durchaus im Sinne Max Webers - den Feudalismus zwar als militärisch-politische und ökonomische Verbandsstruktur definiert, gleichzeitig jedoch seinen militärischen Ursprung und seine v.a. politische Rolle hervorgehoben (Wesen und Verbreitung des Feudalismus, in: ders., Feudalismus - Kapitalismus, hg. v. Gerhard Oestreich, Göttingen 1970, S. 12 ff.). 46 Siehe unten Kap. III. 4.
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III. Patrimonial ismus und Rationalisierung
Hier geht es vorerst darum, den begrifflichen Ort des Feudalismus in Webers Herrschaftslehre genauer zu bestimmen. Von der Pfründe unterscheidet Weber - wie gesagt - das Lehen als zweite kategoriale Form der patrimonialen Beamtenversorgung. 47 Da das (Land-)Lehen und die mit vergebene grundherrliehe ("eigenhaushaltsmäßige") Gewalt die normale Unterlage "wirklicher Feudalgebilde" sind,48 findet die feudale Herrschaftsorganisation ihren gewissermaßen natürlichen Platz im Kontext der traditionalen, genauer: der ständisch-patrimonialen Herrschaft. So heißt es in der älteren Herrschaftssoziologie: "Der Feudalismus stellt den Grenzfall in der Richtung des ,ständischen' im Gegensatz zum ,patriarehaien ' Patrimonialismus dar. ,,49 In der jüngeren Herrschaftssoziologie hat Weber diese Bestimmung im Abschnitt über die traditionale Herrschaft, speziell den (ständischen) Patrimonialismus, zwar nicht wiederholt, doch definiert er in unmittelbarer Nachbarschaft zum letzteren die Strukturformen des Präbendalismus und des Lehensfeudalismus. Die Klärung seines allgemeinen Feudalismusbegriffs wird indessen kompliziert dadurch, daß Weber mit ähnlichen Formulierungen bereits in der älteren Herrschaftssoziologie50 und in den herrschaftssoziologischen Passagen zur "Einleitung" der Studien über "Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen,,51 den Feudalismus als Strukturprinzip sui generis charakterisiert. Es verwundert daher nicht, wenn Weber in der jüngeren Fassung dem Feudalismus im Anschluß an die "Charismatische Herrschaft" und die Formen der "Veralltäglichung des Charisma" ein eigenes Kapitel widmet. 52 Und zwar deshalb, weil der Feudalismus eine politische Herrschaftsstruktur sei, "welche vom Patrimonialismus ebenso wie vom genuinen oder Erb-Charismatismus verschieden ist".53 Eine explizite Definition des Gattungsbegriffs erwartet man freilich auch an dieser Stelle vergeblich. Statt dessen geht Weber unvermittelt zur Kasuistik der beiden von ihm differenzierten Unterfälle: "Pfründen"- und "Lehens-Feudalismus", über. Fragt man weiter, was Vgl. WG, S. 136. WG, S. 627. 49 WG, S. 636. Ähnliche Fonnulierungen finden sich, jedoch bezeichnenderweise mit Bezug auf den Lehensfeudalismus, am Ende des 3. und zu Beginn des 4. Abschnitts der älteren Herrschaftssoziologie, die den Patrimonialismus bzw. den Feudalismus zum Gegenstand haben, sowie in dem Aufsatz "Die drei reinen Typen der legitimen Herrschaft" (vgl. GAWL, S.481). 50 Vgl. WG, S. 625. 51 Vgl. GARS I, S. 273. 52 Speziell hinsichtlich der Versorgungsinteressen des charismatischen Verwaltungsstabes, die in der Schaffung bzw. Institutionalisierung von Pfründen, Ämtern, Lehen ihren Niederschlag finden (vgl. WG, S. 145). Zur kontroversen Rezeption des Weberschen Feudalismusbegriffs vgl. OUo Brunner, Feudalismus. Ein Beitrag zur Begriffsgeschichte, in: ders., Neue Wege der Verfassungs- und Sozialgeschichte, Göttingen 31980, S. 128 ff., bes. 155 f. (kritisiert eine unpassende "Modernität" der Begriffsbildung); Hintze, Feudalismus, S. 15 (kritisiert die zu starke Betonung charismatischer Elemente des Feudalismus); Speer, Herrschaft und Legitimität, S. 118 f.; Poggi, Feudalism, S. 221 f. (beide resümieren die doppelte Ableitung aus Charisma und Tradition eher beiläufig). 53 WG, S. 148. 47
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1. Typen der Herrschaft: Patrimonialismus und Feudalismus
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eigentlich die Sonderbehandlung des Feudalismus im Rahmen der charismatischen Herrschaft erforderlich macht, so heißt es gelegentlich, daß die feudale Herrschaftsstruktur "mit wichtigen Zügen gar nicht glatt unter eine der drei oben unterschiedenen Formen [gemeint ist die Trias "legitimer Herrschaft", S.H.] einzuordnen" ist, "sondern nur durch eine Kombination mit anderen Begriffen (in diesem Fall: dem des ,Standes' und der ,Standesehre') verständlich" wird. 54 Die Spezifikation gilt aber, wie die weiteren Ausführungen zeigen, nur für den Lehensfeudalismus und nicht (oder doch nicht begriffswesentlich) für den Pfründenfeudalismus, was den Verdacht verstärkt, Weber habe hier Gattungsbegriff und Untertyp nicht sorgfältig genug unterschieden und deshalb selbst dem Eindruck der inkonsistenten Doppelung Vorschub geleistet. Eine konsequente Lösung wäre, die Ausführungen dieses § 12 b) nur auf den Lehensfeudalismus zu beziehen, im übrigen aber den Feudalismus als Form der traditionalen Herrschaft, näherhin des "ständischen Patrimonialismus" zu verstehen, in dessen Rahmen dann auch der Pfründenfeudalismus voll aufginge. 55 Allerdings dürfen dabei Präbendalismus und Pfründenfeudalismus begrifflich nicht identifiziert werden. 56 Daß vielmehr Weber auf ihre Unterscheidung ausdrücklich Wert legt, wird zunächst aus der Wortwahl für die im § 8 über die patrimoniale Beamtenausstattung kontrastierten Typen des Präbendalismus und des Lehensfeudalismus ersichtlich. 57 Denkt man sich nun die präbendale Versorgung der Patrimonialbeamten, d. h. ihre prinzipielle Versorgung durch Natural-, Steuer- oder Landpfründen, unter den Begriff des Pfründenfeudalismus gebracht, dann wäre letztlich jedes Patrimonialbeamtentum, die Abschichtung aus dem Fürstenhaushalt vorausgesetzt, 58 feudal, was nach Weber aber gewiß nicht gemeint ist, und zwar auch und gerade begrifflich nicht. Denn nicht nur sind - wie er wiederum im Feudalismus-Kapitel des § 12 b) bemerkt - die historisch-empirischen Übergänge zwischen Pfründen- und Lehensfeudalismus fließend, sondern eben auch die zwischen ersterem und "reiner Präbendalisierung". 59 Diese führt im Ergebnis aber offenkundig zu der Art patrimonialer Amtsorganisation, welche Weber im § 8 als Präbendalismus bezeichnet und deren allgemeine Eigenart bereits dargestellt wurde. GARS I, S. 273. Diese Lösung schlägt Breuer, Feudalismus, S. 437 ff. vor. 56 Nur so ist aber Breuer, Feudalismus, S. 439 zu verstehen, der damit die Pointe seiner Rekonstruktion teilweise wieder verspielt. Denn es ist unwahrscheinlich, daß Weber, dem es doch in diesen - notabene: von ihm seIbst zur Publikation bestimmten - Teilen seines Grundrißbeitrags um präzise Begriffe ging, die Terminologie nicht vereinheitlicht oder wenigstens die Identität der Begriffsinhalte angezeigt hätte, wenn das sachlich gemeint gewesen wäre. Irrtum oder Versehen bleiben natürlich mögliche Fehlerquellen. Allein in diesem Fall ist die gewollte Unterscheidung zwischen präbendaler Organisation und Pfründenfeudalismus so offenkundig, daß hier m.E. eine Ungenauigkeit Webers auszuschließen ist. Das aber eröffnet eine neue Perspektive auf das Feudalismus-Kapitel der jüngeren Herrschaftssoziologie, die man sich mit der umstandslosen Ineinssetzung von Präbendalismus und Pfründenfeudalismus verstellt. 57 VgI. WG, S. 136. 58 Das betrifft also insbesondere die Fälle des "ständischen Patrimonialismus" . 59 WG, S. 153. 54 55
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III. Patrimonialismus und Rationalisierung
Das führt zurück zur Frage nach den gattungsbegrifflich wesentlichen Merkmalen des Weberschen Feudalismusbegriffs und den Gründen für die begriffssystematisch insoweit deplazierte Behandlung des Pfründenfeudalismus zusammen mit dem Lehensfeudalismus im Umfeld der charismatischen Herrschaft. Das Entscheidende liegt hier offenbar in der innerlich und äußerlich wesentlich weitergehenden, dabei v.a. äußerlich bei Pfründen- und Lehensfeudalismus vergleichbare Formen annehmenden Dezentralisation der Herrschaft,6O deren Archetypus die funktionelle Grundherrschaft ist. Die Formen des Feudalismus bedeuten - gegenüber dem seiner Natur nach ökonomisch motivierten Präbendalismus - eine prinzipielle Durchbrechung des "patrimonialbürokratischen" Mechanismus auf typischerweise grundherrlicher Basis. 61 Weber hat deshalb das maßgebliche Kriterium der feudalen im Unterschied zur präbendalen Herrschaftsstruktur dahin bestimmt, daß für militärische oder administrative Dienste, die dem Patrimonialherrn geleistet werden, nicht nur ökonomische, sondern auch Herrschaftsrechte vergeben werden: ,,Jene verliehenen Herrschaftsrechte selbst können dabei verschiedenen, z. B. bei politischen Beamten mehr grundherrlichen oder mehr amtlichen Charakters sein. In beiden Fällen, jedenfalls aber im letzteren, ist eine völlige Zerstörung der spezifischen Eigenart der bürokratischen Organisation eingetreten: wir befinden uns im Bereich der ,feudalen' Organisation der Herrschaft. ,,62
Sieht man darin das Substrat des Weberschen Feudalismusbegriffs, dann erklärt die feudale Verwaltungsorganisation seine Zuordnung (und damit die seiner Unterfälle: Pfründen- und Lehensfeudalismus) zum (ständischen) Patrimonialismus, das proprium Feudalismus die zusammenhängende Begriffsbestimmung an einer Stelle, für die wiederum die abweichende Eigenart des Lehensfeudalismus den Ausschlag gibt. Zwar vermag auch diese Lösung systematisch nicht gänzlich zu befriedigen. Soviel immerhin ist klar: Der allgemeine Feudalismusbegriff gehört in den Rahmen der traditionalen, speziell der ständisch-patrimonialen Herrschaft. Die Konnotationen zur charismatischen Herrschaft betreffen seine lehensfeudale Variante. 63 Betrachtet man nun den Feudalismus als Organisationsform des ständischen Patrimonialismus und fragt nach seiner weiteren begrifflichen Differenzierung, so läßt sich feststellen, daß die relativ umfangreiche Kasuistik der älteren Herrschaftssoziologie in der jüngeren Fassung auf die Unterscheidung der beiden "echten" 60 Vgl. WG, S. 631, wo Weber das Feudalsystem als "weitestgehende Form systematischer Dezentralisation der Herrschaft" kennzeichnet. 61 Zur grundherrlichen Basis des Feudalismus vgl. WG, S. 627, 640. 62 WG, S. 558. Die modeme Bürokratie als Kontrastfolie ("Patrimonialbürokratie") verdeutlicht das Ordnungsprinzip der Begriffssystematik. Auf politischem Gebiet ist dies die Konzentration und Zentralisierung der Herrengewalt, wie sie der modeme Staat idealtypisch realisiert. Im traditionalen Verband aber ist der Patrimonialismus Schöpfer der Bürokratie (vgl. WG, S. BI; GARS I, S. 273). 63 Vgl. Gianfranco Poggi, Max Webers Begriff des okzidentalen Feudalismus, in: Schluchter (Hg.), Webers Sicht des okzidentalen Christentums, S. 476 ff., hier S. 488 ff.
I. Typen der Herrschaft: Patrimonialismus und Feudalismus
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Fonnen (Pfründen- und Lehensfeudalismus) verkürzt wird. In der älteren Herrschaftssoziologie unterscheidet Weber den ",leiturgischen' Feudalismus", den "patrimonialen Feudalismus" und als dessen Unterflille: den "grundherrlichen", "leibherrlichen", "gentilizischen" Feudalismus, schließlich die Typen des "freien Feudalismus": der "gefolgschaftliche", "präbendale", "lehensmäßige", "stadtherrschaftliche" Feudalismus. 64 Vennutlich weil nach dieser Typologie Patrimonialismus und Feudalismus keine trennscharfen Begriffe mehr sind, letztlich jede Fonn der patrimonialen Verwaltungs- und Militärorganisation feudal genannt werden müßte, hat Weber in der jüngeren Herrschaftssoziologie auf den leiturgischen und patrimonialen Feudalismus sowie - von den Fonnen des freien Feudalismus - auf den Gefolgschaftsfeudalismus und auf den Stadtfeudalismus65 als selbständige Typen verzichtet. Es bleiben als allein "echte" Fonnen die beiden restlichen Typen des "freien Feudalismus": der präbendale und der lehensmäßige. Die persönliche Freiheit der Pfründen- und Lehensinhaber bildet nach dem Wegfall des leiturgischen und patrimonialen Feudalismus kein geeignetes Unterscheidungskriterium mehr. Die Spezifikation ("freier" Feudalismus) kann entfallen, weil das genus proximum der beiden verbliebenen Fonnen (Feudalismus) diesen soziologisch relevanten Tatbestand voraussetzt, nicht, weil die soziologische Reichweite des Pfründenfeudalismus auf Feudalbeziehungen zwischen Patrimonialherren und Unfreien bzw. persönlich Abhängigen erweitert werden müßte. 66 (Grund)Herren bestimmen typischerweise die Struktur von Pfründen- und Lehensfeudalismus. Ihre soziale Prominenz kennzeichnet das Gemeinsame; Ursprung und Eigenart ihrer (Grund)Herrenstellung bilden die Differenz. Was personales Treueband und freies Kontraktverhältnis zwischen Herren und Vasallen für den Lehensfeudalismus, ist das fiskalisch bedingte Amts- bzw. Steuerpachtverhältnis im Rahmen eines patrimonialen Abgabenverbandes für den Pfründenfeudalismus. 67 Die präbendal-feudal abgewandelte Patrimonialverwaltung ("Pfründen-Feudalismus") funktioniert - abVgl. WG, S. 627. Vgl. Webers Bemerkungen über den wegen militaristischer Lebensführung und besonderer ständischer Ehre "synoikisierter" Geschlechter so genannten "Polis-Feudalismus", den man nur "uneigentlich" Feudalismus nennen könne (WG, S. 153). Abzulehnen sei ein Sprachgebrauch, für den alle ständisch privilegierten militaristischen Schichten, Institutionen und Konventionen als "feudal" gelten. Weber korrigiert damit die eigene noch in den "Agrarverhältnissen" e1909) maßgebliche Terminologie. ,,[F]eudalen Charakters" - heißt es GASW, S. 3 - sind "alle jene sozialen Institutionen, welchen die Herausdifferenzierung einer für den Krieg oder Königsdienst lebenden Herrenschicht und ihre Sustentation durch privilegierten Landbesitz, Renten und Fronden der abhängigen waffenlosen Bevölkerung zugrundeliegt [ ... ], die Amtslehen in Aegypten und BabyIon ebensogut wie die spartanische Verfassung." 66 Das ist gegen Breuer; Feudalismus, S. 442 einzuwenden, der wegen seiner Identifizierung von Präbendalismus und Pfründenfeudalismus zu dieser Schlußfolgerung gelangt. 67 WG, S. 152, auch S. 629 f., wo generell der Unterschied zwischen okzidentalem Lehenssystem und orientalischem Militärpfründnersystem an der Herkunft des letzteren aus dem zerfallenden Steuersystem und Soldheer eines geldwirtschaftlichen und bürokratischen Staates festgemacht wird. Vgl. GARS II, S. 72. 64
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III. Patrimonialismus und Rationalisierung
gesehen von der strukturellen Segmentierung des Patrimonialstaats - ganz wie der "reine" Präbendalismus und bietet insoweit keine begrifflichen Besonderheiten. Sie bewegt sich im Rahmen der traditionalen, speziell: der ständisch-patrimonialen Herrschaft. c) Der okzidentale Lehensfeudalismus als Sonderfall
des ständischen Patrimonialismus
Die einfache Zuordnung zur traditionalen Herrschaft paßt nun für den zweiten Unterfall des Feudalismus, den Lehensfeudalismus, dem infolge seiner außerordentlichen entwicklungsgeschichtlichen Bedeutung Webers besonderes Augenmerk gilt, offenbar nicht in gleicher Weise. 68 Zwar kommt auch der Lehensfeudalismus begrifflich nicht ohne patrimoniale Komponente aus. Ohne den Lehensherrn ist der Lehensnexus nicht vorstellbar. 69 Doch wird die Einheit dieser Herrschaftsstruktur primär nicht durch den - wie immer dekomponierten - überwölbenden Staatsverband gestiftet, sondern durch persönliche Treuebeziehungen und Kontraktverhältnisse zwischen ständisch qualifizierten und sozial exponierten Herren: "Das Spezifische des voll entwickelten Lehenssystems nun ist der Appell nicht nur an die Pietätspflichten, sondern an das aus spezifisch hoher, sozialer Ehre des Vasallen fließende ständische Würdegefühl als entscheidender Determinante seines Verhaltens. Das Ehrgefühl des Kriegers und die Treue des Dieners sind beide mit dem vornehmen Würdegefühl einer Herrenschicht und ihrer Konventionen in untrennbare Verbindung gebracht und an ihnen innerlich und äußerlich verankert. ,,70
Vornehmheit, militaristischer Ehrbegriff und Verhaltenkodex, Herren-Status geben dem lehensfeudalen Verwaltungspersonal ein spezifisches Profil, das sich mit den (patriarchalen) Pietäts- und Dienstvorstellungen der patrimonialen Herrschaft kaum angemessen beschreiben läßt. Darum sieht Weber die Notwendigkeit, den Lehensfeudalismus im Rahmen seiner Herrschaftstypologie außerhalb der traditionalen Herrschaft zu behandeln und hält den Kontext der charismatischen Herrschaft für den systematisch "richtigen" Ort?) An die Stelle des patrimonialen oder 68 Der "okzidentale Lehensfeudalismus" steht im Mittelpunkt der Feudalismusanalyse des älteren Teils (vgl. WG, S. 627: es gehe vornehmlich um diesen folgenreichsten Typus des "freien Feudalismus", "neben dem wir die anderen Typen nur vergleichsweise in Betracht ziehen"), und die Begriffsbildung ist entsprechend eng mit der okzidentalen Erscheinungsform verkoppelt. Vgl. zum Folgenden Breuer, Feudalismus, S. 443 ff.; Poggi, Feudalism, bes. S. 218 ff. 69 Die Legitimitätsdistribution von der Spitze der Feudalpyramide aus macht den Typus des ständischen Patrimonialismus auch für den theoretisch denkbaren - und in Deutschland wie zeitweilig in Frankreich historisch realisierten - Fall sinnvoll, daß der Stab der Lehensvasallen de facto über die Verwaltungsmittel verfügt (bezweifelt von Poggi, Feudalism, S. 216; vgl. dagegen: WG, S. 631, 636, 672). 70 WG, S. 630 f.
1. Typen der Herrschaft: Patrimonialismus und Feudalismus
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präbendalen Staatsverbands72 tritt nämlich ein eigentümliches Konglomerat aus einer Vielzahl zweiseitiger Treue- und Vertragsbeziehungen: ,,[ ... ] der politische Verband ist völlig ersetzt durch ein System rein persönlicher Treuebeziehungen zwischen dem Herrn und seinen Vasallen, diesen und ihren weiterbelehnten (subinfeudierten) Untervasallen und weiter den eventuellen Untervasallen dieser.'m
Eine solche Struktur ist aber nach Weber v.a. zu verstehen als das Resultat ehemals charismatischer Gefolgschaftsbeziehungen zwischen einem Kriegsherrn und seinen Gefolgsleuten. Das politische Charisma gerät im Laufe der Zeit - wie jedes Charisma - aufgrund der ideellen und materiellen Interessiertheit von Herr und Gefolgschaft unter Veralltäglichungs- und Institutionalisierungsdruck: 74 "Mit der Veralltäglichung mündet also der charismatische Herrschafts verband weitgehend in die Formen der Alltagsherrschaft: patrimoniale, insbesondere: ständische, oder bürokratische, ein. Der ursprüngliche Sondercharakter äußert sich in der erbcharismatischen oder arntscharismatischen ständischen Ehre der Appropriierten, des Herrn wie des Verwaltungsstabs, in der Art des Herren-Prestiges also.,,75
Das Besondere des Lehensfeudalismus liegt nun in dem Umstand, daß der Veralltäglichungsprozeß tatsächlich in dieser Art die ursprünglich charismatische Kriegervergemeinschaftung als Ganzes erfaßt, d. h. sowohl den charismatischen KriegsfÜfsten als auch die charismatische Kriegsgefolgschaft. Die gemeinsame soziale Superiorität gegenüber der entwaffneten Bevölkerung wie das hierarchische Gefälle zwischen Herr und Gefolgschaft werden durch das vasallitische Treuverhältnis einer veralltäglichten (feudalen) Herrschaftstruktur eingeschrieben. 76 Dies ist indessen durchaus nicht der Normalfall. Die Veralltäglichung des Charisma im Sinne seiner Versachlichung zum Erbcharisma kann einerseits die Errichtung einer 71 Schon in der älteren Herrschaftssoziologie hatte Weber eingangs des Kapitels über den Feudalismus auf die charismatischen Wurzeln des Lehensfeudalismus hingewiesen (vgl. WO, S. 625). Die Einleitungsformel des Feudalismus-Kapitels in der jüngeren Herrschaftssoziologie (ebd., S. 148) zielt dagegen auf eine weitere begriffliche Distinktion, die einerseits mit der Stellung des Kapitels die charismatische Ableitung voraussetzt, andererseits die Verschiedenheit speziell des Lehensfeudalismus vom Patrimonialismus wie vom genuinen bzw. ErbCharismatismus behauptet und damit auf die bereits in der "Einleitung" zu OARS I, S. 273 erwähnten Besonderheiten von "Stand" und "Standesehre" abstellt. 72 "Staat" freilich - wie die wichtige Passage WO, S. 636 zeigt - cum grano salis. 73 WO, S. 149. 74 Vgl. WO, S. 661, wo Weber die prinzipielle Unterlegenheit des außeralltäglichen (genuinen) Charisma gegenüber den Alltagsmächten, also v.a. Wirtschaft und Politik (Verwaltung), konstatiert. Zur Institutionalisierungs- und Veralltäglichungsproblematik ebd., S. 126, 545, bes. 147. 75 WO, S. 146. 76 Vgl. WO, S. 626: "Echte Lehensbeziehungen im vollen technischen Sinn bestehen 1. stets zwischen Mitgliedern einer sozial zwar in sich hierarchisch abgestuften, aber gleichmäßig über die Masse der freien Volksgenossen gehobenen und ihr gegenüber eine Einheit bildenden Schicht, und kraft der Lehensbeziehung steht man 2. in freiem Kontraktverhältnis und nicht in patrimonialen Abhängigkeitsbeziehungen zueinander." 9 Hennes
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III. Patrimonialismus und Rationalisierung
Erbmonarchie zur Folge haben, die frühere charismatische Gefolgschaft dabei u. U.
ohne jedes ständische Eigenprestige in einem patrimonialen Verwaltungsstab aufgehen. Oder die Mitglieder der Gefolgschaft nehmen fortan die erbcharismatische Legitimation für sich in Anspruch, ohne weiter eine ihnen bevorrechtete HerrenStellung anzuerkennen. Die daraus folgende Herrschaftsstruktur ist die des "Geschlechterstaates,m. Kraft ihres Eigenprestiges beanspruchen die Geschlechter hier die Ämter und ökonomischen Chancen: "Denn nicht irgendeine persönliche Treuebeziehung kraft Beleihung mit Verrnögensrechten oder Ämtern ist der ,Legitimitäts' -Grund der Rechte der einzelnen Geschlechter auf ihre Funktionen, sondern das den einzelnen Häusern selbständig eigene besondere Charisma. Wie schon früher erwähnt, hat der Übergang von hier aus zum Lehensstaat sehr regelmäßig - auf seiten des Herrn - gerade das Motiv, mit der ,Eigen-Legitimität' dieser Geschlechterrechte ein Ende zu machen und eine von ihm, dem Herrn, abgeleitete LehensLegitimität an deren Stelle zu setzen."78
Eine spezifische Kombination patrimonialer und charismatischer Elemente zeichnet demnach den Lehensfeudalismus aus. Zu seiner Entstehung bedarf es einer eigencharismatischen patrimonialen Spitze, die gleichwohl nicht über die erforderlichen Verwaltungs- und Kriegsbetriebsmittel verfügt, um den politischen Verband (patrimonial- )staatlich zu organisieren. Sie ist bei der Herrschaftsausübung vielmehr auf die Hilfe einer zu Eigenrecht über solche Mittel verfügenden, charismatisch qualifizierten Schicht ("Vasallen") angewiesen, die sich ihrerseits außerstande findet, das Gentilcharisma zum dominanten politischen Strukturprinzip zu machen, d. h. einen auf Geschlechter, deren Anhang und territorialen Besitzstand begründeten Geschlechterstaat zu errichten. Der Lehensfeudalismus ist also - wie Breuer zu Recht feststellt 79 - doppelt determiniert: auf der Seite seines patrimonialen Pols bildet er eine Form der traditionalen, genauer: der ständisch-patrimonialen Herrschaft; auf der Seite der Lehensträger aber eine spezifisch abgewandelte Form der charismatischen Herrschaft. Unter Berücksichtigung der begrifflichen Differenzierung von Präbendalismus und Pfründenfeudalismus, deren Nachweis hier versucht wurde, lassen sich die Formen des Patrimonialismus und der patrimonialen Verwaltung - im Anschluß an Zingerle und Breuer80 - schematisch folgendermaßen darstellen (Abbildung 5):
77 Vgl. WG, S. 145,672. 78 WG, S. 672; vgl. ebd., S. 631, 636. 79 Breuer, Feudalismus, S. 443 ff.; Poggi, Feudalism, S. 221 f. 80 Vgl. Amold Zingerle, Max Weber und China. Herrschafts- und religionssoziologische Grundlagen zum Wandel der chinesischen Gesellschaft, Berlin 1972, S. 50; Breuer; Feudalismus, S. 446.
2. Typen des Staates: Rationaler Staat und Patrimonial-Staat
Traditionale Herrschaft
ohne VS*
131
Charismatische Herrschaft
Traditionalisierung
mit persönlichem VS (patrimonialismus (P.»
I
reiner P. (Sultanismus)
ständischer P.
Präbendalismus
Feudalismus
Pfründen-
Lehens-Feudalismus
I I
Geschlechterstaat
VS* - Verwaltungsstab (ohne VS: primärer Patriarchalismus; Gerontokratie)
Abbildung 5: Typen des Patrimonialismus
2. Typen des Staates: Rationaler Staat und Patrimonial-Staat Nun verfolgte Weber mit seinen Herrschaftstypen nicht nur die Absicht, der historischen Forschung einen geeigneten Set von Begriffen bereitzustellen, wenngleich die Methodendiskussionen der Zeit ein gesteigertes Bewußtsein für deren Bedeutung geschaffen hatten. 81 Gewiß: in seinen methodologischen Arbeiten nach der lahrhundertwende hatte er die "Soziologie", die ihm erst viel später als disziplinäre Heimat seines Forschungsprogramms gelten sollte, primär in der Rolle einer Hilfswissenschaft der Historie gesehen. 82 Das mag seine Gründe v.a. in der 81 Der Methodenstreit war nicht allein ein historisches und nationalökonomisches Phänomen. Zum juristischen Methodenstreit der lahrhundertwende vgl. allgemein Franz Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, Göttingen 2 1967, S. 558 ff. Der Kampf gegen den Historismus zeitigte paradoxe Frontstellungen in den einzelnen Disziplinen. Wahrend Geschichtswissenschaft und Nationalökonomie um ihr theoretisches Fundament stritten, setzten in der Rechtswissenschaft um die lahrhundertwende Bewegungen gegen das das 19. Jh. als Erbe der rechtshistorischen Schule beherrschende begriffslogische Paradigma ("Begriffsjurisprudenz") ein: Zweckjurisprudenz, Interessenjurisprudenz, Freirechtsschule. Diesen für die Rechtssoziologie als eigenständige Disziplin bedeutenden Vorgang hat Weber wiederum ,,rechtssoziologisch" erörtert unter dem Gesichtspunkt der Re-Materialisierung des modernen Rechts (vgl. WG, S. 507 ff.). 82 So kündigt er dem Verleger Paul Siebeck noch 1914 seine "Soziologie" - gemeint ist natürlich sein Grundrißbeitrag über "Wirtschaft und Gesellschaft - ind. Staat und Recht" mit der bezeichnenden Einschränkung an, daß er sie "so nie nennen könnte" (vgl. den Brief
9*
132
III. Patrimonialismus und Rationalisierung
disziplingeschichtlich einigermaßen amorphen Gestalt der zeitgenössischen Soziologie gehabt haben, unter deren Flagge evolutionistische, organizistische, materialistische und sozialphilosophische Theorieansätze gleichermaßen segelten. Zum anderen aber sicher auch in der überkommenen Theorietradition der historischen Schule, die dem sich immer schneller aufhäufenden Daten- und Quellenmaterial theorie strategisch immer weniger beizukommen wußte. 83 Begriffliche und theoretische "Zurüstung" schien also für die historischen Wissenschaften die Forderung der Zeit zu sein. Und dem Konzept des Idealtypus, das Weber weniger erfunden als in seiner logischen Struktur und methodischen Tragweite erkannt hatte, kam dabei eine entscheidende Rolle ZU. 84 Solche Dienstleistungen rechnet Weber noch in den "Soziologischen Grundbegriffen" - buchstäblich seinem letzten Wort in dieser Frage - zum Aufgabenbereich der Soziologie im Verhältnis zu ihrer akademischen Nachbardisziplin:
an den Verlag vorn 6. Nov. 1913, zit. nach Winckelmann, Hauptwerk, S. 33). Erst in der letzten Lebens- und Arbeitsphase 1918-1920, als er an der Überarbeitung des "alten Manuskripts" zu "Wirtschaft und Gesellschaft" sowie der Fertigstellung des ersten Bandes der "Gesammelten Aufsätze zur Religionssoziologie" saß, hatte Weber seine Reserve gegenüber der bis dahin tatsächlich eher konturlosen, unterschiedlichste wissenschaftliche Interessen und Methoden zusammenspannenden akademischen ,Sarnrnelbewegung' unter dem Titel ,Soziologie' aufgegeben. Mit einern durch die Korrespondenz schimmernden Gründungseifer ging er dazu über, nunmehr seine eigene Arbeit, speziell seinen Grundrißbeitrag, als Soziologie in einern fachwissenschaftlichen Sinn zu konzipieren - ausdrücklich an Stelle der ihr öffentliches und innerakademisches Bild bis dahin dominierenden "Dilettanten-Leistungen geistreicher Philosophen" (Brief an den Verlag Ende 1919, zit. nach Winckelmann, Hauptwerk, S. 47). Nicht von ungefahr kündigte der Mohr/Siebecksche Verlag Webers Beitrag über "Wirtschaft und Gesellschaft" mit dem Untertitel "Soziologie" an. Die längst kanonisierte Auffassung Max Webers als "Gründervater" der Soziologie dürfte also neben allen sachlichen und institutionenpolitischen Gesichtspunkten (bei letzterem ist v.a. an Webers Rolle bei der Gründung der Deutschen Gesellschaft für Soziologie zu denken) auch eine Stütze im Selbstverständnis der letzten Lebensjahre finden. 83 In seiner Antrittsvorlesung von 1895 C,Der Nationalstaat und die Volkswirtschaftspolitik", abgedr. in: GPS, S. 1-25, hier S. 16) bezeichnet sich Weber selbst noch als "Jünger der historischen Schule" (der deutschen Nationalökonomie, S.H.), während er im Objektivitätsaufsatz wesentlich distanzierter sich zu den "Kindern der historischen Schule" rechnet (vgl. GAWL, S. 208), was wohl ein recht verläßliches Bild für die im Laufe der Zeit zunehmende Distanz v.a. in methodologisch-erkenntnistheoretischen Fragen ist. Vgl. Schluchter, Religion und Lebensführung I, S. 26 ff., bes. 31 f. und 31 Fn. 11, 12. 84 Bezeichnenderweise blieb die Rezeption des Methodologen Weber durch den expliziten Adressaten, die Geschichtswissenschaft, von einzelnen herausragenden Vertretern wie namentlich Otto Hintze (Max Webers Soziologie) und vereinzelten Publikationen (Werner Bienfait, Max Webers Lehre vorn geschichtlichen Erkennen, Berlin 1930; Julius Jakob Schaaf, Geschichte und Begriff - Eine kritische Studie zur Geschichtsmethodologie von Ernst Troeltsch und Max Weber, Tübingen 1946) abgesehen, bis heute weitgehend aus. Zur methodologischen Entwicklung und Bedeutung Webers im Umfeld der zeitgenössischen Methodenkontroversen vgl. Rossi, Max Weber-Vorlesungen 1985, S. 20 ff. und die einschlägigen Aufsätze in dem Sammelband: Wolfgang J. Mommsenl Wolfgang Schwentker (Hg.), Max Weber und seine Zeitgenossen, Göttingen I Zürich 1988.
2. Typen des Staates: Rationaler Staat und Patrimonial-Staat
133
"Sie [die Soziologie, S.H.] bildet ihre Begriffe und sucht nach ihren Regeln vor allem auch unter dem Gesichtspunkt: ob sie damit der historischen kausalen Zurechnung der kulturwissenschaftlichen Erscheinungen einen Dienst leisten kann. ,,85
Aber schon die Tatsache, daß Weber seinen Grundrißbeitrag "Wirtschaft und Gesellschaft" nicht nur als "Soziologie" versteht,86 sondern - wie neben der Verlagsankündigung ausdrücklich die in der sog. Ersten Lieferung von "Wirtschaft und Gesellschaft" entwickelte soziologische Kategorienlehre zeigt - ihn auch so nennt, markiert einen entscheidenden Wendepunkt im Prozeß der Emanzipation der Soziologie als eigenständiger Fachwissenschaft gegenüber der Geschichte. "Wirtschaft und Gesellschaft" setzt dem neuen Paradigma einer ,historischen Sozialwissenschaft' ein monumentales Denkmal. 8? Webers verstehende Soziologie möchte soziale, politische, ökonomische etc. Verbände, Institutionen, Prozesse, kurz: Strukturen als Folgen und Determinanten individueller (sozialer) Handlungen sichtbar machen. 88 Die Weberschen Handlungs- und Strukturbegriffe sind deshalb notwendigerweise relativ allgemein, inhaltsleer und spezifisch transepochal. Webers materiale Soziologie ist allerdings eine im universalgeschichtlichen Maßstab 89 WG,S. 9. Mit dieser Zuordnung dürfte Webers Arbeit spätestens seit der Publikation des Kategorienaufsatzes und dem bekannten Brief vom 30. Dez. 1913 an den Verlag (mitgeteilt bei Winekelmann, Hauptwerk, S. 36) treffend beschrieben sein. 87 Vgl. Rossi, Max Weber-Vorlesungen 1985, S. 20 ff., 190 ff.; Volker Kruse, ,Geschichtsund Sozialphilosophie • oder, Wirklichkeitswissenschaft .? Die deutsche historische Soziologie und die logischen Kategorien Rene Königs und Max Webers, Frankfurt a.M. 1999, bes. S. 27 ff., 39 ff., 268 ff. Einen Überblick über Traditionslinien und neuere Theorieansätze in der historischen Soziologie geben Wilfried Spohn, Kulturanalyse und Vergleich in der historischen Soziologie, in: Comparativ, Jg. 1998, Heft 1, S. 95 ff.; Gertraude Mikl-Horke, Die Wiederkehr der Geschichte. Zur historischen Soziologie der Gegenwart, in: Österreichische Zeitschrift für Soziologie, 19 (1994), S. 3 ff.; zur Bedeutung Max Webers für die Renaissance der Geschichte in der Soziologie vgl. auch Walter M. Sprondel, Historisierung der Soziologie? Zur Renaissance historischen Interesses unter Soziologen, in: Saeculum, 43 (1992), S. 66 ff., hier S. 70 ff. 88 Webers Soziologie, deren ambivalente Stellung zwischen interpretativem und strukturtheoretischem Paradigma gerade die Parsonssche Handlungstheorie sinnfällig gemacht hat, bietet gleichermaßen Anlaß und Anknüpfungspunkte für Giddens' Projekt einer den Theoriefallen subjektivistischer wie objektivistischer Ansätze entgehenden "Theorie der Strukturierung". Vgl. Anthony Giddens, Die Konstitution der Gesellschaft. Grundzüge einer Theorie der Strukturierung, Frankfurt a.M. 1988, S. 34 f., 41. Giddens selbst freilich motiviert seine theoretischen Bemühungen mit den Marxschen Einleitungssätzen aus "Der 18. Brumaire des Louis Bonaparte", wonach die Menschen Schöpfer ihrer Geschichte, dies aber nicht unter selbstgewählten Umständen sind, und dem Durkheimschen Gedanken, daß die handelnden Individuen zwar durchaus "Produzenten" der Gesellschaft seien, ohne daß jedoch ihre Schöpfung in intentionaler Manier gedacht werden dürfe. 89 "Universalgeschichte" freilich nicht mehr - wie bei Marx - als die im Sinne einer ,,realen Erzeugungsdialektik" als notwendig zu denkende Gattungsgeschichte, sondern als ein in "idealtypischen Entwicklungskonstruktionen" regulativ, nicht normativ, aufzuspannender konditionaler Möglichkeitsraum. Vgl. Schluchter; Religion und Lebensführung I, S. 52 ff., 93 ff., 98, 101. 85
86
134
III. Patrimonialismus und Rationalisierung
kulturvergleichende historische Soziologie, deren Anspruch, überzeitliche Konfigurationen typologisch und kulturbedeutsame historische Entwicklungen kausal zu erfassen, sich in einer auffaIligen Ambivalenz der Typenbegriffe niederschlägt. Diese Zweidimensionalität lassen nicht zuletzt die Typen der Herrschaft und hier insbesondere wiederum ihre Fassung in der älteren Herrschaftssoziologie erkennen. So hat Webers Charisma-Konzept transepochale wie historische Aspekte. 9o Es ist einerseits eine raumzeitlich ungebundene, übermenschliche oder außergewöhnliche Begabung konkreter Personen, die diese in ebenso konkret bedingten Grenzsituationen aktualisieren. Andererseits versteht Weber das Charisma durchaus nicht als geschichtslose Macht, wenn er von den verschiedenen Formen spricht, die es "auf seinem schicksalsreichen Wege,,91 angenommen habe, und diese sogleich nennt: das "magische" und "politische" bzw. "militärische" Charisma,92 das ,,religiöse" und das "prophetische" Charisma,93 schließlich: die "charismatische[n] Verklärung der Vemunft".94 Weber kennt offenbar eine Entwicklungsgeschichte des Charisma, die mit dem ihn besonders interessierenden okzidentalen Entzauberungs- und Rationalisierungsprozeß in Zusammenhang steht. 95 Entsprechend ließe sich für die traditionale und die legale Herrschaft die zwischen universell klassifikatorischen und entwicklungsgeschichtlichen Aspekten changierende Begriffsstruktur demonstrieren. Namentlich die stark entwicklungsgeschichtlich geprägten Kapitel der älteren Herrschaftssoziologie96 sind Resultat der von Weber seit 1910 in den beiden Großprojekten "Wirtschaft und Gesellschaft" sowie den Studien zur "Wirtschaftsethik der Weltreligionen" untersuchten Frage nach dem Rationalismus der okzidentalen Kultur. Die berühmte Eingangspassage zur "Vorbemerkung" der religionssoziologischen Aufsätze paraphrasierend,97 lautet entsprechend die dem Folgenden (Kap. III. 3 und III. 4) zugrundeliegende Fragestellung: Welche Verkettung von Umständen hat dazu geführt, daß gerade auf dem Boden des Okzidents - und nur hier der modeme rationale Staat entstand? Oder, thematisch direkt auf das politische 90 V gl. Günther Roth, Politische Herrschaft und persönliche Freiheit. Heidelberger Max Weber-Vorlesungen 1983, Frankfurt a.M. 1987, S. 142. Besonders Stefan Breuer hat in seinen verschiedenen Arbeiten über die charismatische Herrschaft diese Interpretationslinie Roths aufgenommen (Herrschaftssoziologie (1991), S. 33 ff.; ders., Das Charisma der Vernunft und die Singularität des rationalen Staates, in: ders., Bürokratie und Charisma, S. 59 ff.). 91 WG, S. 726. 92 WG, S. 699. 93 WG, S. 328; GARS III, S. 309. 94 WG, S. 726. 95 Vgl. Schluchter, Entwicklung des okzidentalen Rationalismus, S. 187; Günther Rothl Wolfgang Schluchter (Hg.), Max Weber's Vision of History, Berkeley 1979, bes. S. 119 ff. 96 Residual- in Formulierungen wie "Legalisierung", "Traditionalisierung", "Präbendalisierung", ,,Feudalisierung" - sind sie freilich auch noch im herrschaftssoziologischen Kapitel der sog. Ersten Lieferung präsent. 97 Vgl. GARS I, S. 1.
2. Typen des Staates: Rationaler Staat und Patrimonial-Staat
135
Rationalisierungspotential des Patrimonialismus bezogen: Welche Entwicklungslinie führt von patrimonialen politischen Systemen bzw. Patrimonialstaaten zum rationalen Staat? Das setzt zunächst voraus, die Weberschen Konzepte von "Entwicklung", "Staat" und "Patrimonialismus" als begriffliches Bezugssystem jenes politischen Rationalisierungsprozesses zu klären. a) Herrschaftssoziologie als Strukturtypologie oder Entwicklungsgeschichte - Der Fall des Patrimonialismus Moderne Staatlichkeit ist keineswegs die zwangsläufige Entwicklungstendenz vormoderner Formen politischer Vergesellschaftung. Weil für Weber der moderne Staat in seiner anstaltsstaatlichen und d. h. bürokratisierten Variante den Musterfall stabilisierter und perfektionierter Herrschaftsorganisation abgibt und dieser deshalb als typologischer Vergleichsmaßstab für alle anderen, besonders die historisch früheren Formen politischer Herrschaft fungieren soll, weil - damit zusammenhängend - Weber jeden Eindruck einer unilinearen Entwicklung von Herrschaftsformationen vermeiden will, steht der Typus der bürokratischen Herrschaft in beiden Fassungen der Herrschaftssoziologie am Anfang der Erörterungen. 98 Webers Geschichtsbild ist geprägt von einem Kontingenzbewußtsein, das sich methodologisch in idealtypischen Begriffen und Entwicklungskonstruktionen niederschlägt und historische Prozesse nur als hypothetische Kausalverläufe (objektive Möglichkeiten) unter Anwendung von generellen Erfahrungsregeln auf spezifizierte Wirklichkeitsausschnitte konzipieren kann. Die dem Geschichtsbild zugrundeliegende Seinsauffassung findet sichtbaren Ausdruck in der zentralen Rolle, die den Begriffen "Macht-Pragma,,99 und "Kampf.Joo gerade im Kontext der politischen Entwicklung zufällt. 101 Historisch allfällig ist der Kampf zwischen (politischen oder hierokratischen) Herren und ständischen Gewaltträgern (Adel, Priester, Städte etc.) um die Appropriation oder Expropriation von Herrengewalten. 102 Innerhalb des 98 WG, S. 126 (Vorbemerkung), 578 f.; vgl. Mommsen, Gesellschaft, Politik und Geschichte, S. 128,203; Breuer; Herrschaftssoziologie (1991), S. 24, 33. 99 Vgl. GPS, S. 145, wo Weber von der .. Gesetzlichkeit des Macht-Pragma" spricht, ..das alle politische Geschichte beherrscht". 100 Vgl. die Definition des .. Kampfes" im § 8 der ..Soziologischen Grundbegriffe", WG, S. 20 und die Bedeutung, die ihm etwa Zängle. Staatstheorie, S. 33 ff., 94 ff. in seiner Interpretation der Staatstheorie Max Webers zurnißt. 101 Wagner; Gesellschaftstheorie, S. 188 ff., hier S. 200 kommt zu dem Ergebnis, die ..strukturelle Affinität" der Kulturtheorie des Südwestdeutschen Neukantianismus zu der Logik der Hobbesschen Ordnungstheorie habe Weber dazu geführt, ..auf der Basis eines negativen Menschenbildes und der damit einhergehenden Bestimmung des anderen als Feind im neukantianischen Wirklichkeitsbegriff eine abstrakte Vorstellung von Hobbes' Konzeption des Naturzustandes" zu erkennen. 102 Vgl. z. B. GARS I, S. 271; WG, S. 154 f. Über die Erfahrungen des Weltkrieges als werkbiographischen Hintergrund der gewachsenen Bedeutung von Begriffen wie .. Kampf',
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III. Patrimonialismus und Rationalisierung
einzelnen politischen Verbandes und zwischen den politischen Verbänden sind Machtverteilungskämpfe der beteiligten Einzelnen oder Gruppen für Weber geradezu das Essentiale der Politik. 103 Die Eigendynamik der agonalen Grundsituation relativiert die geographischen und ökologischen Faktoren zu soziologischen Randbedingungen, 104 während die Analyse der sozio-evolutionären "Chancen" und "Tendenzen" unter dem Vorbehalt eines kontingenten politischen Machtkampfes steht, der soziologisches Interesse v.a. dann gewinnt, wenn er institutionalisiert 105 oder aber strukturell perpetuiert ist. Daß darin eine prinzipielle Schranke der evolutionären Perspektive liegt, ist sicher ebenso richtig 106 wie die angebliche Unmöglichkeit idealtypischer Entwicklungskonstruktionen unbegründet. 107
"Konkurrenz", "Auslese" und "Monopolbildung" in der sog. Ersten Lieferung, und speziell im Kapitel III über die "Typen der Herrschaft", sind die einleuchtenden Bemerkungen von Breuer, Staatssoziologie, S. 211 f. zu vergleichen. 103 Zu den einschlägigen Grundbegriffen "Politischer Verband", "Staat", "Macht", "Politik" etc. siehe oben Kap. 11. 2. Daß Weber dabei den Staat durch das "Monopol der legitimen physischen Gewaltsamkeit", also instrumentell und nicht normativ-teleologisch, definiert, hat - wie namentlich die heftige Debatte um die angeblich protofaschistischen Tendenzen der Weberschen Soziologie (Löwenstein/Mommsen) zeigt - seiner Rezeption in der deutschen Nachkriegsära nicht unerhebliche Hindernisse in den Weg gelegt, andererseits ihm v.a. in der anglo-amerikanischen politischen Theorie dauerhafte Anschlußfähigkeit gesichert. Vgl. dazu Gangolj Hübingerl Jürgen Osterhammell Woljgang Wetz, Max Weber und die Wissenschaftliche Politik nach 1945. Aspekte einer theoriegeschichtlichen Nicht-Rezeption, in: Zeitschrift für Politik, 37 (1990), S. 181 ff. 104 Unbeachtet bleiben sie natürlich nicht, nur fehlt - vor diesem Hintergrund verständlicherweise - jede systematische Erörterung dieser Bedingungen. 105 Im Sinne "geregelter Konkurrenz" etwa zwischen politischen Verbänden, Parteien oder Machthabern und Ständen (vgl. WG, S. 20). 106 So die These Breuers, Herrschaftssoziologie (1991), S. 27. 107 Darauf zielt Adornos Kritik, wonach "ein Idealtypus so etwas wie eine Tendenz, in einen anderen überzugehen, überhaupt gar nicht haben (kann), weil er ja etwas völlig monadologisch und ad hoc Erfundenes ist, um gewisse Phänomene zu subsumieren" (Theodor W Adorno, Vorlesung zur Einleitung in die Soziologie, Frankfurt a.M. 1973, S. 130). Breuer schließt sich dieser Auffassung an, um dann den Historiker gegen den Methodologen Max Weber ins Feld zu führen, weil schließlich die historisch-soziologischen Studien ständig die Grenzen seines methodologischen Nominalismus verletzten (Herrschaftssoziologie (1991), S. 28 f.). Besonders Webers Schriften zur Antike machten deutlich, wie er über die methodologischen Forderungen des Idealtypus hinaus in die Richtung objektiver Bewegungsgesetze getrieben werde. Zweifellos ist das politische Organisationsstadienmodell, welches Weber in der "Einleitung" der "Agrarverhältnisse" für die sozial- und wirtschaftsgeschichtliche Analyse der mittelmeerisch-vorderasiatischen Hochkulturen ausgearbeitet hat (vgl. GASW, S. 35 ff.), nichts anderes als eine idealtypische Entwicklungskonstruktion. Es sind doch aber nicht die Begriffe, die ineinander übergehen, sondern die historischen Verhältnisse, und es sind vielmehr allererst die Begriffe, durch die jene "fließenden Übergänge" begreifbar werden. Akkumulations-, Konzentrations- und Monopolisierungsprozesse politischer Herrschaftsbildungen oder umgekehrt Desakkumulations-, Dezentralisierungs- und Oligopolisierungsprozesse werden erst durch idealtypische Begriffsreihen wie Patrimonialismus, Präbendalismus, Feudalismus, Ständestaat etc. überhaupt beschreib- und analysierbar. Stefan Breuer
2. Typen des Staates: Rationaler Staat und Patrimonial-Staat
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Lineare Entwicklungskonzepte jedenfalls - wie sie seinerzeit en vogue waren sind Weber fremd. Das hindert ihn jedoch nicht daran, in seiner historischen Soziologie nach nicht-linearen und diskontinuierlichen "Entwicklungschancen", "Entwicklungstendenzen", "Entwicklungsstufen" von Gesellschaften zu fragen, für deren Identifikation und Beschreibung zuvor Typenbegriffe aus ungeheuer umfangreichem historischen Material destilliert werden. In gewisser Weise zeigen Webers Vorstellungen über die soziale Evolution durchaus Parallelen zu neueren Theorieansätzen in der politischen Anthropologie. Diese kennzeichnet ein Verständnis sozialer Systeme als dynamischer Systeme, denen es "immer nur für eine begrenzte Zeit gelingt, Störungen zu verarbeiten und ihren Status quo zu sichern", mit der Folge, "daß früher oder später Phasen eintreten, in denen die Ordnungsund Integrationsmechanismen schwächer werden und katastrophische ,Bifurkationen' ermöglichen, aus denen dann wieder neue Ordnungen hervorgehen können. ,,108 Natürlich setzt Webers neukantianisch inspiriertes Welt- und Wirklichkeitsverständnis und die darin eingelagerte Kontingenzerfahrung solchen Vergleichen enge Schranken. Dennoch unterschätzt Bühl das evolutionstheoretische Potential von Webers Herrschaftssoziologie, wenn er annimmt, dessen Idealtypen seien "sozusagen trigonometrische Markierungs- oder Vermessungspunkte", geeignet zur Orientierung "der Schwimmer im chaotischen Strom des Lebens", aber kaum zur "Erforschung des Stromes".109 Webers Auffassung, die für die politischen Verbände ebenfalls Phasen der Machtsteigerung und -konzentration, der Stabilisierung und Stagnation, der langsamen oder plötzlichen Destabilisierung, der Regression auf eine frühere Stufe oder der Reorganisation auf einem "höheren" Niveau kennt, liegt insoweit - wie Breuer zu Recht betont - näher am modemen Verständnis sozialer Evolution als am klassischen Evolutionismus. llo Zwar kann es hier nicht darum gehen, Webers Verhältnis zum Evolutionismus in seinen verschiedenen Spielarten abschließend zu klären, doch sollten die knappen Bemerkungen ausreichen, das Verständnis seiner eigenen entwicklungsgeschichtlichen Argumentation zu erleichtern - in der Form wie in der Sache. So geht v.a. die scheint übrigens in seinem Buch über den Staat seine frühere Auffassung aufgegeben zu haben, unterstreicht er doch ausdrücklich die Notwendigkeit, "die drei Haupttypen des Staates [archaischer, traditionaler und rationaler Staat, S.H.] statt als fixe Größen als Grenzbegriffe zu konzipieren, als Scheitelpunkte in Entwicklungsbahnen (trajectories), in deren Verlauf die Macht mehrfach ihren Aggregatzustand ändert" (Der Staat. Entstehung, Typen, Organisations stadien, Hamburg 1998, S. 25). Um ausdrücklich hinzuzufügen: "Wenn es die idealtypische Methode nicht schon gäbe - für dieses Vorhaben müßte sie erfunden werden." 108 Breuer; Herrschaftssoziologie (1991), S. 30; Walter Bühl, Die dunkle Seite der Soziologie. Zum Problem gesellschaftlicher Fluktuationen, in: Soziale Welt, 39 (1988), S. 18 ff.; ders., Gibt es eine soziale Evolution?, in: Zeitschrift für Politik, 31 (1984), S. 302 ff.; Jonathan Friedrrum, Catastrophe and Continuity in Social Evolution, in: Colin Renfrew u. a. (Hg.), Theory and Explanation in Archaeology, New York 1982, S. 175 ff. 109 Vgl. Bühl, Die dunkle Seite der Soziologie, S. 24. 110 Vgl. Breuer; Herrschaftssoziologie (1991), S. 30. Schluchters Rekonstruktion von Webers Entwicklungsbegriff (vgl. Religion und Lebensführung I, S. 97 ff.) verbleibt dagegen in dem von Heinrich Rickert vorgegebenen Rahmen.
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III. Patrimonialismus und Rationalisierung
ältere Herrschaftssoziologie heterogenen Entwicklungslinien des politischen Patrimonialismus nach, dessen primäre Verlaufsform Phasen der Gewaltkonzentration und -monopolisierung, der "Stereotypierung", Dezentralisierung und Fragmentierung, äußerstenfalls: der vollständigen Dekomposition des politischen Verbandes umfaßt, während die sekundäre Transformation zum rationalen Staat die weltgeschichtliche Ausnahme bildet. Es läßt sich deshalb aus Webers Herrschaftssoziologie eine Vorstellung davon gewinnen, wie unwahrscheinlich die modeme Staatsbildung tatsächlich ist. Und was die Entwicklungsbahnen des Patrimonialstaates anbetrifft, so folgt dies aus seiner eigenen Unwahrscheinlichkeit lll und inhärenten Instabilität. Denn welche Gründe auch immer sonst Weber für die Herausbildung des rationalen Staates im Rahmen jenes allgemeinen okzidentalen Rationalisierungsprozesses anführt - seinen eigentlichen Akzent gewinnt dieser vor dem kulturgeschichtlichen Hintergrund des zyklischen Aufstiegs und Untergangs orientalisch-asiatischer Patrimonialreiche. Tatsächlich ist die chinesische, indische und vorderorientalische Geschichte geprägt durch rekursive Perioden der Konzentration und Fragmentierung der Herrengewalt, durch den zyklischen Wechsel zwischen "plötzliche[m] Zusammenbruch patrimonialfürstlicher Gewalten und ihre[r] ebenso plötzliche[n] Neuentstehung" . 112 Den orientalisch-asiatischen Imperien gelang es nicht, diesen patrimonialen Zyklus zu durchbrechen und zu transformieren, denn nur im Okzident fand jener alle Lebensbereiche, darunter die politische Ordnung, erfassende und nach dem Prinzip formaler Rationalität umgestaltende (Rationalisierungs-)Prozeß statt. Wie der Orient und Asien haben aber auch die okzidentalen Staaten patrimoniale Organisationsstadien durchlaufen. Mehr noch: Der frühneuzeitliche dynastische Staat, der gleichsam an der Schwelle zur Entstehung des rationalen Staates stand, läutet nach Weber zunächst eine Renaissance des "reinen" Patrimonialismus ein. 1I3 Zugleich bildet er ein wichtiges, für Weber in einigen Hinsichten notwendiges "Durchgangsstadium" auf dem Weg zum rationalen Staat. 1I4 Die Entwick·lungspfade des politischen Patrimonialismus waren also in Okzident und Orient denkbar verschieden, was um so drängender die Frage aufwirft, welche Faktoren hier diese, dort jene Entwicklungssequenz ausgelöst haben. Wenn Weber hierbei immer wieder Wahlverwandtschaftsverhältnisse und wechselseitige Struktureffekte 111 Daß die soziale Evolution nur in einer relativ kleinen Zahl der Fälle das Stadium der Staats- oder gar Imperienbildung erreicht hat, ist communis opinio der politischen Anthropologie und Staatstheorie. Vgl. Michael Mann, The Autonomous Power of the State: Its Origins, Mechanisms and Results, in: John A. Hall (Hg.), States in History, Oxford 1986, S. 108 ff., hier S. 127; ders., Macht I, S. 65 ff. I12 WG, S. 590; vgl. Breuer, Herrschaftssoziologie (1991), S. 104. m Vgl. WG, S. 636 ff. über die Entwicklung des europäischen "Ständestaates" und die Renaissance des Patrimonialismus; ebd., S. 139, 150 f.; GARS I, S. 272. Von der "Bürokratie des ,aufgeklärten Despotismus'" heißt es WG, S. 645, ausdrücklich, sie sei "noch ebenso stark patrimonial, wie es die Grundauffassung vom ,Staat', auf der er ruhte, überhaupt war". Vgl. Breuer, Bürokratie und Charisma, S. 33, 56; ders., Staatssoziologie, S. 209. 114 Vgl. "Politik als Beruf', MWS 1/17, S. 40, 51 f.
2. Typen des Staates: Rationaler Staat und Patrimonial-Staat
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der gesellschaftlichen Teilsysteme erörtert, sollte das den Blick auf die entwicklungsgeschichtliche Argumentationslinie nicht trüben. 115
b) Die Staatlichkeit des Patrimonialismus Wie selbstverständlich war bisher vom Patrimonialstaat und vom rationalen Staat die Rede. Jeder Kenner seiner Herrschaftssoziologie weiß aber, daß Weber die zeiträumlich heterogenen politischen Verbandsbildungen nicht unterschiedslos als Staaten begreifen will. An mehreren Stellen hat er den Staat nominal bestimmt. 116 Weil ein Staatsbegriff Bestandteil beider Fassungen seiner soziologischen Kategorienlehre (Kategorienaufsatz und "Soziologische Grundbegriffe") und darüber vermittelt der älteren und jüngeren Herrschaftssoziologie ist, gleichzeitig aber hinsichtlich seiner definitorischen Merkmale eine gewisse Verschiedenheit aufweist auf die kursorisch bereits hingewiesen wurde -, stellt sich die Frage, welchen Staatsbegriff Weber seinen herrschaftssoziologischen Untersuchungen zugrunde legt. Der scheinbar inkonsistente Umgang mit dem Staatsbegriff erklärt sich zunächst aus der Tatsache, daß Weber ihn wesentlich nach dem Vorbild seiner modernen Erscheinungsform konstruiert. Ergebnis ist eine Staatsdefinition, die eine Merkmalskombination von Gebietsherrschaft, rationalen Ordnungen und einer deren Durchführung und Bestand mit dem Monopol legitimer Gewaltsarnkeit sichernden Organisation umfaßt. Dies gilt durchaus für beide Versionen der Herrschaftssoziologie bzw. ihre grundbegrifflichen Referenztexte: Kategorienaufsatz und "Soziologische Grundbegriffe". Entwicklungsgeschichtlich - das zeigen bereits die einschlägigen allgemeinen Ausführungen im zeitlich frühen Kapitel über die "Politischen Gemeinschaften"ll7 - ist der Staat das relativ späte Produkt eines rechtlichen Rationalisierungs- und eines Machtkonzentrationsprozesses. Beides wird nach Weber in ganz entscheidendem Maße durch ökonomische Interessen, insbesondere den Marktmechanismus, katalysiert. l1s Zum einen muß der politische Verband mit zunehmender Diversifizierung der interlokalen Austauschbeziehungen immer mehr Aufgaben übernehmen, die vorher im Zuständigkeitsbereich kleinerer Einheiten lagen. V.a. ruft der expandierende Markt l19 ökonomische Interessenten auf den Plan, die eine Garantie ihrer geschäftlichen Transaktionen durch eine stetige und 115 Zutreffend Breuer; Herrschaftssoziologie (1991), S. 26 gegen Hanmann Tyrell, Ist der Webersche Bürokratietypus ein objektiver Richtigkeitstypus?, in: Zeitschrift für Soziologie, 10 (1981), S. 38 ff., hier S. 43. 116 .. Kategorien", GAWL, S. 466; ..Politik als Beruf', MWS 1/17, S. 36, 40 f.; ..Vorbemerkung" zu GARS I, S. 3 f.; ,,zwischenbetrachtung" zu GARS I, S. 547; ..Soziologische Grundbegriffe", WG, S. 29; werk- und begriffsgeschichtliche Erörterungen dazu bei Breuer; Staatssoziologie, S. 199 ff.; ders., Staat, S. 14 ff.; Anter; Max Webers Theorie, bes. S. 21 ff. ll7 Vgl. WG, S. 516 ff. 118 Vgl. WG, S. 516, 519. 119 Vgl. über ..Marktentwicklung" und ..Marktverbreiterung" den fragmentarischen Abschnitt über die ..Marktgemeinschaft", WG, S. 382 ff., 385.
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111. Patrimonial ismus und Rationalisierung
rationale Ordnung fordern. Dies läuft auf die zunehmende Allokation der Rechtsetzungs- und Rechtdurchsetzungskompetenzen beim politischen Verband hinaus. Der Staat, und d. h. hier: der modeme Staat, monopolisiert im Zuge dieser Entwicklung mit der legitimen Gewaltsamkeit zugleich die legitime Satzungskompetenz. Oder anders formuliert: die Staatsbildung vollzieht sich für Weber im Prozeß der parallel verlaufenden Gewaltmonopolisierung und ",Verstaatlichung' aller Rechtsnormen". 120 "Mit zunehmender Befriedung und Erweiterung des Markts parallel geht daher auch 1. jene Monopolisierung legitimer Gewaltsamkeit durch den politischen Verband, welche in dem modernen Begriff des Staats als der letzten Quelle jeglicher Legitimität physischer Gewalt, und zugleich 2. jene Rationalisierung der Regeln für deren Anwendung, welche in dem Begriff der legitimen Rechtsordnung ihren Abschluß finden."I2I
In diesem Licht sind nun auch die scheinbar anstaltszentrierten Bemerkungen zum Staat im Kategorienaufsatz zu interpretieren. Wenn dort der Staat als "politische Anstalt" vorgestellt wird,122 in der rationale Ordnungen ("Anstaltssatzungen,,123) gegenüber den Beteiligten von einem Zwangs apparat mit geeigneten Mitteln durchgesetzt werden, so gilt es dabei zu berücksichtigen, daß an dieser Stelle nicht der Staatsbegriff, sondern der Anstaltsbegriff soziologisch definiert wird,124 für den der Staat nur die wichtigste Erscheinungsform auf politischem Gebiet abgibt. Anklänge an den Zwangscharakter - die physischen Gewaltmittel im Falle des politischen Verbandes - finden sich freilich schon hier. Die Begriffssystematik des Kategorienaufsatzes führt aber noch weiter. Der Anstaltstypus, und so auch der des politischen Verbandes: die moderne Staatsanstalt, ist empirisch selten rein ausgeprägt. Stets gibt es ein seine rational geordneten Handlungssegmente umfassendes Einverständnis- bzw. Verbandshandeln. Die Staatsanstalt ist - in einer darauf gewendeten Formulierung Webers - ein WG, S. 516. WG, S. 519. Georg Jellineks Ausführungen über den Staatsbildungsprozeß und die spezifische Qualität des modernen Staates in seiner "Soziallehre des Staates" (Allgemeine Staatslehre, S. 266 ff.) haben hierin ihren Eindruck auf Weber nicht verfehlt. 122 Vgl. GAWL, S. 466. 123 Vgl. GAWL, S. 468. 124 Und zwar, worauf ausdrücklich hingewiesen sei, ein soziologischer Anstaltsbegriff, der seine juridischen Wurzeln freilich kaum verleugnen kann (siehe dazu bereits die kurzen Hinweise in Kap. 11. 2.). Im Anschluß Gierke, Genossenschaftsrecht II, bes. S. 527 ff.; 111, bes. S. 117, 119 ff. hat Weber in der Rechtssoziologie die rechtsgeschichtliehe Herkunft des Anstaltsbegriffs aus dem spätrömischen Kirchenrecht hergeleitet, in dem sich der römische Korporationsbegriff und die frührnittelalterliche Vorstellung vom Heiligen als Eigentümer des Kirchengutes bzw. von den Kirchenbeamten (Bischöfen, Priestern, Diakonen) als seiner irdischen Vertreter zu einer der extrem herrschaftlichen Kirchenstruktur angemessenen Rechtspersönlichkeitskonzeption ("Anstalt") verbanden (vgl. WG, S. 429). Weber zeigt weiterhin, wie dieser herrschaftliche Anstaltsbegriff der Kirche seinerseits vom frühneuzeitlichen Staat zur rechtlichen Konstruktion seiner zahlreichen heterokephalen und heteronomen Verwaltungsbetriebe rezipiert wird. 120
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2. Typen des Staates: Rationaler Staat und Patrimonial-Staat
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"partiell rational geordneter Verband. Oder - der Übergang ist soziologisch angesehen durchaus flüssig - die Anstalt ist zwar eine völlig rationale ,Neuschöpfung', aber doch nicht in einem gänzlich ,verbandsleeren' Geltungsbereich.,,125
Zu den entscheidenden anstaltsübergreifenden bzw. vorausliegenden Einverständnissen gehört, soweit Anstaltssatzungen direkt oder indirekt durch Oktroyierung zustande kommen,126 das die Satzungsgewalt ("Oktroyierungsmacht") der staats(anstalts)bildenden Instanzen selbst betreffende. Die einverständnismäßig Anstaltssatzungen wirksam verfügende' Oktroyierungsmacht repräsentiert nach Weber die "wirklich empirisch geltende Verfassung", 127 die Verfassung im soziologischen Sinn. Sie beruht auf einem spezifisch gearteten Einfluß konkreter politischer Führungspersonen auf das Verbandshandeln der anderen, mit anderen Worten: auf Herrschaft. "Dieser Einfluß ruht wiederum auf charakteristisch verschiedenen Motiven, darunter auch auf der Chance der Anwendung von physischem oder psychischem Zwang.,,128 Physische Zwangsmittel, schließlich die monopolistische Verfügung darüber, kommen für den politischen Verband (bzw. für den Staat) folglich mindestens als ultima ratio zur Aufrechterhaltung seiner Herrschaft nach innen wie nach außen in Betracht. Dies impliziert die Fähigkeit zur notfalls zwangsweisen Realisierung der Verbandsordnungen (bzw. Anstaltssatzungen) kraft negativer Sanktionsmacht. Von Anfang an betrachtet Weber daher die politische Gemeinschaft zugleich als "Rechtsgemeinschaft", deren Recht er ja in dem ebenfalls frühen Text über "Die Wirtschaft und die Ordnungen" durch die soziologische Struktur des Zwanges definiert. 129 Und diese zeichnet sich eben im Falle des politischen Verbandes durch sein spezifisches Machtmittel, durch die physische Gewaltsamkeit aus. Die begriffssystematische Konfiguration von "politischem Verband", "Herrschaft", "Zwang" und "Recht" verdeutlicht die Kategorie der "politischen Gemeinschaft" in der älteren Herrschafssoziologie. Nach Webers Begriffsbestimmung han125 GAWL, S. 467. 126 Vgl. GAWL, S. 468. Auch der Fall der ausdrücklichen oder stillschweigenden "Vereinbarung" tendiert nach Weber zur (lediglich verdeckten) "Oktroyierung" durch Majorisierung einer Minderheit oder umgekehrt: zur Schein-Majorität eines faktischen Minderheitswillens ("Prinzip der kleinen Zahl"; vgl. WG, S. 19 f.). Diese Funktion des Majoritätsprinzips erklärt Weber aus dem ursprünglichen Offenbarungscharakter des Rechts bzw. dem genuin charismatischen Charakter der politischen oder hierokratischen Nachfolgedesignation (vgl. ebd., S. 424, 665). 127 GAWL, S. 469. 128 GAWL, S. 470. 129 Vgl. WG, S. 182 ff. So heißt es ebd., S. 185: "Wir wollen vielmehr überall da von ,Rechtsordnung' sprechen, wo die Anwendung irgendwelcher, physischer oder psychischer, Zwangsmittel in Aussicht steht, die von einem Zwangsapparat, d. h. von einer oder mehreren Personen ausgeübt wird, welche sich zu diesem Behuf für den Fall des Eintritts des betreffenden Tatbestandes bereithalten, wo also eine spezifische Art der Vergesellschaftung zum Zweck des ,Rechtszwanges' existiert." Weber spricht von einem "formalen soziologischen Begriff' des Rechts bzw. der Rechtsordnung (ebd., S. 183).
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III. Patrimonialismus und Rationalisierung
delt es sich dabei um ein "Gemeinschaftshandeln", welches ein Gebiet und die darauf lebenden Menschen "durch Bereitschaft zu physischer Gewalt, und zwar normalerweise auch Waffengewalt, der geordneten Beherrschung durch die Beteiligten vorzubehalten" sucht. 130 Zwar fallen politischer Verband (bzw. Staat) und einverständliches (bzw. gesatztes) Recht bei Weber nicht umstandslos zusammen, 13l doch sind sie durch den Herrschaftsbegriff vermittelt. Wenn nämlich im Herrschaftsbegriff das Verhältnis von Befehl und Gehorsam so gefaßt wird, daß die Beherrschten "den Inhalt des Befehls, um seiner selbst willen, zur Maxime ihres Handelns" machen,132 dann ist unschwer die inhaltliche Nähe zu den Kategorien "Norm-Maxime" 133, "Rechtlichkeitsmaxime" 134, "empirische Rechtsregel ,,135 und "empirisch geltende Rechtsordnung,,136 zu erkennen, wie sie Weber im StammlerAufsatz und in dem damit zeitlich und sachlich in engem Zusammenhang stehenden Textfragment über "Die Wirtschaft und die Ordnungen,,137 entwickelt. Gemeinsam ist ihnen allen die soziologische Auffassung bestimmter Regeln, Normen, Rechtssätze als subjektiv verpflichtende Handlungsmaximen, d. h. faktische Bestimmungsgründe des Handeins. In diesem Sinn gilt Weber auch der "um seiner selbst willen" zur Maxime des Handeins gemachte Befehl als "geltende Norm".138 Im Begriff des politischen Verbandes ist nun - in durchaus eigentümlicher und für das Verständnis des Zusammenhangs von Herrschafts- und Rechtssoziologie grundlegender Weise - die Normstruktur von Herrschaftsbeziehungen mit der Zwangsstruktur von Rechtsbeziehungen verknüpft. Denn wie für den soziologischen Herrschaftsbegriff die empirische Normgeltung, so ist für den soziologischen Rechtsbegriff die "Struktur des Zwanges,,139 begriffswesentlich. Befehle sind aber als ,geltende Normen' soweit Recht, als ihre Durchsetzung über Zwangsmittel garantiert ist. Das spezifische Mittel des politischen Verbandes, das ihn nach Weber geradezu definiert, ist die physische Gewaltsamkeit. Normen, die durch die physische Zwangsapparatur des politischen Verbandes garantiert sind - also WG, S. 514 (eigene Hervorhebung). Vgl. dagegen Kelsens rechtspositivistische IdentitätsbehauplUng von Staat und Rechtsordnung (bes. Staatsbegriff, S. 75 ff., bes. 86-92). 132 WG, S. 544. 133 Vgl. GAWL, S. 334. 134 Vgl. GAWL, S. 339. 135 Vgl. GAWL, bes. S. 348 f. 136 Vgl. WG, S. 181. 137 Den engen werkgeschichtlichen und sachlichen Zusammenhang des Textes "Die Wirtschaft und die Ordnungen" mit der Stammler-Kritik (GAWL, S. 291 ff.) zeigt insbesondere der Abschnitt 2 über "Rechtsordnung, Konvention und Sitte" (vgl. WG, S. 187 ff., bes. 191194). Über seine Zuordnung zum Kategorienaufsatz und zur älteren Grundrißfassung vgl. die werkgeschichtlichen Überlegungen in Kap. H. 1. 138 WG, S. 544. 130
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139 Am Merkmal der "soziologischen Struktur des Zwanges" unterscheiden sich nach Weber Recht und Konvention (vgl. "Die Wirtschaft und die Ordnungen", WG, S. 191; "Soziologische Grundbegriffe", ebd., S. 18).
2. Typen des Staates: Rationaler Staat und Patrimonial-Staat
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"Recht" im Weberschen Sinne bilden - lassen sich folglich umgekehrt auch als "Befehl" ausdrücken. Der politische Verband ist nicht nur der empirische Ge1tungsbereich normativ "hingenommener" Befehle (= Herrschaft), sondern zugleich der empirische Wirkungsbereich zwangsgarantierter Normen (= Recht).I40 Ausdrücklich setzt dabei der Rechtsbegriff nicht jenes System von Rechtssätzen voraus, das üblicherweise dem Verständnis der modernen Rechtsordnung entspricht. Formale und generelle Regeln, welche die Ausübung der politischen Befehlsgewalt im Sinne des modernen Konstitutionalismus rechtlich fundieren, die Befugnisse der Verbandsorgane untereinander und gegenüber den "Beherrschten" kompetenzartig regulieren, schließlich: Rechte und Pflichten der Verbandsgenossen gegenüber dem Verband bzw. gegeneinander fixieren, sind - das macht Weber namentlich in dem verzweigten Argumentationsgang der Rechtssoziologie deutlich - durchweg modernen Ursprungs. Verfassungsrecht, öffentliches Recht und Privatrecht stehen am Ende, nicht am Anfang eines höchst voraussetzungsvollen Differenzierungsprozesses. 141 Aus rechtshistorischer und rechtsvergleichender Perspektive zeigen die Frühstadien der Rechts- und politischen Verbandsbildung ein nicht einmal scharf ausgebildetes Verständnis des Normbegriffes selbst. 142 Zwischen "Rechtssatz" und "Rechtsentscheidung", zwischen genereller Norm und Einzelfallentscheidung wird lange Zeit nicht unterschieden. 143 Und selbst nachdem die Vorstellung von Normen als verbindlich geltenden und anzuwendenden Regeln einigermaßen klar ausgebildet ist, gilt dasselbe keineswegs auch schon für den Gedanken möglicher menschlicher Satzung von Recht. 144 140 Dem begriffslogischen entspricht freilich ein entwicklungsgeschichtliches Argument. In der Rechtssoziologie (WG, S. 448) kommt Weber darauf zu sprechen, daß mit dem historischen Auftreten des "imperium" im Sinne einer kompetenzartigen, außerhäuslichen Gewalt, "im Prinzip der Unterschied zwischen ,legitimem' Befehl und diesen ,legitimierender' Norm konzipiert" sei. Denn die traditionalen oder charismatischen Geltungsgrundlagen der Herrschaft verbürgten dann ja die sachliche oder persönliche Legitimität der einzelnen Befehle ebenso wie die Schranken ihrer Berechtigung. Doch bleibe "in der Auffassung" bei des noch ungeschieden: das imperium werde "als eine konkrete rechtliche ,Qualität' seines Trägers angesehen, nicht als eine sachliche ,Kompetenz'. Auch legitimer Befehl, legitimer Anspruch und beide legitimierende Norm scheiden sich also nicht wirklich deutlich." 141 Ursprünglich nicht unterschiedene Rechtsgebiete waren außerdem materiales und Prozeßrecht, insbesondere Strafrecht und Strafprozeßrecht. Vgl. hierzu v.a. den § 1 der Rechtssoziologie über "Die Differenzierung der sachlichen Rechtsgebiete", WG, S. 387 ff. 142 Über die Genese von (Rechts-)Verbindlichkeitsvorstellungen vgl. "Die Wirtschaft und die Ordnungen", WG, S. 187 ff.; Rechtssoziologie, ebd., S. 441 f. 143 Vgl. WG, S. 444 f. 144 WG, S. 445: "Denn überall fehlt ursprünglich der Gedanke vollständig: daß man Regeln für das Handeln, welche den Charakter von ,Recht' besitzen, also durch Rechtszwang garantiert sind, als Normen absichtlich schaffen könne." Unter diesen Bedingungen ist Rechtsneubildung nur möglich durch interpretierende Umdeutung des neuen als Bestandteil des traditionalen Rechts oder - und besonders - durch charismatische Rechtsschöpfung: "Die Rechtsoffenbarung in diesen Formen ist das urwüchsige revolutionierende Element gegenüber der Stabilität der Tradition und die Mutter aller ,Satzung' von Recht" (ebd., S. 446; vgl. ebd., S. 448 f.). - Es gibt übrigens eine modeme Parallele zu dieser traditionalen Schranke
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III. Patrimonialismus und Rationalisierung
Ebensowenig wie andererseits der Herrschaftsbegriff rein politisch konnotiert ist, impliziert der Zwangscharakter des Rechts, d. h. seine äußerstenfalls zwangsweise Durchsetzung, die Existenz des politischen Verbandes samt seiner physischen Zwangsmittel. Webers Rechtsbegriff trägt insoweit dem rechtsgeschichtlich dokumentierten und soziologisch wesentlichen Umstand Rechnung, daß Recht und Herrschaft in diesem Sinn vorpolitische (bzw. vorstaatliche) Erscheinungen sind. Der politische Verband (bzw. Staat) ist keine ursprüngliche Rechtsgemeinschaft und konkurriert, nachdem immer komplexere, mindestens auch außerökonomische (besonders: militärische) Aufgaben seine Entstehung initiieren, oft jahrhundertelang mit anderen autonomen Rechtsgemeinschaften. 145 Zwar betont Weber nachdrücklich den entwicklungsgeschichtlich zunehmenden Wirkungsradius der politischen Gewalt, zunächst auf dem Gebiet der Rechtsdurchsetzung, immer mehr aber auch auf dem der Rechtsbildung, bis hin zu jener ,,,Verstaatlichung' aller Rechtsnorrnen,,146 durch "Verstaatlichung des Verbandswesens,,147 im modemen Staat, der freie Rechtsbildung (Vereinsautonomie, Privatrechtsautonomie) nur noch in dem von ihm konzessionierten, reglementierten und kontrollierten Rahmen zuläßt. Doch kommt prinzipiell der Rechtsbegriff ohne den Rekurs auf die Gewaltmittel des politischen Verbandes aus, ebenso wie der Staatsbegriff ohne das Postulat der tatsächlichen Superiorität seiner Zwangsapparatur: "Davon, daß ein ,Staat' nur dann und da ,bestehe', wo die Zwangsmittel der politischen Gemeinschaft faktisch gegenüber jeder anderen die stärkeren sind, weiß die Soziologie nichts.,,148 Was ergibt sich daraus - um zur Ausgangsfrage zurückzukommen - für die Staatlichkeit des politischen Verbandes? Wie ist weiterhin die These zu beurteilen, Webers Staatsbegriff bleibe in den älteren Grundrißmanuskripten unentschieden, da der Staat einerseits v.a. im Kategorienaufsatz und in der Rechtssoziologie als der Rechtsfortbildung, die letztlich die Logisierung des Rechts förderte. Gerade die mit dem Benthamschen Kodifikationsgedanken, der Montesqieuschen Gewaltenteilungslehre und der historischen Rechtsschule verbundenen Vorstellungen von der absoluten Gesetzesbindung des Richters einerseits, der Lückenlosigkeit und Geschlossenheit der Rechtsordnung andererseits, wie sie Begriffsjurisprudenz und Rechtspositivismus im 19. Jh. vertraten, ließen eine (richterliche oder wissenschaftliche) Rechtsfortbildung lediglich durch logische Operationen zu. Wenn man so will, eine modeme Variante des juridischen Traditionalismus, die in ,Analogie' und ,ratio iuris' sogar methodische Parallelen zu ihren historischen Vorläufern hat. Vgl. zu dieser Problematik WG, S. 506 ff. 145 Vgl. WG, S. 418; "Die Wirtschaft und die Ordnungen", ebd., S. 184 f. 146 WG, S. 516. 147 WG, S. 435. Dieser rechtsgeschichtliche Prozeß, der im normannischen England von einem starken Patrimonialkönigtum und einer beachtlichen Zentralisation der Rechtspflege ausgehend allmählich ständische Abschwächungen erfuhr, während auf dem Kontinent (v.a. in Deutschland) die Rechts- und Verwaltungsautonomie einer VielzalJl von eigenmächtigen Gewaltträgern und Körperschaften erst unter dem fTÜhneuzeitlichen Absolutismus einem Zentralisierungsschub zum Opfer fiel, hat neben anderen Besonderheiten sehr verschiedene sozial- und wirtschafts geschichtliche Voraussetzungen für die Entwicklung des rationalen Staates wie des rationalen Kapitalismus geschaffen. 148 WG, S. 185.
2. Typen des Staates: Rationaler Staat und Patrimonial-Staat
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spezifisch modeme, anstaltsmäßig verfaßte Verbandsfonn gedacht werde, andererseits besonders in der Herrschaftssoziologie eher vom legitimen Gewaltmonopol her konzipiert sei?149 Eine Unentschiedenheit - so lautet die Anschlußthese - mit der dann die Staatsdefinitionen in der letzten Arbeitsphase 150 und speziell in den jüngeren Teilen von "Wirtschaft und Gesellschaft,,151 nicht zuletzt deshalb zugunsten des legitimen Gewaltmonopo1charakters aufgeräumt habe, um den Staatsbegriff zwanglos auch auf vormodeme politische Verbandsfonnen anwenden zu können. Die oben zitierte Passage bestimmt den Staat zunächst lediglich negativ. Die Staatlichkeit des politischen Verbandes wird nicht schon dadurch beeinträchtigt, daß andere Zwangsmittel, z. B. die psychischen Zwangsmittel hierokratischer Gewalten, sich als faktisch gleichennaßen wirksam oder wirksamer erweisen, mit anderen Worten die erfolgreiche Konkurrenz außerstaatlichen Rechtes dokumentieren. Nicht alles Recht ist staatliches, staatlich zugelassenes oder doch kontrolliertes Recht, je weiter zurück in der Geschichte desto weniger. Und selbst der modeme, anstaltsmäßig verfaßte und mit dem Monopol legitimer Gewaltsarnkeit ausgestattete Staat kennt Nonnenkollisionen, bei denen in demselben Regelungskontext staatliches Recht mit Nonnen anderer Verbände konkurriert und dabei zuweilen den Kürzeren zieht. 152 Sieht man einmal davon ab, daß der bürokratische Anstaltsstaat nur eine wesentlich auf dem Amtscharisma der Kirche und des säkularen Königtums fußende kontinentale Entwicklungslinie ist, der in Amerika (und England) ein primär im Persona1charismatismus der protestantischen Sekten wurzelnder Staatstypus als alternativer politisch-administrativer Modernisierungspfad gegenübersteht,153 so zeigt dies, wie prekär und zunehmend illusorisch gerade für 149 Mit viel interpretatorischem Aufwand versucht Breuer; Staatssoziologie, S. 199 ff. diese These zu plausibilisieren, die zugleich für die jüngere Fassung des Grundrißbeitrags die Entscheidung zugunsten eines wesentlich durch das legitime Gewaltmonopol definierten Staats begriffs resümiert. 150 Vgl. den Einschub in der überarbeiteten Fassung der "Zwischenbetrachtung" zu GARS I, S. 507 (gegenüber: Zwischenbetrachtung (1916), S. 399) sowie "Politik als Beruf', MWS 1117, S. 36. Zu beachten ist dagegen die anders akzentuierte Begriffsbestimmung in der "Vorbemerkung" zu GARS I, S. 3 f., die Weber für die Publikation des ersten Bandes der religionssoziologischen Aufsätze, also ebenfalls erst 1919/20 verfaßte. 151 Vgl. die Staatsdefinition der "Soziologischen Grundbegriffe", WG, S. 29. 152 Weber verweist in diesem Zusammenhang etwa auf den für die okzidentale Entwicklung bedeutsamen, jahrhundertelangen Konflikt zwischen weltlichem Recht und Kirchenrecht, auf die mit dem geltenden Staatsrecht unvereinbaren Ordnungen und Zwangsmittel archaischer Wirtschaftsgemeinschaften (serbische Zadruga), auf den organisierten Rechtszwang von ständischen Personenkreisen (,Ehrengerichte') und modemen Wirtschaftsverbänden, vgl. WG, S. 184 ff. 153 Vgl. Stefan Breuer; Das Charisma der Vernunft und die Singularität des rationalen Staates, in: ders., Bürokratie und Charisma, S. 59 ff., bes. 62, 74, 80 ff. Die Webersche Staatssoziologie, die zwar die Mittel zur Erkenntnis dieses alternativen anglo-amerikanischen Entwicklungsverlaufs bereitstelle, ohne freilich die dauerhaft prägenden, über die institutionellen Konvergenzprozesse hinaus wirksamen Züge richtig einzuschätzen, müsse deshalb aktuali-
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III. Patrimonialismus und Rationalisierung
den rationalen Anstaltsstaat das Idealbild eines gesatzten, jederzeit änderbaren (positiven), dabei zugleich logisch und systematisch geschlossenen Anstaltsrechts heute iSt. 154 Die z. T. widersprüchlichen Postulate universeller Verrechtlichung, Rechtsvereinheitlichung, Rechtsspezialisierung und die tendenziell zunehmende Re-Materialisierung des Rechts als Bruchstellen der für den modernen Anstaltsstaat typischen formalen Rechtsrationalisierung hat Weber in der Rechtssoziologie ausdrücklich benannt. 155 Wenn er seinen späten Staatsbegriff explizit am modernen Staat orientiert, weil erst dieser die "Vollstufe" des politischen Anstaltsbetriebs realisiere, so gibt doch schon die Anstaltsdefinition des Kategorienaufsatzes keinen Anhaltspunkt dafür, daß sie auf vormoderne politische Verbandsformen, die das Anstaltsmerkmal als staatsbildende Komponente zumindest sektoral ausgebildet haben können, unanwendbar wäre. Die idealtypische Methode legt die Verwendung des Anstalts- (bzw. Staats-)Begriffs dann sogar ausdrücklich nahe. Deshalb sind Patrimonial staat und Patrimonialbürokratie durchaus parallele Begriffsbildungen, die die konkret-historische Kombination heterogener politischer Strukturprinzipien veranschaulichen und also zeigen sollen, "daß die betreffende Erscheinung mit einem Teil ihrer charakteristischen Merkmale der rationalen, mit einem anderen der traditionalistischen [ ... ] Herrschaftsform angehört."156 Schließlich kann auch das Monopol der legitimen Gewaltsarnkeit für traditionale politische Verbände faktisch nur cum grano salis behauptet werden; 157 dasselbe läßt sich aber über ihre anstaltliche Komponente sagen. Daß Weber den definitorischen Zusammenhang von Gewaltmonopol und Anstaltscharakter weder im Staatsbegriff der älteren Fassung des Grundrißbeitrags im unklaren gelassen bzw. nur für den modernen Staat anerkannt hat, noch damit eine Inkonsistenz in die bekannte Staatsdefinition der "Soziologischen Grundbegriffe" getragen hat, läßt sich durch eine weitere Überlegung begründen. siert werden: "Der Begriff des modemen Staates fällt nicht länger mit dem des Anstaltsstaates zusammen" (vgl. ebd., S. 83). 154 Die Vorstellung vom Recht als einem lückenlosen System logisch in sich widerspruchsfrei zusammenhängender Normen ist die Kemdoktrin der im 19. Jh. dominierendenund gewissermaßen wider Willen stark naturrechtlich geprägten - sog. Begriffsjurisprudenz, der Rudolf v. Jhering, einer ihrer früheren Exponenten, das an der gesellschaftlichen Wirklichkeit orientierte Rechtsparadigma der "Zweck-Jurisprudenz" entgegengesetzt hat, von dem wiederum die "Interessenjurisprudenz" (Philipp Heck) beeinflußt wurde; vgl. hierzu Wieacker, Privatrechtsgeschichte, S. 430 ff., bes. 436 f., 450-453, 574 ff. 155 Vgl. WG, S. 504 ff. Ungeachtet aller dieser Einflüsse sind unter den Bedingungen beschleunigter technisch-ökonomischer Entwicklung Fachmäßigkeit und Positivität für Weber die voraussehbare Konsequenz zukünftiger Rechtsbildung, wobei er die Frage nach den Chancen formaler bzw. materialer Rechtsrationalisierung offenläßt (vgl. ebd., S. 513). 156 GARS I, S. 273; vgl. WG, S. 124, 154. 157 Vgl. Anthony Giddens, The Nation-State and Violence, Cambridge 1985, S. 120; Mann, Macht I, S. 7l. Mit Hilfe von Manns Unterscheidung von "despotie" und "infrastructural power" läßt sieh der sehr unterschiedliche relative Erfolg historischer Staaten bei der Gewaltrnonopolisierung (Zentralisierung und Territorialisierung der Staatsrnacht) veranschaulichen; vgl. auch Mann, Autonomous Power, S. 113 -119.
2. Typen des Staates: Rationaler Staat und Patrimonial-Staat
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Wie der "fonnale Rechtsbegriff' im Postulat des Zwangsapparates die Existenz eines Verbands voraussetzt,158 so der Begriff des staatlichen Rechts den politischen Verband mit seinen physischen Zwangsmitteln. Ein politischer Verband (bzw. eine politische Gemeinschaft)159 besteht dann, wenn seine (ihre) Ordnungen nicht nur die ökomische Bedarfsdeckung regulieren. Sie können sich im Grenzfall auf die Reglementierung der gebietshoheitlichen Gewaltsamkeit beschränken. l60 Immer aber sind solche ad hoc getroffenen oder generellen Verfügungen ("Ordnungen") Herrschaftsausübungen ("Befehle") und, weil durch den Zwangsapparat des politischen Verbandes garantiert, eo ipso "Recht", soweit von dem oder den politischen Gewalthabern zweckvoll geschaffen sogar: gesatztes Recht. Konsequenterweise müßte man in diesem Fall vom Beginn anstaltlicher Verfassung des politischen Verbandes sprechen. Begrifflich rekurriert die politische Verbandsherrschaft auf die physischen Machtressourcen, die zur Implementation ihrer Ordnungen mobilisiert werden können. Ihre Stabilität aber hängt nach Weber entscheidend von der Fähigkeit der Gewalthaber ab, über die bloße Gewaltandrohung oder -anwendung hinaus bei den Beherrschten den Glauben an die spezifische Berechtigung ihrer Herrschaft zu wecken. Die Bestandskraft der Herrschaft und ihrer Ordnungen bestimmt sich mit anderen Worten nach dem Maß ihrer Legitimität. 161 Die Legitimität ist das kategoriale Bindeglied zwischen Herrschaft und Recht (als zwangsgarantierter Ordnung) und - wie sich zeigt - zwischen Gewaltrnonopol und Anstaltsverfassung. Nicht zufällig führt Weber die tatsächliche nonnative Verpflichtungskraft "neuer", traditionsbrechender Rechtsregeln ebenso wie die herrschaftlicher Verfügungen auf die Tätigkeit außergewöhnlicher, charismatisch befähigter Führungspersonen (Zauberer, Propheten, Kriegsfürsten) zurück. 162 Die 158 Im Unterschied dazu steht-die "Konvention", für deren Zwangscharakter ("Billigung oder Mißbilligung eines bestimmten Verhaltens durch eine spezifische Umwelt") gerade das Fehlen des Zwangsapparates begriffswesentlich sein soll (vgl. WG, S. 187, 190 f.). 159 Die Gemeinschafts-Terminologie entstammt früheren Textschichten. Zwar begegnet auch in den älteren Grundrißtexten der "politische Verband" - der Werkplan von 1914 listet einen entsprechenden Titel auf und der Kategorienaufsatz führt den Verband als soziologischen Grundbegriff ein -, technisch jedoch gebraucht Weber den Begriff erst in der "Ersten Lieferung". 160 Vgl. WG, S. 515. 161 Vgl. GAWL, S. 457, 470 und das in Kap. 11. 3. über die Legitimitätsgeltung der Herrschaft Gesagte. 162 Übereinstimmend beschreibt Weber den psychologischen Mechanismus bei der Neuentstehung von Rechtsregeln und bei der Wirkung von Befehlen mit einer den sozialpsychologisehen Forschungen Willy Hellpachs (Die geistigen Epidemien, Frankfurt a.M. 1906, S. 31 ff.) entlehnten Terminologie: "Eingebung", ,,Einfühlung", "Einredung"; vgl. "Die Wirtschaft und die Ordnungen ", WG. S. 188 f.; Rechtssoziologie, ebd., S. 446 und die beiden Fassungen der Herrschaftssoziologie, ebd., S. 545 und S. 123. Wolfgang Schluchters werkgeschichtliches und philologisches Argument, wonach die Tatsache, daß im Text "Die Wirtschaft und die Ordnungen" die Frage "rechtlicher Neuerungen" ohne Bezug auf den Charisma-Begriff aufgeworfen werde, Indiz für seine Entstehung vor der Herrschafts~ und Rechtssoziologie sei (Max Webers Beitrag, S. 339), scheint plausibel. Doch sind Hellpachs sozialpsychologische Kategorien nicht einfach obsolet. Die Formulierung in der älteren Herr-
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traditionsgeheiligten Ordnungen sind ursprünglich den verschiedenen Gemeinschaften, darunter dem sich allmählich durch Gewaltkonzentration herausbildenden politischen Verband, unverfügbar. Träger der Rechtsprechung und in fließenden Übergängen der interpretativen Rechtsschöpfung sind die professionellen Kenner der Tradition: Priester und u. U. Sippenälteste. Rechtsneubildung ist allenfalls möglich als charismatische Rechtsoffenbarung, zu der nur außergewöhnlich befähigte Personen (Zauberer, Orakelpriester oder Propheten) befugt gelten. Über solche Rechtsoffenbarung bemerkt Weber jedoch, sie sei "das urwüchsige revolutionierende Element gegenüber der Stabilität der Tradition und die Mutter aller ,Satzung' von Recht.,,163 Die Säkularisierung des Rechts wird durch die wachsende Bedeutung des politischen Verbandes und seiner Ordnungsgewalt vorangetrieben, indem er die Offenbarung entweder direkt beseitigt oder lediglich zur nachträglichen Legalisierung seiner Satzungen heranzieht. 164 Das lenkt den Blick auf die Entstehungsbedingungen des politischen Verbandes selbst. Denn neben dem religiösen Charisma legt Weber auf das politische bzw. militärische Charisma des Kriegsfürsten als weitere genuine Erscheinungsform entscheidendes Gewicht; es ist die eigentlich staatsbildende Kraft. Webers nur kursorische Bemerkungen zur Genealogie des politischen Verbandes (bzw. Staates) lassen sich folgendermaßen zusammenfassen: 165 Den Ausgangspunkt bilden Gelegenheitsvergesellschaftungen von Kriegern zu Jagd-, Beute- und Kriegszügen unter der Leitung eines charismatischen Heerführers. Bei chronischem Kriegszustand und damit verbundener Notwendigkeit zu permanenter Waffenübung führt die Entwicklung zu einem Dauergebilde mit fester Herrschaftsorganisation. Der charismatische Heerführer wird zum Einherrscher, seine Kriegerschaft zu einem gleichviel wie zahlenmäßig bescheidenen Stab, die abhängige, waffenlose Bevölkerung zum für die Versorgung seines Haushalts und Stabes herangezogenen Ausbeutungsobjekt. Weber hält hierzu fest: "Die Entstehung eines Kriegsfürstentums als Dauergebilde und mit einem Dauerapparat bedeutet gegenüber dem Häuptling, - der je nachdem bald mehr ökonomische Funktionen im Interesse der Gemeinwirtschaft und der Wirtschaftsregulierung des Dorfs oder der Markgemeinde, bald mehr magische (kultische oder ärztliche), bald mehr richterliche (ursprünglich schiedsrichterliche) Funktionen hat, - denjenigen entscheidenden Schritt, an welchen man zweckmäßigerweise den Begriff Königtum und Staat anknüpft.,,166 schaftssoziologie läßt erkennen, daß Weber zwischen dem sozialpsychologischen Mechanismus zur Kausalerklärung der "Wirkung vom Einen zum Anderen" und der konkreten Handlungsmotivierung des Einzelnen, worunter auch der Charisma-Glaube fällt, unterscheiden will. Noch in der jüngeren Herrschaftssoziologie zieht Weber Hellpachs Kategorien für die psychologische "Kausalkette" heran, meint aber, sie seien "hier für die Typenbildung der Herrschaft nicht brauchbar" (WG, S. 123). Nicht die sozialpsychologischen Wirkungs-, sondern die soziologischen Geltungsbedingungen sind bekanntlich der Maßstab für die herrschaftssoziologische Typenbildung. 163 WG, S. 446. 164 VgI. WG, S. 449; auch "Soziologische Grundbegriffe", ebd., S. 19. 165 VgI. WG, S. 517 f., 670 f., 676; GAWL, S. 451.
2. Typen des Staates: Rationaler Staat und Patrimonial-Staat
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Entstehung, Monopolisierung, Institutionalisierung und schließlich: Versachlichung des (militärischen) Charisma konstituieren am Ende aber nicht nur das Monopol legitimer Gewaltsamkeit, sondern zugleich die legitime Satzungsgewalt des Kriegsfürsten, die Weber als Konsequenz namentlich der auf fremdem Boden errichteten Eroberungsherrschaften hervorhebt. 167 Die Verhältnisse zwingen den Kriegsfürsten hier zur Übernahme von (richterlichen bzw. rechtsetzenden) Funktionen, die in Friedenszeiten ausschließlich den Hütern der Tradition und der Rechtsprophetie vorbehalten sind. Er muß Regeln schaffen für den Umgang mit Gefangenen, Beute und erobertem Land, muß zur Aufrechterhaltung der inneren Sicherheit und Ordnung disziplinar- und bußrechtliche Anordnungen treffen. Das imperium des erobernden Kriegsfürsten ist deshalb ein herausragender Faktor der Rechtsprofanierung im Sinne seiner "Emanzipation von der magisch garantierten Tradition": "Systematische Feststellungen schon geltenden oder neu gesatzten Rechtes finden sich daher auf den allerverschiedensten Entwicklungsstufen gerade im Anschluß an kriegerische Expansion besonders häufig. Rechtsschöpfung und Rechtsfindung aber zeigen dann unter dem Einfluß der zwingenden Bedürfnisse der Sicherheit gegen äußere und innere Feinde die Tendenz, rationaler gestaltet zu werden.,,168
Unabhängig vom je verschiedenen Einfluß des fürstlichen imperium, der traditionalen Rechtsinstanzen (der Priester und Rechtspropheten) und des Heeres (der u. U. mächtigen "Wehrgemeinde") auf Rechtsprechung und Rechtsbildung wurzeln im militärischen Charisma letztlich zugleich das legitime Gewaltmonopol wie die legitime Satzungskompetenz. In Webers Worten: "Von der charismatischen Offenbarung neuer Gebote führt über das imperium der direkteste Weg der Entwicklung zur Rechtsschöpfung durch vereinbarte und oktroyierte ,Satzung' .,,169 Beide, Gewaltmonopol und Satzungskompetenz, bewirken die Transformation des politischen Verbandes zum Staat. Wenn dem aber so ist, kann von einem begriffslogischen prius der Gewaltmonopolisierung keine Rede sein, die vielmehr nur den institutionellen Aspekt der funktionalen Komponente des Weberschen Staatsbegriffs bietet: nämlich die Geltung gebietsuniverseller gesatzter Ordnungen zu garantieren. 170 Erst die (vorhandene oder fehlende) Satzungskompetenz des oder der politischen Gewalthaber erklärt die definitorische Unterscheidung von Anstalt und Verband im Kategorienaufsatz durch das Kriterium "zweckrational gesatzter" bzw. lediglich "einverständnismäßig wirksamer" Ordnungen, die jeweils durch einen Zwangsapparat garantiert werden. Ob es sich bei den anstaltskonstituieren166 WG, S. 670. 167 VgI. WG, S. 453, 67 I. 168 WG, S. 453. 169 WG, S. 449. 170 An der Weberschen institutioneII-funktionalen Merkmalskombination des Staatsbegriffs halten namhafte Vertreter der neueren historischen Soziologie fest; vgI. u. a. Mann, Autonomous Power, S. 112, 120; Shmuel N. Eisenstadt, The Political System of Empires, New York 1963, S. 5; Charles Tilly, Reflections on the History of European State-making, in: ders. (Hg.), The Formation ofNational States in Western Europe, Princeton 1975, S. 27.
III. Patrimonialismus und Rationalisierung
ISO
den Satzungen um fonnal oder material rationale Ordnungen handelt, läßt die Bestimmung offen. Daß erst die moderne Konzeption des Staates als juristischer Person die Rechtsfonnalisierung bis in die nonnativen Staatsfundamente vorantreibt, die Auffassung des Staates "als eines abstrakten Trägers von Herrenrechten und Schöpfers der ,Rechtsnonnen",171 und dadurch die Differenzierung von öffentlichem und privatem Recht ennöglicht, schließt die Existenz vonnoderner, wenigstens teilweise anstaltsmäßig verfaßter politischer Verbände mit dann eben nur sektoral ausgeprägter Staatlichkeit nicht aus. Andererseits prädestiniert nur eine besonders weitgehende anstaltsmäßige Vergesellschaftung, ähnlich wie die besonders effektive (legitime) Gewaltmonopolisierung, den modernen Staat zum typologischen Muster für die Begriffsbildung. Es empfehle sich, sagt Weber in den Erläuterungen zum § 17 der "Soziologischen Grundbegriffe", den Staatsbegriff, "da er in seiner Vol/entwicklung durchaus modern ist, auch seinem modernen Typus entsprechend [ ... ] zu definieren."ln Immerhin offenbart die anstaltsmäßige Verfassung des modernen Staates schon im Blick auf seine konstitutionellen Grundlagen nonnalerweise Lücken ("Verfassungslücken"), die ggf. durch faktische Machtkonstellationen innerhalb des politischen Verbandes praktisch geschlossen werden;173 ebenfalls erwähnt wurde bereits der Umstand, daß gewisse Tendenzen der modernen Rechtsentwicklung die weitere Ausgestaltung des Staates gemäß dem Idealtypus der Anstalt an Grenzen stoßen lassen. Im übrigen bezieht sich der Ausdruck "Vollentwicklung" durchaus auf beide Merkmale: die Monopolisierung der legitimen Gewaltsamkeit und die anstaltsmäßige Verfassung, was jedoch von dem (allerdings nirgends expliziten) begrifflichen Standpunkt der alten Grundrißmanuskripte nicht erkennbar abweicht. 174 Zwischen dem Kategorienauf171 WG, S. 576. 172
WG, S. 30 (eigene Hervorhebung).
173 Vgl. GAWL, S. 467, 469. Max Weber hat die soziologischen Aspekte des Sachverhalts
- im Anschluß an Georg lellineks "politikwissenschaftlicher" Behandlung des Problems (vgl. Allgemeine Staatslehre, S. 356 ff., 359; ders., Verfassungsänderung und Verfassungswandlung. Eine staatsrechtlich-politische Abhandlung, Berlin 1906, S. 43 ff. und bereits ders., Gesetz und Verordnung. Staatsrechtliche Untersuchungen auf rechtsgeschichtlicher und rechtsvergleichender Grundlage, Tübingen 21919, S. 295 ff., 300, 306) - am Beispiel der Verfassungsnonnen für das gültige Zustandekommen von Staatsakten näher ausgeführt in "Die Wirtschaft und die Ordnungen", WG, S. 194. Er hat übrigens lellineks Buch über "Verfassungsänderung und Verfassungswandlung" gekannt und geschätzt (Brief an Georg lellinek vom 27. Aug. 1906, MWG II/6, S. 149 ff.). Zu den ihn interessierenden staatssoziologischen Fragestellungen bemerkt Weber dort: "Die Scheidung von ,Verfassungs'-Änderung durch Rechtsänderung und durch politische Wandlung, von Änderung der politischen Lage durch Rechtsänderung etc. wird nun die nächste Aufgabe sein" (ebd., S. 149). 174 So heißt es im Abschnitt über die "Politischen Gemeinschaften", WG, S. 516: "Für die Ausübung und Androhung dieses Zwanges [der politischen Verbände, S.H.] existiert [ ... ] in der vollentwickelten politischen Gemeinschaft ein System von kasuistischen Ordnungen, welchen jene spezifische ,Legitimität' zugeschrieben zu werden pflegt: die ,Rechtsordnung', als deren allein nonnale Schöpferin heute die politische Gemeinschaft gilt, weil sie tatsächlich heute nonnalerweise das Monopol usurpiert hat, der Beachtung jener Ordnung durch physischen Zwang Nachdruck zu verleihen" (eigene Hervorhebung); vgl. WG, S. 519.
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satz und der Rechtssoziologie einerseits und der älteren Herrschaftssoziologie andererseits zwei verschieden konzipierte Staatsbegriffe anzunehmen, legt in Webers Ausführungen mehr hinein als der Textbefund hergibt. Angesichts des sowohl begriffslogischen wie historischen Nexus von "Recht" und "Herrschaft" tritt im Staatsbegriff gerade die idealtypische Verbindung von Gewaltmonopol und Anstaltscharakter zutage, und zwar eher implizit in der früheren Grundrißfassung, ausdrücklich dann - ohne Überdeterminierung oder Inkonsistenz - in der Staatsdefinition der "Soziologischen Grundbegriffe". c) Die Patrimonialstruktur des Staates
Nachdem das Problem des Webersehen Staatsbegriffs im Hinblick auf die Staatlichkeit auch des Patrimonialverbands diskutiert worden ist, gilt es nun noch - bevor die idealtypischen Entwicklungssequenzen des politischen Patrimonialismus zu besprechen sind - auf die patrimoniale Struktur des ,Patrimonial staates ,175 einzugehen. Diesem kommt insofern eine Sonderrolle zu, als Weber ihn - im Unterschied zu den erwähnten anderen Staatstypen - in der älteren Fassung der Herrschaftssoziologie explizit definiert. Strukturgenetischer Ausgangspunkt der patrimonialen Herrschaft und des Patrimonialstaates ist die patriarchale Herrschaft des Hausvaters. Durch innere Gliederung der Hausgemeinschaft mittels Ausgabe von Land und Inventar an Haussöhne oder Hausangehörige entsteht der Oikos und mit ihm als dezentralisierte Hausgewalt die patrimoniale Herrschaft. Wo es einem Hausherren gelingt, seine Herrschaft auf andere Hausherren (also extrapatrimonial) auszudehnen und sich dabei die beiden "spezifisch politischen Gewalten: Militärhoheit und Gerichtsgewalt" anzueignen, "sprechen wir von einem patrimonialstaatlichen Gebilde".176 Nun könnte man annehmen, daß Weber mit der Unterscheidung zwischen patrimonialer und patrimonialstaatlicher Herrschaft die privaten und primär ökonomischen (grundherrlichen) gegenüber den politischen Strukturformen des Patrimonialismus auch terminologisch differenzieren wollte. 177 Doch trägt der Sprachgebrauch v.a. in den Kapiteln "Patriarchale und patrimoniale Herrschaft,,178 und "Feudalismus, ,Ständestaat' und Patrimonialismus,,179 eine solche Interpretation nicht. Es überwiegt vielmehr - wie bereits erwähnt - die Verwendung der Begriffspaare: "patriarchaler" vs. "ständischer Patrimonialismus" und "arbiträrer" vs. "stereotypierter Patrimonialismus" sowie a potiori die Verwen175 Weber gebraucht den Ausdruck, worauf vorerst ohne weitere Differenzierung hingewiesen sei, in beiden Fassungen der Herrschaftssoziologie (vgl. WG, S. 137 f., 140; 585). 176 WG, S. 585. 177 Entsprechend der von Zingerle, Max Weber und China, S. 46 ff. vorgeschlagenen Unterscheidung des (politischen) ,Patrimonialismus im weiteren Sinne' von einem (privaten) ,Patrimonialismus im engeren Sinne'. 178 WG, S. 580-624. 179 WG, S. 625-653.
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III. Patrimonialismus und Rationalisierung
dung des Typus für seine politischen Erscheinungsformen. Wo der Ausdruck "Patrimonialstaat" dennoch gebraucht wird, geschieht das in nicht synchronisierter Weise, meist in untergeordneten, historisch-deskriptiven Zusammenhängen. Ganz unübersehbar verfolgt Weber diese Strategie in der stark komprimierten und begrifflich mit außerordentlicher Sorgfalt durchkomponierten jüngeren Herrschaftssoziologie. Im Kapitel III über "Die Typen der Herrschaft" wird bis auf drei eher beiläufige Stellen ganz vermieden, vom "Patrimonial staat" zu sprechen. 180 Eine Definition gibt Weber im einschlägigen Abschnitt über die traditionale Herrschaft nicht. 181 Zumindest in dieser Zeit der Überarbeitung seines Grundrißbeitrags (1919/20) hat er die definitorische Präzisierung des Patrimonialstaates (wie des Geschlechter-, Feudal- und Ständestaates) vermutlich der mehrfach verwiesenen Staatssoziologie vorbehalten,182 von der Breuer annimmt, daß sie im wesentlichen den Charakter einer allgemeinen Typenlehre gehabt und "vielleicht einfach ,Typen des Staates' geheißen" hätte. 183 Diese Hypothese läßt sich neben sachlichen Erwägungen auch durch die Disposition zu einer von Weber im Sommer 1920 unter dem Titel "Staatssoziologie" gehaltenen Vorlesung stützen. 184 Sie steht gleichwohl unter dem bisher vielleicht nicht genügend beachteten Vorbehalt, daß Weber im Kap. III der "Ersten Lieferung" über die "Typen der Herrschaft" auf staatssoziologische "Spezialerörterungen" etwa zu den mittelalterlichen Patrimonial staaten, zur ständischen Gewaltenteilung im Okzident oder zum okzidentalen "Ständestaat" in Wendungen verweist, die offen lassen, wieweit dort Typologie, Klassifikation und Kasuistik vorherrschen oder doch auch Entwicklungsgeschichte getrieben werden sollte. 185 Wie immer man diesen Sachverhalt beurteilt, bleiben zumal in der jüngeren Herrschaftssoziologie die Ausdrücke "Patrimonialismus" bzw. "patrimoniale Herrschaft" indifferent gegenüber den heterogenen Herrschaftssphären. Zwar dient der Patrimonialismusbegriff Weber in erster Linie zur typologischen Charakterisierung 180 Vgl. WG, S. 137, 138 ("okzidentale Patrimonialstaaten in der Zeit des ,aufgeklärten Absolutismus' "), 140 ("Patrimonialstaaten des Mittelalters"). 181 Zum Patrimonialismus vgl. WG, S. 133 ff. 182 Z. B. WG, S. 168. Ganz auszuschließen ist das immerhin auch für die frühere Version nicht, wenn man berücksichtigt, daß sie noch keineswegs zur Druckreife gebracht war, es sich bei ihr generell um einen - von dem Sonderfall der Rechtssoziologie einmal abgesehen (vgl. Winckelmann, Hauptwerk, S. 50 ff.) - vielfach noch durchaus unfertigen Texttorso handelt. 183 Breuer, Staatssoziologie, S. 215 ff., 217. 184 Vgl. hierzu die Informationen bei Johannes Winckelmann (Hg.), Max Weber: Staatssoziologie, Berlin 1966, S. 112 f. und die weiterführende Argumentation bei Breuer, Staatssoziologie, S. 215. 185 Zur Eigenart der mittelalterlichen Patrimonialstaaten, WG, S. 140: "Auf die Quelle dieser Entwicklung und ihre Bedeutung wird gesondert einzugehen sein." Zum okzidentalen Sonderfall des Typus ständischer Gewaltenteilung, WG, S. 137: "Über seine nähere Eigenart und den Grund seiner Entstehung dort ist später gesondert zu sprechen." Zum okzidentalen "Ständestaat", WG, S. 162: "Über die eigenartige Struktur des sog. ,Ständestaats' später näheres."
2. Typen des Staates: Rationaler Staat und Patrimonial-Staat
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politischer Strukturen und Verbandsbildungen, doch schließt die gemeinte Personen- und Sachherrschaft eines Oikosherrn die (private) Grundherrenstellung samt damit verbundener Rechte ausdrücklich mit ein. 186 "Für unsere Terminologie" - sagt Weber - "soll die Tatsache der prinzipiellen Behandlung von Herrenrechten und der mit ihnen verknüpften Chancen jeden Inhalts nach Art privater Chancen maßgebend sein.,,187 Andererseits räumt er - im Anschluß namentlich an die verfassungsgeschichtlichen Erörterungen Belows über den mittelalterlich-deutschen Staat188 - grundlegende Unterschiede bei der Aneignung und Ausübung politischer (militärischer und jurisdiktioneller) bzw. rein ökonomischer (patrimonialer wie extrapatrimonialer) Herrenrechte ein, die ihren Niederschlag nicht zuletzt in wichtigen politisch-sozialen Statusdifferenzen fänden. "Indessen: soweit die Gerichtsherrlichkeit und andere Rechte rein politischen Ursprungs nach Art privater Berechtigungen behandelt wurden, scheint es für unsere Zwecke terminologisch richtig, von ,patrimonialer' Herrschaft zu sprechen.,,189
Gerade dieses privatrechtsförmige Verständnis politischer Patrimonialherrschaft hat Weber den Vorwurf eingetragen, mit einer Begrifflichkeit zu arbeiten, die die neuzeitliche Trennung von Staat und Gesellschaft und - auf rechtlichem Gebiet die Differenzierung zwischen öffentlichem Recht und Privatrecht voraussetze. 190 186 Vgl. z. B. die das Lehen als Versorgungsgrundlage des patrimonialen Dieners betreffenden Erläuterungsbemerkungen unter Punkt 1, WG, S. 136. 187 WG, S. 137. 188 Below, Der deutsche Staat. Im materialen Teil der Studie geht es Below um den Nachweis des öffentlich-rechtlichen, in diesem Sinn staatlichen Charakters der von Carl Ludwig v. Haller zu Beginn des 19. Ih.s als Pertinenzen der fürstlichen Privatrechtssphäre beschriebenen patrimonialen und feudalen politischen Herrschaftsbeziehungen. Schon Haller stellte dabei die genealogische Verknüpfung von Patriarchalismus und Patrimonialismus her, indem er den Patrimonialstaat aus der nicht weiter ableitbaren Privatherrschaft des Haus- oder Grundherrn (Patriarchat) hervorgehen ließ. Neben dem Militärstaat und dem geistlichen Staat bildet der Patrimonialstaat den dritten Haupuypus des Staates (vgl. Haller; Restauration 11 (1817), S. 10 ff.; III (1818), S. 156 ff.). Auf die äußerst komplexe Begriffsgeschichte des Patriarchalismus und Patrimonialismus kann hier nicht näher eingegangen werden. Begriffsgeschichtlich bemerkenswert ist noch, daß es sich ursprünglich um konservativ-reaktionäre Kampfbegriffe gegen naturrechtlich-egalitäre und namentlich demokratische Prinzipien staatlicher Ordnung handelte. Mit Hilfe der sog. Patrimonialtheorie (der römisch-rechtliche Begriff des "patrimonium" unterscheidet das kaiserliche Privatvermögen vom Staatsvermögen) suchten Staatsrechtslehrer am Ende des 18. Jh.S die Eigenstaatlichkeit der deutschen Territorien zu legitimieren. Die in der Patrimonialtheorie inaugurierte privatrechtliehe Auffassung der landesfürstlichen Herrschaft wurde von Haller aufgenommen und mit dem Konzept des Patriarchalismus verschmolzen. Hallers Lehre fand im Verlauf des 19. Ih.s höchst kontroverse Resonanz in der staatsrechtlichen Literatur (vgl. Below, Der deutsche Staat, S. 12 ff.), wurde darüber hinaus aber auch in der Nationalökonomie, Soziologie und Ethnologie rezipiert; vgl. dazu Dreitzel, Monarchiebegriffe 11, bes. S. 758 ff.; interessante Hinweise auch bei Breuer; Herrschaftssoziologie (1991), S. 77 ff., bes. 78-80. 189 WG, S. 137. 190 Namentlich für OUo Brunner war Hallers privatrechtliehe Konzeption des Patrimonialstaates ebenso mit dem Odium unangemessener Modernität belastet wie Belows Tendenz,
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111. Patrimonialismus und Rationalisierung
Nun steht zwar nicht nur die privatrechtliche Diktion bei der Begriffsbestimmung des Patrimonialismus außer Frage, sondern es wäre angesichts der von Weber ausdrücklich differenzierten Appropriation ökonomischer bzw. politischer Herrenbefugnisse auch eine Lesart zuzugestehen, nach der Weber überall dort den Ausdruck "politisch" benutzt, wo etwa Below und Sohm die Verwendung des Staatsbegriffs vorziehen. 191 Eine Kritik, die hier die Verwendung moderner Kategorien wie des Eigentumsbegriffs und des liberal-konstitutionellen Staatsbegriffs unterstellt, weil sich doch der "ökonomische" Patrimonialismus mit der (privaten) unbeschränkten Hausgewalt, der "politische Patrimonialismus" dagegen mit der beschränkten (öffentlichen) Staatsgewalt identifizieren lasse,l92 trifft indes Weber nicht wirklich. Breuer hat dem zu Recht entgegengehalten, daß die Begriffsrelation bei Weber gerade in die entgegengesetzte Richtung weise. 193 Die Hausherrschaft wie die daraus hervorgehende Grundherrschaft unterliege zunehmend traditionalen Schranken,194 während umgekehrt die politische Patrimonialherrschaft dazu tendiere, ihre anfänglich nicht minder starken traditionalen Schranken zu durchbrechen und jene freie, traditionsungebundene Willkürherrschaft auszubilden, für deren begrifflich reine Form Weber den Typus des "Sultanismus" als arbiträre Variante des Patrimonialismus geprägt hat. 195 Weber will keineswegs die traditionalen politischen und Rechts-Verhältnisse über den Leisten einer modemen Terminologie schlagen. 196 Im Falle des Patrimonialismus geht es vielmehr darum, nach Umfang und Inhalt verschiedene, strukturell jedoch gleichartige Herrschaftssphären zu bezeichnen. 197 Wenn andererseits diese heterogenen Herrschaftsdurch Hervorhebung der ,staatlichen' Komponenten des mittelalterlichen Feudal- und Patrimonialstaates den Akzent auf das Gebiet des öffentlichen Rechts zu verlegen, ein Verständnis wiederum, das Weber mit seinen Typenbegriffen lediglich historisch generalisiert habe (Land und Herrschaft, ND Darrnstadt 5 1984, S. 146 ff.). 191 Speer, Legitimität und Legalität, S. 100. So erklärt Sohm, Reichs- und Gerichtsverfassung, Vorrede, S. XIII über die mit seinem Buch verbundene Forschungsabsicht: "Die vorliegende Arbeit soll es versuchen, von dem Gebiet der Gerichtsverfassung aus den altdeutschen Staat als einen wirklichen Staat zu erweisen." 192 Vgl. Speer, Legitimität und Legalität, S. 105 ff. 193 Vgl. Breuer, Herrschaftssoziologie (1991), S. 92 f. 194 Vgl. WG, S. 584 f. 195 Vgl. WG, S. 134,591. 196 Es sei hier nur daran erinnert, daß Weber die Verwendung der Begriffe "Fabrik", "Fabrikarbeiter" und "Industrie" für die Analyse des antiken Kapitalismus nicht an sich schon zuriickwies, sondern nur, soweit damit Analogien und Parallelen zum modemen Zustand behauptet wurden. Denn präzise Begriffe des "modemen Kapitalismus", der "Industrie", der "Fabrik" waren unverzichtbar, um die Eigenart des antiken Kapitalismus, seine im Vergleich mit dem modemen Kapitalismus spezifisch verschiedenen Kapitalbildungs- und -verwertungsforrnen adäquat zu erfassen (vgl. GASW, S. 8 ff., 279, 288). Das Denken in Analogien und Parallelen hingegen verfehlt nach Webers Auffassung den sozial wissenschaftlichen Begriffsbildungszweck: mittels präziser Begriffe durch Vergleichung die Eigenart der jeweiligen historischen Erscheinungen herauszupräparieren (vgl. auch GASW, S. 257). 197 Vgl. WG, S. 133 f., 585; 388, 389 f. So auch Breuer, Herrschaftssoziologie (1991), S. 93 f.
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sphären (ökonomische Rechte, militärisch-politische Befehlsgewalten) als erworbene patrimoniale Rechte gefaßt werden sollen, so liegt darin auch abgesehen von der Provenienz des verwendeten Eigentumsbegriffs keine problematische Übertragung moderner Rechtsbegrifflichkeit auf traditionale ökonomische und politische Zustände. Vielmehr erweist sich der Patrimonialismusbegriff als ein sehr lehrreiches Beispiel dafür, welchen prominenten Platz in Webers Soziologie die "scharfen juristischen Ausdrücke" einnehmen und wie ihnen dann ihr spezifisch soziologischer Sinn untergeschoben wird. 198 Nicht allein der Staat ist in seiner Vollentwicklung durchaus modem, sondern auch die Differenz zwischen privater und öffentlicher Rechtssphäre ist es. 199 Wie nun die Diskussion der verschiedenen juristischen und soziologischen Unterscheidungslehren von Privatrecht und öffentlichem Recht am Anfang des § I der Rechtssoziologie zeigt,2°O hält Weber die spezifisch modeme Vorstellung ihrer Differenz für nötig, um die in dieser Hinsicht abweichende Eigenart traditionaler, speziell patrimonialer politischer Verbände zu erfassen. Für den Patrimonialismus, der die Scheidung nicht kennt, folgt daraus die Ablösung des Privatrechtsbegriffs von seinem modemen Bedeutungskontext, weil bei reiner Ausprägung seiner Rechtsstruktur ,juristisch alles, was unserem ,öffentlichen' Recht entspricht, Gegenstand von subjektivem Recht konkreter Gewalthaber (ist), genau wie ein Privatrechtsanspruch."2ol Und zwar unabhängig davon, ob sich der politische Herr die Ausübung der Befehlsbefugnisse mit anderen Inhabern und Prätendenten teilt oder ob er als allein berechtiger Befehlshaber gilt ("ständische" bzw. "patriarchale" Struktur der patrimonialfürstlichen Justiz und Verwaltung).202 Im Patrimonialismusbegriff liegt somit der herrschaftssoziologische Akzent auf der Betonung verschie198 Diesen Aspekt hat namentlich Gephart, Handeln und Kultur, S. 18 ff., bes. 24 ff.; ders., Gesellschaftstheorie und Recht, S. 484 ff. herausgearbeitet. 199 Das zeigt sehr deutlich auch Webers soziologische Fassung der Differenz in der Rechtssoziologie (vgl. WG, S. 387 ff.). Mit den verschiedenen rechtsilieoretischen Abgrenzungsversuchen kontrastiert Weber - im Anschluß an die Kasuistik des Kategorienaufsatzes (vgl. GAWL, S. 447) - das Begriffspaar "staatsanstaltsbezogenes" , "staatsanstaltsgeregeltes" Handeln. Aus der Modernität der anstaItlichen Organisation des Staates - begrifflich und historisch (siehe oben) - folgt dann die am modemen Staat orientierte soziologische Unterscheidung. 200 Vgl. WG, S. 387 ff. 201 WG, S. 388. Die von Weber zuvor eigens eingeführte soziologische Differenzierung der Rechtssphären (Normen für "staatsanstaltsbezogenes" Handeln=öffentliches Recht; Normen für "staatsanstaItsgeregeltes" Handeln = Privatrecht) wird hier nicht weiter verwendet, da sie offenbar ungeeignet ist, den von ihm ins Auge gefaßten Wandel vom traditionalen "Privilegrecht" zur modernen Konzeption des subjektiven Rechts als anspruchsverleihende Norm sichtbar zu machen. Die durch individuelle Appropriation von Herrschaftsrechten ausgezeichneten patrimonialen und feudalen Verbände würden ja insoweit als vollständig öffentlich-rechtlicher Natur aufzufassen sein, die privatrechtsförmige Strukturierung der politischen Ordnung wäre für das soziologische Prädikat "staatsanstaltsbezogen" unerheblich! 202 Vgl. WG, S. 388 f. (in Zusammenhang zu lesen mit ebd., S. 186 f.), 389 f.; ausführlich im § 6 über "Amtsrecht und patrimonialfürstliche Satzung. Die Kodifikationen", S. 485 ff.
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III. Patrimonialismus und Rationalisierung
dener Herrschaftssphären, während ihr gleichartiges normatives Fundament den rechtssoziologischen Akzent der Begriffsbildung ausmacht. 203 Deren heuristischen Zweck aber formuliert Georg v. Below ganz im Sinne der idealtypischen Programmatik Webers: "Um uns die Verhältnisse der Vergangenheit nahezubringen, gibt es kein anderes Mittel, als sie an dem Begriff zu messen, den das Recht der Gegenwart aufstellt; natürlich nicht mit dem Zweck, moderne Vorstellungen in die Vergangenheit hineinzutragen oder die Äußerungen der alten Zeit nach modernen Vorstellungen zu interpretieren, sondern zum Zweck der Feststellung, 'wie sich das Recht vergangener Zeiten zu dem der Gegenwart verhält und ob der Rechtstypus der Gegenwart alten oder jungen Ursprungs ist. ",204
* * * In Kap. III. 1 und III. 2 ging es darum, die Stellung des Patrimonialismus in der Begriffssystematik von "Wirtschaft und Gesellschaft" zu bestimmen. Der Patrimonialismus bildet einen Haupuypus der traditionalen Herrschaft, der freilich in seinem okzidental-Iehensfeudalen Unterfall eine sehr spezifische Verbindung mit charismatischen Strukurelementen eingeht. Schon die Begriffsreihe patriarchaler / ständischer Patrimonialismus, Präbendalismus / Feudalismus, Pfründenfeudalismus / Lehensfeudalismus zeigt die entwicklungsgeschichtliche Dimensionierung des Typus, deren evolutionäre Folie explizit der okzidentale politische Rationalismus ist. Diesen doppelten Entwicklungsaspekt (Verlaufsformen patrimonialer Herrschaft unter dem Gesichtspunkt der Entstehung des modemen Staates) hat Weber in der älteren Herrschaftssoziologie sehr viel ausführlicher entfaltet als in der jüngeren, den "Typen der Herrschaft" im ersten Teil von "Wirtschaft und Gesellschaft". Gerade im Hinblick auf die Organisationsstadien der politischen Herrschaft erscheint es aber wesentlich, daß Webers Staatsbegriff in den nachgelassenen Grundrißmanuskripten - auch in der älteren Herrschaftssoziologie - mindestens implizit (ausdrücklich dann in den "Soziologischen Grundbegriffen") das Merkmal der anstaltlichen Verfassung mit dem des legitimen physischen Gewaltmonopols verknüpft. Als idealtypischer Begriff sagt der Staatsbegriff stets die bloß relative Staatlichkeit des politischen Verbandes aus - gemessen am Grad des realisierten Anstalts- und Gewaltmonopo1charakters. Das gilt begrifflich für den modemen Staat, der freilich das Vorbild gibt, in gleicher Weise wie für seine traditio203 Webers Patrimonialismusbegriff, speziell im Kontext der rechtssoziologischen Erörterungen zur Differenzierung von öffentlichem Recht und Privatrecht, muß vor dem Hintergrund der zeitgenössischen rechts- und verfassungsgeschichtlichen Kontroverse um den Charakter des mittelalterlichen deutschen Staates gesehen werden. 204 Below, Der deutsche Staat, S. 108 f. Und weiter heißt es: "Derjenige, der klare Rechtsbegriffe hat, ist darum noch kein guter Historiker, sondern derjenige, der aufgrund eines umfassenden Quellenstudiums die Vergangenheit uns anschaulich vorzuflihren weiß; aber klare Begriffe sind ein unentbehrliches Hilfsmittel, und je besser das Instrument, um so schärfer die Beobachtung" (ebd., S. 110). Vgl. Webers Bemerkungen über die heuristische und Darstellungs-Funktion rechtsdogmatischer Konstruktionen flir die rechtsgeschichtliche Forschung, GAWL, S. 357 f. Fn. 1.
3. Der Patrimonialismus in den orientalisch-asiatischen Imperien
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nalen Typen. Dem empirisch engen Zusammenhang von Herrschaft und Recht hat Weber in seinen Begriffsdefinitionen Rechnung getragen, was sich im Fall der politischen Herrschaft an den Kategorien des "politischen Verbandes" bzw. des "Staates" demonstrieren läßt. Zwar bezeichnet speziell der Patrimonialismus heterogene Herrschaftssphären, von denen die politische nur eine ist (neben haus-, grund- und leibherrlicher Gewalt), doch liegt der Akzent auf der strukturanalogen privatrechtsfönnigen Auffassung ökonomischer und politischer Herrenrechte. Die moderne Rechtstenninologie (öffentliches Recht/Privatrecht) wird hierbei von Weber - wie der Staatsbegriff aus ihrem rechtsdogmatischen Bedeutungskontext herausgelöst und zur soziologischen Beschreibung der Differenz einer spezifisch traditionalen Rechts- und Herrschaftsorganisation verwendet. Im folgenden sind nun die Entwicklungsbahnen des Patrimonialismus in ihrer orientalisch-asiatischen bzw. okzidentalen Verschiedenheit zu betrachten. Im Mittelpunkt der Darstellung steht dabei die Frage, auf welche Weise Weber den Herrschaftstypus des Patrimonialismus für sein Interesse am okzidentalen Rationalisierungsprozeß nutzbar macht, inwieweit mit anderen Worten der Patrimonialismusbegriff den ihm von Weber zugedachten soziologischen Zweck erfüllt.
3. Entwicklungsbahnen patrimonialer Herrschaft I: Der Patrimonialismus in den orientalisch-asiatischen Imperien Der politische Patrimonialismus impliziert nach Max Weber die äußerst folgenreiche Konzentration strategischer Ressourcen (ökonomische und "humane" Ressourcen: Geld, Grundbesitz, Arbeitskräfte) in einer monokratischen Herrschaftsorganisiltion. Dem Patrimonialherrn gelingt es mit Hilfe eigener Zwangsstäbe, seine politische Herrschaft, d. h. speziell seine Militär- und Gerichtsgewalt, auf andere Haus- und Grundherren auszudehnen und mittels geeigneter Herrschaftsideologien aufrechtzuerhalten. Konzentration und Monopolisierung der äußeren Machtmittel und inneren Rechtfertigungsgründe der Herrschaft - das sind die evolutionären "Errungenschaften" des Patrimonialstaats. 205 Die moderne politisch205 Vgl. WG, S. 585, 549 f.; 133 f., 122 f.; es handelt sich bei den Patrimonial staaten im Weberschen Sinn um stratifizierte Systeme, in denen die Verfügung über die materiellen Reproduktionsbedingungen den Ausschlag gibt, während die Kontrolle über das symbolische Kapital ("imaginary conditions of reproduction"), die in den evolutionär früheren Ranggesellschaften die Ausdifferenzierung von Autoritäts- und Herrschaftspositionen erst ermöglichte, eine tendenziell sekundäre Legitimationsfunktion übernimmt. Vgl. Maurice Godelier; Economy and Religion: An Evolutionary Optical Illusion, in: Jonathan Friedman/Michael J. Rowlands (Hg.), The Evolution of Social Systems, Liverpool 1977, S. 3 ff., bes. 7 ff.; ders., Zur Diskussion über den Staat, die Prozesse seiner Bildung und die Vielfalt seiner Formen und Grundlagen, in: Breuer/Treiber (Hg.), Entstehung und Strukturwandel, S. 18 ff.; Jonathan Friedmanl Michael J. Rowlands, Notes Towards an Epigenetic Model of the Evolution of ,Civilisation', in: dies. (Hg.), Evolution of Social Systems, S. 201 ff., bes. 206 ff.; Breuer, Der archaische Staat, S. 42 ff.
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III. Patrimonialismus und Rationalisierung
anthropologische und historisch-soziologische Forschung zeigt, daß dieser Herrschafts- und Staatstypus, unabhängig von seiner territorialen Organisationsforrn,206 entwicklungsgeschichtlich ebenso voraussetzungsvoll wie (in sehr verschiedener Art) folgenreich ist. Nur vergleichsweise wenige Gesellschaften in der Alten Welt (Vorderer Orient, Indien, China, Mittelmeerraum) haben dieses evolutionäre Stadium erreicht; bei der weitaus größten Zahl dagegen bleibt das Häuptlingstum der gleichsam "natürliche Kulminationspunkt" der sozialen Evolution. 20? Weber hat den vor- und frühgeschichtlichen politischen Organisationsstadien bekanntlich wenig Beachtung geschenkt, was eigentlich verwundert angesichts der besonderen Rolle, welche er der politischen Sphäre im Rahmen der gesellschaftlichen Entwicklung durchweg einräumt. Auch die kursorischen Bemerkungen über die Staatsentstehung in "Wirtschaft und Gesellschaft,,208 und die in diesen Kontext gehörenden Typen des in den "Agrarverhältnissen" konstruierten politischen Organisationsstadienmodells ("Bauerngemeinwesen", "Burgen"- und "Heerkönigtum,,)209 können nicht darüber hinwegtäuschen, daß man eine kohärente "Soziogenese des Patrimonial staates" bei Weber vergeblich sucht. 2\O Die entscheidenden Gründe hierfür dürften in der zeitgenössischen Forschungslage, dem an spezifischen Rationalisierungsprozessen ausgerichteten Forschungsinteresse und für die206 Hinsichtlich ihrer territorialen Reichweite unterscheidet Weber in den "Agrarverhältnissen" das "bürokratische Stadtkönigtum" und die "autoritäre Leiturgiemonarchie" als Strukturformen des politischen Patrimonialismus, wobei letztere Kategorie sowohl "Landstaaten" bzw. - wie im Falle des alten Ägypten, wo ein aus sprachlichen, religiösen, politischen Griinden gespeister "ethnischer Gemeinsarnkeitsglaube" bestand - "nationale Staaten" (im Unterschied zu den neuzeitlichen Nationalstaaten) als auch kontinentale Orbis terrarumReiche, "Imperien" bzw. "Weltreiche", wie das chinesische oder das römische Kaiserreich, umfaßt (vgl. GASW, S. 38 ff.). So spricht er gelegentlich auch von den Formen der "bürokratischen Territorial- und ,Welt'-Monarchie" (vgl. GASW, S. 102). Vgl. die Typologie bei Samuel E. Finer, The History ofGovemment, Oxford/New York 1997, Vol. I: Ancient Monarchies and Empires, S. 5 - 11: Finer begreift die Territorialität als wesentliches Bestimmungsmerkmal der Staatlichkeit auch vormodemer politischer Verbände, denn "however wavery their frontiers, these pre-modem states were states precisely because there was a core area whose bounderies did not fluctuate, whose people recognized a common superior" (ebd., S. 5). Dazu ausführlicher: ders., State-building, State Bounderies, and Border Control, in: Social Science Information, 13 (1974), S. 79 ff. Zur Kategorie des "ethnischen Gemeinsarnkeitsglaubens" vgl. WG, S. 237 f. Weber kontrastiert sie mit dem Begriff des "nationalen Gemeinsarnkeitsglaubens" als sozial psychologischer Unterlage der korrespondierenden Vergesellschaftungsform "Nationalstaat" (vgl. WG, S. 242, 528 f.). Der Begriff des "nationalen Gemeinsarnkeitsglaubens" ist somit erkennbar am modemen Nationalstaatsgedanken ausgerichtet. 207 Vgl. Mann, Macht I, S. 72 ff., 112 ff., 119, der Gewicht legt auf die Annahme zyklischer Entwicklungsprozesse zumeist unterhalb der Ebene von Schichtung und Staat. Ähnlich Breuer (Der archaische Staat, S. 40; ders., Herrschaftssoziologie (1991), S. 102), der aber dem Entwicklungspotential des Häuptlingstums neuerdings eine offenbar weit höhere Bedeutung für die "Morphologie der Staatenwelt" einräumen will (ders., Staat, S. 32). 208 Vgl. WG, S. 516 ff., 670, 676. 209 Vgl. GASW, S. 35 ff., 43 f. 210 Diesem Desiderat sucht Breuer, Soziogenese, S. 163 ff., 183 ff. abzuhelfen.
3. Der Patrimonialismus in den orientalisch-asiatischen Imperien
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sen Zweck eingesetzten idealtypischen Begriffsbildungsverfahren,2J1 nicht zuletzt aber auch in dem bereits erwähnten, durch Kontingenzbewußtsein und agonales Weltverständnis geprägten Geschichtsbild Max Webers zu suchen sein. Andererseits hat Weber immer wieder, wenngleich nirgends zusammenhängend, die außerordentliche Bedeutung von demographischen (Bevölkerungsdruck, Marginalisierung, Verdrängung), ökologischen (aride bzw. Alluvialböden) und ökonomischen (Handel, Geldwirtschaft, Entwicklung von Privateigentum) Faktoren für die gesellschaftliche und insbesondere politische Entwicklung hervorgehoben. 212 Die entwickelte Patrimonialherrschaft bedeutet - nach dem bisher Gesagten eine autoritäre Einherrschaft mittels besonderer Verwaltungs- und Militärstäbe. Solche persönlichen, vom Patrimonialfürsten ausgerüsteten und versorgten Zwangsstäbe zur zivilen und militärischen Beherrschung des Verbandsgebiets sind nur durch die Verfügung über erhebliche strategische Güter zu unterhalten. Diese zieht er v.a. aus dem Handel, den er selbst monopolisiert oder konzessioniert. 213 Die entwickelte Geldwirtschaft erleichtert die fiskalische Ausnutzung des Handels ebenso wie die Abschöpfung der agrarischen und gewerblichen Produzenten. Umgekehrt bedarf es, um sich diese Verwaltungsmittel zu beschaffen, einer effizienten Extraktionsorganisation?14 Das Personal muß im Hinblick auf die Registratur- und Katastrierungsaufgaben einer teils redistributiven, teils kommerzialisierten Speicher- und Magazinhaltung ein Mindestmaß an empirischer Schulung (Schreib-, Lese- und Rechenfahigkeiten) besitzen,215 im Hinblick auf den Aufbau patrimo2ll Dies bezogen auf die produktionstechnische, begriffliche und material-soziologische Verzahnung der beiden Großprojekte der letzten Arbeits- und Lebensphase: "Wirtschaft und Gesellschaft" und die vergleichenden Studien zur "Wirtschaftsethik der Weltreligionen". 212 So hat sich Weber in der Studie über die antiken Agrarverhältnisse für die ökonomisch-ökologischen Bedingungen und sozialen Implikationen der antiken okzidentalen "Küstenkultur" bzw. orientalischen "Stromuferkultur" interessiert, immer wieder die entscheidende Rolle der Wasserschutz-, Bewässerungs- und Kanalbauten für die politisch-administrative Zentralisierung herausgestellt (vgl. z. B. WG, S. 560, 607 f.; GASW, S. 45 f. (Mesopotamien); 63 f. (Ägypten; auch GARS III, S. 10); GARS I, S. 298, 318 f., 336 (China». Gegenüber Rainer Grundmann und Nico Stehr (Klima und Gesellschaft, soziologische Klassiker und Außenseiter. Über Weber, Durkheim, Simme1 und Sombart, in: Soziale Welt, 47 (1997), S. 85 ff., hier S. 97) ist deshalb festzuhalten, daß Weber durchaus nicht nur soziale Faktoren als handlungsbestimmend erkennt, sondern z. B. auch klimatische und geographische. Daneben hat er immer wieder auf die allgemeine Bedeutung des Handels und der Geldwirtschaft zumal für den politischen Patrimonialismus hingewiesen (z. B. WG, S. 641, 640, 588; GASW, S. 11,39 f.). 213 Zur Bedeutung des Zwischenhandelsmonopols der Häuptlinge, Fürsten, Könige vgl. GASW, S. 11,47,58; allgemein: WG, S. 641. 214 Über den "coercion-extraction cycle", den engen Zusammenhang von stehendem Heer und bürokratischer Verwaltung sowie die Begünstigung beider durch chronische Kriege vgl. Finer, History I, S. 15 ff., 21; Reinhard, Staatsgewalt, S. 24. Zur Rolle der Militärverfassung in der Gesellschaftsentwicklung auch Samuel E. Finer, State and Nation Building in Europe: The Role of the Military, in: Tilly (Hg.), Formation of National States, S. 84 ff.; Mann, Macht, Bd. 2: Vom römischen Reich bis zum Vorabend der Industrialisierung, S. 267 ff., bes. 290 ff.; ders., Autonomous Power, S. 132 f., Tilly, Reflections, S. 74 f.
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III. Patrimonialismus und Rationalisierung
nialer stehender oder Sold-Heere einfach fungibel sein. Nur wo eine außerordentliche ökonomische Mobilisierung soziale Vertikalisierungs- und Hierarchisierungsprozesse jenseits genealogischer Rangstrukturen in Gang setzt oder beschleunigt, ist die Entstehung derartiger ökonomisch-politischer Machtpositionen möglich. Für landwirtschaftliche Produktionssteigerung, kontinuierliches Bevölkerungswachstum, damit zusammenhängend: vertiefte Arbeitsteilung und extensive Austauschbeziehungen boten nicht von ungefahr die in Küstennähe oder an Stromufem entstehenden mesopotamischen, phönizischen und hellenischen Stadtstaaten günstige Voraussetzungen. Während allerdings die frühhellenische Entwicklung ebenso wie die phönizische (politisch) eher schwache Stadtkönigtümer hervorbrachte und in der klassischen Zeit zu "Adelspolis" und "Demokratie" ("Bürgerpolis") als politischen Organisationsformen führte, der römische Stadtstaat im Stadium der "Adelspolis" ("Republik") verharrte, war in Mesopotamien das "bürokratische Stadtkönigtum" bzw. - auf dem Wege der Expansion und Rationalisierung - die "Leiturgiemonarchie" die bestimmende Herrschaftsstruktur. 216 Auffallend gut gelang es hier der königlichen Gewalt, sich durch Handelsmonopole und -konzessionen, Erhebung von Zöllen und Abgaben, fiskalische Abschöpfung des gewerb215 Vgl. WG, S. 639, 652 f. Zur wichtigen Rolle des Priestertums als ursprünglicher Träger von Wissenschaft, Recht, Verwaltung und Erziehung vgl. GASW, S. 44, 73. Weiterhin GARS H, S. 69 zur Entwicklung eines "bürokratischen" Schreiberwesens im Indien der MauryaDynastie (4. u. 3. Jh. v. Chr.); WG, S. 132 unter Hinweis auf den ursprünglich magisch-sakralen und künstlerischen Charakter der chinesischen Schrift und die daraus resultierende Kulturbedeutung der schriftkundigen Literatenbeamten. Allgemein zum Zusammenhang von Staatsbildung und Entstehung der Schriftkultur: Jack Goody (Hg.), Literacy in Traditional Societies, Cambridge 1968; ders., Funktionen der Schrift in traditionalen Gesellschaften, in: ders. Ilan Watt I Kathleen Gough, Entstehung und Folgen der Schriftkultur, Frankfurt a.M. 1991, S. 25 ff., hier S. 26, 54. Jack Goody und lan Watt betonen die extrem strukturkonservativen Wirkungen der "protoliteralen" bzw. "oligoliteralen" Schriftsysteme in den vorderorientalischen und chinesischen Hochkulturen (Konsequenzen der Literalität, in: Goody u. a., Entstehung und Folgen, S. 63 ff., hier S. 77 f.). 216 Vgl. GASW, S. 35 ff. (Organisationstypen); 45 ff. (Mesopotarnien); 93 ff. (Hellas); 190 ff. (Rom). Webers politisches Organisationsstadienrnodell liegt mit den beiden evolutionären Entwicklungsbahnen des "Burgenkönigtums": "Adelspolis" - "Hoplitenpolis" - "Bürgerpolis" einerseits und "autoritatives (bürokratisches) Stadtkönigtum" - "Leiturgiemonarchie" andererseits im Sinne einer Machtdiffusion bzw. Machtkonzentration in den städtischen Zentren durchaus auf der Linie des von der epigenetischen Zivilisationstheorie als progressive Entwicklungsstufe des tendenziell zentrifugalen Prestigegütersystems postulierten "territorial and city state" und seiner verschieden möglichen Ausprägungen (vgl. Friedman I Rowlands, Notes, S. 232 ff.; Jonathan Friedman, Tribes, States and Transformations, in: Maurice Bloch (Hg.), Marxist Analyses and Social Anthropology, London 1975, S. 161 ff.; Kasja Ekholml Jonathan Friedman, ,Capital' Imperialism and Exploitation in Ancient WorldSystems, in: Review, 4 (1982), S. 87 ff.). Das ist um so bemerkenswerter, als diese neoevolutionistische Theorie mit ihrer Konzentration auf die ökonomischen Bedingungen der sozialen Evolution eher in marxistischer denn in weberianischer Theorietradition steht. Stefan Breuer gebührt das Verdienst, sie auf der Folie Webersehen Denkens für die historische Soziologie ebenso fruchtbar gemacht wie eben dadurch die theoretische Anschlußfähigkeit der Webersehen Soziologie nachgewiesen zu haben (vgl. Breuer; Staat, S. 26 ff., 38 ff., 69 ff., 106 ff.; ders., Der archaische Staat, S. 42 ff.).
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lichen und agrarischen Mehrprodukts - speziell in Verbindung mit der entstehenden Geldwirtschaft - die Mittel zur Errichtung der Zwangsstäbe zu verschaffen, deren der politische Patrimonialismus bedarf: ,,[ ... ] der König kann, ökonomisch an Macht steigend, Herr seiner Gefolgschaft und der militärischen Machtmittel werden, dergestalt, daß das Heer geradezu eine Art von Leibeigenenheer wird, und kann nun - die Hauptsache - einen ganz in seiner Hand befindlichen, hierarchisch gegliederten Beamtenstand schaffen, durch den er die ,Untertanen' regiert. ,,217
Privateigentum, Konkurrenz um Boden und Menschen, Kommerzialisierung und Monetisierung bewirken zwar eine entscheidende Ablösung der ökonomischen von der politischen Sphäre, doch beruht andererseits die königliche Machtstellung nunmehr auf der Verfügung über einen substantiellen Anteil an den strategischen Gütern (Land, Arbeitskraft, Geld, Rohstoffe), weshalb die Wirtschaft trotz u. U. weitgehender Kommerzialisierung in zentralen Bereichen reguliert bleibt. 218 Weiterhin können sich in stratifizierten Gesellschaften Politik und Religion aus ihrem in Ranggesellschaften konstitutiven Zusammenhang herauslösen und als gegeneinander eigenständige Ordnungen etablieren - mit wichtigen Konsequenzen. Wo der genealogische Rang des Herrschergeschlechts in den Hintergrund tritt oder bei militärischen Revolten, Usurpationen oder Eroberungen direkt zweifelhaft ist, bietet das Amtscharisma der Priesterschaft ein wirksames Instrument zur Bewältigung von Legitimitätskrisen. Dennoch war die Stellung des Königtums zur Hierokratie in Mesopotamien und Ägypten wie (zumindest in dieser Hinsicht vergleichbar) im späteren okzidentalen Mittelalter durchaus ambivalent, konnten doch Tempel oder Kirche aufgrund ihrer bedeutenden Wirtschaftsrnacht als Grundherren, Geldbesitzer und Handelsunternehmer die königliche Position auch direkt gefährden. 219 Umgekehrt konnte, wie Weber zeigt, der Herrscher gerade indem er sich die Legitimierungsleistungen der Hierokratie zunutze machte, deren weltliche Machtstellung untergraben. Denn "die Apotheose des Herrschers war überhaupt im Orient ein Mittel, auf die Göttergüter Hand legen zu können, ohne - da es sich ja nun um Vorgänge ,unter Kollegen' handelte - den immerhin gefährlichen Vorwurf des Sakrilegs auf sich zu laden. ,,220 Besondere geographische und geopolitische Bedingungen, wie sie etwa in Mesopotamien bestanden, wo auf einem begrenzten Raum eine Anzahl von dicht besiedelten Städten um ihre Nahrungsgrundlagen konkurrierten, wo in den Städten selbst patrimoniale Beamte, verdiente Würdenträger und Soldaten zu versorgen waren, daneben aber nicht-erbberechtige jüngere Söhne hoher Beamter und AngeGASW, S. 38. Was Weber mit Blick auf das Mesopotamien des frühen zweiten Jahrtausends v. Chr. (BabyIon zur Zeit Hammurabis) festhält (vgl. GASW, S. 51 f., 58 ff.). 219 Vgl. GASW, S. 44, 48 f., 69, 72 f., 80 f., 174 ff.; zum Verhältnis der politischen Herrschaft zu Hierokratie und Mönchtum (Hierokratie, Theokratie und Cäsaropapismus) vgl. WG, S. 614, 680, 689 ff., 697 ff. 220 GASW, S. 174. 217 218
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hörige der Herrscherfamilie zu Prestige, Macht und Reichtum drängten, verliehen dem Siedlungsmuster extrem kompetitive Züge und verstärkten die naturgemäße Tendenz zur Expansion?21 Dies eröffnete dem "militärischen Charisma" ein vielversprechendes Betätigungsfeld und gab neben einer bereits im Stadtstaat aufsteigenden Schicht von reichen Geschäftsleuten und Unternehmern nun auch erfolgreichen Militärführern die Chance zum sozialen und politischen Aufstieg. Sargon von Akkad z. B., der Begründer des akkadischen Hegemonialstaates (Eroberung des sumerischen Reiches um 2310 v. Chr.), war ein Gefolgsmann (,Mundschenk') des Königs von Kisch. 222 "The larger region containing competing city 1territorial states is not politically stable, but rather an arena within which trade alternates with warfare. An important characteristic of this period is the cyclical formation of empires by conquest [ ... ]. The formation of such empires is linked to the attempt by individual states to establish a more secure basis for their own reproduction by converting trade relations into tribute relations. ,,223
Solche Stadtstaaten tendieren also zur Expansion und Bildung patrimonialer Imperien, "die die Zirkulationsprozesse innerhalb ihrer jeweiligen ,Welt' zu kontrollieren und eine Gliederung derselben in Zentrum und Peripherie durchzusetzen versuchen. ,,224 Die Kontrolle der "supralokalen Bedingungen der lokalen Reproduktion" (Ekholm/Friedman), die Durchsetzung einer für die semiperipherischen und peripherischen Regionen verbindlichen Arbeitsteilung, die (einseitige) Lenkung der Güter- und Ressourcenströme von der Peripherie ins Zentrum steigert allerdings die Komplexität der imperialen Verwaltungsaufgaben in einem solchen Maße, daß zumal die vormodernen Imperien sie meist nur unvollkommen und zeitweilig bewältigen konnten. Ihr wichtigster Subsistenzgrund war deshalb jene großräumliche Pazifizierung, die nach Weber zugleich der kapitalistischen Entwicklung regelmäßig den Boden entzog. 225 Die territoriale Befriedung setzt 221 WG, S. 523; vgl. Breuer, Der archaische Staat, S. 72 f., der allerdings den endogen ökonomisch bedingten von dem exogen politisch induzierten Entwicklungspfad unterscheidet. 222 Eine eingehende historisch-soziologische Analyse der Entstehung und Herrschaftsstruktur des akkadischen Reiches findet sich bei Mann, Macht I, S. 223 ff.; vgl. auch Stefan Breuer, Imperien der Alten Welt, Stuttgart u. a. 1987, S. 91 ff., bes. 95 ff. 223 Friedmanl Rowlands, Notes, S. 238. Den Zusammenhang politisch-militärischer Expansion und imperialer Ressourcenakkumulation hat zuerst Herbert Spencer gesehen (Die Principien der Sociologie, Bd. 2, Stuttgart 1887, S. 86 ff.). Vgl. dazu Mann, Macht I, S. 242 ff., der entgegen der von Ekholml Friedman, ,Capital' Imperialism, S. 92 f. u. a. vertretenen Auffassung vom "parasitären Zentrum" der kompulsiv-militaristischen Herrschaftsstruktur patrimonialer Imperien auch eine ökonomisch innovative Rolle zubilligt. 224 Breuer, Der archaische Staat, S. 72; Friedman 1Rowlands, Notes, S. 240; Kasja Ekholmllonathan Friedman, Towards aGlobai Anthropology, in: Uonard Blusse u. a. (Hg.), History and Underdevelopment, Leiden 1980, S. 61 ff., bes. 68; dies., ,Capital' Imperialism, S. 92 f., 97; Shmuel N. Eisenstadt, Revolution und Transformation von Gesellschaften, Opladen 1982; ders., Political System; vgl. außerdem zum ökonomistischen WeltsystemAnsatz: lmmanuel Wallerstein, The Modem World-System, 3 Vols., New York u. a. 19741 1980/1988. 225 Vgl. GASW, S. 31, 271, 276 f.; WG, S. 96; GARS I, S. 348 f., 373, 393 f.
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den Aufbau einer effizienten Transport- und Kommunikationsinfrastruktur (Straßen, Kanäle, Schrift etc.), die Durchsetzung einer einheitlichen imperialen Ordnung und die Standardisierung von Maßen, Gewichten sowie - bei entwickelter Geldwirtschaft - Währungen voraus. Die bereits im patrimonialen Stadtkönigtum bzw. "urbanen Territorialstaat" in Ansätzen vorhandene Bürokratisierung von Verwaltung und Heer wird im patrimonialen Imperium vorangetrieben, weil nur bürokratische Zwangsstäbe in der Lage sind, die imperialen Ansprüche mehr oder minder effizient zu erfüllen. 226 Der Patrimonialstaat, speziell das patrimoniale Imperium, vereinigt also regelmäßig Zonen unterschiedlich starker Strukturierung. Wie weit die administrative Vereinheitlichung und ökonomische Ausnutzung der imperialen Territorien gelingt, hängt wesentlich von Art und Umfang der dem Gewalthaber verfügbaren militärisch-politischen Zwangsstäbe ab. Diese rekrutiert er ursprünglich patrimonial (Sklaven, Leibeigene, Kolonen), tendenziell aber zunehmend extrapatrimonial (stamm- oder volksfremde Grenzvasallen, Kaufsklaven, Söldner, Ritter, Kleriker, Literaten), stützt speziell seine Militärmacht dabei überwiegend auf besitzlose oder doch nicht privilegierte, besonders ländliche Massen, was ökonomische Konzentrations- und Entwurzelungsprozesse ebenso anzeigt wie die patrimoniale Strategie, mächtige Privatarmeen einer ländlichen Grundbesitzeraristokratie zu verhindern. Die Entstehung des Patrimonialismus und der Militärmonarchie sei daher - so Weber - nicht allein die Konsequenz politischer Expansion, sondern oft auch Folge ökonomischer Entwicklungen, namentlich "der zunehmenden Rationalisierung der Wirtschaft, in Verbindung also mit 'einer berufsmäßigen Spezialisierung und Scheidung zwischen ,Mi1itär'- und ,Zivil'- Untertanen wie sie der Spätantike und dem modemen Patrimonialstaat in gleicher Weise eigneten. ,,227
Solange ihm kontinuierliche Einkünfte fehlen stützt sich der Patrimonialherrscher bei der Versorgung seiner Beamten und Soldaten v.a. auf seinen "Staatsschatz", der aus Edelmetallen und Handelsgewinnen gespeist wird. 228 Bei systematischer Besteuerung der abhängigen Bevölkerung tritt mit steigendem Umfang von Heer und Bearntentum die Anweisung von Revenuerechten ("Sportelpfründen") oder Dienstland zur Eigennutzung ("Landpfründen,,)229 an die Stelle der direkten Verpflegung und Ausrüstung aus den Magazinen des Herrn ("Deputatpfründen,,).23o Analog zur inneren Gliederung der Hausgewalt durch die Ausgabe von Vgl. WG, 559 ff., 637 f.; 129, 150 f. WG, S. 589 f. 228 Vgl. GASW, S. 11, 17 f., 37; WG, S. 641 und S. 602: "Der Thesauros, Hort, Schatz des Herrn, in natura aufgespeicherte Edelmetall-, Schmuck- und Waffenvorräte und eventuell seine Gestüte liefern das Material dafür." An die Stelle des ursprünglichen fürstlichen Geschenkaustauschs treten zunehmend fürstliche Zwischen- und Eigenhande1smonopole. 229 Vgl. WG, S. 587 ff. (Patrimonialheer), 599 ff. (Patrimonialbeamtenturn). 230 Vgl. GASW, S. 36. Sargon v. Akkad beispielsweise verpflegte seine Truppen noch nach Art eines Hausherrn sozusagen am "verlängerten Palasttisch" - eine beachtliche logistische Leistung. Einer Schrifttafel in einem Tempel von Nippur zufolge "waren (es) 5400 Sol226 227
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Land und Inventar an Haussöhne,231 bedeutet die Vergabe von Rententiteln verschiedener Art regelmäßig eine Dezentralisierung, die Tendenz zur (erblichen) Appropriation dieser ökonomischen Rechte als private Erwerbsquelle durch die militärischen oder zivilen Funktionsträger eine "Stereotypierung" der Herrschaft. Weber nennt diese Entwicklung "Präbendalisierung", spricht von "präbendaler Amtsorganisation" oder einfach "Präbendalismus".232 Obwohl nun die Durchführung der Geldwirtschaft prima facie die zentrifugalen Kräfte des Präbendalismus umkehren und die zentralisierte Verfügungs gewalt des Patrimonialherrn über seine Zwangs stäbe erneuern kann, erfolgt der Übergang zu bürokratisierten Verwaltungsstäben und Armeen keineswegs entwicklungsautomatisch. Zwar hat Weber wiederholt auf das Bündnis des frühneuzeitlichen Absolutismus mit den bürgerlichen Kapitalmächten verwiesen, das diesen in die Lage versetzte, Verwaltung und Militärwesen zu rationalisieren, die ständisch-feudalen Verbände zu entmachten und jene Renaissance des Patrimonialismus im Okzident einzuleiten, die letztlich doch nur eine kurze - historisch freilich wichtige - Episode auf dem Weg zum modemen Staat bleiben sollte?33 Auch mag die Abwälzung der "Konvertierungskosten" auf die Beamten, die die noch lange Zeit natural erhobenen Abgaben zu Geld machen und einen festen Betrag an die Zentrale abführen müssen, die Übergangsstufe zu einer rationalen Haushaltsführung ("Etatisierung") bilden. 234 Die Appropriation der Pfründe und die damit zusammenhängende Vorstellung eines "Besitzrechtes am Amt" bewirkt aber - wie Weber v.a. am Beispiel Chinas und seiner Patrimonialbürokratie zeigt - sehr oft das gerade Gegenteil, indem es der Rationalisierung der Verwaltung durch Gefährdung unabsehbarer Pfründnerinteressen den Weg verlegt. 235 Folgerichtig hält Weber daher fest: "Jede präbendale Dezentralisation der patrimonialen Verwaltung, jede durch die Verteilung der Sportelchancen unter die Konkurrenten bedingte Fixierung der Kompetenzen, jede Pfründenappropiation vollends bedeutet im Patrimonialismus nicht eine Rationalisierung, sondern eine Stereotypierung...236
daten, die täglich unter seinen Augen (oder in seinem Palast) ihre Nahrung zu sich nahmen" (zi!. nach Mann, Macht I, S. 228). 231 Vgl. WG, S. 584. 232 Vgl. WG, S. 556 ff., 558, 602 f.; 127, 136. Zur Terminologie siehe oben Kap. Ill. l. 233 Vgl. z. B. WG, S. 211, 487 f., 604 f., 637 f.; "Politik als Beruf", MWS 1117, S. 40, 46. 234 Vgl. WG, S. 557. 235 Vgl. GARS I, S. 347 f.; WG, S. 602; Erläuterungspunkt 6 zu § 14 der "Soziologischen Grundkategorien des Wirtschaftens" über die Disjunktion von "Geldwirtschaft" und "Kapitalrechnung". So konnte "mit steigender Geldwirtschaft ,Verpfründung' der fiskalischen Chancen eintreten, mit dem Erfolg der traditionalistischen Stabilisierung der Wirtschaft" (ebd., S. 62). Zu den ökonomischen Wirkungen der Verpfründung von Amtsstellen und fiskalischen Chancen: "Traditionalisierung" und "Stereotypierung" vgl. ebd., S. 115 ff. Zu dem aus ökonomischem Eigennutz resultierenden "Strukturkonservatismus" politischer Verwaltungsstäbe vgl. ebd., S. 118 f. 236 WG, S. 602.
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Besonders den vormodernen Patrimonialherrschern fehlte typischerweise eine ihrer "despotischen" vergleichbare "infrastrukturelle Macht" (Mann), um Territorien z. T. kontinentalen Umfanges geordnet zu verwalten oder auch nur militärisch intensiv zu beherrschen. Das zwang sie zu Kompromissen mit den sehr verschiedenartigen intermediären Gewalten, lokalen Honoratioren, denen der Patrimonialherr gegen administrative und / oder militärische Dienste neben rein ökonomischen speziell politische Herrschaftsrechte (Gerichts-, Militärgewalten) verleihen mußte. Relativ unentwickelte Transport- und Kommunikationstechniken hatten mit zunehmender Entfernung vom Zentrum eine tendenziell sinkende Verwaltungsintensität237 und entsprechend wachsende Autonomie der lokalen Machthaber zur Folge - seien diese nun städtische Ratsversammlungen, Dorfhonoratioren bzw. Sippenälteste oder (priesterliche / weltliche) Grundherren. Die keineswegs seltene de facto-Unabhängigkeit zumal der patrimonialen Funktionäre in den Grenzregionen konnte die Zentralgewalt im Interesse der territorialen Sicherheit am wenigsten vermeiden. AllHilligen separatistischen Tendenzen suchte sie durch verschiedene Herrschaftstechniken wie kurze Amtszeiten, Ortsfremdheit, planmäßige Überwachung, Residenzpflichten der Beamten etc.,238 namentlich aber durch die strikte Trennung von militärischer und ziviler Verwaltung,239 die besonders deutlich das römische Reich auf der Grundlage der Magistratsgewalt ausbildete, entgegenzuwirken. In allen Fällen dezentraler Appropriation nicht nur ökonomischer Rechte, sondern auch grundherrlicher, speziell aber politischer Herrschaftsrechte spricht Weber von "Feudalisierung" und "Feudalismus,,?40 Bei mehr oder minder dominant natural- bzw. geldwirtschaftlicher Ausgangslage geben charakteristisch verschiedene Formen der Feudalstruktur - Lehens- oder Pfründenfeudalismus - die Möglichkeit, die fehlenden Machtressourcen der Zentrale unter (wenigstens nomineller) Aufrechterhaltung der Verbandseinheit zu kompensieren. Entwicklungsgeschichtlich außerordentliche Bedeutung mißt Weber dem Umstand bei, daß der Lehensfeudalismus seine Vollausbildung im Okzident fand, während der Pfründenfeudalismus die typisch devolutionäre Entwicklungsstufe vormals bürokratisierter Imperien des Vorderen Orients und Asiens war. 241 Ob aber Präbendalismus, Pfrün237 Dies ergibt sich nicht zuletzt aus dem im Verhältnis zu Fläche und Bevölkerung zahlenmäßig oft bescheidenen Umfang der imperialen Verwaltung, im römischen Reich z. B. noch bis in den Zeit des Dominats. Einen Überblick über die römische Reichsverwaltung in der Zeit des Prinzipats bietet mit Blick auf die Bürokratie des gleichzeitigen Han-China Finer; History I, S. 549 f., weiterhin S. 578 ff., bes. 584-586 (Dominat); S. 488 f., 498 ff., bes. 508-510 (Han-China). Die Konzeption verschiedener Machtradien auf der Basis ideologischer, ökonomischer, militärischer und politischer Machtquellen und korrespondierender organisationeller Mittel bei Mann, Macht I, S. 46 ff., bes. 56 ff. 238 Vgl. den Katalog patrimonialer Herrschaftsmethoden WG, S. 605, 609; vgl. auch die Liste typischer Kontrollmaßregeln des Feudalherrn gegenüber seinen politischen Vasallen ebd., S. 150. 239 Vgl. WG, S. 606. 240 Vgl. WG, S. 136, 148 ff.; 558, 625 ff. 241 Vgl. WG, S. 630,152. Dem folgend Mann, Autonomous Power, S. 119: "Feudal states tend to emerge either as acheck to the further disintegration of a once-unified larger state
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III. Patrimonialismus und Rationalisierung
den- oder Lehensfeudalismus 242 - der Patrimonialstaat, zumal das patrimoniale Imperium, tendiert nach Weber typischerweise zur Fragmentierung und Dekomposition von Staatlichkeit. Die entstehenden Herrschaftsgebilde sind strukturell weiter vom Typus des modemen Staates entfernt als der reine Patrimonialstaat: "Das präbendal und feudal abgewandelte, patrimoniale politische Gebilde ist also, alles in allem, im Gegensatz zu dem System von generell durch objektive Ordnungen geregelten ,Behörden' mit ihren ebenso geregelten Amtspflichtenkreisen, ein Kosmos oder je nachdem auch ein Chaos durchaus konkret bestimmter subjektiver Gerechtsame und PfIichtigkeiten des Herrn, der Amtsträger und der Beherrschten, die sich gegenseitig kreuzen und beschränken, und unter deren Zusammenwirken ein Gemeinschaftshandeln entsteht, das mit modernen publizistischen Kategorien nicht konstruierbar und auf welches der Name ,Staat' im heutigen Sinne des Wortes eher noch weniger anwendbar ist als auf rein patrimoniale politische Gebilde ... 243
Zwar läßt Weber keinen Zweifel daran, daß die präbendale Amtsorganisation, die in förmlichen Amtspacht- und Amtskaufverhältnissen ihren institutionalisierten Ausdruck findet (mittelalterliche Kurie, ,noblesse de robe' im frühmodernen Frankreich), durch Zentralisierungsschübe ihrerseits wieder ,verstaatlicht' und in der Folge durch ein Gehaltsbeamtenturn ersetzt werden kann. 244 So mag die strukturelle Transformation des späthellenistischen oder kaiserzeitlich-römischen Staatspächtertums zu einem Staatsbeamtentum (der Funktion oder doch der Sache nach) den zentripetalen Verlauf patrimonialer Bürokratisierung dokumentieren 245 - von "fließenden Übergängen" zur modemen Bürokratie kann trotzdem keine Rede sein. Einer rational geschaffenen Behördenorganisation mit geregeltem Instanzenzug und rational regulierten Kompetenzen der einzelnen fachgeschulten Beamten steht eine aus dem patrimonialfürstlichen Haushalt hervorgehende Verwaltungsstruktur mit vielfach ad hoc zugewiesenen, nicht eindeutig abgegrenzten Kompetenzen der unterschiedlichen, nicht oder nur teilweise fachlich geschulten Amtsträger gegenüber. Statt des unpersönlich-abstrakten Dienstverhältnisses zwischen dem modemen Beamten und seinem staatlichen Dienstherm ist der patrimoniale Beamte durch ein persönliches Diener- und Treueverhältnis an seinen Herrn (as in China and Japan) or as a post-conquest division of the spoils among the victorious, and obviously united, conquerors." Zur Illustration des Arguments vgl. auch Owen Lattimore, Feudalism in History (Review Article), in: Past and Present, 1957 (H. 12), S. 47 ff., bes. 49 f. (Unterscheidung von "evolutionary" und ,,relapse" ("devolutionary") feudalism). 242 Zur Terminologie siehe oben Kap. III. 1. 243 WG, S. 636. 244 Vgl. WG, S. 557 f. 245 Vgl. GASW, S. 168, 276; zum Begriff "Patrimonialbürokratie" vgl. GARS I, S. 273 sowie die widersprüchlichen Bestimmungen WG, S. 127, 131, wo einerseits (S. 127) die (bei hausangehörigen, also patrimonial rekrutierten Personen bestehende) Unfreiheit der Beamten als Differenzpunkt zur modernen Bürokratie hervorgehoben wird, während später (S. 131) die Bürokratie zuerst in Patrimonialstaaten mit extrapatrimonialer Rekrutierung des Beamtentums entstanden sein soll und das persönliche Dienstverhältnis (das Unfreiheit nicht ausschließt, aber auch nicht impliziert) für die Unterscheidung ausschlaggebend ist.
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gebunden. 246 Dieses gegenüber dem rationalen Anstaltsstaat völlig heterogene Strukturprinzip kann nur unter ganz besonderen Bedingungen durchbrochen werden, die allerdings für die transitorische Renaissance des Patrimonialismus im frühneuzeitlichen Okzident entwicklungsbestimmend wurden. Die Frage, warum dies so war, und - zunächst - warum, im Gegensatz dazu, der politische Patrimonialismus auf orientalisch-asiatischem Gebiet stets erneut die Oberhand behielt, soll nun auf der Grundlage der Weberschen Argumentation erörtert werden. a) Zerfallstendenzen patrimonial-imperialer Herrschaft Gleich in der "Vorbemerkung" zu den religionssoziologischen Studien erklärt Weber, daß er mit ihnen keine umfassenden Kulturanalysen beabsichtige, sondern auf die von der okzidentalen Kulturentwicklung abweichenden Faktoren sein Hauptaugenmerk legen wolle. 247 Auf der Ebene der Staatsorganisation liegen diese aber - wie sich zeigt - keinesweges darin, daß den polymorphen politischen Evolutionen des Okzidents die eigentlich geschichtslosen orientalisch-asiatischen Kulturkreise gegenübertreten, deren stets wiederkehrende patrimonial-imperiale Organisation nur als der gleichsam institutionelle Reflex politisch, sozial und ökonomisch wenig differenzierter, homogener und monolithischer Strukturbildungen zu gelten hätte. 248 In den religionssoziologischen Aufsätzen so wie schon in den "Agrarverhältnissen" beschreibt Weber die orientalisch-asiatischen Patrimonialstaaten als durch unterschiedliche ökologische, geopolitische, soziale und religiöse Faktoren bedingte komplexe politische Herrschaftsgebilde mit individueller Geschichte und Entwicklung. Ständische Gliederungen und Eigentums- bzw. BesitzVgl. WG, S. 551 ff., 594 ff.; 129 f., 134 ff. Vgl. "Vorbemerkung" zu GARS I, S. 13; ähnlich: "Einleitung" zu GARS I, S. 265, 267. 248 Paradigmatisch für den Orientalismus-Diskurs in der okzidentalen Geistesgeschichte ist Hegels Behauptung, im chinesischen Reich sei ,jede Veränderlichkeit ausgeschlossen, und das Statarische, das ewig wiedererscheint, ersetzt das, was wir das Geschichtliche nennen würden" (Georg Wilhelm Friedrich Heget, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Werke Bd. 12, Frankfurt a.M. 1986, S. 147). Den Gedanken der inneren Unwandelbarkeit des "orientalischen Staates" trotz aller äußeren Wechsel von Dynastien und Reichen spricht Hegel bereits in der Rechtsphilosophie aus: "Der orientalische Staat ist daher nur lebendig in seiner Bewegung, welche, da in ihm selbst nichts stet und, was fest ist, versteinert ist, nach außen geht, ein elementarisches Toben und Verwüsten wird. Die innerliche Ruhe ist ein Privatleben und Versinken in Schwäche und Ermattung" (Grundlinien der Philosophie des Rechts, Werke Bd. 7, Frankfurt a.M. 1986, S. 509). Zumindest dem zweiten Teil würde Weber wohl zugestimmt haben, wenn man sich seine Bemerkungen über die Wirkungen des Patrimonialismus auf die politische Sozialisation der primär als subjektiv rechtlose Ausbeutungsobjekte behandelten agrarischen Produzenten, ihren spezifischen "Apolitismus", in Erinnerung ruft (vgl. GASW, S. 83, 189, 277). Und das "nach außen" gerichtete "elementarische Toben und Verwüsten", von dem Hegel spricht, weist immerhin auf die entscheidende Rolle chronischer Eroberungen für den "plötzlichen Zusammenbruch patrimonialfürstlicher Gewalten und ihre ebenso plötzliche Neuentstehung" (WG, S. 590) in den asiatischen Kulturgebieten hin. 246 247
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verhältnisse in einer dem Okzident durchaus vergleichbaren Vielfalt finden sich; aber eben auch die bemerkenswerte Regenerationsfähigkeit des politischen Patrimonialismus: der "patrimoniale ZykluS".249 Das ist um so erstaunlicher, als die dem Patrimonialismus inhärenten Zerfallstendenzen in seinen orientalisch-asiatischen Erscheinungsformen nicht gefehlt haben: 25o "Der politische ,Patrimonialverband' kann als Ganzes mehr dem stereotypierten oder mehr dem arbiträren Schema zuneigen. Ersteres ist mehr im Okzident, letzteres in ziemlich starkem Maße im Orient der Fall gewesen, wo die theokratischen und patrimonial-militärischen Grundlagen der durch stets neue Eroberer usurpierten Gewalt den sonst naturgemäßen Dezentralisations- und Appropriationsprozeß weitgehend kreuzten. ,,251
So bestand im China der östlichen Chou während der Ch'un-ch'iu-Periode (sog. "Frühling und Herbst"-Periode; 770-476 v. Chr.)252 eine zunehmend rein rituelle Oberherrschaft des Chou-Königs, während die faktische Herrschaftsgewalt auf gentilcharismatisch qualifizierte Feudalgeschlechter überging, die sich allmählich in den dauernden Besitz der politischen Ämter und Territorialherrschaften brachten und dabei eine feste Ranghierarchie ausbildeten. 253 Der König fungierte als Oberlehensherr, der - gegen Gestellung von Kriegswagen und Soldaten - die Regierung der Reichsprovinzen den großen Familien (der kaiserlichen Sippe selbst, den Sippen großer loyaler Fürsten, enger Vertrauensleute, erfolgreicher Kriegsherren) überlassen mußte. Insbesondere die Grenzvasallen, denen die Territorialverteidigung gegen die kriegerischen asiatischen Steppenvölker oblag (Turkvölker, Mongolen, Hunnen), waren bzw. wurden nahezu autonome "Teilfürsten,,254 mit weit249 Vgl. zum "patrimonialen Zyklus": Breuer; Herrschaftssoziologie (1991), S. 104 ff.; Karl A. Wittfogel, Die orientalische Despotie. Eine vergleichende Untersuchung totaler Macht, Frankfurt a.M. u. a. 1977, S. 524; zur Dialektik "imperialer" und "polyzentrischer Zyklen" vgl. Mann, Macht II, S. 450 ff. 250 Zum Folgenden vgl. bes. die Analysen Breuers (Imperien; ders., Herrschaftssoziologie (1991), S. 104 ff.; ders., Staat, S. 106 ff.) sowie die (einzeln nachgewiesenen) Aufsätze in Shmuel N. Eisenstadt (Hg.), Kulturen der Achsenzeit. Ihre Ursprünge und ihre Vielfalt, 2 Bde., Frankfurt a.M. 1987; ders. (Hg.), Kulturen der Achsenzeit 11. Ihre institutionelle und kulturelle Dynamik, 3 Bde., Frankfurt a.M. 1992. 251 WG, S. 604 (eigene Hervorhebung). 252 Vgl. dazu Finer; History I, S. 450 ff.; Reinhard Bendix, Könige oder Volk. Machtausübung und Herrschaftsmandat, Frankfurt a.M. 1980, Bd. 1, S. 83 ff.; Wolfram Eberhard, Die institutionelle Analyse des vorrnodernen China. Eine Einschätzung von Max Webers Ansatz, in: Wolfgang Schluchter (Hg.), Max Webers Studie über Konfuzianismus und Taoismus. Interpretation und Kritik, Frankfurt a.M. 1983, S. 55 ff., hier S. 61 ff. 253 Vgl. GARS I, S. 314 ff.; GARS II, S. 139 f. 254 Weber spricht von "Teilfürstentümem" als Grenzfall politischer Patrimonialgebilde; die Teilung bedeutet nicht ,Totteilung' im deutschrechtlichen Sinn, also Errichtung völlig selbständiger Gewalten, sondern meint eine "Verteilung der Einkünfte und Herrenrechte zur selbständigen Ausübung unter mindestens fiktiver Aufrechterhaltung der Einheit" (WG, S. 612). Die häufig nur nominelle und sakrale kaiserliche Oberherrschaft ist für die chinesische Kultureinheit und die wiederholten politischen Reichseinigungen von fundamentaler Bedeutung gewesen.
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gehender Militär- und politischer Vertretungsmacht. 255 Infrastrukturelle und fiskalpolitische Gegebenheiten begünstigten somit eine dezentralisierte Patrimonialherrschaft mit "Tributärsatrapen" und drängten dazu, "das persönliche feudale Treueband und den feudalen Ehrenkodex als Kitt des politischen Zusammenhalts zu verwerten, wo immer dies möglich war" ?56 Der Zustand wurde in der späten Chou-Zeit (Chan-kuo-Periode; 475 -221 v. Chr.) endemisch und führte zur faktischen Auflösung des Reiches in eine Anzahl von unabhängigen Fürstentümern, die einander ständig befehdeten. Zwar gelang es den kaiserlichen Patrimonialherrschern seit dem Reichseiner Shi-huang-ti (Ch'in-Dynastie; 221- 206 v. Chr.) unter Heranziehung der bereits im "Zeitalter der streitenden Reiche" für die Verwaltungsrationalisierung zuständigen Intellektuellen ("Legalisten" und später "Konfuzianer") eine patrimoniale Zentralverwaltung aufzubauen, eine feste Ämterhierarchie zu installieren (nachfolgende Han-Dynastie; 206 v. Chr.-220 n. Chr.), schließlich: die Ämterkonkurrenz durch Einrichtung eines zentralen Prüfungssystems 257 zu regulieren und auf diesem Wege den alten Feudalgeschlechtern die Basis ihrer früheren Machtstellung zu nehmen?58 Und wenngleich der geregelte Konkurrenzkampf um die Ämter in Verbindung mit patrimonialen Kontrollmaßnahmen den Zusammen schluß VOn Beamten und Amtsanwärtern zu einer ständisch-feudalen Schicht effektiv verhinderte, war diese schrift- und ritualkundige Literatenkaste (Konfuzianer) doch faktisch in der Lage, die Ämter und Amtseinkünfte zu monopolisieren. Außerdem aber konnte sie mittels einer dem Patrimonialismus an sich besonders adäquaten, weil patriarchale Werthaltungen propagierenden Ideologie die rituellen Funktionen des Kaisers so in den Vordergrund rücken, daß die faktische politische Macht meist in den Händen einer kleinen Zahl hoher Provinzialbeamter lag: "Das Reich glich einer Konföderation VOn Satrapien mit pontifikaler Spitze.,,259 Diese Präbendalisierung der Amtsstellen, die damit verbundenen materiellen Interessen der Pfründeninhaber und -anwärter, sowie der antibürokratische Charakter ihrer klassischliterarischen Bildung260 haben nach Weber die chinesische Patrimonialstruktur Vgl. GARS I, S. 314 f., 321; WG, S. 611 f. WG, S. 641. 257 Das Prüfungssystem wurde in der Ära der T'ang-Dynastie (618-906) eingeführt und durch die Ming-Dynastie (1368-1644) abschließend gesetzlich geregelt. 258 V gl. GARS I, S. 325 ff., 399 ff., 405 f. 259 GARS I, S. 332; vgl. GARS Ir, S. 138 f., wo Weber den Kaiser als "Oberpontifex" tituliert und als "Oberlehensherr" der weltlichen Teilfürsten im chinesischen "Kirchenstaat". 260 V gl. WG, S. 610: "Die konfuzianische Grundmaxime, daß ein vornehmer Mensch kein Werkzeug sei, das ethische Ideal also der universellen persönlichen Selbstvervollkommnung, dem okzidentalen sachlichen Berufsgedanken radikal entgegengesetzt, stand der Fachschulung und den Fachkompetenzen im Wege und hat ihre Durchführung immer erneut verhindert. Darin lag die spezifisch antibürokratische und patrimonialistische Grundtendenz dieser Verwaltung, welche ihre Extensität und technische Gehemmtheit bedingte." Ausführlicher in GARS I, S. 441, 445 f., bes. 448 f., 452 f., 457; vgl. allgemein über die Rolle der konfuzianischen Literaten und der konfuzianischen Tradition im kaiserlichen China die Beiträge Peter 255
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- von kurzen Phasen "sultanistischer" Machtkonzentration abgesehen261 - immer wieder nicht nur zur Dezentralisierung, sondern auch: traditionalen "Stereotypierung" tendieren lassen. Die Fragmentierung der chinesischen Staatlichkeit erklärt sich nicht nur aus den inhärenten Zerfallstendenzen der patrimonialen Zentralgewalt, sondern ebenso aus dem politischen Gewicht der präexistenten Lokalgewalten, deren das territorial expandierende Reich angesichts seiner schieren Größe, Infrastrukturschwäche und Verwaltungsextensität für eine funktionierende Administration bedurfte. Gilden und Berufsverbände in den Städten, Grundherrschaften262 und Dörfer auf dem Land bildeten die typischen Instanzen der Alltagsverwaltung. Weil die patrimo. niale Ämterbesetzung die Entstehung konkurrierender, auf lokaler Honoratiorenmacht begründeter Territorialherrschaften zu vermeiden suchte, standen ortsfremde Mandarinen an der Spitze der Provinzen, Bezirke und Kreise. Sie waren auf die Hilfe lokaler Unterbeamter angewiesen, die wiederum als Verbindungsleute zu den eigentlichen Trägem der Alltagsverwaltung: den Dörfern bzw. ihren Leitungsorganen (Sippenälteste und Honoratioren), fungierten. Die Dörfer waren Selbstverwaltungskörper mit umfassenden militärischen, sozialen und jurisdiktionellen Kompetenzen (neben den Sippen), während die Stadt zwar nicht-autonomer Mandarinensitz war, ihre Angelegenheiten aber dennoch durch Gilden und Berufsverbände (im Einvernehmen mit dem Repräsentanten der Patrimonialgewalt) weitgehend selbst erledigte. 263 Das für den indischen Subkontinent typische politische Organisationsmuster war - im Unterschied zu China - der Partikularismus und die regionale Kleinstaaterei. Doch hat auch Indien wenigstens vier patrimonial-imperiale Reichsbildungen teils kontinentaler, teils immerhin hegemonialer Ausdehnung gekannt: die frühen Reiche der Mauryas (320-185 v. Chr.) und Guptas (320-550 n. Chr.), sowie die mittelalterlichen islamischen Reiche: das Sultanat von Delhi (13.-16. Jh.) und das Reich der Moguln (Mitte des 16. - Mitte des 19. Jh.S)?64 Die vergleichsweise kurzlebigen Imperien demonstrieren besonders anschaulich den Zyklus von Anfangsphasen patrimonialer Machtakkumulation und -konsolidierung, einer länger Weber-Schäfers und Thomas Metzgers in: Schluchter (Hg.), Konfuzianismus und Taoismus, S. 202 ff.; 229 ff. 261 Vgl. GARS I, S. 327 f., 426 f. 262 Weber hat die noch in der älteren Herrschaftssoziologie vertretene Auffassung, wonach die soziale Schichtung Chinas durch das vollständige Fehlen der Grundherrschaft gekennzeichnet sei (vgl. WG, S. 608), in der letzten Fassung der Konfuzianismus-Studie mindestens stark relativiert: trotz der notorischen patrimonialstaatlichen Gegenmaßna1Jmen (periodische Bodenreformversuche) sei es immer wieder Beamten und geldbesitzenden Parvenüs gelungen, großen Landbesitz aufzuhäufen, der - zusammenhängend oder als Streubesitz - die Zentralgewalt zwang, die Grundherren als intermediäre Verwaltungsträger (neben Kaufmannsgilden, Zünften, Sippen und Dörfern) de facto anzuerkennen (vgl. GARS I, S. 368, 370 ff.). 263 Vgl. GARS I, S. 377 ff., 381 ff. 264 Vgl. hierzu komprimiert Breuer, Imperien, S. 52 ff., bes. 57 ff., 72 ff. und die Auswahlbibliographie ebd., S. 259-261.
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andauernden Periode der Dezentralisierung und des Zerfalls der Patrimonialherrschaft, schließlich einer Phase der Erneuerung der Zentralgewalt durch fremde Eroberer. Das grundsätzliche Problem der großindischen Patrimonialstaaten bestand seit dem Maurya-Reich darin, daß es den Königen zwar gelang, den autogenen Lehensadel (Kschatriya) als eigenmächtigen politischen Konkurrenten durch (überwiegend aus rangniedrigen, nichtadeligen Schichten rekrutierte) patrimoniale Beamten- und Militärstäbe zu ersetzen,265 auf die Dauer jedoch nicht - trotz günstiger Voraussetzungen266 - sich ausreichende eigene Ressourcen (Bodenfonds, Handel) zu verschaffen, um Zwangsstäbe in einer für die Beherrschung kontinentaler Gebiete erforderlichen Größe und Loyalität zu unterhalten. Die Patrimonialverwaltung konnte auch hier unter den gegebenen Verkehrsbedingungen - je weiter vom Zentrum entfernt desto mehr - nur extensiv sein, war dann freilich per se auf intermediäre Instanzen wie Dörfer, Grundherren, Städte (Gilden und Handwerkerzünfte ) angewiesen. 267 Der Bodenfonds unterworfener Gebiete wurde häufig nur teilweise für die königliche Domäne sequestriert, im übrigen die Territorialfürsten gegen Hoffahrt- und Tributpflichten wieder in ihren Besitz eingesetzt. Jede Störung des Binnen- und Femhandels, an dem der Fiskus des Patrimonialherrschers direkt oder indirekt (Zölle, Gebühren) profitierte, jeder fiskalische Notstand durch die v.a. mit kriegerischen Verteidigungs- oder Eroberungskampagnen verbundenen militärischen Anstrengungen hatte Maßnahmen sowohl zur Erweiterung der Steuerbasis (Kopfsteuer, Ernteanteil) wie zur Externalisierung der Verwaltungskosten zur Folge. Beides hing eng miteinander zusammen. Der Steuerertrag war nur durch zusätzliche fiskalische Abschöpfung zu erhöhen, was aber bei einem unter den verfügbaren technischen Mitteln schließlich nicht mehr zu steigernden agrarischen Mehrprodukt den Rentenertrag der Tributärfürsten und sonstigen Pfründeninhaber schmälern mußte. Umgekehrt stärkte es notwendigerweise deren Überzeugung, die erforderlichen staatlichen Leistungen auch kleinräumiger organisieren zu können, ohne v.a. den ökonomischen Ertrag mit einer übergeordneten Instanz teilen zu müssen, und erhöhte damit ihre partikularistischen und separatistischen Neigun265 Vgl. GARS 11, S. 68 ff., 73 und S. 253 ff., 257 ff., wo Weber die dem alten Buddhismus inhärente Nivellierung der hinduistischen Kastenschranken in Verbindung bringt mit dem nicht-ständischen patrimonialen Beamtenreservoir einerseits, dem Kampf des Patrimonialismus gegen die alten Geschlechter und dem Fortfall der Kschatriya-Schicht andererseits. 266 Das gilt besonders im Hinblick auf die Rolle des Fernhandels, die geographische Lage an den wichtigen Land- und Seehandelsstraßen nach Zentralasien, Europa und Südostasien und den v.a. dadurch bedingten erheblichen Grad der Kommerzialisierung, Monetisierung und Urbanisierung; vgl. GARS 11, S. 2 f., 84-86. 267 Weber legt allerdings Wert auf die Feststellung, daß eine städtische Autonomie okzidentaler Art sich in Indien weder in der Zeit der hinduistischen Regionalstaaten, noch in der der patrimonialen Großkönigtümer entwickelt habe. Der v.a. unter den städtischen Händlern verbreitete jainistische (bzw. buddhistische) Pazifismus, mehr noch aber die hinduistische Kastenordnung hätten eine "coniuratio" nach okzidentalem Vorbild und die damit verbundene Entstehung einer bürgerlichen Militärmacht wirksam verhindert; vgl. GARS 11, bes. S. 35-38, 86-89.
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III. Patrimonialismus und Rationalisierung
gen?68 Die aber gerade in Indien typische Strategie zur Entlastung der Staatskasse (verbunden mit extensiver Verwaltung durch einen vergleichsweise kleinen patrimonialen Verwaltungsstab ) war es, die wichtigsten Verwaltungsaufgaben: Steuereintreibung und Rekrutengestellung, bürgerlichen Steuerpächtern und Militärpfründnern zu übertragen. Aus dieser Pfründnerschicht ging eine Grundherrenklasse hervor, die, solange sie ihren patrimonialen Verpflichtungen nachkam, ihre Bezirke weitestgehend autonom, freilich auch aus eigenen Mitteln, verwaltete. Das galt insbesondere für die verschiedenen Klassen der sog. Zamindare (Dorf-, Regional-, Territorialzamindare) unter der Mogulherrschaft. Die islamischen Fremdherrscher waren auf diese lokalen Honoratioren als Mittelinstanz angewiesen, um ihre Ansprüche gegenüber der ländlichen Bevölkerung zu realisieren?69 Der Pfründenfeudalismus ist demnach die wichtigste Entwicklungsform des indischen Patrimonialstaates. Aber auch in den orientalisch-vorderasiatischen Reichen - im akkadischen Reich Sargons, in den assyrischen, babylonischen, persischen, hellenistischen, islamischen Reichen wie im Alten, Mittleren und Neuen Reich in Ägypten - suchten die Könige, zumal auf Eroberungsgebiet, solche Mittelinstanzen: lokale Eliten, Steuerpächter, Militärpfründner und städtische Notabeln, für die Errichtung einer tragfähigen Herrschaftsorganisation zu gewinnen. Über die politische Struktur der altorientalischen Imperien etwa schreibt Weber in den "Agrarverhältnissen": "In den breiten städtelosen kontinentalen Binnengebieten hatte es zweifellos immer Grundherrschaften in mehr oder minder ausgeprägter Entwicklung gegeben, und sobald die orientalischen Stadtkönigtümer und Leiturgiemonarchien sich zu ,Weltreichen' erweiterten - zuerst im Assyrerreich -, bildeten sie naturgemäß ein Konglomerat von städtisch und von grundherrlieh - als Domänen oder Lehen - organisierten Gebilden. ,.270
Die feudalen Elemente des Alten Reichs in Ägypten verselbständigten sich in der Staats struktur des Mittleren Reichs;271 trotz der Konzentration patrimonialer Herrenrnacht traten private Grundherrschaften auch in der Spätzeit des Neuen Reichs wieder verstärkt hervor;272 sie waren ein ebenso charakteristischer Faktor 268 Dies entsprach der Entwicklung unter den Mauryas vgl. Sudarsan Seneviratne, The Mauryan State, in: Henri J. M. Claessen/Peter Skalnik (Hg.), The Early State, Paris/New York 1978, S. 381 ff., bes. 399 f.; Breuer, Imperien, S. 60 f.; ders., Staat, S. 112 f. 269 Vgl. GARS H, S. 70-75; WG, S. 135, 152,629 f., wo Jagirdar-, Zamindar-, TalukdarGrundherrschaften als - gegenüber der okzidentalen Grundherrschaft - sekundär aus der Steuerpacht entstanden nachgewiesen werden. Weber betont diesen wichtigen Differenzpunkt ausdrücklich im Anschluß an den Orientalisten Carl Heinrich Becker (Islamstudien, Bd. 1, Leipzig 1924, S. 234 ff., bes. S. 239 ff., 244 ff.). Über die Rolle der Zarnindare unter den Moguln: Stephen P. Blake, The Patrimonial-Bureaucratic Empire of the Mughals, in: Journal of Asian Studies, 39 (1979), S. 77 ff.; Peter Hardy, Islamischer Patrimonialismus: Die Mogulherrschaft, in: Wolfgang Schluchter (Hg.), Max Webers Sicht des Islams. Interpretation und Kritik, Frankfurt a.M. 1987, S. 190 ff., hier S. 196. 270 GASW, S. 42. 271 Vgl. GASW, S. 69 ff. 272 Vgl. GASW, S. 81 f.
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der Herrschaftsorganisation des persischen Reiches und selbst seiner hellenistischen Nachfolger, auch wenn hier die Verwaltungs- und Sozialverfassung - von Ägypten abgesehen - wesentlich durch die Polis-Organisation dominiert wurde. 273 Mutatis mutandis gilt für alle diese Reichsbildungen, was Weber für die mesopotamischen festhält, daß nämlich "in den Eroberungsstaaten [ ... ] schon in der Zeit des Stadtkönigtums die lehensweise Vergebung von ganzen Städten neben Terrains, später [ ... ] Vergebungen von Land und Leuten an verdiente Beamte, und ebenso zweifellos die Konstituierung auch grundherrlicher ,Immunitäten ' kraft erblichen, gelegentlich erneuerten Privilegs seitens des Reichskönigs vorgekommen (ist). Der Staat hat so wohl stets einen stark feudalen Einschlag neben seinem theokratisch-bürokratischen Grundcharakter behalten, gleichviel ob sich dies bereits in entwickeltem ,Kolonat' äußerte.,,274
Typisches Resultat war die Mediatisierung der politischen Untertanen und damit eine mehr oder minder weitgehende Dezentralisierung der Patrimonialherrschaft. "Überall ging die Tendenz der Entwicklung dahin: die Gesamtheit der Untertanen des Patrimonialfürsten zu ,mediatisieren', zwischen sie und den Fürsten die lokale Honoratiorenschicht als alleinige Innehaberin der politischen Ämter aller Art einzuschieben, beiden die direkte Beziehung zueinander abzuschneiden, den Untertan wie den Fürsten für ihre gegenseitigen Ansprüche auf Steuer- und Heeresdienst einerseits, auf Gewährung von Rechtsschutz andererseits allein an den lokalen Amtsinhaber unter Ausschluß jeder Kontrolle des Fürsten zu weisen und zugleich das politische Amt selbst rechtlich oder faktisch erblich in eine Familie oder doch in einen lokalen Honoratiorenkonzern zu appropriieren.,,275
Und während sich die islamischen Kalifen / Sultane für ihre Verwaltung einerseits auf die byzantinischen Magnaten (dynatoi), andererseits den sassanidischen Landadel (diqhane) stützten,276 schlossen die Osmanenherrscher den für Steuereintreibung und Polizeiaufgaben nötigen Herrschaftskompromiß mit einer Schicht städtischer Kaufleute und Financiers. 277 Gerade weil auch in den orientalisch-asia273 Vgl. GASW, S. 154 f., 161. 274 GASW, S. 54. 275 So ausdrücklich mit Bezug schon auf die mesopotamischen Imperien und das persische Reich WG, S. 616, auch S. 614 f. Die "Durchbrechung des Untertanenverbandes" hat Below, Der deutsche Staat, S. 231 ff. mit Blick auf die politische Entwicklung im mittelalterlichen Deutschland als das entscheidende Merkmal des Feudalismus ausgemacht. So bemerkt er ebd., S. 243: "Auf die Durchbrechung [ ... ] des Reichsuntertanenverbandes führt man gewöhnlich, und zwar mit Recht, in erster Linie die Erscheinung zurück, die man als Feudalismus bezeichnet." 276 Vgl. Finer, History, Vol. 11: The Intermediate Ages, S. 671, 679 f., 682 f. Im Kalifat - wie in allen vormodemen Imperien - meint Finer "control was patchy and there was much wheeling-and-dealing at the interface where officials and 10cal populations met" (ebd., S. 684). Ausführlich diskutiert wird dieser Aspekt der Verwaltungsorganisation bei Boaz Shoshan, The ,Politics of Notables' in Medieval Islam, in: Asian and African Studies, 20 (1986), S. 179 ff. 277 Vgl. Breuer, Herrschaftssoziologie (1991), S. 107 f.
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III. Patrimonialismus und Rationalisierung
tischen Patrimonialstaaten die Macht der Zentrale entscheidend von den rein persönlichen Fähigkeiten des Herrschers abhängig war,278 seine Durchsetzungsfähigkeit sich nicht zuletzt an der erfolgreichen Kontrolle und Disziplinierung seiner Beamten durch die erwähnten Herrschaftstechniken (kurze Amtsfristen, Ortsfremdheit, Residenzpflichten, Geiselgestellung, Kontrolle durch Zensoren etc.)279 bemaß - gerade deshalb waren Präbendalisierung, Feudalisierung, und d. h. Dezentralisierung und Zerfall der Patrimonialgewalt, notorisch nicht nur im Okzident, sondern ganz ebenso im Orient und in Asien. 28o Dennoch hat Weber das politische Organisationsmuster dieser Reichsbildungen - im charakteristischen Unterschied zu den okzidentalen - eher dem Typus des "arbiträren Patrimonialismus" als dem des "ständischen Patrimonialismus" zugeordnet, so daß sich die Frage stellt, wie er diese Einschätzung begründet.
b) Patrimonialismus und Bewässerungswirtschaft Zunächst einmal ist bekannt, daß Weber dem Problem der Bewässerung bzw. Strornregulierung in Ägypten und Mesopotamien wie in China außerordentliches Gewicht für die Entstehung und Dauerhaftigkeit der patrimonialen Staats struktur zugeschrieben hat. 281 Zwar variierte der Hauptzweck der großen Wasserbauten in den verschiedenen Imperien der Alten Welt. Ob nun, wie in Mesopotarnien, die Vgl. WG, S. 605. Vgl. WG, S. 605 f., 609. 280 Als Quintessenz der Staatsbildung beschreibt Mann, Macht I, S. 167 den paradoxen Zusammenhang von Zentralisierung und Dezentralisierung: "Gemeinsam mit dem Staat bildete sich eine Schicht von führenden Familien mit privatem Grundbesitz heraus. Oder anders gesagt: Mit der Monarchie und dem Despotismus entstand die Aristokratie." Wenn er diese These an anderer Stelle vertieft (vgl. ebd., S. 217 ff.), dabei im Abschnitt über "Die Dialektik des Großreichs: Zentralisierung und Dezentralisierung" Weber vorwirft, zu einseitig die dezentrale Feudalstruktur Europas als Bedingungsfaktor für dessen Gesellschaftsentwicklung und das Ausbleiben einer vergleichbaren Entwicklung im Orient - herausgehoben und sich so den Blick auf jene Dialektik verstellt zu haben (vgl. ebd., S. 266 ff.), dann wird zumindest das der Komplexität der Weberschen Argumentation nicht gerecht. Denn zum einen beobachtet Weber durchaus auch in den orientalisch-asiatischen Kulturgebieten gesellschaftliche Entwicklungsprozesse, deren Dynamik freilich durch die zyklische Erneuerung des Patrimonialismus gleichsam sistiert ist. Zum anderen bildet der europäische Lehensfeudalismus nur eine, allerdings wichtige, politische Voraussetzung für den okzidentalen Rationalisierungsprozeß und ist überdies durch eine spezifische Kreuzung zentrifugaler und zentripetaler Momente gekennzeichnet. 281 Vgl. GASW, S. 46, 63, 102; WG, S. 607 f., 609; GARS I, S. 294, 298, 303, 310 f., 318 f., 336; GARS III, S. 10. Vgl. auch den im religionssoziologischen Kapitel von "Wirtschaft und Gesellschaft" beobachteten Zusammenhang von ethischer Prophetie, personaler Gotteskonzeption und dem bürokratischen, aus der Wasserwirtschaft hervorgegangenen Königtum, WG, S. 273 f.: "Der überweltliche persönliche ethische Gott dagegen ist eine vorderasiatische Konzeption. Sie entspricht so sehr dem auf Erden allmächtigen einen König mit seinem rationalen bürokratischen Regiment, daß ein Kausalzusammenhang nicht gut abweisbar ist." 278 279
3. Der Patrimonialismus in den orientalisch-asiatischen Imperien
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Wasserbauten (Kanal- bzw. Deichbauten) in erster Linie Bewässerungszwecken oder, wie in Ägypten und China, primär der Stromregulierung oder außerdem noch, wiederum v.a. in China, Binnenschiffahrtszwecken dienten - stets "war es die technisch-ökonomische Unvermeidlichkeit gemeinwirtschaftlicher Regulierung der Wasserverhältnisse für das ganze Land von oben her, welche den Schreiber- und Bearntenmechanismus schuf,.282 Wittfogel hat die im 19. Jh. nicht zuletzt von Weber entfalteten Theoriestränge in seiner These von der hydraulischen Landwirtschaft systematisch zusarnmengezogen?83 Kern seiner Argumentation ist die Auffassung, daß der Betrieb umfangreicher Kanal- und Bewässerungssysteme einen zentralistischen, imperialen, "agro-managerialen Despotismus" hervorbringe. Die ökonomistische Erklärung aller antiken Großstaatenbildung und Gesellschaftsentwicklung aus ihrer hydraulischen Struktur wird von Wittfogel aber derart vereinseitigt, daß sie für Großreiche mit gering oder gar nicht entwickelter Bewässerungswirtschaft - wie z. B. das römische Reich - offenkundig unhaltbar ist. 284 Doch selbst die sachlich und geographisch vorsichtigere Formulierung der These bei Weber erscheint aus heutiger Sicht - zumindest im Hinblick auf ihre Rolle für die Staatsentstehung - unzutreffend. Landwirtschaftliche Bewässerungssysteme wurden in Ägypten, Mesopotamien und China lokal (durch Dörfer, Städte und Grundherren) betrieben; zentrale Wasserbauten zur großflächigen Wasserversorgung, zur Verbesserung der Infrastruktur (Kanalsystem) und zur Flutabwehr (Deichbauten) haben zweifellos die Überlebensfähigkeit der Imperien erhöht, indem sie die Versorgung einer stetig wachsenden Bevölkerung garantierten (Steigerung des agrarischen Surplus und des Güterumschlags), auch die infrastrukturelle Macht der Zentralgewalt durch Erleichterung des Truppentransports steigerten, datieren aber allesamt erst aus der Zeit nach der Entstehung der patrimonialen Imperien. Ein ursächlich notwendiger Zusammenhang von Bewässerungslandwirtschaft und "orientalischem Despotismus" besteht nach den neueren Forschungsergebnissen also nicht, auch wenn Wasserschutz-, Bewässerungs- und Schiffahrtsbauten für die Selbsterhaltung der bestehenden Großstaaten wichtige Voraussetzungen schufen. 285 Immerhin läßt auch WG, S. 560; vgl. GASW, S. 63; GARS I, S. 298, 336. Karl A. Wittfogel, Die orientalische Despotie; ders., The Ruling Bureaucracy of Oriental Despotism: a Phenomenon that Paralyzed Marx, in: Review of Politics, 15 (1953), S. 350 ff.; ders., Die Theorie der orientalischen Gesellschaft, in: Zeitschrift für Sozialforschung, 7 (1938), S. 90 ff. 284 Zur Kritik vgl. auch Zingerle, Max Weber und China, S. 59 ff. 285 Mann, Macht I, S. 165 f.; Finer; History I, S. 154; ausführlich und unter Berücksichtigung der neueren Forschungsergebnisse wird die Theorie der Stromuferkultur diskutiert von Breuer; Herrschaftssoziologie (1991), S. 108 ff.; vgl. auch Wilfried Nippel, Einleitung zu MWG I/22-5 Die Stadt, S. 6 mit Fn. 24. Sowohl das methodologische Fundament von Webers kulturvergleichendem Forschungsansatz wie seine vergleichsweise differenzierte Analyse der orientalisch-asiatischen Gesellschaften sprechen allerdings gegen Nippels Einschätzung, daß es sich bei Webers Typus der Stromuferkultur "ideengeschichtlich [ ... ] um eine Variante des traditionellen Topos der ,orientalischen Despotie'" handele (ebd.). 282 283
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III. Patrimonialismus und Rationalisierung
Weber an einer Stelle in der älteren Herrschaftssoziologie entgegen seiner sonstigen Festlegung erkennen, daß er über die Kausalität der hydraulischen Landwirtschaft für den orientalisch-asiatischen Patrimonialstaat durchaus ambivalent urteilte. Er schreibt dort: "Wir sahen: die Rationalisierung der Wasserwirtschaft im alten Orient, der Umstand also: daß das Anbauland planvoll durch organisierte Untertanenfronden der Wüste abzugewinnen war, wirkte, ebenso wie die chinesische, umfassende Bautenpolitik zugunsten halbbürokratischer politischer Patrimonialgebilde, die in heiden Fällen doch andererseits schon entstanden sein mußten, um jene Bauten zu ermöglichen... 286
Zu fragen ist, ob Weber weitere Ursachen für die zyklische Erneuerung des orientalisch-asiatischen Patrimonialismus namhaft machen kann. Und in der Tat: Wesentlich einer nicht abreißenden Folge von Eroberern verdankte sich nach seiner Einschätzung die stets erneute ideologische und militärische Konsolidierung der Zentralgewalt gegenüber dem "sonst naturgemäßen Dezentralisations- und Appropriationsprozeß".287 In einer Parallelstelle der Konfuzianismusstudie bemerkt Weber über den systernimmanenten Traditionalismus der chinesischen Sozial- und Staats struktur: "Es war daher eine allgemeine Folge des orientalischen Patrimonialismus und seiner Geldpfründen: daß regelmäßig nur militärische Eroberungen des Landes oder erfolgreiche Militär- oder religiöse Revolutionen das feste Gehäuse der Pfründnerinteressen sprengten, ganz neue Machtverteilungen und damit neue ökonomische Bedingungen schaffen konnten, jeder Versuch einer Neugestaltung von innen aber an jenen Widerständen scheiterte. ,,288
c) Eroberung und arbiträrer Patrimonialismus
Militärrevolten, religiöse Revolutionen und Eroberungen haben also aus Webers Sicht eine dem okzidentalen Lehensfeudalismus vergleichbare Dezentralisation der Staatsgewalt in den orientalisch-asiatischen Kulturgebieten verhindert. Der letztlich ausschlaggebende Faktor für den "plötzliche[n] Zusammenbruch patrimonialfürstlicher Gewalten und ihre ebenso plötzliche Neuentstehung,,289 war jedoch die endemische Eroben,mg der hochkulturellen Zentren durch mächtige Steppenvölker wie Araber, Türken und Mongolen. Ausdrücklich hebt Weber die "regenerative" Funktion der Eroberung für die orientalisch-asiatische Imperienbildung hervor. Für den arbiträren Patrimonialismus des Orients sei entscheidend, daß "die theokratischen und patrimonial-militärischen Grundlagen der durch stets neue Eroberer usurpierten Gewalt den sonst naturgemäßen Dezentralisierungs- und Appropriationsprozeß weitgehend kreuzten. ,,290 286 WG, S. 641 (eigene Hervorhebung). Zutreffend vermerkt auch von Zingerle, Max Weber und China, S. 62. 287 WG, S. 604. 288 GARS I, S. 348. 289 WG, S. 590.
3. Der Patrimonialismus in den orientalisch-asiatischen Imperien
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China hatte in seiner über zweitausendjährigen Reichsgeschichte vom 3. bis späten 6. Jh. (Tibeter, Hsien-pi, Toba), dann wieder vom 10. bis 14. Jh. und schließlich seit dem 17. Jh. (Tartaren, Dschurdschen, Mongolen und Mandschus) lange Perioden der Fremdherrschaft nördlicher und westlich-zentralasiatischer Eroberer erfahren. In vergleichbarer Weise folgte auch in Indien regelmäßig auf den Zerfall der hinduistischen Regionalstaaten oder patrimonialen Imperien die v.a. den Norden und das Zentrum des Subkontinents erfassende Eroberung durch asiatische Steppenvölker (Shakas und Kushanas im 1. Jh. v. Chr. und 1. Jh. n. Chr.; Araber, Türken und Mongolen seit dem 10. Jh.). Sofern solche kriegerischen Invasionen mehr waren als bloße Raub- und Plünderungszüge beute1ustiger Kriegerstämme und die Eroberer sich auf dem Eroberungsgebiet festsetzen wollten, mußten sie - tunlichst unter Einbindung örtlicher Eliten - eine neue, straffe Zentralgewalt aufbauen. Umgekehrt konnte die äußere Bedrohung den Zusammenhalt der einheimischen Dynastien ebenso stärken wie die Beseitigung von Fremdherrschern nur durch eine zentripetale Bündelung der Herrengewalt, in der Regel bei einem führenden Herrscherhaus, möglich war (so die Erfahrung der nationalen T'ang und Ming-Dynastien)?91 Besonders in Vorderasien traten aber seit dem semitischen Begründer des ersten Imperiums der Weltgeschichte (Sargon v. Akkad) immer wieder Randvölker, nomadischen oder semi-nomadischen Ursprungs zumeist, als staatenbildende Mächte auf (Hethiter, Assyrer, Meder, Perser, Araber, Mongolen, Türken)?92 Bei ihren Staats- und Reichsbildungen geboten Sicherheits- und Schutz-, natürlich auch langfristige Ausbeutungsinteressen die Errichtung einer möglichst starken Zentralgewalt. Denn - so Weber - der Herrschaftsapparat wird "am straffsten entwickelt auf fremdem Eroberungsgebiet, wo die ständige Bedrohung der Herrenschicht dies gebietet. Die normannischen Staaten, vor allem England, waren nicht zufaIlig die einzigen Feudalstaaten des Okzidents mit einer wirklich zentralisierten und technisch hoch entwickelten Verwaltung, und das gleiche gilt für die arabischen, sassanidischen und türkischen Kriegerstaaten, die auf erobertem Gebiet am straffsten organisiert waren.,,293
Der Ausgangspunkt dieser Staatsbildungen liegt in dem unvermittelten Aufeinandertreffen von Ackerbau- und Steppen- bzw. Wüstenzone, von seßhaften und 290 WG, S. 604 (eigene Hervorhebung). 291 Vgl. Herbert Franke, Die unterschiedlichen Formen der Eingliederung von Barbaren in der chinesischen Geschichte, in: Eisenstadt (Hg.), Kulturen 11, 1, S. 25 ff.; Cho-yun Hsu, Die chinesische Reaktion auf Eroberung: Die verschiedenen Methoden zur Rekonstruktion der konfuzianischen Staatsordnung, in: Eisenstadt (Hg.), Kulturen 11, 1, S. 71 ff. Beides, die Sinisierung der Eroberer wie die Organisation des nationalen Widerstands, war bezeichnenderweise Ansatzpunkt der konfuzianischen Restauration. Vgl. GARS I, S. 430. 292 Zum Folgenden vgl. Breuer; Herrschaftssoziologie (1991), S. 117 ff. 293 WG, S. 671; vgl. ebd., S. 632. Im rechtssoziologischen Kapitel macht Weber deutlich, wie das Ordnungsproblem auf Eroberungsgebiet mit der Machtstellung des Kriegsfürsten zugleich die Chancen der Rechtsprofanierung und -rationalisierung steigert (vgl. ebd., S.453).
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Hennes
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III. Patrimonialismus und Rationalisierung
pastoralen Lebensformen?94 Die Beziehungen zwischen handel- und gewerbetreibenden Städtern, landbauenden Bauern und viehzüchtenden Nomaden sind ambivalent und spannungsreich. Einerseits verlockt die sedentäre Zone mit ihren agrarischen, gewerblichen und Handels-Artikeln die letzteren dazu, sich ihrer raubend und plündernd zu bemächtigen. Andererseits ist die eigentlich nomadische Wirtschaftsweise entwicklungsgeschichtlich sekundär, auf den Austausch lebenswichtiger Produkte und die vertragliche Vereinbarung etwa von Weiderechten und Wanderwegen mit den Städtern / Bauern angewiesen. Auf beiden Seiten kann das Interesse entstehen, die eigene sozio-ökonomische Organisation zu Lasten der anderen Seite territorial auszudehnen. So wirken städtisches Bevölkerungswachstum und die dadurch bedingte Notwendigkeit intensiverer agrarischer Bodenausnutzung zwecks Surplussteigerung in der Richtung einer Verkleinerung der als Weidebezirke zur Verfügung stehenden Böden, was wiederum die ohnehin naturgemäß labilen politischen Stammesorganisationen der Nomaden zerstreuen kann?95 Mögliches Resultat einer solchen städtischen oder staatlichen Expansion kann aber genausogut die Stärkung der politischen Kohäsion der benachbarten Nomaden sein. Das erste war offensichtlich eine typische Konsequenz bei halbnomadischen Kleinviehzüchtern (Schafe, Ziegen), die der hochgerüsteten und gut befestigten Geschlechterstadt bzw. dem bürokratischen Stadtkönigtum militärisch unterlegen waren wie Weber in der Iudentumstudie nachgewiesen hat. 296 Das letztere namentlich dann, wenn die geographische Struktur der Gebiete, in die die Nomadenvölker abgedrängt wurden - Gebirgskessel wie im Falle der nordchinesischen Eroberervölker beispielsweise - die politische Kohäsion begünstigten und ihre Viehzucht sich auf große kriegswichtige Tiere (Kamele, Pferde) konzentrierte. 297 Dennoch 294 Vgl. hierzu Breuer, Herrschaftssoziologie (1991), S. 120 ff.; Patricia Crone. The Tribe and the State, in: Hall (Hg.), States in History, S. 48 ff., bes. 68 ff.; auch Emest Gellner, Die Besonderheit des muslimischen Staates, in: Eisenstadt (Hg.), Kulturen 11,3, S. 189 ff. (in den hier bezüglichen Teilen allerdings: der unmittelbaren Nachbarschaft von Ackerbau- und Steppen- oder Wüstenzone; den prekären Austauschbeziehungen zwischen Bauern I Städtern einerseits und Nomaden andererseits, dem Bruch der Balance und wiederkehrenden Zyklus von Eroberung, UnterWerfung und Erneuerung der Stadt- bzw. Staatsgewalt, wesentlich eine Paraphrase der Thesen des großen arabischen Historikers und "Gesellschaftsforschers" Ibn Khaldun). 295 Weber hat dies in seiner Analyse der Sozialverfassung der altisraelitischen Stämme am Beispiel der höchst komplexen Beziehungen zwischen den Städten, seßhaften Bauern, Kleinvieh züchtenden Halbnomaden und Wüstenbeduinen eindringlich demonstriert; vgl. GARS III, S. 10 ff., 44 ff. Natürlich sind die geopolitischen und sozialen Machtkonstellationen kleinräumiger und vielfach anders gelagert als die hier v.a. interessierenden in der Semiperipherie bzw. Peripherie der altorientalischen und islamischen Imperien. Wichtige Aspekte der Konstellationsanalyse bieten m.E. dennoch strukturelle Parallelen. 296 Vgl. GARS III, S. 46 ff., 52 ff., 61 ff. Weber interessiert sich für den Entwicklungsverlauf zwischen den einzelnen Organisationsstadien im Hinblick auf seine Bedeutung speziell für die politische und Militärverfassung. 297 Crone. Tribe and State, S. 70: "History would have been very different if Central Asia had happened to be sliitable for the herding of reindeer rather than horses, Arabia for the herding of cattle rather than camels." Den geographischen und waffentechnischen Voraus-
3. Der Patrimonialismus in den orientalisch-asiatischen Imperien
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folgt die kriegerische (Gegen-)Aktion durchaus keinem Entwicklungsautomatismus. Für die Nomaden bedeutet die mit der erzwungenen politischen Organisation verbundene Vertikalisierung und Hierarchisierung der Sozialbeziehungen einen Verlust an persönlicher "Freiheit", den sie normalerweise zu vermeiden suchen?98 Gerät allerdings die prekäre Balance aus irgendwelchen Gründen ins Ungleichgewicht, so wird die soziopolitische Evolution der Steppennomaden leicht auf den Weg beschleunigter Staatsbildung gedrängt. Die angrenzenden (Stadt-)Staaten sehen sich nun gefahrlichen, oft übermächtigen Gegnern gegenüber. Solche kriegerischen "Nomadenstaaten" sind zunächst und v.a.: "plunder machines" und "revenue pumps".299 Beute, Tribut, Sklaven und Steuern der unterworfenen Bevölkerung bilden den primären Herrschaftszweck. Deren dauerhafte Ausbeutung ist allerdings nur mit einem entsprechenden Militär- und Verwaltungsapparat zu bewerkstelligen, dessen Unterhaltung umgekehrt jene erforderlich macht und die patrimonialen Imperien in den bereits erwähnten "coercion-extraction-cycle" führt. 300 Die Entstehung straffer zentralistischer Verwaltungsorganisationen auf Eroberungsgebiet geht allerdings regelmäßig einher mit der Entwaffnung der lokalen Kriegeraristokratien. 301 Daraus folgt eine - gegenüber der okzidentalen Entwicklung der Antike und des Mittelalters - viel weitergehende Entmilitarisierung der beherrschten Bevölkerung gegenüber den stehende Heere unterhaltenden Patrimonialgewalten, welche jene militärisch-politisch partizipativen Strukturen ausschließt, die sich in den Hoplitenheeren der antiken Stadtstaaten, den Volksheeren der Germanenreiche oder den Bürger- und Lehensheeren des hohen Mittelalters erhalten und die Eigenart des okzidentalen Patrimonialismus wesentlich mitbestimmt haben. Die resultierende politische Kultur charakterisiert Weber als einen traditionalistischen "Apolitismus" der der Staatsrnacht - soweit diese nicht in ihre unmittelbaren Lebensverhältnisse eingriff - weitgehend indifferent gegenübertretenden beherrschten Völker: setzungen politischer Verbandsbildung bei eigentlichen "Wüstenbeduinen" fügt Weber noch die häufig ausschlaggebende Rolle des militärischen Charisma hinzu, dessen ephemerer Charakter ohne konsolidierende Umweltbedingungen den Verband nur transitorisch zusammenhält (vgl. GARS III, S. 42 f.). 298 Vgl. GARS III, S. 14 f.; Crone, Tribe and State, S. 73 ff.; Gellner, Besonderheit des muslimischen Staates, S. 189 ff. 299 Finer verwendet die Begriffe zur Kennzeichnung des primären Herrschaftszwecks von Eroberungsreichen wie den islamischen, speziell das osmanische Reich und das indische Mogul-Reich, über das es etwa History, Vol. III: Empires, Monarchies, and the Modern State, S. 1228 heißt: "Its institutions were unoriginal, it was a conquest state that lived on continuous plunder of enemies, and it was entirely exploitative - a revenue-pump which diverted the produce of the cultivator and the merchant to the exclusive use of a narrow and wasteful ruling circle." Ganz ähnlich beurteilt er das osmanische Herrschaftssystem (vgl. ebd., S. 1170, 1203). 300 Vgl. WG, S. 586 ff.; Finer; History I, S. 15 ff. 301 Vgl. Z. B. für die Herrschaftsstrategie der mongolischen Eroberer im indischen MogulReich GARS II, S. 125, 130. 12*
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III. Patrimonialismus und Rationalisierung
",Soziale Probleme', die als solche subjektiv empfunden werden, sind im Altertum: politische Probleme des freien Polisbürgers: die Gefährdung der Bürgergleichheit, die Deklassierung durch Verschuldung und Besitzverlust. Wo der bürokratische Staat und dann das Weltreich seine Hand über die Bürgerfreiheit gelegt, der Polisbürger in den Kreis der ,Untertanen' getreten ist, da schreit wohl der Arbeiter nach seinem traditionellen ,täglichen Brot', wenn es ihm verkürzt wird, der Pächter seufzt unter dem Druck des Herrn, alle zusammen unter dem Druck der Steuern und Steuerpächter, - aber als ,soziale Probleme', die durch eine Neugestaltung der Gesellschaft gelöst werden müßten, werden diese Nöte der Individuen nicht empfunden. Sie rufen nicht ideale Konstruktionen eines Zukunftsstaates (Platon) oder ideale Vergangenheitsbilder (Lykurg) ins Leben, wie einst in der hellenischen Polis, sondern fließen in den allgemeinen Apolitismus über, der seitdem im Orient dem Beherrschten eigen geblieben ist. ,,302
Zwar gilt die Feststellung direkt den hellenistischen Nachfolgestaaten des Alexanderreichs, doch sieht Weber das Neue Reich in Ägypten (1540-1070 v. ehr.) mit seiner Bürokratie und seinem ausgefeilten Fron- und Steuersystem als Archetypus jenes "Antipolitismus der orientalischen Völker", der eben nur die Kehrseite ihrer politisch-militärischen Ohnmacht gewesen sei. Hier begegne der ägyptische Bauer, wie sein Nachfahre, der ptolemäische Fellache und ganz ähnlich der russische Bauer in der Zeit des zaristischen Absolutismus, dem bürokratischen Staat als einer fremden Macht, übernehme gegen geringe Pacht ein Stück Land zur notdürftigen Lebensfristung und sei im übrigen stolz "auf die erhalten Peitschenhiebe wegen Steuerdefraudation" ?03 Mochte nach allem die ständische Differenzierung der abhängigen Bevölkerung in den orientalisch-asiatischen Imperien noch so weit gehen - ihre Entwaffnung bzw. Entmilitarisierung im Zuge der chronischen Eroberungen bedeutete im Ganzen doch eine derart nachhaltige politisch-militärische Deklassierung, daß zwar auch hier der "reine Patrimonialismus" grundsätzlich zur "ständischen Stereotypierung,,304 gravitierte, aber eben nie die für den okzidentalen Patrimonialismus GASW, S. 189. Vgl. GASW, S. 82 f. und die Diagnose, daß die bürokratische Ordnung der antiken Großreiche (bis hin zum Imperium Romanum) nicht nur die ökonomische, sondern auch jede politische Initiative der Untertanen erstickt habe (ebd., S. 277). 304 Etwa in Gestalt der chinesischen "Literatokratie" oder der für die orientalischen und islamischen Imperien typischen Formen des Pfründenfeudalismus. - Auch an diesem Punkt ist die Diktion der Nachlaßfragmente inkonsistent. Während Weber etwa in der Rechtssoziologie von der die okzidentale Entwicklung gegenüber der orientalisch-asiatischen unterscheidenden Besonderheit des "ständischen Patrimonialismus" spricht (WG, S. 505), ordnet er im Nachlaßtext "Die drei reinen Typen der legitimen Herrschaft" die indischen und chinesischen Formen der Literatenverwaltung (Mandarinen, Brahmanen) ebenfalls dem ständischen Herrschaftstypus zu, deren lediglich reinste Form die "Adelsverwaltung", speziell der "Feudalismus", darstelle (vgl. GAWL, S. 479, 481). Die Widersprüchlichkeit erklärt sich zum einen aus der Mehrsinnigkeit des Signifikates "ständisch", mit dem Weber a potiori den durch Besitz und ritterliche Lebensführung ausgezeichneten FeudaladeI verbindet, was die durch exklusive Lebensführung, Erziehung, Bildung, soziale Ehre, ökonomischen und politischen Einfluß bestimmten Begriffe "Stand" und "ständische Lage" jedoch ebensowenig erschöpft (vgl. GARS I, S. 273; WG, S. 179 f.), wie es mit dem Typus der "ständischen Patrimonial302
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4. Okzidentaler Patrimonialismus und politische Rationalisierung
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charakteristische, auf ständischer Gewaltenteilung beruhende Strukturform entwickelte, die dort in engem Zusammenhang mit einer sehr spezifischen Entwicklung des "Feudalstaates" stand?05
4. Entwicklungsbahnen patrimonialer Herrschaft 11: Okzidentaler Patrimonialismus und politische Rationalisierung Fragt man nun nach den Entwicklungsfaktoren, die die patrimoniale Organisation der okzidentalen Staatenwelt vom Merowingerreich über die mittelalterlichen Monarchien bis zum frühneuzeitlichen absolutistischen Staat in ihren zwischen dem "ständischen" und "reinen" Typus oszillierenden Formen an die Schwelle des Durchbruchs zum modemen Anstaltsstaat geführt haben, so lassen sich bei Weber v.a. drei ausmachen: 1. der okzidentale Lehensfeudalismus und Ständestaat, mit dem 2. der Dualismus und Herrschaftskompromiß zwischen Imperium und Sacerdotium sowie 3. die Entwicklung und Ausbreitung der mittelalterlichen europäischen Stadt in engem Zusammenhang stehen?06 herrschaft" ohne weiteres in Deckung zu bringen ist. Wenn also der Patrimonialherrscher im Kampf gegen die Stände (primär den im Besitz der Verwaltungsmittel befindlichen Feudaladel) immer wieder auf "politisch verwertbare Schichten nichtständischen Charakters" ("Politik als Beruf', MWS 1117, S. 50; eigene Hervorhebung; auch GARS I, S. 271) zurückgreift, dann wird schon die vorgängige Kennzeichnung als "nichtständisch" der sozialen SteIlung der betreffenden Schichten (u. a. Kleriker und humanistische Literaten) nicht gerecht; vollends gilt das im Hinblick auf die von Weber andernorts ausdrücklich hervorgehobene Tatsache, daß die Appropriation politischer und ökonomischer Herrenrechte bei diesen Gruppen die Tendenz zur Ständebildung nachhaltig verstärke (vgl. WG, S. 180; es sei hier exemplarisch auf die ständische "Karriere" der mittelalterlich-feudalen Ministerialen verwiesen, einer Schicht von Patrimonialbeamten ursprünglich mindestens z. T. unfreier Herkunft und formell vollständiger Abhängigkeit vom Herrn, die schließlich überall in den freien Ritterstand aufsteigt. Vgl. WG, S. 595; Finer, History 11, S. 940, 942, 945; Hans Thieme, Feudalismus I, in: Handwörterbuch der Sozialwissenschaften, Bd. 3, Göttingen 1961, S. 506 ff., hier S. 508). Zum anderen ist die Inkonsistenz Folge des idealtypischen Charakters der Begriffsbildung, die eben auch Gradierungen der Merkmalsausprägung zuläßt. Die okzidentale Sonderstellung hat Weber deshalb in der jüngeren Herrschaftssoziologie durch den Begriff der "ständischen Gewaltenteilung" markiert (vgl. WG, S. 137), der in "Die drei reinen Typen der legitimen Herrschaft" lediglich als Paraphrase der ständischen Verwaltungsstruktur auftaucht (vgl. GAWL, S. 479). 305 In diesem Sinne Breuer, Herrschaftssoziologie (1991), S. 123. Ähnlich sieht das - im Anschluß an Weber - Otto Hintze, Weltgeschichtliche Bedingungen der Repräsentativverfassung, in: ders., Feudalismus - Kapitalismus, S. 68 ff., hier S. 93. Zum Begriff der "ständischen Gewaltenteilung" vgl. WG, S. 137. Zur Entwicklung des Ständestaates auf feudaler Grundlage vgl. WG, S. 637 f. Ausführlicher dazu Kap. III. 4. 306 V gl. hierzu die anders akzentuierte Interpretation bei Schluchter, Religion und Lebensführung 11, S. 382 ff., wo die okzidentale Sonderentwicklung in einem dreistufigen Transformationsprozeß nachgezeichnet wird. Die erste Transformation: "Päpstliche, feudale und städtische ,Revolution'" umfaßt die drei genannten Entwicklungen (ebd., S. 437 ff.). Im folgenden soll allerdings die Perspektive auf die rein politischen (nicht: religions-, kultur- oder
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III. Patrimonialismus und Rationalisierung
Hier kann es - wie schon bei den orientalisch-asiatischen Patrimonialreichen angesichts der ungeheuren Verwickeltheit und Komplexität der Ereignisse nur darum gehen, die erkennbaren Grundzüge der entwicklungsgeschichtlichen Argumentation herauszupräparieren. a) Der Patrimonialstaat im Mittelalter
Chronische fiskalpolitische Schwierigkeiten haben häufig - wie gesehen - die bürokratisierten patrimonialen Imperien des Orients und Asiens zu pfründenfeudalen Strukturanpassungen gezwungen, die hier allerdings durch immer erneute zentripetale "Injektionen" der geschichtsnotorischen Eroberungsvölker in der Richtung des reinen oder arbiträren Patrimonialismus umgelenkt wurden. Der grundlegende Sachverhalt, von dem jedes Verständnis der abweichenden okzidentalen Entwicklung ausgehen muß, ist die im Vergleich zu den orientalisch-asiatischen Imperien viel weitergehende sozio-politische Devolution?07 Bei aller gebotenen Vorsicht im Umgang mit Begriffen wie "Naturalwirtschaft" und "Verkehrswirtschaft,,308 scheint es dennoch richtig - wenn man an ihrem idealtypischen Sinn festhält - die frührnittelalterliche Wirtschaft durch den weitgehenden Zusammenbruch der antiken Verkehrswirtschaft (Handel) gekennzeichnet zu sehen, welche zunehmend durch den eigenwirtschaftenden Oikos bzw. germanisch-fränkischen Fronhof ersetzt wird und damit zur überwiegenden Naturalwirtschaft regrediert?09 Die ökonomische und politische Implosion des weströmischen Reiches im 4. und 5. Jh. hat Weber bereits in seinem frühen Vortrag über "Die sozialen Gründe des Untergangs der antiken Kultur,,310 in eindringlichen Worten beschrieben: im engeren Sinne: wirtschaftsgeschichtlichen) Bezüge der mittelalterlichen Ordnungskonfiguration fokussiert werden, da allein die Herausbildung des modernen Anstaltsstaats bzw. seiner eigenartigen Entstehungsbedingungen von Interesse ist. Unter dem speziellen Gesichtspunkt der westlichen Rechtsentwicklung schreibt Harold J. Berman der Kirche und dem Kirchenrecht seit der gregorianischen Reform des 11./12. Jh.s die "Vorreiterrolle" für die säkularen Revolutionen auf dem Weg der modernen Staatenbildung zu (Recht und Revolution. Die Bildung der westlichen Rechtstradition, Frankfurt a.M. 1995, 1. Teil: Die päpstliche Revolution und das kanonische Recht, S. 85 ff.; 2. Teil: Die Entstehung weltlicher Rechtssysterne, S. 439 ff.). Weiterhin dazu: Ste/an Breuer/ Huben Treiber/ Man/red Walter, Entstehungsbedingungen des modernen Anstaltsstaates. Überlegungen im Anschluß an Max Weber, in: Breuer /Treiber (Hg.), Entstehung und Strukturwandel, S. 75 ff. 307 Das hebt Breuer, Imperien, S. 242 ff., bes. 245 ff. sehr zu Recht hervor. 308 Schon Alfons Dopsch lehnt für die Karolingerzeit die Annahme ausschließlicher Naturalwirtschaft im Sinne der geschlossenen Fronhofs- oder Hauswirtschaft ab (Die Wirtschaftsentwicklung der Karolingerzeit, Teil 2, ND Darmstadt 31962, S. 186 ff. ("Handel und Verkehr"), 252 ff. ("Geldwirtschaft"», und Below, Der deutsche Staat, S. 338 f. Fn. 1 läßt dieses Urteil auch für die Merowingerzeit gelten. 309 Unter "Naturalwirtschaft" versteht Dtto Brunner, Feudalismus, S. 139 "eine wirtschaftliche Struktur, in der die Agrarwirtschaft überwiegt. Die Verkehrswirtschaft ist begrenzt und hat eine eigentümliche Gestalt, die noch nicht zu einem einheitlichen Geflecht von Marktbeziehungen und einem dementsprechenden Münzgeldumlauf gelangt ist."
4. Okzidentaler Patrimonialismus und politische Rationalisierung
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" Verschwunden ist das stehende Heer und das besoldete Beamtentum und damit - selbst dem Begriff nach - die Steuer. [ ... ] Verschwunden ist aber auch der interlokale Güteraustausch: die Fäden des Verkehrs zwischen den eigenwirtschaftlichen Zellen des Wirtschaftslebens sind gerissen [ ... ] Verschwunden ist die Stadt, - die Karolingerzeit kennt sie als spezifischen verwaltungsrechtlichen Begriff überhaupt nicht. Die Grundherrschaften sind Träger der Kultur [ ... ] Versunken ist mit dem Verkehr die Marmorpracht der antiken Städte und damit alles das, was von geistigen Gütern auf ihnen ruhte: Kunst und Literatur, die Wissenschaft und die feinen Formen des antiken Verkehrsrechts. Und an den Gutshöfen der Possessoren und Senioren ertönt noch nicht der Minnesang.,,3))
Schon die römischen Sklavenplantagen hatten der antiken Küstenkultur und ihren verkehrswirtschaftlichen Verbindungslinien ein naturalwirtschaftliches Fundament eingezogen, das mit zunehmender binnenländischer Kolonisation und dem Versiegen der ökonomisch existentiellen Sklavenzufuhr "seine zum Feudalismus drängende Struktur auch dem ursprünglich verkehrswirtschaftlichen Oberbau,,312 aufzwang. Die daraus hervorgehende primär natural wirtschaftliche Bedarfsdekkung des politischen Verbandes durch persönliche öffentliche Leistungspflichten führt im Okzident zur allmählichen Entfaltung des Lehensfeudalismus als politisches Organisationsprinzip, während im prinzipiellen Unterschied dazu nach Weber der Pfründenfeudalismus "regelmäßig eine Abwandlung geldwirtschaftlicher Finanzgebarung,,313 ist, bei der "primär fiskalische Zwecke des im übrigen patrimonialen (oft: sultanistischen) Abgabenverbandes des Herrn bestehen. ,,314 Die okzidentale Entwicklung seit dem Untergang des weströmischen Reiches läßt sich damit als Kreuzung zweier gegenläufiger Prozesse beschreiben: dem Zusammenbruch des Zentralstaats, seiner bürokratischen Verwaltungsorganisation, des stehenden Heeres und des Steuersystems auf der einen Seite, der äußerlichen Übernahme imperialer Formen ohne vergleichbare Verkehrs- und Kommunikationstechnik, fiskalische und personelle Ressourcen durch das relativ unentwickelte germanisch-fränkische Heerkönigtum auf der anderen. 315 An die Stelle der patrimonialbürokratischen Munizipalverwaltung trat die Grundherrschaft als wesentlicher Baustein der neuen Verwaltungsorganisation. Schon in der Spätphase 310 In der akademischen Gesellschaft in Freiburg 1896 gehaltener Vortrag (abgedr. in: GASW, S. 289-311). 311 GASW, S. 309 f. 312 GASW, S. 310; vgl. "Agrarverhältnisse", ebd., S. 190 ff. (Rom), bes. 229 ff. (Expansionsperiode); 271 ff. (Kaiserzeit); zu den se1bstdestruktiven Tendenzen des römischen - auf der Sklavenplantage beruhenden - Agrarkapitalismus vgl. "Soziologische Grundkategorien des Wirtschaftens", WG, S. 94 f. 313 WG, S. 152; vgl. ebd., S. 630. 314 WG, S. 151. 315 Vgl. Hintze, Feudalismus, S. 17, 27 f., 33, 46 f.; Marc Bloch, Feudalisrn, in: Encyc10paedia of the Social Sciences, Vol. V, New York 1951, S. 203 ff., hier S. 203; Joshua Prawer / Shmuel N. Eisenstadt, Feudalism, in: International Encyc10pedia of the Social Sciences, New York 1968, S. 393 ff., hier S. 394 f.; Mann, Autonomous Power, S. 119; Lattimore, Feudalism, S. 49 f.
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Hr. Patrimonialismus und Rationalisierung
des Imperiums hatten sich gerade im gallorömischen Gebiet Grundherrschaft (patrocinium), kliente1istische Beziehungen und ein Privatsoldatentum (Vasallität) ausgebreitet - Einrichtungen, an die die spätere Entwicklung des fränkischen Lehnswesens anknüpfen konnte. Das Merowingerreich ist im Kern ein "zusammengesetzter Staat" (Hintze), in dem die formell als Reichsbeamte auftretenden, faktisch mit weitgehenden politischen und patrimonialen Herrengewalten ausgestatteten Amtsträger den Dezentralisierungsprozeß vorantreiben. Das gilt besonders für die Inhaber des technisch als Königsamt, ideell als charismatische Sendung aufgefaßten Grafenamts. 316 Dem Streben der hohen Amtsaristokratie nach Unabsetzbarkeit und Erblichkeit ihrer Ämter seit dem 7. Jh. begegnen die Merowinger mit dem Versuch, den Amtsadel durch Vasallitätsbeziehungen an den Hof zu binden. Zu diesem Zweck stärken sie die Kompetenzen des Hausmeiers, eines ursprünglichen Hofbeamten, der fortan als Inhaber des patrimonialen Zentralamts die königliche Gewalt gegenüber den hohen Amtsträgern repräsentiert. Eine außerordentlich zweischneidige Herrschaftsstrategie, wie sich zeigen sollte, die einerseits den karolingischen Hausmeiern ermöglichte, durch die Kontrolle der Lehensvergabe die großen Vasallen an sich zu ziehen und die merowingische Dynastie zu beseitigen, andererseits Teilung und Zerfall des Karolingerreichs infolge des aus eigener politischer Erfahrung gebotenen Verzichts auf ein derartig machtvolles Großamt programmierte?17 Auf die Karolinger jedenfalls wird die Vergabe zahlreicher Benefizien (Lehen), insbesondere aus säkularisiertem Kirchenland, zurückgeführt. Diese Lehensvergabe sollte primär der Schaffung eines kriegstauglichen Reiterheeres dienen, mit dem man der islamischen Expansion begegnen konnte?18 Die Landvergabe durch König, Kirche, große Fürsten und sogar Freie an Vasallen und Aftervasallen verfolgte also zunächst allein den Zweck, die Selbstausrüstung zum Reiterdienst zu ermöglichen. 319 Aufgrund der veränderten militärischen Be316 Vgl. Hintze, Feudalismus, S. 16. Über den ursprünglich amtsrechtlichen Charakter der fränkischen Königsämter, speziell des Grafenamts, vgl. aus der für Weber maßgeblichen älteren Literatur: Brunner; Deutsche Rechtsgeschichte H, S. 77 ff. In auffälliger Weise gilt das auch - wie Weber zeigt - für die merowingischen Teilfürstentümer, Beispiele einer zunächst "rein patrimoniale[n] Auffassung der Fürstenstellung" (WG, S. 612), die nur im "Maß des Verfalls oder umgekehrt der Aufrechterhaltung ihres Amtscharakters" den Realitätsgehalt der postulierten Reichseinheit repräsentieren. 317 Vgl. WG, S. 638 f., 612; zu dem ganzen Vorgang: Brunner; Deutsche Rechtsgeschichte H, S. 12 f., 81 f. 318 Vgl. WG, S. 630; "Charakter der altgermanischen Sozialverfassung", GASW, S. 541 f. Den Zusammenhang von Lehensstaat und fränkischem Heerwesen hatte bekanntlich Heinrich Brunner zuerst behauptet (Der Reiterdienst und die Anfange des Lehnwesens, in: Zeitschrift für Rechtsgeschichte (GA), 8 (1887), S. 1 ff., bes. 21 ff.). Diese Auffassung gilt heute als widerlegt (vgl. Art. Lehen, Lehnswesen, Lehnrecht, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. V, München/Zürich 1991, Sp. 1807 ff., hier Sp. 1807). Eine Analyse der chronischen Einfälle von Sarazenen, Magyaren und Nordmännem in West- und Mitteleuropa findet sich bei Bloch, Feudalgesellschaft, S. 76 ff. 319 Vgl. WG, S. 630; "Die sozialen Gründe", GASW, S. 309. Hintze, Wesen und Verbreitung, S. 17 ff. hat zwischen militärischer, politischer und ökonomischer Funktion des Feudalismus unterschieden und nach dem jeweils vorwaltenden Aspekt die Epoche des okziden-
4. Okzidentaler Patrimonialismus und politische Rationalisierung
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dürfnisse und der intensivierten Landwirtschaft schieden die Bauern allmählich aus dem ehemaligen Volksheer aus, begaben sich häufig durch Kommendation in den Schutzbereich mächtiger weltlicher oder kirchlicher Grundherren und schufen auf diese Weise die ökonomische Grundlage des entstehenden Lehensfeudalismus?20 An die Stelle des germanisch-fränkischen "Heerbanns der freien Volksgenossen" trat also ein mit Benefizien (Land und zunehmend auch Ämter und daraus fließende Einkünfte) gegen Militärdienste ausgestattetes Reiterheer: "Wie bei Küstenstaaten oder geldwirtschaftlichen Binnenstaaten das Soldheer, so war bei naturalwirtschaftlichen Binnenreichen das Lehensheer, wo es primär an die Stelle des Volksheeres trat, Funktion einerseits der gestiegenen Inanspruchnahme durch die Erwerbsarbeit, andererseits des steigenden Umfangs des Machtgebiets.,,321
Von einer voll ausgebildeten feudalen Wehrverfassung im Sinne einer ständischen Differenzierung zwischen Rittern und Bauern, welche nur notfalls noch zur lokalen Landwehr aufgeboten werden,322 kann aber wohl erst im 11. / 12. Jh. die Rede sein. 323 Ebenso bereits unter den Karolingern greift das Lehnswesen von der Militär- auf die Staatsordnung über. Zuerst das mit dem Amt an die Vasallen vergebene Amtsgut, schließlich die Reichsämter selbst nehmen seit dem 9. Jh. Lehenscharakter an. Im Hinblick auf die staatliche Integration und die Stellung des Königtums zeitigte dieser Prozeß sowohl zentripetale wie zentrifugale Wirkungen. 324 Wahrend der talen Feudalismus in drei Phasen untergliedert. War bis zum 12. Ih. der militärische Faktor ausschlaggebend, wonach die mit dem Herrn durch persönliches Treue- und sachliches Kontrakt-Verhältnis verbundene Berufskriegerschaft wegen ihrer militärischen Qualifikation eine bevorrechtigte Stellung genoß, so mußte das Aufkommen von Soldheeren und stehenden Heeren in Verbindung mit einer veränderten Militärtechnik seit dem 13. Jh. einen Wandel der Feudalstruktur herbeiführen. Dies geschah, indem der Feudaladel vom 12.-16. oder 17. Ih. seine lokale Herrenstellung zur Steigerung seines politischen Gewichts - sei es in ständischkorporativer, sei es in landesfürstlicher Gestalt - nutzte. Seine privilegierte ökonomischsoziale Stellung in Grund- bzw. Gutsherrschaft vermochte er noch darüber hinaus bis zur französischen Revolution bzw. bis zur Auflösung der alten Agrarverfassung im 19. Ih. zu behaupten (vgl. ebd., S. 22 f.). 320 Vgl. Hintze, Feudalismus, S. 19 f. 321 WG, S. 630; zu dieser "feudalen Wehrverfassung" als Entwicklungstendenz der zerrütteten Fiskalverwaltung schon der spätrömischen Zeit vgl. GASW, S. 308 f.; über die relative Entmilitarisierung der Bauern und die (erst) aus einer faktischen Besitzdifferenzierung im Lauf der Zeit resultierende ständische Differenzierung zwischen Krieger und Ackerbauer vgl. die kurzen Bemerkungen in "Charakter der altgermanischen Sozialverfassung", ebd., S. 538, 541 f. 322 Vgl. Otto Brunner; Europäisches Bauerntum, in: ders., Verfassungs- und Sozialgeschichte, S. 199 ff., hier S. 202 f. 323 Vgl. Finer, History II, S. 876 ff.; Prawer/ Eisenstadt, Feudalism, S. 397; allgemein zum Zusammenhang zwischen mittelalterlicher Militärtechnik und sozialem Wandel Lynn White, Medieval Technology and Social Change, Oxford 1962. 324 Die wesentlich auf die handelnden Akteure (Lehnsherren und Vasallen) und auf die allgemeinen soziokulturellen Handlungsbedingungen zurückzuführenden ambivalenten Entwicklungstendenzen des Lehnswesens hebt Otto Brunner; Feudalismus, S. 153 f. hervor.
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III. Patrimonialismus und Rationalisierung
Feudalismus in Frankreich und England aus sehr unterschiedlichen Gründen langfristig die staatliche Integration beförderte und dem Königtum in die Hände spielte,325 hat das Lehnswesen in Deutschland auf Reichsebene ebenso staatszersetzend wie auf der Ebene der Territorien staatsbegründend gewirkt. 326 Die seit dem 13. und frühen 14. Jh. aufkommenden Soldheere verdrängten zusehends die schweren, inflexiblen und kostspieligen feudalen Reiteraufgebote. Der Lehensfeudalismus, der als Rechtssystem im 12./13. Jh. seine entscheidende Prägung erhielt, ging in eine dem Schwerpunkt nach politische Phase über. Die politischen und ökonomischen Lehnsobjekte wurden in irgendeiner Form rechtlich fixiert, das Lehensangebot u. a. mittels Durchsetzung des Leihezwangs gesichert, die Lehensnachfrage u. U. durch Vergesellschaftung der Lehensinhaber zu einer ständischen "Rechtsgenossenschaft" monopolisiert. 327 Denn "der Feudalismus im technischen Sinn des Wortes ist in seiner Wurzel ständisch orientiert und steigert sich in diesen seinen Charakter immer weiter hinein. ,,328 Sehr verschieden konnten dann die Wege des politischen Feudalismus sein, je nachdem ob Königtum oder große Vasallen (zu denen zunehmend auch - neben dem hohen Klerus - Städte treten) das Feudalsystem zu ihren Gunsten nutzten. 329 325 Wahrend das starke normannische Königtum eine der deutschen und französischen Entwicklung vergleichbare Feudalisierung der Ämter verhinderte (vgl. Hintze, Typologie der ständischen Verfassungen, in: ders., Feudalismus - Kapitalismus, S. 48 ff., hier S. 63), kam eine zentralistisch orientierte lehnsrechtliche Regelung der Doppel- und Mehrfachvasallität (das sog. ligische Lehnrecht: Treuevorbehalt gegenüber dem königlichen Lehnsherrn) der Königsgewalt in Frankreich ebenso zugute wie das Fehlen eines dem deutschen Leihezwang vergleichbaren Rechtsinstituts. Ledige Fahnlehen konnten dadurch an die Krone zurückfallen, das Krongut vermehren und den königlichen Einfluß stärken. Die Zentralisierung und Rationalisierung der Staatsverwaltung ging in Frankreich am Ende des 12. Jh.s von den königlichen Domänen aus; vgl. WG, 631 ff., 636; Bloch, Feudalism, S. 208; Finer; History 11, S. 900 ff., bes. 905, 911 (England), 923 ff., bes. 927, 933, 946 (Frankreich); zur französischen Entwicklung auch Otto Brunner; Die Freiheitsrechte in der altständischen Gesellschaft, in: ders., Verfassungs- und Sozialgeschichte, S. 187 ff., hier S. 194 ff. Die Existenz eines von Below, Heinrich Mitteis u. a. als mitbedingend für die zentrifugale Wirkung des Lehnrechts in Deutschland betrachteten "Leihezwangs" wird in der neueren Forschung bestritten (vgl. Art. Leihezwang, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. V, Sp. 1857; Wemer Goez. Der Leihezwang, Tübingen 1962). 326 Nach Hintze, Typologie der ständischen Verfassungen, S. 61 hat das Lehnswesen "einmal den Untertanenverband des Reiches aufgelöst und die Entstehung der Landesfürstentümer ermöglicht. Aber innerhalb dieser selbst hat es dann in der Hand kräftiger und kluger Fürsten als eine Handhabe zur Zähmung des Adels und zu seiner Eingewöhnung in den Staatsdienst gedient. Allerdings ist die jüngere Vasallenschaft der Territorien seit dem 13. Jh. durch die Schule der fürstlichen Ministerialität hindurchgegangen, die durch die Institution des Rittertums sich in einen neuen Vasallenstand hinüberbildete. Diese neuen Vasallen sind später als Beamte und Offiziere von großer Bedeutung für die deutschen Länder gewesen, namentlich auch für Preußen." 327 Vgl. WG, S. 632 f., 149. 328 WG, S. 633 (eigene Hervorhebung). Unmißverständlich deutlich wird das im Lehnrecht des Sachsenspiegels, der die Rangordnung der sechs ritterbürtigen, also lehnsfähigen Stände in der sog. Heerschildordnung abschließend aufführt. Vgl. Finer; History 11, S. 945.
4. Okzidentaler Patrimonialismus und politische Rationalisierung
187
In England setzte nach der Periode des zentralen normannischen Lehensstaates seit der Magna Charta eine ständisch-korporative Entwicklung ein, aus der - nach dem kurzzeitigen absolutistischen Intermezzo unter den Tudor- und Stuart-Dynastien des 16. /17. Jh.s - im Gefolge der Glorious Revolution die parlamentarische Monarchie hervorging. 33o In Frankreich führte die Entwicklung nach einer Phase des Zerfalls und der zunehmenden feudalen Zersplitterung seit dem 12. Jh. zum Wiederaufstieg des kapetingischen Königtums. Die Errichtung einer starken Zentralgewalt gelang durch die Reorganisation des Lehenssystems und eine wirksame Verwaltungsrationalisierung auf der Grundlage der Krondomänen bis hin zur weitgehenden Verdrängung der Stände durch das absolutistische Königtum im 17. Jh. 331 Deutschland wiederum erlebte nach dem Zerfall des Karolingerreichs (911), einer weitgehenden Auflösung seiner staatlichen Strukturen im 10. und 11. Jh. und der kurzzeitigen Aufrichtung eines relativ kräftigen Feudalkönigtums unter den Staufern (1138 - 1268) die Konsolidierung der landesfürstlichen Gewalt gegenüber einer dauernd geschwächten Krone, die ihren rechtsförmlichen Niederschlag in der Goldenen Bulle (1356) fand. 332 Mit ausschlaggebend für die Schwäche der Zentralgewalt war nach lange herrschender Auffassung der auch für die Fahnlehen durchgesetzte Leihezwang, d. h. die Verpflichtung des kaiserlichen Oberlehensherrn zur Wiederverlehnung von Fahnlehen nach Jahr und Tag?33 Erb329 Über den Zentralisierungsprozeß, durch den es Philipp IV. (1285 - 1314) nach einer seit dem 10. Jh. anhaltenden Epoche feudaler Dezentralisierung gelang, in Frankreich das Königtum zu festigen und zwar nicht zuletzt unter tätiger Mithilfe seiner römisch- und kanonischrechtlich geschulten Kronjuristen (Legisten), bemerkt Finer, History II, S. 927: "But [ ... ] the legists were equally skilIed in tuming feudal law itself against the feudatories, so that while the barons in England were successfully turning their feudal duties into rights against the Crown, in France the king was turning his feudal duties into rights against his barons." 330 Vgl. hierzu Hintze, Typologie der ständischen Verfassungen, S. 53 ff., 63 f.; ders., Repräsentativverfassung, S. 82 ff.; zum Feudalkönigtum in England allgemein: Finer, History 11, S. 899 ff. 331 Vgl. Hintze, Typologie der ständischen Verfassungen, S. 58 f., OUo Brunner, Freiheitsrechte, S. 194 ff. Zur Geschichte des feudalen Königtums in Frankreich vgl. Finer, History 11, S. 919 ff. 332 Die Bulle bestätigt das Recht des Kurfürstenkollegiums zur Wahl des Königs, statuiert für das Verfahren die einfache Mehrheit des Sieben-Männer-Kollegiums, regelt die Regentschaft im Falle einer Vakanz, konfirmiert und erweitert aber v.a. die Vorrechte der Kurfürsten: sie haben das Recht zum Burgenbau, das Münzrecht, das Steuerrecht, das privilegium de non appellando; Verschwörungen gegen sie gelten fortan als Hochverrat; sie sollen sich einmal jährlich als höchstes Beratungsgremium des Kaisers versammeln; Städtebündnisse und die die städtischen Autonomiebestrebungen tragenden Innungen werden verboten; vgl. Ernst Forsthoff, Deutsche Verfassungsgeschichte der Neuzeit, Stuttgart u. a. 41972, S. 10 f. 333 Schon Heinrich Brunner - wie daran anschließend Below, Der deutsche Staat, S. 250 f., 251 Fn. 1 und WG, S. 636 - sah in diesem Rechtssatz, gerade im Vergleich zur französischen Verfassungsentwicklung "eine Schranke, die dem deutschen Königtum den Weg versperrte, durch Einziehung heimfallender Fahnlehen der königlichen Gewalt das Übergewicht über die Territorialgewalten zu verschaffen, wie dies dem französischen Königtum hinsichtlich der ~roßen Kronlehen gelang" (Grundzüge der deutschen Rechtsgeschichte, München/Leipzig 1913, S. 140). Zur umstrittenen Rolle des Leihezwangs siehe oben.
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III. Patrimonialismus und Rationalisierung
lichkeit und schließlich: Veräußerlichkeit der Lehen, die für Volllehen zunehmend die Regel werden, betonen das dingliche Moment der Lehensbeziehung und bedeuten in Verbindung mit der gängigen Praxis von Mehrfachlehen (d. h. Mehrfachverpflichtungen) eine weitgehende Entwertung der politisch nutzbaren, ursprünglich streng persönlichen Treuebeziehung. So bildet sich der auf vertikaler Sozialintegration (hierarchischen und synallagmatischen persönlichen Bindungen) beruhende "Personenverbandsstaat,,334 seit dem 13. Jh. um in eine dualistische Konfiguration von Herrscher und horizontal integrierten Ständekörperschaften?35 V.a. der außerordentliche Finanzbedarf der Krone für Kriegszwecke (Besoldung und Ausrüstung) ließ die mit ihr konkurrierenden Ständeversammlungen entstehen. Sowohl in England als auch in Frankreich gingen aus ursprünglichen Beratungskörperschaften der Kronvasallen die sog. Parlamente hervor, die anfänglich legislative, exekutive und judikative Befugnisse besaßen. Während in England allerdings das Parlament seine gesetzgebenden Kompetenzen behielt und ausweitete, ist es für den Aufstieg des Königtums in Frankreich entscheidend gewesen, daß das Parlament schließlich primär als Gerichtshof fungierte. 336 Der okzidentale politische Verband des Mittelalters ist für Weber "das wichtigste und einzige voll entwickelte Beispiel des ,ständischen' Patrimonialismus".337 "Alle, Verwaltung' ist auf Schritt und Tritt: Verhandlung, Feilschen, Paktieren über ,Privilegien', deren Bestand sie feststellen muß, und sie verläuft daher in der Art eines Gerichtsverfahrens, scheidet sich von der Rechtspflege formell nicht. ,,338
Bildete die lehensmäßige Verwaltung schon an sich eine Sonderform des ständischen Patrimonialismus im Sinne der faktischen Teilung der Verwaltungsmittel zwischen Patrimonialherr und Verwaltungsstab, 339 so schuf der sog. Ständestaat340 334 So der von Theodor Mayer eingeführte Begriff, der in der idealtypischen Entgegensetzung zum "institutionellen Flächenstaat" die ältere Unterscheidung von "Feudalstaat" und "bürokratischem Staat" ersetzt hat (vgl. Theodor Mayer, Die Ausbildung der Grundlagen des modernen deutschen Staates im hohen Mittelalter, in: Historische Zeitschrift, 159 (1939), S. 457 ff., bes. 463 ff.; Otto Brunner, Freiheitsrechte, S. 188 f.). Das Kompositum kann mit Weber gut illustriert werden, der den Lehensfeudalismus u. a. dadurch gekennzeichnet sieht, daß "der politische Verband [ ... ] völlig ersetzt (ist) durch ein System rein persönlicher Treuebeziehungen zwischen dem Herrn und seinen Vasallen, diesen und ihren weiterbelehnten (subinfeudierten) Untervasallen und weiter den eventuellen Untervasallen dieser" (WG, S. 149). Freilich ist die "lehensmäßige Verwaltung" streng genommen mit dem Weberschen Staatsbegriff nicht zu fassen, da ihr der für den Staat konstitutive Territorialitätsbezug fehlt; vgl. WG, S. 636; Finer, History I, S. 5. 335 Vgl. Prawerl Eisenstadt, Feudalism, S. 398. 336 Vgl. WG, S. 390,485; Hintze, Typologie der ständischen Verfassungen, S. 48 ff., bes. 53 ff.; Finer, History 11, S. 914. 337 Dies ist im Lichte der dazu gemachten einschränkenden Bemerkungen zu lesen. 338 WG, S. 485. 339 Vgl. WG, S. 135. 340 Über die zeitgenössische Literatur zum deutschen Ständestaat vgl. Georg v. Below, System und Bedeutung der landständischen Verfassung, in: ders., Territorium und Stadt. Auf-
4. Okzidentaler Patrimonialismus und politische Rationalisierung
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eine akuten wie neuen Verwaltungsaufgaben gewachsene Entscheidungsstruktur, in der die korporativ zusammengefaßten Gewaltenträger mit dem Patrimonialherrn zu einem "perennierenden politischen Gebilde" vergesellschaftet waren. "Der Ständestaat entstand, nachdem einmal die Zusammenfassung der Lehensträger zu einer Rechtsgenossenschaft vorhanden war, aus sehr verschiedenen Anlässen, dem Schwerpunkt nach aber als eine Form der Anpassung der stereotypierten und daher unelastischen Lehens- und Privilegiengebilde an ungewöhnliche oder neu entstehende Verwaltungsnotwendigkeiten...341
Weder Lehensverband noch Ständestaat - das betont Weber nachdrücklich sind notwendige Mittelglieder auf dem Weg vom Patrimonialstaat zum modemen Anstaltsstaat, dem sie vielmehr strukturell eher entgegenstehen. 342 Zwar kann unter den Bedingungen unentwickelter Verkehrs- und Kommunikationstechnik sowie fehlender ökonomischer und politisch-militärischer Ressourcen der Zentrale die lehensmäßige Organisation des politischen Verbandes zur Aufrechterhaltung der äußeren Reichseinheit beitragen - allerdings um den Preis einer weitgehenden, sätze zur deutschen Verfassungs-, Verwaitungs- und Wirtschaftsgeschichte, München I Berlin 21923, S. 53 ff.; für die neuere Forschung noch immer maßgeblich sind die bereits erwähnten großen Untersuchungen Otto Hintzes und daneben Otto Brunner; Land und Herrschaft, bes. S. 397 ff., 413 ff.; zur neueren Literatur: Gianfranco Poggi, The Development of the Modem State, London 1978, S. 157 ff. 341 WG, S. 637. 342 In die Richtung einer soziologischen Generalisierung dieser Art, also: die Epochen des Feudalismus und Ständestaates als generelle Durchgangsstufen zu moderner politischer Organisation, gingen aber seinerzeit Wilhelm Wundt (V6Ikerpsychologie. Eine Untersuchung der Entwicklungsgesetze von Sprache, Mythus und Sitte, Bd. 8: Die Gesellschaft, Teil 2, Leipzig 21929, S. 292 ff., bes. 300-305) und Franz Oppenheimer (System der Soziologie, Bd. 2: Der Staat, Jena 1926, S. 506 ff., 560 ff.) -letzterer zumindest für die von ihm sog. Landstaaten, im Unterschied zu den Seestaaten. Diese Auffassung ist von Otto Hintze scharf angegriffen worden (Repräsentativverfassung, S. 69 ff.; ders., Soziologische und geschichtliche Staatsauffassung. Zu Franz Oppenheimers System der Soziologie, in: ders., Soziologie und Geschichte. Gesammelte Abhandlungen zur Soziologie, Politik und Theorie der Geschichte, hg. von Gerhard Oestreich, Göttingen 21964, S. 239 ff., hier S. 294 ff.). Als Vor- bzw. Übergangsstufe zum modemen Anstaltsstaat - der folglich zugleich den begrifflichen Maßstab für Staatlichkeit abgibt - hat Heinrich Mitteis den feudalen Personenverbandsstaat des frühen und hohen Mittelalters sowie den frühneuzeitlichen okzidentalen Ständestaat interpretiert (Der Staat des hohen Mittelalters. Grundlinien einer vergleichenden Verfassungsgeschichte des Lehnszeitalters, Weimar 41953, bes. S. 19,67,424,434). Andere Autoren haben dagegen die Fortexistenz der Stände selbst in der Epoche ihrer relativen Bedeutungslosigkeit während der Herrschaft des Absolutismus betont und ihre verfassungsgeschichtlich konstitutive Rolle durch die Einberufung der französischen Generalstände 1789 - nach einer fast zweihundert Jahre währenden Unterbrechung - exemplarisch bestätigt gesehen; vgl. Otto Brunner; Vom Gottesgnadentum zum monarchischen Prinzip. Der Weg der europäischen Modeme seit dem hohen Mittelalter, in: ders., Verfassungs- und Sozialgeschichte, S. 160 ff., hier S. 170 ff., 185; ders., Freiheitsrechte, S. 188 ff., 197; Fritz Hartung, L'etat c'est Moi, in: Historische Zeitschrift, 169 (1949), S. 1 ff., hier S. 29 f. Wie das entwicklungsgeschichtliche Verhältnis von Lehensstaat, Ständestaat und modernem Staat im einzelnen zu bestimmen ist, hängt wesentlich davon ab, ob man den Akzent stärker auf die Fürsten- oder die Volkssouveränität, den Anstaits- oder den Repräsentationsgedanken legt.
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III. Patrimonialismus und Rationalisierung
nicht sach-, sondern personenbezogenen Zersplitterung der Staatsgewalt, einer "systematischen Dezentralisation der Herrschaft,,?43 Im Ständestaat teilen sich ständische Korporationen (Reichs- bzw. Landstände; Adel, Klerus, Städte) und Territorialfürsten oder Könige in die Ausübung der Staatsgewalt, was einer monokratischen Leitung des politischen Verbandes und der Monopolisierung der Herrschaftsmittel - wie sie den modernen Anstaltsstaat auszeichnen - zunächst ebenso den Weg eher verlegt als ebnet. Auch Lehnswesen und Ständestaat selbst stehen in keinem notwendigen historischen Folgeverhältnis - wie besonders Otto Hintzes Untersuchungen zum Feudalismus und zum Ständewesen gezeigt haben. 344 Andererseits finden sich nach Weber schon in einfacheren Patrimonialverwaltungen Ansätze echter Bürokratie, und sind überhaupt die Grenzen zwischen patrimonialem und bürokratischem Amt fließend, ist ihre Unterscheidung prinzipiell nur durch den Vergleich von Ämterformen, Amtsausübung und -auffassung möglich. "Allerdings aber sind der voll entwickelte Ständestaat sowohl wie die voll entwickelte Bürokratie allein auf europäischem Boden ursprünglich gewachsen [ ... ]. ,,345 Über das Maß der schon unter lehensmäßiger Verwaltung bestehenden Gewaltenteilung (im Sinne der Konkurrenz subjektiv berechtigter Privilegienträger) hinaus konstituiert den Ständestaat eine förmliche "ständische Gewaltenteilung". Weber definiert sie als Zustand, bei dem " Verbände von ständisch, durch appropriierte Herrengewalten Privilegierten durch Kompromiß mit dem Herrn von Fall zu Fall politische oder Verwaltungssatzungen (oder: beides) oder konkrete Verwaltungsanordnungen oder Verwaltungskontrollmaßregeln schaffen oder eventuell selbst, zuweilen durch eigene Verwaltungsstäbe mit, unter Umständen, eigenen Befehlsgewalten, ausüben. ,,346 WG, S. 631. Vgl. Hintze, Typologie der ständischen Verfassungen, S. 48 ff.; ders., Repräsentativverfassung, S. 74, 105. Feudalismus in seinen verschiedenen Formen ist nach Hintze - im Unterschied zu Weber - eine universelle Erscheinung, während die ständestaatliche Organisation eine okzidentale Sonderentwicklung darstellt. Demnach wurde die Feudalstruktur im kulturvergleichenden Maßstab ebenso wenig immer von einer "ständestaatlichen" abgelöst (in Japan und der Türkei beispielsweise nicht), wie (lehens-)feudale Verbände den ständisch-korporativen politischen Verbandsformen des Okzidents notwendigerweise vorausgegangen sind (so haben z. B. Polen und Ungarn ein eigentliches Lehnswesen nicht oder nur in rudimentären, aus Deutschland rezipierten Formen gekannt; vgl. auch Art. Lehen, Lehnswesen, Lehnrecht, Sp. 1221 f.). 345 WG, S. 638, auch S. 137, 166 Erläuterungspunkt 2. Die These, daß nach "Webers Auffassung vor jedem Dynamismus eine relativ feudale oder zumindest dezentralisierte Struktur etabliert sein (mußte)" (Mann, Macht I, S. 283), ist problematisch. Gewiß haben in Webers Darstellung Lehensverband und Ständestaat für die okzidentale Entwicklungsgeschichte kaum zu überschätzende Bedeutung. Doch historische Entwicklung findet auch in den orientalischen Imperien statt, deren Dynamik gerade in ihren dezentralisierten, pfründenfeudalen Entwicklungsstadien sich zu erschöpfen droht und allein durch rekursive zentripetale Schübe aufrechterhalten wird. Freilich bleibt sie im patrimonialen Zyklus gebunden. Webers Idealtypen sind eben, namentlich in der älteren Herrschaftssoziologie, weit weniger statisch als Mann unterstellt. 346 WG, S. 137. 343
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Daß die immer weitere Ausdehnung der fürstlichen Verwaltung den Aufbau eines bürokratischen Apparats erforderlich macht, dadurch die ständestaatliche Ordnung allmählich untergräbt und zur Renaissance eines "reinen" Patrimonialismus führt, daß die Art der neu übernommenen Verwaltungsaufgaben "zu Dauerbehörden, festen Kompetenzen, Reglements und Fachqualifikation" führen, damit aber die Verwaltungsorganisation immer mehr dem ,,reinen Bürokratismus" annähern, ist hier vorerst nicht weiter zu verfolgen. 347 Allerdings war der moderne Anstaltsstaat keineswegs nur eine paradoxe oder historisch zuflillige Konsequenz der feudalen und ständestaatlichen Verbandsformen. Diese haben vielmehr der für die anstaltliche Organisation entscheidenden formalen Rechtsrationalisierung (konstitutionelle Leitung des politischen Verbandes, Gesetzmäßigkeit der politischen Verwaltung, Rechtsgleichheit der politisch Beherrschten) wichtige Impulse gegeben. Das betrifft zunächst den allgemeinen Status des Rechts im okzidentalen Mittelalter. Das historische Substrat des bereits besprochenen Zusammenhangs von Herrschaft und Recht348 ist die wachsende Bedeutung des politischen Verbandes auf dem Gebiet der Rechtsbildung und Rechtsprechung. Am ständischen Patrimonialismus des okzidentalen Mittelalters (Lehensfeudalismus) läßt sich dieser Zusammenhang schlaglichtartig beleuchten. Unter den herkömmlichen personalen Rechtsgemeinschaften der germanischen Früh- und Völkerwanderungszeit und gegen sie kann sich der politische Verband erst allmählich als autonomer Rechtsverband herauslösen. 349 Es bleibt aber besonders auf dem Kontinent bei der Koexistenz einer Mehrzahl selbständiger Sonderrechtsgemeinschaften, die eine wichtige Voraussetzung für die spätere ständestaatliche Epoche ist und hier erst durch den frühneuzeitlichen Absolutismus beseitigt wird, während die Entwicklung in England seit dem 11. Jh. geradezu umgekehrt verläuft. 35o Bereits das in germanisch-fränkischer Zeit geltende "Volksrecht" und der funktional gewaltenteilige Rechtsgang ("dinggenossenschaftliche Justiz,,)351 347 Vgl. WG, S. 637 ff., "Politik als Beruf', MWS 1/ 17, S. 39 ff. Die beiläufigen Ankündigungen einer näheren Erörterung des (okzidentalen) Ständestaates (vgl. WG, S. 638, 137, 161 f.) sind von Weber nicht mehr eingelöst worden. Auf diesem Gebiet hat Otto Hintze in der Tradition Webers Pionierarbeit geleistet. 348 Begrifflich vermittelt über die Kategorien der Legitimitätsgeltung (normative Struktur der Herrschaft) und der Gewaltsamkeit (Zwangsstruktur des Rechts), siehe oben Kap. III. 2. b). 349 Vgl. WG, S. 418. 350 Vgl. WG, S. 434 f., 438. Die Stärke der königlichen Zentralgewalt ist das entscheidende Moment. Ihr relatives Gewicht sinkt in England seit dem 13. Jh., sie steigt dagegen auf dem Kontinent, zuerst in Frankreich. 351 Vgl. WG, S. 454 f.; aus der zeitgenössischen rechtsgeschichtlichen Forschung, an die Weber anschließt, z. B. Brunner, Deutsche Rechtsgeschichte I, S. 149 ff.; 11, S. 216 ff.; zur Entwicklung der fränkischen Gerichtsverfassung, speziell der Scabinenverfassung (des Schöffenamtes als Königsamt im 9. Jh.), auch Sohm. Reichs- und Gerichtsverfassung, S. 372 ff. Eine bereits stark rationalisierte Form dieser prozessualen Gewaltenteilung bieten der altrörnische Legisaktionen- und der spätrepublikanische Formularprozeß, bei dem der prozeßleitende und -instruierende Magistrat (Prätor, Ädil) sowie ein Privatrichter oder eine Richterbank als Vertreter der politischen Gewalt in einem zweistufigen Verfahren zusarnmen-
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haben dem mit der wachsenden Königsrnacht zunächst ergänzend, immer stärker aber konkurrierend und substituierend eingreifenden System des "Königs"- bzw. "Amtsrechts" wirksame Schranken gezogen. Aus politisch-militärischen und verwaltungstechnischen Gründen war das Königtum nach dem Zerfall des Karolingerreichs gezwungen, diese Autonomie zu respektieren, was umgekehrt die Entfaltung des okzidentalen Genossenschafts- und Körperschaftsrechts und die kapitalistischen Assoziationsformen erst ermöglichte?52 Wie schon die Rechtskodifikationen der germanischen Stammeskönigtümer zwischen dem 5. und 7. Jh. als freie Vereinbarung (pactus) zwischen der Amtsgewalt auf der einen, der Ding- bzw. Wehrgemeinde auf der anderen Seite begriffen wurden,353 beruhte auch der Lehensnexus auf Kontrakten und Gewaltenteilung?54 Der "zweiseitige Vertrag", der die Beziehungen zwischen Lehnsherren (vom König abwärts) und Vasallen juristisch fixiert, ist das, "was die feudale Struktur gegenüber der reinen, auf dem Nebeneinanderstehen der beiden Reiche der Gebundenheit durch die Tradition und appropriierte Rechte einerseits und der freien Willkür und Gnade andererseits beruhenden, Patrimonialherrschaft einem mindestens relativ ,rechtsstaatlichen' Gebilde annähert. Der Feudalismus bedeutet ,Gewaltenteilung' .,,355
Grundsätzlich ist festzuhalten, daß der mittelalterliche Herrscher, besonders in seinen Lehensbeziehungen, dem Recht unterstand. Die Durchsetzung oder Wiederherstellung des Rechts legitimierte die Anwendung ,rechter Gewalt' auch gegen den treubrüchigen Herrscher?56 Seine Rechte wie die der von ihm belehnten nachwirken; vgl. etwa Mario Bretone, Geschichte des römischen Rechts. Von den Anfangen bis zu Justinian, München 1992, S. 72 ff., 100 f., 102 ff., 395 f. 352 Vgl. WG, S. 450 f., 412, 438. Der Patrimonialherrscher war "in aller Regel militärisch derart in Anspruch genommen und verfügte so wenig über einen rationalen, von ihm abhängigen Verwaltungsapparat zur Kontrolle seiner Untergebenen, daß er von deren Gutwilligkeit abhängig war und auf ihre Mitwirkung bei der Wahrung seiner eigenen Ansprüche, damit aber auch [auf die Wahrung] der traditionellen oder usurpierten Gegenansprüche der von ihm Abhängigen angewiesen blieb" (ebd., S. 438). 353 Vgl. WG, S. 400, 484 f. Nur das kontraktuelle Moment stempelt die "Satzung", mag sie auch vom König initiiert sein, zum "Volksrecht"; vgl. Brunner, Deutsche Rechtsgeschichte I, S. 277 f., 287. 354 Vgl. WG, S. 400, 634; "Die drei Typen der legitimen Herrschaft", GAWL, S. 479, 481. 355 WG, S. 634. 356 Vgl. die klassische Studie von Fritz Kern, Gottesgnadentum und Widerstandsrecht im früheren Mittelalter. Zur Entwicklungsgeschichte der Monarchie, Leipzig 1914, bes. S. 140 ff., 161 ff. Die Christianisierung des germanischen Sakralkönigtums hatte an dieser "Gewaltbegrenzung" bedeutenden Anteil. Die Unterwerfung des mittelalterlichen Königtums unter das göttliche Recht sieht Finer in der Tradition des jüdischen Königtums, das in seiner priesterköniglichen wie säkularen Variante durch die Idee der "lirnited monarchy" gekennzeichnet sei (History I, S. 26, 239, 254, bes. 271 ff.; 11, S. 862 ff.; vgl. GARS III, S. 120 ff., 196 ff., 283 ff.). Die Wirksamkeit solcher ideologischer Schranken hing freilich eng mit der Existenz oder auch dem Fehlen ,prozeduraler' bzw. ,konstitutioneller' Kontrollmechanismen zusammen. So waren Kirche, Lehnswesen und autonome Städte wesentliche Bedingungs-
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geordneten Herrschaftsträger gehörten andererseits der jeweils ganz persönlichen Rechtssphäre an. Prärogativen und Privilegien waren "subjektive Rechte" in einem von dem modernen spezifisch verschiedenen Sinn. 357 Sie bestimmten den Status der Inhaber in ihren Gemeinschaften nicht anders als es die Stammesrechte der Volksrechtsperiode und noch die Verbandsrechte der spätmittelalterlichen Ständekorporationen taten. Als "Status-Kontrakte" (gegenüber den heute auf dem Gebiet des Privatrechts üblichen "Zweck-Kontrakten") bezeichnet daher Weber ,jene urwüchsigen Kontrakte, durch welche z. B. politische oder andere persönliche Verbände, dauernde oder zeitweilige, oder Familienbeziehungen geschaffen wurden", weil und soweit sie inhaltlich auf "eine Veränderung der rechtlichen Gesamtqualität, der universellen Stellung und des sozialen Habitus von Personen" hinzielten. 358 Nun kann man solches auf dem Prinzip der Rechtspersonalität beruhendes "Privilegrecht" als historische Vorstufe der modernen Konzeption des "subjektiven Rechts" bzw. - mit Blick auf die einzelnen Personen oder Verbänden übertragenen politischen Hoheitsrechte - des "subjektiven öffentlichen Rechts" betrachten. 359 Auch wird die Auseinandersetzung um bestehende Privilegien in einem rechtsförmigen Verfahren ausgetragen, was den Verfassungskompromiß im konstitutiofaktoren für die tatsächliche Entwicklung der Königsgewalt im Mittelalter; vgl. hierzu auch Susan Reynolds, Kingdoms and Cornrnunities in Western Europe, 900-1300, Oxford 1984, S. 21 f., 45 ff., 328 f. Zu den sakralen und christlichen Grundlagen des Königtums vgl. Bendix, Könige oder Volk I, S. 43 ff. Die vereinzelt bis ins 18. Jh. fortdauernde Wirkung magisch-sakraler Elemente in der Königsidee hat Marc Bloch in seiner großen Studie über das englische und französische Königtum herausgearbeitet (Die wundertätigen Könige, München 1998). Ouo Brunner, Gottesgnadentum, S. 160 ff. hat auf die verfassungsgeschichtlich sehr wichtigen Unterschiede der Gottesgnadentumsvorstellungen im Hochmittelalter gegenüber denen des frühneuzeitlichen, des aufgeklärten und des Absolutismus der Restaurationsepoche aufmerksam gemacht; vgl. Finer, History I, S. 273; III, S. 1262 f. 357 Vgl. WG, S. 388, 400, 428, 432 und ebd., S. 636: "Wie die einzelnen Lehen- und Pfründenbesitzer und die sonstigen Inhaber kraft fürstlicher Verleihungen appropriierter Gewalten diese kraft ihres verbürgten ,Privilegs' ausüben, so gilt auch die dem Fürsten verliehene Macht als dessen persönliches, durch die Lehens- und sonstigen Gewaltträger anzuerkennendes und zu verbürgendes ,Privileg', als seine ,Prärogative'." 358 WG, S. 401. Die Transfonnation von familial gefacbten Statusverhältnissen zu freien Zweckvereinbarungen hatte schon Henry Sumner Maine als Signum der modernen Rechtsentwicklung ausgemacht (Ancient Law. Its Connection with the Early History of Society and its Relation to Modern Ideas, London u. a. 1861, S. 140 f.). Im Anschluß an Maine kennzeichnet auch 1önnies, Gemeinschaft und Gesellschaft, S. 223 ff. mit dem Begriffspaar die grundlegende Differenz von Gemeinschafts- und Gesellschafts-Verhältnissen und Tendenz ihrer Entwicklung. Weber wiederum knüpft an die rechtshistorische und rechtsvergleichende Forschung an und spricht von Statusverträgen, da die gewollte Statusveränderung in rechtsgeschäftlichen Fonnen vollzogen wird. Vgl. u. a. Max Pappenheim, Über künstliche Verwandtschaft im gennanischen Rechte, in: Zeitschrift für Rechtsgeschichte (GA), 29 (1908), S. 305 -333, bes. 322 ff. 359 Vgl. WG, S. 636; auch Hintze, Repräsentativverfassung, S. 74 f., 91. Am Anfang der Rechtssoziologie und bezeichnenderweise unmittelbar vor der Erörterung der Rechtsstruktur traditionaler politischer Verbände diskutiert Weber die "subjektiven öffentlichen Rechte" (vgl. hierzu Georg Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte, Tübingen 21919, bes. S. 136 ff., 159 ff.). 13 Hermes
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nellen Staat als entfernte Parallele evoziert. 360 Die grundlegende Differenz zwischen diesem streng personengebundenen Privilegrecht bzw. personalen Rechtsverständnis und ihrem modernen Pendant liegt allerdings in der Versachlichung und Territorialisierung der Rechtsbeziehungen wie sie der neuzeitliche Anstaltsstaat durchsetzt. 361 Aus sich heraus konnte der feudal-ständische Verband den dafür erforderlichen Wandel kaum bewerkstelligen, ihm allenfalls bestimmte Anknüpfungspunkte geben. So begünstigte die "zunehmende[r] Differenzierung und ökonomische[r] Knappheit der von den einzelnen Personenkreisen monopolistisch appropriierten Güter" die Umformung ständischer Sonderrechte (ursprünglich Rechte "eines durch Statusqualitäten abgegrenzten Personenkreises") in sachliche, für bestimmte soziale oder ökonomische Sonderbeziehungen geltende Spezialrechtssätze, was wiederum ihre Eingliederung in das Landrecht (lex terrae) erleichterte. 362 Die Versachlichung der Rechts- und Herrschaftsbeziehungen (formale Rechtsgleichheit und anstaltsmäßige Ordnung) setzt jedoch eine soziale Nivellierung363 voraus, die ökonomisch durch den über seinen städtischen Kern sich rasch erweiternden Markt und politisch durch die königliche (oder fürstliche) Verwaltungsrationalisierung initiiert wird. 364 Das Marktgeschehen begünstigt anstelle der streng persönlichen Statuskontrakte den Geldkontrakt als Ausdruck abstrakt-ökonomischer Verpflichtungsverhältnisse. "Den stets auf universelle Qualitäten des sozialen Status der Person, ihrer Eingeordnetheit in einen die ganze Persönlichkeit umfassenden Verband, abzielenden Verbrüderungs- oder anderen Statuskontrakten mit den, spezifische Gesinnungsqualitäten begründenden, universalen Rechten und Pflichten tritt eben hier der Geldkontrakt als die nach Wesen und Funktion spezifische, quantitativ begrenzte und bestimmte, ihrem Sinn nach qualitäts360 Vgl. WG, S. 485. Wiederholt wird auf das Beispiel des ursprünglich gleichzeitig als Verwaltungs- und Gerichtsbehörde fungierenden englischen Parlaments verwiesen (vgl. ebd., S. 390, 450). An anderer Stelle zieht Weber eine entwicklungsgeschichtliche Linie vom ständischen Kompromiß zum modemen Budgetkompromiß und zu den Satzungskompromissen (vgl. ebd., S. 166). 361 Zur "Territorialisierung der Sozialbeziehungen" durch den Staat vgl. Mann, Autonomous Power, S. 122 ff., 132 ff., 134. 362 WG, S. 420 f. Während beispielsweise das Lehnrecht in Deutschland als ständisches Sonderrecht ausgebildet wurde, hat das englische Königtum früh darur gesorgt, daß es in der einheitlichen "lex terrae", dem Common Law, aufging (vgl. ebd., S. 482). Diesen Zusammenhang hat namentlich Julius Hatschek hervorgehoben (Englische Verfassungsgeschichte bis zum Regierungsantritt der Königin Victoria, München/Beriin 1913, S. 1 ff., 26 ff., 179 ff.). 363 Weber spricht in diesem Zusammenhang von "passiver Demokratisierung" (WG, S.568). 364 Vgl. WG, S. 198, 419. Die funktionale Verdrängung der ständischen Gewaltenträger, die ausgehend von der königlichen Domänenverwaltung allmählich die Territorialfürstentümer und schließlich die autonomen Städte ergreift, ist an dem in Frankreich seit dem 12. Jh. aufgebauten System der Prt!vötes und Bailliages beispielhaft nachzuvollziehen (vgl. Otto Brunner; Verfassungs- und Sozialgeschichte, S. 169 f., 194 f.).
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fremde, abstrakte und normalerweise rein ökonomisch bedingte Vereinbarung als Archetypos des Zweckkontrakts gegenüber.,,365
Das prädestiniert den Geldkontrakt zum Mittel sowohl der Rechtsprofanierung gegenüber dem früheren magisch-sakralen Charakter von Rechtsakten - wie der Rechtsformalisierung. Als formale Rationalisierung beschreibt Weber einen Prozeß der kognitiven Durchstrukturierung, Logisierung und Systematisierung des Handeins oder der Ordnungen, einen Vorgang also, der sie rechenhaJt, berechenbar macht. Materiale Rationalisierung meint demgegenüber die Ausrichtung des Handeins oder der Ordnungen auf einen vorgegebenen (materialen) Zweck hin?66 Der für die Entstehung des modemen Staates entscheidende Umschlag von der materialen zur formalen Rationalisierung, dessen unmittelbare Wurzeln im patrimonialen Absolutismus der frühen Neuzeit liegen, verdankt sich nun zunächst der Anwendung formaler Rechts- und Herrschaftstechniken im Dienst materialer Herrschaftsinteressen. So lagen Verwaltungs- und Rechtsvereinheitlichung im direkten Interesse der absolutistischen Patrimonialherrscher (Könige, Landesherren) und zielten auf eine mindestens funktionale Verdrängung der intermediären Herrschaftsträger (Lokalhonoratioren und Ständekorporationen). 367 Die seit dem späten Mittelalter in den kontinentalen Königreichen vorangetriebene Rationalisierung von Verwaltung und Rechtspflege368 entsprach ebenso den heterogenen Interessen von Patrimonialherrschern und bürokratisierten Verwaltungsstäben wie dem in einer Zeit legitimer Eigenmacht und Gewaltsamkeit verbreiteten Verlangen nach einer übergeordneten Friedens- und Schutz365 WG, S. 403. 366 So die zutreffende und mißverständliche Synchronisierungen von Zweck- und Wertrationalität einerseits, formaler und materialer Rationalität andererseits vermeidende Begriffsbestimmung bei Breuer; Bürokratie und Charisma, S. 41. 367 Vgl. WG, S. 487. Sozial und ökonomisch konnte gerade der Adel seine privilegierte Stellung bis zur endgültigen Auflösung der feudalen Agrarverfassung im 19. Jh. bewahren (vgl. Hintze, Feudalismus, S. 23). Charakteristisch verschieden gestaltet sich allerdings die Geschichte der Aristokratie unter dem französischen, preußisch-deutschen und russischen Absolutismus. Das absolute Königtum ist in Frankreich Schrittmacher der Verhöflichung und "Verbeamtung" des Hochadels (vgl. Norbert Elias, Die höfische Gesellschaft. Untersuchungen zur Soziologie des Königtums und der höfischen Aristokratie, Frankfurt a.M. 51990, passim), während es gleichzeitig die Feudalherren aus der Lokalverwaltung verdrängt, was den erbitterten Widerstand gegen die von ihnen - nun ohne konkrete Gegenleistung - weiterhin erhobenen feudalen Abgaben provoziert. In Preußen, wo die Monarchie im 16. Jh. die Entstehung eines Dienst- und Geldadels fördert, bleiben dem Adel immerhin - wenn auch genau umschriebene - lokale Herrschafts- und Eigentumsrechte (vgl. Brunner; Freiheitsrechte, S. 194 f.). Der russische Adel sinkt dagegen zu einem vollständig vom Zarenhaus abhängigen Dienstadel herab, wobei es der Monarchie durch Errichtung eines kunstvollen Rangstufensystems der Ämter (sog. Tschin-Schema) gelingt, die Standessolidarität ebenso wie den korporativen Zusarnmenschluß des Adels zu verhindern (vgl. WG, S. 621 ff.; Bendix, Könige oder Volk I, S. 351 f.). 368 Zuerst in den normannischen Staaten Nordfrankreichs, Englands und Süditaliens, dann im Königtum Frankreich und seit dem 13. Jh. ansatzweise in den deutschen Landesfürstentümern, forciert schließlich in den frühneuzeitlichen absoluten Monarchien des 16. Jh.s. 13*
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macht. 369 Besonders das mit der Entwicklung des Marktes wachsende Bedürfnis der bürgerlichen Marktinteressenten nach einem berechenbaren, ihre Geschäftskontrakte sichernden Recht zwang jedoch die permanent am Rande des Staatsbankrotts wirtschaftenden Patrimonialherrscher - entgegen ihren material-wohlfahrtsstaatlichen Neigungen - zur Anerkennung und Zwangsgarantierung "subjektiver Rechte".37o Was davon die Städte mit Hilfe des autonomen Stadtrechts in der Epoche ihrer Selbständigkeit bereits realisiert hatten, konnten die absoluten Monarchen bei deren (Wieder-)Eingliederung in die staatliche Verwaltung nicht ignorieren. "Ein Bündnis von fürstlichen und von Interessen bürgerlicher Schichten gehörte daher zu den wichtigsten treibenden Kräften formaler Rechtsrationalisierung. ,,371 Ein Recht, das diesen Ansprüchen - zumindest in formaler Hinsicht372 - genügte, war das zunächst von der katholischen Kirche für die rechtliche Ausgestaltung ihrer Organisation im 11. und 12. Jh. rezipierte römische Recht. 373 Nach dem Vorbild der Kirche und in Konkurrenz zu ihr nahmen seit der Zeit des Investiturstreits auch die weltlichen Rechte: Feudalrecht, Gutsrecht, Stadtrecht und Königsrecht zunehmend rationalen und systematischen Charakter an - wie immer beschränkt freilich der Rechtsformalismus und -rationalismus dieser Rechtssysteme, nach heutigen Vorstellungen, sein mochte. Es sei hier dahingestellt, ob die mittelalterliche Kirche als 369 Vgl. WG, S. 518 f., 561; Brunner, Verfassungs- und Sozialgeschichte, S. 190; Bendix, Könige oder Volk 11, S. 11 f. Das gilt zunächst für die keiner lokalen Grundherrschaft oder kommunalen Stadtherrschaft unterstehende bäuerliche Bevölkerung, die - weil zunehmend wehrlos - unmittelbar auf den König als Schutzherrn angewiesen ist. Im Verhältnis zum Feudaladel beginnen die mittelalterlichen Könige damit, für die Zeit seiner militärischen InanspruchnaiIme die Fehde zu verbieten (vgl. WG, S. 518). Die Ende des 10. Jh. von Cluny ausgehenden und durch kollektive Eidschwüre bestärkten Gottesfriedensverkündungen, die bei Strafe der Exkommunikation gewaltsame Übergriffe auf bestimmte Personengruppen und Sachen verboten, spielten für die späteren Herzogs-, Königs- oder Landfriedensgesetze eine rechtsgeschichtlich prägende Rolle (vgl. Bennan, Recht und Revolution, S. 154 f.). 370 Subjektives Recht ist hier verstanden im privatrechtlichen Sinn von "Anspruchsnormierungen", mit anderen Worten: von Normen, "welche den Charakter anspruchsverleihenden objektiven Rechts haben" (WG, S. 387, 388). 371 WG, S. 487 (eigene Hervorhebung). 372 Materiell-rechtlich, das betont Weber immer wieder, waren die mittelalterlichen handeisrechtlichen (spezifisch kapitalistischen) Rechtsinstitute für den entwickelten ökonomischen Verkehr brauchbarer und deshalb denen des "weit mehr logisch und technisch-politisch rationalisierten römischen Recht[sJ" vorzuziehen (WG, S. 412, auch S. 491; ,Römisches' und ,deutsches' Recht, MWG I/4, S. 526-534, bes. 526). 373 Ende des 11. Jh.s wurde ein Manuskript der Digesten aufgefunden, jener umfangreichen und systematischen juristischen Materialsammlung, die Kaiser Justinian Mitte des 6. Jh.s in Auftrag gegeben hatte und die bis daiIin als verloren galt. Dieser Fund ermöglichte das wissenschaftliche Studium des klassischen römischen Rechts (Glossatoren). Und die zuerst durch die Kirche vollzogene Rezeption eines für ihre Zwecke wissenschaftlich zu bearbeitenden Rechts war nicht nur für die okzidentale Kirchengeschichte, sondern für die gesamte westliche Rechts- und Verfassungs geschichte ein weichenstellendes Ereignis; vgl. Wieacker, Privatrechtsgeschichte, S. 25 ff., 45 ff., 71- 80.
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"Präfiguration der modemen Bürokratie bzw. des modemen Staates" verstanden werden kann: 374 Die Kanonisten haben jedenfalls - neben den Legisten - maßgeblich zur Rationalisierung der kirchlichen und weltlichen Herrschaft beigetragen. Zu Recht stellt Weber fest, daß "die Geburt des modemen okzidentalen ,Staats' ebenso wie der okzidentalen ,Kirchen' [ ... ] zum wesentlichen Teil luristenwerk gewesen" ist. 375 Die formalen Qualitäten des römischen Rechts und die formalistische Schulung der Juristen waren es, die dem okzidentalen Patrimonialismus den Weg zu einer "genuin patriarchale[n] Wohlfahrts- und materiale[n] Gerechtigkeitspflege" versperrt und dabei "der Rechtspflege des Okzidents das Maß juristisch formalen Charakters" erhalten haben, "welches ihr im Gegensatz zu den meisten anderen patrimonialfürstlichen Rechtsverwaltungen spezifisch ist. ,,376 Diese universitätsgeschulten Juristen (zunächst meist Kleriker, später zunehmend Laien) halfen dem Königtum zuerst bei der Rationalisierung des Prozeßrechts,377 um später dann der erstarkenden Fürsten- bzw. Königsgewalt als Richter, Finanz- und Militärbearnte zu dienen?78 Jedoch blieb die formale Rationalisierung unter dem ffÜhneuzeitlichen Absolutismus sektoral, im allgemeinen auf das Militär_ 379 und Finanzwesen, beschränkt. Zur Erweiterung ihrer Einnahmequellen ging 374 Nach Schluchter, Religion und Lebensführung 11, S. 238 ff., 248 gibt die Kirche mit ihrer anstaltsmäßigen Organisation das Vorbild für die modeme Verwaltung (nicht bereits: den modemen Staat) ab. Berman, Recht und Revolution, S. 791/804, 808 betrachtet die Kirche als ersten modemen Staat, ausgezeichnet durch körperschaftliche Verfassung, unabhängige hierarchische Gewalt, bürokratischen Apparat, autonome Satzungskompetenz, gerichtlichen Instanzenzug. Breuer, Hierokratie, Bürokratie und Charisma, in: ders., Bürokratie und Charisma, S. 197 ff. verweist - gegenüber Schluchter und Berman - auf den strukturellen und ideellen Traditionalismus durch einen "Überhang an materialen Orientierungen" (ebd., S. 199), der die Kirche näher an die patrimoniale Veiwaltungsstruktur und an personale Herrschaftsbeziehungen als an die modeme Bürokratie bzw. den modemen Staat heranrücke, in denen die Versachlichung des Charisma v.a. seine Entpersönlichung beinhalte. Dazu weiterhin Kap. III. 4. b). 375 GARS I, S. 272; "Politik als Beruf", MWS 1/ 17, S. 51 f.; vgl. Reinhard, Staatsgewalt, S. 285 ff. 376 WG, S. 491 f.; vgl. Perry Anderson, Die Entstehung des absolutistischen Staates, Frankfurt a.M. 1979, S. 27 ff., 32, 35. 377 Vgl. WG, S. 484 über die Prozeßreformen Heinrichs 11. von England und Ludwigs IX. von Frankreich; Berman, Recht und Revolution, S. 685 ff., 717 ff. 378 Vgl. "Politik als Beruf', MWS I/ 17, S. 46. 379 Schon Hintze und Sombart haben die militärische Konkurrenz rivalisierender Machtzentren im multipolaren frühneuzeitlichen Staatensystem als wesentlichen Faktor der westlichen Entwicklungsdynamik, insbesondere aber ihrer Tendenz zur formalen Rationalisierung, herausgearbeitet (vgl. Otto Hintze, Staat und Verfassung. Gesammelte Aufsätze zur allgemeinen Verfassungsgeschichte, hg. von Gerhard Oestreich, Göttingen 21970, S. 69, 144; Wemer Sombart, Krieg und Kapitalismus, München/Leipzig 1913). Neuere Staatstheorien knüpfen z. T. explizit daran an; z. B. Theda Skocpol, States and Social Revolutions, Cambridge 1979; Charles Tilly, As Sociology Meets History, New York 1981; ders., Coercion, Capital and European States: AD 990-1990, Cambridge 1990; Anthony Giddens, A Contemporary Critique of Historical Materialism, London u. a. 1981. Auch Weber hat an verschiedenen Stellen die Bedeutung der militärischen Staatenkonkurrenz für das strukturelle Rationalisie-
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insbesondere die französische Monarchie im 17. Jh. zum Ämterverkauf im großen Stil über. Ein Großteil der Ämter in der Finanz- und Justizverwaltung befand sich zeitweise in privater Hand, was die gleichzeitigen Bemühungen zur administrativen Zentralisierung konterkarierte und die Struktur des frühmodemen Staates zwischen stereotypiertem und arbiträrem Patrimonialismus schwanken ließ. 38o Das dadurch entstandene "Gehäuse der Pfründnerinteressen" blockierte die umfassende formale Rationalisierung der politischen Ordnung. Erst als die fortgeschrittene kapitalistische Wirtschaftsmacht Englands das Ancien regime in den ökonomischen und politischen Ruin konkurrierte, zerbrach auch jenes feste Gehäuse, das bis dahin die durchgreifende Implementierung des Prinzips der formalen Rationalität im Verwaltungs- und Justizsystem verhindert hatte. Die Revolution beseitigte - weitestgehend - die Käuflichkeit der Ämter und Pfründen und schuf ein neues Fachbeamtentum, dessen wesentliche Merkmale dem Idealtypus der Bürokratie entsprachen (Fachschulung, Geldentlohnung, Aufstieg nach Anciennität und Leistung, hierarchischer Aufbau, sachlich geregelte Kompetenzen, strenge Amtsdisziplin und Kontrolle). An die Stelle des Gottesgnadentums setzte sie das Prinzip der Volkssouveränität und die Ableitung der Regierungsgewalt aus dem Willen der Beherrschten. 381 Die Rechtspartikularitäten wurden im Satzungsmonopol einer universalistischen Staatsanstalt eingeschmolzen, die ihrerseits gewaltenteilig organisiert war. Die Privatrechtsgleichheit nivellierte die traditionellen Partikular- bzw. Privilegrechte. Systematische Kodifikationen des Straf- und Zivilrechts (Code Penal, Code Civil) waren Produkte ,,rationaler Gesetzgebung,,382 und trugen zur Vereinheitlichung der Rechtsprechung bei. Schließlich garantierten die Menschen- und Bürgerrechte dem Individuum eine rechtlich geschützte, unantastbare Freiheitssphäre gegenüber der Staatsgewalt - die Geburtsstunde des modemen Staatsbürgers?83 Die religiös und rungspotential des politischen Verbandes hervorgehoben und militärisch induzierte Rationalisierungsschübe z. B. auch für das China der Teilstaatenzeit festgestellt (vgl. GARS I, S. 348 f., 394; WG, S. 649, 211, 96; GASW, S. 277 f.). Die Rationalisierung der Verwaltung, zumal die formale Rationalisierung politischer und ökonomischer Strukturen, war aber keine notwendige Folge machtpolitischer Staatenkonkurrenz. Staatsbankrott und Fremderoberung waren ebenso realistische Möglichkeiten, gegen die auch der Okzident - wie die Staatsbankrotterklärungen des 16. und 17. Jh.s und die anfänglichen osmanischen Kriegserfolge zeigen - nicht gefeit war (vgl. Breuer, Bürokratie und Charisma, S. 48 f.). Der Prozeß der formalen Rationalisierung blieb hier nur deshalb nicht stecken, weil die politischen Verbände zur Sicherung ihrer Zahlungs- bzw. Kreditfähigkeit "um das freizügige Kapital konkurrieren mußten" (GARS I, S. 394), das erst auf dem Fundament der mittelalterlichen Städte und des dort entstehenden Bürgertums sich als eigenständiger ökonomischer Faktor hatte entwickeln können (vgl. WG, S. 139, 151). 380 Vgl. WG, S. 599 f.; vgl. dazu Wolfgang Reinhard, Staatsmacht als Kreditproblem. Zur Struktur und Funktion des frühneuzeitlichen Ämterhandels, in: Vierteljahresschrift für Sozialund Wirtschaftsgeschichte, 61 (1974), S. 289 ff. 381 Weber spricht von einer neuen Form der Legitimität, "demokratische Legitimität", die aus einer "herrschaftsfremden Umdeutung des Charisma" hervorgehe (WG, S. 156 f.). 382 WG, S. 496. 383 Vgl. WG, S. 435 f., 501, 726; Finer, History III, S. 1538 ff.; Breuer, Bürokratie und Charisma, S. 51 f.
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naturrechtlieh fundierten amerikanischen bzw. - nach ihrem Vorbild - französischen Menschenrechts-Erklärungen384 schützten neben der politischen die ökonomische Interessenssphäre des Einzelnen (Eigentum, Vertragsfreiheit, Berufsfreiheit) vor Übergriffen der politischen Gewalt. Sie erfüllten damit zentrale Forderungen bürgerlicher Interessenten, denen Weber für den Erfolg des formalen Rationalismus im Okzident entscheidendes Gewicht zuschreibt. ,,Es ist klar, daß jene Forderungen formaler Rechtsgleichheit und ökonomischer Bewegungsfreiheit sowohl der Zerstörung aller spezifischen Grundlagen patrimonialer und feudaler Rechtsordnungen zugunsten eines Kosmos von abstrakten Normen, also indirekt der Bürokratisierung, vorarbeiteten, [als] andererseits in ganz spezifischer Art der Expansion des Kapitalismus entgegenkommen.,,385
Was die Marktentwicklung für die Vergesellschaftung der ökonomischen Beziehungen, bedeutet die Bürokratisierung für die Vergesellschaftung der HerrschaftsBeziehungen386 : ihre rationale Ordnung durch gesatztes Recht. 387 Erst die Bürokratisierung von Staat und Recht ermöglicht nach Weber die prinzipielle begriffliche Unterscheidung einer "objektiven Rechtsordnung" von durch sie garantierten "subjektiven Rechten", sowie die Differenzierung der öffentlich-rechtlichen Sphäre "anstaltsbezogenen" von der privatrechtlichen "anstaltsgeregelten" Handelns. 388 Dazu mußte jedoch zunächst der Staat selbst als "abstrakte[r] Träger von Herrenrechten und Schöpfer der ,Rechtsnormen'" - gegenüber den persönlichen Befugnissen Einzelner im traditionalen politischen Verband - aufgefaßt werden können. Eine Vorstellung, die Weber zuerst in der städtischen Beamtenbestellung durch Wahl vollziehbar findet, bei der die Organstellung für den politischen Verband den Gedanken an ein persönliches "Besitzrecht des Beamten am Amt" offensichtlich ausschließt. 389 "Aber erst die völlige Entpersönlichung der Amtsführung in der Bürokratie und die rationale Systematisierung des Rechts führten jene Scheidung prinzipiell durch. ,,390 Es war die mittelalterliche Kirche, die mit ihrem aus dem spätrömischen Kirchenrecht rezipierten und anstaltlich gefaßten Korporationsbegriff den absoluten Monarchien nicht nur die rechtstechnische Handhabe zur 384 Schon Georg Jellinek hatte in seiner Studie über "Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte" (Ein Beitrag zur modemen Verfassungsgeschichte, Leipzig 1904, bes. S. 35 ff.) auf die herausragende Rolle der puritanischen Koloniegründungen in Nordamerika für die Kodifikation von Grundrechten, insbesondere der Glaubens- und Gewissensfreiheit, aufmerksam gemacht. Diesen Nachweis religiöser Einflüsse auf die politische Idee universeller "Menschenrechte" hat Weber als wesentliche Anregung der eigenen Forschungen über die ökonomischen Wirkungen religiöser Ethiken betrachtet; vgl. WG, S. 725 sowie Gedenkrede,
S.15. 385 386 387 388 389 390
WG, S. 726 (Ergänzung von Winckelmann). Dies betrifft hier natürlich im engeren Sinne die politischen Verbandsbeziehungen. Vgl. WG, S. 570. Vgl. WG, S. 387. Vgl. WG, S. 576, 555, 557. WG, S. 576.
200
III. Patrimonialismus und Rationalisierung
"Inkommunalisierung" bzw. "Inkorporierung" der vormals rechtsautonomen Verbände (Stände, Städte, Landgemeinden etc.) gegeben,391 sondern zugleich die rechtsbegriffliche Auffassung des Staates als juristische Person, d. h. abstrakter Träger von Rechten, ermöglicht hat?92 Die naturrechtlich beeinflußten Kodifikationen des aufgeklärten Absolutismus spiegeln (ähnlich wie das "monarchische Prinzip" als Verfassungsräson der monarchischen Konstitutionen des 19. Jh.s) eine Staatsvorstellung, die das Gottesgnadentum bis an die Grenze des im Rahmen der Königsidee überhaupt noch Denkbaren entzaubert, gleichzeitig aber die Ansätze einer über- bzw. rechtspersönlichen Auffassung des Staates393 mit der Konzeption streng persönlich gedachter Herrschaftsbeziehungen verbindet und gerade dadurch dem patrimonialen Nexus verhaftet bleibt. Dies macht deutlich, daß die ökonomische, sozialpolitische und Legitimitäts-Krise des Absolutismus im 18. Jh., die historische Erbschaft rechtstechnischer Erfindungen und die naturrechtlichen Einflüsse zusammen nur unter den besonderen Bedingungen einer demokratischen Revolution dem Prinzip der Volkssouveränität zum Durchbruch verhelfen und so die konstitutionellen Grundlagen des modemen Verfassungsstaates legen konnten. Andernorts (v.a. in Deutschland) konnte sich dagegen der Gedanke der Fürstensouveränität in eigentümlichen Mischformen, materiell gestützt auf die Kontrolle des Verwaltungs- und Militärapparates, ideell auf die residual verbreitet fortbestehende sakrale Aura der Monarchie, bis ins 20. Jh. hinein halten. 394 391 Zur rechtsvergleichenden Betrachtung der "Verstaatlichung des Verbandswesens" in England und auf dem Kontinent vgl. WG, S. 435; zur "Privatisierung" der engeren Verbände (Herrschaften, Gemeinden, Körperschaften, Familien) im neuzeitlichen souveränen Staat auf der Grundlage naturrechtlicher Vorstellungen vgl. Gierke, Genossenschaftsrecht, Bd. 4: Staats- und Korporationslehre der Neuzeit, Berlin 1913, S. 332 ff. 392 Vgl. WG, S. 425 ff., 429 ff. und S. 481: ,,[ ... ] die Kirchen waren die ersten ,Anstalten' im Rechtssinn, und mit von da aus begann die juristische Konstruktion der öffentlichen Verbände als Korporationen." 393 Der König (beispielhaft: Friedrich der Große) versteht sich als "erster Diener des Staates", begreift also seine Stellung als die eines Staatsorgans wie ausdrücklich die monarchischen Konstitutionen und das Staatsrecht des 19. Jh.s, in denen der Staat entsprechend als "Realperson", ,juristische Person", "Anstalt" aufgefaßt wird; vgl. Reinhard, Staatsgewalt, S. 122 ff.; Dtto Brunner; Gottesgnadentum, S. 183. 394 Vgl. hierzu Pritz Hartung, Der aufgeklärte Absolutismus, in: Historische Zeitschrift, 180 (1955), S. 15 ff.; Dtto Brunner; Gottesgnadentum, S. 179 ff., der auf den interessanten Gesichtspunkt hinweist, daß beide Legitimationsprinzipien - Fürsten- und Volkssouveränität - ideengeschichtlieh auf die germanische Königsidee zurückgeführt werden können; während aber etwa in Frankreich die Kapetinger das erbmonarchische Prinzip durchsetzten, wurde in Deutschland nach einer kurzen Renaissance des Königtums unter den Staufer-Kaisern seit dem 13. Jh. die Wahl des Königs durch das Kurfürstenkollegium üblich. Zu Wahl-, gentilcharismatischem und erbcharismatischem Prinzip als Legitimationsformen des germanischen Königtums vgl. lohn M. Wallace-Hadrill, Early Germanic Kingship in England and on the Continent, London 1970, bes. S. 7 ff.; Kern, Gottesgnadentum, S. 19 ff. Zu der magischsakralen Aura des germanischen Königtums auch nach Zerfall seiner faktischen Macht vgl. lohn M. Wallace-Hadrill, The Long-Haired Kings, London 1962, S. 245 ff.; Kern, Gottes-
4. Okzidentaler Patrimonialismus und politische Rationalisierung
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Welche Bedeutung kommt nun dem Verhältnis zwischen kirchlicher und weltlicher (patrimonialer) Herrschaft im okzidentalen Mittelalter für die formale Rationalisierung der politischen Sphäre, d. h. für die Entstehung des modemen Staates, zu? b) Der Dualismus von Kirche und Staat
Der Dualismus, zeitweilig offene Kampf, zwischen weltlicher und geistlicher Macht ist keineswegs an sich schon ein wesentliches Moment des okzidentalen Rationalisierungsprozesses. Die (latent gewaltsame) Konkurrenz von Königtum, Hierokratie und Feudaladel erweist sich vielmehr als universelles Strukturphänomen politischer Herrschaftsbildung. Den weltlichen Kriegsadel betrachtete die Hierokratie immer wieder als natürlichen Feind, da er ihrem magisch-religiösen Charisma ein Eigencharisma entgegenstellte. "Das, nicht immer, im offenen Kampf sich äußernde Ringen zwischen Kriegs- und Tempeladel, zwischen Königsgefolgschaft und priesterlicher Gefolgschaft, ist überall bei der Prägung von Staat und Gesellschaft am Werk gewesen. Es hat in der gegenseitigen Stellung der Priester- und Kriegerkaste in Indien, in den teils offenen, teils latenten Kämpfen zwischen Militäradel und Priesterschaft schon in den ältesten mesopotamischen Stadtstaaten, in Ägypten, bei den Juden, in der völligen Auslieferung der Priestertümer in die Gewalt der weltlichen Adelsgeschlechter in der hellenischen Polis und vollends in Rom, in dem Ringen beider Mächte im Mittelalter und auch im Islam, mit ihren für den Orient und den Okzident so ganz verschiedenen Ergebnissen für die Kulturentwicklung entscheidende Züge und Unterschiede hervorgebracht.,,395
Namentlich aber konkurrierte die Priestergewalt mit dem Kriegsadel um den Einfluß auf das Königtum. Und diesem hatte sie von Anfang an v.a. eines zu biegnadentum, S. 76 f. Allgemein zum Charisma und seinen durch das Nachfolgeproblem erzwungenen Umbildungsformen vgl. WG, S. 143 ff., 155 f., 663 ff., 673, wobei charakteristischerweise die "herrschaftsfremde Umdeutung des Charisma" (vgl. ebd., S. 155 ff.) in der älteren Herrschaftssoziologie noch nicht als ein eigenständiger "demokratischer Legitimationstypus" ausgewiesen ist; Wahlakte (und nachfolgende Akklamationen durch die Volksgemeinde), speziell in traditionalen politischen Verbänden (z. B. die deutsche Königswahl durch das Kurfürstenkollegium), sind nicht Legitimationsgrund der königlichen Herrschaftsstellung, sondern lediglich Ausfluß einer autoritär legitimierten Herrschaft, d. h. "Erkennung oder Anerkennung des Vorhandenseins der durch die Wahl nicht erst entstehenden, sondern vorher vorhandenen Qualifikation, eines Charisma also, auf dessen Anerkennung umgekehrt der zu Wahlende als sein Träger einen Anspruch hat" (ebd., S. 665; vgl. ebd., S. 667, 143 f.; dagegen zur antiautoritären Umdeutung ebd., S. 156). 395 WG, S. 690; vgl. außerdem: GASW, S. 45, 48 f. (Mesopotamien), 69 f. (Altes Reich in Ägypten), 73 (Neues Reich), 89 (Altes Israel). Unter sehr besonderen Bedingungen kann freilich auch die Krieger- oder Feudalaristokratie einmal Träger einer religiösen Ethik sein und entsprechend die Verbindung mit hierokratischen Gewalten eingehen. Dies bringt den Typus des ritterlichen Glaubenskämpfers im Dienst eines "exklusiven Weltgottes" hervor, wie ihn der Islam und das christliche Mittelalter (Kreuzritter) kennen; vgl. WG, S. 288; Finer; History I, S. 51 f.
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III. Patrimonialismus und Rationalisierung
ten: Legitimität. 396 Außerdem aber, durch den geistlichen Einfluß auf die Beherrschten (und für den Kampf gegen einen autogenen Feudaladel): hierokratische Herrschaftsmittel. Nicht zuletzt jedoch aufgrund ihrer Beherrschung des verfügbaren Wissens, allem voran der Schrift- und Rechtskunde, aber auch aller sonstigen "Wissenschaft": das für die zunehmend komplexere patrimoniale Reichsverwaltung erforderliche geschulte Beamtentum. 397 Durch die Kontrolle des Bildungswesens haben Priesterschaften sehr oft einen erheblichen praktischen Einfluß auf die Staatsverwaltung erlangt, gleichzeitig jedoch das ideologische Fundament der Gesellschaft und damit die allgemeine Kulturentwicklung entscheidend geprägt. So sieht Weber gerade in der relativen Machtlosigkeit der Priesterschaften in den hellenischen Poleis und besonders im römischen Stadtstaat einen für die okzidentale Sonderentwicklung wesentlichen Grundzug. Entsprechend schreibt er dem Umstand, daß der orientalisch-asiatische Typus des arbiträren Patrimonialismus normalerweise ein eigenes weltliches Erziehungssystem nicht einrichtete, wesentliche Rationalitätsschranken der dortigen im Vergleich zur okzidentalen Gesellschaftsentwicklung zu. Verlauf und Ausgang der Perserkriege haben nach Webers Auffassung eine grundlegende Weichenstellung für die okzidentale Geschichte gezeitigt: "Die Schlachten bei Marathon und Plataeae entschieden auch zugunsten der weltlichen und gegen den klerikalen Charakter der hellenischen Kultur.,,398 Folglich war auch die katholische Kirche trotz ihres Aufstiegs zu einer religiösen und politischen Herrschaftsorganisation seit dem 3. Jh., selbst im Kulminationspunkt ihrer bürokratisch-anstaltsmäßigen Verfassung (spätes 11. und 12. Jh.),399 396 Vgl. etwa zur legitimatorischen Rolle des Buddhismus: Heinz Bechert, Orthodoxie und Legitimation im Kontext des Früh- und des Theraväda-Buddhismus, in: Eisenstadt (Hg.), Kulturen 11, 3, S. 18 ff., hier S. 20 ff. Zur Bedeutung der islamischen Ulema für die politische Ordnung des Kalifats vgl. Patricia Crone, Slaves on Horses. The Evolution of the Islamic Polity, Cambridge 1980, S. 62 f.; lohn A. Hall, States and Economic Deve1opment: Reflections on Adam Smith, in: ders. (Hg.), States in History, S. 154 ff., hier S. 158 f. 397 Vgl. GASW, S. 44 f.; WG, S. 688 ff.; zur Instrumentalisierung der Hierokratie gegenüber der beherrschten Bevölkerung bzw. gegen den Feudaladel vgl. WG, S. 277 und GARS III, S. 289 f., 362 ff. (jüdische Theokratie der Nachexilszeit als Instrument der persischen Religionspolitik); ähnlich die Politik der islamischen Fremdherrschaft bei der "brahmanischen Restauration" in Indien, GARS 11, S. 318, 321, 343 f.; zur Verwendung der brahmanischen Priester bzw. buddhistischen Mönche gegen alte Herrenschichten und zur hierokratischen Disziplinierung der Bevölkerung durch ostasiatische Patrimonialherrscher vgl. GARS 11, S. 16 ff., 124 f., 130,253 ff., 309 f., 318, 321, 342. Im chinesischen Kaiserreich übernahm die konfuzianische Bildungsschicht gewissermaßen die Rolle der Priesterschaft und mußte bald die Konkurrenz der Feudalmächte ebenso wenig fürchten wie die einer eigenständigen Hierokratie. Das hinderte den ,pontifikalen' Patrimonialherrscher und seinen konfuzianischen Stab jedoch nicht daran, zu Herrschaftszwecken an Ahnenkult und taoistischem Zauberpriestertum festzuhalten (vgl. WG, S. 290; GARS I, S. 430 ff., 453, 498 f.). Typologisch hat Finer; History I, S. 50 ff. die verschiedenen politischen Herrschaftskonfigurationen unter Beteiligung der Hierokratie skizziert. 398 WG, S. 701. 399 Auf die Eigenart der okzidentalen Kirchenverfassung wird weiter unten noch näher einzugehen sein.
4. Okzidentaler Patrimonialismus und politische Rationalisierung
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nur eine der Antriebskräfte für die okzidentale Kulturentwicklung. Die erstarkende Feudalmonarchie und die zu gleicher Zeit aufstrebenden Städte konkurrierten als Träger einer durchaus profanen Gegenkultur. Mit besonderem Akzent auf der mittelalterlichen okzidentalen Entwicklung hält Weber deshalb fest: "Aber während ein Gegengewicht gegen die Klerikalisierung der Erziehung in dem rein bürokratischen ägyptischen Staatswesen nicht vorhanden war, während auch die übrigen patrimonialen Staatsbildungen des Orients eine spezifische Rittererziehung nicht entwickelten, weil die ständische Unterlage dazu fehlte, und während vollends die gänzlich entpolitisierten, auf den Zusammenhalt von Synagoge und Rabbinentum angewiesenen Israeliten einen Haupttypus streng klerikaler Erziehung entwickelten, bestand dagegen im abendländischen Mittelalter, dem feudalen und ständischen Charakter der Herrenschicht zufolge, ein Neben-, Gegen- und Miteinander klerikal rationaler und ritterlicher Erziehung, welche dem abendländischen Menschentum des Mittelalters und auch den Universitäten des Abendlandes ihren spezifischen Charakter gab.,,4°O
Die Hierokratie wiederum kann zu ihrem Schutz, zur Geltendmachung ihrer Rechte (z. B. Verfolgung der Ketzer, Eintreibung von Abgaben) oder zur Durchsetzung des heiligen Rechts den Zwangsapparat des politischen Verbandes nutzen,401 so daß irgendeine Art von Kompromiß zwischen beiden Gewalten im beiderseitigen Interesse die Regel gewesen ist. 402 Die historischen Beispiele zeigen jedoch das typische Bestreben beider, nach Möglichkeit die jeweils andere mehr oder minder vollständig zu kontrollieren. Entweder so, daß die Hierokratie sich als alleinige Legitimationsquelle der Königsgewalt stilisiert oder direkt die politische Führungsstellung einnimmt ("Theokratie") oder umgekehrt so, daß die weltliche Gewalt zugleich die Hohepriesterfunktion und Entscheidungskompetenz in allen religiösen Angelegenheiten beansprucht ("Cäsaropapismus"). Die Durchsetzbarkeit derartiger Forderungen hängt von der inneren Entwicklung der Religion ab, die sich normalerweise auch äußerlich in ihrer Organisationsstruktur niederschlägt. Unter den Bedingungen primitiver und archaischer Religionen, in denen Häuptlinge / Fürsten / Könige entweder inkarnierte Götter (bzw. irdische Vikare höchster Gottheiten) sind, deren charismatische Qualifikation allerdings nur die rituellen Spezialisten (Zauberer, Schamanen, Priester) feststellen können, oder als Mittler gegenüber den überweltlichen Mächten (Ahnen und obersten Gottheiten) fungieren, sind die Grenzen zwischen "Cäsaropapismus" und "Theokratie" notwendigerweise fließend, die Begriffe selbst kaum trennscharf, weil eben religiöse und politische Sphäre noch nicht gegeneinander ausdifferenziert sind. Das ändert sich mit dem Durchbruch der historischen Religionen (Hinduismus, Buddhismus, Juden400 WG, S. 678; zu den Wirkungen feudaler und patrimonialer Erziehungssysteme vgl. ebd., S. 650 ff. 401 Wobei ihr freilich in Exkommunikation, Interdikt, Ausschluß von gottesdienstlichen Handlungen, sozialem und ökonomischem Boykott bedeutende eigene Machtrnittel zur Verfügung stehen (vgl. WG, S. 693; zum Begriff des "psychischen" Rechtszwangs und seinen v.a. kirchlichen Formen vgl. ebd., S. 185, 198). 402 Vgl. WG, S. 690 f., 70l.
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III. Patrimonial ismus und Rationalisierung
turn, Christentum, Islam).403 Erst diese "ethischen" oder "Erlösungs-Religionen" konzipieren in verschiedener Weise den Gegensatz von der zeitlichen (politischen) und der (unpersönlich oder persönlich gedachten) transzendenten Ordnung. Erst in diesem Stadium der religiösen Entwicklung wird der kosmologische Monismus früherer Entwicklungsstufen durch eine nun nicht mehr hierarchisch, sondern antagonistisch gefaßte dualistische Kosmologie ersetzt. Erst auf dieser Stufe entstehen auch die spezifisch vorderasiatisch-okzidentale Konzeption des Monotheismus, universelle religiöse Geltungs- und Herrschaftsansprüche, rationalisierte und systematisierte, in heiligen Büchern verschriftlichte, interpretierte und kommentierte Glaubenslehren, schließlich der anstaltsartig organisierte Kultusbetrieb durch einen professionellen Priesterstand. Erst die völlige Ausdifferenzierung von politischer und religiöser Ordnung in den ethischen Religionen läßt den Konflikt zwischen weltlicher und geistlicher Gewalt offen zutage treten. 404 Aber so wenig wie der prinzipielle Dualismus von imperium und sacerdotium markiert die Entwicklung der Hierokratie zur "Kirche" - und Webers Kirchenbegriff orientiert sich deutlich genug an den genannten institutionellen und doktrinellen Unterscheidungsmerkmalen der Erlösungsreligionen _405 den okzidentalen 403 Die typologische Unterscheidung von "primitiven", "archaischen" und "historischen" Religionen geht zurück auf Robert N. Bellah, Religious Evolution, in: Roland Robertson (Hg.), Sociology of Religion, Harmondsworth 1969, S. 262 ff. Die historischen Religionen reichen in die historische Phase der Hochkulturen hinein und sind - im Unterschied zu den primitiven und archaischen - Gegenstand in erster Linie der Geschichtswissenschaft, nicht der Archäologie oder Anthropologie (vgl. Finer; History I, S. 23 ff.). Die "religiöse Gemeinde" (die jüdische kahal, die christliche ecclesia, die islamische umma) ist die spezifische Organisationsfonn der "prophetischen" oder "Erlösungs"-Religion und zugleich Grundlage der Rollendifferenzierung zwischen "Gläubigen" und "politischen Untertanen" (vgl. WG, S. 275 ff.; Finer; History I, S. 27). In der Glaubensgemeinschaft ist der weltliche Herrscher den göttlichen Geboten ebenso unterworfen wie alle Einzelnen und ohne privilegierten Zugang zur transzendenten Welt. Der König ist Laie, nicht Priester; er hat den Schutz der Untertanen und die Aufrechterhaltung der Ordnung, "Gerechtigkeit" und "Frieden", zu gewährleisten; v.a. obliegt ihm dabei die Innehaltung des göttlichen Gesetzes; das ist die Position Samuels im Alten Testament, das ist aber nicht minder die Forderung Gregors VII. im "Dictatus papae" (vgl. Bennan, Recht und Revolution, S. 161 ff.). Die Herrschaftslegende des jüdischen Königtums - sowohl in seiner priesterköniglichen (Melchisedech) wie in seiner säkularen Variante (Samuel) - bietet für Finer das historisch erste Beispiel für den Typus der "beschränkten Monarchie", auf das entsprechend sowohl das fränkische Sakralkönigtum wie die päpstliche Partei in ihrem Kampf gegen das Kaisertum zurückgriffen (vgl. Finer; History I, S. 26, 254 ff.; II, S. 863 f.; Ernst H. Kantorowicz, Die zwei Körper des Königs. Eine Studie zur politischen Theologie des Mittelalters, München 1990, S. 100; Franz Rainer Erkens, Einheit und Unteilbarkeit. Bemerkungen zu einem vielerörterten Problem der frühmittelalterlichen Geschichte, in: Archiv für Kulturgeschichte, 80 (1998), S. 269 ff., hier S. 284). 404 Vgl. Finer; History I, S. 25. 405 Vgl. WG, S. 692 f. "Kirchen" in voller Bedeutung hätten nur das Christentum, der Buddhismus, der Islam, in national gebundenem Sinn: der Mahdismus und das Judentum geschaffen. Aber selbst im Fall des Hinduismus operiert Weber in charakteristischer Weise mit einem "negativen" Kirchenbegriff. Zwar schließt die hinduistische Kastenordnung eine universalistische Glaubensgemeinschaft prinzipiell aus; dennoch kennzeichnet sie Weber als
4. Okzidentaler Patrimonialismus und politische Rationalisierung
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Sonderweg. Zur Kirchenbildung kommt es schließlich auch im Islam, im Buddhismus oder im Judentum, davor bereits durch die spätägyptische Hierokratie. 406 Vielmehr ließen die besondere Gestaltung der prekären Beziehungen zwischen Kirche und Staat vor und nach der Gregorianischen Reform sowie die Eigenart der innerkirchlichen Entwicklung den juristisch-administrativen Rationalisierungsimpulsen - trotz der auch dem Katholizismus inhärenten materialen und antiformalen Tendenzen - genügend Raum, um Rationalisierungsprozesse auf politischem Gebiet direkt und indirekt zu stimulieren. Der hellenischen Philosophie verdankte die mittelalterliche Kirche eine Naturrechtslehre, mit deren Hilfe sie ihr Verhältnis zur Welt dogmatisch neu begründen konnte. 407 Die aus dem "relativen Naturrecht" gewonnene organische Sozial- und Berufsethik, nach der allen Ständen und Berufen ihre gottgewollte Stellung zukommt, alle menschlichen Gewaltverhältnisse geheiligte Autoritätsbeziehungen sind, bot gleichzeitig den dogmatischen Schlüssel zur Eingliederung der klösterlichen Virtuosemeligiosität in die kirchliche Gemeinschaft. Klosteraskese und methodisch-rationale Mönchsarbeit, v.a. auf landwirtschaftlichem und wissenschaftlichem Gebiet, erfüllten einfach eine sehr spezielle Aufgabe: "die Schaffung eines Thesaurus der überschüssigen guten Werke, aus dem die Anstaltsgnade spendet,,.408 Der Mönch verkörperte nun nicht mehr das Paradigma eines streng persönlichen Heilsweges, sondern tat seine Arbeit "im Dienst der hierokratischen Autorität: der äußeren und inneren Mission und des Kampfes gegen die konkurrierenden Autoritäten.,,409 Als der exemplarisch religiöse Mensch war er ,,[ ... ] - wenigstens in den Orden mit rationalisierter Askese, am meisten den Jesuitenorden - zugleich der erste spezifisch ,methodisch', mit ,eingeteilter Zeit' und steter Selbstkontrolle, unter Ablehnung alles unbefangenen ,Genießens' und aller nicht dem Zweck eine in "sonst nirgends auch nur annähernd erreichten Maß [ ... ] religiös-ritualistisch orientierte, - wenn der Ausdruck ,Kirche' nicht [ ... ] unanwendbar auf den Hinduismus wäre, so würde man etwa sagen: eine ,kirchenständische' Rangordnung" (GARS 11, S. 46 f.). Die Kaste nämlich ist die religiöse bzw. magisch-ritualistische Abwandlung ständischer sozialer Schließung (vgl. ebd., S. 45; WG, S. 536; Mann, Macht H, S. 164 ff.). 406 Vgl. WG, S. 693. An ägyptische Traditionen knüpft - neben den bekannten römischen Reminiszenzen - die mittelalterliche bürokratische Organisation des katholischen Amtsapparates nach Webers Überzeugung an (vgl. ebd., S. 694; GASW, S. 174 f.). 407 Vgl. WG, S. 360,480 über die Umwandlung des stoisch-christlichen "absoluten Naturrechts" eines goldenen Urstands zum "relativen Naturrecht" in der thomistischen organischen Soziallehre und Berufsethik. Ähnlich schon Ernst Troeltsch, Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen I, ND Tübingen 1994 C19l2), bes. S. 252 ff., 286 ff.; ders., Das stoisch-christliche Naturrecht und das moderne profane Naturrecht, in: Historische Zeitschrift, 106 (1911), S. 237 ff., bes. 247 ff. 408 WG, S. 360, 694. 409 WG, S. 694 f., 698 f. Dies gilt insbesondere für die bedeutenden kolonisatorischen Leistungen des christlichen Mönchtums zwischen dem 5. und 8. Jh., deren Rolle für die Seßhaftwerdung der in magisch-animistischem Glauben befangenen Gerrnanenstämme Berrnan hervorhebt (vgl. ders., Recht und Revolution, S. 106). Zu den Kolonisationsleistungen des Zisterzienserordens vgl. WG, S. 695.
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III. Patrimonialismus und Rationalisierung
seines Berufs dienenden Inanspruchnahme durch ,menschliche' Pflichten, lebende ,Berufsmensch' und somit dazu prädestiniert, als Werkzeug jener bürokratischen Zentralisierung und Rationalisierung der Herrschaftsstruktur der Kirche zu dienen und zugleich, kraft seines Einflusses als Seelsorger und Erzieher, die entsprechende Gesinnung innerhalb der religiös gestimmten Laien zu verbreiten.,,4\O
Die primär eschatologische Orientierung des frühen Christentums hatte zunächst die außerweltliche monastische Askese forciert, damit freilich auch den seit dem Donatistenstreit gärenden Konflikt mit einer sich zunehmend verweltlichenden Kirche verschärft. 41l So ermöglichte gerade die frühchristliche Glaubenslehre jene rationalen Asketenleistungen, die die mittelalterliche katholische Kirche umbildend und integrierend ihrer eigenen Organisation zunutze machte. 412 Der bürokratische Charakter der kirchlichen Organisation, die Anstaltsgnade, aus der heraus die kirchlichen Beamten den religiös Bedürftigen die Heilsgüter spenden, und das Amtscharisma, welches sie dazu legitimiert, sind wiederum nicht denkbar ohne die Romanisierung und Verstaatlichung des Christentums in der konstantinischen Zeit, speziell die Rezeption des römischen Amtsbegriffs. Für die Sonderstellung der katholischen Kirche ist schließlich entscheidend, daß sie seit dem 4. Jh. sehr verschieden starken politischen Gewalten gegenüberstand, in konstantinischer Zeit zur Reichskirehe unter kaiserlicher Kuratel, in fränkischer und salischer Zeit zur Landeskirche unter königlicher Oberherrschaft wurde, in der Reforrnzeit des 11./12. Jh. dennoch fest genug organisiert war, um sich den weltlichen Herrschaftsansprüchen erfolgreich zu widersetzen. Jetzt konnte sie dank ihres hellenisch-römischen Erbteils ihlen Beitrag zur okzidentalen Rechts- und Verwaltungsrationalisierung leisten. 413 Um den Bruch nicht nur in der Kirchen4\0 WG, S. 699. 411 Vgl. Troeltsch, Soziallehren I, S. 188 f. 412 Die erfolgreiche Instrumentalisierung der Klosteraskese für hierokratische Herrschaftszwecke reflektiert die Formulierung WG, S.695: "Die Askese tritt damit aus der Klosterze1le heraus und trachtet, die Welt zu beherrschen, zwingt durch ihre Konkurrenz ihre Lebensform (in verschiedenem Umfang) der Amtspriesterschaft auf und nimmt an der Verwaltung des Amtscharisma den Beherrschten (Laien) gegenüber teil." Zur Verkirchlichung des Mönchtums vgl. auch Troeltsch, Soziallehren I, S. 230 ff. 413 Vgl. WG, S. 469, 460 f., 480, 694, 708, 713. Gar nicht nötig ist es in diesem Zusammenhang, die katholische Kirche als "Präfiguration der modemen Bürokratie bzw. des modemen Staates" anzusehen - was Breuer, Hierokratie, S. 197 ff. an Schluchter, Religion und Lebensführung 11, S. 238 ff. (Kirche als erste rationale Bürokratie) und Berman, Recht und Revolution, S. 190 ff., 806, 808 (Kirche als erster moderner Staat) kritisiert. Zwar scheinen die Weberschen Formulierungen jene Deutungen mindestens teilweise zu stützen, indem sie die Verwaltung der katholischen Kirche als im Kern "bürokratisch", ihr Recht und ihre Justiz als ,,rational" charakterisieren. Doch gehört zu den Implikationen der idealtypischen Begriffsbildung, daß damit traditionale Brechungen der Verwaltungsstruktur (so die notorische Neigung zu Simonie und Nepotismus, die aus der fortdauernden Einbindung der Kirche in die weltliche Verwaltungs- und Herrschaftsstruktur auch nach der Gregorianischen Reform folgte) nicht ausgeschlossen sind. Die materiale Brechung des kanonischen Rechts (die etwa in den ethisch-theologischen Konsequenzen der katholischen Glaubenslehre liegen) hat
4. Okzidentaler Patrimonialismus und politische Rationalisierung
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geschichte des späten 11. und 12. Jh.s zu veranschaulichen, um die bedeutende Aufwertung der religiösen Sphäre durch die Konzentration und Rationalisierung der hierokratischen Herrschaft, zugleich aber die indirekt dadurch forcierte Säkularisierung der weltlichen Sphäre zu skizzieren, seien im folgenden die wesentlichen Stationen der kirchlichen Entwicklung seit der Spätantike kurz rekapituliert. Seit dem 3. Jh. nahm das Christentum auf dem Wege zunehmender Privilegierung und Beeinflussung seiner Organisation durch Aufnahme des römischen Korporationsrechtes die Gestalt eines bürokratisierten Staatskirchentums unter kaiserlicher Kontrolle (der Kaiser war Oberhaupt der Kirche und berief Konzilien ein) an. 414 Der bis in seine Organisationsstruktur hellenisierte spätrömische Staat und die eschatologisch-weltablehnend ausgerichtete Kirche gingen dabei eine paradoxe Interessenverbindung ein, die dem Staat gerade wegen der vorherrschend weltfernen Haltung der Kirche die unangefochtene Führung überließ. Bündig beschreibt Ernst Troeltsch die Situation: "Die in den alten Ideen festgewurzelten Institutionen und die geistige Bildung sind zu alt, zu selbständig, zu wurzelfremd, um noch neue Antriebe in sich aufzunehmen, und die Kirche ist noch zu jenseitig, noch zu sehr Kind des Kampfes und Sieges, noch zu innerlich spröde, um sich derartig in das innere Gefüge des Staates einzusaugen. Man wird eher umgekehrt von einer starken soziologischen Beeinflussung der Kirche und ihrer Anstalten durch das römische Korporationsrecht und durch die Fortwirkung des alten jus sacrum reden dürfen. Andererseits wird man die steigende religiöse Verherrlichung der Krone und ihres Beamtentums, den ganzen Byzantinismus, weniger auf kirchliche als auf heidnischorientalische Einflüsse zurückführen müssen; und wenn in der Auflösung des Westens die Kirchen und Bischöfe oft die Funktionen des Staates übernehmen, so ist das nur der Zwang der Notlage und der Ausdruck des Machtverhältnisses, aber keine innere Annäherung der Lebensform des Staates an die der Kirche.,,415 Weber durchaus gesehen, doch zugleich dessen Sonderstellung zwischen den Typen des material rationalen und des formal rationalen Rechts hervorgehoben. Diese hing mit der Rezeption des römischen Rechts zusammen, welche letztlich den Beitrag der Kanonistik zur okzidentalen Rechtsformalisierung ermöglichte (vgl. WG, S. 396 f., 468 ff., 480 f.). Idealtypische Begriffe sind hypothetische Urteile, und speziell den idealtypischen Entwicklungskonstruktionen, die bei Weber dem Gedanken des okzidentalen Rationalisierungsprozesses zugrunde liegen, sind Konzepte wie das der "Präfiguration" eines institutionellen oder organisatorischen Zusammenhanges innerlich disparat. Das immerhin ist Breuer zuzugeben, der freilich m.E. das Kind mit dem Bade ausschüttet, wenn er im gegebenen Fall die mittelalterliche kirchliche Entwicklung als Faktor der politischen Rationalisierung ganz aus dem Blickfeld rücken möchte (vgl. Hierokratie, S. 202). Vielmehr ist daran festzuhalten, daß auf dem Gebiet der Rechtsentwicklung "das kanonische Recht für das profane Recht geradezu einer der Führer auf dem Wege zur Rationalität wurde", während auf dem Gebiet der politischen Entwicklung "die Kirchen [ ... ] die ersten ,Anstalten' im Rechtssinn (waren), und mit von da aus [ ... ] die juristische Konstruktion der öffentlichen Verbände als Korporationen (begann)" (Zitate WG, S. 481). 414 Zu der nochmaligen römischen Reichseinigung durch Konstantin, zu dessen religiösem Sendungs bewußtsein und zur wachsenden Privilegierung der christlichen Religion vgl. allgemein: Handbuch der Kirchengeschichte 11, I, Freiburg 1985, S. 3 ff.; zur Entwicklung des Christentums im 4. Ih. und zur Entstehung der "Reichskirche" vgl. ebd., S. 80 ff.
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111. Patrimonialismus und Rationalisierung
Als Folge dieser Verhältnisbestimmung repräsentierte die alte Kirche ein göttliches Reich in, aber nicht: von dieser Welt. Die Nachwirkungen der Eschatologie schlossen eine kulturelle Tiefenwirkung der christlichen Ethik zunächst aus - eine solche war unter diesen Bedingungen weder möglich noch beabsichtigt. Andererseits wuchs naturgemäß das Bedürfnis, den sündigen irdischen Ordnungen, namentlich der politischen Gewaltordnung des römischen Imperiums zumindest für die Dauer der Welt einen Platz in der göttlichen Schöpfung anzuweisen. Dies wiederum ennöglichte auf der Grundlage der alten Gottesgnadentumsvorstellung durchaus ambivalente Fonnen hierokratischer Herrschaftslegenden ("gutes" wie "schlechtes" Kaisertum als "Zuchtrute" bzw. "Strafe" Gottes).416 Ihrer Verwertung für legitimatorische Zwecke hatte deshalb die Kirche ebenso wenig entgegenzusetzen wie der zunehmend praktizierten Übertragung von sozialpolitischen, administrativen und jurisdiktionellen Aufgaben in spätrömischer Zeit. "Durch seine [die staatliche, S.H.] Gewalt hat sie ihr Verfassungsnetz aufgebaut, ihr Vermögen erworben und ihre den Staat ergänzende und korrigierende Gerichtsbarkeit gewonnen. Sie sorgt damit unmittelbar nur für sich, das übrige soziale Leben hat sie dem Kaiser und dem Gesetz überlassen. Eine einheitliche christliche Kultur hat sie unter der Nachwirkung der alten Weltfremdheit und unter dem Druck des Parallelismus der heiden selbständigen Sozialgebilde, des universalen Imperiums und der universalen Kirche, im Altertum nie gewonnen, nie gewinnen wollen und nie gewinnen wollen können. Das unter der Theokratie der Kirche stehende und auf dem Grund des relativen Naturrechts aufgebaute ,heilige römische Reich' ist das Ergebnis, in das all diese Widersprüche auslaufen und das daher eine innere Einheit weder ist noch sein Will.,,417
Der ideologische und organisatorische Partikularismus der Kirche, der vor ihrer Rezeption in den Staatsverband hinter der verbindenden weitablehnenden Stellungnahme zurücktrat, wurde nun zu einer schwerwiegenden Hypothek. Auch die staatlichen Versuche, die organisatorische, rechtliche und dogmatische Einheit der 415 Troeltsch, Soziallehren I, S. 151; auch S. 179, 190 f., 239. Vgl. auch Webers Zusammenfassung der unterschiedlich akzentuierten Stellungnahmen des alten und mittelalterlichen Christentums zum Staat im religionssoziologischen Kapitel ausdrücklich im Anschluß an Troeltschs Untersuchungen WG, S. 359 f. Zum Einfluß des römischen Korporationsrechts vgl. bes. Gierke, Genossenschaftsrecht 111, S. 122 ff. 416 Vgl. WG, S. 359 f., 480. Die stoisch-naturrechtlichen Rezeptionen, mit deren Hilfe sich die katholischen Theoretiker das Verhältnis zur Welt und speziell zur politischen Gewalt zurechtlegten, reichten allerdings nicht bis zu den von einigen Stoikern und Juristen vollzogenen demokratischen Herrschaftsvertragslehren. Hier blieb es vielmehr bei der alten Vorstellung vom Willens gott, der die Mächte und Ordnungen, so auch die kaiserliche Gewalt, nach Belieben einsetzt. Reminiszenzen an die alttestamentlichen Königseinsetzungen (von der ideologischen Parallele bei den spätmittelalterlichen deutschen Königen war bereits die Rede) sowie der "Abscheu vor der Konsequenz des naturrechtlichen Gedankens, daß es dann erlaubt sein müsse, einen an das Naturrecht sich nicht bindenden Kaiser abzusetzen", bestätigten diese Rezeptionslinie. "Auch gottlose Kaiser müssen ertragen werden, und zwar nicht um ihrer naturrechtlichen Begründetheit willen, sondern als Gottesstrafe für die Sünden" (Troeltsch, Soziallehren I, S. 167 f.). 417 Troeltsch, Soziallehrefl I, S. 172; auch S. 179; vgl. WG, S. 480.
4. Okzidentaler Patrimonialismus und politische Rationalisierung
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Kirche im eigenen machtpolitischen und verwaltungstechnischen Interesse voranzutreiben, waren nur begrenzt erfolgreich, boten jedoch eine stetige Quelle politischer Einflußnahme auf kirchliche Angelegenheiten. Umgekehrt wurden die politischen Erwartungen einer staatstragenden und staatserhaltenden Rolle der Kirche nur z. T. erfüllt; "die kirchlichen Kämpfe und die dem Staate gegenüber inkommensurablen kirchlichen Mächte haben besonders im Westen geradezu auflösend und zerstörend gewirkt.,,418 In der Phase des Reichszusammenbruchs und der sich erst allmählich formierenden germanisch-fränkischen Staatsgewalten wurden Bischöfe, Parochialklerus und Klöster die regelmäßigen Organe der Alltagsverwaltung. Schon im Kaiserreich hatten sie die Armen- und Krankenversorgung übernommen, wurden Schul- und Waisenhäuser von ihnen geführt; die Klöster betrieben die christliche Mission durch eine agrarische Kolonisationsbewegung großen Stils. Andererseits waren diese Leistungen nur möglich auf dem Fundament eines bereits erheblichen kirchlichen Grundbesitzes in den ehemaligen Gebieten des Imperiums, den Immunitätsrechte (territorialer Sonderfriede, Steuerexemtionen, eigene Gerichtsbarkeit, Patronatsrechte für Hintersassen)419 und die kaiserliche Anerkennung der kirchlichen Rechtspersönlichkeit (Schenkungen und Vermächtnisse) vielfach begünstigten. 42o Der Zusammenbruch des Westreichs im 5. Jh. führte zur getrennten Entwicklung von West- und Ostkirche. Während sich im öströmisch-byzantinischen Reich ein cäsaropapistisches Regime mit dem Kaiser an der Spitze der weltlichen und Kirchen-Verwaltung durchsetzte,421 zerfiel die reichskirchliche Parallelverwaltung Troeltsch, Soziallehren I, S. 189. Die Immunität, die in fränkischer Zeit neben dem Königsgut zahlreichen Kirchen verliehen wurde, bedeutete zunächst: Freiheit von öffentlichen Abgaben und Leistungen (sie umfaßte aber z. B. nicht die Brücken- und Wegebaulasten). Der seit dem 9. Jh. hinzu kommende "territoriale Sonderfriede" stattete den Kirchenbesitz mit einem erhöhten Rechtsschutz gegen die königlichen Beamten und jeden Dritten aus. Das Königtum konnte damit die Immunitätskirchen gegen den die Grafenrechte aneignenden Lokaladel enger an sich binden. Vgl. Brunner; Deutsche Rechtsgeschichte 11, S. 287 ff., bes. 290 ff., 296 ff.; Below, Der deutsche Staat, S. 252 ff.; aus der neueren Literatur: Dietmar Willoweit, Deutsche Verfassungsgeschichte, München 1990, S. 20, 29, 43; zu Entwicklung und Umfang der Immunität auch Hans Boldt, Deutsche Verfassungsgeschichte. Politische Strukturen und ihr Wandel, Bd. 1: Von den Anfängen bis zum Ende des älteren deutschen Reiches 1806, München 1984, S. 66 ff., 99 ff. 420 Darüber zusammenfassend Amold H. M. Iones, The Social Background of the Struggle between Paganism and Christianity, in: Amaldo Momigliano (Hg.), The Conflict between Paganism and Christianity in the Fourth Century, Oxford 1963, S. 17 ff. 421 Lediglich bei der Regelung ihrer inneren Angelegenheiten sollte die Kirche eine beschränkte Autonomie genießen, während für die äußeren (legislativen und administrativen) Angelegenheiten die kaiserliche Prärogative schrankenlos galt (vgl. Bendix, Könige oder Volk I, S. 50). Zu den Grundzügen der frühbyzantinischen Kirchengeschichte: Handbuch der Kirchengeschichte 11, 2, S. 15 ff., 75 ff. Namentlich Justinians (527 - 565) Reichspolitik ist von Beginn an in eminentem Maße Kirchenpolitik. Der Kaiser schützt und fördert die Kirche durch seine Gesetzgebung, betraut umgekehrt die Bischöfe mit einer Reihe diskretionärer Aufgaben v.a. in der Rechts- und Steuerverwaltung, ohne sie jedoch förmlich in den Reichs418
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III. Patrimonialismus und Rationalisierung
(Diözesen / Patriarchen; Provinzen / Metropoliten; Städte / Bischöfe) im Westen. Was die Bischöfe durch die Aufrechterhaltung der lokalen Zivil- und Militärverwaltung an politischem Einfluß gewannen,422 verlor die abendländische Kirche an hierarchischer Einheit. Weil eine starke Zentralgewalt in den Wirren der Völkerwanderungszeit ebenso fehlte wie noch im eher föderal und dezentral strukturierten Merowingerreich, wurden besonders Klöster und geistliche Stifte zu gesuchten Schutzherren, was sich wiederum in dem durch zahlreiche Kommendationen vermehrten Kirchenbesitz niederschlug. Abgesehen vom Mönchtum war die Kirche als Organisation, v.a. wegen des an Umfang ständig zunehmenden Kirchengutes, sehr weitgehend in das soziale, wirtschaftliche und politische Leben eingebunden. 423 Und diese Verbindung mit den "unheiligen" Alltagsmächten blieb nicht ohne Rückwirkung auf sie selbst: Bischöfe und Priester, die von den führenden Politikern unter ihren Freunden und Verwandten ausgewählt wurden, waren in die zeittypischen Erscheinungen von Korruption und Gewalt oft tief verstrickt. Die Auflösung der alten Reichskirche führte im Okzident allmählich zur Ausbildung der fränkischen Landeskirche.424 Diese konnte sich zwar unter den Merowingern eine relative Selbständigkeit gegenüber dem Papst wie dem fränkischen König bewahren, unterstand aber seit den Karolingern dem faktischen und rechtlichen Supremat des Königtums. Der König (Kaiser) setzte bevorzugt Bischöfe und Äbte als Beamte und königliche missi ein, berief Kirchenkonzilien ein und verkündete Kirchenrecht. Besonders aber verstand er sich als Schutzherr der Kirche, deren Gerichtsbarkeit er mit seiner Banngewalt unterstützte. Bischöfe hielten Ämter der Lokal- oder Zentralverwaltung und Diözesen waren die regulären Verwaltungsbezirke. Personell wie ideologisch durchdrangen sich Kirche und Staat unter Führung des letzteren. Das fränkische Reich erscheint als Kirchen-Staat oder theokratische Monarchie, die trotz Anerkennung der päpstlichen und bischöflichen Oberhoheit in Glaubensdingen weltliches und geistliches Schwert faktisch in einer Hand (der des Königs) vereinigte. 425 Von Karl dem Großen wird berichtet, er habe dienst zu nehmen (vgl. ebd., S. 21). Den entscheidenden Grund für die andersartige Kirchenentwicklung im Okzident sieht Troeltsch, Soziallehren I, S. 194 f. gerade darin, daß die Ostkirche einen ideologischen Herrschaftsanspruch gegenüber dem Staat nicht erhoben habe, es somit trotz der äußerlichen Führung des geistlich-weltlichen Kaisertums letztlich bei dem alten Parallelismus von Staat und Kirche geblieben sei. Gefehlt habe eben das entwicklungsgeschichtlich fundamentale Spannungsverhältnis zwischen Kirche und Staat, welches die unter dem Anspruch des Primats der geistlichen Gewalt von der okzidentalen Kirche in Ansätzen bereits seit dem Frühmittelalter unternommenen Versuche gegenseitiger Durchdringung und innerer Verschmelzung gezeitigt habe. Die Nähe der kulturvergleichenden Perspektive und sachlichen Argumentation zu Weber ist an dieser Stelle besonders augenfällig. 422 Vgl. Gien W Bowersock, Vom Kaiser zum Bischof. Die Verlagerung der politischen Macht im 4. nachchristlichen Jahrhundert, in: Eisenstadt (Hg.), Kulturen II, 3, S. 284 ff. 423 Vgl. Troeltsch, Soziallehren I, S. 204 f. 424 Zur Entwicklung der lateinischen Kirche seit der Spätantike, speziell zur Präbendalisierung und Feudalisierung der Kirchenämter vgl. die knappen Bemerkungen Webers, WG, S. 600 ff., 614; eine Überblicksdarstellung bietet: Handbuch der Kirchengeschichte II, 2, S. 95 ff.
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den Papst als seinen Hofkaplan betrachtet und ihn (Leo I1I.) schlicht beschieden, daß es Aufgabe des Königs sei, die Kirche zu regieren und zu verteidigen, die des Papstes dagegen, für sie zu beten. 426 Die genti1charismatischen Ursprünge des germanischen Sakralkönigtums (stirps regia) wirkten auch unter dem christianisierten Königtum der Karolinger, Sachsen und Salier bis ins 11. Jh. nach. Doch traten seit der Kaiserkrönung Karls 800 die hierokratische Konsekration und die - zunehmend effektive - Wahl des Königs als Legitimationsquellen an ihre Stelle. 427 Mochten auch die Königswahlen in sächsischer und salischer Zeit wesentlich nominell gewesen sein, de facto-Akklamationen einer im Prinzip dynastischen (also erbcharismatischen) Herrschaft, mochten Karl und seine Nachfolger im 10. /11. Jh. die päpstliche Weihe nur als Beglaubigung ihres gottgegebenen Amtes aufgefaßt haben - so konnten doch beide Prinzipien für ein Königtum, dessen materielle Machtbasis, das Krongut, immer mehr zusammenschrumpfte und dessen fiskalische und militärische Reserven (Abgaben und Einkünfte aus dem Kirchengut; bischöfliche Kriegsaufgebote) durch den Investiturstreit in Frage gestellt wurden, zum ideologischen Einfallstor jener Gewalten (Reichsfürsten und Papsttum) werden, die schließlich die Entmachtung des deutschen Königtums seit Ende der staufischen Königslinie betrieben. "Das Aussterben der deutschen Karolinger und dann der nachfolgenden Königsgeschlechter, fast stets in dem Augenblick, wo das Erbcharisma vielleicht die Kraft hätte gewinnen können, das von den Fürsten in Anspruch genommene Mitbestimmungsrecht in den Hintergrund zu drängen, im Gegensatz zu Frankreich und England, ist für den Verfall der deutschen Königsrnacht im Gegensatz zu der Stärkung der französischen und englischen von außerordentlicher Tragweite gewesen und hat historisch vermutlich weittragendere Folgen gehabt als selbst das Schicksal der Familie Alexanders.,,428
Das ideologisch, politisch und militärisch begründete Bündnis zwischen Kirche und Staat war das Fundament des römisch-deutschen Kaisertums, zugleich aber auch seine entscheidende Schwäche. Die von Otto I. erstmals systematisch betriebene Investitur von Bischöfen und Prälaten mit Ämtern und Land im fiskalpoli425 Theologisch begründete Versuche, das Kaisertum / Königtum der päpstlichen Gewalt zu unterstellen, gab es bereits Ende des 4. Jh.s (Ambrosius von Mailand) und Ende des 5. Jh.s (Papst Gelasius I.), erneut im 9. Jh. (Papst Nikolaus 1.). Sie blieben vorerst wirkungslos. Vgl. Bowersock, Vom Kaiser zum Bischof, S. 292 ff.; Bennan, Recht und Revolution, S. 157 f. 426 Mitgeteilt bei Bennan, Recht und Revolution, S. 113 mit Fn. 36. Ähnlich dann die Haltung Ottos I. (des Großen) bei der Wiederbelebung des Imperiums; vgl. Finer, History II, S. 939 f. Nachdem Otto 961 den Papst gegen einen aristokratischen Prätendenten verteidigt hatte, wurde er 962 zum Kaiser gekrönt und das Römische Reich (erst seit 1157 mit dem Zusatz "sacrum" tituliert) neu begründet. Das Papsttum stand nun fest unter kaiserlicher Kuratel, der Kaiser war Protektor des Papstes und seines Territoriums, er entschied über würdige Kandidaten und diese konnten erst konsekriert werden, nachdem sie ihm den Treueid geleistet hatten. 427 Vgl. Finer, History II, S. 938 ff.; zu den aus dem Nachfolgeproblem resultierenden Formen der Veralltäglichung und Versachlichung des Charisma: WG, S. 663 ff., 143 f. 428 WG, S. 673. 14*
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tisch-militärischen Interesse der Krone verstärkte letztlich nicht nur - gegenüber Frankreich und England - die desintegrativen Tendenzen des Feudalismus,429 sondern verhalf indirekt auch dem Papsttum zu seiner Machtentfaltung während des sog. Investiturstreits. 43o Bereits im frühen Mittelalter gründeten lokale Grundherren, Adlige, Fürsten v.a. in den großen städtelosen Binnenlandflächen des Nordens zahlreiche Kirchen und leiteten aus dem Eigentum daran das Besetzungsrecht für die parochialen Kirchenämter her (sog. Eigenkirchen).431 Diese Eigenkirchen waren ein unverzichtbares Mittel zur Christianisierung der Landbevölkerung, daneben erschlossen sie natürlich den Eigenkirchenherren neue Einkommensquellen. Zumindest darin war ihnen die machtpolitisch motivierte Feudalisierung der Bischofs stellen in ottonischer Zeit vergleichbar. 432 Gegen die im Eigenkirchenwesen und in der Laieninvestitur manifesten Laieneinflüsse433 richteten sich die kirchlichen Reformbewegungen im 10./ 11. Jh. In erster Linie bezweckten sie eine Intensivierung des religiösen Lebens, die die prinzipielle Unabhängigkeit der Kloster- und Kirchenhierarchie gegenüber den weltlichen Gewalten voraussetzte. Ausgangspunkt war im 10. Jh. der verbandsförmige (korporative) Zusammenschluß der kluniazensischen Klöster unter der Leitung der Abtei von Cluny.434 429 Nicht zuletzt durch die Entstehung geistlicher Reichsfürstentümer - neben den weltlichen die Kemzonen späterer deutscher Staatsbildung. 430 Vgl. Finer, History 11, S. 938 ff. 431 Vgl. zum Folgenden WG, S. 600 ff., 614; der Begriff der "Eigenkirche" geht zurück auf Ulrich Stutz (Die Eigenkirche als Element des mittelalterlich-gennanischen Kirchenrechts, Berlin 1895), an den auch die neuere Forschung zum Eigenkirchenwesen anknüpft. Die Ableitung aus einem urgennanischen oder allgemein indoeuropäischen Hauspriestertum wird heute meist zugunsten des Aspekts ihrer wirtschaftlichen Nutzbarkeit und ihrer auffallend parallelen Verbreitung mit der Grundherrschaft in der Spätantike verworfen. Das Institut der Eigenkirche bedeutete zunächst, daß dem Eigenkirchenherm diese mit ihrem gesamten Zubehör an Land und Einkünften als Sondervennögen zustand. Abgesehen von Unterhaltspflichten für die Kirche und die Priester, die er bestellte, genoß der Eigentümer den wirtschaftlichen Nutzen, so daß insoweit die bischöflichen Vennögens-, lurisdiktions- und Besetzungsrechte eingeschränkt waren. Das vollentwickelte Eigenkirchenwesen bestand vom 8. bis zum 11. Ih. und wurde im Zuge der Gregorianischen Refonnen allmählich beseitigt (vgl. Peter Landau, Art. Eigenkirchenwesen, in: Theologische Realenzyklopädie, Bd. IX, Berlinl New York 1982, S. 399 ff.). 432 Diese war für den König wegen der Nichterblichkeit geistlicher Ämter und Lehen einerseits, sicherer Abgabe- und Aufgebotskontingente der investierten Kleriker andererseits verlockend. Eigenkirchenwesen und weltliche Kirchenherrschaft sind jedoch auseinanderzuhalten: ,,[ ... ] in Deutschland ist die ottonische Kirchenhoheit der Könige nicht als Eigenkirchenrecht zu deuten, wohl aber setzte sich dieses im Bereich der Niederkirchen und Klöster durch" (Landau, Eigenkirchenwesen, S. 402). Finer, History 11, S. 939 sieht dagegen die Politik des Sachsenkaisers auch in Zusammenhang mit der gennanischen eigenkirchlichen Tradition. 433 D. h. in diesem Zusammenhang v.a.: gegen Kauf und Verkauf von Kirchenämtern (Simonie) und die damit verbundenen Priesterehen und -konkubinate (Nikolaitismus). 434 Vgl. Bennan, Recht und Revolution, S. 154 ff. Nach der neueren Forschung stand allerdings gerade Cluny dem Eigenkirchenrecht durchaus aufgeschlossen gegenüber und organisierte seinen umfangreichen Grundbesitz geradezu auf dieser Grundlage (vgl. Landau,
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Nach Ansätzen bereits im 9. Jh. suchte sich der fränkisch-deutsche Episkopat der v.a. Kirchengesetzgebung und Gerichtsbarkeit betreffenden Bevormundung durch die weltliche Gewalt zu entziehen, indem er die Oberherrschaft der Kirche über das Kaiser- / Königtum behauptete. 435 Die päpstliche Partei schreckte auch vor Dekretalenfälschungen ("Pseudoisidor") nicht zurück, um den hierokratischen und juristischen Primat des römischen Bischofs zunächst innerhalb der Kirche,436 letztlich aber über die ganze christliche Welt zu stützen. Im 11. / 12. Jh. spitzte sich der Kampf der Kirche gegen die Laieneinflüsse im sog. Investiturstreit zu. Seinen programmatischen Ausdruck fand er in den "Diktaten des Papstes" (Dictatus papae) Gregors VII. 437 Die Auseinandersetzung zwischen Papsttum und kaiserlicher (bzw. königlicher) Gewalt endete formell mit Konkordaten, in denen sich beide Seiten auf eine recht komplizierte Teilung der Ernennungsbefugnisse einigten (geistliche Investitur mit Ring und Stab, weltliche Investitur mit Regalien; kirchliche Weihe und feudale Huldigung und Treueid in verschiedener Reihenfolge).438 Theoretisch Guristisch) waren damit religiöse und politische Ordnung als selbständige Sphären ausdifferenziert, praktisch konnte dagegen von einer Trennung von Kirche und Staat im modemen Sinne keine Rede sein. Weltliche Gewalten (Kaiser, Könige, Fürsten, Städte) behielten einen nicht unerheblichen Einfluß auf die Besetzung der Kirchenämter und allgemein auf die Kirchenpolitik. Seit dem 13. Jh. blühte, zuerst in großem Maßstab in England, der Pfründenhandel mit den geistlichen Stellen, und neu war nur, daß das Papsttum selbst als einer seiner größten Profiteure agierte. Weber weist freilich auf die außerordentliche Bedeutung gerade dieses Umstands für die Entwicklung der okzidentalen Intellektuellenkultur Eigenkirchenwesen, S. 402). Wie weit die Zentralisierung von Cluny bereits im 10. Jh. ging und ab wann von einer Korporation im vollen Sinne die Rede sein kann, ist umstritten. Vgl. bereits die vorsichtigen Formulierungen bei Weber: ,,[ ... ] eine interlokale Organisation bestand auch hier nur in der Form des Filiationssystems" (WG, S. 695). 435 Für die rechtshistorischen, kirchenrechtlichen und theologischen Aspekte der Entwicklung vgl. aus der älteren Literatur Brunner; Deutsche Rechtsgeschichte II, S. 323; Paul Hinschius, Das Kirchenrecht der Katholiken und Protestanten in Deutschland, Bd. 3: System des katholischen Kirchenrechts mit besonderer Rücksicht auf Deutschland, Berlin 1883, S. 554 ff., 713 f., 714 ff.; Troeltsch, Soziallehren I, S. 191; Karl Müller; Christentum und Kirche Westeuropas im Mittelalter, in: Die Kultur der Gegenwart, hg. von Paul Hinneberg, Teil I, Abt. IV: Christliche Religion mit Einschluß der israelitisch-jüdischen Religion, Berlin I Leipzig 1906, S. 183 ff., hier S. 196 ff. 436 Hier ging es um solche Dinge wie die alleinige päpstliche, konziliare oder synodale Gesetzgebungs- und Jurisdiktionsgewalt in allen (im weitesten Sinne) kirchlichen Angelegenheiten, das päpstliche Ernennungsrecht für erledigte Bischofsstühle, den Priesterzölibat und das Verbot von Laieneigentum an Kirchen. 437 Allgemein zu Verlauf und Folgen der Gregorianischen Reform: Handbuch der Kirchengeschichte, III, I, S. 401 ff., 485 ff.; Brian Tiemey, The Crisis of Church and State: 10501300, with Selected Documents, Englewood Cliffs, NJ. 1964. 438 Im sog. Wormser Konkordat von 1122 verglichen sich Kaiser und Papst; für England und die Normandie hatte König Heinrich I. in der bereits 1107 geschlossenen Vereinbarung von Bec ähnliche Zugeständnisse an den Heiligen Stuhl gemacht (vgl. Berman, Recht und Revolution, S. 166 f.).
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hin. 439 Andererseits spielten die Bischöfe und Äbte weiterhin eine wichtige Rolle in der kaiserlichen/königlichen Verwaltung. Kleriker bekleideten hohe Ämter in der curia regis, später in den allmählich daraus hervorgehenden Zentralbehörden, wie königliche Kanzlei, Königsgericht, Schatzamt etc. Daneben blieben sie als Grundherren mit Gerichts-, Aufgebots- und Steuergewalten über ihre Hintersassen und Leibeigenen ein wesentlicher Faktor der Lokalverwaltung. 440 Der Papst galt aber von nun an als oberster Gesetzgeber, Richter und höchste ausführende Gewalt in allen Fragen des Dogmas, des Kultus und der Kirchenverfassung. Die Kirche war idealiter eine hierarchisch strukturierte, körperschaftlich verfaßte "Anstalt" mit monokratischer Spitze und einer Hierarchie von Verwaltungs- und Gerichtsinstanzen. Systematische Sammlungen des Kirchenrechts im 12., 13. und 14. Jh. (Dekretaliensammlungen) faßten die seit dem 2. / 3. Jh. ergangenen Kanones, Synodal- und Konzils-Beschlüsse, Erlasse und Entscheidungen einzelner Bischöfe, Gesetze der christlichen Könige und Kaiser, schließlich die in Bußbüchem und Schriften der Kirchenväter enthaltenen kanonischen Regeln zusammen. Mit Hilfe einer neuen wissenschaftlichen Methode - der Scholastik - gelang es, in diesen Sammlungen, von denen diejenige Gratians (1140) die bedeutsamste war, "altes" und "neues" Recht zum "System" eines kanonischen Rechts durchzuformen. Dieses kanonische Recht markiert nach Berman - ganz im Sinne Webers - die Epochenschwelle in der mittelalterlichen Kirchengeschichte: "Die Kirche wurde zum erstenmal als juristisches Gebilde, als Rechts-Staat gesehen, und sie bildete sich um zu einer komplizierten Bürokratie mit einem professionellen Gericht, einem professionellen Schatzamt und einer Kanzlei. Das Verfassungsrecht der Kirche nahm die Form des Körperschaftsrechts an; es verband den römischen Begriff der Körperschaft als Anstalt mit dem germanischen als Genossenschaft und fügte beidem die christliche Vorstellung einer - nominalistisch aufgefaßten - Gruppenperson hinzu. Aus dem kanonischen Körperschaftsrecht ist der Gedanke abgeleitet, daß die ausführende Gewalt nur mit ,dem Rat und der Zustimmung' eines Beratungsgremiums handeln könne, welche auf dem Grundsatz beruhen, daß die unmittelbar von einer Entscheidung Betroffenen an ihr mitwirken dürfen. Das kanonische Recht ist auch die Quelle moderner Unterscheidungen zwischen personenbezogener und sachenbezogener Rechtsprechung.,,441 Wie sehr auch die praktischen Resultate der Gregorianischen Reform hinter den Absichten ihrer Initiatoren zurückblieben, wie unvollständig auch die tatsächliche Trennung von Kirche und Staat blieb - mit Blick auf Webers Betonung der entwicklungsgeschichtlichen Tragweite von "Ideen" wird sich eine Kausalität der 439 Vgl. WG, S. 601. Wahrend zahlreiche Universitätsgründungen auf kirchliche Initiative zurückgingen, spielten die Universitäten ihrerseits eine oft übersehene Rolle im Geschäftsverkehr der Kurie; vgl. dazu Rudolf Hiestand, Bologna als Vermittlerin im kurialen Zahlungsverkehr zu Beginn des 13. Jahrhunderts. Eine übersehene Rolle der frühen Universitäten, in: Vierteljahresschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, 82 (1995), S. 332 ff. 440 Vgl. dazu Heinz Hünen, Die Verbindung von geistlicher und weltlicher Gewalt als Problem in der Amtsführung des mittelalterlichen deutschen Bischofs, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte, 82 (1971), S. 16 ff. 441 Bennan, Recht und Revolution, S. 808; vgl. ebd., S. 806,791/804, 190 ff.
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"päpstlichen Revolution" für die säkulare Verwaltungs- und Rechtsrationalisierung schwerlich von der Hand weisen lassen. Die fortbestehende Verflechtung mit den weltlichen Ordnungen regenerierte eo ipso jene epochale religiös-theologische Neuorientierung des kirchlichen Weltverhältnisses. Eine Kirche, die in der Welt und doch nicht von der Welt sein wollte, mußte unter den gegebenen Bedingungen sich einen Verwaltungsapparat und ein Rechtssystem schaffen, mit deren Hilfe sie diesem Anspruch Geltung verschaffen konnte. Die bürokratisch-monokratische Struktur ihrer Amtsorganisation wie der rationalistische Charakter ihres Rechts mögen, angesichts der chronischen Neigung zu Simonie und Nepotismus,442 der prinzipiell materialen Tendenz ihrer Rechtsrationalisierung443 und der letztlich personalistisch gefaßten charismatischen Autorität,444 an unüberwindliche immanente Schranken gestoßen sein. Dennoch hat die päpstliche Ideologie nicht nur die Rationalisierung der Kirchenverfassung in ihrem Sinne vorangetrieben. Sie förderte auch die politische Rationalisierung der Feudalmonarchien, die sich in drei FrontsteIlungen behaupten mußten: gegenüber dem universalistischen Herrschaftsanspruch der Kirche, gegenüber den Städten und großen Vasallen sowie gegenüber den konkurrierenden Staaten. Hierarchische Herrschaft, Instanzenzug, geregelte Zuständigkeiten, Satzungskompetenz, konsequente Differenzierung von ius und fas, aber auch von Rechtswissenschaft und Theologie sind - wie gesagt - die hierfür ausschlaggebenden Momente. Namentlich die revolutionäre Auffassung des kanonischen Rechts als ein sich in der Zeit entwickelndes, einheitliches, durch päpstliche (bzw. konziliare) Gesetzgebungsgewalt fortgebildetes und durch wissenschaftliche Bearbeitung systematisiertes Rechtskorpus. Die Kanonisten konnten für ihre Vereinheitlichungsund Systematisierungsarbeit auf das römische Recht - wie es seinerzeit in Bologna gelehrt wurde - zurückgreifen und dessen Erforschung und Lehre ihrerseits neue Impulse geben. So trat die Kirche zugleich als wichtiger Förderer der sich seither ausbreitenden Universitäten und der dortigen Lehre des römischen wie kanonischen Rechts auf, wobei schließlich weltliches Recht, Kirchenrecht und Theologie als eigenständige Disziplinen geschieden wurden. Aus Webers Sicht war gerade das für die juristischen Qualitäten des kanonischen Rechts durchaus entscheidend, da sich auf diese Weise der römische Rechtsformalismus - unter den unverfügbaren materialen Bedingungen des Dogmas - in immerhin weitreichendem Maße habe erhalten können. 445 Vgl. WG, S. 601; Wolfgang Reinhard, Papstfinanz und Nepotismus, Stuttgart 1974. Vgl. WG, S. 480 f., 708. 444 Breuer; Hierokratie, S. 200 ff. weist darauf hin, daß das hierokratische Amtscharisma der katholischen Kirche als Versachlichung des Charisma primär im Sinne der Objektivierung, d. h. seiner Vergegenständlichung in einer Institution, nur z. T. dagegen im Sinne der Entpersönlichung zu denken sei. Denn die Kirche sei eine auf personal-autoritären Repräsentationsverhältnissen beruhende (göttliche) Einrichtung, repräsentiere so die sichtbare Gemeinschaft des - personal aufgefaßten - dreieinigen Gottes, als dessen irdische Vertreter wiederum die mit spezifisch autoritärer Würde ausgestatteten Priester fungierten. 442 443
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"Die prinzipielle Schrankenlosigkeit des Anspruchs auf materiale Beherrschung der gesamten Lebensführung, welche es [das kanonische Recht, S.H.] mit allen theokratischen Rechten teilte, blieb im Okzident für die juristische Technik um deswillen relativ unschädlich, weil in Gestalt des römischen Rechts ein formal zu ungewöhnlicher Vollendung gediehenes und durch die historische Kontinuität zum universalen Weltrecht gestempeltes profanes Recht ihm Konkurrenz machte: die alte Kirche selbst hatte das römische Imperium und sein Recht als für die Dauer der diesseitigen Welt endgültig bestehend behandelt.,,446
Als weltliche Verwaltungsbeamte waren die römisch- und kanonisch-rechtlich geschulten Kleriker an der Rationalisierung des Amtsrechts, der königlichen Gesetzgebungen (zunächst: Strafrecht und StrafprozeB), häufig direkt beteiligt. So hat auf die von Weber angeführten ProzeBrechtsreformen der englischen und französischen Juristen-Könige des 12. und 13. Jh.s das Christentum nicht nur ideologisch, sondern - über die kanonistische Verfahrensrationalisierung - auch rechtstechnisch eingewirkt. 44? Darüber hinaus ist bezeichnend, daß im Gefolge der päpstlichen Rechtsrevolution eine Kodifikationswelle Feudalrecht, Stadtrecht, Gutsrecht, Handelsrecht und Königsrecht gleichermaßen erfaBte, für weIche das römisch-kanonische Recht in vielem das Vorbild gab. Rechtsinhaltlich formte - worauf ebenfalls 445 "Im Mittelalter sonderte dann die abendländische Universitätsbildung den Lehrbetrieb der Theologie auf der einen Seite und den des weltlichen Rechts auf der anderen Seite von der kanonistischen Rechtslehre und hemmte so die Entstehung theokratischer Mischbildungen, wie sie sonst überall eingetreten sind" (WG, S. 480). 446 WO, S. 481; auch S. 708. Den theokratischen Charakter, den das kanonische Recht mit anderen religiösen Rechten teilt, betont Breuer, Hierokratie, S. 199 f. gegen Berman m.E. zu stark, da es doch darauf ankommt, das Unterscheidende dieses hierokratischen Rechtssystems: die Anerkennung der prinzipiellen Differenz zum weltlichen Recht einerseits, zum in der Theologie wissenschaftlich bearbeiteten Inhalt der Glaubenslehre andererseits, festzuhalten, was seine (relative) Rationalität auch in formaler Hinsicht verbürgt. Zumindest darin ist Berman zuzustimmen. Ob man so weit gehen will, die Kirche als ,Präfiguration ' des modernen Staates zu begreifen - wie seine Formulierungen gelegentlich nahelegen (vgl. Berman, Recht und Revolution, S. 190, 806, 808, 810) - ist eine andere Frage. Generell scheint mir im übrigen Breuers zuspitzende Polemik den Kern der Bermanschen These, die dieser immer wieder auch einschränkend formuliert (z. B. ebd., S. 192 f., 808, 810, wo von "Kirehen-Staat", "Rechts-Staat" und "staatlicher Struktur" die Rede ist), nicht zu treffen. Die aber besagt im wesentlichen, daß erstmals die katholische Kirche ein dem modernen Staat strukturell vergleichbares Regierungssystem mit rationaler politischer Leitungsbehörde (Kanzlei, curia, Kurie), komplexer Bürokratie, professionellem Schatzamt, professionellem Gericht und rationalem Verfassungsrecht geschaffen habe. Allein dadurch habe sie gegenüber den weltlichen Mächten ihre ideellen und materiellen Interessen wahren können. Die Kehrseite dieses Prozesses sei die vollständige Säkularisierung der weltlichen Macht gewesen, so daß eine Kirche mit staatlichen Aufgaben nunmehr einem Staat ohne kirchliche Funktionen gegenüberstanden habe. In dieser Situation boten die von ihr propagierte Rechtsidee und ihr Rechtssystem das entscheidende Instrumentarium des Ausgleichs und ihr "bürokratisches" Regierungssystem konnte für die aufsteigenden politischen Zentralgewalten durchaus Vorbildcharakter gewinnen. Direkt und indirekt habe deshalb die nachgregorianische Kirche den politischen Rationalisierungsprozeß begünstigt. 447 Vgl. WG, S. 484, 483, 481 über priesterliche Einflüsse, speziell den des Christentums, auf die patrimonialfürstliche Strafjustiz.
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bereits hingewiesen wurde - die kanonistische Korporationslehre den römischen Korporationsbegriff für ihre Zwecke um in einen herrschaftlich gefaßten Anstaltsbegriff, mit dessen Hilfe einerseits der absolutistische Staat die eigenmächtigen ständisch-korporativen Verbände der eigenen Verwaltungsorganisation einfügte, andererseits unter Vermittlung des modemen Naturrechts selbst als juristische Person und damit unpersönlicher Träger von Rechten und Pflichten begriffen werden konnte. Dogmengeschichtlich war damit das Fundament gelegt für die Auffassung des Staates als juristische Person, die ihrerseits zu den Rechtsgrundlagen des modemen Staates gehört. Als "Korporation" im Sinne eines rechtlich und politisch autonomen Verbands konstituierten sich aber im 11. und 12. Jh. - zuerst in Italien, dann zunehmend in ganz Nord- und Westeuropa - eine Vielzahl von Stadtgemeinden,448 die für den abweichenden Entwicklungspfad des okzidentalen Patrimonialismus der in politischer, rechtlicher und ökonomischer Hinsicht dritte bedeutsame Faktor sind. c) Stadt und Staat seit dem Mittelalter Neben der "feudalen" und "päpstlichen" bildet die "städtische" Revolution des 11./12. Jh.s für Weber ein weiteres Entwicklungsmoment auf dem Weg vom mittelalterlichen über den frühneuzeitlichen Patrimonialstaat zum modemen Staat des Okzidents. Die im 11. Jh. von Italien aus auf West- und Mitteleuropa übergreifende städtische Organisation setzte dabei ein politisches Strukturprinzip durch, das ihrer feudalen bzw. ständisch-patrimonialen Umwelt fremd war, ohne den traditionalen politischen und ökonomischen Nexus als solchen zu sprengen. Dies gelang erst sehr allmählich und direkt nur in ökonomischer Hinsicht. Die mittelalterliche Stadtentwicklung wurde ökonomisch entscheidend durch die agrarischen Produktivitätssteigerungen seit dem 9. Jh. ermöglicht, während die Stadtwirtschaftspolitik noch lange Zeit primär traditionale Züge trug. Politisch hat sicher ebenso die Schwäche des römisch-deutschen Kaisertums wie die Machtkonkurrenz zwischen feudalen, patrimonialen und hierokratischen Gewalten zu ihrer Entstehung beigetragen. 449 Die (revolutionäre) Konstituierung der Stadt als politischer Schwur448 Vgl. Gierke, Genossenschaftsrecht, Bd. 1: Rechtsgeschichte der deutschen Genossenschaft, Berlin 1868, S. 300; Gierke, Genossenschaftsrecht 11, S. 573: "Wie in allen Beziehungen die Städte als die Geburtsstätten der neuen Gedanken zu betrachten sind, welche den Übergang von der mittelalterlichen Kulturepoche zur modernen angebahnt haben, so vollendete sich hier auch der deutsche Körperschaftsbegriff und erzeugte durch die Erhebung der Stadt zur Person das erste wahrhaft staatliche Gemeinwesen deutscher Bildung." Vgl. auch die Hinweise bei Dilcher, Max Webers ,Stadt', S. 135 f. Fn. 60. 449 Peter Burke, City-States, in: Hall (Hg.), States in History, S. 137 ff., hier S. 152 spricht von einer ",vacuum theory' of the city state: that they and other small autonomous units [ ... ) grow up when central authority is weak (a royal minority, for example, or a disputed succession), and flourish in the interstices between major powers, as the small Italian states did in the no-man's-land between empire and papacy."
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verband mit körperschaftlicher Verfassung, eigenem Recht,450 eigenem Gericht, eigener Verwaltung durch gewählte Amtsträger etc. 451 knüpfte ideologisch an die seit der Gottesfriedensbewegung des 9./ 10. Jh.s vorkommenden kollektiven Friedenseide an. 452 Gegenüber den vorherrschenden patrimonialen oder feudal-ständischen politischen Organisationsformen gelang es also den Städten - besonders den italienischen - in der Epoche ihrer Autonomie ein abweichendes Regierungs- und Verwaltungssystem zu schaffen. Zweifellos konnten ihre teils aristokratischen, teils demokratischen Selbstverwaltungsorgane dem modernen Verfassungsstaat wichtige institutionelle Anknüpfungspunkte geben (Wahlkörperschaften, Gewaltenteilung und -kontrolle, Gesetzlichkeit der Verwaltung, Rechtsgleichheit etc.). Doch nicht um die ,,republikanische Alternative,,453 als Kausalfaktor der politischen Rationalisierung soll es im folgenden primär gehen,454 zumal die Stadtautonomie schließlich - vergleichbar der antiken Entwicklung455 - vom frühneuzeitlichen Patrimonialstaat beseitigt, die Stadt der patrimonialen Verwaltungsstruktur eingegliedert wird. 456 Der Akzent soll vielmehr auf dem Gewicht liegen, welches Weber der 450 Zu den juristischen Qualitäten der Stadt und des Stadtrechts ausführlich Berman, Recht und Revolution, S. 562 ff. Seine Kritik der Weberschen Stadtstudie - auf die hier im einzelnen nicht näher eingegangen werden kann (ebd., S. 619 ff.) - ist teilweise unbegründet. Dies betrifft insbesondere die von ihm monierte fehlende Entwicklungsdynamik (wie wird aus der Stadt des 12. die des 16. Jh.s?) und eine in Ansätzen beobachtete "materialistische" Argumentation, weIche konstitutive religiöse und rechtliche Faktoren der Stadtentwicklung letztlich als bloße Herrschaftsinstrumente begreife. Weder der Fragmentcharakter der Studie, noch der idealtypische Sinn ihrer Kategorien, noch die durchaus eigenständige Funktion von Recht und Religion - gerade im Kontext der Arbeiten zu "Wirtschaft und Gesellschaft" und zur "WirtschaftsetlIik der Weltreligionen" - scheinen mir hier angemessen gewürdigt. 451 Daneben ist aber die typische innerstädtische Dynamik durch das Mit- und Gegeneinander verschiedenster ökonomischer, politischer, religiöser Faktionen und Assoziationen zu beachten. Für die italienischen Städte vgl. hierzu die Merkmalsliste des idealtypischen Stadtstaates bei Burke, City-States, S. 140 ff. 452 Über die im Mittelalter verbreitete Erscheinung von Schwurgemeinschaften vgl. Reynolds, Kingdoms and Communities, S. 173 f. 453 Vgl. ausführlich zum Regierungssystem der italienischen Stadtrepubliken (Florenz und Venedig) Finer, History H, S. 950 ff., der darauf hinweist, daß ein "republikanisches" Selbstverständnis literarisch bezeichnenderweise erst mit der Rezeption von Aristoteles' Politik Mitte des 13. Ih.s deutlich artikuliert wird (vgl. ebd., S. 981 f., 1020). 454 Daß die städtische Organisation in dieser Hinsicht auch geradewegs in eine Sackgasse führen konnte, zeigt Stefan Breuer, Blockierte Rationalisierung. Max Weber und die italienische Stadt des Mittelalters, in: Archiv für Kulturgeschichte, 66 (1984), S. 47 ff. 455 Vgl. GASW, S. 42 f., 273; WG, S. 788, 804. 456 Immerhin konnte die absolute Monarchie den körperschaftlichen Gemeindebegriff und die bürokratische Verwaltung der Stadt für ihre politischen Zwecke verwerten; vgl. WG, S. 576; zum Begriff der "Stadtgemeinde" ebd., S. 736; zur BÜfokratisierung der städtischen Verwaltung, speziell derjenigen Venedigs, in Zusammenhang mit dem Investiturstreit ebd., S. 601 und Finer, History H, S. 980: ,,[ ... ] in Italy, more so than anywhere else tlrroughout Europe, the city-states employ paid, long-tenured professionals to carry out an increasingly complex set of regulatory and extractive activities."
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mittelalterlichen okzidentalen Stadt für die ökonomische Rationalisierung, d. h. die Entstehung des modemen Kapitalismus, zumißt. Zwar zielte Webers vergleichende Analyse der politischen Organisation der Stadt unmittelbar auf deren strukturelle Relevanz für den Wandel der Wirtschaftsformen und des Wirtschaftshandelns. Doch hatte die Konkurrenz der frühneuzeitlichen Staaten um das freie Kapital, das sich dadurch in den Städten konzentrierte, außer direkt ökonomischen Wirkungen Einfluß auf die (formale) Rationalisierung auch der politischen Strukturen. Bis ins 11. Jh. hinein beherrschten ländlich und bäuerlich geprägte Kleinstädte ("Ackerbürgerstädtchen,,)457 das mittelalterliche Stadtbild; jetzt aber entstanden zahlreiche Handels- und Gewerbestädte in West- und Mitteleuropa, die zu Knotenpunkten eines rasch wachsenden internationalen Güterverkehrs wurden. 458 An ihrer Steuerkraft und Kapitalmacht mußten Fürsten und Könige besonders interessiert sein, je mehr sie ihren außerordentlichen (Kriegs-)Finanzbedarf unabhängig von den herkömmlichen feudal-ständischen Bewilligungen decken wollten. Zu den spezifischen Bedingungen, die die Verbindung der frühneuzeitlichen Monarchen mit den Trägem des aufkommenden gewerblichen Kapitalismus ermöglichten, rechnet Weber deshalb neben der Machtkonkurrenz von politischen Verbänden und ihren bürokratischen (Finanz- und Militär-)Verwaltungen als dritten maßgeblichen Faktor "die Einbeziehung städtischer Gemeindeverbände als Stütze der Finanzmacht in die konkurrierenden Patrimonialgewalten".459 Wie auf dem Boden der antiken Polis ein spezifisch politischer Kapitalismus entstand, der umgekehrt der antiken Kulturentwicklung einen spezifisch "städtischen" Charakter verlieh, so erwies sich die mittelalterliche Stadt - und hier wiederum insbesondere: die nordeuropäische Binnenstadt - als wichtiger Entstehungsfaktor460 des modemen gewerblichen Kapitalismus. Der "Stadt" kommt deshalb in Webers kulturvergleichender Theorie der okzidentalen Rationalisierung außerordentliches Gewicht zu. Werkgeschichtlich mag man das bereits daraus ersehen, daß Weber in der dritten Fassung seines Handwörterbuchartikels über "Agrarverhältnisse im Altertum" (1909) eine vergleichende Untersuchung der antiken und mittelalterlichen Stadtentwicklung einfordert,461 457 Der seinen Bedarf eigenwirtschaftlich deckende, daneben u. U. für den Absatz auf dem lokalen Markt produzierende "Ackerbürger" ist der nonnale Bewohner der antiken und mittelalterlichen Kleinstädte (vgl. GASW, S. 255; WG, S. 730 f.). Zur Begriffsgenese und -verwendung in den sozialhistorischen wie religionssoziologischen Studien vgl. Nippel, Einleitung, S. 13 Fn. 63. 458 Zur feudalen Dynamik vgl. Mann, Macht 11, S. 243 ff.; Perry Anderson, Von der Antike zum Feudalismus. Spuren der Übergangsgesellschaften, Frankfurt a.M. 1978, S. 219 ff.; Otto Brunne" Europäisches Bauerntum, S. 199 ff. 459 WG, S. 139. 460 Das zu betonen ist wichtig, denn weder für den modemen Kapitalismus noch für den modemen Staat war die mittelalterliche Stadtentwicklung "die allein ausschlaggebende Vorstufe und gar nicht ihr Träger [ ... ], aber als ein höchst entscheidender Faktor ihrer Entstehung allerdings nicht wegzudenken" (WG, S. 788).
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deren Forschungsperspektive er zuvor in Grundzügen entwirft und deren Ziel es ausdrücklich nicht sein soll, "nach Art der heute modischen Konstruktionen von generellen Entwicklungsschemata, nach ,Analogien' und ,Parallelen'" zu jagen, sondern vielmehr "die Herausarbeitung der Eigenart jeder von beiden, im Endresultat so verschiedenen Entwicklungen und so die Leitung der kausalen Zurechnung jenes verschiedenen Verlaufs".462 Mit der erst posthum unter dem Titel "Die Stadt,,463 publizierten Studie unternahm Weber selbst die Analyse des sehr verschiedenen Entwicklungsverlaufs der antiken Polis gegenüber der mittelalterlichen okzidentalen Stadt. Das Ergebnis ist eine vergleichende Sozialstrukturanalyse aus umgekehrter Blickrichtung, in der der Bezugspunkt des Vergleichs von der Antike zum Mittelalter wechselt. 464 Die zeitliche Nähe zu den "Agrarverhältnissen" und die bereits dort anklingende Erweiterung der Forschungsperspektive,465 weist die Stadtstudie als Bindeglied zu "Wirtschaft und Gesellschaft" aus, zu dessen frühen Arbeitserträgen sie vermutlich gehört hat. 466 Der Werkplan für den GdS (1914) sieht jedenfalls im Inhaltsverzeichnis für Webers Beitrag unter dem Kapitel ,,8. Die Herrschaft" zwischen den Abschnitten "a) Die drei Typen der legitimen Herrschaft" und "b) Politische und hierokratische Herrschaft" sowie "d) Die Entwicklung des modernen Staates" und "e) Die modernen politischen Parteien" einen Abschnitt c) mit dem Titel "Die nichtlegitime Herrschaft. Typologie der Städte" vor. 467
Schon die systematische Stellung der Stadtstudie vor den herrschaftssoziologischen Überlegungen zur "Entwicklung des modemen Staates" ist bezeichnend. Denn zumindest der modeme Staat und der modeme Kapitalismus konnten nach Weber nur auf dem Boden der mittelalterlichen okzidentalen Stadt, nicht auf dem der antiken und ebensowenig auf dem der orientalisch-asiatischen Stadt entstehen. 468 Weil aber die Stadt an der Schwelle zur Neuzeit ganz ebenso in den patrimonialen politischen Verband integriert wurde, wie im Hellenismus und im römischen Kaiserreich und wie gewissermaßen von Anfang an in den asiatisch-orientalischen Imperien, stellt sich eben die Frage, warum dennoch die mittelalterliche 461 Weber hatte den Handbuchartikel nochmals vollständig überarbeitet und stark erweitert. Eine vergleichende Skizze über die antike im Unterschied zur mittelalterlichen Stadt ist neu eingefügt (vgl. GASW, S. 254 ff.). 462 GASW, S. 288; auch S. 257. 463 Max Weber, Die Stadt. Eine soziologische Untersuchung, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, 47 (1920/21), S. 621-772, jetzt: MWG 1/22-5 Die Stadt. 464 Vgl. Hinnerk Bruhns, Webers ,Stadt' und die Stadtsoziologie, in: Bruhns/Nippel (Hg.), Max Weber und die Stadt, S. 39 ff., hier S. 45. 465 Vgl. GASW, S. 257, 288, 254 ff. 466 Zu wissenschafts geschichtlichem Hintergrund, werkgeschichtlicher Einordnung und Textüberlieferung vgl. Wilfried Nippel, Einleitung und Editorischer Bericht zu MWG 1/225 Die Stadt, S. 1 ff., 45 ff.; zusammenfassend: ders., Webers ,Stadt'. Entstehung - Struktur der Argumentation - Rezeption, in: Bruhns/Nippel (Hg.), Max Weber und die Stadt, S. 1138, hier S. 11 -15; Bruhns, Webers ,Stadt', S. 44 ff. 467 Dem - auch in der Titelgebung - entsprechend haben die bisherigen Herausgeber von "Wirtschaft und Gesellschaft" das Nachlaßfragment dem Textkonvolut eingeordnet und die historisch-kritische Gesamtausgabe behält trotz prinzipiell abweichender Editionsstrategie den editorischen Zusammenhang mit "Wirtschaft und Gesellschaft" bei. 468 Vgl. WG, S. 788.
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Stadt des Okzidents die Entwicklung des modemen Kapitalismus bzw. des rationalen Staates begünstigt hat,469 während die bürokratischen Patrimonial staaten der (griechisch-römischen) Antike, des Orients und Asiens dazu tendierten, den Kapitalismus zu "erdrücken",47o generell neben dem politischen allenfalls händlerische Formen des Kapitalismus (aus dann zumeist fiskalischen Motiven) zuließen. 471 Die ökonomische und indirekt politische Entwicklungsrichtung war offensichtlich nicht schon durch den Patrimonialverband als politische Umwelt eindeutig bestimmt. Vielmehr zeitigte der verschiedene Verlauf der Stadtgeschichte hier und da sehr unterschiedliche ökonomische und politische Folgen. Die Rolle, die die mittelalterliche Stadt zusammen mit den frühneuzeitlichen Patrimonialgewalten bei der Genesis des modemen Kapitalismus und des modemen Staates spielen konnte, erklärt sich demnach einerseits aus der geopolitischen und ökonomischen Konkurrenz mehrerer machtpolitisch ebenbürtiger Verbände. Zum anderen aber aus einer Stadtentwicklung, die sowohl von der der antiken Polis wie der der orientalischasiatischen Stadt entscheidend abwich. Daß die Renaissance des Patrimonialismus im ausgehenden Mittelalter - nach einem ständestaatlichen Intermezzo - eine vom spätantiken Staat ebenso wie von den patrimonialen Imperien des Ostens verschiedene evolutionäre Bahn einschlug, muß v.a. dieser strukturellen Verschiedenheit der städtischen Unterlage zugerechnet werden. Um sie in großen Zügen zu skizzieren, erscheint es sinnvoll, sich an der Stadttypologie zu orientieren, die Webers historisch-soziologischer "Stadt"-Analyse zugrunde liegt. 472 Er unterscheidet prinzipiell orientalisch-asiatische und okzidentale Stadt, bei der letzteren: antike und mittelalterliche Stadt, bei dieser wiederum: die Typen der südeuropäischen (See-) und der nordeuropäischen (Binnen-)Stadt, bei letzterer schließlich: die kontinentaleuropäische und die englische Stadt. 473 Worin besteht nun aber die entwicklungsgeschichtlich entscheidende Differenz zwischen orientalisch-asiatischer und okzidentaler Stadt einerseits, zwischen antiker und mittelalterlicher okzidentaler Stadtentwicklung andererseits? Gemeinsam ist den chinesischen, indischen, syrisch-mesopotamischen, ägyptischen, hellenischen, römischen und europäischen Städten zunächst einmal ihre Vgl. Wirtschaftsgeschichte, S. 302. Vgl. GASW, S. 31,185,271,276 f.; Wirtschaftsgeschichte, S. 287 f. 471 Vgl. WG, S. 641 ff., 138 ff. 472 Vgl. WG, S. 727 ff.; GASW, S. 254 ff.; Wirtschaftsgeschichte, S. 272 ff. 473 Weber kombiniert eine kulturvergleichende (Orient! Okzident) mit einer entwicklungsgeschichtlichen Perspektive (Antike / Mittelalter für den Okzident). Ergänzend findet sich eine rein ökonomische Stadttypologie, nach der "Konsumenten"- ("Fürsten"-, "Beamten"-, "Grundrentner"-) Stadt, "Produzenten"- ("Handels"- und "Gewerbe"-) Stadt, schließlich: "Ackerbürger"-Stadt unterschieden und etwa die Polis in der Hauptsache als Typus der "Konsumenten"-Stadt, die mittelalterliche Stadt dagegen grundsätzlich eher als "Produzenten"Stadt beschrieben werden, während antike und mittelalterliche Kleinstädte dem Typus der "Ackerbürger"-Stadt mehr oder minder nahestehen; vgl. WG, S. 729 f.; GASW, S. 13, 255 f.; Wirtschaftsgeschichte, S. 272 f. Die ökonomischen Stadttypen knüpfen ersichtlich an Sombart an; siehe unten. 469 470
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ökonomische Stadt-Qualität.474 Eine Stadt im ökonomischen Sinn nennt Weber jede Ortschaft, deren ansässige Bevölkerung ihren Alltagsbedarf ganz oder zum überwiegenden Teil auf dem lokalen Markt deckt, durch (landwirtschaftliche und gewerbliche) Produkte, die sie selbst für den Marktabsatz erzeugt oder erworben hat. 475 Doch sind diese Städte nicht nur allgemein Sitz von Handel und Gewerbe, sondern regelmäßig außerdem befestigte Ortschaften und als solche Sitz der (politischen oder kirchlichen) Verwaltung. Lokaler Markt - Festung - Verwaltungssitz können als durchaus universelle (nicht ausnahmslose, aber weder geographisch noch historisch exklusive) Merkmale städtischer Entwicklung gelten. Sie liefern gleichzeitig das begriffliche Gerüst, mit dem Weber die Eigenart der mittelalterlichen okzidentalen Stadt gegenüber der antiken (griechisch-römischen) Polis und beider gegenüber der orientalisch-asiatischen Stadt herauszupräparieren sucht. Methodisch fällt dabei zunächst auf, daß gerade in der Stadtstudie die orientalische Stadt lediglich als "Kontrastfolie" für die Darstellung der okzidentalen Stadtentwicklung dient. Zwar handelt es sich um ein Fragment, das in dieser Form sicher nicht zur Publikation bestimmt war. Neben einer eingehenderen Analyse nichtokzidentaler Stadttypen fehlt z. B. auch jede Beschäftigung mit der modemen okzidentalen Stadt. 476 Andererseits galt es, die aus Webers Sicht spezifische Be474 Diesen Aspekt betont Weber in Anlehnung und kritischer Auseinandersetzung mit der von Sombart im zweiten Band seines "Modemen Kapitalismus" und in einern späteren Aufsatz entwickelten ökonomischen Städtetheorie - wie Nippel. Einleitung, S. 12 f. wahrscheinlich macht; vgl. Wemer Sombart. Der modeme Kapitalismus, Bd. 2, Leipzig 1902, S. 187 ff., 196 ff.; ders., Der Begriff der Stadt und d,as Wesen der Städtebildung, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, 25 (1907), S. 1 ff., bes. 6-9. 475 Vgl. die Definition der "Stadt im ökonomischen Sinn", WG, S. 728. 476 Während Sombart, aus primär wirtschaftshistorischer Perspektive v.a. die europäischen Städte der Neuzeit analysiert, Sirnrnel und Tönnies dagegen ihr Augenmerk auf die soziologischen Qualitäten der modemen Großstadt richten (vgl. Georg Simmel. Die Großstädte und das Geistesleben, in: Die Großstadt. Vorträge und Aufsätze zur Städteausstellung (Jahrbuch der Gehe-Stiftung zu Dresden, Bd. 9), Dresden 1903, S. 185 ff.; ders., Philosophie des Geldes, Berlin 71977, S. 534 ff., bes. 542; Iönnies. Gemeinschaft und Gesellschaft, S. 297 -299, 300). Der Sache nach beobachten v.a. auch Tonnies und Sirnrnel in der mittelalterlichen Stadt die Umstellung der sozio-ökonomischen Entwicklung auf das Prinzip der formalen Rationalisierung; vgl. Iönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft, S. 43 ff., 192, 196,297 f.; Georg Simmel. Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung (GSG 11), Frankfurt a.M. 1992, S. 713, 695 f. Fn. 1. Zum (vermeintlichen) Desiderat einer Großstadt-Analyse bei Weber vgl. die kurzen Bemerkungen bei Nippel. Webers ,Stadt', S. 23. Nach Bruhns. Webers .Stadt', S. 40. 42, 52-54 darf der Befund gerade nicht dem Fragmentcharakter der Stadtstudie zugeschrieben werden, sondern folgt konsequent aus der rationalisierungstheoretischen Forschungsperspektive Webers. Es sei diesem darum gegangen, die sich unter den sozialen. politischen, ökonomischen und kulturellen Bedingungen der mittelalterlichen Stadt entfaltende spezifisch bürgerliche Lebensführung als Schrittmacher des ökonomischen und politischen Rationalisierungsprozesses zu thematisieren. Aber wie der Protestantismus für den voll entfalteten Industriekapitalismus bedeutungslos geworden sei. so die okzidentale Stadt nach dem "Intermezzo der Städtefreiheit" und ihrem Einbau in den frühneuzeitlichen Staat. Die institutionellen Rahmenbedingungen für den modemen Kapitalismus schuf und Schauplatz der Entfaltung der modemen Bürokratie war nun - der Staat. So auch Dilcher; Max Webers ,Stadt', S. 124.
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deutung der okzidentalen, speziell: der mittelalterlichen Stadt für wesentliche Aspekte des ihn interessierenden Rationalisierungsprozesses zu klären. Insoweit entspricht die bloß kursorische Behandlung der orientalisch-asiatischen Stadt der auch sonst - v.a. in den Studien zur "Wirtschaftsethik der Weltreligionen" und in "Wirtschaft und Gesellschaft" - bei der Entfaltung der Rationalisierungsthese verfolgten Forschungspragmatik - einem zutreffend so genannten "methodologischen Eurozentrismus" .477 Sachlich führt die fehlende entwicklungsgeschichtliche Dimensionierung der orientalisch-asiatischen Stadt auf den aus Webers Sicht grundlegenden Unterschied zur okzidentalen Stadt. Sie impliziert nämlich die Annahme, daß dort eine Stadtentwicklung - sobald die soziale Evolution über das Stadium des "Städtekönigtums" hinaus in die patrimonial-imperiale Bahn einmündete - weitgehend fehlt, daß die Stadt in den orientalischen, asiatischen, islamischen Patrimonialimperien schließlich unselbständiger Teil der politischen Verbandsentwicklung geworden und geblieben ist. Das soll nicht heißen, daß Weber den zuweilen beachtlichen Grad sozialer und ökonomischer Differenzierung in den indischen und chinesischen Städten nicht gesehen hätte, etwa die Entstehung von ökonomisch und politisch zeitweilig einflußreichen Gildenverbänden dort oder das für die Lokalverwaltung außerordentliche Gewicht von Sippenverbänden, Honoratioren und Berufsverbänden hier. Indessen die Konstituierung als autonomer politischer Verband - der okzidentalen Stadtgemeinde vergleichbar - findet sich nach Weber weder in der indischen noch in der chinesischen Stadtentwicklung. 478 Die okzidentale Stadt hat dagegen in der Antike wie im Mittelalter entwicklungsgeschichtlich außerordentlich bedeutende Perioden politischer Autonomie - und damit eine Stadtgeschichte in evolutionärem Sinn - gekannt. Der Differenzpunkt zwischen okzidentaler und orientalisch-asiatischer Stadt besteht - vereinfacht fonnuliert darin, daß sie im Orient und in Asien als Handels- und Gewerbeplatz, Fürsten477 Schluchter, Religion und Lebensführung I, S. 87, 94, 96; vgl. Webers methodische Begründung dieser Forschungspragmatik in "Vorbemerkung" und "Einleitung" zu GARS I, S. 15,265,267. 478 Vgl. aber Michael Mann, Max Webers Konzept der indischen Stadt, in: Bruhns / Nippel (Hg.), Max Weber und die Stadt, S. 166 ff., hier S. 178 ff. Die auf die okzidentale Sonderentwicklung ausgerichtete kulturvergleichende Forschungsperspektive führe zu einem gleichsam "methodologischen Orientalismus", dessen Bild der indischen Stadt eine "indische Soziologie" durch die eigenständige Analyse "der Rolle der indischen Stadt im subkontinentalen Kontext" zu korrigieren und zu ergänzen habe (ebd., S. 182). Für China betont Helwig Schmidt-Glintzer die Vielfalt administrativ-funktionaler, konfuzianisch-traditionalistischer, steppennomadischer und lokaler Einflüsse auf die städtebauliche Entwicklung "von den neolithischen Anningen bis zur Tang-Zeit", der eine polymorphe städtische Organisationsund Herrschaftsstruktur korrespondiert habe (Max Weber und die chinesische Stadt im Kulturvergleich, in: Bruhns/Nippel (Hg.), Max Weber und die Stadt, S. 183 ff., hier S. 190). Zur herrschaftlichen Strukturierung des Raumes durch Straßenanlagen und Ummauerung der Stadt bzw. innerhalb dieser: von Palast, Tempel und Wohnvierteln vgl. ebd., S. 194, 197; Stefan Breuer, Herrschaftsstruktur und städtischer Raum. Überlegungen im Anschluß an Max Weber, in: Archiv für Kulturgeschichte, 77 (1995), S. 135 ff., hier S. 142-144.
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111. Patrimonialismus und Rationalisierung
residenz und Verwaltungssitz schließlich einfacher Baustein in der Organisationsstruktur der entstehenden Patrimonialstaaten (und damit in deren Entwicklungsgeschichte) wird, während im Okzident die antike Polis lange Zeit der beherrschende politische Verband bleibt und die mittelalterliche Stadt - in der Zeit ihrer Autonomie - eine gegenüber den umgebenden patrimonial-feudalen Monarchien (relativ) selbständige politische Verbandsform darstellt. Nur im Okzident konstituierte sich die Stadt im vollen, d. h. bei Weber primär: im politischen Sinn. Nur hier war sie nicht allein Festung und Marktplatz, sondern besaß eigene Gerichte, ein eigenes Recht, eigene, von den vollberechtigten Verbandsmitgliedern gewählte Regierungsorgane, korporativen Verbandscharakter und deshalb - mindestens teilweise - Autonomie und Autokephalie. 479 Zwar stand - so Weber - in der Antike der Gemeinde-Begriff, der die Stadt als Selbstverwaltungskörperschaft gegenüber dem Staat bezeichnet, erst nach ihrer Eingliederung in den hellenistischen und römischen Großstaat fest, die gleichzeitig das Ende ihrer politischen Selbständigkeit besiegelte. 48o Während die mittelalterliche Stadt demgegenüber "ein ,commune' von Anfang ihres Bestehens an (war), einerlei, wieweit man sich dabei den Begriff der ,Korporation' als solchen zu klarem Bewußtsein brachte.,,481 Entscheidend sollte aber für die antike Polis wie für die mittelalterliche Stadt die Konstituierung eines stadtsässigen Personenkreises als ein (von bäuerlicher Bevölkerung und rein berufsständischen Vereinigungen gleichermaßen unterschiedener) politisch ausschlaggebender Bürgerstand sein. Der nämlich fehlte in Asien und im Orient, wo zwar Geschlechtersippen und Berufsverbände, nicht jedoch verfaßte Stadtbürgerschaften als politische Akteure in Erscheinung traten. 482 Antike und mittelalterliche (okzidentale) Stadt zeigen somit die Struktur "eines anstaltsmäßig vergesellschafteten, mit besonderen und charakteristischen Organen ausgestatteten Verbandes von ,Bürgern', welche in dieser ihrer Qualität einem nur ihnen zugänglichen gemeinsamen Recht unterstehen, also ständische ,Rechtsgenossen' sind.,,483 Der für die Bürgerschaft konstitutive VergesellWG, S. 736. Vgl. WG, S. 430. Der rationale Korporationsbegriff des römischen Rechts sei Produkt der Kaiserzeit und entstamme dem politischen Gemeinderecht. "Politische Gemeinden im Gegensatz zum Staat gab es als Massenerscheinung erst seit dem Bundesgenossenkrieg, welcher bis dahin souveräne Städte massenhaft in den Bürgerverband aufnahm, aber ihre korporative Selbständigkeit bestehen ließ. [ ... ] Die Gemeinden verloren in Konsequenz ihrer Mediatisierung die Qualität politischer Anstalten [ ... ]". Die Assoziation von "Gemeinde" (Commune) und "anstaltsmäßiger Gebietskörperschaft" hält Nippel für problematisch, weil die gebietskörperschaftliche Verfassung auf der Seite der "Gemeinde" Grenzen der Autonomie impliziere, die durch den übergeordneten staatlichen Verband gesetzt seien (vgl. Nippel, Einleitung, S. 15 mit Bezug auf Webers Definition des Gemeindebegriffs in: MWG 1/22-5 Die Stadt, S. 232). Ein Einwand, der sich erledigt, wenn man - wie es Weber m.E. tut - den Anstalts- bzw. Gebietskörperschaftsbegriff im soziologischen (nicht juristischen) Sinne zugrunde legt; vgl. WG, S. 752 und S. 27. 481 WG, S. 745. 482 Vgl. WG, S. 739. 479 480
4. Okzidentaler Patrimonialismus und politische Rationalisierung
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schaftungsakt nahm nun in beiden Fällen, als "Synoikismos" (Zusammensiedelung) der Geschlechter bzw. "coniuratio" der Stadtbürger, die Form einer "schwurgemeinschaftlichen Verbrüderung,,484 an, welche formal auf Konzession, Privileg oder Anordnung des Stadtherrn (König, Fürst, Grundherr) beruhen konnte, de facto jedoch häufig eine Usurpation des Herrenrechts bedeutete. 485 Eine solche war aber nur unter zwei wichtigen Voraussetzungen möglich. Zum einen setzte die Eidverbrüderung die Beseitigung aller magischen und religiösen Sippen- oder Kastenschranken voraus. Dies konnte die antike Polis immerhin nur teilweise realisieren,486 denn die Zugehörigkeit zu den überlieferten, rituell verankerten Geschlechter- und Wehrverbänden war für die Kultteilnahme und Ämterberechtigung unverzichtbar. 487 Daß es trotzdem neben den höchst exklusiven Geschlechterkulten auch einen Verbandskult, eine Speise- und Kultgemeinschaft der synoikisierten Stadtgeschlechter gab, verdankte sich in den Poleis dem Fehlen bzw. der frühen Beseitigung magischer Tabuschranken. 488 Weitaus günstigere Voraussetzungen für die Eidverbrüderung der Bürger bot den mittelalterlichen Städten das Christentum, definierte es sich doch geradezu als eine alle Sippen- und Stammesgebundenheit durchbrechende Gemeindereligiosität: ,,[ ... ] wer nicht Vater und Mutter verlassen kann, kann nicht Jesu Jünger sein, und in diesem Zusammenhang fällt auch das Wort, daß er gekommen sei, nicht um den Frieden zu bringen, sondern das Schwert. ,,489 Die Christen483 WG, S. 743. Die Existenz eines ständischen Rechts der Stadtbürger aber bedeutete formal die Durchbrechung des vorherrschenden Prinzips der Rechtspersonalität, material die Sprengung des Lehensverbandes und des ständischen Patrimonialismus (vgl. ebd., S. 752). 484 Sachlich liegt Webers Verbrüderungs-Kategorie nahe bei Otto v. Gierkes Konzept "freier Einungen" als "gewillkürter" oder "gekorener Genossenschaften". Das ergibt sich wie Nippel, Einleitung, S. 21 f. zeigt - auch aus der von Gierke am Beispiel der mittelalterlichen Gilden besonders betonten Verknüpfung sozialer und religiös-kultischer Funktionen solcher Einungen (vgl. Gierke, Genossenschaftsrecht I, S. 9, 221). Weber unterscheidet dabei Verbrüderungen von (Verwandtschafts- oder Militär-)Verbänden (wie häufig in der Antike) und Verbrüderungen als Zusammenschluß von Individuen (wie paradigmatisch im Mittelalter). Im letzteren Fall aber sowohl die Verbrüderung sozial Gleicher wie die sozial Ungleicher (Vater/Kind; Patron/Klient; Herr/Vasall etc.). Verbrüderungsverträge gehören zu den von Weber so genannten "Statusverträgen", durch die der soziale Status des Einzelnen neu definiert wird; vgl. WG, S. 401; Christian Meier; Bemerkungen zum Problem der ,Verbrüderung' in Athen und Rom, in: Meier (Hg.), Die okzidentale Stadt, S. 18 ff., hier S. 18-21; Nippel, Webers ,Stadt', S. 26 mit Fn. 76. 485 Vgl. WG, S. 744, 748 ff., 742. 486 Vgl. hierzu Nu11Ul Denis Fustel de Coulanges, Der antike Staat. Studie über Kultus, Recht und Einrichtungen Griechenlands und Roms, Essen o.J. eI864), S. 124 ff., 131 ff., 236 ff., 247 ff.; aus der neueren Forschungsliteratur: Moses I. Finley, The Ancient City: From Fustel de Coulanges to Max Weber and Beyond, in: Comparative Studies in Society and History, 19 (1977), S. 305 ff. 487 Vgl. WG, S. 747. 488 Vgl. WG, S. 768. 489 WG, S. 350; GARS I, S. 542. Zur absoluten Schranke einer "Verbrüderung" im okzidentalen Sinn, d. h. der Herstellung einer (zumindest rituell möglichen) Speisegemeinschaft, wird die indische Kastenordnung (vgl. GARS 11, S. 38, 40).
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III. Patrimonialismus und Rationalisierung
gemeinde ist "ihrem innersten Wesen nach ein konfessioneller Verband der gläubigen Einzelnen, nicht ein ritueller Verband von Sippen. ,,490 Zum anderen mußte die "Verbrüderung" von einer ausreichenden Militärmacht flankiert sein. An diesem Punkt läßt sich zugleich der wesentliche Strukturunterschied zwischen antiker und mittelalterlicher okzidentaler Stadt festmachen. Denn - auf eine kurze Formel gebracht - die antike Polis beruhte auf einer "Sippen- und Wehrverbandsverbrüderung", die mittelalterliche Stadt dagegen in der entscheidenden Epoche auf einer "Zu'!fiverbrüderung".491 Während die antike Polis als "vollkommenste Militärorganisation,,492 ihrer Zeit eine wesentlich politisch und militärisch motivierte Gründung war, verfolgte die mittelalterliche Stadt von Anfang an primär ökonomische Ziele,493 zu denen sekundär allerdings bei gelingender "coniuratio" eine durchaus namhafte städtische Militärmacht hinzutreten mußte. Es bleibt jedoch als maßgebliche Differenz der wesentlich militärische Charakter der Polis im Gegensatz zum wesentlich ökonomischen Charakter der spätmittelalterlichen europäischen (Binnen-)Stadt. 494 Gegen die überlegene Militärmacht der feudalen Ritterheere495 und später der patrimonialen Berufs- oder Soldheere vermochten die Bürger- und Zunftheere nur die zeitweilige städtische Autonomie zu behaupten. Zu einer Militär- und Expansionspolitik nach dem Muster der klassischen antiken Poleis war daher - mit der charakteristischen Ausnahme der italienischen Seestädte (v.a. Venedig und Genua) - die nordeuropäische (Binnen-)Stadt außerstande, umgekehrt vielmehr rebus sic stantibus auf die Entwicklung ihres ökonomischen Potentials angewiesen. 496 WG, S. 747. Vgl. GARS II, S. 38. 492 GASW, S. 262. 493 Hierzu gehörten die Renteninteressen ihrer (königlichen, fürstlichen, grundherrlichen) Gründer ebenso wie die Erwerbsinteressen der schließlich herrschenden Gilden und Zünfte (vgl. WG, S. 803 f.). 494 Weber betont die strukturellen Parallelen zwischen den mittelalterlichen italienischen Seestädten (Venedig, Genua, Pisa) und ihrer spezifischen Militärpolitik (militaristische Kolonial- und Handelspolitik) und den antiken Poleis. Aber nicht sie, sondern die nordeuropäischen "Gewerbe"- oder "Industrie"-Städte geben nach seiner Auffassung schließlich den Typus für die mittelalterliche Stadt des Okzidents (vgl. GASW, S. 262, 270 f.; WG, S. 775 ff.). 495 Das Kräfteverhältnis konnte sich freilich umkehren - wie die militärischen Erfolge der schweizerischen und flämischen Pikenier (mit Langspießen (Piken) bewaffnete Fußsoldaten) gegen feudale Ritterheere im 14. Jh. nachhaltig demonstrierten. Diese Schlachten signalisierten den allmählichen Niedergang der unzuverlässigen, inflexiblen Feudalheere und den Aufstieg besoldeter Mischheere im Dienst des erstarkenden Königtums; vgl. Finer; History II, S. 882 ff.; Mann, Macht I, S. 40 ff. 496 So heißt es GASW, S. 262: "Die Stadt ist nicht, wie im frühen Altertum, der vollkommenste Militärorganismus: Binnenlandstädte können in der Periode des Ritterkampfs, im eigentlichen Mittelalter, nur ihre Unabhängigkeit und den Landfrieden für ihre Verkehrsinteressen erwerben und behaupten und dies nur im Bunde miteinander. [ ... ] Die Stadt (im Binnenland) ist bei allem Gewicht, weIches auf die Wehrhaftigkeit der Bürger gelegt werden mußte, doch von Anfang an, und zunehmend ,bürgerlichen' Charakters, auf friedlichen 490 491
4. Okzidentaler Patrimonialismus und politische Rationalisierung
227
Betrachtet man also die politischen Umweltbedingungen speziell der nördlichen kontinentaleuropäischen Gewerbestädte, so wird für die Entwicklung ihrer primär ökonomischen Struktur zweierlei ausschlaggebend: 1. die (relative) militärische Überlegenheit der umliegenden Patrimonialstaaten, die dem militärstrategischen Radius der Städte absolute Schranken setzt und Formen des Beute- und Kolonialkapitalismus nach antikem Muster von vomeherein ausschließt; 2. die relative Unentwickeltheit der patrimonial-feudalen Verwaltungsapparate, welche Grundherren und Patrimonialfürsten zunächst im militärischen und Verwaltungs-Interesse Städte gründen läßt, auf deren funktionierende Selbstverwaltung sie mit zunehmendem Gewicht von Fiskal- und Renteninteressen angewiesen sind. 497 Wo umgekehrt - wie in Vorderasien und z. T. in China - frühe übergeordnete bürokratische Verwaltungs- und Militärapparate entstanden,498 war die Bildung autonomer politischer Stadtgemeinden weder verwaltungstechnisch nötig, noch - wegen der mit dem Bürokratisierungsprozeß einhergehenden Entwaffnung der "nationalen" Bevölkerung - militärisch möglich. 499 Noch in den Ständekämpfen der antiken Polis und der mittelalterlichen (Binnen-)Stadt zeigt sich der primär militärische und politische Charakter der ersteren gegenüber dem primär ökonomischen der letzteren. Während die "demokratischen" Bestrebungen in der Polis letztlich an der Erhaltung der städtischen Wehrkraft orientiert waren und die Erweiterung des Bürgerrechts insoweit untrennbar mit der "Demokratisierung" des Waffenrechts als Waffenpjlicht zusammenhing,500 zielten die sozialen Kämpfe der mittelalterlichen Stadt auf die "Demokratisierung" der Erwerbschancen im Interesse v.a. der kleinkapitalistischen, zünftig organisierten Schichten. 501 Die entscheidenden sozialen Markterwerb zugeschnitten." Vgl. WG, S. 771, 803 f.; zur Rolle der Städtebünde und Ligen Finer, History H, S. 956 ff. 497 Vgl. WG, S. 614, 803 f. Zur relativen Machtstellung der englischen Städte trotz der - von London abgesehen - fehlenden gebietskörperschaftlichen Verfassung infolge andersartiger Entwicklung des Korporationsrechtes vgl. WG, S. 763 ff., 433 ff. Webers Darstellung der Entwicklung der englischen Korporationstheorie stützt sich übrigens weitestgehend auf Julius Hatschek (Englisches Staatsrecht mit Berücksichtigung der für Schottland und Irland geltenden Sonderheiten, Bd. 1: Die Verfassung, Tübingen 1905, S. 94 ff.; ders., Englische Verfassungsgeschichte, S. 41 ff.) und Frederic W. Maitland (u. a. Township and Borough, Cambridge 1898, S. 18 ff., 25 ff., 79). 498 Nach Weber regelmäßig zuerst zur Lösung des Stromregulierungs- und Bewässerungsproblems. Auf die heute prinzipiell nicht mehr haltbare Bewertung der Irrigationsfrage für die Bürokratisierungsthese wurde oben bereits hingewiesen. Sie ist hier nicht weiter zu erörtern. 499 Vgl. WG, S. 749, 756. 500 Vgl. GASW, S. 116 ff. (Griechenland); 212 ff. (republikanisches Rom). Dies ist - für die spätrömische Republik - bereits eine Kernthese von Webers Habilitationsschrift; vgl. MWS 1/2, S. 39 f., 55, 74, wo Weber den Zusammenhang von Tribuszugehörigkeit, Wehrund Steuerpflichtigkeit, speziell von römischer Testierfreiheit, Bodenexpansion und Landzuweisung in der großen Expansionsperiode des 3./2. Jh.s v. Chr. thematisiert. 501 Vgl. WG, S. 800 f.: ..Im Mittelalter [ ... ] war von Anfang an das Gewerbe, in der Antike aber, in der kleisthenischen Zeit, die Bauernschaft Träger der ,Demokratie' "; vgl. auch GASW, S. 257 f., 259 f.
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III. Patrimonialismus und Rationalisierung
Gegensätze innerhalb der antiken und mittelalterlichen Stadt: zwischen Bauern und Stadtpatriziat in der Antike bzw. zünftigem Handwerk und Stadtadel, später: protokapitalistischem Kaufmannsstand im Mittelalter, führen wieder zurück auf die wesentlich verschiedenen politischen Umweltbedingungen der jeweiligen Stadtentwicklung, welche allerdings entwicklungsgeschichtlich im Kontinuum der okzidentalen Kulturgeschichte miteinander verkoppelt sind: "Während die antike Polisentwicklung mit dem Stadtkönigtum beginnt und zuerst dessen Verdrängung durch den Stadtadel, dann aber die politische Emanzipation des Landes und dessen Herrschaft über die Stadt bringt, steht an der Spitze der mittelalterlichen Entwicklung ein landsässiger Grundherrenadel und ein spezifisch ländliches Königs- und Fürstentum und ist die mittelalterliche Stadtentwicklung Emanzipation der städtischen Bürger aus grundherrlicher und öffentlich-rechtlicher Abhängigkeit von jenen nichtstädtischen Gewalten.,,502
Erst durch die Spannung und den eigenartigen Ausgleich mit den koexistierenden patrimonial-feudalen Gewalten konnte die mittelalterliche Stadt jene gewerblichen, (handels-)rechtlichen und sozialen Voraussetzungen (v.a. Bevölkerungswachstum und Kaufkraftsteigerung) schaffen,s03 deren die kapitalistische Ordnung der entstehenden Volkswirtschaften und ihre Verbindung zu einem ökonomischen "Weltsystem"S04 notwendig bedurften. Wiewohl nun die massenhafte Entstehung von "Gewerbestädten" im 11. und 12. Jh. zeitlich ungefähr mit der Periode der Vollentwicklung des okzidentalen Lehensfeudalismus nach dem Zerfall des Karolingerreichs im 9. und 10. Jh. zusammenfällt, reichen die Wurzeln jenes feudalen Prozesses der "Verländlichung" der gesamten okzidentalen Kultur und mit ihr speziell der politischen Struktur in die Spätantike zurück. Weber hat die Grundzüge dieser Entwicklung schon in dem frühen Vortrag über "Die sozialen Gründe des Untergangs der antiken Kultur"sOs zusammenfassend erörtert und nochmals knapp im Schlußabschnitt der "Agrarverhältnisse" über die wirtschaftliche Entwicklung des römischen Kaiserreiches resümiert. S06 Als Ergebnis hält er fest, daß in der Karolingerzeit die Stadt im wesentlichen Verwaltungsbezirk mit einigen ständischen Besonderheiten sei, dagegen als verwaltungsrechtlicher Begriff - wie in der römischen Munizipalverfassung - nicht mehr existiere. s07 Andererseits "mußte" gleichsam die antike Stadt untergehen, um die andersartige mittelalterliche Stadt 502 GASW, S. 259 f.; vgl. WG, S. 771, 803. 503 V gl. die Zusammenfassung der sozialgeschichtlichen Daten bei Bendix, Könige oder Volk 11, S. 17 ff. 504 Vgl. Wallerstein, World-System; Michael Mann, The Sources of Social Power, Vol. 11: The Rise ofClasses and Nation States, 1760-1914, Cambridge 1993. 505 GASW, S. 289 ff. 506 Vgl. GASW, S. 271 ff. 507 Vgl. GASW, S. 309; WG, S. 788. Zur Fortexistenz der Stadt nach dem Untergang des römischen Westreichs vgl. die knappen Bemerkungen bei Otto Brunner, Stadt und Bürgertum in der europäischen Geschichte, in: ders., Verfassungs- und Sozialgeschichte, S. 213 ff., hier S. 219 f.
4. Okzidentaler Patrimonialismus und politische Rationalisierung
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zu ennöglichen. Denn im Ostgoten-, Merowinger- und Karolingerreich, die dem römischen Westreich nachfolgten, dominierten Grundherrschaften die Wirtschaft des politischen Verbandes, waren Adel und König "landsässige Grundherren". Diese Landaristokratie fonnierte sich dann im Lehensfeudalismus der postkarolingischen Ära zu jenem professionellen Kriegerstand, der nicht nur die wachsende Stadtbevölkerung, sondern auch die weitgehend entmilitarisierten Bauern zur Konzentration auf ihre ökonomischen Interessen und Fähigkeiten zwang. 508 Durch die Förderung von Landwirtschaft, Handel und Gewerbe schuf der okzidentale Lehensfeudalismus die Grundlagen, auf denen sich der modeme gewerbliche Kapitalismus entfalten konnte. "Denn auf jeden Fall ist die durch tausend Fäden zusammenhängende GüterverkehrsOrganisation des Mittelalters, wie sie sich innerhalb des theokratisch-feudalen Gehäuses der damaligen Welt entwickeln konnte, eine der Komponenten eines dem Kalkül zugänglichen Gütermarktes, ebenso wie die in jener Organisation verklammerte Schicht freier, bäuerlich-kleinbürgerlicher Existenzen jenen breiten, relativ stabilen Abnehmerkreis darstellte, dessen der modeme Kapitalismus für seine Waren bedurfte. ,,509
In der mittelalterlichen Stadt entstanden schließlich die kapitalistischen Gewerbefonnen und Unternehmerschichten, auf die sich der neuzeitliche Patrimonialismus intern gegen den ständestaatlichen Korporatismus und extern gegen die konkurrierenden (patrimonialen) Nationalstaaten stützen konnte. Die Konkurrenz mehrerer politischer Verbände um das mobile private Kapital war ein äußerst wichtiges Moment für den Durchbruch der modemen kapitalistischen Volkswirtschaft, denn "umgekehrt (hat) die Befriedung und der damit abnehmende politische Kapitalbedarf der großen Weltreiche die Privilegierung des Kapitals beseitigt.,,510 Darüber hinaus erwies sich - im Unterschied zum patrimonialen Zyklus der orientalisch-asiatischen Weltreiche - das militärisch und ökonomisch kompetitive europäische Staatensystem als geeignetes "Soziotop" für die Bildung des modemen Staates. Und obwohl die Eingliederung der Städte in den absolutistischen Territorialstaat ihre politische Autonomie ebenso beendete wie das römische Kaiserreich die der POliS,511 bedeuteten doch die Umfonnung der "Stadtwirtschaft" zur "Volkswirtschaft" und des mittelalterlichen Stadtbürgertums zu einer nationalen Bourgeoisie, gerade wegen der andersartigen Struktur des nunmehr "ökonomischen" (gewerblichen) im Gegensatz zum primär politischen Kapitalismus in den Patrimonialstaaten des Ostens und der okzidentalen Antike,512 nicht das Ende der Stadt. Sie behauptete (und behauptet) vielmehr ihre Stellung als herausragender Gewerbe-, Finanz- und Kulturplatz in der frühen und seither wahrhaft globalisierten kapitalistischen "Weltwirtschaft".513 508 V gl. GASW, S. 266: "Das Lehensheer und der Lehensstaat haben den rein ökonomisch expansiven Bauer und die rein ökonomisch expansive Stadt des Mittelalters schaffen helfen." 509 GASW, S. 266. 510 WG, S. 649, auch S. 211, 96; vgl. GARS I, S. 348 f., 394. 5ll Vgl. GASW, S. 261, 273; WG, S. 788. 512 Vgl. WG, S. 211.
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III. Patrimonialismus und Rationalisierung
Zusammenfassend bleibt zu Webers Sicht der eigentümlichen okzidentalen Stadtentwicklung unter dem Gesichtspunkt ihrer politischen Rationalisierungsimpulse festzuhalten: Die markt- und rentabilitätsorientierte kapitalistische Wirtschaft braucht verläßlich berechenbare Verwaltungs- und Rechtsstrukturen, die der Patrimonialismus um so weniger bereitstellt, je mehr er seinem begrifflich reinen Typus entspricht. 514 In ihren materialen Entwicklungstendenzen freilich unterschieden sich die orientalisch-asiatischen und die okzidentalen Patrimonialstaaten, einschließlich der absoluten Monarchien, nicht prinzipiell. Die frühneuzeitlichen europäischen Patrimonialstaaten konnten die gewerblich-kapitalistische Entwicklung, die "nicht in realer Kontinuität" mit der typisch merkantilistischen Monopolpolitik des absolutistischen Staates stand, nur dank der ökonomischen Errungenschaften der okzidentalen mittelalterlichen Stadt anstoßen. 515 Die Stadt galt Weber dabei als Entstehungsort nicht nur der kapitalistischen WirtschaftsJonn, sondern zugleich eines spezifisch kapitalistischen "Wirtschaftsgeistes ". Diesen entdeckte er in der protestantischen Ethik, die im 16. und 17. Jh. zunächst in den Niederlanden, dann in England Fuß faßte. 516 Ihren ökonomischen Charakter aber und ihre ökonomische Wirkung konnte die mittelalterliche Stadt erst in der spezifischen politischen Umwelt des ständischen Patrimonialismus (Lehensfeudalismus) entfalten. Der formale Rationalisierungsschub, den sie auf ökonomischem Gebiet ermöglichte, konnte durch das Bündnis der (dem "reinen Patrimonialismus" zuzuordnenden) absoluten Monarchie mit bürgerlich-kapitalistischen Schichten auf die politische Sphäre übergreifen und so langfristig auch dort Rationalisierungsprozesse programmieren, die deren personalistisches Herrschaftsfundament unterliefen, während sie der Entstehung des modemen Anstaltsstaates vorarbeiteten.
* * * In diesem Kapitel sollte die Rolle des politischen Patrimonialismus in Max Webers Theorie der politischen Rationalisierung und der Entstehung des rationalen Staates betrachtet werden. Dies bot sich an, da der Herrschaftstypus nach der Be513 Die kultursoziologischen Qualitäten der modernen Stadt, "Großstadt" und "Weltstadt", werden namentlich von Georg Simmel und Ferdinand Tönnies diskutiert. Es finden sich aber v.a. in seiner Korrespondenz auch zahlreiche soziologische Beobachtungen Webers über die Stadtformen seiner Zeit, so namentlich die während der Amerikareise von 1904 brieflich mitgeteilten Eindrücke von amerikanischen Großstädten wie New York, Chicago, St. Louis, Oklahoma City. Sie offenbaren - mit Simmel zu sprechen - Webers großes Interesse an den Wechselwirkungen von objektiver und subjektiver Kultur, an dem Einfluß von geographischen, ökonomischen, sozialen und ebenso kulturellen Bedingungen großstädtischen Lebens auf die bürgerliche Lebensführung. V gl. hierzu die arrregenden Hinweise bei Bruhns. Webers ,Stadt', S. 52 ff. 514 Vgl. WG, 138 f.; GARS I, S. 391, 393. 515 WG, S. 139. "Der moderne, spezifisch okzidentale Kapitalismus, ist vorbereitet worden in den (relativ) rational verwalteten spezifisch okzidentalen städtischen Verbänden [ ... ]." 516 Zu dieser "zweiten Transformation" innerhalb der okzidentalen Sonderentwicklung vgl. Schluchter, Religion und Lebensführung II, S. 476 ff.
4. Okzidentaler Patrimonialismus und politische Rationalisierung
231
stimmung Webers durchaus ein gewisses Rationalisierungspotential aufweist, das aber in der Regel zu Prinzipien und Einrichtungen materialer Rationalität tendiert. Die für den modernen Anstaltsstaat wie den modernen Kapitalismus und das moderne Recht charakteristische formale Rationalität negiert hingegen das personalistische Herrschaftsfundament des Patrimonialismus und genau an diesem Punkt setzt der Strukturwandel vom frühneuzeitlichen Neo-Patrimonialismus (Absolutismus) zum modernen Staat ein. Entscheidend für den Untergang des Ancien regime und die Rationalisierung des Staates waren unmittelbar natürlich die großen Revolutionen, namentlich die französische. Ohne die von ihr propagierten Prinzipien der Volkssouveränität, Menschenrechte, Rechtsgleichheit, Gewaltenteilung wäre der rational-legale Staat schlechterdings undenkbar. Doch wurde die politische Transformation zugleich nur möglich, weil okzidentaler Lehensfeudalismus, katholische Kirche und mittelalterliche Stadt politische, ökonomische und rechtliche Bedingungen schufen, mit denen die patrimonialen Herrschaftstraditionen auf die Dauer unvereinbar waren. Die Patrimonialherrscher konnten eigenmächtige Lehensherren, eine straff organisierte Kirche, ökonomisch starke und politisch autonome Städte zwar bekämpfen, gegeneinander ausspielen, als Verbündete gewinnen, mußten mit ihnen als politischen Einflußfaktoren aber immer rechnen. Protokonstitutionelle Formen ständischer Gewaltenteilung und Rechtsstaatlichkeit gab es deshalb nur im Okzident. Sie schufen historische Erbschaften, an die unter anderen Bedingungen der moderne Staat anknüpfte. V.a. aber veränderten sie schon die patrimoniale Herrschaftspraxis selbst. Die seit dem Spätmittelalter in der kirchlichen und politischen Verwaltung allgegenwärtigen "Doktoren" des römischen (und kanonischen) Rechts bestimmten das Bild der Verwaltungs- und Rechtspraxis - einer Praxis, auf die der römische Rechtsformalismus - wie immer material gebunden zunächst durch die kanonistische Scholastik - durch die strikte Trennung von fas und ius und die systematisierende Arbeit der gemeinrechtlichen Jurisprudenz nicht ohne Einfluß bleiben konnte. Der rationale Staat und seine Entwicklungsbahnen 517 freilich liegen hier außerhalb der Betrachtung. Inwiefern der Patrimonialismus - gegen seine typischen Entwicklungstendenzen - im Okzident als Weichensteller für den modernen Staat fungieren konnte, darum ging es. Die typische Entwicklungsstadien des Patrimonialismus, den "patrimonialen Zyklus", demonstriert Weber am Beispiel der orientalisch-asiatischen Imperien, die explizit als Kontrastfolie zur okzidentalen (hier: politischen) Sonderentwicklung fungieren. Auf dem einmal erreichten und konsolidierten evolutionären Niveau und unter dem permanenten Druck des "Steppenvölkerimperialismus" konnte sich in dieser Weltregion die arbiträre Variante patrimonialer Herrschaft immer wieder regenerieren. Machtzentralisation und -konzentration auf der einen, entwaffnete Bevölkerungen auf der anderen Seite verhinderten die Herausbildung von Formen ständischer Gewaltenteilung, wie sie im Okzident typisch wurden. Die konzentrierte Herrengewalt ermöglichte die Durchsetzung materialer (politischer oder ethischer) 517 Dazu Breuer; Staat, S. 274 ff.; ders., Herrschaftssoziologie (1991), S. 191 ff.; Poggi, Modern State; Mann, Sources of Social Power II, S. 44 ff., 358 ff., 402 ff., 444 ff., 479 ff.
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III. Patrimonialismus und Rationalisierung
Maximen in Legislative, Exekutive und Judikative, die wiederum nicht ständischgewaltenteilig organisiert waren, sondern vielmehr, mit zunehmender Konzentration der Herrengewalt ("Sultanismus") im Herrscher und seiner Kamarilla zusammenfielen. Ansätze zu einer Organisation der politischen Herrschaft von unten, Rechtsgleichheit im Sinne gleicher subjektiver Rechte, v.a. auch subjektiv öffentlicher Rechte: politische Bürgerrechte, die Idee der Volkssouveränität etc. hatten unter solchen Bedingungen kaum eine Durchsetzungschance. Dies eben lenkte den Blick auf die andersartige politische Entwicklung des Okzidents und speziell die andersartige Rolle, die dort der politische Patrimonialismus spielte. Nachdem im methodisch-werkgeschichtlichen Teil die handlungstheoretischen Grundlagen der Weberschen Herrschaftssoziologie untersucht wurden und im empirischen Teil eine Strukturanalyse des Rationalisierungsprozesses in herrschaftssoziologischer Perspektive - hier speziell im Hinblick auf die entwicklungsgeschichtliche Rolle des Patrimonialismus - durchgeführt wurde, ist abschließend auf die Frage zurückzukommen, was die Verschränkung der beiden Deutungsebenen für Max Webers historische Soziologie als verstehende bedeutet.
IV. Schlußbetrachtung: Handlung, Ordnung und Rationalisierung "Weber ist ein ausgesprochen schwieriger Autor, weil sein Werk arbeitsteilig aufgebaut ist und mit verschiedenen Abstraktionsstufen operiert; man muß es benutzen wie Juristen ein Gesetzbuch, indem man bei jedem Begriff das komplizierte Verweisungssystem mitberücksichtigt, in den er eingebettet ist. "I
Das einleitende Zitat wählt ein treffendes Bild, mit dem der Autor freilich weniger ein Plädoyer für Weber-Philologie verbindet, als vielmehr die aus seiner Sicht unverzichtbare Voraussetzung für eine fruchtbare Werkrezeption benennt. Ein Bild aber auch, mit dem sich das Forschungsproblem umschreiben läßt, welches in dieser Arbeit unter dem Titel "Soziales Handeln und Struktur der Herrschaft" am Beispiel des Patrimonialismus in Webers Beitrag zum GdS und den damit in engem Zusammenhang stehenden Studien verhandelt werden sollte. Was das Werk betrifft, so dominiert - ganz abgesehen von den sehr heterogenen sach-, zeit- und länderspezifischen Rezeptionskonjunkturen - die Tendenz zur Spezialisierung: zur Weber-Deutung entlang der Disziplingrenzen, d. h. unter methodologisch-erkenntnistheoretischen, religions-, herrschafts- und rechtssoziologischen, schließlich: historisch-politischen Fragestellungen, und innerhalb dieser die Diskussion von Spezialfragen etwa zu Idealtypenbildung und Verstehensbegriff, zu Protestantischer Ethik und Charisma-Begriff, zu den Typen der Bürokratie oder des Feudalismus. Zwar wurde von renommierten Forschern wie v. Schelting, Henrich, Tenbruck, Hennis u. a. explizit auch die Frage nach der Einheit des Werkes aufgeworfen, und als wechselnd favorisierte Schlüssel zum Werkverständnis wurden die sog. Wissenschaftslehre, die Studien zur "Wirtschaftsethik der Weltreligionen" sowie "Wirtschaft und Gesellschaft" präsentiert. 2 Doch blieb in der Regel der Zusammenhang von Begriffsbildung, Handlungstheorie und materialer Soziologie 1 Stefan Breuer, Max Weber als Historiker [Rezension], in: Rechtshistorisches Journal, 7 (1988), S. 80 ff., hier S. 82. 2 Exemplarisch stehen dafür die verschiedenen Anläufe Friedrich H. Tenbrucks (Genesis; ders., Das Werk Max Webers, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 27 (1975), S. 663 ff.; ders., Das Werk Max Webers: Methodologie und Sozialwissenschaften, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 36 (1986), S. 13 ff.; ders., Abschied von der "Wissenschaftslehre", in: Weiß (Hg.), Max Weber heute, S. 90 ff.), in denen er abwechselnd die "Wissenschaftslehre" und die Abhandlungen zur "Wirtschaftsethik der Weltreligionen" als Interpretationskern des Werkes ausmacht, während "Wirtschaft und Gesellschaft" verabschiedet wird (vgl. ders., Abschied von "Wirtschaft und Gesellschaft", in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft, 133 (1977), S. 703 ff.).
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IV. Handlung, Ordnung und Rationalisierung
opak. Die Forschung begnügte sich, wo sie die sog. Transformationsproblematik behandelte: Wie kommt man vom sozialen Handeln zur Ordnung und von dort zurück zur Handlungsebene?, mit der Erklärung des Transformationsmodus, d. h. der angewendeten Methodik (Idealtypen, Chance-Begriff)? Das führte im Ergebnis zu der eher unhistorischen Diskussion der Zuordnung von Handlungs- und Ordnungstypen4 oder der Exemplifikation 'von Gegenstandskonstitution ("historisches Individuum") und kausaler Zurechnung ("objektive Möglichkeit", "adäquate Verursachung", "Erfahrungsregeln"), ohne die Justierung des Begriffsapparates unter dem Gesichtspunkt der okzidentalen Rationalisierung und damit die umfangreichen struktursoziologischen Analysen, namentlich des zweiten (nachgelassenen) Teils von "Wirtschaft und Gesellschaft", systematisch mit einzubeziehen. 5 Am Beispiel der Kategorie des Patrimonialismus sollte in den vorangehenden Kapiteln genau dieser Zusammenhang veranschaulicht werden: Webers Begriffsbildung ist eine für seine soziologischen Zwecke, d. h. - seit den Großprojekten "Wirtschaft und Gesellschaft" und "Wirtschaftsethik der Weltreligionen" - Begriffsbildung im Dienst "sinnhafter Deutung und kausaler Erklärung" des spezifischen Rationalismus der okzidentalen Kultur. Für sich gesehen hatte die Spezialisierungstendenz in der Weberforschung, die Konzentration besonders auf Methodologie und Handlungstheorie Max Webers, durchaus ihren Nutzen. Die jeder reifikatorischen Begriffsbildung entgegenstehende idealtypische Methode konnte ebenso deutlich herausgearbeitet werden wie die im Chance-Begriff artikulierte Offenheit der Begriffsbildung für die Strukturbedingtheit allen Handeins - eine für das Verständnis von Makrostrukturen unverzichtbare Voraussetzung. 6 Der durch logische Reinheit, Unwirklichkeit und Konstruktivität der Typenbegriffe provozierten Reifikationsgefahr, nunmehr auf seiten des Rezipienten,7 wirkte der Chance-Begriff als Chiffre für die Prozeßhaftigkeit 3 Vgl. etwa Steinvorth, System, bes. S. 53 ff.; Schwinn, Max Webers Verstehensbegriff, in: Zeitschrift für philosophische Forschung, 47 (1993), S. 573 ff., bes. 576. 4 Vgl. etwa die Beiträge von Rainer Döbert, Max Webers Handlungstheorie und die Ebenen des Rationalitätskomplexes, S. 210 ff.; Veit-Michael Bader, Legitimität, S. 296 ff.; Clausjohann Lindner, Max Webers handlungstheoretisches Programm für die Soziologie, S. 358 ff., alle in: Weiß (Hg.), Max Weber heute; vgl. auch Schwinn, Konzeption, S. 220 ff. 5 Immerhin hat Steinvorth, System, S. 65 die Bedeutung der okzidentalen Rationalisierung als Leitthematik der Idealtypenbildung bei Weber hervorgehoben: ,,[ ... ] die europäische Kultur ist für Weber das historische Individuum, das alle anderen möglichen primären Erkenntnisgegenstände verdrängt; die kausalen Deutungen oder Idealtypen objektiver Möglichkeiten sind die Deutungen der Kausalzusammenhänge der europäischen Entwicklung und die Möglichkeiten alternativer Entwicklungsrichtungen [ ... ]; die Erfahrungsregeln oder Klassifikationsbegriffe sind die Begriffe, die bei solchen Kausaldeutungen gebraucht werden." 6 Giddens, Konstitution der Gesellschaft, S. 77 ff. hat diese "Dualität von Strukturen" als Medium und Resultat des Handeins hervorgehoben. 7 Vgl. Amold Zingerle, Max Webers Analyse des chinesischen Präbendalismus. Zu einigen Problemen der Verständigung zwischen Soziologie und Sinologie, in: Schluchter (Hg.), Konfuzianismus und Taoismus, S. 174 ff., hier S. 180.
IV. Handlung, Ordnung und Rationalisierung
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und Dynamik gesellschaftlicher Entwicklung entgegen. Die von Weber in seinen material-soziologischen Studien immer wieder betonte "Flüssigkeit" aller empirischen Konfigurationen besagt insoweit nichts anderes als den stetigen Wandel konkreter Chancenkonstellationen. 8 Der Grund für die selektive Werkrezeption liegt im übrigen natürlich in der Sache selbst, wobei im Falle von "Wirtschaft und Gesellschaft" die überlieferungsgeschichtliche Hypothek komplizierend hinzukommt. Die bisherigen Editoren von "Wirtschaft und Gesellschaft" boten einen drei- (Erstherausgeber) bzw. zweigeteilten Text (Winckelmann) auf höchst disparater Textgrundlage und versahen diesen zudem noch mit einer irreführenden Deutungsempfehlung (sog. Zweiteilungsthese). Daß es sich dagegen um fragmentarische Textbestände aus unterschiedlichen Arbeitsphasen handelt, daß sowohl die Vorkriegsmanuskripte zu Webers Grundrißbeitrag wie die sog. Erste Lieferung soziologische Aufklärung mittels idealtypischer Begriffe betreiben - also "theoretische Konstruktionen unter illustrativer Benutzung des Empirischen,,9 sind, wenn auch in dem einen Fall mit stärker typologischem, im anderen deutlicher mit entwicklungsgeschichtlichem Akzent -, dieser Sachverhalt rückt erst in der neueren Weber-Forschung wieder stärker ins Bewußtsein. Von einem intern arbeitsteiligen Verhältnis zwischen einem allgemein-begrifflichen und einem historisch-erklärenden Teil kann - zumindest für die überlieferten Texte - keine Rede sein. Um die sog. Erste Lieferung und die umfangreiche materiale Soziologie des zweiten Teils, um speziell die beiden Herrschaftssoziologien dennoch zusammenlesen zu können, war es deshalb zunächst erforderlich festzustellen, ob und wie ggf. das Entsprechungsverhältnis der zugrundeliegenden Kategorienlehren zu explizieren sei. Die Transformation von sozialem Handeln zu gesellschaftlichen Strukturen scheint dagegen dank der methodischen Instrumente des Chance-Begriffs und der Idealtypenlehre tiefere Probleme erst gar nicht aufzuwerfen. Und doch erweist sich der auf den ersten Blick triviale Tatbestand bei näherer Betrachtung von Webers historisch-soziologischen Strukturanalysen als durchaus problematisch. In seiner soziologischen Kategorienlehre hat Weber die ökonomischen, religiösen, rechtlichen und politischen Makro-Sachverhalte handlungstheoretisch aufgeschlüsselt. Begriffe wie "Staat", "Genossenschaft", "Feudalismus" und ähnliche sollen für die Soziologie, "allgemein gesagt, Kategorien für bestimmte Arten menschlichen ZusammenhandeIns (bezeichnen), und es ist also ihre Aufgabe, sie auf ,verständliches' Handeln, und das heißt ausnahmslos: auf Handeln der beteiligten Einzelmenschen, zu reduzieren." 10
Die spezifische Verstehbarkeit sinnhafter "Denk-, Sprech- und Deutungsakte" (Gephart) - Handlungen, die in der juristisch geprägten Formulierung Webers 8 In diesem Sinn beschreibt Schwinn, Konzeption, S. 223 die Webersche Konzeption der "Mikro-Makro-Verknüpfung". 9 GAWL, S. 205. 10 "Kategorien", GAWL, S. 439; vgl. "Soziologische Grundbegriffe", WG, S. 6 f.
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IV. Handlung, Ordnung und Rationalisierung
immer zugleich (bewußte) Duldungen und Unterlassungen einschließen 11 entscheidende methodologische Apriori der verstehenden Soziologie:
-
ist das
"Das Ziel der Betrachtung: ,Verstehen', ist schließlich auch der Grund, weshalb die verstehende Soziologie (in unserem Sinne) das Einzelindividuum und sein Handeln als unterste Einheit, als ihr ,Atom' [ ... ] behandelt. [ ... ] Aus dem gleichen Grunde ist aber für diese Betrachtungsweise der Einzelne auch nach oben zu die Grenze und der einzige Träger sinnhaften Sichverhaltens. ,,12
Die allgemeinen Handlungstypen führen über die Verstetigung von wechselseitigen Handlungsorientierungen und die Steigerung objektiver Ablaufwahrscheinlichkeiten zu korrespondierenden Ordnungstypen, deren herausgehobene Form: die legitime Ordnung, in der Herrschaft und ihren institutionalisierten Strukturformen einen fundamentalen, qualitativen Systemeffekt zeitigt. 13 Für die makrosoziologischen Untersuchungen des zweiten Teils von "Wirtschaft und Gesellschaft" ergibt sich damit der Befund, ihre handlungstheoretische Fundierung voraussetzen zu müssen, ohne deren Rekonstruktion, z. B. im Falle der entwicklungsgeschichtlichen Analysen zu Patrimonialismus, Feudalismus und rationalem Staat, umstandslos bewerkstelligen zu können. Zingerle spricht von der Schwierigkeit, "daß Weber einerseits in seinen methodologischen Schriften seine Grundsätze handlungstheoretisch explizierte und zu diesem Zweck auch institutionelle Sachverhalte in handlungstheoretischer Analyse auflöste, andererseits jedoch im größten Teil seiner materialen Arbeiten eine strukturtypologische Terminologie einsetzt, die nicht ohne weiteres handlungstheoretisch ,rückübersetzt' werden kann.,,14
Durchaus treffend beschreibt er Webers Vorgehensweise bei seinen herrschafts-, rechts- und religions soziologischen Strukturanalysen. Es überwiegt eine - modem gesprochen - funktionalistische Betrachtungsweise, mit der Entstehung, Konsolidierung und Wandel ökonomischer, politisch-administrativer, rechtlicher oder religiöser Strukturen teleologisch unter dem Gesichtspunkt ihrer nutzenmaximierenden, machtsichernden, ordnungsstiftenden oder heilswichtigen RationalisierungsEffekte erörtert werden. 15 Zwar hat Weber der funktionalen Methode ausdrücklich 11 "Kategorien", GAWL, S. 429; vgl. "Soziologische Grundbegriffe", WG, S. 1; Gephart, GeseIIschaftstheorie und Recht, S. 478 ff. Diese Präzisierung des Handlungsbegriffes ist für die soziologische Analyse religiöser oder säkularer "Rechtfertigungslehren" (Legitimationsgründe der Herrschaft!) und allgemein für die Beschreibbarkeit des Universalphänomens der Herrschaft grundlegend; vgl. dazu Karl-Siegbert Rehberg, Rationales Handeln als großbürgerliches Aktionsmodell. Thesen zu einigen handlungstheoretischen Implikationen der "Soziologischen Grundbegriffe" Max Webers, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 31 (1979), S. 199 ff., hier S. 215. 12 "Kategorien", GAWL, S. 439; vgl. "Soziologische Grundbegriffe", WG, S. 6. 13 Vgl. Schwinn, Konzeption, S. 222 ff. Auch deshalb findet sich - wie Rehberg, Rationales Handeln, S. 214 zu Recht feststellt - die Begriffsbestimmung der Herrschaft nicht zufällig am Ende der "Soziologischen Grundbegriffe". 14 Zingerle, Max Webers Analyse, S. 195. 15 Auf die relative Unbestimmtheit und Offenheit des Weberschen Rationalisierungskonzepts, das nicht mit rationalistischen Vorurteilen verwechselt werden darf, sei nur nochmals
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eine Hilfs- und Orientierungsfunktion zuerkannt. 16 Systemstabilität, Systemsteuerung und Systemwandel bilden jedoch nur den konkreten Ausgangspunkt der "empirisch-soziologischen Arbeit", die auf dieser Grundlage zur Motivanalyse übergehen soll: ,,[W]elche Motive bestimmten und bestimmen die einzelnen Funktionäre und Glieder dieser ,Gemeinschaft', sich so zu verhalten, daß sie entstand und fortbesteht? ,,17 Daher sucht Weber seinem metatheoretisch verankerten Wertinteresse am okzidentalen Rationalisierungsprozeß forschungspraktisch mit dem Postulat eines "methodologischen Rationalismus,,18 beizukommen, das sich die spezifische Evidenz und Verständlichkeit (zweck-)rationalen Handeins zunutze macht. Solche teleologischen Rationalisierungen zweiter Ordnung - wie man sie im Hinblick auf die Leitperspektive der Begriffsbildung: den spezifisch okzidentalen Rationalismus, nennen müßte - finden sich auf Schritt und Tritt in den Makroanalysen des zweiten Teils von "Wirtschaft und Gesellschaft", wenn etwa in der Darstellung patrimonialer, feudaler oder rationaler politischer Ordnungen durchschnittlich (zweck- oder wert-)rational handelnde Akteure (individuelle wie Priester, Kriegsfürst, Patrimonialherr, Lehnsherr, Vasall oder kollektive wie Hierokratie, Feudaladel, Geschlechter, Stände, Städte, Zünfte, Gilden) unterstellt werden. Das patrimoniale oder feudale Herrschaftssyndrom z. B. beschreibt Weber unter Berücksichtigung kontingenter (ökonomisch-ökologischer, geopolitischer) Strukturbedingungen als spannungsreiche Machtfiguration von Patrimonialherren, Patrimonialbeamten, Feudaladel, Hierokratie, bürgerlichen Schichten etc., deren individuelle oder kollektive (zweck- und wertrationale) Interessenlagen nicht nur idealtypisch fonnuliert, sondern durch "typologische Kombinatorik" auch auf ihre immanenten - vielfach ungeplanten - Rationalisierungspotentiale hin untersucht werden. 19 Für die kausale Zurechnung sind freilich die den idealtypischen Begriffen und Entwicklungskonstruktionen supponierten Motive und Zweckvorstellungen Hypothesen, über deren heuristischen Wert die historische Einzelforschung zu entscheiden hätte. 2o Von dem explikativen Aufwand, der getrieben werden müßte, um die diesen Deutungshypothesen zugrunde liegenden kausalen Erfahrungsregeln zu benennen, hat Zingerle am Beispiel der patrimonialstaatlichen Einrichtung des chinesischen Prüfungssystems eine Vorstellung gegeben. 21 So wäre etwa der Frage nachzugehen, wie ein chinesischer Patrimonialherrscher, dessen Handlungsmotivaausdrücklich hingewiesen (vgl. die einschlägigen Bemerkungen in "Vorbemerkung", "Einleitung" und "Zwischenbetrachtung" zu GARS I, S. 11 f., 265 f., 537 f.). 16 Vgl. WG, S. 8. 17 WG, S. 9. 18 Vgl. GAWL, S. 429; WG, S. 3, 9. 19 SO Z. B. die Bedingungen und Folgen der Verbindung des Patrimonialfürsten mit bürgerlichen Schichten oder der Rekrutierung von universitätsgeschulten Juristen für den patrimonialen Verwaltungsstab. 20 Vgl. als Anleitung für diese Analyse: "Roscher und Knies", GAWL, S. 129 ff.; "Kritische Studien", ebd., S. 215 ff., bes. 266 ff.; ",Objektivität' ", ebd., bes. S. 190 ff.; "Wertfreiheit", ebd., S. 532 ff. 21 Vgl. Zingerle, Max Webers Analyse, S. 193 ff.
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tion festgestellt werden soll, bei vollständiger Kenntnis seiner Handlungsbedingungen hätte agieren müssen, um den (vom soziologischen Betrachter) angenorrimenen Zweck: die Verhinderung von Refeudalisierung und ständischer Machtkonkurrenz zu verwirklichen (teleologische Rationalisierung)? Nach welchen allgemeinen kausalen Erfahrungsregeln wäre die Installation des Prüfungssystems ein adäquates Mittel zur Erreichung jenes Zweckes gewesen? Für welche anderen rationalen Motive hätte es ein geeignetes Mittel sein können? Welche adäquaten Mittel für den angenommenen Zweck gab es? Etc. Diese methodologische Auflage betrifft analog die "Rückübersetzung" jedes institutionellen, d. h. handlungsförmig produzierten Sachverhaltes in Webers historischer Soziologie. Die handlungs theoretische Begründung der historischen Soziologie Max Webers wirft aber darüber hinaus noch in einem grundsätzlicheren Sinn Fragen auf. Daß die Handlungsdimension auch in den kulturvergleichenden Strukturanalysen des älteren Teils von "Wirtschaft und Gesellschaft" präsent ist, zeigen besonders die mit den Legitimitätsformen in der Rechts- und Herrschaftssoziologie und den religiösen Ethiken in der Religionssoziologie verbundenen wertrationalen Handlungstypen, deren psycho- und soziogenetischer Zusammenhang schon in Kap. 11 diskutiert wurde. Vor dem Hintergrund der Transformationsproblematik soll hierauf nochmals eingegangen werden. Die Bedeutung der "funktionalen Vorfragestellung für jede Soziologie" besteht nach Weber nicht allein in der Feststellung des "vom Standpunkt der ,Erhaltung' und Fortbildung", sondern "vor allem eben doch auch: der Kultureigenart!,,22 wichtigen sozialen Handelnstyps. Das Gewicht, das er dieser Ergänzung offensichtlich beimißt, lenkt den Blick auf jene neukantianischen Entlehnungen der verstehenden Soziologie, in denen die verzweigten Verweise des "Gesetzbuchs" erkenntnislogisch zusammenlaufen. Das soziale Geschehen, mit dem sich die Kulturwissenschaften beschäftigen, stellt, "sobald wir uns auf die Art, in der es uns unmittelbar entgegentritt, zu besinnen suchen, eine schlechthin unendliche Mannigfaltigkeit von nach- und nebeneinander auftauchenden und vergehenden Vorgängen, ,in' und ,außer' uns,,23 dar. Erst die "denkende Ordnung der empirischen Wirklichkeit,,24 ermöglicht historische Erkenntnis. Nach welchem Maßstab vollzieht sich aber die Auswahl des Erkenntnisgegenstandes? Webers Antwort setzt ein mit der neukantianischen petitio principii: "Alle denkende Erkenntnis der unendlichen Wirklichkeit durch den endlichen Menschengeist beruht [ ... ] auf der stillschweigenden Voraussetzung, daß jeweils nur ein endlicher Teil derselben den Gegenstand wissenschaftlicher Erfassung bilden, daß nur er ,wesentlich' im Sinne von, wissenswert' sein solle. ,,25 WG, S. 8 (eigene Hervorhebung). ,,,Objektivität"', GAWL, S. 171. 24 Vgl. ,,,Objektivität"', GAWL, S. 155 f., 176. 25 ",Objektivität''', GAWL, S. 171; vgl. Heinrich Rickert, Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft, Tübingen 6+71926, S. 28 ff., 35 f. 22 23
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Die in dem erforderlichen Wertungsakt (theoretische Wertbeziehung im Sinne Rickerts) steckende Konstitutionsleistung nennt Weber "Kulturbedeutung"; sie liegt seinem Verständnis von "Kulturwissenschaft,,26 und seinem "formal-logischen" Kulturbegriff27 zugrunde. Für ihn ist ,,[d]er Begriff der Kultur [ ... ] ein Wertbegriff. Die empirische Wirklichkeit ist für uns ,Kultur', weil und sofern wir sie mit Wertideen in Beziehung setzen, sie umfaßt diejenigen Bestandteile der Wirklichkeit, welche durch jene Beziehung für uns bedeutsam werden, und nur diese.,,28
Kultur ist - wie es an anderer Stelle heißt29 - "ein vom Standpunkt des Menschen aus mit Sinn und Bedeutung bedachter endlicher Ausschnitt aus der sinnlosen Unendlichkeit des Weltgeschehens." Hieraus leitet Weber sein bekanntes kulturwissenschaftliches Apriori 3o ab: "Transzendentale Voraussetzung jeder Kulturwissenschaft ist nicht etwa, daß wir eine bestimmte oder überhaupt irgend eine ,Kultur' wertvoll finden, sondern daß wir Kulturmenschen sind, begabt mit der Fähigkeit und dem Willen, bewußt zur Welt Stellung zu nehmen und ihr einen Sinn zu verleihen.,,3l
Mittels kognitiver und evaluativer Akte konstruiert der beobachtende Kulturwissenschaftler seinen Erkenntnisgegenstand, die soziale Wirklichkeit bzw. die ihn interessierenden Bestandteile daran, welche die teilnehmenden Akteure immer schon in subjektivem Handlungssinn oder bereits objektiviertem ,Struktur-Sinn' konstituiert haben. 32 Die spezifische Versteh- und Erklärbarkeit "menschlichen 26 Vgl. ",Objektivität''', GAWL, S. 165: "Will man solche Disziplinen, welche die Vorgänge des menschlichen Lebens unter dem Gesichtspunkt ihrer Kulturbedeutung betrachten, ,Kulturwissenschaften' nennen, so gehört die Sozialwissenschaft in unserem Sinne in diese Kategorie." Zum Verhältnis von "Kulturbedeutung", "Wertbeziehung" und "Wertinteresse" vgl. Nusser, Kausale Prozesse, S. 94 ff. 27 Gephart, Handeln und Kultur, S. 188 ff., 194 f. unterscheidet in seiner Weber-Deutung einen materialen, einen formalen und einen objektbezogenen Kulturbegriff, dessen wertmäßige Auszeichnung eines spezifisch okzidentalen aktivistischen Weltverhältnisses von der wertphilosophischen über die methodologische auf die empirisch-soziologische Ebene durchschlage. 28 GAWL, S. 175. 29 GAWL, S. 180. 30 Daß es sich um einen apodiktischen, dem erkenntniskritischen Zweifel - vergleichbar religiösen oder weltanschaulichen Glaubenssätzen - entzogenen, in diesem Sinn nicht nur' kognitiven, sondern durchaus emphatisch evaluativen Wertungsakt des Kulturwissenschaftlers handelt, daran lassen die Formulierungen in GAWL, S. 213 keinen Zweifel. Dort heißt es: "Wem diese Wahrheit nicht wertvoll ist - und der Glaube an den Wert wissenschaftlicher Wahrheit ist Produkt bestimmter Kulturen und nichts Naturgegebenes -, dem haben wir mit den Mitteln unserer Wissenschaft nichts zu bieten. [, .. ] Und der uns allen in irgendeiner Form innewohnende Glaube an die überempirische Geltung letzter und höchster Wertideen, an denen wir den Sinn unseres Daseins verankern [ ... ]" (eigene Hervorhebung). Vgl. auch die Formulierungen in "Wissenschaft als Beruf', MWS 1117, S. 13 f. 3l GAWL, S. 180.
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Sichverhaltens" begründet erst den eigenständigen Erkenntnisanspruch der Soziologie als "Kulturwissenschaft", d.i. eine "Wissenschaft von [kulturbedeutsamen, S.H.] geistigen oder gesellschaftlichen Zusammenhängen".33 Das Reflexivwerden VOn Kultur in den Kulturwissenschaften ist dabei Ergebnis jenes universellen Rationalisierungs- und Intellektualisierungsprozesses, der zuletzt die Wissenschaft selbst in ihrer Rolle als Sinndeutungs- (oder gar: Sinnstiftungs-)Instanz erlaßt. DieSer intellektuelle Entzauberungsprozeß delegitimiert die überkommenen religiösen, philosophischen und politisch-weltanschaulichen Deutungsmonopole und konfrontiert den "modernen Menschen" mit der Forderung, Sinn und Bedeutung seines Lebens aus sich selbst zu schöpfen. 34 Bei der Verwirklichung eines selbstverantworteten Tuns und Seins kann ihm die Wissenschaft nur mehr oder minder wertvolle Hilfestellungen bieten. 35 Die Sozialwissenschaft als "Wirklichkeitswissenschaft" kann aufklären über die Eigenart der ihn umgebenden Wirklichkeit - "den Zusammenhang und die Kulturbedeutung ihrer einzelnen Erscheinungen in ihrer heutigen Gestaltung einerseits, die Gründe ihres geschichtlichen So-undnicht-anders-Gewordenseins andererseits. ,,36 Das "europäisch-amerikanische Gesellschafts- und Wirtschaftsleben" aber ist geprägt von einem spezifischen Rationalismus und rationalen Lebensführungsethos: "Diese Rationalisierung zu erklären und die ihr entsprechenden Begriffe zu bilden, ist daher eine der Hauptaufgaben unserer [ökonomischen und soziologischen, S.H.] Disziplinen."37
Wenn sich die Konstitution von Kultur im Medium der Modulierung des Weltverhältnisses durch Denk-, Sprech- und Deutungsakte vollzieht und die verstehende Soziologie kultuIWissenschaftliche Erkenntnis verspricht, scheint eS folgerichtig, daß in Webers kulturvergleichender Entwicklungsgeschichte der modernen Welt den Weltbildkonstrukteuren und kulturprägenden Instanzen vergangener Epochen besonderes Gewicht zukommt, gerade weil sie handlungswirksame Deutungsmonopole besaßen?8 Nicht zufällig bilden magische, religiöse und philosophische Weltbilder einerseits, legitimitätsspendende Herrschaftslegenden anderer32 Vgl. Schluchter; Handlungs- und Strukturtheorie, S. 132 f. und Gephart, Handeln und Kultur, S. 189. Auf die Differenz der beiden analytisch zu unterscheidenden Aspekte konunt es hier durchaus an. 33 GAWL, S. 532. 34 Vgl. GAWL, S. 154,507 f. 35 "Wissenschaft als Beruf', MWS 1/ 17, S. 19 f.; GAWL, S. 151: "Eine empirische Wissenschaft vermag niemanden zu lehren, was er soll, sondern nur, was er kann und - unter Umständen - was er will. " 36 GAWL, S. 170 f. 37 GAWL, S. 525 und die "Vorbemerkung" zu GARS I, bes. S. 1, 11 f. 38 Zu den Begründern religiöser oder profaner Theo- bzw. Logodizeen: Propheten, Priester, "Laienintellektuelle", vgl. GARS I, S. 15,239 ff., 251 ff.; zum Spannungsverhältnis zwischen religiös-ethischem und empirisch-wissenschaftlichem Rationalismus ebd., S. 564 ff.; WG, S. 275.
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seits das systematische Bindeglied zwischen der Re1igions- und Herrschaftssoziologie Webers. Die in magisch-ritualistischen bzw. religiösen Ethiken, theokratischen und profanen Rechten kondensierten Weltbilder erzeugen soziale Praktiken (Kultur-"Traditionen"), die über Erziehungs-, Bildungs- und Lebensführungsideale ordnungsstiftend wirken. Dies v.a., indem sie den Einzelnen von der Aufgabe permanenter Sinnaktualisierungen entlasten?9 Magier, Propheten, Priester und weltliche Intellektuelle (Philosophen und "Schriftgelehrte" wie die chinesischen Mandarine oder die Humanisten der Renaissance) sind die typischen Sinnproduzenten v.a. traditionaler Gesellschaften, die kraft ihrer spezifischen Weltdeutungs- und Wissenskompetenz sowie durch die Transformation ihrer Weltbilder in normative Ordnungen die Erhaltung sozialer Ordnung gewährleisten. 4o Ihnen bzw. den von ihnen geschaffenen kulturellen Codes gilt daher Webers Hauptaugenmerk in den Studien zur "Wirtschaftsethik der Weltreligionen".41 Als spezifische Trägerschichten der Rechtsentwicklung42 und politische Beamtenschichten43 sind sie jedoch auch für die Rechts- und Herrschaftssoziolgie von grundlegender Bedeutung. Man wird also Webers verstreuten expliziten Bemerkungen zum patrimonialen, feudalen, klerikalen Erziehungssystem (gegenüber rational-fachmäßigen Bildungs- und Erziehungsidealen)44 mit Blick auf den direkt lebensreglementierenden, d. h. unmittelbar handlungsrelevanten Einfluß dieser Funktionäre erhebliches Gewicht 39 In diesem Sinn: Gephart, Handeln und Kultur, S. 190. Vgl. die vielzitierte Passage aus der "Einleitung" zu GARS I, S. 252: "Interessen (materielle und ideelle), nicht: Ideen, beherrschen unmittelbar das Handeln der Menschen. Aber: die ,Weltbilder', welche durch ,Ideen' geschaffen wurden, haben sehr oft als Weichensteller die Bahnen bestimmt, in denen die Dynamik der Interessen das Handeln fortbewegte." 40 So zeichnet sich beispielsweise im legislatorischen Kampf der römischen Kaiser gegen die verschiedenen Kategorien magischen Geheimwissens ein Wandel der spätantiken Wissens- und Deutungsoligopole ab; vgl. Marie Theres Fögen, Die Enteignung der Wahrsager. Studien zum kaiserlichen Wissensmonopol in der Spätantike, Frankfurt a.M. 1997. 41 Vgl. über den konfuzianischen Literatenstand GARS I, S. 395 ff.; über die Brahmanen GARS 11, S. 33 ff., bes. 134 ff.; über die jüdischen priesterlichen und ,literarischen' Intellektuellen sowie die Prophetie, GARS 111, S. 181 ff., 281 ff. 42 Über die Typen von "Rechtshonoratioren" vgl. WG, S. 456 ff. 43 Da für Weber Herrschaft strukturell Verwaltung ist, diese aber historisch von sehr heterogenen Verwaltungsstäben versehen wurde, interessiert ihn der Typus dieser Beamtenschichten gerade auch wegen ihrer über die politischen Struktureffekte hinausgehenden kulturgeschichtlichen Bedeutung. In den Patrimonial- und Feudalstaaten etwa beobachtet er den "stete[n], meist latente[n] Kampf zwischen Herrn und Verwaltungsstab um Appropriation oder Expropriation des einen oder des anderen." Entscheidend für fast die ganze Kulturentwicklung sei weniger der Ausgang des Kampfes als solcher gewesen, sondern "der Charakter derjenigen Schicht von ihm anhängenden Beamten, welche dem Herrn den Kampf gegen feudale oder andere appropriierte Gewalten gewinnen half: rituelle Literaten, Kleriker, rein weltliche Klienten, Ministeriale, juristisch geschulte Literaten, fachmäßige Finanzbeamte, private Honoratioren [ ... ]." Und er fahrt fort: "In der Art dieser Kämpfe und Entwicklungen ging deshalb ein gut Teil nicht nur der Verwaltungs-, sondern der Kulturgeschichte auf, weil die Richtung der Erziehung dadurch bestimmt und die Art der Ständebildung dadurch determiniert wurde" (WG, S. 154 f.). 44 Vgl. WG, S. 639 f., 650 ff.
16 Henne,
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beimessen müssen. Sie thematisieren die institutionell verschieden stark ausdifferenzierte Ordnung der ethisch oder sonstwie personalistisch gedeuteten, für den soziologischen Beobachter jedenfalls .. sinnhaft verständlichen" Beziehungen zwischen (prophetisch, hierokratisch und/ oder politisch) Herrschenden und Beherrschten. Darauf letztlich bezieht sich die auf die Kultureigenart eines ..sozialen Handelnstyps" abstellende Präzisierung der ..funktionalen VOrfragestellung,,45 empirisch-soziologischer Analyse, von der bereits die Rede war. Und in diesem kulturvergleichend-forschungspraktischen Sinn versteht sich auch die vie1zitierte Formulierung im Wertfreiheitsaufsatz, wonach .. [a]usnahmslos jede, wie immer geartete Ordnung der gesellschaftlichen Beziehungen [ ... ], wenn man sie bewerten will, letztlich auch daraufhin zu prüfen (ist), welchem menschlichen Typus sie, im Wege äußerer oder innerer (Motiv-)Auslese, die optimalen Chancen gibt, zum herrschenden zu werden.,,46
Denn - wie Weber sogleich hinzusetzt -: .. [ ... ] weder ist sonst die empirische Untersuchung wirklich erschöpfend, noch ist auch die nötige tatsächliche Basis für eine, sei es bewußt subjektive, sei es eine objektive Geltung in Anspruch nehmende, Bewertung überhaupt vorhanden ...47
Die Verbindung von Religion und Herrschaft, religiöser Ethik und Herrschaftslegitimation ist jedoch nicht nur institutioneller Natur, wird also nicht nur durch das historisch häufige Bündnis von politischer und hierokratischer Herrschaft48 und die Einrichtung entsprechender Erziehungs- und Bildungssysteme realisiert. Die strukturelle Wahlverwandtschaft folgt vielmehr aus dem geteilten Bedürfnis, die Welt - und das Weltverhältnis des Menschen - als ein sinnvoll geordnetes Ganzes zu erklären. 49 Ist Leid, Krankheit, Tod, Unterdrückung, kurz: ..negative Privilegierung", das Problem jeder Erlösungsreligion, so Sieg, Ehre, Einfluß, Reichtum, mit anderen Worten: ..positive Privilegierung", das der Herrschaftslegitimation. 5o WG, S. 8. GAWL, S. 517. Dies gilt es namentlich gegenüber Wilhelm Hennis festzuhalten, für den die ..charakterologisch-anthropologische" Fragestellung nach der möglichen ..Lebensführung" und dem möglichen ,,Menschentum" unter den gegebenen sozialen Ordnungsbedingungen (nicht ..Interessen", ..Weltbilder" oder ..Handeln") die Leitperspektive des Werkes abgibt (vgl. Max Webers Fragestellung, passim; Max Webers Wissenschaft, bes. S. 43 ff.). Zur Kritik vgl. auch Gephart, Handeln und Kultur, S. 110 ff. 47 GAWL, S. 517 f. 48 In der älteren Herrschaftssoziologie widmet Weber diesem Komplex ein eigenes Kapitel, vgl. WG, S. 688 ff. 49 Vgl. die religionssoziologische Formulierung des Problems WG, S. 275; GARS I, S.253. 50 Vgl. GARS I, S. 242: ..Der Glückliche begnügt sich selten mit der Tatsache des Besitzes seines Glückes. Er hat darüber hinaus das Bedürfnis: auch noch ein Recht darauf zu haben. [ ... ] Das Glück will ,legitim' sein. Wenn man unter dem allgemeinen Ausdruck: ,Glück' alle Güter der Ehre, der Macht, des Besitzes und Genusses begreift, so ist dies die allgemeinste Formel für jenen Dienst der Legitimierung, welchen die Religion dem äußeren und inneren Interesse aller Herrschenden, Besitzenden, Siegenden, Gesunden, kurz: Glück45
46
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Im Idealfall der Verbindung beider muß die Theodizee beides leisten: eine "Theodizee des Glückes" wie eine des Leidens sein. 51 Die spezifischen Legitimationsleistungen des religiösen Charisma - und zwar des monastischen Personalcharismatismus wie des kirchlichen Amtscharismatismus - boten den von Weber immer wieder betonten Anreiz für den Herrschaftskompromiß zwischen hierokratischer und politischer Gewalt. Die grundlegende Rolle des Charisma als Handeln kat exochen kann dabei - gerade aus handlungstheoretischer Sicht - gar nicht überschätzt werden. Die dynamische, traditionsbrechende, sinnsetzende und -durchsetzende Funktion des magischen, religiösen, rechtsprophetischen, militärischen, politischen Charisma wird von Weber stets erneut herausgestellt. Exemplarisch tritt die Prophetie, das religiöse Charisma, als Weltdeutungs- und Lebensführungsmacht in Erscheinung: "Immer bedeutet sie, nur in verschiedenem Grade und mit verschiedenem Erfolge, einen Versuch der Systematisierung aller Lebensäußerungen, der Zusammenfassung also des praktischen Verhaltens zu einer Lebensführung, gleichviel wie diese im Einzelfall aussehen möge. Immer enthält er ferner die wichtige religiöse Konzeption der ,Welt' als eines ,Kosmos', an welchen nun die Anforderung gestellt wird, daß er ein irgendwie ,sinnvoll' geordnetes Ganzes bilden müsse, und dessen Einzelerscheinungen nun an diesem Postulat gemessen und bewertet werden.,,52
Ebenso aber postuliert jede politische Herrschaft eine überempirisch verankerte sinnhafte Rechtfertigung: Herrschaftslegitimation,53 mag diese auch magischunaufgeklärte Reste enthalten, wie sie noch im symbolischen Akt der mittelalterlichen Herrscherkonsekration und in der dem Herrscher traditionell zugeschriebenen magischen Heilkraft sichtbar sind. Die innere Verbindung zu magisch-religiösen Vorstellungen macht eine eher beiläufige Bemerkung Webers im Kapitel über "Politische und hierokratische Herrschaft" indes unmißverständlich klar. Dort heißt es: ..Irgendwelches Minimum von theokratischen oder cäsaropapistischen Elementen pflegt also mit jeder legitimen politischen Gewalt, welcher Struktur immer, sich zu verschmelzen, weil schließlich jedes Charisma doch irgendeinen Rest von magischer Herkunft beansprucht, also religiösen Gewalten verwandt ist, und also das ,Gottesgnadentum' in irgendeinem Sinne immer in ihr liegt. ,,54
Steigendes Kulturniveau, zunehmende kognitive Fähigkeiten des Menschen, namentlich seine Befähigung zur Selbstwahmehmung und Einschätzung seiner lichen, zu leisten hatte: die Theodizee des Glückes." Eine parallele Formulierung des soziologischen Akzents der Herrschaftslegitimation findet sich in der älteren Herrschaftssoziologie, vgl. WG, S. 549. 51 Zu den Formen und zum Formwandel der Theodizee vgl. GARS I, S. 242 ff. 52 WG, S. 275. 53 Vgl. WG, S. 549: ..Der Bestand jeder ,Herrschaft' in unserem technischen Sinn des Wortes ist selbstverständlich in der stärksten Art auf die Selbstrechtfertigung durch den Appell an Prinzipien ihrer Legitimation hingewiesen." 54 WG, S. 691 (eigene Hervorhebung). 15*
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sozialen Lage, neben oder in Verbindung mit der Konkurrenz rationalisierter religiöser Weltentwürfe führen notwendig zur "Rationalisierung des Denkens über die Art der Herrschaftsordnung",55 was auch die politischen Legitimitätslegenden einem erhöhten Intellektualisierungsdruck aussetzt. 56 Das Bündnis mit religiösen Mächten liegt deshalb nahe, solange das nötige "Wissen" vorwiegend priesterlicher Provenienz ist. 57 Daß aber selbst die aus der Dialektik von "Priester-", "Propheten-" und "Laienintellektualismus" entstandene politische Philosophie letztlich noch dem theologischen Diskurs verhaftet bleibt, kann Webers Bemerkung über den religiösen Rest jeder politischen Legirnitätsvorstellung lehren. Über das Schicksal des Charisma unter den Bedingungen der Rationalisierung und Bürokratisierung, über die Bedeutung des Konzepts für die politischen Überzeugungen des späten Weber, namentlich dessen praktisch-politische und soziologische Überlegungen zum politischen Führerturn ("plebiszitäre Führerdemokratie"), 58 über die Rolle des Charisma als fundamentales Legitimationsprinzip und schließlich: dessen Einfluß auf den Webersehen Kultur-, Handlungs- und Persönlichkeitsbegriff vermittelt über die wertmäßige Prägung durch ein protestantisches Lebensführungsethos ist hier nichts weiter zu sagen. Es sollte dagegen deutlich geworden sein, daß, wenngleich die makrosoziologischen Analysen v.a. des älteren Teils von "Wirtschaft und Gesellschaft" nicht umstandslos in die Handlungsbegrifflichkeit der Kategorienlehre rückübersetzt werden können, dies die Handlungslehre als Deutungsschema nicht prinzipiell entwertet. Nicht zufällig aber nehmen die vormodemen Gesellschaftsformen in Webers Entwicklungsgeschichte des okzidentalen Rationalismus eine so zentrale Stellung ein. Gesellschaften, in denen alle sozialen Beziehungen durch personale - charismatisch, traditionalistisch oder ethisch begründete - Unter- und Überordnungsverhältnisse strukturiert sind, vermag eine verstehende Soziologie mit ihrem methodischen Instrumentarium vermutlich besser zu erklären als solche, deren Vorgänge ihr in weiten Teilen gänzlich unverständlich sind59 bzw. solche, in deren formal rationalisierten Ordnungen der individuelle Handlungssinn weitgehend WG, S. 549. Breuer, Staat, S. 20 ff. hat in Anlehnung an die modeme Entwicklungspsychologie Webers Legitimitätstypen verschiedenen kognitiven und moralischen Entwicklungsniveaus korreliert und dies als Folie für seine Darstellung von Entstehung, Organisation und Entwicklungsstadien des Staates verwendet. Interessant wäre nun zu sehen, welche Konsequenz die kognitiv-moralische Evolution für die soziologische Beschreibbarkeit der jeweiligen Gesellschaften hätte - hier natürlich speziell aus der Sicht der verstehenden Soziologie im Sinne Max Webers. 57 Vgl. GARS I, S. 505. 58 Über das gegen die modemen Bürokratisierungstendenzen in Stellung gebrachte Charisma des politischen Führertums vgl. die einschlägigen Passagen in GPS, S. 333 ff., 499 ff.; Wolfgang J. Mommsen, Max Weber und die deutsche Politik 1890-1920, Tübingen 21974, S. 416 ff., 449 ff.; Stefan Breuer, Das Charisma des Führers, in: ders., Bürokratie und Charisma, S. 144 ff. S9 Vgl. WG, S. 8. 55
S6
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mediatisiert ist, Handlungs- und Systemsinn auseinanderfallen und der letztere den ersteren zunehmend überlagert. 6o Bezeichnend genug ist es, daß Weber die Solidaritätsbeziehungen kleinster Gemeinschaften, die erotische Sphäre der Liebenden, schließlich gar die Kriegergemeinschaft gegen die rationalen Ordnungen einer gottfemen, entzauberten Welt in Stellung bringt. Nachdem Religion und Philosophie ihre Deutungsmacht verloren haben und die modeme Wissenschaft dieses Erbe ausschlagen muß, lebt "heute nur innerhalb der kleinsten Gemeinschaftskreise von Mensch zu Mensch, im pianissimo, jenes Etwas [ ... ], das dem entspricht, was früher als prophetisches Pneuma in stürmischem Feuer durch die großen Gemeinden ging und sie zusammenschweißte.,,61
Als "innerweltliche Erlösung vom Rationalen" kann die erotische Sphäre fungieren, weil sie den durch den "rationalen Alltag" entfremdeten Menschen wieder mit der "Naturquelle alles Lebens" verbindet: "Gerade [ ... ] in der Unbegründbarkeit und Unausschöpfbarkeit des eigenen, durch kein Mittel kommunikabien, darin dem mystischen ,Haben' gleichartigen Erlebnisses, und nicht nur vermöge der Intensität seines Erlebens, sondern der unmittelbar besessenen Realität nach, weiß sich der Liebende in den jedem rationalen Bemühen ewig unzugänglichen Kern des wahrhaft Lebendigen eingepflanzt, den kalten Skeletthänden ebenso völlig entronnen wie der Stumpfheit des Alltages. ,,62
Bemerkenswert ist aber v.a., daß Weber - 15 Jahre nach der berühmt-berüchtigten Freiburger Antrittsvorlesung und unter dem Eindruck der Weltkriegserfahrungen - den überempirischen, quasi-religiösen Wert des Staates nicht etwa in der Effizienz seiner Daseinsvorsorge oder in der inneren Befriedung durch seine Rechtsordnung begründet sieht, sondern durch seine im Krieg realisierte absolute Verfügungsgewalt über Leben und Tod der Krieger. Gerade der modeme Staat stifte dadurch nicht nur eine seinen rationalen Betriebs- und Anstaltscharakter durchbrechende Solidar- und "Opfergemeinschaft der Kämpfenden", sondern leiste auch "dem Krieger selbst etwas, seiner konkreten Sinnhaftigkeit nach, Einzigartiges: in der Empfindung eines Sinnes und einer Weihe des Todes, die nur ihm eigen ist.,,63 Die Verklärung des Kriegertodes wird als funktionales Äquivalent der - allerdings ganz anders gerichteten - Theodizee des Todes in der "Brüderlich60 Einer solchen soziologischen Perspektive müßte übrigens ein Theorieparadigma konsequent erschienen sein, welches - wie die Systemtheorie - den Menschen in der Umwelt des sozialen Systems lokalisiert. 61 "Wissenschaft als Beruf', MWS 1/ 17, S. 23. 62 "Zwischenbetrachtung" zu GARS I, S. 560 f. 63 ,,zwischenbetrachtung" zu GARS I, S. 548. Vgl. WG, S. 515: "Es ist der Ernst des Todes, den eventuell für die Gemeinschaftsinteressen zu bestehen, dem Einzelnen hier zugemutet wird. Er trägt der politischen Gemeinschaft ihr spezifisches Pathos ein. Er stiftet auch ihre dauernden Gefühlsgrundlagen. Gemeinsame politische Schicksale, d. h. in erster Linie gemeinsame politische Kämpfe auf Leben und Tod, knüpfen Erinnerungsgemeinschaften, welche oft stärker wirken als Bande der Kultur-, Sprach- oder Abstammungsgemeinschaft."
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IV. Handlung, Ordnung und Rationalisierung
keitsethik" von Erlösungsreligionen begriffen, der Staat in diesem Sinn als direkter Konkurrent der Religion. Die Spannung zwischen beiden ist unausweichlich, unter den Bedingungen des Rationalismus der okzidentalen Kultur freilich derart zugespitzt, daß die prinzipiell möglichen Kompromisse zwischen religiöser und politischer Sphäre als ordnungsstiftende Sinnsysteme ausfallen. 64 So sieht sich Weber nach dem Zusammenbruch der religiösen, philosophischen und politisch-weltanschaulichen Deutungssysteme genötigt, ausgerechnet die mit dem Gewaltmonopol eng zusammenhängende "Sinnstiftung des Kriegstodes" als zentralen Bestandteil der Legitimation des modemen Staates zu behaupten. 65 Man mag das als pathetischen Ausdruck eines zeitgebundenen etatistischen Werturteils abtun. Vielleicht ist es aber nur Ausdruck der Tatsache, daß die (sinn-)verstehende Soziologie bei ihrem Erklärungsversuch von Makrostrukturen gerade der modernen Gesellschaft, also z. B. ihres rationalen politischen Systems, an eine prinzipielle methodische Schranke stößt. Die Übersetzungsregel des methodologischen Rationalismus: Kollektivbegriffe in handlungstheoretische, entsubstanzialisierende Prozeßbegriffe aufzulösen, wird dort unanwendbar, wo Systemstrukturen substanzhaft geworden sind. Dann bleibt nur die Metaphorik der ,eiskalten Hände', mit der sich selbst die Sprachrnacht Max Webers der ,Gewalt' der Wirklichkeit gewordenen Kollektivbegriffe beugt. Und so fördert der ,Schraubstock' handlungstheoretischer Begrifflichkeit, in den hier die historisch-soziologische Kategorie des Patrimonialismus paßgenau eingespannt wurde, beides zutage: die Vielfalt kulturbedeutsamer Wirklichkeit ebenso wie ihre Geflihrdung unter den Bedingungen der Modeme.
64 Die möglichen Lösungen des Spannungsverhältnisses zwischen der politischen Gewaltordnung und religiösen Erlösungsethiken diskutiert Weber in der "Zwischenbetrachtung" zu GARS I, S. 549 ff. 65 Vgl. ,,zwischenbetrachtung" zu GARS I, S. 548 f.: "Diese Leistung einer Einstellung des Todes in die Reihe der sinnvollen und geweihten Geschehnisse liegt letztlich allen Versuchen, die Eigenwürde des politischen Gewaltsamkeitsverbandes zu stützen, zugrunde" (notabene: auch dem eigenen!). - Es beleuchtet nur die andere Seite des Zusammenhangs, wenn Weber in der älteren Herrschaftssoziologie die Entstehung der modemen Massenheere als Resultat eines Konzentrations- (der Kriegsbetriebsmittel in der Hand des politischen Herrn) und Disziplinierungsprozesses darstellt, der - wie die analogen Vorgänge auf ökonomischem und politisch-administrativem Gebiet - die Entfaltungsmöglichkeiten des Charisma und "des individuell differenzierten HandeIns" zunehmend einschränke (vgl. WG, S. 681 ff., 687). Diese Seite von "Max Webers Sicht des Krieges" betont Wemer Gephart (Bilder der Modeme. Studien zu einer Soziologie der Kunst- und Kulturinhalte, Opladen 1998, S. 93 ff.). Die positive Wertung der entdifferenzierenden und entindividualisierenden "Kriegskultur", die gerade Georg Simmels vitalistische Deutung des Großen Krieges als "innerweltliche Erlösung vom Rationalen" (Weber) durchzieht (vgl. ebd., S. 96 ff.), ist m.E. ganz ähnlich in Webers Überlegungen zur sinnstiftenden und sozialintegrativen Funktion des Krieges angelegt.
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Sachverzeichnis Amtscharisma, Amtscharismatismus 109, 115,119,129,145,161,206,215,243 Anstalt 57, 83 ff., 91, lll, 140, 141, 149, 150,200,214 Anstaltsbegriff 74,82, 1ll, 140,217 Anstaltshandeln 60, 83, 84 Anstaltsstaat 15, 112, 117, 123, 135, 145 f., 167, 181, 189 ff., 194 Apparat 93, 102, 197 Begriffsbildung 13, 19 ff., 24 ff., 37 ff., 41, 44 f., 55, 71, 113, 115, 150, 154, 156, 181, 233 f., 237 - idealtypische 14,22, 31,35,38,43, 159, 206 - kulturwissenschaftliche 28, 35, 37 - naturwissenschaftliche 34, 37 - soziologische 15,21,33,35,38,41 Brauch 56 ff., 66 Bürokratie 126, 138, 166, 180, 190, 197 ff., . 20~214,21~222 Chance, Chancebegriff 32,37,59 ff., 65, 67, 68, 69, 72 f., 75, 82, 88, 89, 95, 99, 116, 141,234 f. Charisma 79, 80, 81, 95, 103, 107, 109 f., 113, 115 f., 119, 124, 129 f., 134, 147f, 233 ff., 246 - der Vernunft 77,79, 134 - herrschaftsfremde Umdeutung des 198, 201 - magisches 79, 134,201,243 - militärisches 134, 148 f., 162,179, 243 - personales, PersonaIcharismatismus 79, 116,129, 145,243 - politisches 129, 148,243 - prophetisches 134, 243 - religiöses 79, 134, 148,201,243 - Versachlichung des 77,197, 2ll, 215
demokratische Legitimität s. herrschaftsfremde Umdeutung des Charisma Einverständnis 15, 57, 59 ff., 61, 63, 68, 83 f., 85,87 Einverständnis-Geltung, geltendes Einverständnis 56, 62, 65, 67 f., 69, 80 Einverständnishande1n 57, 63 f., 66, 67 f., 83 ff., 90, lll, 140 Einverständnis-Vergemeinschaftung, Einverständnisgemeinschaft 63, 73, 84 f., 85, 86, 87, 88, 94 Entwicklungsstufen 27, 50, 137, 149, 160, 165,204; s. auch Kulturstufen Erbcharisma 116, 119, 129 f., 200, 211 Feudalisierung 31, 134, 165, 174, 186, 210, 212 Feudalismus 38, 52, 55, 121 f, 123 ff., 126, 127, 128, 129, 136, 156, 165, 173, 180, 183,184 f, 186, 189, 190, 192,212,233, 235 f. Fügsarnkeitsmotive s. Gehorsamsmotive Gehorsamsmotive 77, 82, 94,96,97, 100 ff. Geltung 29, 56, 64, 65, 68 ff., 72, 74 ff., 82, 92, 97, 108, 149 - empirische 56, 60, 64 f., 68 ff., 72 ff. Geltungsbegriff 15, 60, 72, 75 f., 92, 113 Geltungschance 60, 62,64, 65,67,68, 73 Geltungs-Einverständnis 56, 63, 69, 92 Geltungsgründe 57, 77 ff. - legitimer Herrschaft 61, 80, 92 f., 99, 103, 106,113 - legitimer Ordnung 61, 70, 76, 78, 92, 101, 103f,106f. Gemeinschaft 31 f., 61, 90, 115,237 - politische 31, 90, 94, 141, 144, 147,150, 245 - religiöse 30, 58
262
Sachverzeichnis
Gemeinschaftshandeln 25, 32 f., 38, 57 ff., 62,63,66 f., 70, 90, 142, 166 Gentilcharisma 130, 168,200,211 Gesellschaftshandeln 57, 63 f., 67, 74, 83, 84 ff., 111 Gewaltenteilung 52, 121, 190, 191, 192, 218,231 - ständische 99, 111 /, 120, 152, 181, 190, 231 Handeln 20, 29 ff., 32, 35, 37 f., 45, 57 ff., 62 ff., 71 ff., 79, 81 ff., 87, 89 f., 92, 97, 105, 113, 142, 143, 155, 235 f., 241, 242, 243 - affektuelles 78 - soziales 14, 29, 31 f., 39, 56 ff., 62, 70, 76,234 f. - traditionales 78 - wertrational orientiertes 58 - wertrationales 77, 78, 101, 104 f. - zweckrationales 65, 84 Herrschaft 30, 39, 43, 53, 57, 61 f., 65, 68, 73 f., 76, 79, 80, 81, 88, 92 ff., 94, 98, 100 ff., 105 ff., 111 f., 114, 116, 118, 119, 126, 134, 141, 143 f., 147, 153, 157, 164, 190 f., 197, 198, 201, 211,215, 228, 236, 241,242,243 - bürokratische 95, 98, 108, 135 - charismatische 25, 95, 103, 108, 123, 124 ff., 128, 130,134 - illegitime s. nichtlegitime Herrschaft - kraft Autorität 81,88,114, 117,201 - kraft Interessenkonstellation 81, 88,114 - nichtlegitime 98 f. - patrimoniale 14, 22, 26, 37, 113, 116 f., 119, 123, 124, 126, 128, 151 ff., 156, 180/,201,231 - politische 26, 29, 88, 107, 114, 117 ff., 123, 135, 156 f., 161, 232,243 - (rational-)Iegale 25, 27, 80,103,108,134 - traditionale 25,103,108,119,124 f., 128, 134, 152, 156 Herrschaftsbegriff 50, 88 f., 92, 142, 144 Herrschafts-Einverständnis 61, 73, 88, 93 f., 96 Herrschaftsverband 57,73, 89,91, 92, 129 historisches Individuum 35, 37, 234
Idealtypus, Idealtypenlehre, idealtypische Methode 13, 26, 31, 33, 35/, 37 f., 43, 48,58,65,84, 136, 137, 146,190,234 f. Interessen, Interessenlage 29, 31 f., 56 f., 66 ff., 71, 81, 89, 97, 100, 139, 169, 195 f., 199,216,229,237,241,242 Kampf 57, 62 f., 88 f., 112, 135, 171, 181, 201 f., 204,205,213,241 Kapitalismus 29, 38, 199,221,227 - antiker 22,23,154,221,227 - moderner (Betriebs-, Industrie-, gewerblicher) 19, 23, 27, 144, 154, 219 ff., 222, 229,230,231 - politischer 219,221,229 Kirche 29,92,103, 140, 145,161,182, 184, 192, 196 f., 199,200,202,204 ff., 231 Konvention 46, 56 f., 59, 66,69,70,71,75, 81,92, 101,127, 128,142, 147 Kulturbedeutung 3D, 38,100, 120, 134, 160, 239 f., 246 Kulturentwicklung 23, 27, 30, 202 f., 241 - antike 219 - islamische 201 - okzidentale 14,21,167,201,203 - orientalisch-asiatische 167, 201 Kulturstufen 27,28; s. auch Entwicklungsstufen Kulturwissenschaft 28, 35, 36 f, 37, 41, 133,238 ff. Lebensführung 21,31 f., 127, 180, 216, 222, 230, 240 f., 242, 243 f. Legalitäts-Einverständnis 64 f., 69, 73, 75, 80 Legalitätsglaube 74, 77 ff., 105 ff., 109 Legitimitäts-Einverständnis 61, 63, 65, 73 f., 75, 76, 80,94 f., 99, 101 Legitimitätsgarantien 39, 81 Legitimitätsgeltung 15, 74, 80 f., 93, 107, 147, 191 Legitimitätsglaube 61, 70, 74 ff., 77, 78, 80, 82, 92,95,97,98 ff., lll, 113 Legitimitätsgründe 25, 39, 78 ff., 95, 102, 104, 108, 115,236 Legitimitätstypen s. Legitimitätsgründe
Sachverzeichnis Lehensfeudalismus 121, 122, 123 ff., 156, 165 f., 174, 176, 181, 183, 185 f., 188, 191,228 ff. Macht 39, 78, 79, 89, 106, 110, 116, 117, 118, 135, 136j, 161 f., 165, 169, 174 f., 193,200,201,210,216,242 Markt 56,59,66, 67 ff., 88, 139 f., 194, 196, 219,222 Methodologie 26, 35, 40 ff., 45 - und Methode 12 f., 34, 36 ff., 40 ff., 234 Monopol legitimer physischer Gewaltsamkeit, legitimes Gewaltmonopol 90, 112, 114, 136, 139 ff., 145 ff., 149 f., 156 f., 246 Ordnung 57, 72ff., 82, 87,96,101 ff., 117, 149,204,236,242 - anstaltsmäßige 194 - (empirisch) geltende 69 f., 72 ff., 84, 89 - geoffenbarte 105 - gesatzte 63 ff., 79, 83, 97, 105, 107 f. - konventionale 70j, 81 - legitime 70 f., 72, 74 ff., 81, 92, 101 f., 106 ff., 113,236 - ökonomische 23, 46,71, 111 - oktroyierte und vereinbarte 66, 74, 83, 109 - politische 27, 115, 138, 198,204,213 - rationale 85, 140, 199 - rechtliche 27, 29, 46, 48, 70j, 71 f., 82, 92, 140, 141, 142 f., 144, 147, 150, 199, 245 - religiöse 204, 213 - soziale 14, 53, 56 f., 89, 241 - traditionale 105 Patrimonialbürokratie, Patrimonialbeamtenturn 24, 122, 125 f., 146, 163, 164, 166, 183; s. auch Verwaltungsstab patrimonialer Zyklus 138, 168, 170, 190, 229,231 Patrimonialismus 15,24,27, 111 ff., 119 ff., 124, 126, 127, 130, 135, 136, 138, 139, 151 f., 153, 156 f., 163, 167, 169, 171, 174, 221,229 ff., 233 f., 236, 246
263
- arbiträrer 119,154,176,182,202 - arbiträrer und stereotypierter Typus des 119j, 151, 168, 174, 198 - Begriff des 14 f., 17, 18, 22f., 25, 26, 27, 29,33,38,117 ff., 152, 154 f., 156, 157 - okzidentaler 112, 117, 164, 179 f., 181, 197,217 - orientalisch-asiatischer 112, 176,202 - patriarchaler 119 f., 124 - patriarchaler und ständischer Typus des 112,119 j, 124, 151, 156 - politischer 14, 37, 113, 117f., 119 ff., 138 f., 151, 154, 157, 158, 159, 161, 167 f., 230, 232 - reiner 27, 111, 119 f., 138, 180, 182, 191, 230 - ständischer 112, 120 f., 123 ff., 128 ff., 180, 188, 191,225,230 - stereotypierter 121 f., 164, 170, 180 - theokratischer 31 Patrimonialstaat 22 f., 112 f., 118, 122, 128, 135, 138 f., 146, 151 f., 153j, 157f., 163, 166f., 170, 171f., 174, 176, 189, 217 f., 221, 224, 227, 229 f., 237 Pfründenfeudalismus 121 j, 122j, 125 ff., 130,156, 165, 172,18~ 183,190 Präbendalisierung 123, 125, 134, 164, 169, 174,210 Präbendalismus 27, 121, 122 f., 124 f., 126 ff., 136, 156, 164 f., 166,234 Privatrecht 117, 143, 150, 153 ff., 156,157, 193,196,198f. Privilegrecht 121,155, 193 f., 198 Rationalisierung 164, 197,206 f., 215, 231,240,244 - formale und materiale 111, 195 ff., 219,222,230 - ökonomische 21, 24, 163, 176, 198, 222 - politische 15, 24, 113, 123, 134 f., 169, 186, 187, 194, 198,201, 205 f., 215,216,218 f., 222,230 - rechtliche 24, 109, 110 f., 139 f., 177, 191,197,206,215 f. - teleologische 237 f.
219, 201, 219, 164, 207, 146,
264
Sachverzeichnis
Rationalisierungsprozeß 24 f., 27, 79, 85, 112, 117, 134, 158, 160, 205, 223, 230, 232,240 - okzidentaler 18, 20, 23, 68, 79, 138, 157, 174, 201,20~ 234,237 Recht 43, 46, 54, 56 f., 71, 81 f., 90, 92, 94, 96, 105, 109, 131, 141 ff., 146, 147, 156, 160, 187, 192, 196, 199, 206, 214, 218, 224,231 - formal-rationales 23, 27,207 - gesatztes 110, 142 f., 147 f., 199 - kanonisches 187, 207, 214,216 - öffentliches 121, 143, 150, 153, 155, 156, 157 - positives 72 - römisches 153, 196,215 - staatliches 145 - subjektives 155, 196 - und Herrschaft 68, 144, 147, 151, 157, 191 - weltliches 145, 207, 215 f. Rechtsbegriff 57,72,96, 142 ff., 147 Rechtsoffenbarung 24, 78, 104, 107, 109, 110, 143, 148 Rechtszwang 66, 81 j, 92, 95, 141, 143, 145, 203 Satzung 57, 60, 63, 64 f., 72j, 73 f., 77 f., 79 f., 83 ff., 97, 105 ff., 109, 110, 143, 148 ff. - Begriff der, Satzungsdefinition 63, 64, 73, 83,84,86,110j - rationale 69 f., 78, 79, 86 f. - traditionale 109 f., 110 j, 192 Sinnverstehen, Sinndeutung 29, 33, 39, 58, 65, 87 j, 234 ff., 239 f., 242 Sitte 46,56 f., 58 f., 62, 65 f., 68, 69,71,75, 78,97, 100, 104 soziale Beziehung 49, 53, 57, 62 f., 63, 67, 72,86 ff., 91 f., 95 f., 114, 179,194,244 Sozialökonomik 23, 28, 43, 115 Staat 23, 29 f., 31, 36, 38, 42, 49, 52 f., 54, 57,82, 86, 90,92,96, 116,123, 129, 131, 135, 136, 138 f., 140, 141 f., 144 f., 148 f., 153, 154, 158, 166,167, 173,174, 181, 184, 193 f., 200, 217, 221,222, 224, 235,246 - als juristische Person 199, 200
- bürokratischer 180, 188, 199 - moderner 112, 126, 135, 140, 144 ff., 150, 155 f., 164, 189, 197, 206, 216, 217,219, 220,231,245; s. auch rationaler Staat - rationaler 134 f., 136, 138 f., 231, 236 - und Kirche 201 ff., 205, 207 f., 210 f., 213 f. Staatsanstalt s. Anstaltsstaat Staatsbegriff 15, 29, 54, 86, 88j, 139 f., 144 ff., 150 f., 156 f., 188 Stadt 183,217,218,219,221,231 - antike 220, 223, 226 ff. - asiatische 170, 220 ff. - im ökonomischen Sinn 221,222 - im politischen Sinn 217, 219, 224 - islamische 223 - mittelalterliche (okzidentale) 181,219 ff., 224, 226 ff., 230 - 'okzidentale 99, 218 f., 222 f.,230 - orientalische 220 ff. Stadtkönigtum 158, 160, 163, 178,228 Ständebildung 121, 180 j, 241 Ständestaat 136, 138, 151 f., 181, 188 ff., 221,229 Stromuferkultur 174 ff., 227 - und Küstenkultur 22, 159, 160, 175, 183, 185 Stufenbegriff s. Entwicklungsstufen, Kulturstufen Sultanismus 119, 154, 170, 183,232 Tradition 77 f., 80, 103 ff., 109, 110, 113, 119,124,143, 148 f., 192 Traditionalismus 112,122, 143 j, 176, 197 Typen - der Herrschaft s. Legitimitätsgründe von Herrschaft - der Ordnung s. Legitimitätsgründe von Ordnung Typus 19 - Begriff des 14, 26 f., 113, 134, 137, 153j,234 - empirischer 35 j - idealer 35 j - reiner 20, 26,60, 181,230
Sachverzeichnis Verband 26, 27, 57, 63, 65, 67, 73, 74, 82 ff., 98, 111, 115, 126, 141, 143, 147, 149,179,194,217,224,226 - politischer 25, 39, 52, 53, 57, 86, 90, 91, 92 ff., 111, 114, 123, 130, 136, 138 ff., 142, 147 ff., 156 f., 178/, 183, 189 ff., 197/,199,203,220,223,229 Verbandshandeln 60, 76, 83 ff., 88, 140 f. Verbindlichkeits-Einverständnis 69, 73 f. Verbindlichkeitsglaube 65, 69, 70, 73 f., 78, 101 Verein s. Zweckverein Vereinbarung 60, 61, 63, 66, 67, 69, 70, 80, 84,106,141, 178,192,195 Verfassung - anstaltsmäßige 147, 150, 156,202 - empirische 73, 83, 87 f., 141 Vergemeinschaftung 57, 62, 63,86,88,92
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Vergesellschaftung 57, 62, 63 f., 66, 73, 74, 84 ff., 88, 92, 118, 121, 123, 135, 141, 150, 186, 199 Verwaltungsstab 25, 77, 87, 88, 89 f., 93, 100 f., 102, 103,124, 129,241 - patrimonialer 26, 111 f., 119, 121, 130, 172, 188, 237; s. auch Patrimonialbürokratie Weltbilder 30 f., 240 f., 242 Wertbeziehung 35, 38, 239 Wirtschaft - und Herrschaft 43,46,51,114 - und Recht 42 f., 46 ff. - und Religion 43, 46 Zwangsapparat 69, 82, 84, 87, 90, 92, 140, 141, 142, 144, 147, 149,203 Zwangsmittel 90, 141 f., 144 f., 147 Zweckverein 84, 87