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German Pages 244 [245] Year 1976
Anton Hiersche
Sowjetliteratur und wissenschaftlich-technische Revolution
Literatur und
Gesellschaft
Herausgegeben von der Akademie der Wissenschaften der DDR Zentralinstitut für Literaturgeschichte
Anton Hiersche
Sowjetliteratur und wissenschaftlich-technische Revolution
Akademie-Verlag Berlin
1976
Erschienen im Akademie-Verlag, 108 Berlin, Leipziger Straße 3—4 © 1975 by Akademie-Verlag, Berlin Lizenznummer: 202 • 100/184/75 Gesamtherstellung: VEB Druckerei „Thomas Müntzer", 582 Bad Langensalza/DDR Bestellnummer: 7526421 (2150/33) • LSV 8036 Printed in G D R EVP 8,50
Inhalt
Vorbemerkung
7
Einleitung
9
„Physiker" und „Lyriker" Diskussion über Literatur und Naturwissenschaften Lyrik auf der Suche nach A u s d r u c k s m i t t e l n . . . . Komplizierte Wissenschaft — „komplizierte" Lyrik? Das Schöpferische in Literatur und Wissenschaft . .
25 25 43 54 64
Arbeiterklasse und Literatur Die Weite des Gegenstandes Humanismus oder Funktionalisierung des Menschen Kommunistische Lebensart im dramatischen Experiment
75 75 84 97
Literatur und Natur Denn der Mensch ist ein Teil der Natur Von kosmischer zu irdischer Poesie Natur — Ökonomie — Literatur Natur — Ethik — Literatur
109 109 118 126 140
Literatur — nationale Traditionen — Internationalismus Zur Dialektik von Nationalem und Internationalem Realistische soziale Analyse des Nationalen . . . . Gewinn und Verlust des Fortschritts
155 155 165 175
Chancen des Erzählens 187 Informationsfülle, Schnellebigkeit und Erzählliteratur 188 Prosaschreibweisen im Experiment. . . . . . . . 195 5
Schlußbemerkungen
217
Abkürzungen
223
Anmerkungen
223
Personenregister
241
Vorbemerkung Die vorliegende Arbeit entstand während meines einjährigen Aufenthaltes am Institut für Weltliteratur „A. M. Gorki" der Akademie der Wissenschaften der UdSSR in Moskau. Die Möglichkeit, an dieser Forschungsstätte arbeiten zu dürfen sowie die großzügige Unterstützung, die ich in jeder Hinsicht genoß, verdanke ich namentlich dem damaligen Direktor des Instituts, Korrespondierendes Akademiemitglied Professor Dr. B. L. Sutschkow, dessen frühen Tod wir inzwischen beklagen mußten. Zu tiefem Dank fühle ich mich dem leider ebenfalls inzwischen verstorbenen stellvertretenden Direktor, Professor Dr. A. L. Dymschitz, gegenüber verpflichtet, dem meine wissenschaftliche Betreuung oblag und dessen Rat mir stets wertvoll war. Für helfende Kritik habe ich dem Korrespondierenden Akademiemitglied Professor Dr. G. I. Lomidse und der von ihm geleiteten Abteilung Multinationale Sowjetliteratur zu danken. Der Fortgang der Arbeit wurde ferner durch Hinweise der Kollegen und Freunde Dr. L. Arutjunow, Dr. sc. W. Borschtschukow, Dr. sc. N. Gej, Dr. W. Kowski, Dr. sc. S. Osmanowa, Professor Dr. sc. A. Owtscharenko, Dr. A. Uschakow und Dr. I. Weinberg gefördert. Ihnen und den vielen hier nicht Genannten sage ich ein herzliches Dankeschön. Berlin, im Januar 1975
Der Verfasser
Einleitung . . . aber das eigentliche Studium der Menschheit ist der Mensch Goethe, Wahlverwandtschaften
Welcher Zusammenhang besteht zwischen wissenschaftlichtechnischer Revolution und Literatur? Es gibt kaum eine andere Frage, über die gegenwärtig in der Sowjetunion unter Schriftstellern, Kritikern und in breiten Leserkreisen so heftig gestritten würde wie über diese.1 Die Debatten darum haben den Streitpunkt, ob es überhaupt einen solchen Zusammenhang gäbe, bereits in den Hintergrund gedrängt, es geht jetzt um die Formen, die Vermittlungsglieder und den Grad dieses Zusammenhangs. Immer stärker konzentriert sich dabei die Auseinandersetzung auf das LiterarischPraktische, von dem eigentlich der erste Anstoß zur Diskussion ausging: Erwachsen der Sowjetliteratur angesichts der wissenschaftlich-technischen Revolution neue, besondere Aufgabenj und wenn ja, welche sind es? Darauf eine erste, vorläufige Antwort vorzuschlagen, sie wiederum in die noch lange nicht abgeschlossene Debatte einzubringen, ist der Zweck meiner Untersuchung. Ursprünglich lautete die Frage in der'sowjetischen Diskussion anders, sie war viel rigoroser formuliert: Hat Literatur noch eine Funktion im „Zeitalter der Wissenschaft und Technik"? Diejenigen Teilnehmer der bereits 1959 einsetzenden Debatte, welche diese Frage so stellten und mit einem mehr oder weniger klaren „Nein" beantworteten, nannte man die „Physiker". Die sie bejahten, gingen unter dem Terminus „Lyriker" in die Geschichte der Sowjetliteratur ein. Diese erwiderten die Herausforderung der „Physiker" mit der produktiven Gegenfrage: Was muß Literatur tun, um ihre Funktion heute zeitgemäß wahrzunehmen? Die Konzentration darauf führte den „Physiker-Lyriker"-Streit aus 9
seiner Enge heraus, und nach der Ausweitung auf allgemeine Probleme der literarischen Gegenw artsgestaltung ebbte die Diskussion im Laufe des Jahres 1960 allmählich ab. Unterschwellig aber ging sie weiter, trat in verschiedener Form an die Oberfläche und scheint heute, in den siebziger Jahren, einen vorläufigen Höhepunkt zu erreichen. Schon in der Fragestellung der „Physiker" steckte der Kardinalfehler, der die apodiktische Antwort in gewissem Maße vorausbestimmte und^ ohne dessen Korrektur alle Aussagen zum Problem „Literatur und wissenschaftlichtechnische Revolution" anfechtbar bleiben: Die „Physiker" sprachen vom „Zeitalter der Wissenschaft und Technik". Der Terminus ist bis heute gebräuchlich und für den alltäglichen Umgang — als Metapher, gleichwertig etwa dem „kosmischen Zeitalter" — auch zulässig. Wissenschaftlich jedoch ist er falsch, weil in dieser Bestimmung des Hauptmerkmals unserer Epoche das Primat der Produktionsverhältnisse willkürlich durch das der Produktivkräfte ersetzt wird. Darauf bauen solche bürgerlichen Gedankenkonstruktionen wie die Konvergenztheorie, die technotrone Gesellschaft und — mutatis mutandis — auch die postindustrielle Gesellschaft auf. 2 Wir haben davon auszugehen, daß sich alle Veränderungen im Bereich der Produktivkräfte — gleich ob evolutionärer oder revolutionärer Natur — unter ganz bestimmten Gesellschaftsverhältnissen vollziehen bzw. solche erfordern und herbeiführen. Unsere Epoche ist daher die des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus, wie auf dem Welttreffen der kommunistischen und Arbeiterparteien in Moskau 1969 festgestellt wurde. 3 Diese politisch-ökonomisch geprägte Definition wird auch dadurch als gültig bestätigt, daß die wissenschaftlich-technische Revolution eine solche gesamtgesellschaftliche, ja internationale Planung und Leitung von Wirfschaft und Wissenschaft erheischt, wie sie nur unter sozialistischen Gesellschaftsverhältnissen möglich ist. Der Sozialismus/Kommunismus ist die Gesellschaftsordnung, die den (durch die wissenschaftlich-technische Revolution) veränderten Produktivkräften gemäß ist. Mit der richtigen Epochenbestimmung beginnt die richtige Beantwortung der Frage nach dem Zusammenhang von Litera10
tur, in unserem Falle der Sowjetliteratur, und der wissenschaftlich-technischen Revolution, nach der spezifischen Aufgabe der Literatur unter diesen neuen Bedingungen. Die Epochendefinition muß bei der Charakterisierung des Phänomens „Wissenschaftlich-technische Revolution" immer mitgedacht werden. Es gehört nicht zum Aufgabenbereich einer literaturwissenschaftlichen Abhandlung, die derzeit vorhandene Vielzahl von philosophischen Begriffsbestimmungen der wissenschaftlich-technischen Revolution zu vergleichen und in die Debatte darum einzugreifen. Es muß hier genügen, eine ausgewogene Arbeitsdefinition zu wählen: Wissenschaftlich-technische Revolution ist ein qualitativer Sprung in der Entwicklung der Naturerkenntnis und deren Anwendung, charakterisiert durch die Verwandlung der Wissenschaft in eine unmittelbare Produktivkraft und die Umwälzung im ganzen System der Produktivkräfte. 4 Ihr Kernstück ist der „Übergang der Arbeitsfunktion der unmittelbaren Steuerung und Regelung der Maschinen und Anlagen vom menschlichen Gehirn auf technische Steuerungs-, vor allem Regelungseinrichtungen" 5 . Sie beinhaltet daher „grundlegende qualitative Veränderungen in der materiell-technischen Basis der Produktion und ihrer Leitung, aber auch in der Stellung und Funktion des Menschen im Arbeitsprozeß und damit im Charakter der Arbeit. Ihr Wesen besteht in der organischen Verbindung und Wechselwirkung von Wissenschaft, Technik und Produktion, in der sich daraus ergebenden grundlegenden Veränderung der technisch-ökonomischen Elemente des Produktionsprozesses sowie in der Umwälzung der Struktur und Arbeitsweise der Wissenschaft. All dies übt auf das Leben der Menschen, auf den Charakter der Arbeit, die Bildung, Kultur und Lebensweise einen tiefgreifenden Einfluß aus." 6 Diese Vorgänge sind weltweit, und niemand wird bestreiten, daß sich viele Erscheinüngen wissenschaftlich-technischer Art in den beiden wichtigsten Gesellschaftssystemen unserer Zeit gleichen. Dennoch wird die wissenschaftlichtechnische Revolution — die ja nicht auf wissenschaftliche Entdeckungen und neue technische Verfahren reduziert werden kann — inhaltlich von den Produktionsverhältnis11
sen entscheidend geprägt. Im Kapitalismus ist sie in den Prozeß der Kapitalverwertung einfunktioniert und dient somit letztlich der Erzeugung des Maximalprofits. Im Sozialismus ist sie auf die Befriedigung der vernünftigen materiellen und kulturellen Bedürfnisse gerichtet und fördert die allseitige Entwicklung des Menschen; sie ist das wichtigste Instrument zur Schaffung der materiell-technischen Basis des Kommunismus. Deshalb stellten der XXIV. Parteitag der KPdSU, der VIII. Parteitag der SED und die Kongresse anderer Bruderparteien die historische Aufgabe, die Errungenschaften der wissenschaftlich-technischen Revolution mit den Vorzügen des Sozialismus zu verbinden. 7 Wir befinden uns — in geschichtlichen Dimensionen gesehen — ganz am Anfang dieser Prozesse. 8 Diese kaum noch bestrittene Aussage ist insofern wichtig, als einige Widersprüche, die heute als besonders kraß empfunden und von Vertretern der bürgerlichen Philosophie nicht selten als schicksalhaft und unüberwindlich hingestellt werden — etwa die Widersprüche zwischen ständig steigender Produktion und Endlichkeit der natürlichen Ressourcen, zwischen Industrie und Natur — mit fortschreitender Erkenntnis beherrscht bzw. beseitigt werden können. Die Voraussetzung dafür sind natürlich sozialistische Produktionsverhältnisse, eben die maximale Ausnutzung ihrer Vorzüge. Ein Diskussionsgegenstand bleibt weiterhin die Frage, wann der Beginn der wissenschaftlich-technischen Revolution anzusetzen und wodurch er am auffallendsten charakterisiert ist. Manche sehen ihn in der Formulierung der Relativitätstheorie durch Einstein und der Quantentheorie durch Planck am Anfang des Jahrhunderts, die meisten geben jedoch die vierziger und fünfziger Jahre an und nennen als einschneidende Ereignisse die Einführung automatischer Steuerungssysteme in den Produktionsprozeß, die Kernspaltung und die Kernfusion, die Erfindung des Düsenmotors, die Entwicklung von Raketentechnik und Raumfahrt, die umfassende Anwendung des Fernsehens, den Aufschwung von Genetik und Molekularbiologie. 9 Für die Sowjetliteratur sind zweifellos der letztgenannte Zeitraum und die entsprechenden Merkmale das Entscheidende ge12
wesen. Das beweist der Zeitpunkt des Beginns und der Inhalt der Physiker-Lyriker-Debatte. Zu den Begleiterscheinungen der Revolution gehört die sogenannte „Informationsexplosion", deren wesentliches Charakteristikum die Erneuerung .nenschlichen Wissens im Zeitraum von 5—10 Jahren — die Schätzungen gehen hier auseinander — bildet. 10 Die Anforderungen an die berufliche Disponibilität des Menschen steigen infolgedessen, er durchläuft innerhalb seines Lebens mehrere Qualifikationen. Anders ausgedrückt, der Zwang zur Weiterbildung wird für das Individuum zu einer Dauererscheinung mit allen ihren Folgen — steigende Bildung, aber auch Schwierigkeiten, den Produktionsprozeß mit dem Prozeß der Qualifikation, die nicht in jedem Falle während der Arbeit möglich ist, in Übereinklang zu bringen. Quantitative Zunahme der Information und wachsende Spezialisierung stehen in einem untrennbaren dialektischen Zusammenhang. Daraus erwächst der Gesellschaft und dem einzelnen die komplizierte Aufgabe, hohes Spezialwissen mit vertiefter Einsicht in größere Zusammenhänge zu vereinen, um der Vereinseitigung des Menschen entgegenzuwirken. Die ständige Arbeit an der Lösung dieses Problems hilft, eine ernste Gefahr für die Entwicklung des Individuums wie letztlich der Gesellschaft zu vermeiden, eine Gefahr, die durchaus nicht schicksalhaft ist, wie bürgerliche Philosophen behaupten. Im Kapitalismus gehört die Vereinseitigung freilich zum System, ja der geistig verkrüppelte Mensch wird von einigen Theoretikern nachgerade als ideales Glied einer künftigen „technotronen Gesellschaft" angesehen. Nach den Vorstellungen Zbigniew Brzezinskis, Hermann Kahns und Alwin Tofflers, der Propheten der „technotronen Gesellschaft", solle die Mehrzahl der Menschen eine einheitliche Masse satter, wohlhabender Kleinbürger ohne soziale Interessen, ohne das Bedürfnis sozialer Umwälzungen, beherrscht von einer Handvoll Technokraten, werden.11 Die wissenschaftlichtechnische Revolution unter sozialistischen Bedingungen, der humanistische Gegenwurf zu diesen und anderen menschenfeindlichen Theorien fördert demnach nicht nur die allseitige Entwicklung des Menschen, sie fordert sie in glei13
chem Maße. Hinter dem Problem, die stärkere Spezialisierung mit der vertieften Einsicht in größere Zusammenhänge, in allgemeine Gesetzmäßigkeiten in Natur und Gesellschaft zu verbinden, wird somit der geschichtsphilosophische Zusammenhang sichtbar: Es geht darum, die für das Individuum negativen Folgen der Arbeitsteilung, wie sie sich in Jahrtausenden der Klassengesellschaft ergaben — Vereinseitigung, Verkümmerung bestimmter schöpferischer Potenzen —, aufzuheben, den mit der sozialistischen Revolution eingeleiteten Prozeß der Aufhebung konsequent weiterzuführen. Die gegenwärtigen Umwälzungen im Bereich der Produktivkräfte treiben die Freisetzung der schöpferischen Potenzen des Menschen beschleunigt voran, sie schaffen bessere Bedingungen für die — wie Engels bei der Charakterisierung des Kommunismus sagte — „vollständige freie Ausbildung und Betätigung" seiner „körperlichen und geistigen Anlagen" 1 2 . Hier ist der wesentliche Berührungspunkt zwischen den Prozessen der wissenschaftlich-technischen Revolution und der Literatur unter sozialistischen Gesellschaftsverhältnissen. Er ist es aber nicht allein, da sich die wissenschaftlichtechnische Revolution weltweit vollzieht, diese Welt in zwei einander sich ausschließende soziale Systeme gespalten ist und sich in einem langwierigen, von erbitterten Kämpfen auf politischem, ökonomischem, militärischem und ideologischem Gebiet begleiteten Übergangsprozeß befindet. Von Bedeutung für die Sowjetliteratur ist neben der Freisetzung der schöpferischen Potenzen des Menschen dementsprechend auch das widersprüchliche Verhältnis von globalem Charakter der wissenschaftlich-technischen Revolution und ihrer derzeit noch gegensätzlichen Steuerung und Nutzung durch die beiden Weltsysteme. In einer sowjetischen Arbeit wird diese Problematik sehr treffend charakterisiert: „Die unter entgegengesetzten Produktionsweisen von unterschiedlichen sozialen Auswirkungen begleitete wissenschaftlichtechnische Revolution beschleunigt die Entwicklung der Produktivkräfte im Weltmaßstab, was den Umweltschutz, die Erhaltung des biologischen Gleichgewichts zu einem immer aktuelleren Problem werden läßt. Die wissenschaft14
lich-technische Revolution hat tiefgreifende Veränderungen im militärischen Bereich bewirkt, zur Herstellung von Waffen mit nie dagewesener Zerstörungskraft geführt, und das hat die Verhütung eines neuen Weltkrieges zur wichtigsten Aufgabe der Menschheit gemacht. Die Widersprüche zwischen den Möglichkeiten und Gefahren, welche von der wissenschaftlich-technischen Revolution hervorgebracht werden, verleihen — verflochten mit dem Widerspruch zwischen den beiden Systemen — den Beziehungen von Staaten mit unterschiedlicher Ordnung den Charakter einer dialektischen Einheit von Kampf und Zusammenarbeit." 1 3 Die Lösung der meisten Widersprüche, die der wissenschaftlich-technischen Revolution innewohnen, ist nach alledem in erster Linie eine sozial-ökonomische Aufgabe, sie steht im engsten Konnex mit der Überwindung des Epochenwiderspruchs zwischen Kapitalismus und Sozialismus. Erst in zweiter Linie ist als Lösungsweg die tiefere Einsicht in Naturgesetze, die Entwicklung von Wissenschaft und Technik selbst zu nennen. Für die Erforschung des Zusammenhangs von Literatur und wissenschaftlich-technischer Revolution ist die multinationale Sowjetliteratur aus mehreren Gründen ein besonders geeignetes Untersuchungsobjekt: Sie ist entstanden auf der Grundlage der am meisten entwickelten Gesellschaftsverhältnisse in der Welt, die Sowjetschriftsteller schaffen aus einer mehr als halbhundertjährigen eigenen sozialistischen Tradition heraus, sie besitzen große künstlerische Erfahrungen bei der ästhetischen Aneignung vergleichbar gewaltiger Gesellschaftsprozesse unter sozialistischen Bedingungen. Die Sowjetunion hat an der Entwicklung der meisten Wissenschaftszweige und Techniken, die die wissenschaftlich-technische Revolution einleiteten und vorantrieben, führenden Anteil: Atomphysik, theoretische Physik, Automatisation, Mathematik, Weltraumforschung, Raketentechnik, Elektronik, Biologie u. a. Die Umgestaltung der Natur durch Industrialisierung und wissenschaftlich-technische Revolution vollzog und vollzieht sich in unvergleichbaren Ausmaßen. Der multinationale Charakter der Sowjetliteratur läßt einige Probleme schärfer ins Blickfeld treten als anders15
wo, werden doch Völker in die Umwälzung der Produktivkräfte einbezogen, die teilweise eine beschleunigte, verkürzte historische Entwicklung von patriarchalischen, vorfeudalen, ja sogar urgemeinschaftlichen Verhältnissen zum Sozialismus durchlebten. Wenn Sowjetschriftsteller heute die Frage nach der Bedeutung von Wissenschaft und Technik für die Gesellschaft, für den einzelnen Menschen, für die Literatur debattieren bzw. literarisch gestalten, so muß man darin den konsequenten Verfolg einer von ihnen begründeten langen Tradition sehen. Die Sowjetliteratur ist zusammen mit den gewaltigen gesellschaftlichen Bewegungen unseres Jahrhunderts, deren Ziel der befreite, allseitig entwickelte Mensch war und bleibt, auf den Plan getreten, sie war immer Teil dieser Bewegung und damit gleichzeitig Anwalt des Menschen. Wie der XXIV. Parteitag der KPdSU feststellte, waren die Möglichkeiten der Sowjetunion, die materiellen und kulturellen Bedürfnisse der Menschen zu befriedigen, lange Zeit aus bekannten historischen Gründen begrenzt: 14 ererbte Rückständigkeit, Zerstörungen durch Bürgerkrieg, Gewappnetsein inmitten kapitalistischer Umkreisung, faschistische Aggression, Überwindung ihrer Folgen usw. Nur im Rahmen dieser Wirklichkeit konnten die Sowjetschriftsteller ihr humanistisches Ideal poetisch realisieren. Mit den wachsenden Möglichkeiten des Sozialismus, vor allem infolge des Sieges über den Faschismus, der Herausbildung eines sozialistischen Weltsystems, des veränderten Kräfteverhältnisses in der Welt, der gesteigerten Produktivität auf der Basis entwickelter Wissenschaft und Technik wurden die Vorzüge der neuen Gesellschaftsordnung für jeden einzelnen Sowjetbürger greifbarer, zu alltäglicher Realität. In der Literatur wurde daher seit 1945, verstärkt nach der Überwindung der Kriegsfolgen in den fünfziger Jahren, immer nachdrücklicher die Frage nach Sinn und Nutzen der Sozialismusentwicklung ganz konkret für den einzelnen Menschen gestellt. Das ist die eine Seite des zentralen inhaltlichen Problems der Sowjetliteratur. Die andere Seite resultiert aus den subjektiven Voraussetzungen für das größere Wachstum der materiellen Potenzen des Sozialismus — aus dem erhöhten sozialisti16
sehen Bewußtsein der Menschen: Im Zentrum der Sowjetliteratur stehen auch die gesteigerten Anforderungen der sozialistischen Wirklichkeit an jeden einzelnen. In b e i d e m , den größeren materiellen Kräften des Sozialismus und dem gefestigten sozialistischen Bewußtsein der Sowjetmenschen, liegt jene Vertiefung des sozialistischen Humanismus beschlossen, dem die Sowjetliteratur der fünfziger bis siebziger Jahre Ausdruck verleiht. Beides findet seinen direkten Niederschlag nun in den Debatten um wissenschaftlich-technische Revolution und Literatur: Auch hier fragen die Schriftsteller nach dem Sinn aller Wissenschaft und Technik für den Menschen im Sozialismus einerseits und nach den moralischen Anforderungen an den Menschen, die sich aus der wissenschaftlich-technischen Revolution ergeben, andererseits. Diese gewaltigen Dimensionen der wissenschaftlich-technischen Revolution, deren entscheidende Bedeutung für die Zukunft des Sozialismus/ Kommunismus wie der Menschheit überhaupt; die ungeheuren Mittel zur Veränderung der Erde, die dem Menschen in die Hand gegeben sind, bei alledem das Fortbestehen des Epochenwiderspruchs — alles dies deutet auf eine neue Qualität in der Auseinandersetzung des Menschen mit seiner Welt; hier ist möglicherweise auch eine neue Qualität der literarischen Auseinandersetzung mit dieser Wirklichkeit gefordert. Die Debatte um die Rolle der Sowjetliteratur angesichts der wissenschaftlich-technischen Revolution unter sozialistischen Bedingungen hatte, wie eingangs erwähnt, die Phase der absoluten Negation der Literatur durch die „Physiker" in den Jahren 1959/60 ziemlich schnell durchschritten. Ein Jahrzehnt später formulierte Wladimir Solouchin einen anderen, ebenso extremen Standpunkt: Der wissenschaftlich-technische Fortschritt habe keinerlei Beziehungen zur Kunst. 1 5 In einer Hinsicht — aber nur in dieser — kann man Solouchin beipflichten: Atomphysik, Kybernetik, Kosmosforschung usw. — sieht man einmal davon ab, daß sie zum Gegenstand der Literatur gehören können — beeinflussen als wissenschaftliche Disziplinen den Entstehungsprozeß eines literarischen Kunstwerkes nicht direkt. Ange2
Hiersche, Sowjetlit.
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sichts der m i t t e l b a r e n Wirkungsfaktoren ist Solouchins Meinung jedoch nicht haltbar. Allein der psychologische Einfluß, den eingreifende wissenschaftiche Entdeckungen auf die Persönlichkeit des Zeitgenossen ausüben — man denke etwa an die Atombombe, an Kosmosforschung, Genetik —, der s o z i a l e , geistige Gehalt solcher Entdeckungen 16 hat sehr wohl Folgen für das künstlerische Schaffen. Solouchins schroffes Urteil rührt zu einem Teil daher, daß er sehr großen Wert auf die ethisch-ästhetische Wirksamkeit der Kunst und auf die Eigenständigkeit der künstlerischen Widerspiegelung legt. Dabei spielt ein gewisses Mißtrauen, ja ein gut Teil Besorgnis angesichts einiger noch nicht beherrschter Entwicklungsprobleme der wissenschaftlichtechnischen Revolution eine bestimmte Rolle. Die Schärfe der Meinungsäußerung resultiert schließlich auch aus dem Affront gegen einige modische, leere Spielereien mit Attributen, mit Termini der wissenschaftlich-technischen Revolution, wie sie hier und dort in der Sowjetliteratur auftauchen. Die Mehrzahl der sowjetischen Schriftsteller und Kritiker teilt die Auffassung Solouchins nicht, und er selbst gerät mit seiner schriftstellerischen Arbeit in Widerspruch zur eigenen theoretischen Äußerung: Einige Erzählungen der letzten Jahre sind — wie noch zu zeigen sein wird — eine Auseinandersetzung mit Problemen der wissenschaftlich-technischen Revolution. Im allgemeinen bestreitet heute niemand mehr den Einfluß der wissenschaftlich-technischen Revolution auf die Literatur, nur über den Grad und die Art der Einwirkung gehen die Meinungen auseinander. Stellvertretend für jene, die diesen Grad für sehr gering halten, sei der Kritiker Botscharow zitiert: Mehr als die wissenschaftlichtechnische Revolution nähmen auf die Literatur und die Psyche des Menschen die sozialhistorischen, sozialpsychologischen Kataklysmen unseres Jahrhunderts Einfluß. Zum Beweis dessen führt er die wichtigsten Elemente der Persönlichkeitsstruktur, mit denen es Literatur zu tun habe, an: Die sozialen Grundlagen, die nationalen Traditionen, die psychologischen Faktoren im Individuum und damit im Zusammenhang die physiologisch-biologischen Gegeben18
heiten. 17 Man kann Botscharow so weit folgen, als er die hauptsächlich soziale Determiniertheit des Menschen, das Wesen des Menschen als Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse akzentuiert. Er unterschätzt dabei aber offensichtlich die materiell-technischen Mittel, mit denen der Mensch seine Auseinandersetzung mit der Natur führt und sich darin als soziales Wesen überhaupt erst bestätigt. Die „sozialhistorischen, sozialpsychologischen Kataklysmen" unseres Jahrhunderts, deren Einfluß auf die menschliche Persönlichkeit zu den wichtigsten Gegenständen der Literatur gehört, stehen ja in direktem Zusammenhang mit dem Entwicklungsstand der Produktivkräfte, heute eben mit der wissenschaftlich-technischen Revolution. Die bürgerliche Überschätzung des Einflusses von Wissenschaft und Technik auf den Menschen darf nicht mit einer ebenso falschen Unterschätzung beantwortet werden. Nicht ganz annehmbar ist die Meinung des Schriftstellers Mykolas Sluckis: „Keinerlei Errungenschaften der wissenschaftlich-technischen Revolution, wie segensreich sie auch sein mögen, ersetzen die Moral, ihre einfachen Wahrheiten, die vom Leben hart geprüft werden und darum jeden so teuer zu stehen kommen. Die wissenschaftlich-technischen Errungenschaften lösen nicht das Problem des menschlichen Glücks, obwohl sie natürlich das Leben erleichtern oder vielleicht sogar verlängern." 18 Richtig ist: Moral und Glück gehören zum Komplex der letztlich von der sozial-ökonomischen Basis bestimmten menschlichen Beziehungen, Bewußtseinsfaktoren und Empfindungen, die auch von der Literatur mitbeeinflußt werden und deren Problematik sich keinesfalls automatisch, etwa durch den technischen Fortschritt, löst. Sluckis ist wie Solouchin und jedem wirklichen Künstler an der eigenständigen, unersetzbaren Funktion der Literatur gelegen. Dennoch scheint uns Sluckis' Ansicht den Weg zur vollen Erkenntnis des Ineinander und Miteinander von Literatur und wissenschaftlich-technischer Revolution zu erschweren. Wissenschaft und Technik ersetzen weder die Moral noch die ethisch-ästhetischen Aufgaben der Literatur, aber sie werfen neue moralische Probleme auf, denen nicht immer mit den „einfachen Wahrheiten" beizukommen 2'
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ist (denken wir nur an die Genetik), und wo auch die Schriftsteller mit aufgerufen sind, nachzudenken und Nachdenken zu provozieren. Die wissenschaftlich-technische Revolution schafft nicht automatisch menschliches Glück, aber doch wesentliche materielle Grundlagen des Glücks. Bei anderer Gelegenheit hat Sluckis diese apodiktische Haltung etwas korrigiert und den breiten Einflußbereich der wissenschaftlich-technischen Revolution auf die Literatur upirissen. Dennoch schränkt er ihn auch da immer noch ein, indem er betont, der Literatur bliebe der Mensch, blieben Fragen der Pflicht, des Gewissens, des Empfindens usw. 19 Das ist nur richtig, wenn man diese Fragen nicht künstlich von den Umwälzungsprozessen in der Gesellschaft, also auch denen in Wissenschaft und Technik, trennt. Das andere Extrem in der Sicht auf den Zusammenhang von Literatur und wissenschaftlich-technischer Revolution wird von Schriftstellern wie Michail Kolessnikow und Pawlo Sahrebelny vertreten. Ihre Romane 2 0 hinterlassen den Eindruck, als gäbe es in der Realität nichts anderes mehr als allein die wissenschaftlich-technische Revolution. Ihr anerkennenswerter Versuch, zu zentralen Problemen unserer Zeit vorzustoßen, zeitigt daher recht einseitige Resultate. In der Auseinandersetzung um Literatur und wissenschaftlich-technische Revolution behaupten sich immer eindeutiger die Anschauungen, die sich von den Extremen abgrenzen. Daniii Granin kommt bei der Charakterisierung einiger Merkmale der wissenschaftlich-technischen Revolution zu folgenden Schlüssen: „Wirken alle diese Prozesse auf Literatur und Kunst ein? Auf deren Rezeption? Unbedingt. Wenn wir sagen: ,Der Leser ist gewachsen', so meinen wir, daß an diesem Wachstum auch die Entwicklung der Wissenschaft, das massenhafte Interesse für sie Anteil hat. Die Wissenschaft hat die Empfindlichkeit, die Fähigkeit gesteigert, äußerst ferne und äußerst schwache Signale auf immer breiterer Skala zu empfangen. Und diese Aufnahmefähigkeit erschließt dem Schriftsteller neue Beziehungen zum Leser [. . .] Der Schriftsteller hat heute in der Literatur das Recht, auf eine aktivere Teilnahme des Lesers zu zählen, auf das Ver20
ständnis unerwarteter und fernliegender Assoziationen. Assoziatives Denken erzieht auch zu assoziativer Aufnahme. Der Effekt des gegenseitigen Verstehens wird heute mit sparsameren Mitteln erzielt. Das Fassungsvermögen des modernen Erzählens wächst zweifelsohne: Auf ein und derselben Druckseite, mit der gleichen Zeilenzahl kann man mehr poetische Information als früher wiedergeben und deren Wert erhöhen." 2 1 Das ist freilich nur ein Aspekt des Zusammenhanges von Literatur und wissenschaftlich-technischer Revolution, nichtsdestoweniger eröffnet die konstruktive, offensive Haltung Granins zum Problem den Zugang zur ganzen Vielfalt der Beziehungen. Die Umwälzungen im Bereich der Produktivkräfte erweitern unter sozialistischen Verhältnissen die Möglichkeiten der Literatur wie der Kunst überhaupt, indem sie die Produzenten zu höherer Bildung herausfordern, zur Auseinandersetzung mit dem einseitigen Spezialistentum drängen. Nicht zufällig verzeichnet man beispielsweise gegenwärtig in der Sowjetunion eine starke Zunahme der Besucherziffern in Kunstmuseen, so daß von einer „MuseenExplosion" die Rede ist. 22 Granins Auffassung, wie sie hier zitiert wurde, mehr noch Granins Werk, das entschieden weitere Zusammenhänge vorführt, deutet auf das eigentliche gemeinsame Bezugsfeld von Literatur und wissenschaftlichtechnischer Revolution: „Die Einwirkung der wissenschaftlich-technischen Revolution auf das Leben des Menschen wird voll und ganz bestimmt und entschieden in der Sphäre seines s o z i a l e n S c h ö p f e r t u m s . " 2 3 So lautete das Fazit einer der vielen Diskussionsrunden zum Gegenstand. Daraus folgt, wie der Literaturwissenschaftler Alexej Metschenko feststellte: „Die Hauptsphäre, in der sich alle vielgestaltigen Aspekte der wissenschaftlich-technischen Revolution im künstlerischen Schaffen brechen, ist der Mensch." 2 4 Der prinzipielle Unterschied zu den erwähnten Ansichten Botscharows und Sluckis, die ja mit der Betonung des Menschen als Hauptgegenstand der Literatur dieser Auffassung nahekommen, besteht in der Einbeziehung des g a n z e n Menschen in die Umwälzungsprozesse, welche die Vereinigung der wissenschaftlich-technischen Revolution 21
mit den Vorzügen des Sozialismus ausgelöst haben. Die gleiche Meinung teilen Wissenschaftler und Kritiker wie Alexej Jegorow, Ewald Iljenkow, Wadim Kowski, Felix Kusnezow und andere. Die Diskussionen um die Art der Beziehungen zwischen Sowjetliteratur und wissenschaftlich-technischer Revolution berühren immer intensiver die eigentlichen Fragen, die der Klärung bedürfen: Welche Aufgaben erwachsen der Literatur unter den neuen Bedingungen ? Welche Wandlungen muß sie durchmachen, um diesen Aufgaben gewachsen zu sein? Oder sind keine wesentlichen Veränderungen in der Literatur zu beobachten, bleibt es beim Aufgreifen einiger neuer Themen und Gegenstände? Auch hier gibt es extreme Ansichten. Die einen sagen, Literatur muß der wissenschaftlich-technischen Revolution die Mobilisierung der menschlichen Gefühle, u. a. vor allem der Liebe, entgegensetzen. Andere fordern die „Intellektualität" der Literatur, gewissermaßen als Übereinstimmung des künstlerischen Denkens und Schaffens mit wissenschaftlichen Erkenntnisvorgängen. 25 Beide Empfehlungen engen die Wirkungsweise der Literatur ein, und obwohl in ihnen einander entgegengesetzte Positionen zum Ausdruck kommen, gehen sie doch im Mißverständnis der wissenschaftlich-technischen Revolution konform: Diese wird als Vorgang angesehen, der zu einer Hypertrophie des rationalistischen Denkens führt, gegen das man die Gefühle auf den Plan rufen oder an das man die Literatur anpassen müsse. Das Ergebnis der im folgenden vorgenommenen Erkundungen nach spezifischen Aufgaben der Sowjetliteratur unter den heutigen Bedingungen soll nicht vorweggenommen werden. Hier sei lediglich die Richtung angedeutet, in der bestimmte Verschiebungen vermutlich vonstatten gehen. Wir befinden uns dabei im Einklang mit zahlreichen Überlegungen sowjetischer Wissenschaftler. Alexej Metschenko sieht zwei Akzentverstärkungen in der Literatur: „Die Verteidigung der Priorität des Menschlichen im künstlerischen Schaffen hat noch niemals eine so aktuelle Bedeutung erlangt wie in unseren Tagen." Und: Die wissenschaftlichtechnische Revolution gebe den moralischen Problemen eine 22
neue Bedeutung, größere Schärfe und globale Maßstäbe. 2 6 Vom Standpunkt des Philosophen Ewald Iljenkow hätte die Literatur folgendes zu berücksichtigen: „Bei aller Hochachtung vor der modernen Wissenschaft und Technik wollen wir sie nicht vergöttern, nicht zum Maßstab des absoluten Wertes für alles und jedes machen. Laßt uns, umgekehrt, versuchen, die wissenschaftlich-technischen Neuerungen mit dem alten, aber richtigen Maß zu messen — mit dem Maß der menschlichen Würde jener Menschen, die diese Neuheiten schaffen, mit dem Maß der Entwicklung ihrer Fähigkeiten." 27 Literatur ist demnach einer der gesellschaftlichen Faktoren, die der wissenschaftlich-technischen'Revolution das „inhärente M a ß " 2 8 anzulegen vermögen, das Maß, das die historische Subjektwerdung des Menschen ausdrückt. Darin ist natürlich die höhere moralische Verantwortung des historischen Subjekts für die von der wissenschaftlichtechnischen Revolution freigesetzten Kräfte, für die Anwendung dieser Kräfte zum Wohle des Menschen einbegriffen. Nun sind das für eine sozialistisch-realistische Literatur, die sich zudem unter sozialistischen Gesellschaftsverhältnissen entwickelt, keine neuen Aufgaben, sie gehören zur Humanisierungsfunktion dieser Literatur. Mit „Humanisierungsfunktion" ist „ihr Anteil ,an der absoluten Bewegung des Werdens'" gemeint, der Anteil „an der historischen, von Widersprüchen und Kämpfen vorangetriebenen Entwicklung, in der die Menschen zum Schöpfer ihrer selbst werden, am gattungsgeschichtlich ,ewigen' Prozeß, in welchem die Menschen sich mit den objektiven natürlichen und gesellschaftlichen Bedingungen ihrer Existenz auseinandersetzen, ein immer tieferes Bewußtsein und Wissen von diesen Bedingungen entwickeln und sie dadurch zu beherrschen lernen, in welchem die Menschen ihre Fähigkeiten, ihre intellektuelle und sensuelle Kultur, ihre Persönlichkeit hervorbringen und ihre Macht über die Natur und die Gesellschaft vergrößern" 2 9 . Das Anlegen des „inhärenten Maßes" an gesellschaftliche Prozesse, das Herausarbeiten ihrer Bedeutung für den Menschen und vor allem der Rolle des historischen Subjekts in ihnen sind zwar im Prinzip für die Sowjetliteratur nichts 23
Neues, dennoch scheinen sich hier qualitative Veränderungen zu vollziehen: Die quantitativ überdimensional vergrößerte Macht des Menschen über Natur und Gesellschaft hat eine neue Qualität der Beziehungen des sozialistischen Menschen zu seiner Welt hervorgebracht. Mit der weiteren Vergrößerung dieser Macht wird ihr menschlich sinnvoller Gebrauch auf der ganzen Erde zur dringlichsten Frage der sozialistischen Gesellschaft und der in ihr wirkenden Literatur. Nur eine sozialistisch-realistische Literatur kann eine solche Aufgabe in Angriff nehmen. Spätestens hier wird klar, wie wesentlich für die ideologische Auseinandersetzung mit dem Imperialismus die Erforschung des Verhältnisses der sozialistischen Literatur zu diesen Prozessen, ihres Platzes in ihnen ist. An den Reaktionen und Aktionen der Literatur wird letztlich abzulesen sein, inwieweit der vergesellschaftete Mensch, die „assoziierten Produzenten" 3 0 nicht das Opfer der wissenschaftlich-technischen Revolution sind, das von dieser überrollt und funktionalisiert wird, sondern Meister ihres Schicksals auch unter diesen neuen, bisher unbekannten und durchaus komplizierten Bedingungen bleiben. Die eingangs gestellte Frage nach spezifischen Aufgaben der Sowjetliteratur angesichts der wissenschaftlich-technischen Revolution wird am Beispiel der Literatur der endsechziger und siebziger Jahre unter vier Aspekten erörtert: Zunächst geht es um das Verhältnis der Literatur zu den neuen Gegebenheiten allgemein, dann wird von der Arbeiterklasse als Gegenstand und weltanschauliches Zentrum literarischen Schaffens die Rede sein, ferner muß das sich in der Literatur konstituierende neue Verhältnis des Menschen zur Natur erwähnt werden, schließlich verdient die Dialektik von Nationalem und Internationalem Aufmerksamkeit. Das hier vorgelegte Buch hat alle Mängel eines Erstlings auf einem neuen Forschungsgebiet, es widerspiegelt das Stadium des Sammeins und Systematisierens. Es enthält viele Fragen, auf die heute nur vage Antworten gegeben werden können, weil die zu erkundenden Prozesse in der Wirklichkeit wie in der Literatur noch in den Anfängen stecken.
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„Physiker" und „Lyriker" Diskussion über Literatur und Naturwissenschaften
Die Leningrader Studentin Nina W. hatte sicher nicht geahnt, welchen Sturm sie mit ihrem Brief an Ilja Ehrenburg entfachen würde. Dabei beklagte sie sich lediglich über eine private Angelegenheit, über Meinungsverschiedenheiten mit ihrem Freund Juri, einem Physikstudenten, der sich auf der Höhe der Zeit — man schrieb das Jahr 1959 — dünkte: „Einmal versuchte ich ihm ein Gedicht von Block vorzulesen. Er hörte unwillig zu, sagte mir, daß das veraltet, Quatsch wäre, daß jetzt eine andere Epoche sei. . . Als wir uns das letztemal trafen, war er sehr verletzend, erklärte mich für verrückt, ich verstünde nicht, daß, wenn der Kosmos erobert würde, sich für Romane nur verschiedene ,Damen mit Hündchen' interssieren könnten, daß ich nicht modern sei, und so weiter und so fort." 1 Ilja Ehrenburg, der auf diesen Brief eine offene Antwort in der Komsomolskaja prawda publizierte, nannte den Physikstudenten Juri einseitig entwickelt, er sah zwischen dessen Unverständnis für Kunst und dem gleichgültigen Verhalten zur Freundin einen direkten Zusammenhang. Mit dieser schlüssigen Erklärung Ehrenburgs hätte die Sache beendet sein können, doch da meldete sich ein Ingenieur namens Polatajew zu Wort und verteidigte Juri. Seine Verteidigung sprengte den scheinbar privaten Rahmen des Gesprächs, enthüllte das schwierige weltanschauliche Problem, das hier verborgen war: „Wissenschaft und Technik formen das Antlitz der gegenwärtigen Epoche . . . Wir leben durch das Schöpfertum des Verstandes und nicht des Gefühls, durch die Poesie der Ideen, Theorien, Experimente, des Bauens. Das ist unsere 25
Epoche. Sie fordert den Menschen voll und ganz, und wir haben keine Zeit auszurufen: ach, Bach! ach, Block! Natürlich sind sie veraltet und halten mit unserem Leben nicht mehr S c h r i t t . . . Ob wir es wollen oder nicht, aber die Dichter beherrschen immer weniger unsere Gedanken und lehren uns immer weniger . . . Überlassen wir die Kunst den Liebhabern, denen, die sie wünschen . . ." Poletajew hielt Juri der sozialistischen Gesellschaft für gemäßer als dessen Freundin Nina: „Ich persönlich meine, daß eine Gesellschaft, wo es viele praktische Juris und wenig Ninas gibt, stärker ist als eine, in der viele Ninas und wenig Juris leben." 2 Poletajew wurde leidenschaftlich unerstützt, aber auch ebenso empört abgelehnt. Jedem war klar: Hier ging es um etwas sehr Wichtiges, um eine Kardinalfrage der sozialistischen Gesellschaft. Vor allem unter der Jugend entbrannten heiße Diskussionen. Schüler einer 10. Klasse hörten auf, für den Literaturunterricht zu arbeiten, sich auf Poletajew berufend. 3 In diese knisternde Atmosphäre hinein zuckte Boris Sluzkis Gedicht Physiker und Lyriker wie der Funke einer elektrischen Entladung: Es scheint, die Physiker steigen im Ansehen. Es scheint, die Lyriker geraten in Bedrängnis. Das liegt nicht an kühler Berechnung, hier zeigt sich ein weltweites Gesetz. Folglich haben wir etwas nicht entdeckt, etwas, was unsere Sache gewesen wäre! Folglich sind unsere süßen Jamben lahme Flügel, und unsere Rosse fliegen nicht wie Pegasus . . . Darum sind die Physiker im Ansehen, darum sind die Lyriker in Bedrängnis. Das ist allzu offensichtlich. Streiten wäre einfach sinnlos. 26
So ist es nicht einmal betrüblich, sondern eher interessant zu beobachten, wie unsere Reime wie Schaum vergehen, und Größe allmählich auf die Logarithmen übergeht. 4 Die Diskussion, die bislang „Der Dichter und die Gegenwart" hieß, hatte nun — zunächst noch inoffiziell — einen neuen Namen: Unter dem Titel „Physiker und Lyriker" ist sie in die Literaturgeschichte eingegangen. Von den vielen öffentlichen Debatten, die nun einsetzten, seien genannt: Am 23. Dezember 1959 kamen in Moskau Arbeiter, Ingenieure und Studenten zusammen, um über Ehrenburgs und Poletajews Position Rede und Gegenrede zu führen. 5 Am 26. Februar 1960 trafen sich im Kleinen Saal des Moskauer Konservatoriums Künstler und Naturwissenschaftler, unter ihnen der berühmte Physiker Lew Landau, Akademiemitglied Engelgardt hielt einen Vortrag über die innere Welt des Wissenschaftlers. 6 Fazit: Man verallgemeinere bitte nicht die Ansichten Poletajews, die Naturwissenschaftler schätzen sehr wohl die Kunst und das Gespräch mit den Künstlern. Dennoch, das Problem war so nicht aus der Welt zu schaffen, die Auseinandersetzung ging weiter und bewegte sich hauptsächlich darum, wie Literatur besser den Forderungen der Zeit entsprechen könnte. Der Grundtenor der Schriftstellermeinungen war — Selbstkritik. Der Lyriker Pawel Antokolski fragte, wie es geschehen konnte, daß im Kampf für eine bessere Zukunft der Menschheit die Vertreter der exakten Wissenschaften in der vordersten Linie stünden — und nicht die Künstler? 7 Die Brisanz dieser Frage war offensichtlich: Gerade die russische Literatur hatte immer in der ersten Reihe dieses Kampfes gestanden, und das sollte nun nicht mehr so sein? In einem Artikel Ehrenburgs hieß es dann auch, die Sowjetliteratur habe noch nicht die Höhe von Tolstoi, Dostojewski, Gogol und Tschechow erreicht. 8 Heute mag uns dieser Anflug von 27
Defätismus gegenüber dem enormen Selbstbewußtsein der „Physiker" befremden, waren doch zu dieser Zeit gerade Scholochows Neuland unterm Pflug (Zweiter Teil) und Ein Menschenschicksal erschienen, es gab Leonows Russischen Wald, Twardowskis Poem Fernen hinter Fernen, ganz zu schweigen von den klassischen Werken der zwanziger und dreißiger Jahre. Damals aber, an der Wende von den fünfziger zu den sechziger Jahren, als vor allem die Weltraumforschung die beeindruckende Leistungsstärke von Naturwissenschaft und Technik in das Bewußtsein breitester Massen hob, waren unter Schriftstellern solche Zweifel an der eigenen Kraft nicht ungewöhnlich. So schrieb der litauische Dichter Eduardas Miezelaitis unter dem Eindruck der Diskussion: „Kann die Schönheit wirklich ihre erzieherische Funktion so ausüben wie wir es wollen? Übertreiben wir nicht ihre Rolle, ihre Bedeutung? [. . .] Wozu schreibe ich? Niemals stand vor mir die Frage so hart, niemals hat sie mich so schrecklich gequält wie jetzt." 9 U n d : „In der Gegenwart macht die menschliche Gesellschaft in Wirtschaft, Politik, Wissenschaft einen größeren Fortschritt als in der Kultur. Die Zeit, in der wir leben, ist konkret und realistisch." 10 Pawel Antokolski forderte von jedem Schriftsteller gar Elementarkenntnisse in moderner Physik, damit die Literatur mit der Zeit Schritt halten könne. 11 Die selbstkritische Überprüfung der eigenen Leistung war trotz einiger defätistischer Züge wichtig und fruchtbar, sie blieb jedoch nicht die einzige Reaktion der sowjetischen Schriftsteller auf die Herausforderung der „Physiker". Zu bescheiden in der Wertung des eigenen Beitrages, sehr bestimmt aber in der grundsätzlichen Bejahung der Notwendigkeit von Literatur und Kunst, führten die „Lyriker" ihre Gegenoffensive. Denn die Haltung, die sich in Poletajews Brief manifestierte und die keine Privatansicht, sondern — wie das Echo bewies — für Teile der Intelligenz und der Jugend typisch war, konnte nicht einfach hingenommen werden. Zwar war der Stolz auf die großen Entdeckungen der Naturwissenschaft und der Technik im 20. Jahrhundert — Relativitätstheorie, Quantenmechanik, Kernspaltung, Kernfusion, Kybernetik, Komputer, Mutation, Mechanis28
mus der Vererbung, Turbotriebwerke, Raketentechnik, Raumfahrt usw. — verständlich, und ihn teilten auch die „Lyriker", doch der Ausschließlichkeitsanspruch der „Physiker" war unbedingt zurückzuweisen. Sie verallgemeinerten unzulässig ihren Bewußtseinsstand und ihre Weltauffassung und übertrugen sie auf alle Schichten des Volkes. Sie sprachen ferner — und das ist das Bedenkliche — von einem Zeitalter der Wissenschaft und Technik, ohne zu berücksichtigen, daß Wissenschaft und Technik immer von bestimmten Gesellschaftsordnungen genutzt werden, daß der Charakter unseres Zeitalters in erster Linie von der gewaltigen sozialen Bewegung der Menschheit vom Kapitalismus zum Kommunismus bestimmt wird. Im Ausschließlichkeitsanspruch derer, für die Poletajew sprach, lag — unbeabsichtigt — die Gefahr der Loslösung der Wissenschaft von ihrer sozialen, menschlichen Zweckgerichtetheit. Zu welchem Extrem ein solcher Weg führen kann — wenn die gesellschaftlichen Bedingungen dies nicht verhindern —, zeigt etwa das Beispiel des Physikers Enrico Fermi, der während der Entwicklung der ersten amerikanischen Atombombe gesagt haben soll: „Laßt mich in Ruhe mit euren Gewissensbissen; das ist doch so schöne Physik." 12 Der dritte offenkundige Fehlschluß Poletajews trennt das ästhetische Verhalten des Menschen zur Welt künstlich vom rationell-analytischen. Mehr noch, Poletajew erachtet diese Seite für unnütz, die Beschäftigung mit Kunst für leeren Zeitvertreib. Er spricht der Kunst jegliche Rolle in der Welt von heute ab. Das Kernproblem, um das es hier geht und das den Eifer der Debattierenden erklärt, ist nicht mehr und nicht weniger als die Auffassung vom Menschen der Gegenwart und der Zukunft: Einseitige Ausbildung, vielleicht sogar Vollendetheit einzelner Seiten seines Wesens — oder Erziehung zu einer allseitig entwickelten Persönlichkeit, der es vor allem anderen nicht an genügender Einsicht in die Grundgesetze gesellschaftlicher Entwicklung, nicht an humanistischem Verantwortungsgefühl, auch nicht an ästhetischem Empfinden gebricht. Bei der Ausprägung dieser Fähigkeiten des Menschen haben Literatur und Kunst wesentlichen Anteil. Unter Be29
dingungen, da dem Menschen durch die wissenschaftlichtechnische Revolution immer mehr Macht über seine Welt in die Hände gegeben wird, muß die Entwicklung gerade dieser Seiten und dementsprechend die ideell-ästhetische Wirkung der Literatur um so höheren Wert erlangen. Andererseits stimuliert die komplizierter werdende Aneignung der schnell wachsenden wissenschaftlichen und technischen Kenntnisse stets von neuem die einseitig nur darauf orientierte Ausbildung der Menschen — auch unter sozialistischen Bedingungen. Daraus erklärt sich, warum die Diskussion der „Physik e r " und „Lyriker" nicht im Jahre 1960 abgeschlossen sein konnte, sondern in verschiedenen Erscheinungsformen die sechziger und siebziger Jahre hindurch immer wieder aufflackerte und zunehmend die Werke der Literatur selbst durchdrang, ohne daß in jedem Falle der Bezug zum ursprünglichen Ausgangspunkt erkennbar war. Es handelt sich hier um einen Prozeß, der vorläufig zu keinem Ende gelangen kann, der sich aber keinesfalls in das idealistische Schema eines ewigen Kampfes zwischen Ratio und Emotio einfügt. Ihm liegen, wie ersichtlich, objektive Gesetzmäßigkeiten des sozialen und wissenschaftlich-technischen Fortschrittes im Sozialismus zugrunde. Die Ausbildung allseitig entwickelter Individuen ist genauso notwendig wie die Spezialisierung des einzelnen. Die Lösung dieses Widerspruches ist kein einmaliger Akt, sondern eine ständige Aufgabe. Es zeugt von der weltanschaulichen und künstlerischen Reife der Sowjetschriftsteller, daß sie sehr früh die Auseinandersetzung über ihren Anteil an der Lösung dieser Aufgabe begonnen haben, über die eigenständige Rolle der Literatur unter den neuen Bedingungen: der wissenschaftlich-technischen Revolution im Sozialismus. D a diese noch in ihren Anfängen steht, sollten die theoretischen Überlegungen und praktisch-künstlerischen Lösungsvorschläge der Schriftsteller zunächst als Erkundungen angesehen werden, nicht als epochale klassische Ereignisse. Wir lehnten die zu harte Selbstkritik an den eigenen künstlerischen Leistungen einzelner Schriftsteller (Ehrenburg, Antokolski) ab, das sollte aber nicht gleichbedeutend sein mit einer unkritischen Erhöhung des Geschaffenen, von dem hier und in den folgen30
den Kapiteln im einzelnen die Rede ist. Bei der Bewertung gegenwärtiger Literaturprozesse ist neben entschiedener Betonung der Bedeutsamkeit von Literatur überhaupt Nüchternheit in der Sicht auf das einzelne Werk geboten. Vielleicht liegt der Reiz der heutigen Sowjetliteratur wie der Literaturen anderer sozialistischer Länder eben gerade in ihrem Erkundungscharakter, in der fragenden Auseinandersetzung mit einer Welt, die sehr stark in Bewegung ist — infolge der gewaltigen sozialen und wissenschaftlich-technischen Umwälzungen. Doch zurück zur Literaturentwicklung nach der „Physiker-Lyriker"-Debatte. In der ersten Hälfte der sechziger Jahre, sieht man von Daniii Granins Roman Dem Gewitter entgegen (1962) einmal ab, schien es, als wären die Auseinandersetzungen um die ideell-ästhetische Wirksamkeit der Literatur in der wissenschaftlich-technischen Revolution verstummt. Andere Probleme rückten in den Vordergrund — vor allem das Durchdenken der eigenen Geschichte, eine gewisse Bilanzierung des durchschrittenen Weges. Ein solcher Versuch ist der letzte Teil der Romantrilogie Konstantin Fedins Die Flamme (1961, 1965), die bereits kurz nach dem Krieg mit den Büchern Frühe Freuden (1945) und Ein ungewöhnlicher Sommer (1948) begonnen worden war. Direkt autobiographisch ist Konstantin Paustowskis sechsteilige Erzählung vom Leben, die 1963 zum Abschluß kam und ebenfalls bilanzierenden Charakter hat. Hierzu ist nicht zuletzt auch die Memoirenliteratur zu rechnen, vor allem Ilja Ehrenburgs Menschen, Jahre, Leben (1960—1965). In der Lyrik ist es nach Wladimir Lugowskoi (Poem Jahrhundertmitte, 1958) nun Alexander Twardowski, der mit Femen hinter Fernen (1950—1960) ein Poem schuf, in dem die Geschichte des Landes auf ihre Resultate hin, auf ihre Bedeutung für die Welt und für den einzelnen Sowjetmenschen befragt wird, bewundernd und kritisch zugleich, wobei der Autor sich nicht außerhalb der Kritik stellt. Die kritische literarische Auseinandersetzung mit verschiedenen Erscheinungsformen des Personenkultes, die im Poem geführt wurde, ist bis zur Mitte der sechziger Jahre Gegenstand vieler Werke — so in Juri Bondarews Roman Die Stille (1962), aber auch in Sergej 31
Salygins Erzählung Am Irtysch (1964), die vor allem durch die zugespitzte Gestaltung der Humanismusproblematik großes Aufsehen erregt hatte. Die künstlerisch am meisten überzeugende Darstellung dieses Problemkomplexes, verknüpft mit vorwärtsweisenden Überlegungen zum Charakter der Beziehungen Individuum-Gesellschaft im Sozialismus stammt aus der Feder des Kirgisen Tschingis Aitmatow: Abschied von Gulsary (1966). Mit der stärkeren Rückbesinnung auf die besten Traditionen sowjetischer Geschichte ist das Aufleben der Leniniana, die Einbeziehung der Gestalt Lenins in die Literatur, verknüpft: Emmanuil Kasakewitschs Blaues Heft (1960) und Walentin Katajews Kleine eiserne Tür (1964) sind als Prosawerke zu nennen, in der Dramatik ist es Michail Schatrow mit den dokumentarischen Stücken Der 6. Juli (1964) und Bolschewiki (1967). Andrej Wosnessenski wählte für sein Poem Longjumeau (1963) Lenin als ideell-ästhetisches Zentrum. Zur Bilanzierung des Vergangenen, zur allseitigen Aneignung der eigenen Geschichte zählen auch die meisten Werke über den Großen Vaterländischen Krieg. Die erste „Welle" der Kriegsdarstellung aus der „Grabenperspektive" (Baklanow, Bondarew) war schon Ende der fünfziger Jahre vorüber. Im Laufe der sechziger Jahre vollendete Konstantin Simonow seine 1959 begonnene Trilogie Die Lebenden und die Toten mit Man wird nicht als Soldat geboren (1964) und Der letzte Sommer (1971). Eine wesentliche Rolle spielte für die Literatur die historische Fundierung des Kriegsthemas durch die zahlreichen Memoiren sowjetischer Heerführer (Shukow, Rokossowski, Tschuikow, Schtemenko), die in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre erschienen. Der Roman Heißer Schnee (1969) von Juri Bondarew widerspiegelte in gewisser Weise bereits die dadurch gewonnene tiefere Kenntnis der Wahrheit über den Krieg. Die Probleme der Gegenwart wurden von der Literatur auch am unmittelbar zeitgenössischen Gegenstand gestaltet. Wadim Koshewnikows Darf ich vorstellen, Balujew (1960) war ein anregender Versuch, einen Leiter im Schnittpunkt gesellschaftlicher und persönlicher Beziehungen zu 32
zeigen. Ein im gewissen Sinne vergleichbares Buch, das in innerer Polemik zu Koshewnikows steht, war am Ende der sechziger Jahre Wil Lipatows Roman Die Mär vom Direktor P. (1969). Zu philosophischer Verallgemeinerung brennender Fragen der heutigen Sozialismusentwicklung tendiert Oles Hontschars Roman Tronka (1963). Ein breites Bild des gegenwärtigen Kolchosdorfes zeichnete Sergej Krutilin mit seinem „Roman in Novellen" Lipjagi (Das Dorf an der Walstatt) (1965). Etwa zeitgleich mit dem Eintritt der jungen Dichtergeneration — Jewgeni Jewtuschenko, Andrej Wosnessenski, Robert Roshdestwenski, Bella Achmadulina — in das literarische Leben der Sowjetunion machte Ende der fünfziger, Anfang der sechziger Jahre die sogenannte „junge Prosa" von sich reden: Wassili Axjonow mit dem Roman Drei trafen sich wieder (1960) und Sternenfahrkarte (1961), Anatoli Gladilin mit mehreren Romanen. Diese Werke widerspiegelten typische Haltungen städtischer Schuljugend — vom pubertätsbedingten Protest gegen alles und alle bis zum mehr oder weniger klaren Suchen nach einer neuen bejahenden Position zum sowjetischen Leben. So schnell und überraschend, wie sie aufgetaucht war, verschwand die „junge Prosa" wieder, Axjonows Das Jahr der Scheidung (1964) kann gewissermaßen als Schlußpunkt gelten. Charakteristisch für die sechziger und die beginnenden siebziger Jahre waren schließlich auch Werke, die die Literatur selbst zum Gegenstand hatten. Valentin Katajews Der heilige Brunnen (1966) und Das Gras des Vergessens (1967), auch Eduardas Miezelaitis' Nachtfalter und Lyrische Etüden (1972) stellen eine eigenartige Mischform von Autobiographie und literaturtheoretischem Essay dar, sie reflektieren über die Bedeutung und Selbständigkeit literarischkünstlerischer Weltaneignung und die Aufgaben der Literatur in unserer Zeit. Aus der Schar bemerkenswerter Schriftstellertalente, die in diesem Jahrzehnt in die Literatur kommen bzw. von der Öffentlichkeit mehr als zuvor beachtet werden, sind vor allen anderen der Kirgise Tschingis Aitmatow und der Belorusse Wassil Bykau zu nennen. Aitmatow beweist nach Djamila (1958) mit der Erzählung Der erste Lehrer (1962) 3
Hiersche, Sowjetlit.
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wiederum seine künstlerische Kraft, und Bykau lenkt mit der Dritten Leuchtkugel (1962) und der Alpenballade (1964) die Aufmerksamkeit auf sich. Beide werden in den folgenden Jahren gerade die für die wissenschaftlich-technische Revolution so wesentliche Frage des subjektiven Faktors, der Moral bei der Weiterentwicklung der neuen Gesellschaft, der erhöhten Verantwortung des Menschen für die sozialistischen Lebensnormen zum Kernpunkt ihrer Arbeit machen. Aitmatow und Bykau gehören damit zu jenen Autoren, die den Grundton für die Literatur der endsechziger und siebziger Jahre angeben. Unter der Vielzahl der Probleme, denen die Literatur um diese Zeit ihre Aufmerksamkeit zuwendet, rücken allmählich vier, die alle in einem mehr oder weniger vermittelten Zusammenhang mit der wissenschaftlich-technischen Revolution und der weiteren Schaffung der Grundlagen des Kommunismus stehen, in das Zentrum des literarischen Lebens. Es sind dies die Probleme Arbeiterklasse und Literatur, Literatur und Kampf für die Erhaltung der natürlichen Umwelt des Menschen, das Verhältnis der Literatur zu den nationalen Traditionen, schließlich die Funktion der Literatur im Miteinander mit der wissenschaftlichen Welterkenntnis. Diese vier Probleme finden ihren Niederschlag in literarischen Werken, meist nicht getrennt voneinander, sondern verknüpft zu einem komplizierten Komplex, wie auch die entsprechenden Diskussionen oft ineinandergreifen. Wir werden dem im jeweiligen Kapitel genauer nachgehen, deshalb zunächst nur so viel darüber: Auch unter den Bedingungen der wissenschaftlich-technischen Revolution, in einer Zeit, da die Intelligenz höhere gesellschaftliche Bedeutung erlangt und auch zahlenmäßig wächst, behält die Arbeiterklasse als bewußteste und bestorganisierte Kraft ihre führende Rolle in der sozialistischen Gesellschaft. 13 Sie bleibt die Hauptträgerin der Produktion, d. h. sie schafft die materiellen Voraussetzungen jeder Wissenschaft und macht deren Entdeckungen nutzbar. Die sozial-ethischen Kriterien zur Bewertung wissenschaftlicher Arbeit und ihrer Ergebnisse sind Teil der marxistischleninistischen Weltanschauung der Arbeiterklasse und 34
werden von dieser in der Praxis, d. h. in der materiellen Produktion und der gesellschaftsleitenden Tätigkeit der Klasse ständig überprüft und vervollkommnet. Die wissenschaftlich-technische Revolution beeinflußt die beiden wichtigsten Formen der praktisch-sinnlichen Aktivität der Arbeiterklasse : die Produktion (kompliziertere Technik fordert höhere Qualifikation, teurere Maschinen mit hoher Produktivität fordern mehr Verantwortung) und die Gesellschaftsleitung (hochentwickelte Wirtschaft und Wissenschaft verlangen neue Leitungsqualitäten). Eine Literatur, die mit der Wirklichkeit Schritt halten will, muß unter diesen Bedingungen ihre Rolle, ihre Aufgaben ständig von neuem reflektieren. Aus diesem Grunde dauert seit dem Ende der sechziger Jahre die Diskussion „Arbeiterklasse und Literatur" unentwegt an. Der zweite Gegenstand der laufenden Debatten ergibt sich aus dem unerhörten Wachstum der Industrie und des Verkehrs. 14 Das Miteinander von Mensch und natürlicher Umwelt ist zum Problem geworden, das unter sozialistischen Bedingungen zwar planvoll und unbeeinflußt yon kurzsichtigen Profitinteressen angepackt wird, aber nichtsdestoweniger ein Problem bleibt. Die Diskussionen darüber, die die gesamte Gesellschaft erfaßt haben, sind kein Nachvollzug der weltweiten, vielfach von Pessimismus geprägten Umweltschutzauseinandersetzungen. Für die Sowjetliteratur ist es allein deshalb kein Hinterherhinken, weil sie bereits zwei Jahrzehnte vor diesen Debatten begonnen hatte, die bewußte Regulierung des Stoffwechsels mit der Natur künstlerisch und philosophisch zu reflektieren: in Leonows Roman Der russische Wald( 1953). Mehr noch, die Gespräche und Literaturwerke darüber unterscheiden sich wohltuend von den Kassandrarufen der bürgerlichen Wissenschaft, weil sie — ohne die Lage zu beschönigen — um die bessere Ausnutzung der Vorzüge des Sozialismus auf diesem Gebiet ringen. Die Umweltschutzpläne der bürgerlichen Wissenschaft dagegen — und seien die Beweggründe ihrer Urheber noch so lauter — kranken alle daran, daß sie die Wurzel des Übels, das Privateigentum an Produktionsmitteln, die rücksichtslose Jagd nach dem Maximalprofit, nicht antasten. 3'
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Das Engagement der Sowjetliteratur für die Erhaltung der Lebenssphäre wird Teil ihrer ideell-ästhetischen Funktion; es ist um so notwendiger, als die wissenschaftlich-technische Revolution der Gesellschaft enorme Mittel in die Hände gegeben hat, die Natur zu verändern. Unter diesen Bedingungen sind die Anforderungen auch an den einzelnen Menschen sehr hoch. Sicher kann die Literatur etwas dazu tun, damit das Individuum ihnen besser gewachsen ist. Der Zusammenhang mit dem Problemkreis „Arbeiterklasse und Literatur" ergibt sich gerade aus der wachsenden gesellschaftlichen Bedeutung der Moral der Klasse, die auch im Miteinander von Mensch und Natur der entscheidende Faktor sein muß und die zu erkunden und weiter auszuprägen die Literatur heute ganz besonders aufgerufen ist. Die dritte Frage, die Literatur und Kritik zum Ende der sechziger Jahre hin zunehmend bewegt, ist die nach dem Verhältnis von nationalen Traditionen und gesellschaftlichem sowie wissenschaftlich-technischem Fortschritt. 15 Das Aufblühen und die gegenseitige Annäherung der nationalen Kulturen, das mit dem kommunistischen Aufbau, dem Wachstum der Produktivkräfte, d. h. auch mit dem wissenschaftlich-technischen Fortschritt zusammenhängt, schließt ein erhöhtes nationales Selbstbewußtsein als integralen Bestandteil des Sowjetpatriotismus ein. Das alltägliche und immer intensivere Miteinander der vielen Nationen und Völkerschaften bringt den wechselseitigen Vergleich mit sich, das Begreifenwollen der nationalen Eigenart, der nationalen Tradition im Leben wie in der Literatur. Die Diskussionen werden auch durch direkte Einflüsse der wissenschaftlich-technischen Revolution stimuliert: durch die unvermeidliche Standardisierung, die die Architektur wie den Massenbedarfsartikel erfaßt, durch die wachsende Rolle der Massenkommunikationsmittel — vor allem des Fernsehens. Schließlich wirkt sich die Urbanisierung aus, der prozentuale Rückgang der Dorfbevölkerung. Selbst der so notwendige Prozeß der Ängleichung der Lebensweise in Stadt und Land ruft Auseinandersetzungen hervor. Der Kern der Diskussionen besteht in folgendem: Ist das Nationale etwas Unveränderliches, seit je Gegebenes, das 36
vielleicht sogar vorwiegend an das dörfliche Leben geknüpft ist und dem durch verstärkte internationale Kommunikation, Standardisierung und Verstädterung der Untergang droht, oder ist dieses Nationale eine historisch wandelbare Kategorie, heute gebunden an die Revolutionierung der Gesellschaft durch die Arbeiterklasse, an den Aufbau einer menschlichen Welt, der ohne Internationalismus nicht möglich ist? Ist das Nationale daher gegenwärtig nicht stärker als je zuvor nur in seiner dialektischen Einheit mit dem Internationalen zu begreifen, wird es nicht durch verstärkte Kontakte der Sowjetvölker untereinander, auch durch Urbanisierung und selbst durch Standardisierung entwickelt und bereichert? In den drei bisher erwähnten Problemen tritt deutlicher als in der Debatte der „Physiker" und „Lyriker" das soziale Bezugsfeld der wissenschaftlich-technischen Revolution zutage. Hier wird deren Einheit mit der sozialistischen Revolution unübersehbar; die führende Rolle der Arbeiterklasse und ihr Ethos, ihr Verantwortungsbewußtsein gegenüber der Welt, ihr Internationalismus sind offensichtlich. Das vierte Diskussionsthema der beginnenden siebziger Jahre — das in diesem und im letzten Kapitel im Mittelpunkt steht — ist die Funktion der Literatur im Miteinander mit der wissenschaftlichen Welterkenntnis und somit eine direkte Weiterführung des „Physiker-Lyriker"-Streits. 16 Dieser wurde Ende der sechziger Jahre im Hegeischen Sinne aufgehoben, d. h. zunächst überwunden, indem die ihm zugrunde liegenden zentralen weltanschaulichen, sozialethischen und ästhetischen Fragen differenziert an die Oberfläche traten. Die intensiven sozial-ökonomischen und wissenschaftlich-technischen Prozesse in der Sowjetunion haben diese Differenzierung vorangetrieben. Die ursprünglichen Streitpunkte der Jahre 1959/60 — das Verhältnis von Wissenschaft und Literatur, das angebliche Zurückbleiben der Literatur hinter den großen Leistungen der Naturwissenschaft, Bejahung oder Negation der gesellschaftlichen Rolle der Kunst überhaupt — wurden Anfang der siebziger Jahre auch im anderen Sinne „aufgehoben", also auf höherem Niveau debattiert. Charakteristisch dafür ist der 1972 er37
schienene Artikel Das Einmaleins ist längst durchgenommen von F. Schirokow, 1 7 Kandidat der physikalisch-mathematischen Wissenschaften. Hier wird der enge Zusammenhang von sozialen Prozessen und wissenschaftlich-technischem Fortschritt nicht mehr — wie bei Poletajew — außer acht gelassen, sondern ausdrücklich hervorgehoben, auch stellt der Autor die Bedeutung der Kunst nicht in Frage. Dennoch wiederholt Schirokow einige Vorwürfe der „Physiker" gegenüber der zeitgenössigen Sowjetliteratur, und zwar verschärft und mit ausführlicher Argumentation. Er schildert — wie seinerzeit Poletajew — das stürmische Wachstum der Wissenschaft und fragt zwischen den Zeilen immer wieder: „ U n d wo bleibt dagegen die heutige Literatur?" Die großen Leistungen realistischer Literatur der Vergangenheit vergleicht er mit der höchsten Zahlentheorie; was jedoch die Schriftsteller heute anböten, das wäre nur das Einmaleins. U m der Literatur aus dieser beklagenswerten Lage herauszuhelfen, schlägt Schirokow ihr vor, sie solle — wie die Wissenschaft — das Erbe zerstören, d. h. sich von überkommenen Gestaltungsmethoden lösen, das Denken „entkonservativieren", die ererbte Psyche erschüttern, zur „Synthetisierung" vordringen, Sprache und Erzähltechnik vervollkommnen. A n dem Ratschlag ist einzig der letzte Halbsatz akzeptabel, doch scheint er unangemessen — die Sowjetschriftsteller arbeiten an der Weiterentwicklung von Sprache und Erzähltechnik, sie lösen sich auch von überkommenen Gestaltungsmethoden, wo diese für die Widerspiegelung heutiger Realität nicht ausreichen. Der Artikel von Schirokow ist aber nicht nur in Details anfechtbar, er ist im Ansatz und in der Methode zweifelhaft. Ein Vergleich zwischen Wissenschaft und Kunst, bei dem mathematisch-naturwissenschaftliche Maßstäbe angewandt werden, ist dilletantisch und bringt außer Vorhaltungen gegenüber der Kunst keine Ergebnisse. Der Informationsgehalt der Sixtinischen, Madonna, so schrieb der Philosoph Ewald Iljenkow in der Erwiderung auf Schirokows Beitrag, lasse sich eben nicht in „ b i t " ausdrücken, und die gemessenen Rhythmen Bachs oder Tolstois könne man nicht mit der Geschwindigkeit von Raketen vergleichen. 18 Und wenn die 38
klassische realistische Kunst wie durch ein Wunder dem kritischen Blick der Mathematiker oder Physiker standhält, müßte man hinzufügen, so ist damit die Tauglichkeit der angewandten Kriterien noch lange nicht bewiesen. Sie erinnern trotz ihrer scheinbaren Modernität groteskerweise an die absoluten, der Vergangenheit entlehnten Maßstäbe des „Großen Realismus" bei Georg Lukäcs, mit denen der gegenwärtigen Sowjetliteratur nicht beizukommen ist. Bedenklich sind die Empfehlungen, Literatur müsse das Denken vom Zwange des Konservatismus erlösen, die ererbte Psyche erschüttern. Schirokow schließt von der Entthronung herkömmlicher Vorstellungen der klassischen Physik durch Einstein, Planck u. a. direkt auf das Verhältnis von heutigen und früheren literarischen Darstellungsmethoden. Wir erkennen hier — in verwandelter Form — die Behauptung Poletajews aus der Diskussion 1959/60, unserer Epoche gemäß sei nur die Poesie der Ideen, Theorien, Experimente. Ehe konservatives Denken und ererbte Psyche abgelehnt werden, ist zu fragen, was darunter verstanden wird. Der Sozialismus hat bekanntlich am radikalsten mit dem konservativen Denken, das von der alten Welt ererbt war, gebrochen, die von ihm hervorgebrachten Denkweisen sind historisch sehr jung, sie bedürfen eher des Ausbaus und der Festigung denn der Entthronung. Die Psyche des Menschen im Sozialismus — allen Veränderungen gegenüber gewiß am zäheSten — ist ebenfalls noch in einem Entwicklungsprozeß; die Modifikationen, die von der sozialistischen Gesellschaftspraxis bewirkt wurden, müssen sich noch stabilisieren. Wenn schon naturwissenschaftliche Denkmethoden und andere Denkformen miteinander verglichen werden sollen, dann doch in unserem Falle wohl so: den Veränderungen im naturwissenschaftlichen Weltbild, die Einstein, Planck u. a. ausgelöst haben, entsprechen etwa die Umwälzungen in der Philosophie, der Geschichtswissenschaft, der Ökonomie, im weiteren Sinne in der Weltanschauung und Sozialpsyche überhaupt — Veränderungen, die vom Marxismus-Leninismus, der sozialistischen Revolution, vor allem der Oktoberrevolution ihren Ausgang nahmen. Deshalb ist es nicht richtig, von der Literatur
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pauschal zu fordern, sie solle das Denken erschüttern. Es gibt keine weltanschaulich indifferente Psyche eines sogenannten modernen, technischen Zeitalters, auf deren Ausbildung Literatur hinzielen müßte. Die schädlichste Form konservativen Denkens, die Literatur überwinden helfen muß, ist enges, einseitiges Spezialistentum, das alle Erscheinungen der Wirklichkeit nur mit verkürztem Maßstab mißt, die Eigenart und den dialektischen Zusammenhang dieser Erscheinungen nicht wahrnimmt. Eine völlig andere Sache ist die ständige Arbeit der Schriftsteller an sich selbst, an der Weiterentwicklung der Methode, um sie den Bedingungen in der Realität stets anzupassen, d. h. dem Menschen zu helfen, diese Wirklichkeit zu erkennen und zu verändern. Hier ist freilich noch vieles zu leisten — wir sprachen bereits vom Erkundungscharakter der Literatur —, aber die Empfehlungen Schirokows können da nicht wirksam werden, sie gehen von fehlerhaften Prämissen aus. Ewald Iljenkow hat in seiner Antwort auf Schirokow noch einmal an eine grundsätzliche Position erinnert, von der aus das Verhältnis von Wissenschaft und Kunst, die eigenständige Rolle der Kunst in unserer Zeit erörtert werden muß: Der sozialistische Mensch kann die Probleme der wissenschaftlich-technischen Revolution nur bewältigen, wenn er in sich eine solche „fundamentale schöpferische Fähigkeit" entwickelt hat, wie es die produktive Vorstellungskraft ist. Diese muß „auf die Schönheit orientiert" sein, d. h. das „Niveau künstlerischer Vorstellungskraft" erreichen. Die Unentwickeltheit dieser Vorstellungskraft, des Gefühls für die Schönheit schadet weniger dem betreffenden Individuum als vielmehr den Menschen, die mit ihm an einer Sache arbeiten, und letztlich gereicht es der Sache selbst zum Schaden. 1 9 Das gilt im Prinzip für jeden Menschen, gleich welche Funktion er im Gesellschaftsganzen auch einnehmen mag; besonderes Gewicht bekommt dies allerdings für jene, deren Tätigkeit einen weiten Wirkungsradius hat, und dazu rechnen auf jeden Fall die Wissenschaftler. Einen bedeutenden Anteil an der Entwicklung der so notwendigen produktiven Vorstellungskraft haben zweifelsohne Kunst und Literatur, 40
auch dann, wenn sie mit — scheinbar — „konservativen" Mitteln geschaffen wurden. Den Werken von Scholochow, Leonow oder Aitmatow ist mit Vergleichen zu heutiger Physik, Mathematik und anderen Disziplinen überhaupt nicht beizukommen, doch haben sie unser Denken beeinflußt, indem sie die bereits sozialistische „ererbte Psyche" des Erbauers der neuen Welt befestigten und gleichzeitig um neue Einsichten bereicherten. Die allgemeine — nicht auf die Sowjetliteratur beschränkte — Bedeutung der „Physiker-Lyriker"-Diskussion und ihrer Fortsetzung an der Wende von den sechziger zu den siebziger Jahren ist offensichtlich, weil heute nahezu alle sozialistischen Länder von ähnlichen sozialen und wissenschaftlich-technischen Prozessen erfaßt sind. In der DDR — um nur dieses naheliegende Beispiel zu nehmen — hat es zwar der äußeren Form nach eine solche Debatte nicht gegeben. Dennoch wurden auch hier Stimmen laut, die etwa von den Schriftstellern Beschäftigung mit Kybernetik verlangten, andernfalls könnten diese bald „nicht mehr mitreden" 20 . Auch die Überforderung der Literatur gegen Ende der sechziger Jahre, als nicht selten Erwartungen gehegt wurden, Literatur könnte direkt und mit sogleich meßbarem Ergebnis in Gesellschaftsprozesse eingreifen, deutet auf Unverständnis der spezifischen Funktion der Literatur — allerdings von einem anderen Extrem aus. Eine Position, die der der sowjetischen „Lyriker" annähernd entsprechen würde, hat u. a. in Erwin Strittmatters Büchern der kleinen Prosa literarische Gestaltung gefunden. Dort finden wir jene vier Probleme, die ab Ende der sechziger Jahre Gegenstand der sowjetischen Literaturdiskussion geworden waren und deren Zusammenhang mit der sozialen und wissenschaftlich-technischen Revolution wir nachwiesen: Arbeiterklasse und Literatur, Erhaltung der Welt für den Menschen, nationale Traditionen und Verhältnis Literatur-Naturwissenschaft. Die Haltung des sozialistischen Erzählers Strittmatter zu den kleinen Dingen, die durch ihn das Unscheinbare verlieren und ihre Bedeutsamkeit offenbaren, ist weit entfernt von weltfremder Kontemplation. Es ist die Haltung eines arbeitenden Menschen, in ihr lebt die produktive Welt41
auffassung der Arbeiterklasse, für die das poetische Naturerlebnis — auch unter schwersten Kampfbedingungen — nie überflüssiger Luxus war. In dieser Position ist die von den Klassikern theoretisch formulierte Auffassung der Arbeiterklasse vom allseitig entwickelten Menschen poetisch manifest. Und weiter: Die poetische Entdeckung und damit Aneignung der Welt, wie sie Strittmatter am scheinbar kleinen Gegenstand vorführt, erinnert den vom politischen und ökonomischen Alltagskampf in Anspruch genommenen sozialistischen Zeitgenossen sehr behutsam und unaufdringlich, doch zugleich nachdrücklich daran, daß er und seine Gesellschaft Teil der Natur sind. Diese Natur, wunderbar und verletzlich, muß er erhalten, wenn er sich selbst erhalten will. Die dritte Parallele zur sowjetischen Problematik, das Verhältnis von nationaler Tradition und wissenschaftlich-technischem Fortschritt, hat bei Strittmatter auf Grund der kaum vergleichbaren nationalen Situation eine andere Gestalt, sie steht nicht im Vordergrund. Dennoch äußert sich im bewußten Anknüpfen an traditionelle Formen der deutschen Literatur — Anekdote, Kalendergeschichte — auch im behutsamen, bedächtigen Erzählen, im Gebrauch einer Sprache, die nicht oberflächlich „auf Modernität" aus ist. eine bestimmte Haltung. Sie richtet sich wider gewisse SprachModen, die unser — angeblich — wenig traditionsbetontes, schnelles, technikbesessenes, nüchternes Leben sozusagen adäquat literarisch fassen wollen. Das dörfliche Leben, von dem in den meisten Geschichten, Anekdoten und lyrischen Miniaturen die Rede ist, wird als in Veränderung begriffen, nicht aber als Anachronismus, als etwas Unzeitgemäßes, zu Überwindendes dargestellt. Pastorale Idyllisierung wäre bei Strittmatter undenkbar. Strittmatters Traditionsgebundenheit ist nicht „rein" nationalliterarisch, er hat auch bei Prischwin und Paustowski gelernt, es deutet sich in seinem Schaffen selbst jene Dialektik von Nationalem und Internationalem an, von der in den sowjetischen Diskussionen seit den endsechziger Jahren ständig die Rede ist. Was den vierten Gegenstand angeht, so hat Strittmatter die Selbständigkeit, Notwendigkeit und Eigenart künstlerischer Weltaneignung gerade mit seinen zahlreichen Büchern der 42
kleinen Prosa verfochten, unbeirrt, unauffällig, mit polemischer Schärfe.
Lyrik auf der Suche nach Ausdrucksmitteln Als in der Diskussion die „Physiker" den „Lyrikern" vorwarfen, diese hätten die Wandlungen, die Wissenschaft und Technik in der Psyche der Zeitgenossen hervorriefen, noch nicht poetisch gestaltet bzw. die poetischen Werke wären nicht auf diese Psyche eingestellt, so hatte dieser Vorwurf — bei all seiner abzulehnenden Einseitigkeit und Abstraktheit — noch eine gewisse Berechtigung. Für die endsechziger Jahre aber traf er dann schon nicht mehr zu : Die Lyriker hatten inzwischen auch dieser Komponente des gesellschaftlichen Bewußtseins dichterischen Ausdruck verliehen, aber nicht in der damals quasi empfohlenen Isolierung, sondern in der Einheit mit jenen Veränderungen der menschlichen Psyche, die vorrangig durch die sozialen Prozesse bewirkt worden waren. Zwei Namen sind hier vor allen anderen zu nennen: Leonid Martynow und Andrej Wosnessenski. Leonid Martynow, das war den „Physikern" entgangen, hatte sich schon in den fünfziger Jahren dem Thema zugewandt, dessen Nichtvorhandensein so vehement angeprangert worden war. Der siebente Sinn heißt ein Gedicht von 1952; in ihm wird vom Menschen eine Eigenschaft gefordert, der er gerade in der wissenschaftlich-technischen Revolution dringend bedarf: Es werden Wolkenkratzer gebaut — den Architekten Ruhm und Ehre, aber der Mensch will schon anderes — besser als das, was ist. Besser und besser schreibt man Bücher, alle kann man gar nicht lesen, aber der Mensch will schon anderes — besser als das, was ist. 43
Feiner und feiner werden die Sinne, es sind nicht mehr fünf, sondern sechs. Aber der Mensch will schon anderes — besser als das, was ist. Verborgene Ursachen erkennen, geheime Pfade aufspüren — an die Stelle dieses sechsten Sinns, trete der siebente Sinn! Diesen siebenten Sinn benennen kann jeder auf seine Weise. Vielleicht ist es einfach die Fähigkeit, das Kommende greifbar vor sich zu sehen!21 Maxim Gorki hatte vom „Weltverstehen" gesprochen, einer Eigenschaft, die der Mensch allerdings erst unter sozialistischen Bedingungen voll entwickeln könne 22 . Das meint Martynow mit dem sechsten Sinn. Wenn er nun noch als siebenten Sinn eine besonders ausgeprägte Vorstellung vom Künftigen fordert, assoziiert sich die Gorkische „dritte Wirklichkeit" 23 . Gorki erwartete bekanntlich vom sozialistischen Schriftsteller, daß er bei der Darstellung seiner Zeit immer die Zukunft — die dritte Wirklichkeit — mit im Blick habe. Was Martynow will, scheint jedoch darüber hinauszugehen. Hier deutet sich unserer Meinung nach eine sehr wesentliche Haltung des sozialistischen Menschen in unserer Zeit an: die Einheit von Erkenntnisdrang und genauem Wissen um die Folgen der Anwendung der Erkannten. Damit das „andere", das der Mensch immer wieder will, tatsächlich besser sei, als das, was schon ist. Das Empfinden, Zeitgenosse einer allumfassenden Revolutionierung von Wissenschaft und Technik zu sein, ist allerdings in diesem Gedicht noch nicht ausgeprägt, es war im gesellschaftlichen Bewußtsein noch nicht voll präsent, obwohl Relativitätstheorie, Atomphysik, Kybernetik und Fernsehen schon zur Realität gehörten. Das gesellschaftliche Bewußtsein in der Sowjetunion sah sich mit anderen Problemen konfrontiert: Den Krieg und seine Folgen fühlten die Menschen noch hautnah, die größten Schwierigkeiten des Wiederaufbaus wurden 44
gerade überwunden. Doch nur sechs Jahre später, 1958, bot sich bereits ein völlig anderes Bild, das folgende Gedicht kann dafür als symptomatisch gelten: Was sich in der Mechanik und in der Chemie und in der Biologie tut — davon wissen nur Auserwählte, im übrigen aber ziehen viele daraus Nutzen: Krankheiten werden geheilt, Muskelkraft braucht nicht unnötig vergeudet zu werden . . . Aber irgendwo dort, wo die Geschwindigkeiten extrem hoch sind, wo Teilchen wie irr durcheinanderrasen, dort wälzt sich ein künstliches Tier herum; es knurrt, sucht Beute, dies mechanische, gefühllose Tier ist bis ins Detail vermessen und berechnet. Damit es nicht eure Häuschen frißt mit all euren Hoffnungen, hütet euch unwissend zu sein in Politik und Ökonomie ! 24 Leonid Martynow hat hier prägnant die zwiespältige Empfindung, welche Wissenschaft und Technik in unserer Zeit zu wecken vermögen, artikuliert, aber nicht defensiv wie ein Jahr darauf Boris Sluzki mit den Physikern und Lyrikern. Den Widerspruch zwischen hoher Wissenschaft, die notwendigerweise .zunächst nur einem kleinen Kreis verständlich sein kann, auf der einen Seite und der enormen Breitenwirkung dieser so abstrakten Tätigkeit des Menschen auf der anderen hat Martynow in die Metapher vom mechanischen Tier gekleidet. Nach der Einleitung hätte man erwarten können, der Dichter fordere am Schluß die Massen auf, sich Kenntnisse in Mechanik, Chemie und Biologie usw. anzueignen, um mit dem „künstlichen Tier" fertigzuwerden. 45
Statt dessen empfiehlt er politische und ökonomische Bildung! In der Diskussion der ..Physiker" und ..Lyriker", die ein Jahr später begann, hörte man es prompt anders: Da verlangten die „Physiker", ja selbst Dichter (Antokolski) von den Kunstschaffenden Einsichten in den neuesten Stand der Naturwissenschaften. Martynows Ruf „hütet euch, unwissend zu sein in Politik und Ökonomie" kommt überraschend, er schafft eine fruchtbare Spannung zum Gedichtanfang und enthält in genialer Einfachheit den Schlüssel zum Problem wissenschaftlich-technische Revolution: Für die kapitalistische Welt die Vorbereitung der sozialen Revolution, für den Sozialismus die weitere gesellschaftliche Aktivierung des Menschen, die allseitige Entwicklung seiner Persönlichkeit. Gegen einen übereilten Rückschluß von naturgesetzlichen Erscheinungen und deren Erkenntnis auf gesellschaftliche Prozesse und deren Erkundung, wie er in der „PhysikerLyriker"-Diskussion sehr oft praktiziert wurde, wendet sich Martynow nicht lange nach der Niederschrift des eben erwähnten Gedichts. Wir erkennen wieder den antithetischen Aufbau, der die Besonderheit und Vorrangigkeit sozialökonomischer Determinanten im Leben der Menschheit unseres Jahrhunderts — wider allen Lärm um das sogenannte Zeitalter der Wissenschaft und Technik — augenfällig macht: Himmel und Erde Im sich ausdehnenden Weltall — wenn das wirklich so ist, — was fühlst du da, gewöhnlicher Mensch, ungelehrter Tropf? Dieser Streit um die Rotverschiebung, der darum entfachte Lärm bringen deinen Verstand nicht in Verwirrung. 46
Und wenn du das Auseinanderfliehen der Galaxien im kosmischen Nebel beobachtest, so wendest du, weniger Theoretiker als Praktiker, deine Blicke der Erde zu. Alles strebt hier danach, sich nahe zu sein, sich zu verschmelzen, zu Scharen versammeln sich die Vögel, in Speicher fließt das Korn, und müde vom Fluchen und Beten möchten die Menschen zusammen sein, damit die begeisternde Arbeit gut von der Hand geht, die menschlichen Herzen erhebend in dieser Welt, hier in diesem Weltall, das sich ausdehnt unendlich ! 25 Nicht zufällig hat Martynow das Problem der Rotverschiebung des Spektrums außergalaktischer Sternensysteme zum Ausgangspunkt des Gedichts gewählt — wurden und werden daran doch von bürgerlichen Philosophen Theorien geknüpft, die weltanschauliche Konsequenzen haben. Das Auseinanderfliehen der Galaxien, bei dem die Geschwindigkeit der Fortbewegung proportional der Entfernung von unserem Sternensystem wächst, läßt hypothetische Rückschlüsse zu auf eine mögliche Entstehungszeit der Metagalaxis, d. h. der Gesamtheit der uns bisher bekannten Sternensysteme, auf eine Zeit, da sich diese Metagalaxis auf einem relativ kleinen Raum zusammendrängte. Darin sehen einige Vertreter der bürgerlichen Philosophie die naturwissenschaftliche Bestätigung eines Schöpfungsaktes, eines „Anfanges" unserer Welt. 26 Die marxistisch-leninistische Philosophie lehnt eine solche Deutung ab, weil die Ursachen und tieferen Gesetzmäßigkeiten der „Rotflucht" noch nicht genügend erforscht sind, also selbst die Richtigkeit der 47
Prämissen, aus denen solche Schlüsse gezogen werden, nicht feststeht. Martynow mißt diesem Problem Bedeutung bei, er orientiert aber auf die Vordringlichkeit der sozialen Befreiung der Menschen als erste Voraussetzung einer unbeschränkten wissenschaftlichen Erforschung des Weltalls. Das von Martynow zurückgewiesene Vorurteil, Gesetze der Natur und Erkenntnisse heutiger naturwissenschaftlicher Forschung ließen Analogieschlüsse auf die menschliche Gesellschaft zu, tauchte noch in anderer Form auf und hält sich weiterhin sehr zähe: Im „Zeitalter" der Wissenschaft und Technik müsse Dichtung — gleich der modernen Naturwissenschaft — notwendig kompliziert sein. Damit setzt sich Martynow am Ende der sechziger Jahre auseinander: Einfachheit Du wünschest von mir Einfachheit, und möchtest, daß ich zu deinen Füßen erblühe wie Feldblumen, damit du dir aus ihnen einen Kranz flechten kannst. Oh, weise Wirklichkeit, die du selbst ein mechanisches Herzklopfen in der Brust hast, führe nicht solche Reden — mir scheint, ich verliere den Verstand! Doch du sagst liebenswürdig: Verliere ihn! Gerade das will ich ja auch — Wahnsinn, heiliges Feuer! Und wieder schrei ich dir als Antwort: — Einfachheit wünschest du von mir! Und das forderst du heute, da sich das Antlitz der Erde wandelt und aus'der Nase den letzten Ring, lächelnd der Papua nimmt, und verdammt vernünftige Züge das Aussehen der Maschinen bekommt . . . D u wünschest von mir Einfachheit! 48
Und darauf gibst du mir zur Antwort: - Ja! Nur so gelangt man zu den Gipfeln ! 27 Der Kunstgriff, der dieses Gedicht weit weg von platter Polemik führt, besteht im scheinbaren Akzeptieren des Standpunktes der „Physiker" durch den Dichter Leonid Martynow. Mit dieser Identifikation gibt der Dichter zu erkennen, daß das Problem von den „Physikern" nicht an den Haaren herbeigezogen ist, sondern eine gewisse Berechtigung besitzt: Braucht man nicht doch heute kompliziertere Formen in der Pöesie? Wieder fällt auf: Martynow setzt die sozialen Bewegungen der Zeit, die Befreiung der Menschheit an die erste Stelle — der Papua selbst entledigt sich seines barbarischen Schmucks, des Nasenrings, hier gleichzeitig Metapher seiner Bevormundung, seiner Gängelung durch die weißen Herren, die Kolonialisten. Gleichzeitig mit der Befreiung des Menschen vollzieht sich — von Martynow an zweiter Stelle genannt — die „Vermenschlichung" der Maschinen. Im Satz „ D a s Aussehen der Maschinen bekommt verdammt (auch: teuflisch) vernünftige Züge" (M .nbHBOJibCKH pa3yMHbie HepTbi/IIpHoöpeTaioT o6jihkh MaiiiHH . . .) liegt die Dialektik von zunehmender Kompliziertheit der Maschinen, also Veräußerlichung der wachsenden Geisteskräfte des Menschen in den Maschinen einerseits und ihrer Beherrschung durch den Menschen andererseits. Das Beiwort „teuflisch", „verdammt" (iu>HBo.iTbCKH) unterstreicht die Notwendigkeit dieser Unterordnung der Maschine unter die Belange des Menschen, erinnert daran, daß unter bestimmten gesellschaftlichen Voraussetzungen das „Höllische" der Maschinen das „Vernünftige" überwuchern kann. Mit der überaus großen Assoziationsdichte seiner „einfachen" Bilder hat Martynow die im Gedicht theoretisch gestellte und beantwortete Frage nach Kompliziertheit oder Einfachheit des dichterischen Wortes auch praktisch gelöst: Nicht Schwierigkeit in der Form, aber Provokation vielgestaltiger und mehrschichtiger Denkprozesse im Kopf des Zeitgenossen mit sparsamen, in ihrem Äußeren klaren künst4
Hiersche, Sowjetlit.
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lerischen Mitteln. Die von Martynow angesprochenen Zentren bzw. Informationsspeicher des Hirns sind aufgeladen in erster Linie mit den Erfahrungen der s o z i a l e n Kämpfe des Jahrhunderts, wenngleich ein gewisser Anteil der hier ausgelösten Assoziationen selbstverständlich dem Bereich der Naturwissenschaft und Technik entstammt (vgl. die Gedankenverbindungen zu den „verdammt vernünftigen Zügen" der Maschinen). Am Anfang der siebziger Jahre beleuchtet Martynow noch' einmal das Problem der Einfachheit poetischer Sprache, diesmal mit einem neuen Akzent: Schöpfertum Wenn komplizierteste Dinge geschaffen werden — sonnenähnliche, den Mond ersetzende, — ertönen aus Lautsprechern immer häufiger und heftiger Worte über die Kunst von hohen Tribünen: Darüber, daß sie eben so geschmiedet werden müsse, daß sie Aufgaben kosmischer Größe zu bewältigen hätte . . . Doch man muß wissen, daß die menschliche Seele sich schon lange nach etwas sehr Einfachem gesehnt hat — daß das Schöpfertum, voll innerer Kraft und vielgestaltig wie nie zuvor, darum ringe, möglichst schlicht zu werden, wie — einfach — die Sonne, wie einfach ein Stern ! 28 Hier wird man direkt an den Aufsatz von Schirokow erinnert, der die Sowjetliteratur unmittelbar an den komplizierten Leistungen der Naturwissenschaft maß; diesmal verzichtet Martynow darauf, die Frage vom fiktiven Standort der „Physiker" zu stellen und zu klären, hier arbeitet er polemisch, offensiv. Er wiederholt seinen Gedanken von der inneren Kraft und Vielgestalt, die in der Einfachheit beschlossen liegt bzw. liegen muß, und bekräftigt ihn im Bild von der Sonne und dem Stern — die doch, naturwissenschaftlich gesehen, ungeheuer komplizierte Gebilde sind, die aber dennoch von der Poesie als Symbol der Schönheit und Ein50
fachheit eingesetzt werden können. Der neue Akzent dieses Gedichts, im Vergleich zu dem vorigen, ist die kaum überhörbare — leicht gereizte — Wehmut, mit der Martynow sagt: Die menschliche Seele hat sich s c h o n l a n g e nach etwas s e h r E i n f a c h e m g e s e h n t (HTO ASBHO CTOCKOBAJIACB/06 oneHb HecjiOÄHOM jnoflCKaa ayiua). Und: das dichterische Schaffen möge darum r i n g e n , m ö g l i c h s t schlicht zu werden (HTO6 T B o p n e c T B o . . . a e p 3 a j i o 6 b i C T a T b n 0 B 0 3 MOHCHOCTH npome). Das russische Verb „ C T O C K O B a T b C f l " sagt mehr als das deutsche „sich sehnen", es bedeutet etwa: sich überaus nach etwas sehnen, sich verzehren vor Sehnsucht, und da es im Aspekt vollendet ist, liegt auf der Aussage Martynows der entsprechende Nachdruck. Wenn man es anders sagen wollte, würde es etwa so klingen: Der Mensch ist des Geredes von der Kompliziertheit seit langem mehr als überdrüssig, er braucht dringend — gerade weil diese Welt so kompliziert ist — den Ausgleich, die Entspannung, und die kann ihm u. a. auch einfache Schönheit der Dichtung bringen. Etwas Ähnliches meinte Johannes R. Becher — allerdings mit einem anderen Bezugspunkt — wenn er für den Revolutionär die Hingabe an das „Wipfelflüstern" 29 als legitimen Wunsch gelten ließ. Becher und Martynow denken nicht im entferntesten an eine Weltflucht, an ein Sich-Verschließen vor den Schwierigkeiten unserer Zeit, es genügt der Hinweis auf ihr Gesamtschaffen. Wir werden sehen, daß andere Dichter — etwa Wosnessenski — zur Frage Einfachheit-Kompliziertheit eine entgegengesetzte Auffassung vertreten. Dennoch, Martynow formulierte in diesem Gedicht ein verbreitetes gesellschaftliches Anliegen, das gerade für die Wende von den sechziger zu den siebziger Jahren so charakteristisch ist und von vielen Schriftstellern immer nachdrücklicher akzentuiert wird. Natürlich ging es auch hier nicht ohne Extreme ab, es wurden Versuche gemacht, etwa dörfliche Rückständigkeit poetisch zu verklären. Dadurch ist aber der berechtigte Wunsch nach Einfachheit und Schönheit in keiner Weise diskreditiert worden. Er bildet eine der Leitideen in Wassili Belows Sind wir ja gewohnt (1966), er klingt an in Rassul Gamsatows Mein Dagestan (1967, 1971), in Ion Drutäs Die Last unserer Güte (1963, 4*
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1968), Die Vögel unserer Jugend (1972), in Aitmatows Der weiße Dampfer (1970) und in anderen Werken, ihm sind viele Gedichte des Kalmücken David Kugultinow und des Balkaren Kajsyn Kulijew gewidmet. Die in den beiden Gedichten Einfachheit und Schöpfertum von Martynow ergründeten Veränderungen in der Psyche des Zeitgenossen, die unbedingt zu einem Teil mit der wissenschaftlich-technischen Revolution zusammenhängen, berühren die Kommunikation Dichtung-Leser. Unter diesem Gesichtspunkt überprüft Martynow auch das poetische Begriffsarsenal, die Metaphorik, z. B. im Gedicht Äther: Ich war im Äther! Dort spielt man auf der Leier, doch womit es endet, ist bekannt! Im Äther ist es eng, unendlich eng . . . Dort stöhnen Saiten, die zu straff gespannt sind, und die Spieler verdrängen einander mit Püffen, Fäusten und Ellenbogen im Nebel, wo mit vollen Händen Sterne verstreut werden, Sterne, die wie Kleingeld aussehen. Ich sage: Im Äther gibt es keinen Frieden, und es gibt ja auch gar keinen Äther und gab es nicht. Mit seinem andachtsvollen Hauch ist er von Einstein widerlegt. 30 Uns interessiert hier weniger der direkte Angriffspunkt — die Unterhaltungskunst, die persönlichen Intrigen der Schlagerstars — als vielmehr die dabei unternommene ironische Entthronung sogenannter „ewiger" lyrischer Metaphern und Bilder (Leier, Äther, Hauch usw.). Daß es im Äther eng ist und es dort keinen Frieden gibt, ja daß der Äther überhaupt nicht existiert — mit dieser Burschikosität konnte das nur zu einer Zeit gesagt werden, wo Rundfunk und Fernsehen zum Alltag gehören, zur Selbstverständlichkeit geworden 52
sind. Gegen überlebte poetische Verklärung ist auch das nicht weniger burschikose Gedicht Alltäglichkeit gerichtet: Oh, Alltäglichkeit du bist weiser als ein Weiser! Sie ist nicht imstande zu träumen. Ich ging, wie in einem phantastischen Roman, die Alltäglichkeit stand an der Vortreppe und ich sagte ihr: — sieh hin: Im K o s m o s spazieren zwei kühne Männer, treten mit ihren Füßen den Mondschein. A b e r die Alltäglichkeit erhob nicht ihr Gesicht: — W o z u hinschauen? V o n hier sind sie nicht zu sehen! — Nein, sie sind zu sehen! — schrie ich ungeniert. A b e r die Alltäglichkeit antwortete: — Deutlicher werden sie später auf dem Bildschirm gezeigt. Und wie ärgerlich das auch sein mag, sie hatte recht. Ich fing nicht an mit ihr zu streiten. 31 Wie aus Martynows Schöpfertum hervorgeht, meint er nicht die generelle Unmöglichkeit poetischer Bilder angesichts des wissenschaftlichen Bildes von der Welt, das immer mehr im gesellschaftlichen Bewußtsein Fuß faßt. Er nennt dort bewußt „ S o n n e " und „Sterne" als weiterhin ausdrucksstarke, ästhetisch „dichte" Worte. Dennoch verweist er auf „Abnutzungserscheinungen" des tradierten Arsenals der Dichtersprache, die zweifelsohne von Wissenschaft und Technik mitbewirkt werden. Der Einbruch kompliziertester Technik in den Alltag der meisten Menschen wirkt über das Alltägliche, „Prosaische" in die Dichtung hinein, damit muß sich ein Lyriker heute auseinandersetzen. Wir haben einige Gedichte aus Leonid Martynows Schaffen der letzten Jahre unter drei Gesichtspunkten untersucht. Erstens interessierte uns die Frage nach den Determinanten in der Psyche des Zeitgenossen der wissenschaftlich-technischen Revolution, eine Frage, die schon in der „Physiker-
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Lyriker"-Diskussion eine Rolle spielte: Sind Naturwissenschaft und Technik der bestimmende Faktor im Denken der Menschen, oder sind es die aus den Gesellschaftsbeziehungen herrührenden sozialen, ethischen Probleme? Martynow erfaßt beides in seiner Einheit, arbeitet aber stets die Dominanz des sozial-ethischen Faktors heraus, er ist für die humane Zweckgerichtetheit von Wissenschaft und Technik letztlich der entscheidende. Als zweites versuchten wir zu erhellen, ob die Bild- und Metaphernstruktur der Lyrik in dem Maße komplizierter wird, wie der Mensch sich daran gewöhnt, in theoretischen, wissenschaftlichen Kategorien zu denken. Martynow wählt vorwiegend relativ einfache Bilder, die allerdings eine große Assoziationsbreite besitzen und somit Menschen unterschiedlicher Bildung gleichermaßen ästhetischen Genuß verschaffen, unabhängig von der Fülle der Vorstellungen, die der jeweilige Leser zu assoziieren in der Lage ist. Angesichts des wissenschaftlichen Bildes von der Welt, das sich immer deutlicher ausprägt und zum alltäglichen Gedankengut breiter Massen wird, bewegt Martynow schließlich, welche poetischen Bilder noch möglich sind. Diese und andere Probleme, vor denen die sowjetischen Lyriker heute stehen, sind noch relativ offen, Martynows Lösungen bzw. Lösungsvorschläge sind nur in wenigen Punkten verallgemeinerbar. Andrej Wosnessenski bietet sich die gleiche Wirklichkeit anders dar, und anders ist bei ihm die poetische Umsetzung dieser Realität.
Komplizierte Wissenschaft — „komplizierte" Lyrik? Der Einbruch von Wissenschaft und Technik in den Alltag zählt zu den stärksten Erlebnissen Andrej Wosnessenskis. Er ist der markanteste Vertreter der — damals — jungen Dichtergeneration, die sich in den sechziger Jahren zunächst hellauf für das „Jahrhundert der Wissenschaft und Technik" begeisterte, der es Spaß machte, auf die Wunder der Technik
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und die Kräfte der Wissenschaft zu bauen. 32 Wosnessenski wäre aber kein sozialistischer Dichter, wenn er nicht die Klassenbedingtheit dieses allgemeinmenschlichen Phänomens Technik begriffen hätte, und das geschah ziemlich schnell. Der Leningrader Kritiker Adolf Urban vermerkt die zunehmend kritische Sicht Wosnessenskis auf das Problem Wissenschaft und Technik. 33 In einem Offenen Brief anläßlich des Erscheinens der Gedichtsammlung Der Blick (1972) sagt er zu ihm: „Die Technik nähert sich in Ihrer poetischen Welt dem Menschen, sie wird von der Moral, der Ethik überprüft. Diese Annäherung vollzieht sich nicht einfach, sie ist konfliktreich." 34 Urban konstatiert aber für den Band Der Blick einen übermäßigen Einsatz von Paradoxa, eine Vermischung von Werten und Begriffen unterschiedlicher Rangordnung und Bedeutung; 35 die Scharfsinnigkeit Wosnessenskis drohe in eine Krise zu geraten, 36 wenn er etwa im Gedicht Wildschweinjagd aufzählt: „Ringsum starben die Kulturen — die Gartenkultur, die Treibhauskultur, die byzantinische Kultur, die maisfarbenen Löckchen Catulls . . ,"37 Wosnessenski weist diese Kritik zurück, er meint, heute gäbe es eher eine Überproduktion an Schalheit denn an Schärfe: „Das Schöne ist nicht das Schale. Die feurige Küche des Schöpfertums mit der Schärfe der Themen und Lösungen ist nicht jedermanns Geschmack. Die Poesie hat daran keine Schuld, der Magen ist einfach nicht darauf vorbereitet. Wenn die Poetik zu scharf ist, so gibt es Gaststätten für Diätkost." 38 Und was die undifferenzierte Reihung von verschiedenen Werten anbelangt, so verteidigt sich Wosnessenski folgendermaßen: „Indermodernen Ironie liegt der Demokratismus des Stils. Das bedroht die Rangordnungen, aber nicht die Werte." 39 In der Tat haben wir bei Martynow gesehen, daß das Eindringen des neuen Alltags der breiten Massen in die Dichtung es notwendig macht, herkömmliche poetische Begriffe zu ironisieren. Die Wertskala ändert sich, aber die Poesie bleibt, und sicher wird sie „demokratischer", d. h. breiteren Massen zugänglicher. Dennoch, der Scharfsinn der Replik Wosnessenskis kann nicht über manches Problematische gerade des Bandes Der Blick hinweg55
sehen lassen. Die Kritik an dem schockierenden Nebeneinanderstellen unvereinbarer Dinge ist unseres Erachtens berechtigt, Wosnessenski ist mit einigem, was er auf diese Weise anhäuft, offensichtlich doch noch nicht ins reine gekommen. Vielleicht ist Der Blick in manchem noch Ausdruck des „Sammelstadiums" neuer, massiert einwirkender Wirklichkeitsfaktoren. Wosnessenski konfrontiert den Leser damit hautnah, zwingt ihn zum Mitsuchen und Mitordnen. Eine Dichtung, so meint er, gibt nur die Methode des Erkennens; jeder wird dann seine Aufgaben — die moralischen, ökonomischen usw. — selbst lösen: Poesie gibt nur die Einstimmung. 40 Wosnessenski tut aber doch entschieden mehr als das, viele seiner Werke widersprechen seinen eigenen Äußerungen. Viktor Schklowski hat recht, wenn er über den Band Der Blick schreibt: „Die Gedichte Wosnessenskis sind voll tragischer Genauigkeit in der Darstellung der Gegenwart." 41 Wir greifen hier drei von ihnen aus dem lyrischen Reisetagebuch über Kanada Hallo, Vancouver heraus: Die Telefonzelle, Klappe den A tlas zu, übermütige Schülerin und Äpfel mit Rasierklingen. Einige Paradoxa der Dichtung Wosnessenskis heben einander darin gegenseitig auf. Das Gedicht Die Telefonzelle ist für unser Anliegen nicht deshalb geeignet, weil es mit dem Vokabular der Wissenschaft und Technik unseres Jahrhunderts arbeitet. In ihm ist vielmehr jene komplizierte psychische Verfassung des Menschen eingefangen, die fast schon zum Alltag gehört und die mehr oder weniger direkt auch aus der technikgeladenen Atmosphäre unserer Zeit resultiert: Durch Moskau jemand streift, und meine Nummer wählt. Horcht und legt auf — getrennt. . . Was möchten Sie? Ein Kilo Reime? Ein Autogramm ins Album? Hallo! . . . Getrennt... 56
Wurde jemand in die natürliche Auslese gebracht? Hallo! . . . Getrennt.. . Oder ist vielleicht ein Engel im Kabel, gekommen, meine Seele zu holen? Wir sind inkommünikabel. Getrennt. . . Oder ist das vielleicht das Gewissen, das mir verlorenging? Und hat die Stimme vergessen? Getrennt . . . Du stehst in einer Endstation der Metro mit bloßem Kopf, und in der Nummernscheibe ist wie in einem Ring Dein Finger eingefroren. Und hinterm Fenster klopft verzweifelt die Menge mit Kleingeld, wie beim Schlangestehen zum Anpassen' von Eheringen. Du bläst in den fernen Hörer, und mein Kragen flattert von deinem Atem wie ein Fähnchen . . . Was ist, mein Taubstummer? Getrennt. . . Die Verbindung des Planeten ist zerrissen. Ich bin vom Rufen müde. Fragen ohne Antworten. Antworten ins Leere. Verbunden. Verbunden. Verbunden. Mit dir. Mit dir. Mit dir. Hallo. Hallo. Hallo. Getrennt. Getrennt. Getrennt. 4 2 57
Das Gedicht hat zwei Steigerungen vom Bericht alltäglicher Lebenssituationen zur poetischen Abstraktion. Jede Steigerung umfaßt fünf Strophen, die Zäsur zwischen beiden liegt in der Mitte des Gedichts. Die erste Steigerung bezieht sich direkt auf das lyrische Subjekt, die zweite hat allgemeineren Charakter. Vier mögliche Gesprächspartner erwägt das lyrische Ich in der ersten Hälfte des Gedichts: einen Autogrammjäger, einen angehenden Dichter (aus der „natürlichen Auslese" hervorgegangen), den Todesengel und das Gewissen — zwei reale und zwei allegorische Figuren. Die vom lyrischen Ich geäußerten Vermutungen haben allesamt einen ironischen Unterton, sie deuten vier Probleme an, mit denen die Realität den Dichter heute ständig konfrontiert : erstens den Literatursnobismus, die Oberflächlichkeit ; zweitens das ernsthafte Interesse an der Literatur, das Wosnessenski mit dem ironischen Verweis auf den genetischen Begriff „natürliche Auslese" gerade nicht als etwas Auserlesenes, „Höheres" verstanden wissen will; drittens die ewige Frage der Sterblichkeit des Menschen, die mit dem kategorischen „wir sind inkommunikabel" einfach weggeschoben wird; viertens schließlich das mehr selbstkritisch gesehene Problem des Gewissens, das seine Stimme verloren hat. Nun könnte man gerade hierzu geteilter Meinung sein, denn wenn jemand in der heutigen Welt ein Gewissen hat, so sind es vor allen anderen die Sozialisten. Aber mit dieser Feststellung allein kann sich ein sozialistischer Dichter nicht zufrieden geben, es ist zu viel an Schrecklichem, was ihm aus dem anderen, größeren Teil der Welt dank der schnellen Kommunikation alltäglich zugemutet wird. Dem Künstler muß man eine so harte Selbstkritik zugestehen, auch in einer Zeit, da die sozialistische Welt alles nur in ihren Kräften Stehende tut, das Unrecht zu bekämpfen, historisch gesehen also das Gewissen der Menschheit repräsentiert. Der Dichter, der tiefer und schmerzhafter empfindet als andere Menschen, spricht auch für sich, und insofern hat er recht. Das Thema des stummen Gewissens wird in der vorletzten Strophe variiert, die daran erinnert, daß gerade auch der bewußt lebende, bewußt Verantwortung tragende sozialistische Dichter schwierige Situationen durchzustehen hat. 58
Die Strophe drückt so gesehen das Gegenteil dessen aus, was bürgerliche Lyriker heute oft artikulieren — die Isolation und Ohnmacht des Dichters. Der da irgendwo in Moskau den Hörer abnimmt, den Dichter mit seinem Anruf aufschreckt, aber keine Antwort gibt, das ist die unabweisbare Wirklichkeit, die immer wieder erkundet und enträtselt sein will, und Dichten ist unter diesen Umständen eben ein Gespräch mit dem noch nicht Erkannten, das nichtsdestoweniger sehr real ist, von dessen Atem der Kragen des Dichters flattert. . . Formal sehr wirksam ist das Getrenntzeichen des Telefons leitmotivisch eingesetzt: der kurze, rasche Hupton, der mit dem russischen „OT6OH" lautlich besser nachgeahmt werden kann als mit dem klangarmen kurzvokaligen „getrennt" oder „besetzt". In der Schlußstrophe ist noch einmal der im Gedicht manifestierte Widerspruch zwischen Notwendigkeit und Schwierigkeit der poetischen Welterkenntnis in formaler, klanglicher Vollendung „zusammengeballt", sie sei der Anschaulichkeit halber im russischen Original zitiert: Cßejio. CBCJIO. Cßejio. C TO6OH. C TO6OH. C TO6OÖ. AJIJIO. AJIJIO. AJIJIO. OTÖOH. OTÖOH.
OT6OH.
Wosnessenski hat mit einem anderen Gedicht (Klappe den Atlas zu .. .) zusätzlich bestätigt: Die vorletzte Strophe der Telefonzelle, wo von der zerrissenen Verbindung des Planeten die Rede ist, tan den Fragen ohne Antworten usw., ist in dem von uns genannten Sinne zu deuten — nicht als Resignation, sondern als Bewußtsein der Verantwortung für den Zusammenhalt des Planeten, als Wissen um die Notwendigkeit ständiger Suche nach neuen Antworten, neuen Fragestellungen. D a ß der Dichter — ein „normaler" Mensch, kein auserlesenes Wesen — dabei auch einmal müde wird, das kann nicht verwundern. Originell, spielerisch spricht Wosnessenski in diesem Gedicht von der Einheit der Welt, deren Widersprüchlichkeit ihm wohl bewußt bleibt: 59
Klappe den Atlas zu, übermütige Schülerin, — es fallt mir leicht, mit dir zu scherzen, — damit die östliche Halbkugel sich auf die westliche legt. Berge und Wasser sind beieinander, der Glockenturm Iwan Weliki ist, wie in eine Messerscheide, in den Brunnen gespießt, aus dem Magellan einst getrunken. Wie zwei Muscheln legen die Stadions von Mexiko und Lushniki ihre steinernen Handflächen aufeinander, um Applaus zu klatschen. Deshalb also können diese Menschen und Gebäude ihre Sehnsucht nicht überwinden — Bretter, mit den Nägeln weggerissen von irgendeinem anderen Brett. Und wenn ich ein wenig trunken mich in einen Kanal stürze stechen mich vom Himmel herab die Tannen, damit ich die Schultern nicht heben kann. Ich fand einen Reifenabdruck auf der Straße von Vancouver, der war von unserem umgestürzten Auto, das bei Alma-Ata zerschellte. Und es hängen wie Fledermäuse über mir mit dem Kopf nach unten — Zeiten, Häuschen und Gedanken, worin auch wir beide lebten. Uns zeigt den Weg ein Hippie. Auf seinem Revers blitzt ein Knopf. Hinter seiner Schulter — wie eine schwarze Geige schreit Hamlets Ärmel. 43 60
Wosnessenski schrieb dieses Gedicht in Kanada, daher die Vorstellung, daß die östliche Halbkugel beim „Zuklappen" des Atlanten über ihm ist. Die moderne bürgerliche Propaganda spricht vielfach von einer einheitlichen sozialen Welt mit gleichen Gebrechen, gleichen Sorgen. Das hat den allzu offensichtlichen Zweck, die Unzufriedenheit der Menschen mit den Widersprüchen des Imperialismus zu paralysieren; der Sozialismus habe die gleichen Schwierigkeiten, heißt es dann. Von einer Einheit der Welt in diesem Sinne kann keine Rede sein. Das Symbol vom „geteilten Himmel" stimmt. Allerdings hat die wissenschaftlich-technische Revolution die Welt kleiner gemacht, sie drängt objektiv zu einem weltweiten Miteinander, dem einzig und allein die Aggressionspolitik des Imperialismus im Wege steht. Hier verliert das Symbol des „geteilten Himmels" seine Gültigkeit. Das historisch längst fällige Miteinander aller Menschen ist die Leitidee des Gedichtes: Beim Zusammenklappen des Atlanten „entdeckt" Wosnessenski Bretter, die ehemals zusammenhingen und mit Gewalt auseinandergerissen wurden; das Bild vom Auto, das sich bei Alma-Ata überschlug und dabei einen Reifenabdruck in Vancouver hinterläßt, deutet auf dringend erforderliche, gemeinsam zu lösende technische Probleme. Nur der Sport hat die Menschen schon sehr eng zusammengeführt, Lushniki und Mexiko klatschen einhellig Beifall. In der letzten Strophe macht Wosnessenski mit einem kühnen und — um mit Schklowski zu sprechen — „tragisch genauen" Bild die Langwierigkeit des noch vor uns liegenden Weges zum einheitlichen Handeln bewußt: Die Befangenheit eines Teils der westlichen Jugend, ihr lautstarker, aber wenig effektvoller Protest gegen die alte Weltordnung hat etwas von Hamlets Ohnmacht. Eines von jenen Gedichten, in denen der Gehalt weniger verschlüsselt ist, in denen Wosnessenski mit weniger überraschenden Assoziationen und dichten Reihungen aufwartet, ist das aller Ironie bare, leidenschaftliche, aufrüttelnde Äpfel mit Rasierklingen. In San Franzisko, beim alljährlichen Volksfest am 31. Oktober, Hallowe'en (Abend vor Allerheiligen) genannt, ist es Brauch, den Kindern 61
Äpfel zu schenken. Als Wosnessenski in den USA war, machte ein unerhörter Vorfall von sich reden: Irgend jemand hatte Rasierklingen in die Äpfel getan . . . Hallowe'en, Hallowe'en — wohin Hollywood?! — den Kindern gibt man Rasierklingen, den Kindern gibt man Rasierklingen! Zum Hallowe'en, zum Hallowe'en, schlendert nach Karnevalsrhythmen herbstlicher Picknick die Wege entlang. Die Luft riecht nach Äpfeln, aber nach Äpfeln mit Rasierklingen. Auf Lippen, von Rasierklingen zerschnitten, ein Schrei. Hallowe'en — das ist der Abschied von Kindheit und Sommer. Wer ist es? — ein Hundesohn? ein Spötter? ein guter Tropf? ein Cherub? Was bist du doch schrecklich, moderne Langeweile! Hallowe'en. . . Du schickst mir Glückwünsche, von Tränen überströmte, Hallowe'enchen, kleiner Scherz, Kindergesicht. Doch die Liebe ist ein Paradiesapfel mit Rasierklingen. Wie oft hab ich hineingebissen, wie oft ihn verschenkt . . . Dank dir, Gott, dank deinen Gebeten ist das Leben ein schönes Geschenk. Hallowe'en. Und die Äpfel mit Rasierklingen und die Äpfel mit Rasierklingen vergibst du uns. Und wir vergeben dir, Herrgott, auch. Aber irgendwann zum Jüngsten Tag wird dich und mich beim Gericht ein lächelnder Engel verhören wollen, ein siebenjähriges Bürschlein mit blutigem Mund ! 44 Mit diesem Gedicht widerlegt Wosnessenski seine eigene Auffassung, Dichtung solle nur Einstimmung geben, aber keine Aufgaben lösen, das täte sie nur manchmal, gleichsam als Hobby. 45 Manche Gegenstände machen eine so distan62
zierte Haltung unmöglich. Wosnessenski zeigt originell und unerhört schockierend eine seit langem geläufige Tatsache: Das Land, das nach außen Mord und Verwüstung trägt, ist auch verbrecherisch nach innen. Die Aggressivität schlägt auf ihren Ausgangsort zurück. Man könnte Wosnessenski höchstens vorhalten, er sei mit der Zeile „Was bist du doch schrecklich, moderne Langeweile!" zu allgemein geblieben ; doch jedermann weiß nur zu gut, wo Langeweile und ebenso öder, abstumpfender Zeitvertreib — beides mit dem sehr „dichten" russischen Wort „cicyKa" ausdrückbar — systematisch, massenhaft produziert werden. Problematisch scheinen allerdings die letzten beiden Strophen, in denen der Autor in seiner Empörung das Jüngste Gericht anruft. Wie allgemein bekannt, sind viele faschistische Verbrecher, von denen jeder manchmal hunderte oder gar zehntausende Menschen auf dem Gewissen hatte, nicht gefaßt bzw. mit Bagatellstrafen belegt worden. Sogar im Falle der SS-Mörder des Lagers Auschwitz — in dem etwa vier Millionen Menschen umgekommen sind —, wurden von etlichen Tausend nur wenige Hundert überhaupt ermittelt. Darin äußert sich weniger Versagen der Gerichte in bürgerlichen Staaten als vielmehr System: Man denke an Medina und Calley, die Mörder von Son-my — in Südvietnam, denen kein Haar gekrümmt wurde. Hinter der — durchaus ungewöhnlichen — Beschwörung des Jüngsten Gerichts durch Wosnessenski steht daher sicher nicht nur der eine ungeklärte und ungesühnte Fall des Unholds, der Rasierklingen in Äpfel tat, sondern die tiefe Erbitterung über die Ungesühntheit der Verbrechen des Imperialismus im allgemeinen. Wiederum wäre zu fragen, ob das Sich-selbstzur-Verantwortung-Ziehen des Autors gerechtfertigt ist, denn obwohl die Mörder namentlich nicht bekannt sind, kennt man doch das System, das sie hervorgebracht. Das an Dostojewski erinnernde Aufsichnehmen des Bösen in aller Welt gehört sicher nicht zur Haltung eines sozialistischen Dichters. Andererseits stand die Losung „Für alles verantwortlich sein" (3a Bce B OTBETE) in der Arbeit der Sowjetschriftsteller seit je an erster Stelle. Nicht umsonst nannte Simonow seinen Dokumentarfilm über die Leiden
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der Kinder Vietnams zur Zeit der amerikanischen Aggression Es gibt kein fremdes Leid (1972). In der außerordentlichen und schon sprichwörtlichen Liebe zu Kindern — einem Charakteristikum der Sowjetmenschen und der Sowjetordnung — liegt sicher ein weiterer Grund für die Erregtheit und das Engagement Wosnessenskis im Falle des „siebenjährigen Bürschleins mit dem blutigen Mund" auf dem Hallowe'enFest in San Franzisko. Martynow und Wosnessenski sprechen auf verschiedene Art das produktive Denken, die assoziative Denkweise an, die von unserer Zeit auf zweifache Weise genährt und gefordert werden — in erster Linie von den sozialen Umwälzungen der Epoche, die weltweit vonstatten gehen und weltweit aufgenommen werden, die bei all ihrer Klarheit im Grundsätzlichen dennoch vielschichtig und im einzelnen kompliziert sind und zu ihrer Veränderung des zielgerichteten, planenden Denkens bedürfen. Parallel dazu wirken auf die produktiv-assoziative Denkkraft des Zeitgenossen die wissenschaftliche Welterkenntnis, die Analyse, die Abstraktion, die technische Umsetzung des Erkannten. Martynow und Wosnessenski aktivieren dabei aber gleichzeitig das soziale Ethos, das Verantwortungsbewußtsein der Menschen für ihr Handeln, dessen Folgen immer weiter in die Zukunft reichen. Beide überprüfen, ironisieren und verwerfen tradierte poetische Bilder und Arbeitsweisen und suchen nach neuen. Martynow tut das in Richtung auf „dichte" Einfachheit, wonach sich der Mensch in unserer komplizierten Zeit schon lange vor Sehnsucht verzehre. Wosnessenski dagegen ist überzeugt, daß das ohnehin erregte und „trainierte" Denken der Zeitgenossen seine verwickelten Gedanken entschlüsselt. Beide finden damit ihr Publikum.
Das Schöpferische in Literatur und Wissenschaft In der „Physiker-Lyriker"-Debatte war die überspannte Forderung laut geworden, der Schriftsteller brauche heute Elementarkenntnisse in Physik, um mit der Zeit Schritt 64
halten zu können. Es gab einen Künstler, der diese Forderung sehr gut erfüllte: der Physiker Daniii Granin. Aber gerade er stellte sich mit seinem Werk auf die Seite der „Lyriker", denn er kannte die Kräfte, die die Naturwissenschaften freisetzten, nur zu gut, um die Bedeutung der sozialistischen Gesellschaft und in ihr der sozialen Ethik hoch genug zu bewerten — wenn auch unter sozialistischen Bedingungen nicht der Fall eintreten kann, daß vor der „schönen Physik" alle Gewissensbisse zum Schweigen kommen (z. B.) bei Enrico Fermi). Zwar nutzt Granin seine physikalischen Kenntnisse in seinem literarischen Schaffen, aber sie sind alles andere als das Bestimmende in seinen Werken. Ihm geht es vielmehr um die allseitige Ausbildung des Menschen, der unter sozialistischen Bedingungen die wissenschaftlichtechnische Revolution planen und beherrschen, der mit dem gewaltigen Instrumentarium von Wissenschaft und Technik eine Welt für den Menschen, den Kommunismus, errichten soll. Granin verband von Anfang an mit seinen Werken die Absicht, die moralische Physiognomie des modernen, d. h. des sozialistischen Menschen mitprägen zu helfen: von der Variante B (1949) über die Bahnbrecher (1954) und Dem Gewitter entgegen (1962) bis zur jüngsten Prosa. Man hat Granin früher mitunter mangelnde künstlerische Gestaltungskraft nachweisen wollen, in einigen Fällen auch nachweisen können. So war sicher der Vorwurf der Kritik berechtigt, die persönlichen, vor allem die Liebesbeziehungen der Figuren blieben meist blaß oder schematisch, gekünstelt. Das gilt auch für ein Werk der gegenwärtigen Schaffensperiode, für die Erzählung Irgendeiner muß es doch tun (1972). Dagegen ist es Granin meist gut gelungen, das Individuum in seinem Verhältnis zur Gesellschaft, in seinem Bezug zur Epoche, in seinen inneren Auseinandersetzungen mit der Welt und der Zeit zu zeigen; hier läßt sich ein künstlerischer Reifeprozeß beobachten. Die kleineren Prosawerke, die in die Sammlung Garten der Steine (1972) aufgenommen wurden, zeigen einen Granin, der die Gestaltungsmittel moderner sozialistischer Prosa souverän, man möchte fast sagen, spielerisch einsetzt, dabei die Verfahren der Darstellung selbst diskutiert (z. B. in Geschichte von einem Gelehrten und 5
Hiersche, Sowjetlit.
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einem Kaiser), von verschiedenen Blickpunkten aus abwechselnd Distanzierung und Einführung erzielt (Der Garten der Steine) oder sich Rat weiß bei einem Gegenstand, über den eigentlich nichts zu erzählen ist (Gedanken vor einem Porträt, das es nicht gibt). Granin ist gegen ein oberflächliches Jonglieren mit dem Vokabular der wissenschaftlich-technischen Revolution, wie es in penetranter Weise etwa in Michail Kolessnikows Roman Industrielle Ballade (1972) geschah. Der Held sinniert dort über das Unabwendbare der wissenschaftlich-technischen Revolution: „Es wimmelt in den metallischen Hirnen elektronischer Rechenmaschinen, es brodelt in Atomreaktoren. Er rief Begriffe ins Leben wie ,Informationsintensität der Arbeit', ,Mathematisierung der Planung und Leitung', ,dynamische Programmierung', ,Kommunikabilität"'. . . Danach heißt es über den Helden: „Er konnte sich kaum zu seinem Bett schleppen und fiel aufs Bett." Ein Rezensent bemerkte dazu sarkastisch: „Davon mußte er ja auch umfallen." 46 Ein solches „Eingehen" der Literatur auf die wissenschaftlich-technische Revolution erfaßt nicht die Problematik. Granin weiß um die „Informationsintensität" des heutigen Lebens, sein Erzählen ist daher mehr lautes Denken, Erwägen, Überlegen, bei sparsamem Einsatz von Mitteilungen über Fakten, selbst in dem dazu prädestinierten Genre des Reiseberichts. So kommt es, daß der Garten der Steine mehr ist als eine Reiseskizze: eine philosophische, vielschichtige Erzählung. Der wichtigste Kunstgriff, dessen Granin sich hier bediente, ist die zweifache Perspektive: die des Journalisten Gleb Fokin und die des Physikers Nikolai Somow. Die beiden Ich-Erzähler — ehemals Klassenkameraden — schildern im Wechsel ihre Eindrücke von Japan. Granin meidet bewußt — und darin liegt ein wesentlicher ästhetischer und philosophisch-weltanschaulicher Vorzug der Erzählung — die platte Gegenüberstellung eines „Lyriker"- und eines „Physiker"-Standpunktes. Der scheinbar „lyrische" Publizist Fokin ist mitunter kaum in der Lage, über eine Beobachtung künstlerisch zu reflektieren, während der scheinbar „nüchterne" Physiker Somow seine Umwelt tief 66
philosophisch erfaßt. Wie in allen seinen Werken arbeitet Granin auch hier auf die Aufhebung des Gegeneinanders beider Standpunkte hin: durch die weltanschaulich-ethische Durchdringung der naturwissenschaftlichen Welterkenntnis und Weltveränderung einerseits und die „Aufladung" der künstlerischen Welterfassung mit dem Bewußtsein des qualitativen Sprungs in Naturforschung und Technik andererseits. Er zeigt das Schöpferische und Notwendige beider Denkweisen, ohne sie miteinander zu identifizieren. Die Betrachtung des „Garten der Steine" in der alten Hauptstadt Japans, Kyoto, durch Fokin und Somow ist in diesem Sinne künstlerisch aufgebaut: Obwohl beide etwas Verschiedenes „sehen" und denken, zielen ihre Gedanken auf ein und dasselbe, auf die allseitige Entwicklung des sozialistischen Menschen. Der Sozialismus ist imstande, den Gegensatz von „Physikern" und „Lyrikern", von naturwissenschaftlichem und künstlerischem gesellschaftlichem Denken zu einem fruchtbaren, dialektischen Miteinander zu bringen und alle hin und wieder aufbrechenden Tendenzen der Wissenschaft und Technik, sich zu verselbständigen, ihren gesellschaftlichen, humanistischen Auftrag aus dem Auge zu verlieren, im Ansatz zu bekämpfen. Das zeigten die „Physiker-Lyriker"-Debatte und alle nachfolgenden Diskussionen, das zeigt überhaupt die sozialistische Gesellschaftspraxis. All dies steht in der Erzählung hinter dem ausgewogenen Blickpunktwechsel Fokin-Somow. In der Reflexion des japanischen Lebens fühlt der Leser jedoch das Auseinanderstreben von wissenschaftlich-technischer Weltveränderung und Humanismus, dargestellt im Widerspruch von profitbestimmter Technikbesessenheit des kapitalistischen Alltags und den angestrengten Versuchen der Menschen, ihr Menschsein mit Hilfe der Kunst aus diesem Alltag zu retten. Hier wird der Ansturm der kapitalistischen Technik wider das Individuum, wider seine Subjektwerdung und das aktive Sich-dagegen-Wehren der Menschen gezeigt. Künstlerisch ist das etwa im Gegensatz zwischen dem Japan der Spielautomaten und dem Japan des „Gartens der Steine" gestaltet, oder — in Verallgemeinerung auf die gesamte imperialistische Welt — in der Gegenüberstellung des „Gartens 5'
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der Steine" mit der Steinwüste des zerstörten Hiroshima. Nun bietet Japan sicher in dieser Hinsicht für den Künstler und Physiker Granin viel Stoff und Anregung, dennoch, auch diese so günstige Wirklichkeitskonstellation hätte durchaus flach und reportagehaft verarbeitet werden können. Wie erreicht nun Granin im einzelnen die tiefe ästhetische Wirkung seiner Erzählung? Im „Garten der Steine" zu Kyoto scheint zunächst der Physiker, der Rationalist Somow paradoxerweise mehr zu sehen als der Künstler Fokin. Beide schauen auf die mit Sand bestreute rechteckige Fläche, aus der fünfzehn Steine herausragen. Somows erste Reflexion erfaßt die steinernen Trümmer Hiroshimas; die scheinbar ewig unveränderliche Gestalt der Steine, Sinnbild des Beständigen, wird relativiert: In der Glut der Atomexplosion schmolzen die Steine Hiroshimas, trieben stachlige D o r n e n . . . Unsere Zeit hat dank des Vordringens von Wissenschaft und Technik in das Wesen der Materie viele „ewige" Vorstellungen zunichte gemacht. Sie hat aber zugleich die Kräfte mobilisiert, die das Einschmelzen der gesamten Welt im Atomblitz verhinderten. Somow erinnert an den schweren Anfang, den die vom Krieg erschöpften Sowjetmenschen machen mußten, damit die USA nicht weitere Hiroshimas und Nagasakis auf der Welt hinterlassen konnten. Gleichsam als Fortführung dieses Nachdenkens über die Kraft des Humanismus setzen nun die Gedanken Fokins ein. Er will jenen Stein unter den fünfzehn suchen, der auf ihn paßt, doch er findet ihn nicht, weil er sich selbst nicht genügend kennt. Das nun angeschlagene Thema des „Erkenne dich selbst", einer alten Weisheit aus Asien, wird von Somow aufgegriffen: Von den fünfzehn Steinen des Gartens sind immer nur vierzehn zu sehen, von wo aus man auch auf sie blickt, stets bleibt einer verdeckt. So sei es auch mit ihm selbst: Fokin halte ihn für einen Rationalisten, seine Mitarbeiter im eigenen Institut nennen ihn dagegen einen Phantasten, und doch gäbe es da noch — wie den fünfzehnten Stein — einen ganz anderen Somow, der alle Leitungsarbeit fahren lassen, sich in eine Klause zurückziehen und forschen möchte. 68
Auch Fokin setzt nun eine Selbstanalyse fort und erkennt, daß er sich in seinem Leben am allerwenigsten über sich selbst Gedanken gemacht hat. Er hat in der Hast des Alltags dieses Wichtige nicht wahrgenommen. Nun entsinnt er sich eines poetischen Jugenderlebnisses: „Ich lag im Gras, betrachtete die Wolken am Himmel und träumte davon, was wohl aus mir werden würde. Ich träumte von einem beschwerlichen Leben und weinte bei der Vorstellung, was für Kränkungen und Kummer mich erwarteten. Furchtlos blickte ich in mich hinein und legte irgendwelche Schwüre ab. Der ganze Himmel war von kleinen Wölkchen übersät, ich betrachtete sie und stellte mich als Erwachsenen von heute vor. Genaugenommen war der Himmel auch ein Garten der Steine gewesen. In jenen Jahren damals konnte alles zum Garten der Steine werden. Und nun saß ich hier im Garten der Steine und vermochte nicht, über mich nachzudenken. Ich konnte es einfach nicht. Ich hatte es verlernt. Bloß gut, daß ich dies wenigstens begriff." 47 Im Wechsel der einander sehr unähnlichen Denkweisen von Somow und Fokin hat Granin das Einheitliche und Große ihres Anliegens sichtbar gemacht: Das Eindringen in das Wesen unserer Welt und des heutigen sozialistischen Menschen muß gleichermaßen wissenschaftlich wie poetisch geschehen. Inmitten der Tageshast, inmitten der Arbeit braucht der Mensch Muße, braucht er die Kraft, sich diese Muße immer wieder zu nehmen: nachzudenken über das Woher und Wohin, über den Zusammenhang der Welt und den Sinn des eigenen Tuns in diesem Zusammenhang. Der Sozialismus bietet dafür die besten Bedingungen, nichtsdestotrotz bedarf es zu deren Nutzung des Willens, der Anstrengung, des unablässigen Denkens. Wie schwer dies dagegen im Kapitalismus zu machen ist, zeigt Granin u. a. am Beispiel des Amüsierbetriebes, der Spielautomaten in Japan. Hier die Stille des „Gartens der Steine" — dort das stählerne Klappern der Automaten, Konzentration des in sich selbst versenkten Menschen einerseits und primitive Zerstreuung, sinnloses Jagen der Kugeln in den Automaten andererseits — all das war Japan. Natür69
lieh habe beides in einem Menschen Platz, auch Somow sei nicht frei davon, und solange ein „Garten der Steine" vorhanden sei, wäre das nicht schlimm. Nur: Im kapitalistischen Japan wird die Oberflächlichkeit bewußt gefördert, Spielautomaten gab es Tausende und aber Tausende. Das Nicht-Denken wird erleichtert und angenehm gemacht. Das Automatenspiel gleicht dem irren Hasten der Zeit, der Sinnlosigkeit dieses Lebens hier, der Jagd nach dem Zufall, dem Erfolg. Die Kostbarkeit des kurzen Menschenlebens, seine gezählten freien Stunden verwandeln sich in nichts. Was mit dem „Garten der Steine" aufgebaut wurde im Menschen, das zerstört der Kapitalismus durch seine Praxis täglich und stündlich. Und er zerstört nicht nur das. In diesem Kontext und vor einem solchen Hintergrund reflektiert Granin immer wieder die große Gefahr unserer Zeit — den Mißbrauch der Entdeckungen der Wissenschaft durch den Kapitalismus. Er zeigt, wie sowohl im Kleinen, im Verflachen des Denkens durch den Amüsierbetrieb, als auch im Großen, in der Wissenschaft, bei den Menschen die Fähigkeit abgebaut werden soll, die Welt als Einheit zu sehen, die Zusammenhänge zu begreifen. Bis zu welchem Grade dann z. B. bei Wissenschaftlern fachliches und gesellschaftliches Denken auseinanderklaffen, zeigt das erschütternde Beispiel des Physikers Oppenheimer, des „Vater der Atombombe". Ohne Kommentar zitiert Granin aus dem Protokoll der Verhandlungen im amerikanischen Kriegsministerium über das auszuwählende Ziel der Atombombe. „Oppenheimer Zur Erreichung eines maximalen Effekts sollte es sich bei den Zielen um dicht bebaute Gebiete handeln. Wünschenswert wären Holzbauten, sie geben auf Grund ihrer Brennbarkeit einen zusätzlichen Effekt. Das Ziel sollten Objekte sein, die bislang noch nicht bombardiert worden sind, damit die Wirkung der Bombe ausreichend zur Geltung kommt. Die Bombe soll ohne vorherige Warnung abgeworfen werden . . . Burd (Stellvertreter des Marineministers) Der Krieg darf nicht durch die Vernichtung von Frauen und Kindern gewonnen werden. 70
Oppenheimer Ich betrachte meine Aussage als technische Antwort des Komitees der Wissenschaftler auf eine vom Präsidenten gestellte technische Frage." 4 8 Naturwissenschaftliche Welterkenntnis, so objektiv und unpersönlich sie ist, realisiert sich nur unter konkreten gesellschaftlichen Bedingungen. Die unpersönlichste Technik ist einfunktioniert in ein soziales System. Die scheinbare Objektivität, wie sie in extremer Form in der Äußerung Oppenheimers hervortritt, ist im günstigsten Falle ein tragischer Irrtum, meist aber Parteinahme für die antihumanistischen Klassenziele des Kapitalismus. Granin wird nicht müde, diese Wahrheit auf immer neue, überraschende Weise künstlerisch zu artikulieren. Im Garten der Steine tut er das, indem er das dialektische Denken, das Denken in weltweiten Zusammenhängen zum ideellen und kompositorischen Zentrum der Erzählung macht. Aus dem bunten, verwirrenden, tausendförmigen Leben des heutigen Japan hat er darum den „Garten der Steine" in Kyoto ausgewählt. Er ist das Symbol der Ruhe, der Selbstbesinnung, der Einkehr, des Zwanges zur Konzentration auf das Wesentliche. Hier lösen sich die Rätsel der Welt des Kapitalismus, hier offenbart sich hinter den vielfaltigen Erscheinungen das Wesen der Welt überhaupt. Das scheinbar Zufällige wird aus seiner Vereinzelung herausgehoben. Die humanistische Zweckgerichtetheit von Naturwissenschaft und Technik, die allein in der sozialistischen Gesellschaftsordnung voll verwirklicht werden kann, tritt immer deutlicher als historisches Faktum und als gegenwärtige Aufgabe hervor. In den Band Der Garten der Steine wurde u. a. auch die Erzählung Gedanken vor einem Porträt, das es nicht gibt aufgenommen. Granin scheint hier mit Granin zu streiten. Hatte' er soeben noch von der Verantwortung des Wissenschaftlers für die Ergebnisse seiner Arbeit gesprochen, so behauptet er nun — scheinbar — das Gegenteil: „Man hält dafür, daß Wissenschaft sich um den Nutzen kümmern muß, und das ist richtig, aber es gibt Wissenschaftler, die die Natur nicht deshalb erforschen, weil das nützlich ist, sondern deshalb, weil die Natur schön ist, wie Henri Poincaré schrieb. 71
Und dieses Gefühl ist sicher notwendig für die Wissenschaft. Es gibt etwas Wertvolleres als das Erzielen eines Resultates, und sogar etwas Wichtigeres als die Wahrheitssuche — das ist der Schaffensprozeß, das Aufgehen in der Arbeit." 4 9 Handelt es sich hier um das gleiche, was Fermi mit der „schönen Physik" meinte, vor der alle Gewissensbisse schweigen müßten? Daniii Granin versucht in der Erzählung, quasi aus dem Nichts die Persönlichkeit des russischen Mathematikers und Physikers Wassili Petrow, der 1802 den Lichtbogen entdeckte, zu ergründen. Von ihm sind nur die wissenschaftlichen Arbeiten sowie einige Papiere aus den Personalakten erhalten geblieben. Es gibt keinerlei Zeugnisse über sein persönliches Leben, keine Biographie. Aus wissenschaftlichen Texten rekonstruiert die künstlerische Vorstellungskraft Granins allmählich das Bild eines bescheidenen, fleißigen, ohne Hoffnung auf Ruhm und Anerkennung zu Lebzeiten arbeitenden Menschen. Aus dem Vergleich mit dem Schicksal anderer berühmter Physiker versucht Granin, Rückschlüsse auf Petrows Leben zu ziehen. So gelingt es ihm, aus Petrows Arbeiten eine wesentliche Dominante des Lebens und Schaffens dieses Wissenschaftlers herauszukristallisieren: Das Bewußtsein Petrows, ein zu früh Gekommener zu sein. Mit niemanden konnte er sich beraten, er arbeitete allein, niemand interessierte sich für seinen Lichtbogen. Und einmal, an einer einzigen Stelle, dringt durch das Gewebe der unpersönlichen, trockenen wissenschaftlichen Sprache Petrows ein Funken Persönliches: „Ich hoffe, daß aufgeklärte und unvoreingenommene Physiker z u m i n d e s t i r g e n d w a n n e i n m a l sich bereit finden werden, meinen Arbeiten jene Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, welche die Wichtigkeit letztgenannter Versuche verdient." 50 Das sollte sobald nicht sein. Im Jahre 1812 erzeugte der englische Physiker und Chemiker Humphrey Davy ebenfalls den Lichtbogen und galt lange Zeit als dessen Entdecker. Petrow wußte davon, tat jedoch nichts, seine Priorität zu verteidigen. Woher nahm er unter all diesen Umständen die Kraft zu seiner Arbeit, wieso verhielt er sich im Falle Davys 72
so gleichgültig? Granin begründet das selbstlose Arbeiten Petrows so: „Das Streben zur Erkenntnis ist in der Natur des Menschen angelegt. Dieses Bedürfnis ist stärker als alle Furcht." 51 Die Erkenntnis verschafft ihm Befriedigung, die vielleicht deshalb vollkommen ist, weil die Erkenntnis der Natur ihm erlaubt, sich ihr und der Ewigkeit anzunähern. 52 Petrow lebt und arbeitet in diesem Sinne. Er gehört nicht zu einem der beiden hauptsächlichen Forschertypen, wie sie in dem leidenschaftlichen Bekenner Giordano Bruno einerseits und dem vorsichtigen Taktiker Galileo Galilei andererseits verkörpert sind. Seine Entdeckung fordert von ihm und der Gesellschaft keine so schwerwiegende Entscheidung. „Ihm war der Prozeß des Suchens selbst wichtig, sein Leben war die Befriedigung darüber, daß er an das Unerkannte gerührt hatte, daß dieses niemandem Bekannte, Unerwartete in seinen Händen gebebt hatte." 53 Hier deutet sich die Antwort auf die von uns gestellte Frage an, ob Granin in der Erzählung über den Physiker Petrow als Fürsprecher einer Wissenschaft auftritt, die weitab von den Bedürfnissen der Gesellschaft, um ihrer selbst willen betrieben wird und deren Gefahren er selbst im Garten der Steine beschrieb. Granin will — das dürfte klar geworden sein — alles andere als das: Es geht ihm um die Poesie der schöpferischen Arbeit des Menschen, um die volle Entfaltung seiner Wesenskräfte im Tätigsein für die Menschheit. Daß Petrow die Menschheit im Blick hat, deutete Granin mit der zitierten Textstelle aus dessen Arbeit an, die den ideell-ästhetischen Schlüssel zum Verständnis der Erzählung enthält. Auch heute, da die Einzelforschung wie ferne, naive Romantik anmutet, da in Riesenunternehmen Tausende Wissenschaftler zusammenarbeiten, verliert das ethische Beispiel Petrows nicht an Wert: „Gelehrte wie Petrow schufen das moralische Klima der Wissenschaft. Ungeachtet der wachsenden Erfolge der Wissenschaft möchte man zu diesen Menschen zurückkehren; sie sind nötig wie ein Kammerton, in ihnen ist das niemals veraltende Maß der Reinheit, Uneigennützigkeit und Poesie bewahrt . . ," 54 Das gehört mit zu der mehrfach erwähnten 73
„ererbten Psyche" des Menschen, die Literatur hier ganz und gar nicht erschüttern will, sondern vielmehr aufgreift, um das Ethos des heutigen Menschen im Sozialismus vertiefen zu helfen. Am1 Beispiel Martynows, Wosnessenskis und Granins konnte bereits angedeutet werden: Die Literatur, die in der „Physiker-Lyriker"-Debatte angesichts der wissenschaftlich-technischen Revolution in Frage gestellt wurde, hat eher an Bedeutung gewonnen, und sie hat ihre Eigenständigkeit gegenüber der wissenschaftlichen Welterkenntnis behauptet und ausgebaut. Von einer wechselseitigen Annäherung beider Formen des gesellschaftlichen Bewußtseins kann keine Rede sein. Die wissenschaftlich-technische Revolution hat die ethische, humanistische Funktion der Literatur nicht nur nicht überflüssig gemacht, sondern noch aktiviert. Das ist einer der wesentlichen Einflüsse, den Wissenschaft und Technik als gesellschaftliche Phänomene auf die Literatur ausgeübt haben. Die Sowjetliteratur ist von der neuen Wirklichkeit — von der Schaffung der Grundlagen des Kommunismus mit Hilfe der wissenschaftlich-technischen Revolution — dazu gedrängt worden, ihre bewährte Tradition — Abbildung und Bildung des schöpferischen Menschen, des Subjekts der Geschichte — weiterzuentwickeln.
Arbeiterklasse und Literatur
Die Weite des Gegenstandes Bis zu welchem Grade die Verwirklichung der welthistorischen Aufgabe der Arbeiterklasse heute gediehen ist, hat in der Literatur ziemlich genau der sowjetische Dramatiker Michail Schatrow mit der Komödie Campanella und der Kommandeur (im Original bei wörtlicher Übersetzung: Das Prshewalskipferd, 1972) erfaßt. Die Handlung ist in einem Sowchos auf dem Neuland in Kasachstan angesiedelt, wo Studenten den Sommer über arbeiten. Der Streit zwischen dem „Kommandeur" der Studentenabteilung Andrej und seinem „Kommissar" Aljoscha, genannt „Campanella", ist der ideell-ästhetische Drehpunkt nicht nur dieses Dramas, er weist möglicherweise sogar auf ein Grundproblem der gesamten heutigen Sowjetliteratur. Andrej und Aljoscha antworten auf die Frage: Was heißt gut leben? Andrej: „Ich möchte, daß jeder hier sein Haus hat, keine gewöhnliche Hütte mit Strohdach, sondern ein hübsches modernes Häuschen aus Holz, Glas und Beton. Ich möchte, daß jede Familie ihren Fernseher und ihren Wagen hat. Daß sie alles, was der Mensch braucht, hier kaufen können. Ich möchte, daß sie die Zeit aus dem Gedächtnis streichen, in der ein Stück Brot Gold wert war. Ich möchte, daß sie Überfluß haben, und ich möchte dazu beitragen . . . Die Ungleichheit soll aufhören, in der Kleidung und in allem anderen. Wenn sich die Leute verschieden anziehen, so soll das einzig von ihrem Geschmack abhängen und nicht von ihren Möglichkeiten. Und um diesen Tag näher heranzuholen, möchte ich, daß unsere Leute hier anständig verdienen." Aljoscha, der das im Prinzip billigt, hält ihm jedoch entgegen: „Hat der Mensch nicht noch Bedürfnisse, die 75
licht nach Kilogramm, Metern und Stück zu messen sind? Was war der Sinn der Revolution? Der satte, disziplinierte Befehlsempfänger, das geschmierte Rädchen, oder der Mensch, der den Willen und die Fähigkeit hat, tatsächlich und nicht nur in Worten das Land mit zu leiten? Beispielsweise. War nicht die Rede von der befreiten Persönlichkeit? Von einem Menschen, der der Wahrheit ins Auge sieht, sich in alles einmischt, der keine Widersprüche fürchtet. Er wird nicht erlauben, daß etwas hinter seinem Rücken geschieht, um dann zu sagen — ,Ich weiß von nichts' — nie wird er Sklave von Gegenständen oder Sklave eines anderen Menschen sein. Und der ganze Sinn unseres Kampfes besteht darin, die Bedingungen zu schaffen, damit der Mensch genau so leben kann. Und ich dachte, wir sind hierhergekommen, um diesen Tag näher heranzuholen." 55 Im Verlauf des Gesprächs prophezeit Andrej Aljoscha, dieser werde es mit seiner Einstellung nicht weit bringen: „Die Menschheit braucht starke Kerle, wie die Armierung verwandeln wir die Menschenmasse in Eisenbeton, wir tragen die Garantie des Fortschritts in uns." 5 6 Beim „Physiker-Lyriker"-Streit ging es um das Verhältnis von Wissenschaft und Literatur, im weiteren Sinne von Wissenschaft und sozialistischem Ethos. Schatrow artikuliert ein nicht weniger brennendes Problem: Sozialistische Ökonomie und sozialistische Ethik, das dialektische Verhältnis von ökonomischen Bedingungen und Menschwerdung des Menschen im Sozialismus-Kommunismus, ausgedrückt in der Frage nach dem „guten Leben", nach dem Miteinander von materiellen und geistig-kulturellen Bedürfnissen des Individuums. In der Gestalt des Andrej erkennen wir unschwer den Typ jenes nüchternen, unsentimentalen, technikbesessenen Juri, den Ehrenburg seinerzeit in der „Physiker-Lyriker"-Debatte kritisiert hatte und für den der Ingenieur Poletajew so vehement eingetreten war. Die mehr als halbhundertjährige Praxis der regierenden Arbeiterklasse hat in der Sowjetunion zu jener Reife der Gesellschaftsentwicklung geführt, die es der Literatur erlaubt, nicht mehr nur den Traum vom schönen Leben für alle Menschen zu gestalten, nicht mehr allein den schweren 76
und schönen Kampf um das Elementare, nicht mehr nur das schmerzhafte Sich-Lösen von der Vergangenheit begreiflich zu machen. Die Sowjetliteratur kann jetzt die Frage nach dem Inhalt des so lang erstrebten schönen Lebens genauer und dringlicher als je zuvor stellen und auf ihre Weise beantworten. Das heißt nicht, daß alle vorangegangenen Entwicklungsetappen des Sozialismus nicht ihre eigene Schönheit hatten, die in klassischen Literaturwerken Gestalt annahm ; die Schriftsteller verwiesen bei alledem jedoch immer auf eine bessere Zeit, da die aus der Vorgeschichte der Menschheit ererbten elementaren Schwierigkeiten geringer würden. Diese Zeit ist jetzt nahe gerückt : Die ewige Sorge des Arbeiters um die Mittel für seine Existenz weicht allmählich einer neuen Sorge: der um die Mittel für seine Entwicklung. 57 Die wissenschaftlich-technische Revolution, die nur unter der gesellschaftlichen Leitung und in der Produktionspraxis der Arbeiterklasse ihre Potenzen zum Nutzen des Menschen entfalten kann, macht heute schon jene Etappe sichtbar, auf der dereinst vielleicht alle Arten der Arbeit auf das Niveau der Kunst gehoben werden. 58 Das Zitat — wie überhaupt das gesamte Drama von Schatrow — warnt aber gerade in diesem Zusammenhang auch vor Illusionen: Die ererbten elementaren Schwierigkeiten werden geringer im Sozialismus, aber sie sind noch lange nicht verschwunden; die Sorge um die Existenzmittel weicht allmählich einer „höheren" Sorge, aber die Menschen im Sozialismus sind ihrer noch längst nicht ledig. Und die Arbeit nimmt andere Formen an, doch sie wird beileibe nicht weniger. Es ist daher nicht paradox, wenn es gerade jetzt in einem Gedicht von Eduardas Miezelaitis heißt : Nur im Schweiße des Angesichtes wird das irdische Glück den Menschen zuteil. So wird die Welt auch bleiben! Und wenn auch! Was gibt es Besseres? 59 An einer anderen Stelle schreibt er: „Mag der Mensch sich mühn. Mag es ihm nicht leicht sein. Die Arbeit macht ihn vollkommener [. . ,]" 60 77
Dieser Gedanke, der zunächst reale Schwierigkeiten unserer Epoche reflektiert, findet sich in vielen Werken: er zielt auf eine allgemeine Aussage über das Leben des Menschen jetzt und in Zukunft. Wir begegneten ihm in Daniii Granins Erzählung über den Physiker Wassili Petrow (Gedanken vor einem Porträt, das es nicht gibt), wir finden ihn in Aitmatows Werken, in Belows Sind wir ja gewohnt, in Koshewnikows Erzählungen. Nicht zufallig notiert ihn auch Christa Wolf in ihrem Gespräch mit dem Genetiker Hans Stubbe: Gerade weil der Mensch sich mühen muß, entwickelt er sich. 61 Der Streit zwischen Andrej und Aljoscha verweist indirekt auf eine zentrale Idee des Marxismus-Leninismus: Der Reichtum der Menschheit sind nicht allein die Dinge, die der Mensch schafft, sondern vielmehr die Gesamtheit der schöpferischen Kräfte der Individuen, die diese Dinge schaffen. Bei Marx heißt es bekanntlich: „In fact aber, wenn die bor-, nierte bürgerliche Form abgestreift wird, was ist der Reichtum anders, als die im universellen Austausch erzeugte Universalität der Bedürfnisse, Fähigkeiten, Genüsse, Produktivkräfte etc. der Individuen? Die volle Entwicklung der menschlichen Herrschaft über die Naturkräfte, die der sogenannten Natur sowohl, wie seiner eigenen Natur? Das absolute Herausarbeiten seiner schöpferischen Anlagen, ohne andere Voraussetzung als die vorhergegangene historische Entwicklung, die diese Totalität der Entwicklung, d. h. der Entwicklung aller menschlichen Kräfte als solcher, nicht gemessen an einem vorhergegebenen Maßstab, zum Selbstzweck macht? Wo er sich nicht reproduziert in einer Bestimmtheit, sondern seine Totalität produziert? Nicht irgendetwas Gewordnes zu bleiben sucht, sondern in der absoluten Bewegung des Werdens ist?" 6 2 Die welthistorische Aufgabe der Arbeiterklasse besteht gerade darin, solche Bedingungen zu erringen und zu sichern, die diese Entfaltung aller schöpferischen Kräfte des Menschen ermöglichen. So gesehen ist die Arbeiterklasse heute die Inkarnation des menschlichen Reichtums und Schöpfertums. Die Standpunkte Andrejs und Aljoschas in i h r e r E i n h e i t repräsentieren die gesellschaftliche Aufgabe der Arbeiterbewegung, das Programm der Partei. Das Pro78
gramm wird von Persönlichkeiten mit vielfaltigen Auffasgen und Interessen ins Leben umgesetzt, das Miteinander dieser Menschen bringt notwendig Konflikte hervor. Schatrow hat einen solchen Konflikt seinem Stück zugrunde gelegt. Wie noch zu zeigen sein wird, gewinnt darin Aljoscha die Oberhand, weil seine Auffassung den Schlüssel zur Vereinheitlichung der beiden Standpunkte enthält und damit dem Ethos der Klasse besser entspricht als die Auffassung Andrejs. Seine Konzeption vereint in sich letztlich doch die höhere Produktivität mit der allseitigen Entfaltung des Menschen. Wenn in der Sowjetunion über Arbeiterklasse und Literatur seit dem Ende der sechziger Jahre diskutiert wird, so steht dahinter zunächst einmal die Forderung an die Literatur, sich dem Gegenstand „Arbeiterklasse" stärker zu widmen, die Veränderungen in ihr wahrzunehmen, zu gestalten und zu befördern. 6 3 Wichtig und von allgemeiner Bedeutung ist die gleichzeitige Aufgabe — das wird nicht immer genügend betont —: die Konstituierung des Ethos der Arbeiterklasse als gesamtgesellschaftliche Moral künstlerisch zu erfassen und voranzutreiben, wie es etwa Schatrow am Beispiel der Studentenbrigade getan hat. Gerade im Hinblick auf die noch zu lösenden Probleme der wissenschaftlich-technischen Revolution bekommen die ethischen Prinzipien der Klasse — als deren hauptsächlichstes hier das Verantwortungsgefühl für die Belange der ganzen Gesellschaft zu nennen wäre — besonderes Gewicht. In diesem doppelten Sinne — Arbeiterklasse als Gegenstand der Literatur und Arbeiterethos als Hauptkomponente des ideellästhetischen Gehalts der Literatur — soll hier von Arbeiterklasse und Sowjetliteratur die Rede sein. Ein weiterer Aspekt der Diskussion — Arbeiterklasse als Leser der Literatur — erfordert breite literatursoziologische Untersuchungen und bleibt deshalb hier außer Betracht. Die führende Rolle der Arbeiterklasse und ihrer Partei in der wissenschaftlich-technischen Revolution liegt im wesentlichen darin begründet, daß die Arbeiterklasse nach wie vor der Hauptproduzent bleibt, mit ihrer wissenschaftlichen Weltanschauung den Gesamtplan der Gesellschafts79
entwicklung besitzt und — wie erwähnt — ihre Moral, Disziplin, Organisiertheit und Geschlossenheit die Durchsetzung dieses Plans garantiert. An dieser Tatsache ändert auch die zahlenmäßige Zunahme der Intelligenz nichts, obwohl hierbei beträchtliche Verschiebungen in der Sozialstruktur vonstatten gehen. Die Zahl der Intellektuellen, der Bürger mit Hoch- und Fachschulbildung, entwickelte sich in der Sowjetunion folgendermaßen: 1939: 1,2 Millionen; 1959: 3,8 Millionen; 1970: 8,8 Millionen. Dieser Zahl stehen heute aber immerhin 62 Millionen Arbeiter gegenüber.64 In der Industrie selbst hat sich das Verhältnis von ingenieurtechnischem Personal zu Produktionsarbeitern von 1:27 bis 28 im Jahre 1928 auf 1:7—8 im Jahre 1966 verändert.6* Gleichzeitig wird das Bildungsniveau der Arbeiterklasse selbst höher. Bis 1980 wird die Mehrzahl aller Industriearbeiter den Abschluß der 10. Klasse — das bedeutet in der Sowjetunion Hochschulreife — besitzen. Innerhalb der Arbeiterklasse vollziehen sich Differenzierungen und Umgruppierungen ; so werden etwa drei Beschäftigungsgruppen immer größer: die operativ Tätigen, Reparaturarbeiter und Einrichter. In manchen Bereichen der Industrie sind die Grenzen zwischen Arbeitern und ingenieurtechnischem Personal fließend. Schon heute sind Arbeiter in automatisierten Betrieben nicht mehr nur mit der intensiven Beobachtung von Schalttafeln beschäftigt, sondern gehen dazu über, Situationen einzuschätzen und Entscheidungen zu erarbeiten. 66 Damit ist die Entwicklungstendenz angedeutet, nicht aber ein bereits heute allgemeingültiger Zustand charakterisiert. Nach wie vor gibt es körperlich schwere oder eintönige, anspruchslose Arbeit. Literatur muß das Ganze, also auch letzteres im Blick haben. Es kann nicht so sein — und solche Meinungen wurden laut 67 —, daß sich der Schriftsteller nur für den Teil der Arbeiterklasse interessiert, der in automatisierten Betrieben arbeitet oder dessen Tätigkeit ingenieurtechnischen Charakter hat. Die gesamte Klasse ist der Träger und Motor der gesamtgesellschaftlichen Moral, und es bedeutete einen Verlust an Realismus, ginge die Literatur daran vorüber. Andererseits heißt das nicht, der Arbeiter soll in der Literatur nur „mit ölverschmierten 80
Händen und schweißigem Gesicht"68 erscheinen, sein Tätigkeitsfeld müsse am Werktor enden.69 Es kommt für die Literatur darauf an, die Gesamtheit der weltverändernden Tätigkeit der Klasse zu erfassen, den Beziehungsreichtum ihrer Arbeit auf jeder Entwicklungsetappe des Sozialismus sichtbar zu machen. Ein so weites Verständnis des Gegenstandes Arbeiterklasse war seit je eine der Hauptquellen, aus denen der breite Strom der klassischen, weltliterarisch bedeutsamen Werke der Sowjetliteratur entsprang — von Gorkis Mutter, dem Klim Samgin, Majakowskis Gedichten und Poemen, über Gladkows, Fadejews, Scholochows, Alexej Tolstois und Leonows Romane, die Dramen Wischnewskis und Pogodins bis zu den Prosadichtungen Auesows und Aitmatows. Von der Höhe literarischer Leistung, die von diesen und anderen Autoren erreicht wurde, muß man bei der Beurteilung gegenwärtiger Prozesse und Diskussionen ausgehen. Hier sind die Vergleichsmaßstäbe gesetzt, unter denen man nicht bleiben kann, sonst verbindet sich allmählich der Problemkomplex Arbeiterklasse und Literatur im Bewußtsein der Leser nur noch mit weniger bedeutenden, sogar zweit- und drittrangigen Werken, die ihr kurzlebiges literarisches Ansehen mitunter lediglich aus einer aktuellen Thematik gewannen. Das wäre ein ideologisch sehr bedenklicher Effekt der gegenwärtigen Diskussionen zum literarischen Gegenstand Arbeiterklasse. Andererseits darf man aber auch nicht — wie es seinerzeit Georg Lukäcs mit der Konzeption vom „großen Realismus" tat — den hohen Maßstab dogmatisch anlegen, die vielfaltigen Versuche und Erkundungen zeitgenössischer Sowjetschriftsteller zum Gegenstand geringschätzen. Literatur lebt und wirkt auf jeder Etappe ihrer Entwicklung nicht nur durch ihre klassischen Schöpfungen, sondern durch einen breiten Strom von Werken unterschiedlicher Qualität, die im einzelnen durchaus partielle Höhepunkte markieren-können. Am Anfang der fünfziger Jahre bildet zweifelsohne Kotschetows Roman Die Shurbins (1952) einen solchen wichtigen Beitrag zur künstlerischen Gestaltung der Arbeiterklasse. Kotschetow erfaßt einen Moment des Um6
Hiersche,' Sowjetlit.
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bruchs in ihrem Leben, der unmittelbar mit Umwälzungen im System der Produktion zusammenhängt. Da das Leben der Arbeiter so eng mit der industriellen Produktion verbunden ist wie bei keiner anderen Klasse oder Schicht, kann Kotschetow die Familie der Shurbins selbstverständlich nicht losgelöst von diesem Hauptfeld ihrer Selbstverwirklichung darstellen. Dennoch hebt sich das Werk aus der Masse der Romane jener Zeit heraus, weil die gesellschaftlichen Probleme als individuelle, menschliche Konflikte erscheinen. Kotschetow versucht damit, an eine Traditionslinie der dreißiger Jahre anzuknüpfen, als die Literatur sich verstärkt dem Gegenstand Arbeiterklasse und Aufbau der neuen Gesellschaft gewidmet hatte. Eine gewisse Enge des Gesichtskreises fällt am Roman allerdings auf, vor allem dann, wenn man ihn neben den weitgefaßten Entwurf stellt, den Galina Nikolajewa mit Schlacht unterwegs (1957) wagte. In ihm fühlt man nicht nur — wie in den Shurbins — den Umbruch in den Produktionsverfahren und dessen Brechung im Bewußtsein, im persönlichen Leben der Menschen, hier bilden die gesamtgesellschaftlichen Veränderungen der fünfziger Jahre die innere Struktur der Handlung. Untrennbar mit dieser Struktur verwoben sind die Schicksale der Bachirew, Walgan, Tina, der Arbeiterfamilie Sugrobin, die ihrerseits als Initiatoren und letztendlicher Sinn aller Entwicklungsprozesse — in der Produktion wie in der gesamten Gesellschaft — erscheinen. Die Schlüsselstellung dieses Romans in der Literatur der fünfziger Jahre ist kaum zu bestreiten. Seine künstlerische Qualität leidet allerdings unter der Überladenheit mit Problemen jener Zeit, er ist dadurch zu weitschweifig, und das beeinträchtigt die Individualisierung einiger Figuren. Wadim Koshewnikows origineller Versuch Darf ich vorstellen — Balujew (1960) geht zum erstenmal den psychologischen Prozessen und den Besonderheiten zwischenmenschlicher Beziehungen nach, die in der Arbeiterklasse, vor allem im Verhältnis Kollektiv — Leiter, unter modernen Produktionsbedingungen zu beobachten sind. Die Handlung wird ersetzt durch die psychologische Zeichnung, die Beobachtung, das Porträt jeder Figur. Darin liegt die Stärke und die Schwäche des Werkes, reicht doch hier 82
die Gestaltungskraft des Autors nicht aus, das Bedeutsame der einzelnen Figur ohne Handlung voll zu erschließen. Gegen Ende der sechziger Jahre greift dann Wil Lipatow wieder das Problem Leiter — Kollektiv auf: im Roman Die Mär vom Direktor P. (1969). Die Größe der ökonomischgesellschaftlichen wie auch der sozialethischen Verantwortung des ehemaligen Arbeiters und jetzigen Leiters Prontschatow werden in Beziehung gesetzt zu den Möglichkeiten und Eigenarten seiner Person. Lipatow berührt brennende Fragen der Dialektik von straffer Einzelleitung und sozialistischer Demokratie. Die Dimensionen, in denen sich das abspielt, wurzeln in Prozessen der wissenschaftlich-technischen Revolution. Der Roman ist erzähltechnisch gut aufgebaut, er besticht vor allem durch die Lebendigkeit der Hauptfigur. Ein gleiches läßt sich von Wladimir Popows Havarie im Stahlwerk (1969) nicht sagen: hier wird durch wenig interessante Figurenzeichnung die Chance vertan, ein aktuelles gesellschaftliches Anliegen künstlerisch zu artikulieren. Überhaupt läßt sich an der Wende zu den siebziger Jahren beobachten, daß der Gegenstand Arbeiterklasse in seinem Beziehungsreichtum, unter dem Blickwinkel der weltverändernden Tätigkeit der Klasse, von der Prosa weit unbefriedigender bewältigt wird als von der Dramatik. Die Entwicklung der Realität, gekennzeichnet durch die rasch ablaufenden Prozesse der wissenschaftlich-technischen Revolution mit ihren sich stellenweise plötzlich zuspitzenden Problemen wachsenden Ausmaßes, die die Aufmerksamkeit weiter Bereiche der Gesellschaft in Anspruch nehmen, scheint der Gattung Drama besonders günstig zu sein. Dafür könnte auch das erneute Aufblühen des operativen epischen Genres der Skizze sprechen, die sich ebenfalls auf dramatische Brennpunkte zeitgenössischer Entwicklung konzentriert. Den Dramen wie Der Mann von draußen (1972) von Ignati Dworezki, dem schon erwähnten Campanella und der Kommandeur von Schatrow und Gennadi Bokarjews Stahlschmelzer (1972) ist offensichtlich das weite Verständnis des Gegenstandes Arbeiterklasse immanent, sie entgehen so der Gefahr, einen nur äußerlich, thematisch charakterisierten „Sonderbereich" der Literatur zu bilden. Alle drei 6'
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genannten Dramen leiten ihre Konflikte von komplizierten Problemen der Sozialismusentwicklung her, deren Überwindung bzw. Beherrschung für die Zukunft entscheidend sind. Für unsere Analyse sind die beiden erstgenannten Dramen besonders ergiebig; Bokarjews Stück ziehen wir zum Vergleich heran.
Humanismus oder Funktionalisierung des Menschen Sagen wir es gleich: Dworezkis Stück Der Mann von draußen70 ist insgesamt gesehen keine große künstlerische Leistung. Das Bestechende daran ist die brennende Aktualität und die überzeugende Aktivität der Zentralfigur, des Ingenieurs Tscheschkow. Im Drama sind aber — trotz der Vielzahl der handelnden Personen — die sozialen Kräfte, die den von Tscheschkow aufgerissenen und ausgefochtenen Konflikt in der Realität tragen und lösen, nur schwach herausgearbeitet. D a wird z. B. keine Parteiorganisation im Betrieb gezeigt, da agieren keine Arbeiter, da machen die Leiter alles unter sich aus. Dramentechnisch unbefriedigend ist: Die Lösung des Konflikts wird gewissermaßen an eine höhere Instanz delegiert, die Schlußszene im Stadtkomitee der Partei hat nahezu den Charakter eines „Deus-ex-machina". Das persönliche Leben des Haupthelden läuft neben der eigentlichen Handlung her, man merkt zu sehr, daß es in diesem Konflikt Nebensache ist und nur dazu dient, der Nüchternheit, dem Rationalismus Tscheschkows ein Gegengewicht zu geben. Dramaturgisch nahezu funktionslos auch der Tod der Frau Tscheschkows: Die Tragik des Todes sozusagen nur schmückendes Detail im Handlungsgefüge — das ist eine unverzeihliche Schwäche des Werkes. Dennoch — das Stück lief und läuft mit großem Erfolg über die Bühnen der Sowjetunion, übers Fernsehen, es löste interessante, heiße Diskussionen aus, die die von uns genannten Schwächen zwar — fast am Rande — vermerkten, aber in den Mittelpunkt etwas ganz anderes stellten. Zweifelsohne, das Drama hat eine große ideellästhetische Wir84
kung ausgeübt, nicht im Sinne eines Bestsellers, einer schnell vergänglichen literarischen Sensation. Denn niemand sagte: Dies ist das hervorragende Literaturwerk unserer Tage. Alle aber waren sich einig: Selten hat ein Werk der sowjetischen Gegenwartsliteratur einen neuralgischen Punkt so getroffen wie dieses. Einen solchen Punkt zu finden, ist allein schon verdienstvoll; ihn so zu fassen, daß das Denken von Millionen — nicht nur in der Sowjetunion — in Bewegung gesetzt wird, das ist keine agitatorisch-publizistische, das ist eine künstlerische Leistung. Das Wichtigste, was über das Drama gesagt wurde, ist paradigmatisch in dem Rundtischgespräch der Zeitschrift Woprossy literatury enthalten. Dieses Gespräch ist in der D D R veröffentlicht, 7 1 wir verzichten hier auf seine Wiedergabe und konzentrieren uns auf die Probleme. Es sind ihrer viele, mehr, als das Stück selbst entwickeln und verkraften konnte. Das scheint für Werke, die thematisch in das vielgestaltige Leben der Gegenwart vorstoßen, charakteristisch zu sein. Ähnlich problemüberladen war Galina Nikolajewas Schlacht unterwegs. Das ästhetische Empfinden des Autors „sortiert" die Fülle der auf ihn eindringenden Eindrücke noch nicht genügend. Wir greifen die vier wichtigsten Diskussionspunkte heraus, die Dworezki provozierte: Ist das Drama ein „Produktionsstück"? In welcher literarischen Tradition steht Tscheschkow? Ist Tscheschkow der „Held der wissenschaftlich-technischen Revolution"? Wie steht es mit dem sozialistischen Humanismus im D r a m a ? In manchen Kritiken über den Mann von draußen vernahm man zwischen den Zeilen oder auch expressis verbis die erstaunte Frage: Ein Produktionsstück — und dennoch so ein Bühnenerfolg? U m die Mitte der fünfziger Jahre tauchte in der Literaturkritik der Begriff „Produktionsroman" auf: damit wurden gewisse schematische Werke charakterisiert, in denen statt Menschenschicksale technische Prozesse im Vordergrund standen. Mit der Zeit wurde dieser Terminus ungerechtfertigt auch dann gebraucht, wenn allgemein von Romanen die Rede war, deren Handlung „in der Produktion", d. h. im Arbeitsleben angesiedelt war. Im Verlaufe der Diskussion „Arbeiterklasse und Literatur" am Ende 85
der sechziger Jahre prüfte man den Begriff erneut auf seinen Gehalt. Der verächtlichmachende Sinn, in welchem er verallgemeinernd angewandt wurde, verfiel der Kritik: Genaugenommen, so hieß es, ist es eine weltliterarische Leistung der Sowjetliteratur, daß sie diese wichtigste Sphäre der menschlichen Tätigkeit literaturwürdig gemacht hat. So gesehen sind Gladkows, Leonows, Malyschkins, Ehrenburgs und Krymows Romane der zwanziger und vor allem dreißiger Jahre auch „Produktionsromane". 7 2 Mit dieser Erweiterung seines Inhalts — die berechtigte Kritik an schematischen Werken war damit nicht zurückgenommen — wurde der Terminus praktisch aufgehoben, d. h. überflüssig. Die Diskussion zu Dworezkis Stück tat einen weiteren wichtigen Schritt zur Klärung des eigentlichen Problems, das hinter dem Hin und Her um den „Produktionsroman" steckte und das auch nach dem faktischen Verschwinden des Begriffes aktuell bleibt: Über die ästhetische Qualität entscheidet nicht das Thema, der Handlungsort des Werkes, sondern vor allem die Art, wie die menschlichen Beziehungen gestaltet sind, ob sie überhaupt gestaltet sind. Die „Produktionsromane" der vierziger und fünfziger Jahre — im ursprünglichen, engeren Sinne des Wortes — waren nicht deshalb schlecht, weil sie „in der Produktion" angesiedelt waren, sondern deshalb, weil statt der Menschen die Technik „handelte". Welche Auffassung zu Dworezkis Drama die Kritiker auch haben mochten, in einem waren sie sich bemerkenswerterweise einig: Das verächtliche Verhalten zu Werken, in deren Mittelpunkt Konflikte aus der Sphäre der täglichen Arbeitsbeziehungen stehen, ist Snobismus. 73 Die einhellige Konstatierung dieser scheinbaren Selbstverständlichkeit widerspiegelt einen Fortschritt in der Literaturkritik, die Überwindung einer zeitbedingten Enge, die viele Schriftsteller zumindest nicht ermutigt hatte, zu zentralen Fragen in diesem wichtigsten Lebensbereich des Menschen vorzustoßen. Hier zeigt sich aber auch ein Erfolg der Literatur selbst. Die so spröde, ästhetisch schwer zugängliche Materie des Produktionsalltags wird allmählich bewältigt. Das künstlerische Instrumentarium der Literatur des sozialistischen Realismus hat sich in jahrzehntelanger Praxis, 86
nach vielen — heute mit Recht verlachten — Mißerfolgen so weit entwickelt, daß mit ihm die menschlichen Beziehungen und psychologischen Prozesse von dem produktionstechnischen Kontext immer deutlicher abgehoben werden können. Die Schriftsteller, zusehends weniger belastet von Vorurteilen gegenüber der sogenannten Produktionsthematik, erschließen neue Wirklichkeitsbereiche und Dimensionen menschlicher Selbstverwirklichung. Im Leben, auch im scheinbaren Einerlei des Alltags, geht es dialektisch zu, und die Dialektik dieses Lebens interessiert die Sowjetliteratur, sie enthält die Poesie, die der Schriftsteller freisetzen muß. Ein Gedanke aus der Bestimmung der sozialistisch-realistischen Methode muß hierbei immer wieder erinnert und neu erwogen werden: Literatur soll die Wirklichkeit in ihrer revolutionären Entwicklung zeigen. Hier liegt der Schlüssel zur künstlerischen Bewältigung aller Gegenstände der Literatur, auch der vielumstrittenen „Produktionsthematik". Um noch ein letztes Argument dafür vorzubringen, daß diese Thematik den künstlerischen Rang eines Werkes nicht beeinträchtigt, wenn nur die mit ihr verbundene menschliche Problematik sichtbar wird und deren ästhetische Gestaltung überzeugt: Handelt nicht auch Aitmatows wunderbare Liebesgeschichte Djamila nur in der Sphäre der Arbeit, körperlich schwerer Arbeit unter harten Bedingungen sogar? Die Frage, ob Dworezkis Drama ein „Produktionsstück" ist, dürfte nach alledem mit „nein" zu beantworten bzw. als falsch gestellt zurückzuweisen sein. Es geht in ihm um die Entfaltung des Menschen unter bestimmten Bedingungen der Sozialismusentwicklung. Das Vorurteil, das sich hinter der Bezeichnung „Produktionsstück" verbirgt, läßt sich auch durch den Hinweis auf die literarische Tradition, in der Tscheschkow, die Hauptfigur des Dramas, steht, entkräften. Dworezki sagt über das Werk und seinen Helden: „Es ist das Schicksal oder die Geschichte eines jungen Menschen, eines jungen Ingenieurs, eines Kommunisten, der sich selbst — und das sollte man unterstreichen — in schwierige produktionsmäßige und menschliche Umstände versetzt hat. Er hat diese Schwierigkeiten selbst gesucht, weil ein ruhiges und wohlgeregeltes 87
Leben für ihn uninteressant ist. Tausende, Hunderttausende junger Menschen haben das gleiche Streben." 74 Dieses Ethos, in unserem Jahrhundert vor allem für die revolutionäre Arbeiterklasse charakteristisch, hat Tscheschkow gemein mit Gleb Tschumalow und Dascha aus Gladkows Zement (1925), mit Pawel Kortschagin aus Ostrowskis Wie der Stahl gehärtet wurde (1934), mit dem Mechaniker Bassow aus Krymows Tanker „Derbent" (1938). So wie Tscheschkow handelten Woropajew im Roman Das Glück (1947) von Pawlenko, Bachirew in Schlacht unterwegs von Nikolajewa, Krylow in Granins Dem Gewitter entgegen (1962) und viele andere Helden der Sowjetliteratur. Tscheschkow verkörpert den sozial aktiven Menschen der Zeitenwende, den die sowjetische Wirklichkeit hervorgebracht und dem die Sowjetliteratur ihre besten Werke gewidmet hat. Die Absage an das passive Sich-treiben-lassen, die er sich selbst und auch dem neuen Kollektiv, das er leitet, abverlangt; der Wille, die Wirklichkeit nicht so zu lassen, wie sie ist; die Menschen daran zu hindern, so weiterzuleben, wie sie es gewohnt sind — diese Aktivität wurde von den meisten Kritikern als der beste Charakterzug an Tscheschkow bezeichnet. Die soziale Aktivität Tscheschkows ist jedoch gebunden an eine gewisse kühle Nüchternheit, die den anderen von uns genannten Helden der Sowjetliteratur nicht eigen war. Liegt darin eine Gesetzmäßigkeit der gegenwärtigen Entwicklungsetappe des Sozialismus in der Sowjetunion, ist diese Nüchternheit eine notwendige Bedingung, um die ökonomischen Ziele unserer Gesellschaft heute zu erreichen? Macht diese Eigenschaft Tscheschkow gar zum „Helden der wissenschaftlich-technischen Revolution"? Damit sind wir bei der dritten Frage, die Dworezki mit seinem Stück provozierte. Der sowjetische Kritiker Felix Kusnezow hat auf den Kardinalfehler solcher Überlegungen aufmerksam gemacht: Die positive s o z i a l e Funktion Tscheschkows kann nicht auf eine t e c h n i s c h e Funktion zur Reorganisation der Produktion eingeengt werden, man muß ihren sozial-ethischen Aspekt im weitesten Sinne hervorheben. 75 88
Dworezki gab aber mit seinem Tscheschkow allen Anlaß zu Folgerungen, er rechtfertige übertriebene Nüchternheit, Kälte, technizistischen Pragmatismus. Als Tscheschkow z. B. gesagt bekommt, die Fabrik, in der er tätig ist, habe im Krieg unter Feindbeschuß gearbeitet, die Leiter waren Offiziere, und deshalb müsse er lernen, die Vergangenheit des Werkes zu achten, antwortet er schroff: „Mich interessiert die Zukunft." 7 6 Oder nehmen wir das Gespräch über Gramotkin, den ehemaligen Leiter der Abteilung. Schtschegolewa: „Man liebte ihn wegen seiner Güte." Tscheschkow: „Ich verstehe nicht." Schtschegolewa: „Wegen seiner Menschlichkeit." Tscheschkow: „Ich verstehe nicht. Worin besteht die Güte? Worin die Menschlichkeit?" 77 Für Tscheschkow ist allein entscheidend, daß der alte Leiter, sein Vorgänger, den Plan nicht erfüllt und diese Tatsachejahrelang vertuscht hat. Nur daran mißt er dessen Wert als Mensch. Er ist schroff, verteilt empfindliche Strafen, er hat in der Tat alle die Eigenschaften, die einige Kritiker an ihm bemängelten. Dworezki selbst sagt: „Die Epoche der wissenschaftlich-technischen Revolution gibt viel, aber sie fordert auch viel. Vor allem exakte Disziplin in der Durchführung und hohes Fachwissen." 78 Dennoch, Tscheschkows Funktion ist umfassender. Reduzierte sie sich wirklich nur auf das, was manche Kritiker herausgestellt hatten, wir brauchten über ihn nicht zu reden. Tscheschkow ist aber nicht der Held der wissenschaftlich-technischen Revolution oder gar der „Epoche der wissenschaftlich-technischen Revolution": Erstens, weil diese Revolution sich immer unter konkreten Gesellschaftsverhältnissen — in unserem Falle sozialistischen — vollzieht, weil Tscheschkow von diesen Verhältnissen geprägt und eben n i c h t zu vergleichen ist mit einem technokratischen Manager aus der kapitalistischen Welt, wie ein sowjetischer Kritiker besorgt durchblicken ließ. 79 Zweitens — und das ergibt sich daraus —, weil er bei aller Kühle und Berechnung eine wichtige sozialethische, nicht nur produktionstechnische, Funktion ausübt, 89
weil er damit sozialistischen Humanismus unter den Bedingungen des entwickelten Sozialismus repräsentiert, verteidigt und durchsetzt. Und entwickelter Sozialismus ist ohne wissenschaftlich-technische Revolution nicht denkbar. Damit wären wir bei der vierten, der zentralen Frage, die Dworezki herausgefordert hat und deren Beantwortung letztlich das „Geheimnis" seiner künstlerischen Leistung und des Publikumserfolgs erklärt: Worin besteht der Humanismus Tscheschkows? Vor allem darin, daß er in der Sache recht hat: Ohne eine hochentwickelte ökonomische Grundlage gibt es heute keine allseitige Ausbildung der menschlichen Persönlichkeit. Ohne eine kontinuierliche, rentable Produktion ist diese ökonomische Grundlage nicht zu schaffen. Der Humanismus tritt gerade dort zutage, wo Tscheschkow besonders hart und unnachgiebig erscheint. Er ist entschieden gegen eine Planerfüllung, die durch Überstundenarbeit erzwungen wird: „Wir haben keine Möglichkeiten. Da sind Menschen. Auf ihrem Buckel, mit ihrer äußersten Anstrengung könnten wir auch vierhundert Tonnen bringen. Aber das ist Arbeit auf Verschleiß. Um jeden Preis. Und nach uns die Sintflut. Darauflasse ich mich nicht ein." Als ihm darauf vorgehalten wird, es sei unbedingt nötig, man sei doch schließlich Kommunist, verbittet sich Tscheschkow die Vertuschung eigenen Unvermögens mit politischen Losungen. Ja, er sei Kommunist, aber er bleibe dabei: „Arbeit auf Verschleiß ist verbrecherisch. Unökonomisch, antiwissenschaftlich, teuer." 8 0 Hier zeigt sich in der Tat ein qualitativer Unterschied zu den zwanziger und dreißiger Jahren, wo die extensive Arbeit Ausdruck höchsten Heroismus und Humanismus, weil lebensnotwendig, war. Der Beginn des Umschwungs zum Heroismus der gut organisierten, rationalisierten Arbeit wird in der Literatur durch Juri Krymows Roman Tanker „Derbent" (1938) gestaltet. Anfang der sechziger Jahre kann Pawel Balujew in Koshewnikows Roman bereits nüchtern feststellen, er halte nichts von heroischem Einsatz in der Arbeit. Heroismus zeige lediglich an, daß die Arbeit schlecht organisiert war. Mit Heroismus meint er das, was unter dem berüchtigten „Feuerwehreinsatz" verstanden wird. Für 90
Tscheschkow ist ein solcher „Feuerwehreinsatz" nicht mehr nur schlecht, sondern verbrecherisch. Die emotionale Aufladung dieses Satzes aus dem Munde des nüchternen Tscheschkow ist unüberhörbar, denn er sagt zuerst „verbrecherisch", dann erst qualifiziert er eine solche Stoßarbeit wieder mit wissenschaftlichen, sachlichen Termini — sie sei unökonomisch, teuer usw. Kein Wunder, daß Dworezki damit beim sowjetischen Publikum, das ja entsprechende historische Erfahrungen besitzt, eine so große Wirkung erzielte. In ähnlicher Weise äußert sich Tscheschkows Humanismus, als er vierzig Gesuche um unbezahlten Urlaub von jeweils fünf bis sechs Tagen — wegen Reisen, Gartenarbeit u. a. — ablehnt. Sein Vorgänger Gramotkin, heißt es, wäre da menschlicher gewesen, er hätte solche Bitten nie abgeschlagen. Schtschegolewa, die Leiterin des Büros für wirtschaftliche Rechnungsführung, die Tscheschkows Vorgehen gutheißt, begründet vor anderen diese Absage: „Zuerst geben Sie ihnen frei, dann ziehen Sie sie zu doppelt bezahlter Überstundenarbeit heran, auf Kosten der Rentabilität der Abteilung. Aus Kopeken werden Rubel. Tscheschkow hat recht. Wir haben sehr hohe Selbstkosten. Und das schlägt auf die gleichen Arbeiter zurück. Für sie ist die Prämie ein Drittel ihres Verdienstes. Aber Prämien haben wir nicht. Was soll man hier tun? . . . Wir haben völlig durcheinandergebracht, wo es ums Eigene, wo es ums Volkseigene geht, wo die Sorge um den Menschen beginnt und wo das ursprüngliche Chaos . . ." 8 1 Klarer konnte es Dworezki gar nicht sagen, wer im eigentlichen Sinne humaner ist — der „menschliche" Abteilungsleiter Gramotkin, oder der harte, unnachgiebige Tscheschkow. Oder nehmen wir jenen kritischen Punkt der Handlung, da der Leiter der technischen Kontrolle gesteht, er habe in den laufenden Berichten über die Planerfüllung tausend Tonnen G u ß zuviel angegeben, damit die Arbeiter ihren Lohn bekommen. Darauf Tscheschkow: „Aber Sie haben die Arbeiter auch betrogen. Sowohl in allgemein politischer wie in materieller Hinsicht : Sie haben sie schlecht ernährt. Sie haben so viele Male Enthusiasmus bewiesen. 91
Ist es für uns nicht höchste Zeit, sie leiten zu lernen? Warum sollen die leiten, die nicht leiten können?" 8 2 Schließlich sei noch an jene Szene erinnert, die den dramatischen Höhepunkt des Stückes bildet: Während einer Besprechung verlassen mehr als ein Dutzend Leiter ostentativ den Sitzungsraum, mit dem Willen zu kündigen. Bei genauem Hinsehen verlangt Tscheschkow von ihnen ganz und gar nichts Übermenschliches, sondern nur das Einfachste, das Elementarste, das zu normaler Arbeit gehört: Ehrlichkeit und Pünktlichkeit in der Berichterstattung, genaue Arbeitseinteilung, Einhaltung gewisser Normen der Organisation. Ungewöhnlich ist nur: Tscheschkow teilt bei Verstößen sofort empfindliche Strafen aus — Rügen, Prämienentzug usw. Die Szene spricht insgesamt für Tscheschkow, es bedurfte nicht der nachträglichen Bestätigung dieses Sachverhalts am Schluß des Stückes, in der Sitzung des Stadtkomitees der Partei, wo es heißt: Das war Erziehung des Kollektivs, wie sie dringend vonnöten ist. 83 Ohne Zweifel, die Sache, die Dworezki mit Tscheschkow verficht, ist zutiefst humanistisch, sie ist wesentlicher Bestandteil des realen Humanismus auf der heutigen Entwicklungsetappe des Sozialismus. In der Diskussion hat Kulagin, der Direktor der Swerdlower Vereinigung für Werkzeugmaschinenbau, gerade in dieser Hinsicht eine Lanze für Tscheschkow gebrochen — aus fundierter Kenntnis der Realität. Er warnt davor, bürgerliche Theorien über den ahumanen Charakter der „maschinellen Zivilisation" nachzuplappern: „Ja, heute erfordert die .maschinelle Zivilisation' Disziplin und nimmt dem Menschen einen bestimmten Teil jener Freiheit, die der Höhlenmensch besaß. Man darf aber nicht vergessen, daß die gleiche Maschine, in den Dienst des sozialistischen Ideals gestellt, Millionen Menschen die Freiheit von Hunger, die Freiheit von Kälte und die Freiheit gab, in zwei Stunden nach Sotschi zu fliegen. Diese Freiheit — die Freiheit für alle — muß mit organisierter Arbeit bezahlt werden . . . Wenn manche Menschen den sozialistischen Humanismus als unbeschränkte Möglichkeit zur Nutznießung der von der modernen industriellen Organisation gebotenen Vorteile auffassen und gleichzeitig von der 92
Disziplin, ohne die eine solche Organisation nicht funktionieren kann, frei sein wollen, muß man dagegen protestieren . . . So gesehen, ist Tscheschkow zur rechten Zeit in unserer Literatur erschienen." 84 Das ist die Realität, an der ein Kunstwerk in erster Linie gemessen werden muß. Aus ihr schöpft Dworezki und auf sie wirkt er zurück: Der Humanismus schließt nicht nur den Gebrauch der Errungenschaften der sozialistischen Gesellschaft ein, sondern deren fortwährende Erzeugung in allen Lebenssphären, so auch in der wichtigsten, der materiellen Produktion. Diese humanistische Grundorientierung des Stücks sowie das hohe sozialistische Ethos Tscheschkows, von dem wir schon sprachen, sein freiwilliges Suchen des Schwierigen im Leben sind wichtige Ursachen seines Erfolges, aber sie sind es nicht allein. Tscheschkow stieß beim Publikum auch auf Widerstand. Dworezki hat einen neuralgischen Punkt berührt und damit die ganze Gesellschaft in Aufruhr versetzt: Sein Tscheschkow bewegt sich auf jener feinen, kaum wahrnehmbaren Grenze zwischen lebensnotwendiger ökonomischer Konsequenz, die jeder bejahte und begrüßte, und schon nicht mehr notwendiger Reglementierung, Funktionalisierung des komplizierten Wesens Mensch, die auf heftige Ablehnung traf. Damit mußte er das gesellschaftliche Bewußtsein aktivieren. Die Reaktion der sowjetischen Kritik und der Zuschauer zeigt die Reife dieses sozialistischen Bewußtseins, das fast zu einem neuen menschlichen Instinkt geworden ist. Die Wirtschaft soll möglichst reibungslos funktionieren, und jeder Schritt in dieser Richtung wird aus vollem Herzen unterstützt, aber dieses reibungslose Funktionieren muß von Menschen organisiert werden, die nicht ununterbrochen genau, sachlich wie Maschinen arbeiten können. In dem komplizierten System Mensch-Technik, das sich ohne Havarien bewegen muß, soll die Gesellschaft nicht Schiffbruch erleiden, ist der Mensch das Subjekt und wird es bleiben. Dafür wird letztlich der Kommunismus aufgebaut. Wie ein Seismograph hat der neue, der sozialistische Instinkt der Sowjetmenschen registriert, daß Dworezki hier einen Schritt zu weit gegangen ist. In eine Richtung, an deren Endpunkt kaum der 93
Kommunismus steht. Kommunismus bedeutet in erster Linie allseitige Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit, zu der natürlich vorrangig Produktionsdisziplin, Gesellschaftsdisziplin gehört — Bedingung der Freiheit und zugleich Teil der Freiheit des kommunistischen Menschen. Die Richtung, in die Tscheschkow jenen — wenn auch fast unmerklichen — Schritt tut, führt am Ende auf den reibungslos funktionierenden homo technicus zu, den Huxley in seiner Schönen neuen Welt karikierte. Man kann Dworezki selbstverständlich nicht unterstellen, daß er seinen Tscheschkow bewußt so angelegt hat, das dürfte aus allem von uns Gesagten deutlich geworden sein. Die Reaktion eines Großteils der Kritiker und der Zuschauer aber zeigt an, daß die objektive Wirkung der zentralen Figur auch diese Komponente hat. Ideell-ästhetische Wirkung sozialistisch-realistischer Literatur schließt das Mobilisieren gesellschaftlicher Aktivität zur Abwehr unerwünschter Entwicklungen in sich ein. Spätestens hier drängt sich der Vergleich zu Gennadi Bokarjews Drama Stahlschmelzer85 auf. Der Stahlwerker Lagutin ist in seiner kompromißlosen Haltung Tscheschkow verwandt, auch er hat in der Sache recht, weil er gegen Schlamperei in der Produktion angeht, auch er beachtet dabei nicht menschliche Eigenarten und Schwächen. Er verdrängt rücksichtslos den Meister Sartakow — objektiv berechtigt, aber in einer Art, die den alten Arbeiter, der sein Leben lang ehrlich dem Werk gedient hat, tief beleidigt. Im Unterschied zu Dworezki hat Bokarjew allerdings die Distanzierung von seinem Helden nicht allein dem Publikum überlassen — der Autor selbst sieht seine Figur kritisch. Zu diesem Vorteil des Stückes gesellt sich noch ein zweiter, inhaltlicher: Lagutin wird nicht von einem Deus-ex-machina gerettet; er scheitert, allerdings hat seine Haltung, die partielle Berechtigung seines Vorgehens, im Kollektiv Veränderungen eingeleitet, die — das beweist die Schlußszene — daraufhindeuten, daß sein Scheitern nur zeitweilig sein wird. Das wirkt lebensechter und überzeugender als Dworezkis Lösung. Wesentlich ist in unserem Zusammenhang die Grundrichtung der ideell-ästhetischen Funktion beider Werke: für die allseitige Ausbildung der menschlichen Persön94
lichkeit, gegen ihre totale Funktionalisierung im System ökonomischer Beziehungen, für Einheit von ökonomischer Konsequenz und konsequenter Respektierung des Individuums, des ganzen Menschen. In der Literatur der D D R steht der Operationsforscher Hermann Radek aus KarlHeinz Jakobs' Roman Die Interviewer vor einem ähnlichen Problem, als nach seinen Berechnungen der Abteilungsleiter Alfred Baumann diejenige Größe im Produktionsprozeß ist, die eliminiert werden muß, um die Produktivität zu erhöhen, den Ausschuß zu senken usw. Aber dieser Alfred Baumann ist ein Aktivist der ersten Stunde, er hat jahrzehntelang alles gegeben für die Sache des Sozialismus, er ging immer dorthin, wo er gebraucht wurde, ohne Rücksicht auf persönliche Interessen. Baumann sagt zu Radek: „Selbstverständlich geschieht mir Unrecht, . . . aber du bist nicht bestellt, um nach Recht oder Unrecht zu forschen, sondern dazu, die Arbeitsproduktivität zu steigern. Du hast herausgefunden, daß ich schlecht arbeite, du hast erkannt, daß ich nicht imstande bin, mich der neuen Situation anzupassen. Da ist es selbstverständlich, daß der Platz geräumt werden muß, der von so einem Mann blockiert wurde. Das ist normal und natürlich. Unnatürlich ist, daß du Gewissensbisse hast." 8 6 Ob unnatürlich oder nicht, Radek gerät durch den Zwiespalt zwischen wissenschaftlicher Einsicht und dem Gefühl, einem im Grunde großartigen Menschen Unrecht zu tun, in eine tiefe persönliche Krise. Er muß begreifen, daß das Individuum im Koordinatensystem der Operationsforschung nur teilweise aufgeht. Gerade um die Dimensionen des Menschen, die in die Systemanalyse nicht hineinpassen, ging auch die erregte Diskussion über Dworezkis Stück in der Sowjetunion, daraus resultiert die Distanz Bokarjews zu seinem Helden Lagutin. Der kurze Blick auf andere Werke hat bestätigt, daß Tscheschkow nicht nur eindeutig positiv, gewissermaßen nur als Träger einer ökonomischen Notwendigkeit, bewertet werden kann, wie es in Rezensionen in der D D R geschah. 87 Dworezki hat mit ihm einen fruchtbaren Widerspruch der Sozialismusentwicklung bewußt gemacht, der nicht mit einemmal zu beseitigen ist, dessen Überwindung eine immer95
währende Aufgabe bleibt: die Dialektik zwischen der ständigen Erhaltung und Erweiterung der Ökonomie als Grundlage für die Entfaltung der Persönlichkeit einerseits und der allseitigen Entwicklung des Individuums selbst andererseits, einer Entwicklung, die sich nicht allein im Prozeß der Produktion vollzieht, sondern vielmehr in der Gesamtheit der Gesellschaftsbeziehungen der Menschen realisiert. An dieser Dialektik ist wie kaum an einem anderen Objekt der fundamentale Unterschied zur Lage des Menschen im heutigen staatsmonopolistischen Kapitalismus demonstrierbar. Hier können jene Theorien von der entideologisierenden Rolle der wissenschaftlich-technischen Revolution, von einer Vermischung der Grenzen zwischen den Gesellschaftssystemen durch Wissenschaft und Technik anschaulich widerlegt werden. Nimmt man das Drama Der Mann von draußen von Dworezki in seiner Einheit mit der Leserreaktion, in seiner Komplexität von Künstlerintention und tatsächlich erzielter ideell-ästhetischer Wirkung, so hat es an diesem zentralen Punkt ideologischer Auseinandersetzung unserer Zeit Wesentliches geleistet. Im Kapitalismus werden die Arbeiter durch die wissenschaftlich-technische Revolution perfekter als zuvor in den Kapitalverwertungsprozeß einfunktioniert, damit nimmt auch die Entpersönlichung zu — sowohl bei jenen, die in diesem Prozeß arbeiten, wie erst recht bei jenen, die von ihm als Arbeitslose praktisch als Menschen ohne Daseinsberechtigung und Lebenssinn ausgeschieden werden. Der Sozialismus hat von seinem Wesen her die Kräfte in sich, auch die durch Wissenschaft und Technik revolutionierte Produktion zum Nutzen des gesellschaftlichen Organismus wie des Individuums zu beherrschen. Zu diesen Kräften gehört nicht allein die gesellschaftliche Planung und Leitung der Produktion, sondern auch die fortwährende philosophisch-weltanschauliche wie künstlerische Selbstverständigung über die damit zusammenhängenden sozialen Prozesse bis hin zu den individuellen Problemen. Dabei werden Widersprüche aufgedeckt, bewußt gemacht, Aktivitäten zu ihrer Lösung mobilisiert. Eine solche Selbstverständigung findet auch im Kapitalismus statt, sie wird sogar gefördert, aber sie bleibt folgenlos, 96
weil sie meist nur die Symptome des Systems, nicht dessen innere Bewegungsgesetze zum Gegenstand hat. Symptomkritik, so scharf sie auch sein mag, ändert nichts an der realen Funktionalisierung des Menschen im bestehenden ökonomischen System. Die künstlerische Auseinandersetzung um die Stellung der Produzenten in der sozialistischen Gesellschaft hingegen kann sich auf die bereits stattgehabte Lösung des Hauptwiderspruchs zwischen gesellschaftlicher Produktion und privater Aneignung stützen. Sie vermag daher um so erfolgreicher die Potenzen des sozialen Organismus wie des Individuums wider alle Tendenzen zu aktivieren, den Menschen — scheinbar zum Nutzen des Ganzen — nur als Teil eines rationell organisierten ökonomischen Zusammenhangs zu sehen. Die erwähnten literarischen Werke zeigen an, daß Literatur als realer Faktor im System gesellschaftlicher Kräfte begriffen wird und berufen ist, ebenso reale, brennende Daseinsfragen im Sinne der fortschreitenden Menschwerdung des Menschen zu beantworten.
Kommunistische Lebensart im dramatischen Experiment Michail Schatrow hat mit seiner Studentenkomödie Campanella und der Kommandeur den Versuch unternommen, ein Teil kommunistischer Zukunft in die Gegenwart zu „transplantieren", das Stück demonstriert gewissermaßen einen „Verträglichkeitstest" kommunistischer Zellen im Kontakt mit unserem noch anders gearteten sozialistischen Wirklichkeitsgewebe. Er rührt an ein ähnliches Problem wie Dworezki — obwohl an einem anderen Gegenstand, mit einer anderen ideell-ästhetischen Wirkungsabsicht —, an das Verhältnis von materiellen Grundlagen des Kommunismus und ideellen Komponenten der Persönlichkeitsformung im entwickelten Sozialismus. Stellt Dworezki jedoch mehr die eine Seite in den Vordergrund — die Schaffung der materiellen Grundlagen, die Rolle der Ethik in diesem Prozeß, so knüpft Schatrow seinen Konflikt vorwiegend an die Persönlichkeitsbildung, an den Streit um das „schöne Leben", 7
Hiersche, Sowjetlit.
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an das enge Wechselverhältnis von materiell aufgefaßtem Lebensniveau und ethisch begriffener „Lebensart", „Lebensweise". Die Figurenkonstellation ist auch anders: Andrej, der „Kommandeur" der Studentenabteilung, ist in keiner Weise etwa gleichzusetzen mit Tscheschkow — seine Mittel zur Erzielung von Effektivität sind unlauter, was Tscheschkow nie akzeptiert hätte. Im Stück agieren nicht nur die Leiter, sondern in voller Größe die unmittelbaren Produzenten, es wird vorgeführt, wie junge Menschen kommunistische Demokratie verstehen. Dramentechnisch weit besser als bei Dworezki ist die Lösung des Konflikts gestaltet — sie wird, wie auch bei Bokarjew, im Kollektiv, in der Handlung ausgestanden. Nun mag einzuwenden sein, Schatrow habe es sich dadurch etwas leichter gemacht, indem er sich einen Sonderfall, ein „untypisches", nur zeitweilig bestehendes Produktionskollektiv zum Gegenstand genommen habe. Das ist durchaus nicht so. Die Studentenabteilungen sind seit 1958 jeden Sommer eine nicht unbedeutende Produktivkraft, die fest eingeplant ist und die beispielsweise 1972 allein im Bauwesen Werte in Höhe von 846 Millionen Rubel erzeugte und mehr als eine halbe Million Arbeitskräfte umfaßte. 8 8 Der Einsatz, das „dritte Semester", ist wesentlicher Bestandteil der Bewußtseinserziehung der Studenten. Die dabei zu lösenden Probleme gleichen durchaus denen, die im gesamten Produktionsgeschehen des Landes auftreten, obwohl ihnen natürlich einige Besonderheiten eigen sind. Der Originaltitel des Dramas, Das Prshewalskipferd, ist zugleich der Name einer der vier Studentenbrigaden, die so unzähmbar, so unbändig sein will wie das nach seinem Entdecker benannte zentralasiatische Wildpferd. Die Studentenabteilung ist in den Neuland-Sowchos gekommen, um Häuser und eine Schule zu bauen, um zwei Monate lang eine Kommune zu bilden — mit einem „Kommandeur" und einem „Kommissar" an der Spitze; die Mitglieder nennen sich „Kämpfer". Sie wollen „schön" leben, d. h. eine solche Gemeinschaft von Menschen sein, die heute schon „nach den Gesetzen der Zukunft" lebt. 89 Die Studenten wollen drei wichtige Arten schöpferischer Tätigkeit kollektiv prak98
tizieren: gemeinsam überlegen, was und wie sie arbeiten, die selbstgestellten Aufgaben erfüllen und das Erreichte ebenso kollektiv analysieren und bewerten. Außerdem möchten sie in Vorträgen ihr Wissen an die Sowchosarbeiter vermitteln. In alledem sehen sie den Hauptsinn der Kommune, nicht allein und nicht sosehr in der gleichmäßigen Verteilung des Verdienstes. Michail Schatrow poetisiert diese aus der sowjetischen Wirklichkeit herausgegriffene Erscheinung bewußt zu einer Zeit, da in der kapitalistischen Welt bestimmte Formen jugendlichen Protestes gegen die bürgerliche Lebensweise Verbreitung gefunden haben — die meist auf der Gütergemeinschaft basierende Großfamilie, die verschiedensten Formen von Hippie- und Gammler-„Kommunen". Viele dieser Gemeinschaften haben betont asozialen Charakter oder stellen den fragwürdigen Versuch dar, in einer kapitalistischen Umwelt so etwas wie Keimzellen einer neuen, vielleicht in Einzelfallen sogar sozialistisch orientierten Lebensweise zu schaffen. Bei aller Achtung vor dem Mut und dem Idealismus dieser Menschen — dieser Weg führt nicht zu der erhofften Überwindung der alten Gesellschaftsordnung auf friedliche Weise, gewissermaßen von innen heraus. Der sowjetische Dramatiker Schatrow stellt dem die produktive, weil unter sozialistischen Bedingungen produzierende Gemeinschaft junger Menschen entgegen, die nicht in Opposition zu ihrer Umwelt, sondern zusammen mit ihr einen Schritt in die Zukunft tun wollen. Ihre „Opposition" — wenn Wir sie einen Augenblick so nennen wollen — wird von der Gesellschaft als kühner .Versuch gebilligt, gefördert und durch literarische Gestaltung erhöht und verallgemeinert. Insofern steht Schatrows Drama in der Tradition der besten Werke der zwanziger und dreißiger Jahre, in ihm ist ein Hauch der Romantik jener Aufbauzeit zu spüren. Schatrow nimmt durch sein künstlerisches Experiment der Zukunft den Schleier der Unnahbarkeit. Die Lebensart der Zukunft kann in der Praxis nur im Sozialismus errungen, „durchgespielt" werden, während unter den Bedingungen der alten Welt lediglich theoretische Erörterungen zur „Qualität des Lebens" möglich sind. 7'
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Man muß Werke wie Schatrows Campanella und der Kommandeur auch Versuchen sozialistischer Schriftsteller anderer Länder, darunter der D D R , gegenüberstellen, in denen die Erkundung neuer Lebensformen durch einsame Gestalten erfolgt. Ein Held wie Edgar Wibeau in Plenzdorfs Stück Die neuen Leiden des jungen W., der im Sozialismus aufgewachsen ist, dessen Weltanschauung sich aber nur bis zu dem Punkt entwickelt, da er „gar nichts gegen" den Sozialismus mehr hat, ist den jungen Menschen, die Schatrow auf die Bühne bringt, von vornherein unterlegen. Die Etappe, da man nichts mehr gegen den Sozialismus hatte, ist für sie graue Vorzeit, darüber wird überhaupt nicht geredet. Sie überlegen bereits, wie man im Namen des Kommunismus schon wieder etwas „gegen" den Sozialismus haben kann, d. h. sie wollen schon in kollektiver Praxis zeigen, daß der Sozialismus nichts Ewiges, Starres, sondern eine Übergangsphase zum „Eigentlichen", zum Kommunismus ist. Bei Schatrow wäre zu lernen, worauf Literatur bereits hinwirken kann. Gelingt nun die „Transplantation" kommunistischer Zellen in das Gesellschaftsgewebe des entwickelten Sozialismus? Gelingt auch dem Dramatiker Schatrow das künstlerische Experiment? Werden nicht durch eine „Unverträglichkeitsreaktion" die kommunistischen Zellen zerstört oder abgestoßen? Die Studentenabteilung widerspiegelt en miniature reale Gesellschaftsverhältnisse. Sie hat ein großes Programm, das auf den Kommunismus verweist, einen Plan, eine sozialistische ökonomische Basis, viel Enthusiasmus, Bewußtsein. Da sind aber noch beträchtliche soziale Unterschiede — Söhne von Reinemachefrauen, die von ihrem Stipendium leben müssen, arbeiten neben Töchtern von Lehrstuhlleitern, die von Hause aus jegliche finanzielle Unterstützung haben. Da sind auch verschiedenste Charaktere und Leidenschaften — der ehrgeizige Kommandeur Andrej, der offen zugibt, immer „ganz oben" 9 0 sein zu wollen, der persönliches Ansehen einheimsen möchte um jeden Preis; der selbstlose, ganz in der Sache aufgehende, philosophisch-nachdenkliche Kommissar Aljoscha, der nach politischen und ethischen 100
Normen leben will, wie sie die klügsten Menschen der Vergangenheit erträumten. Nicht umsonst bekommt er daher den Beinamen „Campanella". Im Kollektiv agieren einander so unähnliche Menschen wie der ewig unzufriedene Semjon Metjolkin, der meint, jeder müsse für sich leben, Pawel Gwosdew, der nur Andrejs Befehle ausführt und nicht selbst zu denken scheint, der umständlich philosophierende Garik Akopow, der gutherzige Chauffeur Jura Kljopikow, die mit trockenem, scharfsinnigem Humor begabte Alina Silikaschwili. Vertreter mehrerer Völker leben zusammen — Russen, Kasachen, Georgier, Armenier. Liebesbeziehungen werden geknüpft, einige Studenten erwarten bereits Kinder. Die in dieser Vielgestaltigkeit notwendig auftretenden Widersprüche bringen zunächst das Experiment zum Scheitern : Nach einem Monat — am Ende des ersten Aktes — zerfallt die einheitliche Abteilungskommune in Brigadekommunen. Ursache: Die einen wollen möglichst viel Geld verdienen — und nur das, die anderen arbeiten auf Qualität, sie schuften daher nicht bis zum Umfallen, leisten gesellschaftliche Arbeit am Abend, wollen im tiefsten Sinne des Wortes „schön leben". Die Leistung wird nach dem verbrauchten Material berechnet, und danach liegt die Prshewalskipferd-Brigade im Rückstand. Eine andere Brigade, von Maxim Bubentschikow geleitet, arbeitet jeweils bis 23 Uhr, kümmert sich um nichts anderes, ist nur auf Geld aus und hat daher weit mehr Material verbaut. Proteste des Prshewalskipferd-Kollektivs, auch die Qualität der Arbeit zu bewerten, prallen am Kommandeur Andrej ab. Die Schwierigkeit ist real: Die viel Geld verdienen wollen, brauchen es auch, ihre Eltern sind einfache Menschen mit geringem Einkommen, oder sie wollen selbst schon eine Familie gründen. Als eine Studentin, deren Vater Lehrstuhlinhaber ist, vor dem Zerfall der Kpmmune warnt: Wir werden schließlich auch noch die menschlichen Beziehungen in Geld messen, hält ihr zu Recht ein anderer Student, dessen Mutter als Reinemachefrau arbeitet, entgegen: Du brauchst das Geld, um mit den Freundinnen in einem Café auf der Gorki-Straße Eis zu essen, ich brauche es, um mir einen Man101
tel zu kaufen. 91 Die Sache wird noch schwieriger — und hier liegt ganz einfach eine mechanisch gehandhabte Konsequenz des Leistungssystems —: Einige Studenten weigern sich, genauso viel bzw. wenig Geld zu bekommen wie die Mädchen, weil diese physisch weniger leisten. Folge: Die Mädchen werden aus den Brigaden herausgenommen und müssen ein eigenes Kollektiv bilden. Der Zerfall ist vollständig und katastrophal. Der Mensch scheint sich bis zum äußersten gegen jede Gleichmacherei zu wehren, das Leistungssystem scheint seiner Natur angemessen zu sein. Nicht aus bösem Willen verteidigt er es, sondern aus sozialer Notwendigkeit. „Ich brauche das Geld . . . da beißt die Maus keinen Faden ab", sagt ein Student. 92 Die „Transplantation" scheint nicht gelungen, das sozialistische Gesellschaftsgewebe — Leistungsprinzip und soziale Unterschiede gehören zum Sozialismus — scheint die Keimzellen kommunistischer Lebensweise zu zerstören. Aljoscha, der Kommissar und Inspirator der Kommune resigniert nicht: „Die Wahrheit muß erreicht, nicht gereicht werden." 93 Man muß sich die Kommune gleichsam „erleiden", sie unter Qualen erringen. Die ökonomischen Ergebnisse bestätigen zunächst die Richtigkeit der Aufspaltung der Kommune. Der Rohbau eines Hauses dauerte unter den alten Bedingungen dreizehn, jetzt nur noch vier Tage. Die Arbeitsproduktivität ist enorm gestiegen. Es zeigt sich aber auch anderes: Die Brigaden nehmen einander Material und Arbeitsinstrumente weg, behalten einen Kran, selbst wenn sie ihn gerade nicht brauchen, und die andere Brigade deshalb nicht arbeiten kann. Im Lager wird nicht mehr aufgeräumt, man ißt und lebt im Finstern — das Licht wird nicht in Ordnung gebracht, weil hierbei nichts zu verdienen ist. Bislang kochte eine Studentin für alle Essen — gut, sozusagen wie zu Hause; jetzt soll sie aus Effektivitätsgründen auf dem Bau arbeiten, die Studenten sollen in einer öffentlichen Speisehalle essen, obwohl es dort erwiesenermaßen schlechter ist als in der eigenen Kantine. Jura Kljopikow war 200 Kilometer weit gefahren, um Material zu holen, unterwegs hilft er vielen mitten in der Steppe steckengebliebenen Lastwagen und 102
kommt daher einige Tage zu spät zurück. Der Kommandeur Andrej setzt ihn zur Strafe als Kraftfahrer ab, er akzeptiert die Gründe nicht. Als es im Sowchos brennt, helfen die Studenten löschen. Andrej will für diese Leistung Geld nehmen, schreibt Rechnungen aus. Nur der Brigadier des Prshewalskipferd-Kollektivs zerreißt seine Rechnung, die anderen unterschreiben sie. Auf der Jagd nach Geld ist eine gewisse Grenze überschritten worden. Noch vor diesem extremen Fall kommt es zu dem entscheidenden Gespräch zwischen Andrej und Aljoscha über den Inhalt des guten Lebens, das wir eingangs des Kapitels zitierten. Andrej interessiert nur die materielle Seite des Daseins, während Aljoscha — das durchaus voraussetzend — die Persönlichkeitsbildung insgesamt, vor allem eben auch die geistigen Bedürfnisse des Menschen berücksichtigt haben will. Aljoscha wirft Andrej zu Recht vor, er wolle ökonomischen Vorteil für die Studenten durch unlautere Machinationen erzielen — etwa durch Bestechung von Lastwagenfahrern mit dreifachem Lohn und Wodka, damit diese Material herbeischaffen. Andrej wehrt ab: Er werde den Menschen, mit welchen Mitteln auch immer Brot, eine Schule, Häuser geben, Aljoscha dagegen speise sie mit schönen Reden über Moral ab; er fühle sich stark, er meint, in ihm liege die Garantie des Fortschritts, er sei die Chance seiner Generation.94 Aljoscha verficht aber unbeirrbar die Übereinstimmung von Mittel und Zweck, ihn interessiert, was aus den Menschen wird, die man veranlaßt, mit solchen Mitteln ihr Leben einzurichten. Und die Entwicklung gibt ihm Recht. Schatrow hat den Fall mit der Bezahlung der Hilfe beim Brandlöschen nicht an den Haaren herbeigezogen, diese Konsequenz ist in Andrejs Charakter angelegt. In diesem Ereignis sind wie in einem Brennpunkt die negativen Seiten des Nebeneinanders der Brigaden, des ohne Zweifel normalen, berechtigten Wunsches der Studenten, sich möglichst viel Geld zu verdienen, konzentriert. An der Bedenklichkeit dieses Schrittes ändert auch nichts, daß der Sowchos ihnen die Bezahlung angeboten hatte.
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Aljoscha greift in diesem Augenblick wieder aktiv in die Handlung ein, er weiß, der Bogen ist überspannt, er weiß, daß in den Studenten doch mehr steckt als lediglich das Verlangen nach materieller Sicherheit. Es kommt zu der beeindruckenden nächtlichen Komsomolversammlung, zu der alle erscheinen, obwohl sie todmüde sind, der Tag schwer war. Die selbstkritische Abrechnung wird hart und gründlich vorgenommen, jeder fühlt, daß sie drauf und dran waren, wichtige Grundsätze nicht einmal des Kommunismus, sondern des Elementaren, des s o z i a l i s t i s c h e n Ethos, der Arbeitermoral, mit Füßen zu treten. Sie haben nicht nur im Hinblick auf Künftiges, auf den Kommunismus, nicht richtig gehandelt, es ist ihnen auch der Verstoß gegen alte, erprobte Prinzipien der Arbeiterklasse — Solidarität, Gemeinschaftssinn, gegenseitige Hilfe — bewußt. Sie nannten sich Kämpfer, Kommandeure und Kommissare, weil sie sich dem Vermächtnis des Roten Oktober verpflichtet fühlten. Damals wurde das sozialistische Leistungsprinzip mit dem Blut der Revolutionäre nicht deshalb erkämpft, um die Menschen gegeneinander zu treiben, sondern sie im Dienst an der gemeinsamen Sache zu beflügeln. Die Studenten wollten vorauseilen, ohne schon genügend mit ihrer Zeit, mit dem Gesellschaftsgewebe des Sozialismus eins zu sein. Die „Transplantation" kommunistischer Zellen in dieses Gewebe mußte zunächst scheitern, weil die Studenten einige Eigenheiten der sozialistischen Gesellschaftsstruktur nicht richtig nutzten, sie vielmehr ins Extrem steigerten und daher verfälschten. Es wird deutlich: Die Studenten produzieren wie Arbeiter, aber dadurch sind sie noch lange keine Repräsentanten des gesamten ethischen Reichtums dieser Klasse. Den meisten fehlt das, was Schatrow im Sowchosdirektor Sisow und dem Sowchosmeister Stepan Kotjolkow, sehr fein und nicht ohne Humor, verkörpert hat: die selbstverständliche Pflichterfüllung, ohne Lamento, der Stolz auf eine gesellschaftlich bedeutsame Leistung. Beide gehörten zu denen, die 1954 mit dem „Ersten Zug" in diese Gegend kamen, in die leere Steppe, wo nur ein Pfahl mit der Aufschrift stand: „Sowchos Bolschewik" und wo sie ohne großen materiellen Anreiz 104
arbeiteten, weil das Land diese ihre Arbeit dringend brauchte. Die Machinationen einiger Geldschneider, die schwierige Situationen im Wirtschaftsleben ausnutzen, um sich persönlich zu bereichern, sehen sie nüchterner an als die Studenten, und obwohl sie sie nicht billigen, verfallen sie doch nicht in emphatische moralische Entrüstung. Es ist Sisow, der den Studenten zum Schluß rät: Beeilt euch nicht, alles mit einemmal zu bekommen. Er ruft sie auf, den Verstand zu gebrauchen, er ermuntert sie trotz alledem, „Campanella zu sein": „Denn die Hauptsache im Leben ist — seine Generation nicht zu verpassen." 95 Die nächtliche Komsomolversammlung zeigt gerade in der Schärfe der Selbstkritik die dennoch errungene Position in der Bewußtseinsentwicklung der Studenten. Das letzte Argument Andrejs, womit er den Zerfall der Kommune — aus Gründen der Produktivität — gerechtfertigt hatte, wird ad absurdum geführt: Hätten die Brigaden sich gegenseitig geholfen, wäre der ökonomische Effekt größer gewesen, denn so faulenzte die eine, weil gerade kein Material da war, während zur gleichen Zeit eine andere jede zusätzliche Hand gebraucht hätte. Es findet sich auch ein Weg, die Verteilung des erarbeiteten Geldes nach den Bedürfnissen vorzunehmen, ohne das Leistungsprinzip völlig aufzugeben: Die Studenten, die von Hause aus materiell besser gestellt sind, spenden für einen gemeinsamen Fonds, aus dem alle diejenigen eine entsprechende Summe erhalten, die besonders bedürftig sind. Der Versuch, kommunistische Lebensformen ad hoc, gewissermaßen in der Retorte, zu erzeugen, ist nur im Ansatz gelungen, die Studenten haben aber in diesem Sommer dennoch viel gelernt. Das künstlerische Experiment Schatrows darf auch nicht unangefochten bleiben. Der schwächste Punkt des Stückes ist zweifellos die Verteilung der zwei Seiten eines realen Gegensatzes auf je eine der zentralen Figuren — Andrej und Aljoscha 96 , die dadurch herbeigeführte — etwas metaphysische — Schematisierung eines dialektischen Widerspruches. Die E i n h e i t und der Kampf der Gegensätze wären zu zeigen gewesen. Die materielle Seite, das Lebens105
niveau, wurde durch gewisse karrieristische Eigenschaften und unsaubere Methoden der „Trägergestalt" Andrej zu sehr diskreditiert, die ethische Seite, die Lebensart, fand in Aljoscha eine leichte Idealisierung. Hier liegt ein Realismusverlust vor. Natürlich ist die Verkörperung eines solchen Widerspruches in zwei getrennten Figuren bzw. Gruppen ein legitimes realistisches Gestaltungsmittel, vor allem dann, wenn im übrigen Werk ebenfalls mit ähnlichen Techniken — Gleichnissen, Allegorien usw. — gearbeitet wird. Das aber ist in Schatrows Drama nicht der Fall, er bevorzugt — wie auch andere Stücke von ihm bezeugen — Strukturen, die stark dem Dokumentarischen verpflichtet sind, keinen hohen Grad künstlerischer Fiktion anstreben {Der 6. Juli, Bolschewik!). Trotz dieser offensichtlichen Schwäche des Experiments verdient es doch Aufmerksamkeit, weil ihm Kühnheit in der Fragestellung nicht abgesprochen werden kann.. In der Dialektik von weit vorausgreifendem, hohem ethischen Anspruch, von subjektiven, moralischen Faktoren auf der einen Seite und objektiven gesellschaftlichen Gegebenheiten auf der anderen wurde von Schatrow auf jeden Fall eine Vorwärtsbewegung zu neuen Bewußtseinsqualitäten gestaltet und beim Leser provoziert. Das Hinauswollen über sozialistische Arbeits- und Lebensformen im Namen des Kommunismus muß als fruchtbarer Versuch gewertet werden, auch in dem konkreten Fall, da die handelnden Personen offensichtlich noch beim Sozialismus sehr viel zu lernen, die Vorzüge seiner heutigen Entwicklungsetappe noch nicht einmal richtig genutzt haben. Als sozialistischer Realist konnte Schatrow selbst in einem so experimentellen, auf Kommendes eingestellten Stück an der heutigen Wirklichkeit nicht vorbei. Sicher sind die Widersprüche unserer gegenwärtigen Realität aus der Sicht der Zukunft etwas härter konstituiert worden als sie normalerweise erscheinen, aber es ist das gute Recht des Künstlers zu überhöhen, zuzuspitzen. Das gelingt u. a. auch durch die realistische Gestaltung gewisser Züge sozialer Unreife, individualistischer Neigungen bei einigen Studenten. Die immanente Polemik Schatrows gegen Theorien Marcuses von der Intelligenz 106
bzw. der studentischen Jugend als dem revolutionären Vortrupp aller heutigen Gesellschaftsbewegungen ist somit ein Grundzug des Dramas. Gleichzeitig ist in dem Stück, das allein von Studenten handelt, die revolutionäre Tradition. Gesellschaftspraxis und vor allem Ethik der Arbeiterklasse die tragende Idee. Am Schluß wird das sogar wörtlich von Alj oscha ausgesprochen .Als Sowchosdirektor Sisow sich verwundert äußert, weil Aljoscha eine mit unlauteren Bedingungen verbundene Vereinbarung über Materialtransport zerreißt: „Wo habt ihr das bloß her?", da sagt Aljoscha: „Sie haben uns doch so gemacht." 9 7 Damit ist die Arbeiterklasse gemeint. Man wird in Schatrows Stück vergebens nach äußeren Attributen der wissenschaftlich-technischen Revolution suchen, und doch ist sie in seinem Experiment, ein wenig Zukunft in die Gegenwart zu holen, anwesend: Die Frage nach dem „schönen" Leben, nach der Lebensart der Zukunft, die Aljoscha und andere Studenten beschäftigt, ist nur dann richtig zu beantworten, wenn man vom Miteinander der Vorzüge des Sozialismus und der wissenschaftlich-technischen Revolution ausgeht. Die ethischen Ideale Aljoschas, geboren aus der weltverändernden Tätigkeit der Arbeiterklasse und den Gedanken utopischer Sozialisten früherer Jahrhunderte, werden nur in diesem Miteinander zu verwirklichen sein. Sie sind aber zugleich auch Voraussetzung, dieses Miteinander planmäßig zu organisieren. Die ethischen Vorstellungen Aljoschas, soweit sie in einzelnen Punkten vorgreifen mögen, sind im Grunde heute schon das rechte Maß für die moralische Standfestigkeit, die von einem Sozialisten angesichts der wissenschaftlich-technischen Revolution gefordert ist. Mehr noch, Aljoschas Gedanken gehören im wesentlichen seit je zum Ideengut des Marxismus-Leninismus : die Einheit von materiellen und kulturellgeistigen Bedürfnissen; das Aufgeschlossensein gegenüber allen Sorgen des Jahrhunderts, d. h. die Entwicklung von der lokalen zur weltgeschichtlichen Existenzweise des Menschen; der Wunsch, der Mensch möge weder Sklave der Dinge noch Sklave eines anderen Menschen sein, d. h. der Weg aus der Entfremdung zur Befreiung der menschlichen 107
Persönlichkeit, zur Beherrschung seiner Welt. Schatrow führt vor, wie diese Ziele und Prinzipien von jeder Generation Sozialisten und auf jeder Entwicklungsstufe des Sozialismus bewußt angeeignet, d. h. aufgegriffen und weiterverfolgt werden müssen. Die heutige Entwicklungsetappe der sozialistischen Gesellschaft hat nun im Vergleich zu früheren u. a. die Besonderheit, daß sie die wissenschaftlichtechnische Revolution meistern muß. Die Dramen von Dworezki und Schatrow sind gegenwärtig natürlich nicht die einzigen Versuche, die Arbeiterklasse und ihr Ethos zum Gegenstand der Darstellung zu wählen. Sie zeichnen sich aber vor allem anderen dadurch aus, daß sie zwei besonders erregende gesellschaftliche Probleme auf erregende Weise gestaltet haben. In ihnen scheint die Kompliziertheit und auch die Dynamik heutiger Sozialismusentwicklung auf, in beiden werden folgenschwere Entscheidungen für die Zukunft diskutiert, Entscheidungen, die den ganzen Menschen betreffen. Beide bekräftigen: Das schöne Leben ist niemals das leichte Leben, jede Phase sozialistischer Geschichte hat ihre eigene Schönheit und ihre eigenen Schwierigkeiten, kaum vergleichbar mit denen, die einstmals die Literatur bewegten. Beide drängen auf hohe Produktivität im Namen der Menschlichkeit und auf Menschlichkeit als den letzten Sinn hoher Produktivität.
Literatur und Natur
Denn der Mensch ist ein Teil der Natur Wladimir Solouchin, der Autor des bekannten poetischen Prosabuches Ein Tropfen Tau (1960), erhielt um die Zeit, da die Physiker-Lyriker-Diskussion im Gange war, den Brief eines Lesers, in dem dieser seinen Unwillen über das Buch, über die darin enthaltenen Naturschilderungen äußerte. Der Brief gipfelte in dem emphatischen Aufruf: „Nieder mit der Heumahd! Nieder mit dem Gras! Nieder mit den Blumen! Nieder mit dem Tau! Es leben Sputniks und Raketen!" 9 8 So radikal und grob diese Worte auch sein mögen — sie drücken eine damals (und nicht nur damals) verbreitete Stimmung aus. Unschwer erkennt man die Verwandtschaft mit den Argumenten der „Physiker", die die Poesie durch die Wissenschaft verdrängt sahen bzw. sehen wollten: Was soll Natur, Poesie der Natur, dem Menschen noch geben, wenn dieser die von ihm geschaffene zweite Natur durch Wissenschaft und Technik bis zu solchen Höhen. - Raketentechnik, Raumflugkörper — geführt hat?! Unserer Epoche gemäß sei lediglich die Poesie der Ideen, Theorien und Experimente, wie der Physiker Poletajew sich ausgedrückt hatte. Die Begeisterung, ausgelöst vor allen Dingen von den ersten Erfolgen der Kosmosforschung, steigerte sich gewiß nicht überall zu solchen extremen Äußerungen wie im Leserbrief an Solouchin. Geringschätzung der Natur ist der sozialistischen Lebenshaltung zutiefst fremd. Nichtsdestoweniger kann die Wissenschaftsentwicklung, der technische Fortschritt auch in der sozialistischen Gesellschaft die Einbildung nähren, der Mensch würde völlige Unabhängigkeit von der Natur erlangen. Wahr ist jedoch: Der Mensch 109
wandelt sein Verhältnis zur N a t u r mit der Entwicklung der Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse, die Art der gegenseitigen Abhängigkeit verändert sich, aber die A b h ä n gigkeit selbst bleibt. Die wissenschaftlich-technische Revolution, die dem Menschen einerseits so gewaltige M a c h t über die N a t u r verlieh, hat ihm andererseits — vielleicht stärker als zuvor — die untrennbare dialektische Einheit von N a t u r und Gesellschaft bewußt gemacht. D e r Leserbrief an Solouchin widerspiegelt also lediglich die e i n e Seite des Bewußtwerdens eines neuen Verhältnisses des Menschen zur N a t u r : das Gefühl der größeren Möglichkeiten, die N a t u r beherrschen zu können (von der trivialen F o r m dieser Gefühlsäußerung sehen wir einmal ab). Diese Einseitigkeit ist aber von den heutigen Erfahrungen der sozialistischen Gesellschaftspraxis wie auch vom philosophischen Standpunkt aus unzulässig. Die Klassiker des MarxismusLeninismus, deren Gesellschaftslehre von der bewußten, planvollen, gemeinschaftlich organisierten Veränderung der Welt durch den Menschen ausgeht, haben auf die Kompliziertheit des Wechselverhältnisses von Mensch und N a t u r immer ausdrücklich Verwiesen. Engels stellt in seiner Schrift Der Anteil der Arbeit an der Menschwerdung des Ajfens fest, der Mensch herrsche über die N a t u r nicht so wie der Eroberer über ein besiegtes V o l k . " M a r x schreibt bereits in den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten: „Der Mensch l e b t von der N a t u r , heißt: Die N a t u r ist sein L e i b , mit dem er in beständigem Prozeß bleiben muß, um nicht zu sterben. D a ß das physische und geistige Leben des Menschen mit der N a t u r zusammenhängt, hat keinen anderen Sinn, als d a ß die N a t u r mit sich selbst zusammenhängt, denn der Mensch ist ein Teil der N a t u r . " 1 0 0 Die Klassiker registrierten auch die Folgen einseitigen Verhaltens zur N a t u r , wie es für vorsozialistischeGesellschaftsordnungen charakteristisch ist. Nach dem Studium des Buches Klima und Pflanzenwelt in der Zeit, eine Geschichte beider von Karl Nikolaus F r a a s äußert M a r x in einem Brief an Engels u. a.: „Die erste Wirkung der Kultur nützlich, schließlich Verödend durch Entholzung etc. [ . . . ] , Das, Fazit ist, d a ß die Kultur — wenn naturwüchsig vorschreitend und nicht b e w u ß t b e h e r r s c h t 110
[ . . . ] — Wüsten hinter sich zurückläßt, Persien, Mesopotamien etc., Griechenland." 1 0 1 In der vielzitierten Passage des Kapitals spricht Karl Marx denn auch davon: Die Menschen im Sozialismus müßten den „Stoffwechsel mit der Natur rationell regeln", ihn „mit dem geringsten Kraftaufwand und unter den ihrer menschlichen Natur würdigsten und adäquatesten Bedingungen vollziehen". 102 Das bezieht sich auf den Gesamtkomplex der ständigen Auseinandersetzung der menschlichen Gesellschaft mit der Natur. Aber auch das Teilproblem Naturschutz, also die Erhaltung bestimmter Territorien, bestimmter Arten der Flora und Fauna, ihre weitestmögliche Ausschaltung aus dem landwirtschaftlichen bzw. industriellen Stoffwechsel der Gesellschaft mit der Natur, wurde von den Klassikern ernst genommen. Lenin unterschrieb eigenhändig 94 Dekrete und Beschlüsse über Naturschutz und Nutzung der Natur, z. B. das Grundgesetz über den Wald, er ordnete die Einrichtung von sechs Naturschutzgebieten an. 1 0 3 Die KPdSU und die Sowjetregierung haben die Ideen und die Praxis der Klassiker bis auf den heutigen Tag konsequent weiterverfolgt. „Nicht nur wir, auch die folgenden Generationen müssen all das Gute genießen können, was die herrliche Natur unserer Heimat bietet", hieß es im Rechenschaftsbericht an denXXIV. Parteitag der KPdSU. 1 0 4 In den theoretischen Organen des ZK der Kommunistischen Partei werden in den letzten Jahren verstärkt aktuelle Probleme der Wechselwirkung von Gesellschaft und natürlicher Umwelt erörtert. 105 Auch die internationale marxistisch-leninistische Arbeiterbewegung insgesamt hat diese Probleme zum integralen Bestandteil ihres Kampfprogramms gemacht. Im Emanzipationskampf des Proletariats, im Kampf um die Macht, brauchten in früheren Jahrzehnten die Bindungen des Menschen an die Natur nicht besonders betont zu werden, es kam darauf an, im Komplex der gesellschaftlichen Beziehungen vor allem die ökonomischen und politischen Faktoren herauszustellen. Unter den heutigen Bedingungen zeichnet sich hier eine Wandlung ab. Im Frühjahr 1972 organisierte die Zeitschrift Probleme des Friedens und des Sozialismus in Prag eine Beratung von 111
Vertretern kommunistischer und Arbeiterparteien zu Fragen des Umweltschutzes.106 Ein Grundtenor dieser Beratung war, daß die kapitalistische Profitwirtschaft nicht in der Lage ist, die von ihr verschuldete Umweltmisere zu überwinden. So fordert denn heute auch der Schutz der Erde und ihrer lebenswichtigen Reichtümer Boden, Wasser, Luft, Energievorräte und Vegetation dringender denn je die Überwindung des Kapitalismus, und der Kampf der Arbeiter um die Erhaltung dieser Güter wird zu einem wichtigen Mittel, die Positionen des internationalen Monopolkapitals zu schwächen. Nur eine bewußt organisierte und planvoll geleitete Gesellschaft ist in der Lage, das Verhältnis M e n s c h Natur vernünftig zu regeln. Der bekannte sowjetische Mineraloge Wernadski hatte schon in den vierziger Jahren den Gedanken geäußert, die Ideale der kommunistischen Gesellschaftsordnung befanden sich „im Einklang [. . .] mit dem elementaren geologischen Prozeß, mit den Gesetzen der Natur" 107 . Angesichts der in der wissenschaftlich-technischen Revolution zu lösenden Probleme, da, wie Fedossejew sagte, die „Gesellschaft immer mehr zu einem Faktor der geologischen Entwicklung der Erde" 108 werde, bestätigt sich die Wahrheit dieser Gedanken mehr denn je. Etwas Ähnliches hat Andrej Wosnessenski in seinem Poem Eis 69 (1972) ausgedrückt. Das lyrische Ich besichtigt in diesem Poem ein „Eismuseum", in dem unter anderem die Verunreinigungen des Wassers und der Luft, die der Kapitalismus verschuldet hat, , ¡eingefroren" sind und auf den Tag warten, da das Eis auftaut und die Wasser die alte Welt mit sich fortreißen werden: Ihr werdet ersaufen wie junge Katzen, im Zeugnis der Verunreinigungen, ihr, Manager, die ihr vollgeblakt das schutzlose Himmelsgewölbe! Weh auch, ihr überheblichen Lumpen, Ausbeuter der Arbeit, wohin werdet ihr euch verstecken, wenn die Sintflut eure Städte hinwegspülen wird?! 112
Ihr, die ihr als jämmerlicher Haufen die Patronen bedient, der Freiheit, des Genius und des Ruhmes Henker, das Eis setzt sich in Bewegung apokalyptisch! 109 Die Natur selbst schickt sich an, die Untaten der kapitalistischen Welt zu rächen, der Entwicklungsgang der Natur ist gleichsam gegen den Kapitalismus gerichtet. Zu den Untaten bzw. Verunreinigungen zählt Wosnessenski gleichermaßen den Fabrikrauch, die sozialen Gebrechen und den Qualm der Verbrennungsöfen von Dachau. Die Stellung des wissenschaftlichen Kommunismus zur Natur ist im Grundsätzlichen eindeutig und klar. Das gilt für die Strategie des Klassenkampfes gegen den Kapitalismus vor und nach der Revolution wie auch für die Praxis des sozialistischen Aufbaus. Im Sozialismus erhalten die Naturbindungen des Menschen im System seiner Gesellschaftsbeziehungen den Platz, der ihnen als Grundlage des menschlichen Daseins gebührt. Dieses Bezugssystem ist jedoch nichts a priori Gegebenes, es entwickelt sich in Abhängigkeit vom Stand der Produktivkräfte, also vom Stand der gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit der Natur. Mit zunehmender Freisetzung der Wesenskräfte des Menschen im Sozialismus, mit größerer Herrschaft über die Kräfte der Natur tritt im gesellschaftlichen Bewußtsein und damit auch in der Literatur ein Wandel des Verhältnisses Mensch — Natur ein. Es lassen sich daher in einzelnen Entwicklungsphasen Unterschiede im künstlerischen Herangehen an das Problem Mensch — Natur feststellen. In der Sowjetliteratur der zwanziger und dreißiger Jahre dominierte das Pathos des Sieges über die Natur, wie Metschenko schreibt, während sich in den fünfziger, mehr noch zum Ende der sechziger Jahre hin ein Umschwung im gesellschaftlichen, also auch im künstlerischen Bewußtsein vollzieht: Die Aufrufe zum Sieg über die Natur werden heute abgelöst von der Mahnung, die über die Natur gewonnene Macht sinnvoll zu nutzen. 110 Dem liegen reale Gesellschaftsprozesse 8
Hiersche, Sowjetlit.
113
zugrunde. Bisher ging es darum, den Sieg des Menschen über die blinden Kräfte der Natur — hierin ist auch die Naturgewalt ökonomischer Gesetze einbegriffen — überhaupt erst einmal bewußt gesellschaftlich zu organisieren, die Macht des Menschen über diese Kräfte jedem einzelnen begreiflich zu machen, ihn zu befähigen, diese Macht zu gebrauchen. Nun aber wird es immer mehr zur Aufgabe der sozialistischen Gesellschaft, den gemeinschaftlich errungenen Sieg über die Natur zu einem organischen Miteinander von Menschheit und Naturkräften auszubauen. Wie ein Seismograph registriert heute die Literatur diese bedeutsame Wandlung im Bewußtsein und sie bewirkt sie mit. In erster Linie muß hier immer wieder Leonid Leonows Roman Der russische Wald (1953) genannt werden. Die Arbeit der Literatur an dieser notwendigen, lebensnotwendigen Weiterentwicklung sozialistischen Weltverständnisses und Weltverhältnisses gewinnt in den sechziger und siebziger Jahren an Umfang und Tiefgründigkeit. Die Literaturen aller Sowjetvölker, aller Genres sind hieran beteiligt. Aitmatow engagiert sich in seiner philosophischen vielschichtigen Erzählung Der weiße Dampfer (1970) unter anderem leidenschaftlich für die Ausbildung dieser neuen Züge in der Psyche des sozialistischen Menschen. Eindringlich setzt sich die Lyrik dafür ein. Der Kalmücke David Kugultinow schildert in dem Gedicht Über die Natur (1972), wie ein Junge eine noch nicht geöffnete Blüte gewaltsam aufreißen will: Was tust du?! Wozu zerstörst du die Blume? . . . Ich besiege die Natur! — war die Antwort. „Fremde Reden wiederholt der Kleine . . ." — dachte ich. Ich war peinlich berührt. Es ist nicht so einfach, dem Kind zu erklären, daß es die Natur zu besiegen beginnt, wenn es alle Gesetze des Wachstums kennen, den Gang verborgener Entwicklung erforschen wird . . . Denn sogar Männer mit viel Erfahrung sind mit der Natur schlimmer verfahren, vergessend, daß sie zwar stark und fest, dabei mitunter doch so zart, so zerbrechlich ist! 111 114
Immer lauter artikuliert die Literatur die Schutzbedürftigkeit der Natur, diese figuriert kaum mehr als zu besiegende Gewalt, als zu unterwerfendes Element. Auch Leonid Martynow, von dessen tiefgründiger Auseinandersetzung mit Problemen der wissenschaftlich-technischen Revolution bereits die Rede war, setzt in seiner Naturlyrik neue Akzente: Schönheit Die Welt der Neider und Boshaften wird immer listiger, immer gefahrlicher . . . Die Schönheit wird immer unschuldiger, lieblicher und schöner. Daß sie es nicht wagen können, dich anzurühren, und dich aus der Welt zu schaffen, zeige ihnen scharfe Krallen — sei versichert, daß dies dir keine Schande macht, und die Lumpenhunde schreckt! Aber sie lacht zur Antwort so traurig, als ob sie weint.
(1972)112
Zwar wendet sich dieses Gedicht in erster Linie an die alte Welt, ist aber in seinem Kerngedanken, die wehrlose Schönheit zu schützen, verallgemeinerungswürdig. Deutlicher wird der gleiche Gedanke in dem Gedicht Blumen (1972), wo es unter anderem heißt: Fässer mit Treibstoff rollten wir über Gras und Blumen, wir badeten sie in kochendem Wasser und verbrannten sie bis zur Wurzel, doch wieder zittern ihre Blütenblättchen, als ob sie uns überhaupt nicht beschuldigten! 113 Die Literatur arbeitet mit daran, einige gängige Losungen neu zu durchdenken oder sie sogar als untauglich zu verdrängen — etwa: Unser Land ist unermeßlich, der Mensch 115
hat sich die Natur unterworfen. 114 Mehr noch, einige Gründüberzeugungen werden überprüft, es wird ihnen ein neuer Sinn verliehen. Aus dem Erbe der klassischen russischen Literatur stammt der Satz: Die Natur ist keine Kathedrale, sondern eine Werkstatt. Basarow aus Turgenjews Roman Väter und Söhne setzt ihn dem kontemplativen Weltverhalten der parasitären Gutsbesitzerklasse entgegen. Der sowjetische Literaturwissenschaftler Nowitschenko gibt in einem Gespräch mit Aitmatow — ohne die prinzipielle Richtigkeit der Worte Basarows in Frage zu stellen — zu bedenken, daß die Achtung vor der Natur und ihre Verehrung erhalten und ausgebaut werden müssen. 115 In der Diskussion zum Film Solaris (1972) meint der Schriftsteller Grigori Baklanow, wir läsen heute nicht mehr nur mit Optimismus die Worte Satins aus Gorkis Nachtasyl: „Alles ist im Menschen, alles ist für den Menschen! Es existiert nur der Mensch, alles übrige ist das Werk seiner Hände und seines Verstandes!" 116 Hier horcht man unwillkürlich auf, geht es doch um Grundlagen des sozialistischen Humanismus. Der Zustand unserer Welt zeigt in der Tat: vieles ist nahe daran, den Händen der Menschen zu entgleiten, viele Werke seiner Hände drohen sich gegen ihn zu wenden; das ist vor allem charakteristisch für den Kapitalismus, aber es wäre naiv zu glauben, der sozialistische Teil der Welt bliebe davon unberührt. Dennoch kann man Baklanow nicht folgen, weil die Existenz des Sozialismus, seine intensiven Bemühungen um die vorteilhafte Regulierung des Verhältnisses Mensch — Natur wieder und wieder bestätigen: Der Mensch hat alles in der Hand, sein Verstand und seine Kräfte reichen hin, Ordnung zu schaffen, mit den sozialen Gebrechen zugleich die biologischen, klimatologischen usw. Störungen allmählich zu beseitigen. Die Langwierigkeit und Widersprüchlichkeit dieses Prozesses, der eine ganze Epoche umfassen kann, sollte nicht Anlaß sein, an Elementarem zu rütteln. Unser Optimismus, mit dem wir Satins Worte immer von neuem lesen, ist heute — darin hat Baklanow recht — gewiß „erfahrungsschwerer" als am Anfang des Jahrhunderts oder noch in den fünfziger Jahren, aber darum doch nicht geringer. Die Güter der Erde wird der Mensch erhalten. 116
Die Rückbesinnung auf Erkenntnisse, die zeitweilig überholt schienen, zählt mit zu dem Umdenkungsprozeß, den die Literatur reflektiert und forciert. An vertraute, selbstverständlich scheinende Güter der Erde erinnert Martynow, sie der Selbstverständlichkeit entkleidend, dem Alten, scheinbar Überholten, kraft der Poesie neuen Glanz verleihend: Wo immer wir auch fliegen, welche Höhen wir immer auch erreichen, welche Elixiere wir auch schlucken, so recht nach Geschmack ist uns nur der Bienenhonig. Und wenn wir's so recht prüfen, welche Synthetika auch gepriesen werden, über alles geht uns Schaffell, Pelz vom Tier, Rindsleder — gewöhnliches irdisches Geschöpf. Das Gedicht Güter der Erde (1972) ruft weiter dazu auf, den Fischreichtum der Flüsse, die Reinheit der Luft und des Wassers wiederherzustellen und schließt: Eine so gewaltige Aufgabe ist kaum Zebaoth zu leisten imstande! 117 Die Menschen, so ist wohl der Gedanke weiterzuführen, müssen das auf sich nehmen. Es scheint, als ob die von der Antike herausgestellten vier Urelemente Wasser—ErdeLuft—Feuer — unabdingbare Voraussetzungen menschlicher Existenz — als poetische Symbole für reines Trinkwasser, kultivierten Boden, saubere Atmosphäre und Energievorräte neue Aussagekraft erlangen. Die Grundstimmung der sowjetischen Literatur der endsechziger und siebziger Jahre ist dem eingangs erwähnten „Nieder mit den Blumen!" diametral entgegengesetzt, sie ist charakterisiert von dem Pathos der Erhaltung der Natur für den Menschen. Dreierlei bewegt dabei die Schriftsteller und Dichter ganz besonders: Die Rückkehr vom kosmischen Höhenflug der Poesie auf die Erde; das Verhältnis der vom Menschen geschaffenen zweiten Natur zur ursprünglichen; das Verhältnis zur Natur als ein Maßstab und eine der Quellen sozialistischer Moral. 117
Alle drei thematisch-ideellen Probleme sind aufs engste miteinander verflochten; nur zum Zwecke übersichtlicher Analyse werden sie im folgenden getrennt.
Von kosmischer zu irdischer Poesie Der Kosmonaut Konstantin Feoktistow äußerte in der Diskussion zum sowjetischen Film Solaris, der nach Motiven des gleichnamigen Romans von Stanislaw Lern gedreht wurde: „.Solaris' zwingt uns, über das Schicksal unseres heimatlichen Planeten nachzudenken. Alle, die im Kosmos waren, sprachen über seine (des Planeten — A. H.) Schönheit, über die Notwendigkeit, ihn zu lieben und zu behüten. Ein Gedanke, abgedroschen, aber er verliert nicht an Aktualität. Nach dem Flug fühlte ich beinah physisch, wie klein doch eigentlich unsere Erde ist, wie zerbrechlich und verletzlich [. . ,]" 118 Ein scheinbares Paradoxon im Bewußtsein der Gegenwart: Die „kosmische Ära" hat den Menschen stärker der Erde zugewandt. Je weiter und intensiver er in den Kosmos vordringt, um so näher wird ihm die Erde. Die leblosen Mondlandschaften haben dem Menschen aufs neue die Schönheit der irdischen Natur bewußt gemacht. 119 Das seit Ende der fünfziger Jahre stark aufbrechende Gefühl der Einheit unserer — begrenzten — Existenz mit dem unendlichen Weltall wird heute mehr und mehr mit etwas anderem durchsetzt: Vom Wissen um die Großartigkeit und Kostbarkeit unseres Lebens auf der Erde angesichts des Kosmos. Der breite Strom kosmischer Lyrik, der 1957 seinen Ursprung nahm und nach dem Raumflug Gagarins gewaltig anwuchs, ist zum Ende der sechziger Jahre hin sehr schmal geworden. Das poetische Begriffsarsenal wurde wieder „irdischer". Charakteristisch ist hier das Beispiel Eduardas Miezelaitis'. Sein Poem Der Mensch (1961) 120 war noch ganz getragen von kosmischen Impressionen, Metaphern und Vergleichen, es ist-vielleicht eines der bedeutsamsten poetischen Werke der Sowjetliteratur, die aus einem neuen Zeit- und Weitempfinden heraus geschrieben wurden, ganz unter dem Eindruck der beginnenden Ära der Raum118
flüge entstanden. In seinen Lyrischen Etüden, die etwa in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre entstanden, heißt es dann aber: „Ich liebe das Kind unseres Jahrhunderts, die kosmische Rakete. Und wie ehedem bewahre ich die Liebe zur grauen irdischen Nachtigall. Der Mensch lauscht den Liedern der Nachtigall und hebt seine Augen zu den gestirnten Weiten und beobachtet ein Lichtpünktchen, das möglicherweise irgendwann einmal eine Rakete erreicht. Doch auch beim Dröhnen der Raketen wird er sich nach den Assonanzen des unscheinbaren Sängers der Wälder sehnen." An einer anderen Stelle spricht er von einem Menschen, der auf einem Kosmodrom steht und ins All blickt: „Doch da wenden sich seine Augen zur Erde. Unter seinen Füßen haben sich durch die Betonplatten die ersten grünen Grashalme einen Weg gebahnt — mit ihnen grüßt die Erde den Frühling, der aus dem Kosmos kommt." 1 2 1 Rakete und Nachtigall — oder auch Weltall und Grashalm — sind zwei wichtige poetische Pole des Spannungsfeldes, in dem Literatur sich heute bewegt, wobei jedoch, um im Bilde zu bleiben, der lyrische Strom in Richtung des zweiten Poles fließt. Auch auf dem Gebiet der wissenschaftlichen Phantastik verrät die Kunst deutlicher denn je diese innere Bewegungsrichtung. Der Film des sowjetischen Regisseurs Tarkowski Solaris (1972), mit seinen Bildern der Bäume, eines Teiches, des Regens, großer roter Kirschen, ist dafür eindrucksvoller Beweis. Er dringt in die Tiefen menschlichen Bewußtseins unserer Zeit, in das Wesen der Schönheit unserer Erde viel weiter vor als in die Zukunft kosmischer Expeditionen. Als ein wichtiges Sinnbild irdischer Schönheit figuriert in diesem Film — und auch anderswo — das Pferd, ein Tier, dessen Daseinsberechtigung technisch-ökonomisch betrachtet längst in Frage gestellt ist und das gar angesichts kosmischer Flüge als ein anachronistisches Wesen erscheinen müßte. Eine ähnliche Funktion wie hier haben Bilder mit Pferden in dem polnischen Film des Regisseurs Zanussi Struktur des Kristalls (1970). Überhaupt erscheint die Bildsprache beider Filme in vielen ähnlich, obwohl sie völlig verschiedene Problemstellungen haben. Vor weißer Winter119
landschaft erscheint in schwarzen Konturen die Struktur schöner Gebilde der Natur: Bäume, Pferde, die Maserung eines Holzscheites; in Solaris prangt vor dem Hintergrund der Schwärze des Kosmos die üppige Buntheit des Lebendigen. Solaris enthält eine leidenschaftliche Polemik gegen triviale Auffassungen von einer „kosmischen" Zukunft der Menschheit, und die Bildgewalt der Struktur des Kristalls wendet sich gegen den selbstgefälligen Satz eines Physikers, der im Film sagt: „Die Natur ist übertroffen, überholt" (Przyroda jest zdystancowana). Die Tendenz in der Literatur, vielleicht sogar in allen Kunstgattungen, geht vom „Weltall" wieder mehr zum „Grashalm", um die Wörter aus Miezelaitis' Lyrischen Etüden noch einmal zu zitieren. Und es scheint eine internationale Tendenz zu sein, wie der polnische Film zeigte und wie auch in der kleinen Prosa Erwin Strittmatters nachzuweisen ist. Wobei die Hinwendung zur Erde hier und auch anderswo nicht bei bloßem Bestaunen ihrer Naturschönheit stehenbleibt, sondern Bewunderung mit tätigem Verhalten zu ihr zu verbinden weiß: Damit der Wald rauscht, die Gärten blühen — vergiß nicht die Sorge der Erde! 122 ruft der Dichter Adam Schogenzukow in seinen Kabardinischen Sonetten jemandem zu, der sich in den Anblick der Wolken versenkt hat. Nikolai Rylenkow bekennt im nämlichen Sinne: Den Aufbruch zu fernen Sternen achtend und schätzend der Astronauten Heldentaten, kann ich nicht vergessen, daß ich eine irdische Pflicht habe, die keinen Tag Aufschub duldet, daß auf üppigem Feld der Ernte harrt meine irdische Blutsverwandtschaft. 123 In der Zeit der kosmischen Flüge schreibt der balkarische Dichter Kajssyn Kulijew das Buch der Erde (1972). Kulijew besingt darin Bäume, Vögel, einen alten Hund, den Morgen, 120
die Jahreszeiten, Leben und Tod und immer wieder: die Arbeit. Nichts wäre verfehlter als der Schluß, die Bergwelt des Kaukasus, das Dasein in dieser Natur habe den Dichter den schwierigen Problemen unserer Zeit entrückt. Kulijews Hymnik schließt das Bewußtsein von den Widersprüchen des Lebens auf der ganzen Erde ein: Irgendwo wachsen die Stapel mit Wasserstoffbomben, aber bei uns am Elbrus, auf herbstlichem Hang, wie vor Jahrhunderten, schimmert golden die Erde in blauer Stille mit frischgemähtem Heu . . , 124
Die Freude, die dem drohenden Inhalt der ersten Zeile entgegengesetzt wird, ist nicht geboren aus naiver Unwissenheit, sondern aus dem Gefühl der Sicherheit, die sein großes Heimatland dem Dichter gewährt. Die Schönheit der heimatlichen Berge würde zuschanden, wäre sie nicht sicher geschützt. Der Humanismus und Optimismus der dritten und letzten Strophe des Gedichts baut auf eben diesem Wissen um die Stärke des Sowjetlandes, um die historisch fest verwurzelte, halbhundertjährige Realität des Sozialismus auf: Ich glaube, so wisset, ich glaube an die Unsterblichkeit des Grases, an den guten Geist der Milch, der den Menschen Kraft bringt, an das Lachen des Kindes, an die überaus stille Glätte des Himmels und an das Feuer, das unser täglich Brot bäckt! 125 Zu anderen Zeiten wären das alles Allgemeinplätze gewesen, die kaum poetische Aussagekraft erlangt hätten. Kulijew und sein Leser aber wissen, daß Gras, Milch, Kinderlachen, Feuer, also Energie, und tägliches Brot durchaus keine Selbstverständlichkeiten sind, daß die Sicherung 121
dieses Elementaren für alle Bewohner der Welt eine ungeheure Leistung ist. Immer mehr Menschen begreifen, daß allein der Sozialismus diese Leistung vollbringen kann. Mit den „Selbstverständlichkeiten" Gras, Milch, Feuer usw. fangt alles an — das Leben mit seinen unzähligen materiellen und geistigen Daseinsformen, die Liebe, das Glück, Kunst, Wissenschaft, Kosmosforschung. Die kühnsten Metaphern kosmischer Lyrik beginnen vor den einfachen Bildern irdischen Lebens zu verblassen. Es vollzieht sich nicht das, was Boris Sluzki im Gedicht Physiker und Lyriker bitternüchtern konstatieren zu müssen glaubte — die poetische Kraft gehe allmählich auf die Logarithmen über. Das Gegenteil ist der Fall. Parallel zu der starken Verdichtung, Aufladung der Begriffe, wie sie bei Martynow und Wosnessenski gut zu beobachten waren, geht die poetische Neukonstituierung eines großen Wortarsenals, das vorwiegend Erscheinungen der Natur bezeichnet. Grashalm, Baumblatt, Erde, Wasser und Luft wecken als lyrische Sinnträger bei den Zeitgenossen der wissenschaftlich-technischen Revolution einige andere Assoziationen als sie Menschen früherer Jahrhunderte und selbst Jahrzehnte hatten, diese Assoziationen bewegen sich weitab von Schwärmerei und Weltflucht. Der Mensch, der dem Naturwüchsigen entkommen zu sein scheint und es bis zu einem gewissen Grade auch ist, empfindet solche Worte als Erinnerung oder Mahnung an das Kostbarste, aus dem er hervorging, ohne das er nicht leben kann und auf das seine kühnsten Visionen und Zukunftspläne aufbauen müssen. Der Kosmosflug beginnt mit dem Grashalm, weil dieser „Sauerstoff", „Luft zum Atmen" assoziiert, die Rakete steht auf der Erde, weil nur in dieser die Stoffe und Energien schlummern, aus denen sie entstanden ist. Kein Schritt in den Kosmos, ehe die „irdische Blutsverwandtschaft" von „üppigem Feld" (Rylenkow) nicht geerntet ist. Die starke Abhängigkeit des Menschen von der Erde, seine Zugehörigkeit zu ihr ist mit dem Wort „Blutsverwandtschaft", womit die Produkte des Feldund Gartenbaus gemeint sind, sehr eindringlich metaphorisiert. In die „ewigen" Begriffe der Naturlyrik ist die Fülle der Weltbeziehungen und epochalen Erfahrungen des sozi122
alistischen Menschen der sechziger und siebziger Jahre unseres Jahrhunderts eingedrungen und verleiht ihnen somit neuen poetischen Glanz. Die Patina des Altbekannten, Selbstverständlichen ist durch die rauhen Realitäten dieser letzten Jahrzehnte von den Dichterworten abgeschliffen worden, der Leser kann nicht mehr über sie hinwegsehen. Buch der Erde, „Blutsverwandtschaft" mit den Getreidehalmen und Obstbäumen, das hat mit dem berüchtigten Mythos von „Blut und Boden", von dem faschistische Literatur in Deutschland einst ihr kümmerliches Dasein fristete, nicht das Geringste zu tun. Hinter diesem Mythos stand die Aggressivität des deutschen Imperialismus, angeblich von „deutschem Blut" getränkte Erde wiederzugewinnen. Die Hinwendung der sowjetischen — und nicht nur der sowjetischen — Dichtung zur Erde, die Betonung der engen Verwandtschaft aller Geschöpfe dieser Erde ist letztlich gegen jene Mächte gerichtet, die damals — auch mit Hilfe des Blut- und Boden-Mythos — die ganze Welt sich botmäßig machen wollten, und die heute auf ihrer Jagd nach dem Maximalprofit das Leben auf dieser Erde erneut und viel stärker gefährden. Lyrik, wie sie Kulijews Buch der Erde repräsentiert, will der Erde keine mythischen Kräfte andichten, sie ist realistisch, sie nennt die Dinge einfach beim Namen: Wir sind Kinder der Erde. Und sie ist sozialistisch: Die Menschen stehen dem komplizierter werdenden Verhältnis Gesellschaft—Natur nicht machtlos gegenüber, die im Sozialismus „assoziierten Produzenten" haben es in der Hand und sie haben die Kraft, Grashalm, Kinderlachen, Himmelsbläue, Wärme und täglich Brot auf dieser Erde für sich zu sichern. Diese Lyrik wirkt in gewisser Weise auch entmythologisierend in eine andere Richtung: Sie hilft kosmische Hypertrophien im Denken einiger Zeitgenossen abzubauen. Die Kosmosforschung dient den Sorgen und Problemen des Hier und Heute unserer Erde, damit die Menschheit jene grandiosen Möglichkeiten, die die Weltraumfahrt für sehr, sehr weite Perspektiven eröffnet, dereinst auch wird nutzen können. Vielleicht sind die scheinbar „konservativen" Verse eines Kajssyn Kulijew zukunftsträchtiger als manche kühne kosmische Vision: 123
Die Raketen fliegen zum Mond, jagen hinauf zu nichtirdischen Höhen, Die Raketen fliegen empor zum bestimmten Ziel, aber die Vögel wohnen auf der Erde, und die Bächlein schlängeln sich über die Erde, hier ist unser Herd und unsere Wiege. Alles, was wir haben, gab uns die Erde, und außerhalb der Erde ist weder gut noch böse. Und mögen die Sternenflieger in den Himmel jagen, Erde, wir sind alle von dir geboren, und im Wünschen, jede Höhe zu erreichen, bist allein du der Anfang jeglichen Erwägens. Das Flugzeug löste sich auf im Himmelsdunst, die Rakete schoß davon und verschwand irgendwo. Doch das Flugzeug ist auf der Erde entstanden und auf der Erde erfand man die Rakete. 126 Wenn — wie dargelegt — im Spannungsfeld zwischen den Polen „Weltall" und „Grashalm" der Strom der Lyrik heute in Richtung „Grashalm" fließt, so rührt die poetische Spannung vom anderen Pol her. Erst das Wissen um die Konsequenzen dieser wesentlichen Besonderheit unserer Zeit — wissenschaftlich-technische Revolution —, für die „Weltraumfahrt" nur eine besonders prägnante Ausdrucksform ist, hat die Sinne der Dichter geschärft für bestimmte Bereiche unseres Lebens. Die so verlockende Aussicht, einmal die Erdenschwere loszuwerden und leibhaftig nach den Sternen — den seit je bewunderten und besungenen Himmelskörpern — greifen zu können, hat das Gegenteil provoziert : Das Bedürfnis, die Schönheiten der heimatlichen Erde auch poetisch zu sehen, sich neu anzueignen. Das wurde und wird um so stärker, je mächtiger die Wissenschaft in den Kosmos vordringt, je mehr sie Unbekanntes zu Bekanntem macht. Das poetische In-den-Kosmos-hinein-Träumen wird schwieriger, je härter dort die Konturen der Realität hervortreten. Die Menschen im Sozialismus wissen, daß sie auf Gedeih und Verderb die Erde wohnlich einrichten müssen, daß der größte Teil der Ergebnisse der Kosmosforschung seinen Nut124
zen erst in einer fernen Zukunft zeitigen wird, und diese Zukunft wird vor allem auf der Erde selbst vorbereitet. Die Erde menschlicher einzurichten aber ist in erster Linie eine soziale Aufgabe, Illusionen über ein heute schon beginnendes menschheitsvereinendes „kosmisches Zeitalter" können da nicht aufkommen. Deshalb hat die Blickwendung der Poesie zu den wesentlichen Belangen der Erde eine sozialistische Tendenz, ist sie ein Ausdruck sozialistischer Parteilichkeit. Das Wohnlichmachen der Erde ist eine soziale, revolutionäre Aufgabe,^aber sie ist ohne die wissenschaftlich-technische Revolution nicht zu lösen. Von dieser gehen für die Poesie auch deshalb Impulse aus, weil durch das Eindringen in die Naturgesetze nicht nur Neues entdeckt wird, sondern stets weitere Dimensionen des Noch-zu-Entdeckenden erschlossen werden, die den Menschen immer wieder staunen machen, ihn aber zugleich härter und unnachgiebiger zwingen, auch diese neuen Dimensionen auszuforschen — um des Lebens willen. Man denke etwa an die Ernährungssituation in der Welt — eine im wesentlichen sozial zu lösende Frage — und die Erkundung der Fotosynthese, die forciert werden muß, weil auch sie ein möglicher Weg zur Bewältigung des Nahrungsmittelproblems ist. Erwin Strittmatter hat das bereits reflektiert, mit der Kleinen Fabrik121, worin er über das große Geheimnis des alltäglichen Vorgangs „Fotosynthese" nachdenken läßt. Das ehemals leichte poetische „In-den-Kösmos-Träumen" wird von der Wissenschaft erschwert, die nicht weniger schwierige poetische Neugewinnung von scheinbar trivialen, alltäglichen irdischen Dingen wie Grashalm, Baum, Wasser wird indessen interessanter, weil sich damit im Bewußtsein des Zeitgenossen eine bitter notwendige soziale und naturwissenschaftliche Aufgabe assoziiert. Das hat das Denken ungeheuer aktiviert. In den poetischen Begriffspaaren Rakete und Nachtigall, Weltall und Grashalm, ist keines der Glieder eliminierbar, das eine verleiht dem anderen die für unsere Zeit so charakteristische Spannung. Die Rückkehr der Lyrik vom kosmischen Flug zur Erde negiert diesen Flug dialektisch, indem sie ihn in der Poetisierung einfacher irdischer Dinge aufhebt. 125
Im Schlußbild des Films Solaris sieht man in einer bedrückenden Vision den Raumfahrer heimgekehrt auf eine unbehauste, wüste, in Frost gebannte Erde. Sicher ist das nicht das Sinnbild für die eben erläuterte Rückkehr der Lyrik aus dem Kosmos. Es verweist aber auf einen Faktor der Wirklichkeit, der diese Rückkehr dringlich gemacht und stark beschleunigt hat: Auf das Miteinander der Natur und der vom Menschen geschaffenen „zweiten" Natur, von natürlicher Umwelt zu Gesellschaft, Industrie usw. Vor allem ab Ende der sechziger Jahre hat die Sowjetliteratur sehr rasch und sehr intensiv darauf reagiert.
Natur — Ökonomie — Literatur Es ist kein hoffnungsvolles Bild, das uns Wladimir Solouchin in der Erzählung Homo sapiens (1972) vor Augen hält. Bei einem Besuch in Aserbaidshan zeigen ihm seine Freunde eine Hochebene, die ehemals von einer sehr schönen Gazellenart, den Dshejrans, bewohnt war. Das Fleisch dieses Tieres galt als schmackhaft, die Dshejransteppe ist heute verödet: „Wir kamen auf einen Planeten, und ringsum war Leere. Übrigens könnte man diese Steppe als Modellbild eines unbekannten Planeten noch ertragen. Aber wie ist es, wenn sie das Beispiel unserer eigenen künftigen Erde ist? Wenn die Dshejran-Gazellen so schnell verschwunden sind, warum sollte nicht mit der Zeit auch anderes irdisches Getier verschwinden: Schwäne und Wölfe, Elefanten und Panther, Adler und Füchse, Habichte und K r a n i c h e ? " 128 Und zur Bekräftigung dessen schildert Solouchin, wie die Reisegesellschaft im Restaurant am Sewan-See, dem Ziel ihrer Fahrt, Unmassen von Forellen verzehrt: „Am Nebentisch erheben sich, wie bei uns, Berge aus abgenagten Fischskeletten. Das Brot rührt keiner an, niemand will Fleisch — hoch im Kurs ist allein die rosige, zarte, aromatische, saftige, im Mund zergehende, unsere unersättlichen Bäuche nicht belastende silbrige, gedünstete Forelle." 129 126
Eine solche Szene würde in früheren Jahren Vorstellungen der Üppigkeit, des Wohlseins, des irdischen Reichtums, der Freigiebigkeit der Natur erweckt haben. Daraus hätte ein Künstler wie Wladimir Solouchin ein wunderbares Stilleben machen können. Nichts davon in dieser Erzählung, das Gegenteil soll bewirkt werden und wird auch bewirkt: Ein bedrückendes Gefühl der Erschöpfbarkeit der Naturvorräte kommt auf, die Szene wird im Kontext des Werkganzen zur eindringlichen, aufrüttelnden Mahnung, die Natur nicht gedankenlos auszubeuten, sich darum zu sorgen, wie sie ihren Reichtum zum Nutzen und zur Freude der Menschen behält. Solouchin steigert diese Wirkung im weiteren Fortgang seiner Erzählung und erweitert sie durch einen neuen Akzent: Es geht ihm letztlich um die Verantwortung des Menschen für alles Leben auf der Erde überhaupt. Aber mit der Steigerung taucht ein Widerspruch im ideell-ästhetischen Gefüge der Erzählung auf, der zwar von Solouchin augenscheinlich bewußt hineingetragen ist, für dessen Lösung der Autor dem Leser aber keinen Weg weist. Da wird geschildert, wie die Reisegesellschaft während der ganzen Fahrt — die einen Tag dauert — im dunklen Kofferraum ein gefesseltes Lamm mit sich führt, das zum Picknick geschlachtet, zu Schaschlyck verarbeitet werden soll. Der Erzähler — wir dürfen ihn hier wohl mit dem Autor nahezu identifizieren — erfährt von dieser Quälerei erst am späten Nachmittag des Reisetages: „Die schwarzen lackierten kleinen Hufe, die so elegant und genau von jenem, der dies Projekt ausgearbeitet hat, konturiert waren, starrten kläglich zu uns herüber [. . .] In meinem Bewußtsein begann ich sofort alles einander gegenüberzustellen. Wir, die Menschen, sind den ganzen Tag an der frischen Luft, in der Sonne, trinken Quellwasser, führen nach Herzenslust lange Gespräche, besichtigen Altertümer, essen Forellen — und in dieser gleichen Zeit, im Kofferraum, in der Dunkelheit, in unbequemer Lage, gefesselt, zum Schlachten vorbereitet, harrt seines Schicksals ein stummes Geschöpf, unser Mitbewohner des Planeten, dessen Los es seit biblischen Zeiten — und noch früher — ist, uns zu kleiden und als Nahrung zu dienen. Irgendwann einmal hatte 127
es mächtig Pech gehabt — es geriet in den Stand der Haustiere." 130 Die Erinnerung an den Anblick der Dshejransteppe, an das Forellenessen und ein wenig auch der Kognak bringen den Erzähler auf die fixe Idee, um die Freilassung des Schäfchens zu bitten. Die Sinnlosigkeit dieser Bitte, die Kläglichkeit dieses Versuchs, etwas für den Erhalt des Lebens zu tun, sind von Solouchin künstlerisch sehr stark gestaltet. Hier bricht der Widerspruch auf: Der Mensch kann die Natur nicht unberührt lassen, er ist gerade deshalb Mensch, weil er sie verändert. Die gedankenlose Tierquälerei an dem Schaf ist moralisch zu verurteilen, aber der Eingriff in die Natur, wozu das Töten von Tieren gehört, ist unvermeidlich. Der Ernst der Erzählung, der bei der Beschreibung der Dshejransteppe, des Forellenessens und des Schäfchens im Kofferraum zu spüren war, mündet in eine Stimmung, die einem Katzenjammer gleichkommt. Der knapp und erregend gestaltete Widerspruch zwischen der notwendigen Erhaltung der Natur und ihrer Geschöpfe einerseits und der genauso notwendigen Einwirkung auf die Natur, der Aneignung ihrer Reichtümer andererseits macht den Leser aber auf den Widerspruch in der ideell-ästhetischen Struktur der Erzählung selbst aufmerksam. Solouchin beklagt an einer Stelle das Absinken des Wasserspiegels im Sewan-See, und diese Klage fügt sich — scheinbar — nahtlos in den Kontext ein: die Verödung der Dshejran-Steppe, die Vertilgung der Forellen, die Quälerei des Schafes. Dabei — und hier übergeht Solouchin etwas Wesentliches — hat das Abfließen des Wassers aus dem See eine völlig andere Ursache als die übrigen Erscheinungen. Dort lag in der Tat Gedankenlosigkeit, Gleichgültigkeit, Kurzsichtigkeit vor, und dies zu attackieren, ist eine erstrangige Aufgabe der Kunst. Der Sewan-See jedoch lieferte und liefert sein Wasser für eine Kaskade von Kraftwerken, diese wurden und sind Grundlage der Industrie Sowjetarmeniens, der Anfang des Reichtums dieses ehemals bitter armen Gebietes. Man muß auch erwähnen, daß die Sowjetmacht einen langen Felstunnel bauen läßt, durch den dem See wieder Wasser zufließt. Was mit dem Sewan geschah und geschieht, ist keine gedanken128
lose Ausbeutung der Natur, sondern lebensnotwendige Arbeit für die Menschen. Der hier offenkundige Bruch im Werkganzen ist insofern aufschlußreich, weil er ein sehr ernstes Problem unserer Zeit reflektiert. Im Sozialismus wurde bei der Entwicklung der Wirtschaft immer planmäßig und auf weite Sicht gearbeitet. Dennoch ist auch dabei die Regelung des Miteinanders von Industrie und Natur nicht widerspruchslos verlaufen. Die wissenschaftlich-technische Revolution macht die Regelung komplizierter, vergrößert mit den Dimensionen, die sie der Auseinandersetzung zwischen Mensch und Natur verleiht, auch die Probleme, allerdings auch die Chancen, sie zu bewältigen. Der prinzipielle Unterschied zwischen Kapitalismus und Sozialismus auf diesem Gebiet ist nicht darin zu suchen, daß etwa der Sozialismus den komplizierten Stoffwechsel zwischen der Natur und der vom Menschen freigesetzten „zweiten Natur" vollkommen glatt regelt, während der Kapitalismus dauernd mit Schwierigkeiten zu kämpfen hat. Eine solche Auffassung ist naiv, wenngleich man sie bei uns noch antrifft. Der Unterschied besteht vielmehr in den nahezu unbeschränkten Möglichkeiten des Sozialismus, die Widersprüche zu mildern oder zu überwinden (die einzigen notwendigen Beschränkungen ergeben sich aus noch nicht gelösten technischen Problemen, aus der Bereitstellung von großen Mitteln für die Verteidigung, für die Unterstützung der Länder der dritten Welt) und dem sehr eingeengten Spielraum des Kapitalismus — eingeengt durch die Jagd nach Maximalprofit und den damit verbundenen erbitterten Kampf der Monopole gegeneinander. Was Solouchin neben anderem nun beunruhigt, ist genau besehen der Preis, den Armenien für seinen wirtschaftlichen Aufstieg gezahlt hat — das Sinken des Wassers im Sewan-See. 131 Wenn die Dialektik der Entwicklung, das enge Beieinander von Fortschritt und Verlust, so glasklar zutage tritt, ist es in der Tat schwer, sie zu bejahen. Solouchin bestritt den Einfluß der wissenschaftlich-technischen Revolution auf die Literatur. Hier, in der Erzählung Homo sapiens, hat sie jedoch die Struktur seines eigenen Kunstwerkes mitgeprägt. 9
Hiersche, Sowjetlit.
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Das Beispiel des Sewan-Sees ist charakteristisch für unsere gesamte heutige Entwicklung, es zeigt — vielleicht eindringlicher als zu anderen Zeiten — die Dialektik des Lebens. Engels wies daraufhin, daß sich die Natur für jeden Sieg über sie räche. 132 Nach den unmittelbaren, gewünschten Folgen einer Maßnahme zeigten sich weitere, unerwünschte oder nicht vorhergesehene. Engels nennt als Beispiel u. a. die Abholzung der Wälder in Mesopotamien, Kleinasien usw., die erst fruchtbares Ackerland erzeugte, später aber Wüsten zur Folge hatte. Er meint in weiterem, daß wissenschaftlicher und vor allem gesellschaftlicher Fortschritt dazu führen wird, die unerwünschten Folgen vorausbestimmen und die Entwicklung auf weite Sicht beherrschen zu lernen. In diesem Prozeß befindet sich heute die sozialistische Gesellschaft. Dennoch wäre es ein Rückfall in metaphysisches Denken, anzunehmen, von nun an verliefe die Entwicklung widerspruchsfrei. In der Diskussion zum Film Solaris sagte der bekannte sowjetische Philosoph Arab-Ogly: „In der Regel sind die negativen und positiven Folgen wissenschaftlicher Entdeckungen und technischer Neueinführungen zwei Seiten einer Medaille." 133 Dieses Bewußtwerden der Dialektik, der spezifischen Widersprüche zwischen Wirtschaft und Natur in der sozialistischen Gesellschaft, die Einsicht, daß diese Gesellschaftsordnung nicht gleichbedeutend ist mit einer Idylle, in der dem Menschen in der Auseinandersetzung mit der Natur alle Errungenschaften kampflos in den Schoß fallen, ist vielleicht einer der wichtigsten Stimuli der Entwicklung sozialistisch-realistischer Literatur in unserer Zeit. Das Vorhandensein und die für den Sozialismus charakteristische Lösung solcher Widersprüche ist am Beispiel des SewanSees gut deutlich zu machen: Die sozialistische Gesellschaft duldet nicht — wie frühere Sozialordnungen in vergleichbaren Fällen verfahren wären — das totale Auslaufen des Sees, sondern sie wendet die Mittel auf, den See zu erhalten. Ein ganz anderer Fall ist die Ausrottung der Gazellen in der Dshejransteppe, die den Ausgangspunkt der Handlung in Solouchins Erzählung bildet und auch die ideelle Einstimmung gibt. Hier liegt tatsächlich ein Versäumnis vor, das 130
zwar begreiflich ist aus der besonderen Situation des Sowjetlandes — jahrzehntelang hatte man hier weit größere Sorgen als gedankenlosen Wilderern das Handwerk zu legen —, dessen Folgen nichtsdestoweniger aber alarmierend sind und zu Recht auch die Literatur beschäftigt. Der Philosoph Iwan Laptew hat in diesem Zusammenhang einen wesentlichen Gedanken geäußert: Der Mensch könne heute, wenn es notwendig wäre, Leonardo und Raffael originalgetreu kopieren, jeden beliebigen Palast neu erbauen, auf den Mond fliegen und Berge versetzen. Wenn aber etwa der BucharaHirsch ausstürbe, so reichte die ganze Macht der Menschheit nicht aus, ihn wieder zu erzeugen. Er v e r s c h w i n d e t f ü r i m m e r . 1 3 4 Insofern ist der Ernst, die innere Erregtheit der Erzählung Solouchins verständlich und notwendig. Der Titel, der angesichts des Inhaltes bitter ironisch wirkt — homo sapiens — enthält andererseits doch die Überzeugung: Der Mensch hat alles in der Hand. Wir verstehen ihn sicher am besten als Imperativ: Mensch, sei weise, gebrauche deine Weisheit! Das von Solouchin angedeutete Problem, das weit vor ihm schon von Leonid Leonow, auch im Film Am See von Sergej Gerassimow gestellt wurde, ist d a s Problem des Jahrhunderts, und es ist w e l t w e i t : Wie kann die menschliche Gesellschaft ihren Stoffwechsel mit der Natur rationell regeln, welche Gesellschaftsordnung bietet dafür die besten Möglichkeiten? Im Poem Eis 69 hat Wosnessenski den Versuch unternommen, diese Fragestellung ästhetisch zu analysieren und zugleich zuzuspitzen. Mit dem Titel verwendet — oder persifliert — Wosnessenski ein gängiges internationales Wortmodell, mit dem allgemein Ausstellungen bezeichnet, überhaupt zusammenfassende, auf kleinem Raum geordnete Sach- oder Gedankendarstellungen betitelt werden. Im Poem sagt die Exkursionsführerin des „Eismuseums" zum lyrischen Ich: Der Schlafatem der Völker und die Ausdünstungen der Hast streben zum Himmelsgewölbe empor, schlagen sich nieder und bilden Eismassen. 131
Und es wägen unsere Schuld in weißen schneeigen Breiten, wie schwarze kleine Gewichte, die Pinguine, wenn sie D D T loshusten. Weiter heißt es: Der Petschenege befreit sich räuspernd von radioaktiven Niederschlägen. Und über Stockholm steht roter Schnee wie eine rötliche Neun. 1 3 5 Das Problem ist ernst. Umweltveränderung (Wasserkraftwerke, Stauseen usw.) und Umweltverschmutzung (Industrieabfälle und -abgase usw.) und die Begrenztheit irdischer Ressourcen haben eine große Unruhe ausgelöst, die schon allein deshalb nicht auf die kapitalistische Welt beschränkt sein kann, weil Erdatmosphäre und Weltozeane sozialistische wie kapitalistische Länder umgeben, weil auch der Sozialismus nicht unbeschränkt Rohstoffe besitzt. Jährlich werden gegenwärtig etwa 200 Millionen Tonnen giftiger Gase in die Atmosphäre geschleudert, davon etwa 95 Millionen Tonnen Auspuffgase der Autos und Flugzeuge; hinzu kommen noch 50 Millionen Tonnen Asche und 26 Millionen Tonnen Schwefeldioxyd von Fabriken und Wärmekraftwerken. 1 3 6 In den letzten fünfzig Jahren hat die Menschheit so viel Sauerstoff verbraucht wie in ihrer gesamten Geschichte zuvor. 137 Ein englischer Soziologe schrieb 1970: „Eine immer größere Anzahl Wissenschaftler ist der Auffassung, daß die Verschmutzung der Erdoberfläche, der Atmosphäre und des Wassers eine ebensolche Bedrohung für die Menschheit darstellt wie der Kernwaffenkrieg. 138 Diese Tatsachen veranlassen vor allem seit Anfang der siebziger Jahre viele bürgerliche Wissenschaftler, schwärzeste Voraussagen für die nächsten hundert Jahre zu treffen, Panikstimmung zu erzeugen. Führend ist hierin der sogenannte Klub von Rom unter der Leitung von Aurelio Peccei. Der Klub setzt sich aus Vertretern des internationalen Monopolkapitals und aus Wissenschaftlern verschiedener Diszi132
plinen zusammen. Es ist seine Aufgabe, herangereifte weltweite Widersprüche des imperialistischen Systems zu erforschen und Lösungen vorzuschlagen, die systemimmanent bleiben und systemstabilisierend wirken. Sehr folgerichtig und für viele Menschen plausibel nennt der Klub als Ursache für die Umweltmisere u. a. das Bevölkerungswachstum, die Industrialisierung, die wissenschaftlich-technische Revolution. 139 Mögen die Intentionen vieler für den Klub von Rom arbeitender Wissenschaftler lauter, ihre Besorgnis echt sein, objektiv dient diese Arbeit der Verschleierung des tatsächlichen Grundwiderspruchs der Epoche. Sie empfehlen den Entwicklungsländern, die die Industrialisierung bitter nötig brauchen, um des Elends Herr zu werden, den Aufbau ihrer Wirtschaft zu drosseln, sie predigen allerdings auch den hochentwickelten Ländern, Maß zu halten. Sie wollen eine rationelle Regelung des Stoffwechsels mit der Natur ohne Regelung der Gesellschaftsverhältnisse. Das ist ein Ding der Unmöglichkeit. In der kapitalistischen Welt selbst gibt es Gelehrte, die — ohne Kommunisten zu sein — im Gegensatz zum Klub von Rom die wichtigsten Ursachen für die Umweltmisere erkennen: Rüstung, Jagd nach Maximalprofit, ökonomische Ausbeutung der dritten Welt. 140 Um es noch deutlicher zu sagen, wer die Hauptverantwortung für den unbefriedigenden, ja alarmierenden Zustand unserer Welt trägt: In den USA wohnen 5,7 Prozent der Erdbevölkerung. Diese 5,7 Prozent verbrauchen aber 40 Prozent der Naturreserven, die auf der ganzen Erde ausgebeutet werden, und sie verschulden 50 Prozent der Umweltverschmutzung der Erde. 141 Nur in diesem Kontext sind literarische Werke wie das Poem Eis 69 von Andrej Wosnessenski und viele andere richtig zu verstehen. Die einzige Alternative zu der Hysterie vieler bürgerlicher Wissenschaftler bietet die Gesellschaftspraxis des Sozialismus. Hier wird nüchtern, stufenweise das Problem gelöst, nach einem großen gesamtgesellschaftlichen Plan. Ein Wunderrezept hat auch der Sozialismus nicht, aber ein Konzept, das in Aktion ist, das nicht von Privatinteressen durchkreuzt wird. Der Oberste Sowjet der UdSSR beriet im September 1972 in einer speziellen Sitzung über den Komplex 133
Umweltschutz, Umweltveränderung, Naturreserven. Auf der Grundlage dieser Beratung faßten das ZK der KPdSU und der Ministerrat der UdSSR im Januar 1973 den Beschluß Über die Verstärkung des Naturschutzes und die Verbesserung der Ausnutzung der Naturreserven,142 Naturschutz — im weitesten Sinne dieses Wortes — und rationeller Umgang mit den Ressourcen werden darin als eine der wichtigsten staatlichen Aufgaben bezeichnet und sind ab 1974 integraler Bestandteil aller Jahres- und Fünfjahrespläne. Mit dem Studienjahr 1972/73 wurde an allen Hochschulen in die Vorlesung Einfiihrung in das Fachgebiet das Kapitel Naturschutz aufgenommen, es umfaßt je nach Disziplin fünf bis zwanzig Stunden. 143 Im Juni 1973 widmete die Akademie der Wissenschaften der UdSSR ihre Vollversammlung ausschließlich dem Thema Schutz der Biosphäre und rationelle Nutzung der biologischen Ressourcen.144 Alle diese Maßnahmen entstanden nicht ad hoc, sie basieren auf einer langen Tradition. Von Lenins persönlichem Einsatz auf diesem Gebiet war schon die Rede. Als in den zwanziger Jahren das relativ kleine Wolchow-Kraftwerk projektiert wurde, berücksichtigten die Wissenschaftler alle Faktoren der Umweltbeeinflussung.145 Mit der Größe ähnlicher Vorhaben wuchs die Schwierigkeit, alle zu erwartenden Folgen wissenschaftlich exakt zu bestimmen. Beim Bau des Wolga-DonKanals in den fünfziger Jahren beispielweise erlaubte der damalige Wissensstand noch nicht, alles Für und Wider zu erwägen.146 Der erwähnte Beschluß des ZK wie auch die Vollversammlung der Akademie fordern nun gerade die k o m p l e x e Vorbereitung aller großen Bauvorhaben in der Industrie, aller umweltverändernden Maßnahmen. Die wissenschaftlich-technische Revolution hat auch hier die Voraussetzungen für eine solche Komplexität geschaffen. Sie brachte viele Umweltprobleme mit sich, aber zugleich trägt sie die Mittel zu deren Lösung in sich — wenn die gesellschaftlichen Bedingungen die Anwendung dieser Mittel befördern. Diese Dialektik wird von der Literatur immer deutlicher begriffen, darin zeigt sich nicht zuletzt eine konsequente Handhabung — oder gar Weiterentwicklung — der sozia134
listisch-realistischen Methode. Das Gedicht Luft von Leonid Martynow kann dafür als Beispiel dienen: Die Luft ist aus Seufzern entstanden, aus Ausrufen, Gebrüll und Geheul, sie ist eine Schöpfung des Lebens, und sie hat diese Erde bedeckt, ' mit einer Schicht Humus, mit Blumen, Blättern und Gras — die Luft, aufgerührt durch Flügelschlägen, auch vom Schnaufen der Rüssel. Wir, wir alle zusammen in Höhlen und Löchern, in Häusern, Gewässern und Nestern, mitunter uns noch gegenseitig mit Haut und Haaren verschlingend, haben mit Nüstern, Rachen und Mündern unsere Luft vollgeatmet, wir sind es, die die Atmosphäre schaffen, in der wir leben. Wir, Holzbrei in Zeitungen verwandelnd, Fell in Pelze und Kalbshaut in Bucheinbände, — wir waren es, die die Luftdecke unseres üppigen und stickigen Planeten vollatmeten, aber wir werden zum Bessern verändern dieses Planeten chemische Antlitz ¡147 Der Aufbau der Strophen erinnert im Auftakt an Wosnessenskis Eis 69 („Der Schlafatem der Völker/und die Ausdünstungen der Hast/streben zum Himmelsgewölbe empor, schlagen sich nieder" usw.); im Inhalt ist Martynow jedoch genauer. Wosnessenski interessiert die eine Seite der Sache — die Schuld des Imperialismus, und mit dem Bild der Sintflut und der sich „apokalyptisch" bewegenden Eismassen verweist er auf die historische Tendenz, die gewissermaßen 135
naturgesetzlich über den Kapitalismus hinweggeht. Martynow macht es sich schwerer, er zeigt präziser, daß auch die friedliche Arbeit der sozialistischen Gesellschaft, die Umgestaltung der Welt für den Menschen einige negative Folgen für die Natur gehabt hat. Seine optimistische Überzeugung, die Menschen werden die Kraft haben, alles zum Guten. zu wenden, mindert nicht den Gesamteindruck: Diese Wende wird große Mühen erfordern, denn die „Nüstern, Rachen und Münder" atmen weiter, Holzbrei wird weiter zu Papier, Kalbshaut zu Bucheinbänden verarbeitet, und die Gefahr, daß die Menschen sich gegenseitig mit „Haut und Haaren verschlingen", d. h. die Gefahr imperialistischer Kriege, ist noch nicht gebannt. Hinzu kommt noch: Es wachsen die Bedürfnisse der Menschen, eine Einschränkung der Produktion — wie sie die bürgerliche Konzeption vom „Nullwachstum" 1 4 8 empfiehlt — ist nicht möglich, ja sie wäre verbrecherisch, für große Teile der Menschheit tödlich. In dieser Situation wird jetzt oft auf die Klassiker des Marxismus-Leninismus verwiesen, die von der Befriedigung der „vernünftigen" Bedürfnisse 149 sprachen. Aitmatow sagte in einem Gespräch: „In unserer Zeit, so meine ich, ist es notwendig, nicht von menschlichen Bedürfnissen allgemein zu sprechen, sondern von ihrer vernünftigen Befriedigung." U n d : „Wir brauchen Kohle, Erdöl, Gas — ohne das kann die Gesellschaft nicht existieren. Aber wir müssen lernen, unsere Bedürfnisse, unsere mitunter zerstörerischen Handlungen den Bedürfnissen der Zukunft anzupassen. Das ist eine Frage von prinzipieller Wichtigkeit, und nicht allein eine ökonomische Frage." 1 5 0 Dieses Problems wird man sich auch in anderen sozialistischen Ländern bewußt. Erwin Strittmatter hat in seinem Buch Die blaue Nachtigall einen ähnlichen Gedanken geäußert: „Ach, es gibt so wenige echte, aber so viele unechte Bedürfnisse, und ich träume davon, daß wir Kommunisten uns eines Tages aufschwingen und den Menschen helfen, die unechten von den echten Bedürfnissen zu scheiden, selbst wenn wir uns dabei wieder einmal ganz und gar ,unpopulär' machen sollten." 151 Diese scheinbar „außerliterarischen" Äußerungen von Schriftstellern haben bei näherem Hinsehen sehr viel mit 136
der ideell-ästhetischen Funktion sozialistisch-realistischer Literatur in unserer Zeit zu tun. Nicht ein Maßhalteappell, wie ihn der Klub von Rom — einem Kassandraruf gleich — in die Welt schickt, sondern gesellschaftlich geplante und organisierte Bedürfniserziehung wird der Realität gerecht. An der Persönlichkeit des Menschen ist zu arbeiten, ständig, beharrlich, überzeugend, und nicht durch Einschränkungen und Verbote, sondern im Gegenteil, durch Provozierung all seiner schöpferischen Kräfte. Der Kapitalismus ist es doch, der den Menschen auf hohen m a t e r i e l l e n Konsum einprogrammieren will und es in den hochentwickelten Ländern im allgemeinen auch geschafft hat. Ratschläge kommen gegen diesen mächtigen objektiven Trend der Profitgesellschaft nicht an. Durch die volle Ausbildung auch der geistigen Kräfte und Interessen des Individuums, die der Sozialismus fördert und braucht, wird ein wirksamer Hebel zur Erzeugung v e r n ü n f t i g e r Bedürfnisse im Sinne der Klassiker des Marxismus-Leninismus geschaffen. Dabei ist auch der Einsatz der Literatur gefordert, und die Äußerungen Aitmatows und Strittmatters weisen darauf hin, daß diese historische ideell-ästhetische Aufgabe erkannt wurde. Kapitalistische Ökonomie ist am hohen verschwenderischen Konsum interessiert, denn nur so floriert die Zirkulation des Kapitals. Sozialistische Ökonomie zielt auf „ökonomischen", rationellen Verbrauch, denn dieser allein garantier^ die gesellschaftliche Reproduktion auf lange Dauer. Die Dialektik des Miteinander von erster (ursprünglicher) und zweiter (vom Menschen geschaffener) Natur beschäftigt die Schriftsteller aller Sowjetvölker, auch jener, die in einer historisch verkürzten Entwicklung zum Sozialismus gelangt sind. Oft findet sie mittelbaren literarischen Ausdruck in der Frage nach der Schönheit des Lebens unter den heutigen Daseinsbedingungen, ebensooft wird sie auch sehr unmittelbar ästhetisch reflektiert. Beides läßt sich beispielsweise in dem Roman Die Platane (1970) des usbekischen Schriftstellers Askad Muchtar beobachten. Der Roman, der vermittels Einzelschicksalen ein breites Panorama der Gegenwart Usbekistans gibt und in die Geschichte zurückgreift, ist aus Erzählungen, Legenden oder Parabeln aufgebaut. Eine 137
dieser Erzählungen steht unter dem Motto „Ich verneige mich vor der Schönheit der Welt" (Avicenna). Da wird berichtet, wie wegen Steigerung der Baumwollproduktion einige Bergdörfer mit hochentwickeltem Wein- und Obstbau entvölkert werden, die Menschen in die Steppensowchose umziehen und ihre alten Wohnstätten und Gartenkulturen verfallen. Die Zentralgestalt dieser Erzählung, Arif, kämpft nun um den Erhalt der Bergsiedlungen. Er setzt dem pragmatischen, einseitigen Kurs auf Effektivität um jeden Preis, auch um den des Verlustes kultivierter Gebiete, einen breiteren, komplexeren Plan entgegen: Sicherung maximaler Arbeits- und Lebensbedingungen als wichtigste Basis schöpferischer Tätigkeit des Menschen, letztlich auch als Voraussetzung höherer Produktivität im weitesten Sinne dieses Wortes. Der Kampf Arifs führt zum Erfolg, die Bergregion wird wieder besiedelt, ohne daß der ebenso notwendige Baumwollanbau eingeschränkt werden muß. Der Weg zu diesem Kompromiß ist hart und verlangt vollen Einsatz aller Beteiligten. Dieses und auch andere Beispiele zeigen: Die Sowjetliteratur ist weit davon entfernt, angesichts der gewaltigen Probleme, die die Regelung des Stoffwechsels der menschlichen Gesellschaft mit der Natur heute mit sich bringt, in Defätismus zu verfallen, „postindustrielle" Ideen zu propagieren. Äußerungen der Besorgnis über noch nicht gelöste Teilprobleme — wie sie bei Aitmatow, Solouchin und anderen zu finden sind — gehören zur parteilichen Grundhaltung der Sowjetschriftsteller insgesamt: Erste und zweite Natur bilden in ihrer Einheit die Welt des Menschen, die Widersprüche zwischen beiden Naturen sind nichts Katastrophales, sondern etwas Normales, das mit der Kraft der sozialistischen Gesellschaft beherrscht werden kann. „Die Diskussionen um den Fortschritt — um Technik, Maschinen, Wälder und Städte sind lächerlich", schreibt Andrej Wosnessenski in der poetischen Reiseskizze Hallo, Vancouver, und er fahrt fort: „Zwei Kulturen gibt es nicht, weil die Städte eben auch ein Produkt der Natur, ein Produkt der Bioströme des Hirns sind. Als ob die Stickstoff- oder Eisenverbindungen, wenn sie zu Autobussen geworden sind, aufhören, 138
biologische Komponenten jenes Prozesses zu sein, der Natur genannt wird." 152 Man bemerkt hier wieder die Neigung Wosnessenskis, gesellschaftliche Entwicklungen sehr pointiert in Beziehung zu setzen mit Vorgängen, die der Naturgesetzlichkeit unterliegen. Die Sowjetschriftsteller nehmen nichts von dem zurück, was sie seit den zwanziger Jahren an Hoffnungen mit dem Herausstellen aller menschlichen Wesenskräfte, mit dem Aufschwung von Industrie, Technik und Wissenschaft verknüpften. Ihr Kampf um die Erhaltung der ersten Natur negiert nicht das Pathos, mit dem sie seit je die zweite Natur schildern. Martynows Gedicht Die Werke (1955), dem dieses Pathos innewohnt, behält seine Gültigkeit: Es wird kalt. Staubige Wirbelwinde wehen. Und die Sonne, den Kopf geneigt, schenkt ihre schon kraftlosen Strahlen der Weite abgemähter Felder. Das rostrote Wasser in den Gräben wird eisig, jeden Augenblick können die Teiche zufrieren, aber hinter der Stadt lärmen die mächtigen Werke wie Gärten! 153 Eines an diesem Gedicht verrät seine Entstehungszeit: Das Gefühl der Überlegenheit der zweiten Natur über die erste — die Industrie ist mächtiger und beständiger als die ursprüngliche Natur, sie kümmert sich nicht um deren Gesetze, um den Wechsel der Jahreszeiten. Dies ist heute bei Martynow — man denke an die Gedichte Luft, Güter der Erde — diffiziler geworden, aufgeladen mit dem Bewußtsein des dialektischen Abhängigkeitsverhältnisses beider Komponenten, dialektisch aufgehoben — bewahrt und überwunden in einem. Und wenn wir noch das Gedicht Das Gesetz der Bewegung (1972) von David Kugultinow lesen, wissen wir, welch tiefe Überzeugung, welcher komplizierte Weg der Erkenntnis hinter der — scheinbar simplen — Aussage steht: 139
Manchmal steht die Zeit einen Augenblick still, und am Himmel zuckt ein Blitz, und es dunkelt über allen das bedeckte Himmelsgewölbe. Doch'ich lebe von einer Wahrheit, die ich um einen hohen Preis erwarb: Das Bewegungsgesetz der Natur ist immer — die Bewegung des Guten. Jahrhunderte und Jahre sagen zu mir: „Mein Sohn, es ist hohe Zeit, daß du begreifst, daß die Zeit mit uns ist: Zurück bewegt sie sich nicht!" 154 Die Sowjetschriftsteller sind sehr kühn an dieses schwierige Problem unseres Jahrhunderts herangegangen; was wir hier zeigen konnten, ist gewiß erst der Anfang. Es ist nur allzu verständlich, daß die große Verantwortung des sozialistischen Menschen für die Welt in der Literatur als erregte Besorgnis reflektiert wird, doch es dominiert die Suche nach den neuen Möglichkeiten und Chancen des Menschen, sich zu bewähren. Das Verhalten zur Natur erscheint dabei auch als Prüfstein moralischer Qualitäten des Zeitgenossen, denn wenn in dem komplizierten Wechselverhältnis GesellschaftNatur das Subjekt, dem enorme Mittel in die Hand gegeben sind, versagt, so sind die Folgen heute weit verheerender als noch vor zwanzig Jahren. Es ist also zu fragen nach der Spezifik der ethischen Funktion von Literatur unter unseren heutigen Bedingungen.
Natur — Ethik — Literatur Die Legende in Aitmatows Erzählung Der weiße Dampfer berichtet davon, wie in alten Zeiten die schönen Maralhirsche in Kirgisien geehrt wurden — wenn man ihnen begegnete, so stieg man vom Pferd und gab ihnen den Weg frei. Die Schönheit der Geliebten wurde mit der Schönheit des Marals verglichen. Dieses Tier war das Sinnbild des Lebens und der Fruchtbarkeit. Auch die Kirgisen der sechziger 140
Jahre des 20. Jahrhunderts schauen erstaunt und bewundernd auf, wenn sie Marale erblicken. Aitmatow schildert eine solche Begegnung: Unter dem Kommando des Waldhüters Oroskul zieht man gerade mit einem Lastkraftwagen einen im Naturschutzgebiet illegal gefällten Baum aus dem Fluß, da wird die Maralfamilie bemerkt. Der Chauffeur ruft aus: Welche Schönheit! Schade, jetzt brauchte ich einen Fotoapparat. Alle stehen und staunen. Nur Oroskul sagt unwillig: Schönheit hin, Schönheit her. Wozu herumstehen. „Von der Schönheit wird man nicht satt." 155 Und der einfaltige, träge Sejdachmat präzisiert: Der Maral gibt mindestens zwei Zentner Fleisch her. Die Szene veranschaulicht auf knappem Raum das ideellästhetische Grundanliegen Aitmatows und markiert zugleich einen Einschnitt in der Handlung: Hier beginnt die Katastrophe. Der Gedanke an die Tötung des Marals blitzt auf, mit ihr vollendet Oroskul seinen Bruch mit dem Humanismus, damit zerbricht die Märchenwelt des Jungen, versagt Großvater Momun. Hier stoßen zwei polare Verhaltensweisen, ja Weltauffassungen hart aufeinander: Alle Seiten bedenkendes menschliches Verhalten zur Welt — ästhetisches, ökonomisches, d. h. auf Erhaltung bedachtes, historisches, d. h. die Entwicklung berücksichtigendes — steht gegen einseitiges, primitiv nach materiellem Besitz strebendes, die Aneignung der Welt nur als Verbrauch verstehendes Verhalten. Auf der einen Seite die Einheit des Individuums mit seiner Gattung, mit der Welt — auf der anderen der totale Zerfall von Einzelmensch und Gattung, ein Zerfall, der unter den Bedingungen der wissenschaftlich-technischen Revolution beide mit dem Untergang bedroht. Christa Wolf schreibt in ihrem Kurzen Entwurf zu einem Autor: „Der Autor, den wir meinen, ist tief beunruhigt über die Zukunft der Menschheit, weil sie ihm sympathisch ist." Und: „Sein Optimismus kann wie Ernst und wie Zorn aussehen, aber nicht wie Gleichgültigkeit." 150 Der weiße Dampfer und andere Werke zeichnen Aitmatow als einen solchen Autor aus. Wiederum, wie in den Parallelaussagen Aitmatows und Strittmatters zum Problem der 141
menschlichen Bedürfnisse im Sozialismus, ein Gleichklang der Gedanken von Schriftstellern zweier sozialistischer Staaten; auch Aitmatow sagt: „Nicht ruhig und vernünftig, sondern bei höchster Anspannung der Gefühle, mit einem gewissen Anteil berechtigter Übertreibung muß die Literatur dem Menschen einschärfen: ,Schütze die Natur!'" 1 5 7 Aus dieser leidenschaftlichen Grundhaltung heraus wird auch der vielumstrittene Schluß der Erzählung verständlich. Der Vorwurf nicht weniger Kritiker, Leser und auch Schriftsteller an Aitmatow konzentrierte sich auf diesen Punkt: Die Erzählung ende in einer ausweglosen Situation, mit dem Sieg der Kräfte der Finsternis. Der Junge hätte nicht sterben, Oroskul nicht triumphieren dürfen. 158 Wo bleibe hier die „lichte, optimistische Tendenz", die der Klassiker der kasachischen Sowjetliteratur Muchtar Auesow einstmals an Aitmatow so gerühmt hat. 159 Aitmatow selbst hat sich eindeutig und überzeugend dazu geäußert, es bedarf keiner zusätzlichen Polemik: „Es gibt einen .Ausweg', nur nicht auf dem ,Papier', sondern in den Herzen der Leser." Nicht Oroskul ist geblieben, wie Alimshanow beklagte, geblieben ist der Leser. „Der f a k t i s c h e Sieg ist letztlich das ideell-ästhetische Ergebnis." 160 Zur Bekräftigung seiner Ansicht nennt Aitmatow als Beispiele Shakespeares Romeo und Julia und Fadejews Die Neunzehn. Aitmatow hat damit noch einmal an die Spezifik der Wirkungsweise von Literatur allgemein und insbesondere an eine mögliche Form ihrer ideell-ästhetischen Funktion unter unseren heutigen Bedingungen erinnert: Literatur hat die Aufgabe, dringlich zu mahnen und zuzuspitzen, denn die Epochenaufgabe des Sozialismus/Kommunismus, zu der die Verbindung der V o r z ü g e der neuen Gesellschaftsordnung mit der wissenschaftlich-technischen Revolution gehört, fordert allseitige Entwicklung des Menschen, moralische Lauterkeit des einzelnen schon deshalb, damit nicht Fehler oder Unvollkommenheiten eines Individuums, vervielfacht durch die ihm verliehenen technischen Möglichkeiten, die Gesellschaft empfindlich schädigen. Gewiß beseitigt der Sozialismus objektive und subjektive Wurzeln solcher Schäden, er ist seinem Wesen nach in der Lage, sie 142
zu vermeiden, dennoch wird auch der Einzelfall moralischen Versagens, ungenügender Verantwortung früher oder später gesellschaftlich relevant: auf Grund des enormen Potentials, über das der einzelne in gesellschaftlichem Auftrage verfügt. Amoralität oder Passivität gegenüber der Amoralität sind heute weniger denn je Privatsache, ihre gesellschaftlichen Auswirkungen wachsen mit der zunehmenden „Gesellschaftlichkeit" des einzelnen, mit dem subjektiven Faktor in der Gesellschaft. Am spürbarsten ist eine solche Auswirkung, wenn sie die Gründlage des menschlichen Daseins, die Natur, berührt. Deshalb ist es so bedeutsam, wenn Aitmatow und viele andere das Verhältnis des Menschen zur Natur als Kriterium der Moral und der Humanität zeigen. Nun ist ein solches künstlerisches Verfahren nicht neu. Für die Literatur der europäischen Aufklärung schien die Rückkehr zum Naturzustand die Lösung der gesellschaftlichen Konflikte ihrer Zeit in sich zu bergen. Bei den Romantikern, soweit sie nicht in nationalen Befreiungsbewegungen mitwirkten, war die Hinwendung zur Natur oft eine Flucht vor der sozialen Realität, die Natur galt als Reich der Harmonie und der stillen Weisheit.161 Grundpathos der Literatur des sozialistischen Realismus in der Sowjetunion wurde die Haltung: die Natur ist Arbeitsobjekt, ist Teil der Welt, die der Veränderung durch die Hände und Hirne der arbeitenden Menschen bedarf. Für Aitmatow ist dies in den sechziger und siebziger Jahren bereits eine Selbstverständlichkeit: Niemand braucht heute mehr davon überzeugt zu werden, daß der Mensch als Gattungswesen Macht über die Natur besitzt, daß er sie verändern kann. Gefordert ist vielmehr, diese Macht sinnvoll zu gebrauchen, gefragt ist nach den menschlichen Qualitäten dessen, der über diese Macht in einem jeweils konkreten Bereich verfügt. Ethische Haltung erstreckt sich nicht nur auf die Beziehungen zwischen den Menschen, sondern verstärkt auch auf die zwischen Mensch und Natur. Der sowjetische Philosoph Fedossejew sagte in diesem Zusammenhang: „Die wissenschaftlich-technische Revolution vergrößert einerseits unermeßlich die Macht des Menschen über die Natur, andererseits erhöht sie gerade infolgedessen die 143
soziale und moralische Verantwortung der Menschen für ihr Tun, denn die von ihnen geschaffenen Kräfte können im Falle unkontrollierter Ausnutzung die ganze Biosphäre und die Existenz der Menschheit selbst gefährden." An einer anderen Stelle heißt es bei ihm sehr folgerichtig und deutlich: „Deshalb gehört heute das Verhältnis des Menschen zur Natur zur Sphäre seiner moralischen Verantwortung für andere Menschen: Wenn der Mensch der Natur Schaden zufügt, schädigt er auch andere Menschen. Die Erziehung aller Menschen — vor allem der heranwachsenden Generation — zur Liebe zur Natur ist heute gleichzeitig die Anerziehung eines humanen Verhältnisses zu den Menschen, behutsamen Verhaltens zum Menschen." 162 Der Humanismus schließt die Konstituierung sozialistischer, also menschlicher Verhältnisse, optimaler Bedingungen für die allseitige Entwicklung des Individuums ein — dazu gehören auch optimale natürliche Bedingungen; diese erscheinen heute — neben den sozialen — mehr als je zuvor als das, was sie eigentlich immer schon waren: Voraussetzung menschlicher Existenz. Auf diesem Hintergrund ist es durchaus nicht so abstrakt, wenn Solouchin in seiner einfühlsamen Kritik des Weißen Dampfers meint, der alte Momun und sein Enkel verkörperten das Element des Geistigen im Leben, den Traum, die Poesie, die Schönheit: „Die Schönheit, die in der Seele des Menschen lebt, macht den Menschen edler, macht ihn besser, reicher, gütiger, würdiger. 163 Damit ist eigentlich alles gesagt: Es kommt auf das ungebrochene allseitige Verhalten des Individuums zur Welt an — mit allen ethischen Konsequenzen, die sich daraus ergeben. Die „Schönheit in der Seele des Menschen" ist nur ein anderer Begriff für das Bewußtsein von der Einheit der Welt und das Gefühl, Teil dieser Einheit zu sein, für sie mitverantwortlich zu sein. Das ist zugleich das „Geistige" im Leben, eine Quelle der Poesie. Diese scheinbar abstrakten Kategorien bekommen im Miteinander von Mensch und Natur heute einen konkreten Sinn. Das auf beeindruckende Weise im Gegeneinander von Oroskul — Momun/Enkel vorgeführt zu haben, ist eine große Leistung Aitmatows. 144
Oroskul, dem Poesie, Traum, Schönheit völlig abgehen, ausgerechnet er ist dazu berufen, eine wichtige Quelle des Lebens und seiner Schönheit — einen Wald — zu hüten. Der Mangel an „Geistigem" wird zu einer sehr materiellen Gefahr — jeder Baum, mit dem Oroskul s e i n e Art des Lebensgenusses bezahlt, fehlt in diesem Wald. Oroskul zehrt — zwar noch unmerklich und'langsam — an der Substanz : Die Berge des San-Tasch wären nicht die ersten, die durch Abholzung und nachfolgende Erosion zu kahlen Felsen würden. Sein gedankenloses Verhalten gegenüber der Natur und sein stupider Umgang mit den Menschen bilden eine Einheit; sie sind Ausdruck einer erbärmlichen Lebensweise. Er möchte ein großer Chef werden, mit einer Schlagersängerin verheiratet'sein, einen Schlips tragen usw., er ist grob zu Momun und dem Jungen, er schlägt seine Frau halbtot. Die um ihn herum sind, verzeihen ihm. „Die Natur aber verzeiht und vergißt nichts", schrieb der sowjetische Philosoph Laptew in einem anderen Zusammenhang, seine Worte treffen genau den Sachverhalt. Die Natur „erträgt geduldig viele Beleidigungen, die ihr die Menschen angetan haben, aber schließlich hat ihre Geduld ein Ende, und dann ist ihre Rache fürchterlich." 164 Die primitiven Vorstellungen und Bedürfnisse Oroskuls bilden eine Gefahr für Mensch und Natur. Diese literarische Gestalt verkörpert nicht allein ein „Überbleibsel" der Vergangenheit, das nur noch vereinzelt existiert und bald beseitigt sein wird. In ihr sind Vielmehr reale Erscheinungen typisiert, gegen die noch lange — vielleicht sogar immer — angekämpft werden muß: Sorglosigkeit, Egoismus, mangelndes Zukunftsdenken. Durch sozialistische Gesellschaftsverhältnisse werden sie nicht spontan überwunden. Hier muß der subjektive Faktor zum Tragen kommen, er ist in der Erzählung zunächst ^in Momun und dem Jungen verkörpert. i Momun allerdings scheitert, und mit ihm die passive Güte, die gegen Egoismus und Sorglosigkeit, gegen mangelnden Sinn für Schönheit nichts ausrichtet. Das ist soweit richtig. Falsch ist aber, diese Schwäche in eine absolute individuelle Schuld des Alten zu verkehren. Aitmatow hat ihn charakterlich so gestaltet und ihn in eine Situation gestellt, die eine 10
Hiersche, Sowjctlit.
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andere, mutigere Entscheidung Momuns kaum zuläßt. Seine Handlungen — bis hin zur Tötung des Marals — sind realistisch begründet und geschildert. Was hätte der alte Mann, im konkreten Fall, unter diesen ganz konkreten Umständen, in der einsamen Bergwelt, so wie er ist — gutmütig, naiv, unbeholfen — anderes tun können? Auch dafür wurde ja der Sozialismus errichtet, daß auch solche guten, aber schwachen Menschen leben können, ohne von den Starken an die Wand gedrückt zu werden. Der Appell, auch dies nicht aus dem Auge zu verlieren, gehört unseres Erachtens mit zur Aussage der Erzählung. Der subjektive Faktor, der den Oroskuls entgegen wirken muß, ist demnach vor allem das Bewußtsein des Lesers, und dieses ist genau so real wie die Oroskuls. Darin liegt der Optimismus des Werkes. , Um seinem Anliegen eine stärkere künstlerische Wirkung zu verleihen, hat Aitmatow die alte kirgisische Legende von der Gehörnten Hirschmutter in die Handlung einbezogen. Die Legende ist in ihrer ideellen Tendenz direkt gegen das Privateigentum an Naturreichtümern gerichtet, da sie den Standpunkt der Urgemeinschaft reflektiert; Aitmatow hat den darin liegenden aktuellen Bezug zu Recht ausgenutzt und die nach rückwärts gewandte Kritik der Legende in eine nach vorn gerichtete verwandelt: Negation der Negation eines alten Mythos. Ursprünglich war die in der Legende enthaltene Kritik am Privateigentum ja reaktionär, weil nur durch das Privateigentum die Freisetzung der menschlichen Wesenskräfte erfolgen konnte und die Eigentumsverhältnisse der Gentilordnung zur Fessel geworden waren — erste Negation des alten Mythos. Heute nun ist das Privateigentum zu einer weltweiten Gefahr für die Natur und damit für die Menschheit geworden, nur die gemeinschaftliche planvolle Verwaltung der Naturreichtümer kann diese Gefahr bannen. Folglich kann der alte Mythos der Einheit von Mensch und Natur, vom Schutz der Natur, der Unvereinbarkeit von Privatbesitz und rationellem Umgang mit den Naturvorräten mit einem neuen, sehr aktuellen Sinn versehen werden — zweite Negation, also Aufhebung des Mythos, Höherhebung auf eine neue Stufe. Damit wurde 146
seine harmonische Einfunktionierung in ein sozialistischrealistisches Kunstwerk möglich. Die richtige Erfahrung der Gentilverfassung, die in der nachfolgenden Ausbeuterordnung verlorenging und notwendig verlorengehen mußte, die Überzeugung, daß der Mensch schlechterdings niemals Besitzer, sondern nur Verwalter der Natur und ihrer Reichtümer sein kann, wurde in Aitmatows Erzählung mit großer künstlerischer Kraft ausgesprochen. Auch unter sozialistischen Gesellschaftsbedingungen, da die Menschen als „assoziierte Produzenten" der Natur gegenübertreten, behält diese Menschheitserfahrung ihre Gültigkeit, besser, die Erfahrung kann nun auf höherer Stufe realisiert werden. Juristisch ist Oroskul natürlich nicht Besitzer des Waldes, aber de facto verhält er sich so. Die Einbildung, Eigentümer der Natur zu sein, bleibt auch dann gefahrlich, wenn sie sich nicht — wie bei Oroskul — ins Kriminelle steigert (er stiehlt Holz), sondern als großzügige Sorglosigkeit in Erscheinung tritt. In der Mobilisierung gesellschaftlicher Aktivität wider diesen verhängsnisvollen Irrtum folgt Aitmatow den Erkenntnissen der Klassiker des Marxismus-Leninismus. Friedrich Engels schrieb in Der Anteil der Arbeit an der Menschwerdung des Affen: „Und so werden wir bei jedem Schritt daran erinnert, daß wir keineswegs die Natur beherrschen, wie ein Eroberer ein fremdes Volk beherrscht, wie jemand, der außer der Natur steht — sondern daß wir mit Fleisch und Blut und Hirn ihr angehören und mitten in ihr stehen, und daß unsere ganze Herrschaft über sie darin besteht, im Vorzug vor allen anderen Geschöpfen ihre Gesetze erkennen und richtig anwenden zu können." 165 Aitmatow bringt die alte Legende in Einklang mit der revolutionären Bewegung der Epoche, er reflektiert in ihr die weltweite Aufgabe, „eine harmonische Beziehung zwischen Mensch und Natur zu finden, eine Aufgabe, die heute zu den wichtigsten und aktuellsten Problemen der Kultur und Zivilisation gehört." 166 Aitmatow gibt sicher das prägnanteste Beispiel dafür, wie Sowjetliteratur heute das Verhalten gegenüber der Natur zum Kriterium der Moral macht, aber er steht damit nicht allein. Boris Wassiljew, bekannt geworden durch Roman 10'
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und Film Im Morgengrauen ist es noch still (1971),167 verfolgt mit dem Roman Schießt nicht auf weiße Schwäne (1973)168 e i n ähnliches Anliegen. Unschwer sind sogar Anklänge an Figurenkonstellation und Handlung des Weißen Dampfers zu erkennen, auch Polemik ist nicht zu überhören. Allerdings weist Wassiljews Werk erhebliche Schwächen auf, es wirkt stellenweise sentimental, vor allem der Schluß verdirbt durch seine Inkonsequenz, sein rührseliges Pathos den Gesamteindruck. Ein Vergleich mit Aitmatows Erzählung ist daher auf keinen Fall als Gleichsetzung zu verstehen. Der Roman erzählt vom Leben und Sterben des Zimmermanns Jegor Poluschkin, der — wie Großvater Momun — „nach dem Gewissen" lebt, gutmütig ist, schamlos ausgenutzt wird und es deshalb zu nichts bringt. Auch für ihn ist die Natur etwas, was man schützen muß, wovon man lernen kann. Jegors Hoffnung ist sein Sohn Kolka, dem Vater in seiner Ehrlichkeit und seiner Ehrfurcht vor allem Lebenden nachgeraten; aber er beobachtet mit einer gewissen kritischen Distanz den mangelnden praktischen Sinn seines Vaters und schämt sich dessen — und Jegor schämt sich seinerseits vor dem Jungen, eben wegen seiner Ungeschicklichkeit. In der Konstellation Jegor — Kolka ist bereits das „Sich-Abstoßen" vom Modell Momun—Junge zu vermerken. Ebenso verhält es sich im Falle Momun—Oroskul, hier Jegor—Fjodor Burjanow. Burjanow ist Forstwart, er soll — wie Oroskul — einen unter Naturschutz stehenden Wald hüten, entnimmt ihm aber das Holz zum Bau seines Hauses, entrindet die großen kostbaren Linden im Forst, um mit dem Bast Geld zu machen usw. Jegor, sein Schwager, wird von Fjodor weidlich ausgenutzt. Fjodor ist aber im Gegensatz zu Oroskul jovial, gönnerhaft, er gilt in den Augen Jegors als fleißig und umsichtig — als einer, der es im Leben zu etwas bringt. Jegor ist wie Momun gütig und kann keiner Fliege etwas zuleide tun, doch Boris Wassiljew will mit dieser Gestalt beweisen, daß s'olche Güte, wenn sie konsequent ist, auch große Belastungsproben aushalten kann: Der harmlose Jegor stellt im Wald eine Gruppe Touristen, die Tiere abschießen, er will sie zur Miliz bringen, aber sie schlagen ihn so, daß er kurz darauf stirbt. Hätte er sie 148
gewähren lassen, so wäre er am Leben geblieben. Leider klingt, wie angedeutet, dieser über weite Strecken interessant geschriebene Roman mit einem Mißton aus. Derselbe Jegor, der eben noch sein Höchstes einsetzte, um die Frevler der Justiz zu überantworten, verfällt auf dem Sterbebett in eine Stimmung des Allverzeihens, er erzählt dem Untersuchungsrichter nichts, obwohl er einen der Verbrecher kennt. Diese Wendung der Dinge ist nicht logisch, sie wirkt gezwungen, unecht, bis zu einem gewissen Grade sogar widerwärtig. Dabei ist die Gestalt des Jegor, wie aus einigen für ihn charakteristischen Verhaltensweisen ersichtlich wird, zweifellos bemerkenswert. Jegor kann es beispielsweise mit seinem Gewissen nicht vereinbaren, schlampig zu arbeiten, er verläßt seine Brigade, die viel Geld verdienen will und wenig auf Qualität gibt. Auf einer anderen Arbeitsstelle hebt er einen Graben für eine Rohrleitung aus, doch dieser Graben bekommt an einer Stelle eine scharfe Ausbuchtung: Jegor machte einen Bogen um einen Ameisenhaufen. Als er zusehen muß — hier bleibt er noch passiv — wie Touristen einen großen Ameisenberg im Walde mit Benzin überschütten und verbrennen, betrinkt er sich vor Gram und schlägt — was er sonst nie tat — seinen Sohn. Der Verkauf von Lindenbast bringt viel Geld, Jegor geht mit Kolka in den Wald, um sich etwas zu verdienen. Als er aber sieht, daß so viele schöne Linden vollkommen entrindet und somit zum Sterben verurteilt sind — er weiß zu dieser Zeit noch nicht, daß hier sein „tüchtiger" Schwager, der „Waldhüter" Fjodor Burjanow am Werke gewesen war —, da bringt er es nicht übers Herz, noch mehr Linden auszurotten, obwohl er das Geld nötig brauchte. Aus Moskau kehrt er statt mit vielen Geschenken, die er im Auftrage des halben Dorfes einkaufen sollte, nur mit Schwänen zurück; er will sie im Naturschutzgebiet, in einem Waldsee, heimisch machen. Hier schließt sich der Kreis: Die „Touristen" erschießen seine Schwäne und braten sie, und im Kampf mit den brutalen Waldfrevlern kommt Jegor um. Jegors Verhalten zur Welt ist — wie bei Momun — ein allseitiges, er verkörpert also das Schöne im Leben. Das ästhetische Verhältnis zur Welt — bei Momun in dessen 149
Glauben an die alten Legenden gegenwärtig — gehört auch zu Jegors Leben. Jegor erfreut sich an der Schönheit der Natur, er besitzt auch etwas Talent, mit dem Beil Figuren aus Holz zu hauen. Jede Arbeit, die seinen Händen anvertraut ist, gelingt, er legt sein ganzes Wesen darein. Er geht zugrunde, aber sein Sohn Kolka wird sein Werk weiterführen. In Kolka und einigen anderen Figuren — etwa im Kreisforstinspektor — hat Boris Wassiljew direkt im Werk den „Ausweg" gestaltet, den einige Kritiker bei Aitmatow so vermißt hatten. Die Einseitigkeit, Sorglosigkeit und der stupide Egoismus ist im Roman in Fjodor Burjanow und den „Touristen" verkörpert. Ihr schäbiges Betragen zu den Mitmenschen geht konform mit einem reinen Konsumentenverhältnis zur Natur. Wiederum — wie auch im Weißen Dampfer — entsteht nicht der Eindruck, es handelte sich hier um vereinzelte „Überbleibsel" der Vergangenheit; der Leser erkennt in der Darstellung Boris Wassiljews vielmehr — mit einem Gefühl der Beschämung — einige nur allzu bekannte und allzu verbreitete Handlungsweisen sogenannter Touristen, die in der Natur immer sichtbarere Spuren von Verwüstungen und „Zivilisationsmüll" hinterlassen. Ein weiteres Beispiel, wie sozialistisches Ethos von der Literatur gleichermaßen auf Mensch und Natur bezogen wird, ist das bereits erwähnte Poem Eis 69 von Wosnessenski: Der Bericht vom Tod der Studentin Swetlana Popowa, die im Winter beim Skilaufen hinter ihrer Gruppe zurückblieb und erfror, ohne daß die anderen es bemerkten, wird poetisch verknüpft mit dem Motiv der Schuld der Menschheit gegenüber der Natur, eine Schuld, die Gestalt geworden ist in den zu Eis gefrorenen Verunreinigungen des Wassers und der Atmosphäre und die dereinst als Sintflut „apokalyptisch" auf die Urheber der Umweltverschmutzung zurückschlagen werde.169 Das menschliche Verhalten zur Natur figuriert in der Sowjetliteratur der Gegenwart u. a. als ein Maßstab und als eine der Quellen sozialistischer Moral. Natur als Objekt der praktisch-sinnlichen Tätigkeit des Menschen wirkt im Prozeß der Auseinandersetzung des Menschen mit der Natur 150
persönlichkeitsbildend auf das Subjekt zurück. In dieser Funktion vor allem war sie Gegenstand der Werke von Paustowski und Prischwin; diese Tradition lebt fort — in Solouchin, Kasakow und anderen. In der Literatur der DDR hat Strittmatter einen vergleichbaren Platz inne. Durch viele Faktoren beeinflußt die Natur die Persönlichkeit des sozialistischen Menschen allgemein und dessen Ethos im besonderen; ihre Wirkungsweise zu untersuchen, geht über den Rahmen dieser Arbeit hinaus. Wesentlich ist festzustellen, daß diese Faktoren wiederum nicht alle von selbst, sondern vielfach erst durch die Vermittlung der Literatur oder der Kunst allgemein wirksam werden. Im Hinblick auf die Anforderungen der wissenschaftlich-technischen Revolution an den Menschen sind u. a. zwei Komponenten bedeutsam, welche die Literatur heute besonders aktiviert: Die Impulse, die die Dialektik der Natur vermittelt, und jene, die von der Spannung zwischen dem „Erkenntnisinstinkt" des Menschen und dem noch Unerkannten in der Natur auf den Menschen ausstrahlen. Das Erkennen der Dialektik der Natur und des Lebens überhaupt wirkt der Erstarrung, Routinierung menschlichen Denkens entgegen. Allein die richtige, tiefe Anschauung der Natur, wie sie bei Prischwin, Paustowski, Solouchin, Strittmatter usw. poetisch Gestalt wird, mobilisiert jene Kräfte und jene Seiten der menschlichen Persönlichkeit, die bei der Beherrschung der wissenschaftlich-technischen Revolution so nötig sind. Die Dialektik des Werdens und Vergehens, der Endlichkeit des individuellen Lebens und des Fortbestehens der Gattung beispielsweise, drängt den latenten Egoismus des Individuums in den Hintergrund, provoziert das Sich-verantwortlichFühlen für das Ganze, provoziert das so wichtige Ganzheitsverhältnis zur Welt. Diese Dialektik war in Solouchins Ein Tropfen Tau gegenwärtig, jenem Werk, das einen Leser zu dem eingangs des Kapitels zitierten erbosten Ausruf: Nieder mit dem Gras! usw. veranlaßt hatte. Gerade diese „verkehrte" Wirkung deutet groteskerweise auf die richtige Tendenz des Werkes — wer sich getroffen fühlte, der schrie auf, dem war der Gesamtzusammenhang der Welt und des Lebens verlorengegangen, der sah vor Raketen 151
und Technik nichts anderes mehr. Diesen Weltverlust im Individuum zurückdrängen zu helfen, ist Literatur heute aufgerufen. Die fruchtbare Spannung zwischen Erkenntnisdrang und dem noch nicht Erkannten wird beim immer weiteren Vordringen in die Geheimnisse der Natur ständig produktiv gelöst. Aber nicht aus diesem Vordringen allein schöpft Poesie. Die Spannung selbst ist Quelle des Poetischen, ist poesiewürdig: Das Gefühl des Menschen, vor Unbekanntem zu stehen, ist keineswegs gleichzusetzen mit religiöser Demut; mehr noch, sich klein zu fühlen vor dem Unbekannten ist keine Schande für den sozialistischen Menschen. Ein Mensch, der sich das Staunen vor dem noch nicht Erforschten nicht bewahrt, wird überheblich, und das ist unter den Bedingungen der wissenschaftlich-technischen Revolution eine lebensgefährliche Eigenschaft — nicht nur für das Individuum, sondern für die Gattung. In einer Betrachtung zu dem Buch Weißer Bim Schwarzohr (1971), in dem der Autor Gawriil Trojepolski sehr feinfühlig das Verhalten eines Tieres beschreibt, bemerkt Alexej Metschenko sehr richtig: „Der Umgang mit dem noch nicht Erkannten, wenn er im Menschen nicht den ,Erkenntnisinstinkt' unterdrückt, bewahrt vor Hochmut." 1 7 0 Erkenntnisdrang, objektiver Erkenntniszwang und Begreifen der Unvollkommenheit der eigenen Kenntnis schließen einander nicht aus — im Gegenteil: Sie stehen in einem fruchtbaren dialektischen Wechselverhältnis. In einer Zeit, da es scheinen könnte, der Mensch habe bereits das Wichtigste in der Natur erforscht, und dieser Schein einigen den klaren Blick für die Realitäten raubt — siehe Physiker-Lyriker-Diskussion — ist es sehr heilsam, wenn Literatur mithilft, diesen Schein als solchen im gesellschaftlichen Bewußtsein zu entlarven. Bei aller Grandiosität dessen, was Wissenschaft und Technik der Natur an Geheimnissen entrissen und dem Menschen dienstbar gemacht haben, bleibt das, was noch zu entdecken bevorsteht, nicht weniger grandios; man denke nur an das Energieproblem und das langsame, sehr mühsame Vorankommen bei der praktischen Beherrschung der Kernfusion, mit Hilfe derer dieses wohl lebenswichtigste aller 152
naturwissenschaftlichen Probleme wahrscheinlich gelöst werden kann. Sowjetliteratur arbeitet heute mit verschiedenen Mitteln, aber mit wachsender Intensität daran, im sozialistischen Menschen jene Überzeugung auszubilden bzw. auszubauen, die Akademiemitglied Sobolew im Film Am See in die Worte faßte: „Man darf in der Natur nicht nur eine Einkommensquelle sehen, sie ist vor allem eine Quelle und Grundlage der Moral." 171 Diese Überzeugung verdrängt nicht die andere, die in Revolution, Bürgerkrieg und sozialistischem Aufbau wahrlich teuer errungene, daß der Mensch nicht der Sklave der Umstände — auch der naturgegebenen — ist, sondern diese beherrscht in dem von Engels genannten Sinne. Beide Überzeugungen gehören zusammen zum gesellschaftlichen Bewußtsein des entwickelten Sozialismus. Natur wird stärker denn je als Quelle alles Lebens, als Objekt ästhetischen Vergnügens, das Verhältnis zu ihr als ein Prüfstein und eine Quelle sozialistischer Moral empfunden. Dieses alte neue Naturempfinden ist unabdingbare Komponente der ideellästhetischen Funktion der Sowjetliteratur heute, es führt hin zum allseitig entwickelten Menschen. Das komplizierter gewordene Miteinander von Gesellschaft und Natur hat in den Schriftstellern die Aufmerksamkeit für die Dialektik gesellschaftlicher Entwicklung insgesamt verstärkt. Das widerspiegelt sich auch in der ästhetischen Auseinandersetzung um das Problem des Nationalcharakters, der nationalen Tradition — ein Problem, das zweifelsohne auch von den gesamtgesellschaftlichen Prozessen der wissenschaftlich-technischen Revolution berührt wird.
Literatur — nationale Traditionen — Internationalismus Zur Dialektik von Nationalem und Internationalem Im Grunde genommen war bisher in unserem Buch stets von Paradoxa die Rede: Die Sowjetliteratur zeigte Reaktionen auf das Leben, die den Prozessen in der Wirklichkeit, zumindest deren äußeren Formen, auf den ersten Blick zu widersprechen schienen. Das Eindringen von Wissenschaft und Technik in den Alltag der Menschen, in ihr Bewußtsein, der objektive Zwang zum analytischen, abstrahierenden Denken, zur Ratio provozierten etwas Gegensätzliches — zumeist stark gefühlsbetonte ästhetische Aneignung der Welt, Hinwendung zum einfachen poetischen Bild, lyrische Prosa. Auch die wachsende Assoziationsbreite poetischer Texte und Bilder, die sicher als ein direkter Reflex der wissenschaftlich-technischen Revolution (Informationsfülle, weltweite Kommunikation, höheres Bildungsniveau) angesehen werden muß, basiert nicht allein auf der rationalen Durchdringung der Realität, sondern baut auf die ganze Fülle emotionalen Verhaltens zur Welt. Je mehr „Physik" im Leben, um so mehr „Lyrik" im Bewußtsein. Das wäre ein erstes Paradoxon. Ein zweites: Die wachsende Rolle der Intelligenz in der Gesellschaft ruft in Literatur und Kritik die verstärkte Hinwendung zur Arbeiterklasse als dem realen Träger und zugleich Sinnbild der Produktivität, des Schöpfertums und des Gesellschaftsethos hervor. Drittens schließlich: Die unerhörte, überwältigende Herausarbeitung der zweiten Natur des Menschen, ein unendlich ergiebiger Stoff für die Literatur, wird literarisch reflektiert im Bild einer scheinbar und tatsächlich noch unentdeckten, unerkannten, äußerst schutzbedürftigen ersten Natur. In diesem Kapitel nun ein viertes Paradoxon: In Zeiten der — freilich 155
in den Weltsystemen unterschiedlich verlaufenden — Internationalisierung des Lebens, in denen der entlegenste Winkel der Erde wie mit unzähligen Fäden mit einem beliebigen anderen Ort irgendwo auf dem Erdball verknüpft ist, in denen die engen Schranken des Nationalen (nicht das Nationale selbst!) gefallen sind oder doch schnell zerfallen, da versenkt sich Literatur in die — scheinbare — Abgeschiedenheit dörflichen Lebens, in die Tiefen nationaler Vergangenheit. Die Aufhebung der Paradoxa in den vergangenen Kapiteln lief darauf hinaus, zwei Selbstverständlichkeiten zu bemühen. Die eine ist die Spezifik der künstlerischen Widerspiegelung. Im Leninschen Sinne bedeutet sie nicht flaches „Spiegeln", sondern Einheit von künstlerischer Welterfassung und Weltgestaltung. Sowjetliteratur registriert nicht Oberflächenerscheinungen, sondern dringt zu den inneren Prozessen revolutionärer Wirklichkeitsentwicklung vor. Die zweite Selbstverständlichkeit ist daher die Dialektik. Die Überwindung der Widersprüche, mit denen das Sowjetvolk in den zwanziger bis fünfziger Jahren zu bringen hatte, bedeutet nicht Anbruch einer idyllischen Zeit. Die einen Tendenzen in der Wirklichkeit — Triumph von Wissenschaft und Technik, Beherrschung der Natur, dadurch materielle Verbesserung des Lebens — haben Gegentendenzen auf den Plan gerufen; nur beide zusammen treiben die Entwicklung voran. Das stärkere Vordringen der wissenschaftlichen Welterfassung hat die künstlerische Weltgestaltung mehr herausgefordert, die zunehmende Bedeutung der Intelligenz hat die führende Rolle der Arbeiterklasse im Gesellschaftsganzen am so deutlicher hervortreten lassen, und die Natur, die sich der Stärke des Menschen beugen mußte, zwingt ihn durch ihre Schwäche immer mehr, ihre Gesetze zu respektieren. N ur d ie Beachtung der beiden selbstverständlichen Kategorien — Spezifik der Literatur, Dialektik des Lebens — zeigt auch den Weg zur Lösung des nun anstehenden Problems: Wie kommt es, daß die Literaturen aller Sowjetvölker gerade in der Gegenwart, die objektiv im Zeichen des Internationalismus steht, so intensiv dem Nationalen zugewandt sind? 156
Die angestrengte Beschäftigung mit der nationalen Geschichte bestärkt zunächst die Erkenntnis, daß die heute so oft beschworenen Traditionen sich seit je verändert haben, daß sie historisch geworden und immer noch im Werden begriffen sind. Und „werden" heißt eben „anderswerden". Die „beste Tradition ist die ständige revolutionäre Erneuerung" 1 7 2 , formulierte Eduardas Miezelaitis. Das einzusehen ist theoretisch nicht sehr schwer, die praktische literarische Anwendung dieser Einsicht ist jedoch wider Erwarten kompliziert. Sie gelingt nur dann, wenn der Schriftsteller realistisch an vergangene und gegenwärtige Wirklichkeit herangeht und diese vom Standpunkt des Sozialismus — oder vielleicht auch schon des Kommunismus — gestaltet und damit bewertet. Dafür hat die Literatur aller Zeiten und Völker keine Vorleistungen gebracht, dafür gibt es kein Rezept, hier steht die Sowjetliteratur — wie schon so oft — allein in vorderster Linie, konfrontiert mit einem vormals noch nie dagewesenen Prozeß. Wenn im folgenden u. a. auch von Schwierigkeiten die Rede sein wird, dann haben diese ihre Ursachen weniger im Unvermögen einzelner Schriftsteller, sondern in der Eigenartigkeit und Neuartigkeit dessen, was vorgeht: der Herausbildung einer neuen Gemeinschaft von Menschen aus mehr als hundert Nationen und Nationalitäten. Greifen- wir zwei Gedichte von Martynow heraus, die ahnen lassen, vor welch weitem Feld Literatur wie Theorie hier stehen. Das erste Gedicht trägt als Titel den Namen eines russischen Flüßchens — Istra. Die Gegend um die Istra befindet sich — nach sowjetischen Entfernungsvorstellungen — unweit von Moskau und gilt dabei als relativ abgelegenes, waldreiches, landschaftlich schönes Erholungsgebiet. Dieses Jahr flog ich zu keinerlei Symposien und Kongressen, — ich wollte menschliche Stimmen von Feldern und aus dem Walde .hören, dort, an der Istra, wo hinter dem eiligen Flüßchen die Hirtenjungen mit den Peitschen knallen. 157
Aber manchmal in schwülen Nächten sprühen plötzlich an den Ufern der Istra auf den Antennen des Dorfes Funken, als ob über den Himmel der Wagen des Propheten Elias dahinführe . . . Aber das scheint einem natürlich nur so, es dröhnen dort die TU 104, und es tönen Nachrichten aus weiter Ferne über alles, was sich in der Welt tut. Im übrigen, lebte man dort nicht einsam, weil am Himmel an der Istra alle Botschafter, Minister und Touristen über meinen Kopf schwebten. Nun, und wo waren Sie in diesem Sommer? 173
Die Einfachheit und Gelassenheit, mit der Martynow dies fragt, verrät nichts von der Spannung, die hinter den Worten steckt. Das Gedicht entstand vor einem Hintergrund, der gekennzeichnet ist durch die jahrelangen und sehr prinzipiellen, leidenschaftlichen Auseinandersetzungen um die „Dorfprosa", um die Quellen des Nationalcharakters der Russen wie überhaupt aller Völker, um die angebliche Unberührtheit des Dorfes usw. Martynow ignoriert mit diesem Gedicht die vielbesungene Abgeschiedenheit des Dorfes. Sein Versuch, zur sommerlichen Urlaubszeit das internationale Parkett zu verlassen, sich in die Natur, in das „ursprüngliche" Rußland zurückzuziehen, gelingt nicht mehr. In das Knallen der Hirtenpeitschen mischt sich der Donner der Flugzeuge, und in den stillen Nächten sprühen die Funken auf den Fernsehantennen — die gesamte Atmosphäre unseres Planeten ist mit knisternder Spannung erfüllt, die niemanden losläßt, vor der man nicht fliehen kann. Die ironische Frage am Schluß des Gedichtes — „Nun, und wo waren Sie in diesem Sommer?" — ist schon beantwortet. 158
Der literarische und vor allem gesellschaftliche Kontext dieses Gedichts wird von Martynow an anderer Stelle reflektiert: Unverletzlichkeit
Hin- und hergerissen wird die Menschheit — sie quält sich, windet sich, fällt, erhebt sich, tritt auf der Stelle, weicht zurück, nachdem sie den Sohn erschlug, schickt sie sich an, wieder den Vater zu preisen. Die Verwirrung hält an. Es quält sich die Menschheit, weint, betet. Ein Schrecken jagt den anderen Schrecken, Ängste folgen auf Ängste. Vor Zeiten war die Furcht, mongolisiert zu werden, später war die Furcht, türkifiziert zu werden, danach war die Furcht, eingedeutscht zu werden . . . Aber es wird nicht chinesiert, wie auch nicht japanisiert, und auch nicht amerikanisiert die duldende Menschheit: Sie war Menschheit, und so wird sie es auch bleiben, eine duldende Menschheit. Es quält sich die Menschheit, aber notwendigerweise lernt die Menschheit die eigene Unverletzlichkeit, daß sich die Menschen sichern die höchste Kostbarkeit — die persönliche Unantastbarkeit in der lärmenden Familie der Menschheit. 174 (1972) 159
Das Gedicht benutzt Rhythmus und Reim, wie er vor allem in der russischen Folklore gebräuchlich ist: daktylische Rhythmen, die mehrfache Wiederholung ein und desselben Reims durch ganze Strophen hindurch, wobei Parallelismen und Assonanzen — indirekte, klanglich nur angenäherte Reime — dominieren, und zwar nicht nur am Ende der Verszeilen, sondern innerhalb dieser: MyHHTCH HejiOBenecTBO, NJIANETCA, MOJIHTCH.
Yacac 3a yacacoM roHHTca, CTpaxH 3a CTpaxH uenjiaioTca. ßpeBJie 6bui CTpax 0M0Hr0jiHTbc«, no3Ece 6HJI CTpax OTypennTbca, Ilocjie 6HJI CTpax OHeMennTbca . . .
Die Anlehnung an Traditionen der russischen mündlichen Volksdichtung hat Bekenntnischarakter: Ein R u s s e äußert seine Meinung zur Geschichte und zu weltweiten Entwicklungstendenzen unserer Zeit. Dieses Bekenntnis zum Nationalen richtet sich sowohl gegen die Bevormundung eines Volkes durch ein anderes, insbesondere gegen den Großmachtchauvinismus, wie auch gegen nationale Selbstbeschränkung : Das Gedicht hat internationalistisches Pathos. Es geht Martynow um die persönliche Unantastbarkeit aller Menschen auf der Welt, ungeachtet ihrer Nationalität. Die s o z i a l e Befreiung der Menschheit ist unausgesprochen als Ziel gegenwärtig. Dabei bleibt — wie der Titel Unverletzlichkeit schon besagt — die Gleichberechtigung der Nationen, die Achtung der nationalen Gefühle und Eigenheiten eines jeden Menschen eine wesentliche Seite des Humanismus, der sozialen Revolutionierung der ganzen Menschheit. Die ersten beiden Strophen wirken wie ein volkstümlicher Klagegesang: Es ist von der „duldenden Menschheit" die Rede. Dennoch spricht eine verborgene, tiefe Kraft aus dem Gedicht: Wer auch immer die Herrschaft usurpieren wollte — Mongolen, Türken, Deutsche — er ist gescheitert, die Völker aber sind geblieben, und sie l e r n e n ihre eigene Unantastbarkeit zu sichern. Wieviel Schweres die einzelnen Völ160
ker aych ertragen mußten, sie haben es durchgestanden, das scheinbare Duldertum erweist sich, historisch gesehen, als unüberwindliche Stärke. Dieser Akzent des Gedichtes drückt etwas sehr Typisches aus, das die gesamte Sowjetliteratur der endsechziger und siebziger Jahre durchzieht. Leonid Martynow greift mit diesem Gedicht und mit den Versen über das russische Flüßchen Istra mitten hinein in die literarischen und allgemein gesellschaftlichen Auseinandersetzungen um das weltweite Problem, von dem bereits die Rede war: Dialektik von Nationalem und Internationalem. Die Klärung dieses Problems schließt die Beantwortung der Frage, warum Sowjetliteratur heute so intensiv dem Nationalen, den nationalen Traditionen zugewandt ist, mit ein. In erster Linie wird die Antwort in sozialen Prozessen zu suchen sein; der Zusammenhang mit der wissenschaftlichtechnischen Revolution ist hier viel indirekter als in den Bereichen, die bisher unsere Aufmerksamkeit beanspruchten (Wissenschaft — Literatur, Arbeiterklasse — Literatur, Natur — Literatur). Das muß besonders betont werden, denn in der bürgerlichen Wissenschaft ist eine andere Auffassung verbreitet — es sei in erster Linie der Fortschritt von Wissenschaft und Technik, der die Nationen zueinander führe. Man spricht in diesem Zusammenhang sogar vom Verschwinden der Nationen, vor allem der „kleinen" Völker. Die Tatsachen sagen etwas anderes aus als diese Theorien: Die wissenschaftlich-technische Revolution wirkt nur durch gesellschaftliche Zwischenfaktoren auf das Miteinander der Nationen ein, die Entwicklung der nationalen Kulturen und deren Beziehungen haben vor allem sozial-ökonomische Ursachen. Gerade das Aufblühen der Kulturen der Sowjetvölker widerlegt die Prognose vom Absterben des Nationalen und verweist auf das Primat der gesellschaftlichen Bedingungen, die die Entwicklung einer Nation so oder so beeinflussen können. Die gesellschaftliche Haupttendenz der Epoche — der Übergang der Menschheit vom Kapitalismus zum Sozialismus — geht einher mit der Internationalisierung des Lebens aller Völker der Erde. Diese Internationalisierung nahm bereits mit dem Kapitalismus ihren Anfang — das 11
H i e r s c h e , Sowjetlit.
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Kapital schuf den Weltmarkt und die weltweite Ausbeutung der Völker. In der Polemik mit der demagogischen, die Arbeiter vom Klassenkampf gegen die nationale Bourgeoisie ablenkenden bürgerlichen Losung von der „nationalen Kultur" sagte Lenin bereits 1913: „Diese Losung ist nicht richtig, denn das gesamte wirtschaftliche, politische und geistige Leben wird schon im Kapitalismus immer mehr internationalisiert. Der Sozialismus internationalisiert es vollends [. . .]" Und weiter heißt es bei Lenin, die „internationale Kultur" werde schon „jetzt systematisch vom Proletariat aller Länder geschaffen". 175 Eine neue Qualität übernationaler Beziehungen entstand also mit der internationalen Befreiungsbewegung der Arbeiterklasse und der kolonial ausgebeuteten Völker. Die Entwicklung der Produktivkräfte und die von ihr ausgelösten sozialen Bewegungen sprengten somit bereits unter kapitalistischen Verhältnissen den nationalen Rahmen; diese positive Tendenz wurde und wird aber im Kapitalismus von der Rivalität nationaler Wirtschaftsgefüge und den dadurch verursachten Kriegen bzw. von Kolonialismus und Neokolonialismus laufend gehemmt und durchkreuzt. Nichtsdestoweniger schreitet unter den Bedingungen des staatsmonopolistischen Kapitalismus die Internationalisierung fort, es kommt zur ökonomischen Integration hochentwickelter Länder. Diese hebt allerdings die Rivalität zwischen den Nationen nicht auf, sie vergrößert außerdem die Gegensätze zu den ökonomisch schwach entwickelten Staaten. Die internationale Arbeiterbewegung, die ihre Aktionen koordiniert, der integrierten Macht der Monopole die vereinte Kraft der Klasse entgegensetzt und sich mit den nationalen und sozialen Befreiungsbewegungen der ehemaligen Kolonien solidarisiert, weist den Weg zum Miteinander der Völker auf neuer sozialökonomischer Grundlage. Mit der Oktoberrevolution, mit der Gründung eines multinationalen sozialistischen Staates — der Sowjetunion — und mit der Herausbildung einer Gemeinschaft sozialistischer Staaten nach 1945 erhielt die neue Qualität zwischennationaler Beziehungen, wie sie für die Arbeiterbewegung seit je charakteristisch war, eine eigene sozialökonomische und 162
politische Basis. Erst die Entfaltung der Produktivkräfte im Sozialismus ermöglicht und fördert die wirkliche Gleichberechtigung der Nationen, ihre kameradschaftliche Zusammenarbeit und gegenseitige Hilfe. Die wissenschaftlichtechnische Revolution als Ausdruck eines besonders intensiven und umfassenden Aufschwungs der Produktivkräfte hat im Sozialismus auch entsprechende Folgen für die Internationalisierung ökonomischer, sozialer und nicht zuletzt auch ideologischer Prozesse. Wenn heute vom Aufblühen und der gegenseitigen Annäherung der nationalen Kulturen innerhalb der Sowjetunion gesprochen wird, so stehen hinter diesem dialektischen Vorgang in letzter Konsequenz auch die gewaltigen Bewegungen der Produktivkräfte: Das Aufblühen der Kultur resultiert letztlich aus der Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit bei der Schaffung und dank der Schaffung immer besserer materiell-technischer und damit auch sozialer Bedingungen; die Annäherung ist ein indirekter Reflex des tagtäglichen schöpferischen Miteinanders von Menschen verschiedener Nationen und der Nationen als Ganzem bei der Verwirklichung grandioser Produktionsvorhaben des Sowjetlandes. Philosophisch gesprochen: Die Entwicklung des Menschen von der lokalen zur welthistorischen Existenzweise, die mit der sozialistischen Revolution in ein neues Stadium eintritt, intensiviert sich im Verlaufe der wissenschaftlichtechnischen Revolution unter sozialistischen Bedingungen. Jede nationale Kultur eines Sowjetvolkes schöpft nicht nur aus den eigenen Quellen, sondern auch aus dem geistigen Reichtum anderer Völker der Sowjetunion — und außerhalb der Sowjetunion. Es bilden sich gemeinsame internationalistische Züge in den Kulturen heraus. „Wir können heute bereits mit vollem Recht sagen: Unsere Kultur ist eine ihrem Inhalt, in ihrer Hauptentwicklungsrichtung sozialistische, in ihren nationalen Formen mannigfaltige und in ihrem Geist und ihrem Charakter internationalistische Kultur. Sie stellt folglich eine organische feste Verbindung der von allen Völkern geschaffenen geistigen Werte dar." 1 7 6 So lautete die Einschätzung des Zentralkomitees der KPdSU anläßlich des fünfzigjährigen Bestehens der Sowjetunion. ii
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Die realen gesellschaftlichen und kulturell-literarischen Prozesse, die zu dieser Verallgemeinerung geführt haben, sind natürlich sehr vielgestaltig und — wie jede Entwicklung — widersprüchlich. Obwohl es längst keine objektiven sozialen Voraussetzungen eines nationalen Antagonismus mehr gibt, existieren nationalistische Vorurteile und Beschränktheiten — oft gepaart mit Lokalpatriotismus — in verschiedener Form weiter.177 Sie bilden besonders heute einen Hauptangriffspunkt der antisowjetischen Propaganda. Außerdem — das ist normal — bringt die Entwicklung jeder Nation und das notwendige In-Übereinstimmung-Bringen dieses Prozesses mit der Entwicklung des Ganzen neue Probleme mit sich.178 Schwierigkeiten bereitet auch, die Einsicht durchzusetzen, daß Internationalismus und Nationalgefühl einander nicht ausschließen, sondern eine dialektische Einheit bilden. Der sowjetische Literaturtheoretiker Georgi Lomidse betont nicht umsonst: „Ja, wir wiederholen das schon so oft Gesagte: Der Internationalismus tötet das Nationalgefühl nicht ab, sondern prägt es mehr aus und steigert es, indem er es mit einem neuen sozialen Sinn erfüllt. Das Wachsen des Nationalgefühls wiederum führt nicht, wie man erwarten könnte, zur Zerstörung des Internationalismus, sondern zu dessen voller Ausbildung, Lebendigkeit, weil der Ausgangspunkt für die Aktivierung des Nationalgefühls der sozialistische Internationalismus ist. Einige Theoretiker sind nicht imstande, diese spezifische, vom Leben hervorgebrachte Dialektik von Internationalem und Nationalem zu begreifen." 179 Die zwei häufigsten Extreme in der Verkennung dieser Dialektik sind einerseits die totale Identifizierung von Nationalem und Internationalem, andererseits die metaphysische Trennung und Gegenüberstellung beider. Wenn Aitmatow über die besten nationalen Werke schreibt, in ihnen trete das Nationale in untrennbarer Verbindung mit dem Internationalen, mit den s o z i a l e n Konzeptionen seiner Zeit 180 auf, so betont er damit ausdrücklich die Größe, die in dieser Dialektik mit im Spiel ist, das Soziale, d. h. in unserem Fall das sozialistisch-kommunistische Gesellschaftsprogramm und seine praktische Verwirklichung. Aitmatow meint auch die für den Realismus unerläß164
liehe soziale Analyse vergangener nationaler Entwicklungen. Die literarische Praxis zeigt, daß von der Berücksichtigung dieser entscheidenden sozial-historischen Komponente die ästhetische Leistung abhängt.
Realistische soziale Analyse des Nätionalen Seit Mitte der sechziger Jahre widmen alle Literaturen der Sowjetunion dem Nationalen, den nationalen Traditionen verstärkte Aufmerksamkeit. Die literarische Erkundung des Nationalen ist nach Lage der Dinge auch die Erkundung des Internationalen, von dem das Nationale entscheidende Impulse empfangen hat und immer mehr empfangt. Die Hinwendung zum Nationalen ist keine Bewegung vom Internationalen weg; sie führt vielmehr zu ihm: Das Internationale ist nicht das vom Nationalen Abstrahierte, es existiert nicht im anationalen Raum, sondern in der Einheit mit dem Nationalen. 181 Russische Schriftsteller wie Wassili Below und Fjodor Abramow schreiben über das russische Dorf und suchen dort nach wesentlichen Zügen des Nationalcharakters. Vera Panowa erzählt Geschichten aus der altrussischen Nestorchronik auf neue Art. 182 Der litauische Lyriker Justinas Marcinkievicius verfaßt ein historisches Drama über den legendären König Mindaugas (1972).183 Jonas Avyzius führt in dem breit angelegten Roman Zeit der verödeten Höfe (1971)184 den klassenindifferenten, „rein" nationalen Standpunkt einiger Figuren ad absurdum. Der Este Paul Kuusberg gestaltet in seinem Roman Bitterer Sommer (1971) die Geburt eines neuen Nationalbewußtseins bei der Verteidigung der Sowjetheimat. Den Weg seines Volkes zur sozialistischen Nation zeichnet der belorussische Romanschriftsteller Iwan Melesh am Beispiel der Bauern des Polessje-Gebietes in der Dilogie Menschen im Moor und Atem des Gewitters (1962, 1967).185 Das komplizierte Verhältnis von nationalen Traditionen und sozialem Fortschritt stellt der Ukrainer Oles Hontschar in seinem heftig umstrittenen Roman Die Kathedrale (1968)186 zur Diskussion. Ähnlich wie in der russischen „Dorfprosa" wird in 165
Ion Drutäs Die Last unserer Güte (1963, 1968)187 das moldauische Dorf als Schmelztiegel traditioneller nationaler Charakterzüge und neuer sozialistischer Gesellschaftserfahrung gesehen. Die bisher erwähnten Schriftsteller repräsentieren Nationen, die — in ihrer Masse aus Bauern bestehend — in vorsozialistischer Zeit eine mehr oder weniger ausgeprägte nationale Entwicklung unter der Führung ihrer Bourgeoisie erfahren haben. Das tiefere Ausloten der nationalen Problematik geht genregeschichtlich gesehen oft einher mit der Ausbildung oder Weiterentwicklung einer sozialistisch-realistischen epischen Prosa. Das trifft vor allem auf die Literaturen Belorußlands und der Ostseerepubliken zu. Bei den russischen und ukrainischen Erzählern ist der Zusammenhang mit der wissenschaftlich-technischen Revolution greifbar, auch Drutä reagiert darauf, vor allem mit seinem Drama Die Vögel unserer Jugend (1972) — davon später ausführlich. Bei den erwähnten Litauern, Esten und Belorussen ist im konkreten Fall ein direkter Zusammenhang nicht nachzuweisen, abgesehen davon, daß auch das Aufblühen ihrer Kulturen — wie aller Kulturen des Sowjetlandes — letztendlich der Freisetzung aller schöpferischen Kräfte des Volkes in der gesellschaftlichen Produktion geschuldet ist. Und diese Freisetzung erfolgt heute am intensivsten durch die wissenschaftlich-technische Revolution. Die Hinwendung zu den nationalen Traditionen, zur Geschichte ist charakteristisch für a l l e Literaturen, gleich von welchem Entwicklungsstand aus sie den sozialistischen Realismus ausbildeten, gleich von welchen Gesellschaftsver* hältnissen her die betreffenden Völker ihren Weg zum Sozialismus nahmen. Rassul Gamsatow, ein Dichter der Awaren, eines nordostkaukasischen Volkes, das vor 1917 in patriarchalischen Verhältnissen lebte und keine schriftlich fixierte Kunstliteratur, wohl aber eine reiche Folklore hatte, schrieb das Buch Mein Dagestan (1967, 1971)188. Grundtenor ist auch hier das nationale Selbstbewußtsein von Menschen, denen der Sozialismus durch die soziale Befreiung auch das Gefühl der nationalen Würde wiedergab oder stärkte. Der Armenier Hrant Matewossjan setzt sich in Wir und unsere 166
Berge (1965)189 mit Gegenwartsproblemen seiner Republik auseinander, dabei die traditionsreiche Geschichte dieses Landes reflektierend. Von gänzlich anderer Art ist die literarische Bewältigung des Werdeganges der mittelasiatischen Völker, die aus patriarchalischer, frühfeudaler Gesellschaftsordnung zum Aufbau der sozialistischen Gesellschaft übergingen. Aitmatow zeigt an Einzelschicksalen die widerspruchsvolle beschleunigte Entwicklung der Kirgisen (von Djamila, 1958, bis Abschied von Gulsary, 1966)i9. Der Kasache Abdishamil Nurpeissow hat mit der Trilogie Blut und Schweiß (1965, 1967, 1972)191 ein breites Romanepos in Angriff genommen, das den Zeitraum vom Ende des 19. Jahrhunderts bis zum Bürgerkrieg umfaßt. Er folgt dabei einerseits der Tradition des kasachischen Klassikers Muchtar Auesow, andererseits meidet er eine direkte Anlehnung an das klassische Vorbild und betont seine Eigenständigkeit sowohl in der Wahl des Gegenstandes wie auch in der Handlungsführung. In anderer Hinsicht eigenartig und interessant sind die Versuche der Völker des hohen Nordens und Sibiriens, ihren Eintritt in die Geschichte, ihren Sprung aus der Gentilordnung in den Sozialismus sich künstlerisch bewußt zu machen. Neben den Romanen des Tschuktschen Juri Rytcheu (Traum im Nebel, 1969, Reif auf dem Wege, 1970)192, des Nanaiers Grigori Chodsher (Weiße Stille, 1967)193, den Erzählungen des Mansen Juwan Schestalow (Als mich die Sonne wiegte, 1971), des Niwchen Wladimir Sangi (Tyngrai, Isgin, 1970)194, hat vor allem das Buch Chanidö und Chalerchä (1968, 1972)195 des Jukagiren Semjon Kurilow Aufsehen erregt. Der Roman zeigt im — scheinbaren — ewigen Einerlei des Alltagslebens der Jukagiren, eines nordostsibirischen Volksstammes, am Ende des 19. Jahrhunderts, bei genauer Beschreibung ethnographischer Einzelheiten, religiöser Rituale usw. die ersten Anzeichen des beginnenden Zerfalls der Urgemeinschaft. Noch ist die historisch notwendige und unvermeidliche Trennung des Individuums vom Stammesganzen nicht vollzogen, aber sie kündigt sich an, die Festgefügtheit der seit Urzeiten bestehenden Lebensordnung kann diesen Vorgang nur notdürftig überdecken. Kurilow 167
zeigt die Jukagiren an der Schwelle einer Entwicklung, jenseits derer sie sich ihres eigenen sozialen Wesens selbst bewußt werden. Das hat die Geschichte der Literatur noch nicht gekannt. Bisher war der Beginn des Zerfalls der Urgemeinschaft, das Heraustreten des Menschen aus der Namenlosigkeit des ursprünglichen Kollektivs nur Gegenstand der antiken Literatur oder der ältesten Volksepen. Heute, in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, wendet sich eine Literatur wiederum diesem entscheidenden welthistorischen Vorgang zu, aber sie tut es aus der Sicht einer geschichtlichen Epoche, die drei Gesellschaftsordnungen — Sklaverei, Feudalismus, Kapitalismus — hinter sich gelassen hat. Die Sicht aus der Position einer sozialen Formation, die die innere Spaltung in antagonistische Klassen überwand und der Aufhebung der Klassen entgegengeht, auf einen Entwicklungszustand der Menschheit, in dem die soziale Differenzierung sich noch nicht ausgebildet hatte, ist ein einmaliges Phänomen der Weltliteratur. Literaturen, die gerade erst von der Folklore zur Kunstliteratur, von der mündlichen zur schriftlich fixierten Dichtung übergegangen sind, suchen sich ihrer eigenen Herkunft vermittels einer realistischen sozialen Analyse künstlerisch bewußt zu werden. Tatsächlich ist die realistische Analyse vom Standpunkt des Sozialismus das Bemerkenswerte an diesen Werken, lag doch die Gefahr nahe, den Urzustand zu idyllisieren, romantisch zu verklären, vielleicht sogar zu mystifizieren. Die Befreiung von folkloristischen Darstellungsformen, die bei all ihrem Reichtum die schöpferischen Möglichkeiten des sozialistischen Realismus einengen, verstand sich nicht von selbst, sie war ein entscheidender, aber nicht leichter Schritt. Was das Verhältnis zur Mythologie anbelangt, so war auch hier ein schöpferischer Aufhebungsakt vonnöten. Die Erzählung Der weiße Dampfer von Aitmatow kann — wie bereits dargelegt — dafür als beispielgebend gelten : Nur wenn das Kunstwerk bewußt macht, daß etwa die im Sozialismus/Kommunismus mögliche Gemeinschaftlichkeit der Menschen, ihr harmonisches Miteinander mit der Natur erst nach doppelter Negation des Urzustandes der Gemeinsamkeit und Naturverbundenheit erreicht, bewußt 168
und planvoll geschaffen wird, nur dann ist Literatur wahrheitsgetreu, realistisch. Das gilt auch für Völker wie die Jukagiren, die Tschuktschen, Nanaier, Jakuten usw., die die erste Negation — die Überwindung der Urgemeinschaft durch die Klassengesellschaft — historisch nicht durchlaufen haben. Sie hatte vor 1917 lediglich Kontakt mit dieser Klassengesellschaft : in Gestalt der russischen und ausländischen Händler, also der Kapitalisten, aber auch der Verbannten, der Revolutionäre. Dennoch liegt hier eine reale Schwierigkeit, und es hat Versuche gegeben, das Leben in der Urgemeinschaft zu idealisieren, ohne Berücksichtigung des großen und historisch notwendigen Schrittes vom harmonischen, aber dumpfen, unbewußten Urzustand zur bewußten Ausbildung der menschlichen Persönlichkeit in der Gemeinschaft freier Menschen, im Sozialismus. Ganz sicher sind solche Idealisierungen u. a. auch dem — gedanklich nicht verarbeiteten — Einfluß der wissenschaftlich-technischen Revolution geschuldet. Werden deren komplizierte Entwicklungsprobleme dem soeben erst überwundenen Urzustand gegenübergestellt, mag letzterer vielleicht einige Vorzüge aufweisen. Eine dialektische Betrachtungsweise wird jedoch die ungeheuren Nachteile nicht ignorieren können. Eine realistische Darstellung des Nationalcharakters einzelner Völker der Sowjetunion, das Aufspüren seiner historischen Wurzeln kann also nicht an dem bestimmenden Einfluß von Oktoberrevolution, Sozialismus, Kollektivierung, Industrialisierung, Kulturrevolution, wissenschaftlich-technischer Revolution vorübergehen 196 , und die Sowjetliteratur der endsechziger und siebziger Jahre ist daran auch nicht vorbeigegangen. Manchem mag es paradox erscheinen, wenn als Beleg dafür gerade auf die russische „Dorfprosa" verwiesen wird. Beim genauen Hinsehen ist nämlich eines festzustellen : Die betreffenden Literaturwerke — etwa von Below und Abramow — sind in der realistischen, sozialen Analyse des sowjetischen Dorfes der Kriegs- und Nachkriegszeit sehr genau und konkret. Die ahistorische Interpretation geht zu Lasten einiger Kritiker, die abstrakt verstandene, „ewige" Züge des russischen Nationalcharakters dort sahen, wo die Autoren russische Menschen dargestellt hatten, die die So169
wjetepoche gestalteten und von der Sowjetepoche geprägt waren. Der Begriff „Dorfprosa" ist nur richtig im Hinblick auf das Thema, den Handlungsort im engeren Sinne, ansonsten aber geht er am Wesen dieser Werke vorbei, engt er deren Bedeutung ein. Die Romane der Below und Abramow gewähren auf überraschende Weise Einblick in künstlerisch bisher wenig gestaltete Bereiche des sowjetischen Lebens, die wesentlichen Anteil an der welthistorischen Leistung der Sowjetunion als Ganzem haben. Von der Kraft und dem Heldenmut der Kämpfer an den Fronten des Bürgerkrieges, der Industrialisierung, des Großen Vaterländischen Krieges, des Wiederaufbaus erzählen viele der besten Werke der Sowjetliteratur. E n t s c h e i d e n d e Züge des russischen Nationalcharakters der Sowjetepoche, seine Wandlungen in dieser Epoche haben bereits Schriftsteller wie Maxim Gorki, Dmitri Furmanow, Nikolai Ostrowski, Michail Scholochow, Alexander Fadejew, Wladimir Majakowski, Alexander Twardowski und viele andere bewußt gemacht. Das ist zu berücksichtigen, damit Below, Abramow und aridere bei all ihrer Leistung nicht überbewertet werden. Die „Dorfprosa" hat lediglich bestimmte Lebensbereiche und Charaktereigenschaften stärker in den Mittelpunkt gerückt — die Ausdauer, die Härte im alltäglichen Ertragen schwierigster Lebensumstände, das stille, namenlose Heldentum weitab vom Feind, fernab vom Schlachtenlärm, von den Zentren des sozialistischen'Aufbaus. Wassili Belows Roman Sind wir ja gewohnt (1966) 197 schildert den Alltag der Familie Drynow in den fünfziger und sechziger Jahren. Die einprägsamen Figuren Iwan Afrikanowitschs und seiner Frau Jekaterina zählen zu den bedeutenden Leistungen der sowjetischen Gegenwartsliteratur, und sicher auch im Hinblick auf sie kamen einige namhafte Kritiker zu der bedenkenswerten Feststellung, die „Dorfprosa" sei die am meisten ernstzunehmende Richtung in der heutigen russischen sowjetischen Prosa. 198 Ähnliches läßt sich von der Gestalt des Michail Prjaslin aus Fjodor Abramows Tetralogie Brüder und Schwestern (1958, 1968, 1973, viertes Buch geplant) 199 sagen. Das erste Buch des Romans, das dem Ganzen den Namen gab, handelt im 170
Krieg, das zweite — Zwei Winter und drei Sommer hat das Kriegsende und die ersten Nachkriegsjahre zum Gegenstand ; die Wende von den vierziger zu den fünfziger Jahren stehen im Blickpunkt des dritten Buches Wege und Scheidewege, und der geplante vierte Teil soll dann in die sechziger und siebziger Jahre hinüberreichen. Iwan Afrikanowitsch, seine Frau Jekaterina und Michail Prjaslin sind einfache, unscheinbare Menschen, dennoch haben sie mit dem sogenannten „kleinen" Helden, der in einigen Werken der endfünfziger Jahre literarische Daseinsberechtigung zu erlangen suchte, kaum etwas gemein. Sie sind starke Menschen, insofern trifft auf sie das zu, was Anna Seghers mit dem programmatischen Titel Die Kraft der Schwachen zu benennen suchte: Die großen Werke der Geschichte, und vor allem das größte — die Errichtung einer grundsätzlich neuen Lebensordnung — werden von den vielen geschaffen, die bisher ak schwach galten, in Wirklichkeit aber die entscheidende Kraft des Fortschritts sind. Ohne die Millionen Drynows und Prjaslins gäbe es keinen Sozialismus, keinen Sieg über den Faschismus, keinen Wiederaufbau, keine wissenschaftlichtechnische Revolution, keine Kosmosforschung, weder Frieden noch Kommunismus. Ohne den bescheidenen, unscheinbaren Heroismus solcher Menschen, sagt Sergej Salygin, „können wir uns unser Volk, unsere Geschichte, all jene historischen Prüfungen, die wir durchzustehen hatten, nicht vorstellen." 2 oo Below und Abramow sind durch eine genaue Analyse menschlicher Charaktere unter bestimmten historischen Umständen zu beeindruckenden ästhetischen Aussagen gelangt. Ihre Stärke ist der unbestechliche Historismus, die Wahrheitstreue, die Liebe zu ihrem Volk, die Überzeugung von der Richtigkeit des gewählten Entwicklungsweges zum Kommunismus. Darum gebührt ihnen alle Anerkennung. Angesichts dessen wird der Irrtum jener Kritiker offenbar, die in Iwan Afrikanowitsch oder in Michail Prjaslin das „große Rätsel" des russischen Charakters 2 0 1 sehen wollten. Eine solche Interpretation geht von vorgefaßten Konzeptionen, nicht von den Werken selbst aus. Beide literarische Gestalten repräsentieren keine ahistorischen „ewigen" Kate171
gorien, sondern einen russischen Charakter, der für eine bestimmte Etappe sowjetischer Entwicklung typisch war. 202 Natürlich sind in dieser konkrethistorischen Erscheinungsform gewisse allgemeine Züge und Eigenschaften der Russen präsent, aber auch sie sind rationell faßbar, bedürfen keiner mystischen Erklärung. Und es sind Eigenschaften, an denen mehrere Jahrzehnte sowjetischer Geschichte nicht spurlos vorübergegangen sind. Nun wäre denkbar, all dies hätte auch am Gegenstand einer russischen Arbeiterfamilie ästhetisch gestaltet werden können. Die Frage, warum gerade Bauern im Mittelpunkt dieser Romane stehen, führt zu einer Spezifik sowjetischer Literaturentwicklung am Ende der sechziger Jahre und verweist letztlich auf Wirkungen der wissenschaftlich-technischen Revolution. „Das Land, den Hauptmerkmalen der Reproduktion der materiellen Werte und der Klassenzugehörigkeit der Hauptmasse der Bevölkerung nach kein Bauernland mehr, ist geistig, sozusagen dem Gedächtnis des Herzens nach noch nicht allzuweit von seiner bäuerlichen Vergangenheit entfernt: gerade so weit, um das Bedürfnis zu empfinden und die Möglichkeit zu haben, mit einem umfassenden Blick diese Vergangenheit zu betrachten und moralisch und ästhetisch zu bewerten, was es verlassen hat und was es weiterhin schnell verläßt." 203 Jekaterina Starikowa, die diesen Gedanken äußerte, hat mit ihrer soziologischen, dem Objekt angemessenen konkret-historischen Analyse das Phänomen „Dorfprosa" unseres Erachtens am klarsten gedeutet. Im 19. Jahrhundert war die russische nationale Frage im wesentlichen eine Frage der Bauernbefreiung; diese bestimmte weitgehend Charakter und ästhetische Funktion der russischen klassischen Literatur von Puschkin bis Lew Tolstoi. Die prinzipielle Lösung dieser Frage durch Oktoberrevolution, Enteignung der Gutsbesitzer und Kulaken, Kollektivierung, die Verwandlung des agrarischen Rußlands in das hochentwickelte Industrieland Sowjetunion haben Bild und Lebensweise des Dorfes grundlegend verändert. Doch der auf lange Sicht geplante Weg der Annäherung des Dorfes an die Stadt ist außerordentlich kompliziert; er ist keineswegs abgeschlossen. Durch bekannte historische 172
Umstände — den zweiten Weltkrieg — wurde er zusätzlich erschwert und verlangsamt. Die seit der zweiten Hälfte der sechziger Jahre sichtbare Beschleunigung dieses Prozesses — zweifellos eine unmittelbare Folge der wissenschaftlichtechnischen Revolution — hat neben enthusiastischer Bejahung auch gegenteilige Reaktionen ausgelöst. Denn stärkere Technisierung der Landwirtschaft, beginnender Übergang zu industriellen Produktionsmethoden, Tendenzen zur Urbanisierung des Dorfes, Abwanderung vieler schöpferischer Kräfte in die Industrie, auf die Großbaustellen — all das vollzieht sich nicht widerspruchslos. Neben dem Alten, das des Unterganges wert ist, geht dabei auch manches verloren, was besser erhalten geblieben wäre: unmittelbare Naturverbundenheit, gewisse Formen der Volkskunst und sicher auch historisch tief verwurzelte ethische Normen und Werte. Hier liegt ohne Zweifel der eigentliche Anstoß für das Entstehen der Romane Belows, Abramows und anderer. Der stürmische Wandlungsprozeß auf dem Lande hat die Aufmerksamkeit der Künstler für alles geschärft, was der Wandlung unterliegt; doppelt und dreifach genau und zudem sehr schnell ist zu prüfen, ob wirklich nur Altes und Unbrauchbares überwunden wird oder ob darin Bewahrenswertes enthalten ist. Das ist — kurz gesägt — der Grundtenor der Werke Belows und Abramows. In der Standhaftigkeit, dem ungebrochenen Mut, der selbstlosen und selbstverständlichen Arbeit der russischen Bauern Iwan Afrikanowitsch, seiner Frau Jekaterina und Michail Prjaslin sehen beide Schriftsteller etwas, was zum unverlierbaren Besitz aller Sowjetmenschen geworden ist. Indem sie dies zum Gegenstand künstlerischer Darstellung machten, haben sie die Unverlierbarkeit dieser Elemente des Sowjetcharakters ins Bewußtsein gerückt. Welche Veränderungen im Leben des russischen Dorfes auch vor sich gehen mögen, um wieviel leichter und schöner dieses Leben im Vergleich zu den bitteren Jahren des Krieges und Nachkrieges auch werden mag —, die Arbeit, die Ausdauer der Drynows und Prjaslins bleiben das materielle und ethische Fundament. Neben diesen künstlerisch bedeutsamen, historisch richtigen Antworten, die das „schnelle Fortschreiten" Sowjet173
rußlands von seiner noch nicht allzufernen bäuerlichen Vergangenheit provozierte, gab es auch übertriebene, ahistorische Reaktionen. Es handelt sich dabei allerdings um unbedeutende Werke, und nur einzelne Kritiker nannten solche Werke und die Romane der Below und Abramow in einem Atemzuge. Viktor Astafjew hat über jene Autoren und deren untaugliche Versuche geäußert, sie schrieben über das Dorf mit einer „sentimentalen Tränenseligkeit, mit einem Sommerfrischler- und Touristenpathos" 2 0 4 . Die Bauern erschienen in diesen Werken als der national eigenständigste Menschentypus, und das Verhältnis zum Dorf als wichtigstes Kriterium der gesellschaftlichen Moral. 2 0 5 Diese extremen Erscheinungen können die ästhetische Leistung eines Below oder Abramow nicht beeinträchtigen, dennoch deuten sie auf ein Problem, das seiner künstlerischen Lösung noch harrt. Es ist an der Zeit, das Suchen nach den unverlierbaren ethischen, ästhetischen usw. Werten, die das russische sowjetische Dorf in unsere Gegenwart eingebracht hat, fortzuführen bis in die Gegenwart, um zu erfahren, wie diese wertvollen nationalen Traditionen heute lebendig wirken und durch welche n e u e n Erfahrungen sie verändert und bereichert werden. Jekaterina Starikowa schreibt hierzu: „Zu leben, ohne dankbar der Vergangenheit zu gedenken, ist sowohl uninteressant als auch unmoralisch und sogar gefährlich, das ist die Wahrheit, die bald als Entdeckung, bald als Mahnung in der ,Dorfprosa' der sechziger Jahre laut zu vernehmen ist, und meines Erachtens liegen darin ihr Sinn und ihre progressive historische Bedeutung. Aber man lebt nicht nur der Erinnerung, und die Rückwärtsgewandtheit der ,Dorfprosa', ihre Orientierung auf die Vergangenheit wird immer deutlicher als Einseitigkeit und Beschränktheit empfunden." 2 0 6 Fjodor Abramow hat bereits den vierten Teil seiner Romantetralogie angekündigt. Dieser Teil soll nunmehr das Kolchosdorf der sechziger und siebziger Jahre zum Gegenstand haben. Das deutet die Entwicklungsrichtung an, die notwendige Weiterführung eines wichtigen literarischen Werkes. 174
Wer den russischen Nationalcharakter in der Literatur bisher vor allem in solchen Gestalten wie dem Pawel Wlassow aus Gorkis Mutter, dem Kommandeur Tschapajew aus Furmanows gleichnamigen Roman, dem Grigori Melechow, dem Semjon Dawydow und Andrej Sokolow aus Scholochows Werken verkörpert sah, wer sich darunter Helden wie Fadejews Oleg Koschewoi, Twardowskis Wassili Tjorkin oder Leonows Wichrow vorstellte, der mag zu den Drynows und Prjaslins zunächst eine etwas kritische Distanz gehabt haben. Dennoch wäre ohne sie unser Begriff vom Russen der Sowjetepoche nicht vollständig.
Gewinn und Verlust des Fortschritts D e r . Moldauer Ion Drutä hatte in seinem zweiteiligen Roman Die Last unserer Güte207 ebenfalls die Vergangenheit seines Dorfes — vom Ende des ersten Weltkrieges bis in die fünziger Jahre — geschildert. Drutä war darin nicht ganz der Gefahr entgangen, gewisse Seiten des Vergangenen zu idealisieren, trotz der starken Konturierung der Schwere bäuerlichen Lebens dieser Zeit. Es scheint, daß Drutä in seinen neueren Werken diese Gefahr überwunden hat, ohne in ein anderes Extrem zu verfallen. Das Drama Die Vögel unserer Jugend208 ist dem heutigen Leben der Kolchosbauern in der Moldau gewidmet; Probleme der endsechziger und der beginnenden siebziger Jahre stehen im Mittelpunkt. Das moldauische Dorf mit dem poetischen Namen Valja Kokorilor — „Tal der Störche" hat 835 neue Häuser mit eisernen Dächern, nur eines, das 836., ist so alt und gebrechlich geblieben wie es war, über seinem Strohdach erhebt sich eine dichte Rauchfahne, die von verbranntem Kisjak — getrockneten Kuhfladen — herrührt. Tante Ruza, die diese Hütte bewohnt, glaubt, mit dem Rauch die Störche, die vor den veränderten Häusern und eisernen Dächern geflohen sind, wieder ins Dorf locken zu können. Tante Ruza hält zähe an Traditionen fest, und wollte Ion Drutä mit dieser Zentralgestalt des Dramas beweisen, wie schön die alte Zeit gewesen sei, daß man sich so sehr an ihre Traditionen klammern 175
müsse, dann brauchten wir dieses Werk nicht zu beachten. Dem ist aber nicht so. Ion Drutä versucht vielmehr, die Dialektik von nationalen Traditionen und sozialem Fortschritt, der ohne Internationalismus nicht möglich ist, in ihrer Kompliziertheit künstlerisch zu fassen. Er hat sein Drama zweipolig aufgebaut: Auf der einen Seite Tante Ruza, die die Traditionen pflegt, zu der alle Dorfbewohner — oft nur heimlich — kommen, um sich Rat und Hilfe bei der Bewältigung von gegenwärtigen Lebensproblemen zu holen. Auf der anderen Seite Ruzas Neffe Pawel Russu, Kolchosvorsitzender, der sich im aufopferungsvollen Dienst an der Gemeinschaft die Gesundheit ruiniert und zu Beginn der Handlung bereits todkrank ist. Auch zu ihm strömen die Bewohner von Valja Kokorilor, seine Arbeit repräsentiert den sozialen Fortschritt. Die beiden Hauptpersonen sind unter sich zerstritten, der Grund ihres Zerwürfnisses enthält den Schlüssel zum Verständnis des zentralen Problems im Drama; ihr endliches Zusammenfinden am Schluß bildet den philosophisch-ästhetischen Höhepunkt der Handlung und die von Drutä vorgeschlagene Lösung des Problems : Wie vereint man notwendige soziale Weiterentwicklung, also Überwindung des Alten, Rückständigen — Diskontinuität — mit Kontinuität, mit Bewahrung dessen, was wertvoll ist am Überlieferten? Das war die Hauptfrage der russischen „Dorfprosa" wie überhaupt vieler Werke anderer Nationalliteraturen, nur ist sie dort erst teilweise beantwortet: Below und Abramow signalisierten, was wertvoll ist, was nicht verloren gehen darf. Drutä nun v e r s u c h t zu beantworten, wie das Wertvolle bewahrt werden kann, und er macht auf die Schwierigkeiten dabei aufmerksam. Die Handlung wird zu dem abschließenden Höhepunkt — ausgehend von den zwei Polen — zweisträngig geführt, sie zeigt die Begegnungen einzelner Dorfbewohner mit Tante Ruza einerseits und mit Pawel Russu andererseits, wobei letztere meist nur in Gedanken oder Fieberphantasien des todkranken Pawel erscheinen, oft bilanzierenden Charakter tragen und von großer philosophischer Tiefe sind. Die Szenen mit Tante Ruza und Pawel wechseln fast regelmäßig, sie enthalten meist parallele Probleme in der unterschiedlichen j
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Behandlung durch die beiden Charaktere. Schon in diesen Parallelszenen tritt zutage, daß beide — Tante Ruza und Pawel — das gleiche wollen, obwohl sie äußerlich in einander entgegengesetzte Richtung streben: sie in die Vergangenheit, er in die Zukunft. Beide sind Menschen mit Stärken und Schwächen und sind sich dessen tief bewußt, keiner hat ein Allheilmittel, die Widersprüche der Entwicklung verschwinden zu lassen: Sie müssen durchgestanden werden. So lehnt es Tante Ruza ab, ein Heilmittel gegen Pawels Leberkrankheit zu geben — sie gesteht damit ihre Hilflosigkeit ein. Pawel Russu gibt in dem Gespräch mit dem Genossen aus der Zeit des Krieges zu, er konnte nichts dagegen unternehmen, wenn der eine oder andere von seinen ehemaligen Mitkämpfern dem Trunk verfiel. Pawel war, so sagt er selbst, zu sehr damit beschäftigt, Getreide anzubauen, Obst zu ernten, Tiere zu züchten, damit die Menschen leben können. Das war seine große Stärke, das war seine humanistische Tat. Tante Ruza, die sehr oft helfen konnte, die Menschen aufrichtete, weigert sich, einer Kriegswitwe Karten zu legen, sie habe in den ersten Nachkriegsjahren zu vielen einsamen Frauen die Rückkehr ihrer Männer versprochen, diese Frauen könnten einmal im Zorn ihre Hütte anzünden. Trotzdem — das überrascht zunächst, offenbart aber bei näherem Hinsehen etwas von der Idee des Stückes — beginnt Ruza der Witwe Artina plötzlich Karten zu legen, erzählt ihr mit schönen Worten, wie der im Krieg verschollene Mann nun — nach fünfundzwanzig Jahren — wiederkommt, welche Gespräche geführt werden, wie glücklich Artina sein werde. Artina lauscht andächtig, erbittet sich zwischendurch genauere Details. Jeder weiß, hier wird eine große schöne Lüge erzählt, die Assoziation zum Tröster Luka in Gorkis Nachtasyl ist sofort gegenwärtig: Wird hier aus der Unwahrheit wieder Poesie und Trost gemacht? Diese Szene ist eine der provokantesten des an Provokationen wahrlich nicht armen Stückes, und sicher wird mancher sagen, Drutä habe hier eine Grenze überschritten. In der Tat aber hat sich die Erzählung Tante Ruzas von der Rückkehr des Soldaten von dem konkreten Fall, der ihr zugrunde liegt, schon so weit entfernt, daß sie bereits ein eigenständiges Kunstwerk ist — 12
Hiersche, Sowjetlit.
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mit der entsprechenden Verallgemeinerungskraft und dem spezifischen Wirklichkeitsbezug, den Kunst hat. Artina lauscht in Wahrheit einer Erzählung, die mit ihrem konkreten Schicksal genau sowenig und genau soviel zu tun hat wie eine beliebige andere Geschichte, sie erlebt in diesem Moment ein Kunstwerk, das ihr Mut gibt, die Einsamkeit weiter zu ertragen, ihr nicht ausgeliefert zu sein, Herr zu bleiben, über ihr Schicksal. Die tröstende Lüge des Kartenlegens lehnt Tante Ruza fürderhin ab, sie ist zur Wahrheit fortgeschritten, aber zu einer ihrer besonderen Formen — zur Wahrheit der Kunst. Einen vergleichbaren Wahrheitsgehalt hat beispielsweise Simonows Gedicht Wart auf mich, ich komm zurück: Millionen von Soldaten kehrten nicht zurück, millionenfach widersprach das Gedicht daher den Tatsachen. Dennoch hat es Dutzende Millionen Menschen durch die ihm innewohnende künstlerische Wahrheit wenn nicht getröstet, so doch stark gemacht. In der erwähnten Szene zeigt sich die Grundintention des Handelns von Tante Ruza: Was sie an nationaler Tradition bewahren will, ist vor allem die Fähigkeit, die Poesie des Lebens wahrzunehmen, die Poesie, die dem Menschen u. a. auch hilft, mit Widrigkeiten des Lebens fertigzuwerden. Poesie aber darum nicht begriffen als schöner Schein, der den anstrengenden Alltag der Gegenwart verklärt, sondern verstanden als Teil dieses Alltags, ständig neuerstehend aus dem Alltag. Poesie nicht zum Zurückholen, nicht zum Idyllisieren des Vergangenen, sondern verstanden als ein Mittel, die Vergangenheit zu bewältigen — die schwere Vergangenheit mit ihren Kriegen und Gebrechen, nach der sich keiner zurücksehnt. Gefühl für Poesie, ästhetisches Empfinden wird von Drutä als ein wichtiger Teil der im Kommunismus notwendigen geistigen Bedürfnisse verstanden. Das Problem der geistigen Bedürfnisse geht durch das gesamte Drama hindurch — wir erinnern auch an die zentrale Rolle, die es in Schatrows Campanella-Stück und in Aitmatows Weißem Dampfer spielte. In ihrem ursprünglichen Gefühl für Poesie begegnet sich Tante Ruza mit ihrem Neffen Pawel Russu, das wird gleich in den ersten beiden Parallelszenen offenbar. Als Pawel in 178
einem Gespräch mit dem Kreissekretär der Partei gefragt wird, warum er den Kolchosbauern Getreide ausgegeben hat, noch bevor der Staatsplan erfüllt war, da antwortet er: Weil die Menschen das geistige Bedürfnis haben, vom frisch geernteten Getreide Brot zu backen, unabhängig davon, ob sie noch vorjähriges Getreide zu Hause haben oder nicht. Jeder Weinbauer fühle dieses Verlangen, von den ersten Trauben zu essen. 209 Als Tante Ruza darüber klagt, daß die Störche nicht mehr ins Dorf kommen, meint ihr Neffe Andron, ohne Störche könne man leben, die Hauptsache sei das tägliche Brot. Tante Ruza widerspricht dem entschieden, und zwar aus folgendem Grunde: „Weil wir zusammen mit den Störchen jeden Herbst über sieben Berge flogen, in die warmen Länder, und jeden Frühling aus jener unvorstellbaren Ferne zurückkehrten. Ohne dieses Fortfliegen und Wiederheimfliegen verlernen wir, unser Land zu lieben, verlernen wir, einander zu lieben." 210 Beiden — Pawel und Tante Ruza — geht es um ein sinnerfülltes menschliches Leben, für das die Befriedigung der materiellen Bedürfnisse allein nicht genügt. Der Mensch braucht neben festen schönen Häusern und dem täglichen Brot noch etwas anderes — er will sich auch im Werk seiner Gedanken als Mensch bestätigt fühlen, er braucht daher die Poesie des frisch geernteten Korns, des Vogelzuges, des Traums vom Glück, wie ihn die Kriegswitwe Artina von Tante Ruza erbittet. Das Gegeneinander von Ruza und Pawel, dessen tiefere Ursache erst am Schluß zutage tritt, wird also von Anfang an als scheinbar dargestellt. Der Widerspruch zwischen sozialem Fortschritt zum Kommunismus und nationalen Traditionen ist lösbar, der Kommunismus — eine internationale, weltweite Bewegung — ist als gesetzmäßige Folge historischer Entwicklung auch die praktische Verwirklichung der besten Hoffnungen jeder Nation, die ausgedrückt sind in den Sitten, Traditionen, Zukunftserwartungen, in der Poesie. Der Kommunismus ist dies auch dann, wenn seine Verwirklichung mitunter äußerlich wie die Negation selbst wertvoller nationaler Traditionen erscheint — die Flucht der Störche aus dem Dorf ist das Symbol einer solchen Negation. Die tatsächliche Versöhnung von Ruza und Pawel am Schluß des Dramas, auf 12«
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die Drutä schon mit den ersten Szenen hinarbeitet, ist die Bestätigung der unzerstörbaren, dialektischen, d. h. widersprüchlichen Einheit von Fortschritt und Tradition. Sie ist damit auch zugleich Sinnbild der dialektischen Einheit von Nationalem und Internationalem: Tante Ruza kann als Verkörperung einiger der besten Züge des Nationalen angesehen werden und Pawel, der Kommunist, ist der Repräsentant der internationalistischen Aufgabe, die alle Sowjetvölker vereinigt. Aber es ist darum nicht eine metaphysische Polarisierung der beiden Kategorien in den Figuren: In Tante Ruzas Begriffen von der Poesie des Lebens ist nicht nur spezifisch Moldauisches, in ihnen ist Allgemeinmenschliches, und der Internationalist Pawel entbehrt nicht nationaler Züge, er hat das Schicksal dieser Nation geteilt in Krieg und Nachkrieg, er ist ihr mit seinem Leben und seiner Arbeit verbunden. Das Nationale erscheint bei Drutä nicht als etwas Geheimnisvolles, Mystisches, sondern es hat sehr faßbare, deutlich sozial geprägte Züge. Es ist nicht identisch mit dem Alten, Rückständigen, weil Tante Ruza, obwohl sie starrköpfig in ihrer alten Hütte wohnen bleibt, mit Kisjak heizt usw., in ihrer tiefen Menschlichkeit auf keine Weise als reaktionär bezeichnet werden kann, und weil das Nationale auch an die Person des Kommunisten Pawel Russu geknüpft ist. Nicht umsonst hat Drutä darüber hinaus eine Hochzeitsszene in die Mitte des Handlungsablaufes gestellt, durch die die Schönheit und Einmaligkeit nationaler Traditionen besonders augenfällig wird. Tante Ruza ist in dieser Szene der Spiritus rector, sie ordnet an, welche Speisen zu bereiten sind, sie fordert einen jungen Zigeuner heraus, ein Lied mit höchster Kunst zu spielen usw. Unter den Szenen, die den latenten zentralen Konflikt zwischen Tante Ruza und Pawel Russu einer Lösung zutreiben, seien noch die Begegnung Pawels mit seiner Mutter und mit Gott erwähnt. Gott stellt Pawel drei Fragen: Ob er richtig gelebt hat, ob er glücklich war und ob er seine Nächsten geliebt hat. Gott und Mensch haben die Rollen vertauscht, denn eigentlich wäre es ja an Pawel gewesen, sich mit diesen Fragen an seinen „höchsten Richter" zu wenden, 180
und diesem stünde es zu, Pawels Tun zu bewerten. So aber hat der Mensch die Aufgabe übernommen, sein Leben zu beurteilen, weil er allein Herr seines Schicksals ist, er es in seinen Händen hat, es so oder so zu wenden. Die erste Antwort Pawels lautet, er habe sein ganzes Leben gearbeitet, von früh bis spät, und das heißt für ihn, richtig gelebt zu haben. Zweitens habe er gemeinsam das gesamte bäuerliche Leben, das Dorf verändert, und dieses Gefühl, etwas Neues geschaffen zu haben, sei für ihn das Glück. Drittens schließlich meint Pawel, er habe etwa dreitausend Nächste gehabt, mit denen zusammen er gepflügt, gesät, gebaut, auf Versammlungen die Nächte gesessen und das Brot geteilt habe, es scheint darum, er müsse sie alle geliebt haben, denn warum sollte er sich sonst eine so schwere Arbeit aufgeladen haben? Zweifelsohne zählen die meist in religiöser Gestalt vorhandenen ethischen Kriterien und Vorstellungen des Volkes zu den wesenlichen Überlieferungen, die — ihrer kirchlichen Hülle entkleidet — tradiert werden müssen : Richtiges, „gerechtes" Leben, Glück, Liebe zu den Menschen. Die Antworten enthalten bereits die neue, historisch konkrete Sinngebung der „ewigen" Kategorien, sie heben diese auf, führen sie hinüber in den Sozialismus. Auch in dieser — übrigens humorvollen — Szene ist die Rede von Kontinuität und Diskontinuität der Entwicklung als widersprüchlicher Einheit. Im Bereich des Ethos wird hier das alte, idealistische Weltbild vom Kopf wieder auf die Füße gestellt (Umkehrung des Verhältnisses Gott—Mensch). Die Episode ist ein weiterer Schritt zur Aufhebung des Gegensatzes zwischen Tante Ruza und Pawel, sie veranschaulicht diese Aufhebung in Pawel und durch Pawel selbst. Schwieriger ist der Zugang zu dem ewigen Problem des Todes, das im Gespräch mit der Mutter aufklingt. Die Mutter sagt zu Pawel: „Man soll den Tod nicht fürchten. Er ist ein ebensolches Wohl wie alles übrige, was dem menschlichen Leben zuteil wird." 2 1 1 Der Schlüssel zum Verständnis dieser Äußerung liegt sicherlich im Begreifen des dialektischen Zusammenhangs von Leben und Tod; kein Leben ohne Tod, aber auch kein Vergehen ohne Werden. Nur in diesem Sinne ist der Tod als „Wohl" zu sehen, 181
wenngleich für den sterblichen einzelnen diese einfachste aller Einsichten ungeheuer schwer zu erlangen ist und einen sehr hohen, philosophischen Standpunkt voraussetzt. Da der Autor im Stück durchgängig die Problematik philosophisch durchdringt, wirkt diese Passage durchaus dem Drama angemessen; sie fallt nicht als übersteigerte Sentenz aus dem Werkganzen heraus. Und sie hat eine wichtige Funktion im Drama, vor allem für den Schluß, den Tod des Pawel Russu: Ausgerechnet er, der den gesellschaftlichen Fortschritt verkörpert, stirbt. Die Äußerung der Mutter unterstreicht, daß dieser Tod nicht einer Niederlage dessen gleichkommt, was Pawel verficht — der Tod ist keine Katastrophe, kein absolutes Ende, er gehört zum Leben. Das Gespräch Pawels mit Gott ergänzt diesen Gedanken: Die vielen Tausend Nächsten werden Pawels Werk weiterführen. Und ist ein Leben, das gerecht war, d. h. der gerechten Sache diente, und das Glück brachte, nicht ein erfülltes Leben? Nehmen wir an, Drutä hätte den umgekehrten Ausgang gewählt — Tante Ruza stürbe. Schon in der ersten Szene erfährt man von Pawels Bruder Andron, was dann geschähe — ihre Hütte würde abgerissen, endlich, denn sie verschandelt das Aussehen des Dorfes. Keiner könnte mehr zu ihr kommen, sich Rat und Hilfe zu holen, keine Poesie käme mehr von ihr. Wäre da nicht doch diese Seite des Konflikts — die Bewahrung bestimmter, vom Dorf hervorgebrachter nationaler Traditionen — aus der Welt geschafft? Tante Ruzas unmerkliche Arbeit mit den Menschen lebte fort in dem Traum Artinas von der Heimkehr des Mannes, in den Belehrungen an eine junge Mutter, wie sie ihr Kind zu erziehen habe, in dem Kunstgefühl, das Tante Ruza in dem jungen Zigeunermusikanten geweckt hat. Im weitesten Sinne — die Fähigkeit, die Poesie im Leben wahrzunehmen, die geistigen Bedürfnisse, dies bliebe bewahrt, weil es ein unabdingbarer Bestandteil des kommunistischen Menschen ist, weil es u. a. auch in der Tätigkeit Pawels lebte. Das Schrullige an Tante Ruza — die alte Hütte, der Kisjak — das wäre natürlich für immer dahin, kein Fortschritt ohne Verlust, und nicht alles Alte ist der Bewahrung wert. Nur der Traum 182
von der Rückkehr der Störche — wenn der ausgeträumt wäre mit Tante Ruzas Tod, das wäre ein echter Verlust, durch nichts wettzumachen. Das verweist auf den Schluß des Stükkes, wie Drutä ihn wirklich angelegt hat — Pawel stirbt, Tante Ruza bleibt am Leben. Dieser abschließende Höhepunkt des Dramas, das Gespräch Pawel — Ruza über das, was beide lieben und beide zusammenführt, sei im Wortlaut wiedergegeben: Als Tante Ruza zweifelt, ob die Störche noch einmal zurückkommen ins Dorf Valja Kokorilor, sagt Pawel Russu: „Sie kommen zurück. Ich sehe doch, wie sie im Frühling und Herbst über uns dahinfliegen, obwohl sie uns etwas seitlich liegenlassen, kommen sie ein wenig tiefer, und beim Leitvogel zucken manchmal die Flügel [. . .] Sicher erinnert er sich an das heimatliche Nest [. . .] Tante Ruza: Herrgott, wenn es doch nur ein einziges Störchlein wäre fürs ganze Dorf, da könnte ich beruhigt sterben [. . .] Pawel Russu: Sie kommen zurück, obwohl, wenn ich die Wahrheit sagen soll, ich selbst mehr die Lerchen liebe. Ein wunderbarer Vogel! Er liebt das Feld, die Weite, den Frühling. Er schwebt über dem frischgepflügten Feld, löst sich auf im Blau des Himmels, und von dort her, aus der Bläue, worin er sich aufgelöst hat, ertönen den ganzen Tag Lieder. Tante Ruza: Seltsam ist das alles. Sehr seltsam. . Pawel Russu: Was ist denn seltsam? Tante Ruza: Seltsam ist, daß du, wenn du an die Lerchen denkst, dir einen frischgepflügten Acker vorstellst, ein Feld, die Weite, und ich, wenn ich an die Störche denke, so denke ich auch an gepflügtes Feld, an den Frühling, an die Weite . . . Pawel Russu : Was ist daran seltsam^? Wir haben verschiedene Vögel, aber eine gemeinsame Liebe." 212 Beide erheben darauf das Glas und trinken diesen letzten gemeinsamen Trunk auf die Vögel ihrer Jugend. 183
Die Schlußszene hat Kompromißcharakter, sie hebt den Widerspruch zwischen gesellschaftlichem Fortschritt und Tradition nicht auf, es bleibt noch ein Rest. Es gibt keine widerspruchslose Harmonie: Die Störche — hier im weitesten Sinne das Symbol für die echten Werte der Vergangenheit — kehren nicht wieder. Das wiegt um so schwerer, als in der Moldau der Storch noch etwas von seiner mythischen Bedeutung besitzt, wie sie aus dem Altertum bekannt ist: Er gilt als Sinnbild der Fruchtbarkeit, des immer wiederkehrenden Lebens, der Unsterblichkeit. Der Storch hat in diesem Drama eine ähnliche Funktion wie der Maralhirsch in Aitmatows Weißem Dampfer — bei den Kirgisen ein Symbol der Fruchtbarkeit. Trotz dieses schweren Verlustes, der auch durch die leise Hoffnung (oder tröstende Lüge?), die Störche könnten einmal wiederkommen, nicht wettgemacht wird, sucht und findet Tante Ruza das, was sie mit Pawel vereint, denn das ist stärker als jeder Verlust: die Liebe zu den Menschen, zum Land, zur Arbeit, die geistigen Bedürfnisse, die Fähigkeit, die Poesie des Lebens wahrzunehmen. Der Kommunismus bewahrt alles Gute und Schöne aus der Vergangenheit, das ist das Grundsätzliche, über das sich Tante Ruza und Pawel unausgesprochen einig werden. Das Leben sucht sich neue Symbole seiner Unendlichkeit, die einen vergehen, die anderen bleiben, andere wieder kommen neu hinzu. Gewinn und Verlust sind ständige Begleiter der revolutionären Entwicklung des Lebens, die Einsicht in diese Dialektik ist es, die ein Werk des sozialistischen Realismus heute stärken und vertiefen muß. Wiederum ist es — wie auch bei Aitmatow — nicht zufallig, daß die Symbolik für das akute gesellschaftliche Anliegen Drutäs aus der Natur genommen wurde. Drutä setzt bei seinem Zuschauer das Wissen voraus, daß der Weißstorch infolge der Industrialisierung der Landwirtschaft in Europa vom Aussterben bedroht ist. Dieses Wissen verleiht dem Stück einen Teil seiner inneren Dramatik und hält es zum Leben hin offen. Hier geht es nicht allein um das Verhältnis von bestimmten nationalen Traditionen und internationalistisch geprägtem Fortschritt zum Kommunismus in der Moldauischen Sowjetrepublik, hier werden allgemeingültige 184
aktuelle Fragen unserer Gegenwart verhandelt. Denn gleichzeitig sagt Drutä in der Schlußszene, diese alte Zeit, die den Vorteil hatte, den Störchen auf den Strohdächern unbeschränkten Lebensraum zu bieten, diese Zeit gebar solche Bestialitäten: Tante Ruza wurde von ihrem leiblichen Bruder beim Streit um die Verteilung des vom Vater ererbten Landes mit einer Kette zum Krüppel geschlagen. Sie wurde unfruchtbar, lebt alleinstehend, sie hat allen Grund, sich nicht nach der alten Zeit zurückzusehnen, jener schrecklichen Ära des tierischen Besitzerinstinkts, der ihr Leben vernichtet hat. Diese bittere Tatsache ist es. die sie mit der Sippe ihres Bruders — Pawel ist dessen Sohn - entzweite. Die aus der kapitalistischen Vergangenheit ererbte Zwietracht hat sich nun ausgerechnet dadurch vertieft, daß Pawel die alte Zeit mit Stumpf und Stiel ausrottete, ein neues Leben im Dorf ermöglichte. Tante Ruza sah lange Zeit nur, daß Pawel dabei auch manches zerstörte, was ihr trotz allem lieb war — er vertrieb u. a. die Störche, er nahm einiges von der Poesie, die ihr bitteres Leben verschönte. Sie begreift erst allmählich die Hauptsache an Pawels Tun: Beseitigung der materiellen Not, Überwindung der jahrtausendealten Gier nach Landbesitz, die aus der Not geboren war und die Menschen gegeneinander trieb. Dank Pawels Arbeit wird niemals mehr ein Mensch wegen eines Stückchens Ackerland halbtot geschlagen werden. Seine Arbeit ist nicht mechanisches Erzeugen materiellen Reichtums, sondern Schöpfertum, deshalb auch eine neue Grundlage der Poesie, des poetischen Verhaltens zur Welt, dauerhafter als die, auf die Tante Ruza bisher baute. Weil Tante Ruza dies zu erkennen beginnt, findet sie den Weg zu Pawel. Das Stück klingt aus mit der Ermahnung Tante Ruzas an Paulina, ihres Neffen Androns Frau, sie möge ihr Kind, das sie erwartet, vor allem „seelisch" erziehen, d. h. alles tun für dessen ethisch-ästhetische Ausbildung. Damit ist ein Grundthema dieses Dramas wie der gesamten heutigen Sowjetliteratur noch einmal aufgegriffen: Der Aufbau des Kommunismus ist nicht allein die Schaffung der materiell-technischen Basis, sondern ist auch eine Frage der allseitigen Entwicklung des Menschen. Den Kommunismus errichten nicht enge Spezialisten, nicht Technokraten, 185
nicht perfekte Roboter ohne geistige Interessen, ohne Tradition, ohne nationale Beziehungen, sondern Menschen, mit allen Fasern ihrer Welt verbunden. Die innere Parallelität der Arbeit von Tante Ruza und Pawel Russu, ihre schließliche Verflechtung hat Drutä in ihrer Kompliziertheit aufgedeckt. Seinem Gegenstand nach national, ist dieses Stück in seiner Problematik ausgesprochen international. Was dort in dem moldauischen Dorf scheinbar fernab von den Zentren des Lebens geschieht, das geht alle Menschen, die mit dem Aufbau einer neuen Weltordnung beschäftigt sind, an. Das Schaffen der russischen Schriftsteller der „Dorfprosa", auch der Gamsatow, Matewossjan, Avyzius und Nurpeissow, der Kurilow, Rytcheu, Ion Drutä und anderer kann als Beweis dafür gelten, daß einerseits die Internationalisierung nicht das Nationale einengt oder gar verdrängt, und andererseits die Vertiefung ins Nationale, auch als verständliche Reaktion auf die Internationalisierung erkennbar, nicht einer Flucht vor dem Internationalen gleichkommt. Die Hinwendung zum Nationalen führt auf anderem Wege wieder zum Internationalen, denn in der Geschichte und im gegenwärtigen Leben der Nationen begegnen die Schriftsteller auf Schritt und Tritt internationalen Prozessen und Erscheinungen.
Chancen des Erzählens
Sozialistische Schriftsteller — in und außerhalb der Sowjetunion — äußern sich Anfang der siebziger Jahre verstärkt zur Notwendigkeit der Literatur, namentlich der erzählenden Prosa. Wo dies erforderlich ist, da müssen entgegengesetzte Auffassungen Raum gewonnen haben, oder es gibt objektive Tendenzen im Leben selbst, die die Erzählliteratur in Frage stellen. Die wissenschaftlich-technische Revolution nährt Vorstellungen, wonach der menschliche Geist von so vielgestaltigen, reichhaltigen politischen, wissenschaftlichen und anderen Informationen in Anspruch genommen sei, daß fiktional Erzähltes bald als unnützer Ballast empfunden werden würde. Bei einigen Autoren der kapitalistischen Welt hat das dazu geführt, nur das Dokument, den künstlerisch kaum organisierten Wirklichkeitsrohstoff, als epische Literatur funktionieren zu lassen. Tendenzen zur Literatur des Dokuments gibt es auch in der Sowjetunion, aber sie sind nicht bestimmend. Zu den namhaften Schriftstellern der D D R , die die Notwendigkeit der Erzählliteratur betonen, gehört Anna Seghers. Auf Dostojewskis Schuld und Sühne verweisend, sagt sie u. a.: „Wir brauchen Rodion Raskolnikow — und wir brauchen den Untersuchungsrichter. Warum? Weil die Darstellung dieser Menschen im Leser Gefühle erzeugt, die die Wissenschaft nie erzeugen kann und auch nie erzeugen will. Sind diese Gefühle unnütz? Ich glaube, daß sie so nötig sind wie Brot." 2 1 3 Neben Anna Seghers, deren. publizistische Äußerungen und deren Erzählband Seltsame Begegnungen (1973) eine Offensive für Literatur und Kunst überhaupt darstellen, hat Christa Wolf in ihrem Essay Lesen und Schrei187
ben214 einen Versuch theoretischer Selbstverständigung über Probleme der epischen Prosa unternommen. Wie Anna Seghers geht sie von der polemisch gefaßten Annahme aus, Literatur sei ersetzbar durch andere Formen der Erkenntnis und Weltgestaltung. Die kleine Prosa Erwin Strittmatters — vom Schulzenhofer Kramkalender bis zur Blauen Nachtigall — und der zweite Teil des Romans Der Wundertäter handeln davon, wieviel es heute zu erzählen gibt und wie unterschiedlich erzählt werden kann. Weder in der Sowjetunion noch in der D D R oder in anderen sozialistischen Ländern werden in der Öffentlichkeit Auffassungen propagiert, die Zweifel an der Notwendigkeit und dem Sinn des Erzählens zum Ausdruck bringen. Die dennoch nachweisbare direkte und indirekte Polemik der Schriftsteller in der Literatur oder in der Publizistik richtet sich daher vorwiegend gegen seit langem verbreitete entsprechende Meinungen in der kapitalistischen Welt, sie nimmt aber auch Bezug auf l a t e n t vorhandene Ansichten in der sozialistischen Gesellschaft selbst. Solche Auffassungen oder zumindest Fragen, die Spezifik erzählender Literatur heute betreffend, sind durchaus kein Zeichen von Beschränktheit oder Böswilligkeit, sie verweisen auf objektive, von der Literatur zu bewältigende Probleme des Verhältnisses Kunst—Wirklichkeit und Literatur—Leser.
Informationsfülle, Schnellebigkeit und Erzählliteratur Viktor Schklowski schreibt in einer Rezension zu Andrej Wosnessenskis Gedichtband Der Blick: „Unsere Zeit ist ernst, und die Freude ist heute kostbar." 2 1 5 Schklowski meint sicher nicht, in unserer Welt gäbe es zu wenig freudige Ereignisse, seine Feststellung deutet auf etwas anderes: Der verantwortungsbewußte sozialistische Mensch ist intensiver als je zuvor mit dem Ernst der Menschheitsprobleme, vor allem der der weltweiten Klassenauseinandersetzung konfrontiert — infolge der dichten, schnellen und weltumspannenden Kommunikation und Information. Das 188
System der Information arbeitet so zuverlässig, daß der Lachende „die furchtbare Nachricht" 2 1 6 auf jeden Fall schon empfangen hat. Wissenschaftler sprechen im allgemeinen von einer „Informationsexplosion". Schätzungen besagen, daß sich die Summe des menschlichen Wissens alle sieben Jahre verdoppelt. Bis zu den sechziger Jahren gab es etwa 100 Millionen Bücher und andere Druckerzeugnisse auf der Welt. Heute kommen jährlich 400000 Bücher und 4 Millionen Artikel dazu. Jeden Tag müßte ein Fachwissenschaftler mehrere Millionen Autorenbogen Gedrucktes aus aller Welt neu zur Kenntnis nehmen. 217 Außerdem gibt es politische, wissenschaftliche, kulturelle und andere Informationen, die allen Menschen durch Funk, Fernsehen und Tagespresse in überreichlichem Maße zugehen. Allerdings haben gründliche Untersuchungen auf dem Gebiet der wissenschaftlichen Information auch ergeben: In den großen Bibliotheken werden 60 bis 80 Prozent der Bucheingänge niemals genutzt. Geht man vom Verhältnis der produzierten Seitenzahl zur tatsächlich gelesenen aus, so werden etwa 85 Prozent der wissenschaftlichen Literatur nicht gebraucht und zählen als Makulatur. 2 1 8 Diese Gegenreaktion auf die Fülle des täglich auf den Menschen Einstürmenden findet in der Literatur bereits Widerhall. Die Hauptgestalt in Sergej Salygins Roman Die südamerikanische Variante (1973) beispielsweise beginnt Informationen und Kenntnisse zu f ü r c h t e n : „Es waren ihrer ringsum schon viel zu viel, zu gierig wurden die Menschen danach, warum nur? Die Information drohte zu einer weltweiten Infektion zu werden." 2 1 9 Christa Wolf konstatiert in ihrem Essay Lesen und Schreiben, das Publikum sei einerseits wissensdurstig, andererseits gelangweilt, mit Eindrücken übersättigt. 220 Kann angesichts all dessen Literatur die Leser noch mit Neuem überraschen, deren Interesse wecken, sie erschüttern, erheitern, im Innersten packen? Woher nimmt ein Mykolas Sluckis den Mut und die Zuversicht zu sagen, gerade in der wissenschaftlich-technischen Revolution müsse die Literatur — nach Majakowski — eine „Reise ins Unbekannte" sein? 221 Hat nicht vielmehr der Ukrainer Pawlo Sahrebelny 189
recht, der meinte, „in der Literatur schätzt man über alles den Reiz der Erkenntnis des Bekannten" 222 ? Dreierlei läßt sich dazu sagen. Einmal ist die Literatur nicht als ein System von Informationen aufzufassen, das rein quantitativ auszumessen wäre. Literatur vermittelt zwar u. a. auch Sachinformationen, die in bit ausgedrückt werden können, die Masse der Impulse aber, die von der Literatur ausgehen, sind mit dem Begriff „Information" nur bedingt zu fassen, sie haben ihren spezifischen, eben ästhetischen Charakter. Literatur erzielt ihre Wirkung durch einen komplizierten Komplex von rationalen und emotionalen Faktoren, die nicht unbedingt vom Menschen als zusätzliche Belastung seines Informationen verschiedener Art verarbeitenden bzw. tatsächlich überladenen Gehirns empfunden werden. Die persönlichkeitsbildende Wirkung der Literatur hilft dem Menschen vielmehr, die Masse des auf ihn tagtäglich Einstürmenden differenziert aufzunehmen, zu bewerten, das Wesentliche auszuwählen, das Unwesentliche zu verwerfen. Literatur kann mit dazu beitragen, daß der Mensch nicht gleichgültig und abgestumpft die verschiedensten Informationen über sich ergehen läßt, sondern diese sich aktiv aneignet und seine Entscheidungen dementsprechend trifft. Zweitens bleibt trotz der bereits erreichten Perfektion der Wissenschaft und der Informationsmittel ein großes Gebiet, auf dem die Literatur Entdeckungen machen und etwas Neues schaffen kann: Die Fülle, die Vielfalt und der Wandel der menschlichen Beziehungen zur Welt und ihre geschichtliche Progression, das Werden eines allseitigen Verhaltens zur Welt. Durch die Schaffung der Kunstwirklichkeit unternimmt der Schriftsteller zusammen mit dem Leser jene Reise ins Unbekannte, wobei dieses Unbekannte einfach eine besondere originelle Art der Erkenntnis des schon Bekannten sein kann, das Bekannte in neuem Licht, d. h. in bis dahin vom Leser noch nicht oder kaum unbemerkten Beziehungen dargestellt. Drittens — aber nicht letztens — muß man gegen die Bedenken, Literatur büße angesichts der Masse von Informationen, mit denen sich der Mensch täglich auseinander190
zusetzen hat, an Bedeutung ein, noch folgendes einwenden: Es gibt ja kein Informationssystem an sich, sondern die Informationsmittel sind in den Händen bestimmter gesellschaftlicher Kräfte, in unserem Fall in der Verfügungsgewalt des sozialistischen Staates. Natürlich ist auch im Sozialismus der Mensch mit einer Unzahl Informationen konfrontiert, aber im Gegensatz zum Imperialismus bezweckt diese Information keine Manipulierung des menschlichen Denkens, kein Ablenken vom Wesentlichen. In ihrer Grundrichtung führt die Information durch die sozialistischen Massenkommunikationsmittel zum Wesen der Wirklichkeitsprozesse hin, hilft sie dem Menschen, eine richtige Position zum Leben, zu den Ereignissen in der Welt einzunehmen. Wenn auch damit das Problem der „Überfütterung" des Menschen mit Informationen — um das es uns hier vor allem geht — nicht beseitigt ist, so wirken doch die Massenmedien einerseits und die Literatur andererseits inhaltlich nicht gegeneinander. Ohne Zweifel fördert die allseitige Information bei einem Menschen, der von der Gesellschaft zur Aktivität erzogen wird, auch das allseitige Verhalten zur Welt, und hieran kann Literatur anknüpfen, darauf kann sie bauen. Mehr noch, weil die Schriftsteller bei ihren Lesern viel Kenntnisse voraussetzen können, vermögen sie intensiver andere Seiten der Funktion von Literatur zur Geltung zu bringen. Sie finden eine große Assoziationsbereitschaft vor, sie können auf kleinerem Raum — wie Granin sagte — „mehr poetische Information" unterbringen. 223 Einerseits erleichtert das die Arbeit des Schriftstellers, er kann sich viel Sachinformation sparen. Andererseits findet er gesteigerte Ansprüche vor, wobei allerdings zu sagen ist, daß höheres Fakten- und Fachwissen nicht unbedingt auch die ästhetische Genußfähigkeit intensiviert. Eines ist unbestreitbar: Die Verfilmung klassischer Literaturwerke beispielsweise und ihre Verbreitung durch Kino und Fernsehen hat, bei allen Einwänden, die im Hinblick auf die Qualität der filmdramatischen Umsetzung immer wieder erhoben werden, doch viele positive Auswirkungen. Ein Teil der Zuschauer wird angeregt, das Werk zum erstenmal oder wiederholt zu lesen. Das aber erhöht unbedingt die ästhetischen Ansprüche 191
und Bedürfnisse, mit denen ein Gegenwartsautor rechnen muß.224 Damit wäre die Frage nach den Chancen und Schwierigkeiten von Literatur, speziell epischer Prosa, angesichts des Überangebots täglicher Information im Grundsätzlichen beantwortet. Was die Informiertheit des Schriftstellers selbst anbetrifft, so ist es seit langem sinnlos geworden zu fordern, er müsse darin in jedem Falle dem Leser überlegen sein. Diese Überlegenheit war noch möglich in Zeiten, da das Gesamtwissen der Menschheit in seinen Grundzügen von einem Geist zu fassen war — bis zum 18. Jahrhundert, vielleicht noch in die ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts hinein. Was aber heute vom Schriftsteller erwartet wird, ist ein bestimmter Grad der Informiertheit, der es erlaubt, zumindest Fragen zu den wichtigsten Problemen der Zeit zu stellen. Die eigentliche Dichtung, so schreibt Eduardas Miezelaitis, beginne erst dort, wo der Künstler nachdenkt, wo vor ihm selbst die Fragen auftauchen: „Was? Wie? und Warum? Wenn er fragt und keine Antworten findet. Weil es nicht leicht ist, sie zu finden."225 Christa Wolf hat das gleiche auf die bündige Formel gebracht: „Zu schreiben kann erst beginnen, wem die Realität nicht mehr selbstverständlich ist." 2 2 6 Was heißt das anderes als das Vorleben und literarische Vorführen von aktiver Einstellung zur Welt, da das auf den Menschen Eindringende nicht passiv zur Kenntnis genommen, gewissermaßen konsumiert wird, sondern aktiv befragt wird nach seinem Wert und seinem Sinn. Eduardas Miezelaitis und Christa Wolf verkünden — unabhängig voneinander — nicht die Hilflosigkeit vor dem scheinbar unentwirrbaren Knäuel der Informationen, sondern sie betonen die Chance der Literatur, an seiner Entwirrung mitzuarbeiten. Nicht Wirklichkeitsbeschreibung, Anhäufung von Fakten, die auch auf anderem Wege vom Menschen aufgenommen werden, sondern Wirklichkeitsgestaltung, die mit der Wirklichkeitsbefragung beginnt — der ersten aktiven Handlung, die in die Wirklichkeitsveränderung mündet — das wird vom Schriftsteller erwartet. Der Schriftsteller soll Rat wissen, aber nicht, indem er über alles informiert ist, auf alles eine fertige Antwort bereit hat, 192
sondern indem er mithilft, erst einmal die richtige Frage zu finden, denn die richtige Fragestellung enthält meist schon einen Teil der richtigen Antwort, weist den Weg zur Antwort und damit zum aktiven Handeln. Nicht der allwissende Erzähler, der den gut informierten Leser mit seinem Allwissen überschüttet, wird den Forderungen der Zeit gerecht, sondern der Rat wissende, weil mit dem Leser gemeinsam nach Rat suchende Erzähler ist der zeitgemäße Autor. Er nimmt der Fülle der Wirklichkeitseindrücke die trügerische Selbstverständlichkeit, indem er fragt, und seine Fragen provozieren die Aktion zur Veränderung der Wirklichkeit. Seine Fragen entspringen nicht aus der Hilflosigkeit, sondern aus seiner wissenschaftlichen Weltanschauung und dem ihr immanenten aktiven Verhalten zur Welt. Die dialektische Methode als Bestandteil der weltanschaulichen Basis der sozialistisch-realistischen Methode hilft dem Schriftsteller auch, mit einem weiteren Problem der Informationsfülle fertigzuwerden — mit der Schnelligkeit, mit der die Ereignisse in der Realität und die entsprechenden Eindrücke, Erlebnisse, Nachrichten usw. einander ablösen. Es ist etwas dran an dem Begriff „Schnellebigkeit unserer Zeit", er ist kein modisches Schlagwort. Es ist nicht von ungefähr, wenn Leonid Martynow, von dessen ausgeprägtem Empfinden für die brennenden Fragen unserer Gegenwart wir uns schon überzeugen konnten, in einem Gedicht sagt:
Kürzer, Kürzer, kürzer! Ich bitte dich, zieh es nicht hin. Kürzer werden die Nächte. Doch kürzer werden auch die Tage. Alle Fristen sind von nun an kürzer und jeder festgelegte Weg. Sogar die Propheten sollten mit dem Prophezeien nicht zu lange machen. 13
Hiersche, Sowjetlit.
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Schluß mit dem auf der Schwelle Stehen. Bedächtigkeit ist eine Schande. Erzähle, was das Ergebnis ist, rück heraus mit dem, was du aufgehoben! (1956)227
Das ist Martynows ironische Antwort auf die vielen Diskussionen um die Kürze, die Literatur angeblich auszeichnen müsse angesichts des Tempos unserer Zeit. Vor allem die letzte Strophe deutet auf die Konsequenzen, die ein solches — mit Verlaub zu-sagen — Zeitverständnis für die epische Literatur hätte: Keine lange Einführung mehr, kein bedachtsames Erzählen, kein allmähliches Lüften von Geheimnissen, es bliebe einzig und allein der trockene, militärische Rapport von Ergebnissen! Das wäre wirklich der Tod des Romans, vielleicht sogar der epischen Prosa überhaupt. Da hätte vielleicht nur noch die Anekdote eine Überlebenschance. Wir wollen die Diskussionen um die Verknappung des Erzählens, die seit Ende der fünfziger Jahre immer wieder aufkommen, nicht darlegen, sie waren meist unseriös. Die Literaturentwicklung selbst hat alle superaktuellen. Forderungen einiger Kritiker, die in der Anfangsphase der wissenschaftlich-technischen Revolution vom Schwindel befallen worden waren, widerlegt. Weder der Telegrammstil noch allein die kurze Romanform (powest), noch das schnelle, oberflächliche Erfassen äußerer Attribute der Wirklichkeit sind die unserer Zeit angeblich einzig gemäßen epischen Darstellungsweisen bzw. Genres. So leicht ist die Antwort auf die tatsächlich ernste Frage, wie Schnellebigkeit und Erzählliteratur sich heute zueinander verhalten, nicht zu finden. Wahr ist nur, daß Prosa heute dichter wird, wir sprachen schon davon: Auf kleinerem Raum gibt es mehr „poetische Information" (Granin). Als nicht genau haben sich die Beobachtungen erwiesen, die ein Verdrängen des Romans durch den Kurzroman (powest) konstatierten. Die großen Romane und sogar Zyklen eines Sluckis (DU himmelsleiter), Avyzius (Das Dorf am Kreuzwege, 1966; Zeit der verödeten Höfe, 1971), Melesh (Zyklus Chronik von Polessje —
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Menschen im Moor, Atem des Gewitters), Simonow (Trilogie Die Lebenden und die Toten), Abramow (Tetralogie Brüder und Schwestern), Hontschar (Der Zyklon, 1970),228 Nurpeissow (Trilogie Blut und Schweiß) und viele andere zeigen an, daß sich die umfassenden Prosadarstellungen mit Erfolg behaupten. Für den Schriftsteller, der in dieser „schnellen Zeit" lebt — wir meinen damit erst in zweiter Linie das Tempo des Verkehrs, der räumlichen Ortsveränderung, sondern vielmehr die Schnelligkeit der politischen Entwicklung, die weltweite Kommunikation und die Schnelligkeit der Informationsfolge, des Einwirkens der verschiedensten Erlebnisse, Bilder, Nachrichten auf Literaturschaffende wie Leser —, gibt es angesichts all dessen kein Patentrezept. Es gibt nur immer wieder das nun schon alte und bewährte Instrument — das Erkennen der großen, langwirkenden Entwicklungsgesetze, das Perspektivebewußtsein, das ihn davor bewahrt, hinter glänzenden, trügerischen Einzelerscheinungen herzujagen, sich zu verlieren in der Masse der Tatsachen, sie — wie es einige bürgerliche Gegenwartsautoren tun— ungeordnet, der Reihe nach, scheinbar leidenschaftslos zu registrieren. Der Schnelligkeit der Realitätsprozesse ist nicht mit einem „Realismus des erhöhten Tempos" beizukommen, sondern nach wie vor mit dem sozialistischen Realismus, mit der Sichtbarmachung der großen Linien am b e d e u t s a m e n Einzelvorgang. Sicher steht dahinter heute eine größere Anstrengung — auf seiten des Schriftstellers wie des Lesers —, und diese Anstrengung kann ruhig sichtbar bleiben.
Prosaschreibweisen im Experiment Daniii Granins Erzählung Der Gelehrte und der Kaiser (1971)2» kann als Beispiel dafür gelten, wie epische Literatur auf die von uns bisher dargelegten Probleme — Informationsfülle, Schnellebigkeit der Zeit — reagiert. Es war bereits davon die Rede, wie Granin über den russischen Wissenschaftler Petrow schrieb, von dem nahezu keine biographische Informationen vorhanden waren. Granin bewies, was 13*
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künstlerische Vorstellungskraft und psychologisches Einfühlungsvermögen zu leisten imstande sind. Im Falle des französischen Physikers Arago — er ist die Zentralfigur der Geschichte vom Gelehrten und dem Kaiser — ist es gerade umgekehrt: Es liegt eine Fülle von Fakten über dessen Leben vor, zumeist schon publiziert in Biographien. Dennoch gelingt es Granin, die „Erkenntnis des schon Bekannten" zu einer spannenden „Reise ins Unbekannte" zu machen. Aber er tut das nicht auf eine Weise, die hier nahegelegen hätte: Das abenteuerliche Leben Aragos enthält eine ideale Stoffülle für einen Roman, dem allein die Geschehnisabläufe Spannung und Wert verliehen hätten. Granin bietet ein wenig davon berichtend dar, aber er sagt gleichzeitig, er wolle diesen leichten bequemen Weg nicht gehen. Ein „Abenteuerroman" über einen Wissenschaftler, das hätte durchaus ein Publikumserfolg werden können. Dabei wäre aber sicher etwas Wesentliches dieses ungewöhnlichen Gelehrtenschicksals verlorengegangen, etwas, was auch keine noch so genaue Biographie, keine noch so lückenlose Information über die Bewegtheit seines Lebens dem Leser hätte vermitteln können. Granin interessiert hingegen das Ethos Aragos, das Gültigkeit besitzt bis in unsere Tage. Statt eines stark handlüngsbetonten Sujets verwendet Granin daher die mehr reflektorische Gruppierung des zu Erzählenden um ein Motiv, das Stefan Zweig in seiner bekannten Novellensammlung Sternstunden der Menschheit verwendet hat. Granin ordnet die Handlung der „Sternstunde" seines Helden zu. Diese Stunde ist der Augenblick einer Entscheidung, die Arago für sich persönlich trifft, die aber von allgemeiner Bedeutung ist, vor allem heute, unter den Bedingungen der wissenschaftlich-technischen Revolution. Im Juni 1815, nach der Schlacht bei Waterloo, macht Napoleon Arago das glänzende Angebot, ihn nach Amerika zu begleiten — Napoleon trug sich mit dem Gedanken, sich nach seiner endgültigen politischen Niederlage der Wissenschaft zu widmen, eine Forschungsreise durch den amerikanischen Kontinent zu unternehmen. -Während er auf die Antwort Aragos wartet, läßt er die Chance für seine Flucht verstreichen: Die Engländer blockieren inzwischen die französischen Häfen. Arago 196
lehnt das Angebot ab; das erfordert in diesem Augenblick durchaus Mut, denn Napoleon hatte in Frankreich noch genügend Macht und Ansehen, Arago empfindlichen Schaden zuzufügen. Der Erzähler erwägt, welche Entwicklung Aragos Schicksal genommen hätte, wenn seine Entscheidung anders ausgefallen wäre. Er begründet, warum Arago so und nicht anders entschieden hat: „Arago war überzeugt, daß schöpferisches Genie und Verbrechen unvereinbar sind. Die Wissenschaft ist sittlich rein, ebenso die Beschäftigung mit der Wissenschaft, sie verlangt Selbstlosigkeit, Ehrlichkeit, Kameradschaftlichkeit. Und Unbeugsamkeit. . ," 230 Dieser für uns wichtigste Wesenszug der Persönlichkeit des Physikers Arago wäre in einem durchaus guten, spannenden Abenteuerroman nicht deutlich genug hervorgetreten, er wäre vielleicht sogar untergegangen: Einige Stunden unterhaltsamer Lektüre, und kein Ergebnis, keine ernsthafte Anforderung an unser Denkvermögen, unsere Vorstellungskraft. Granin aber nahm der Entscheidung Aragos, die aus der Biographie als Faktum bekannt ist, das Selbstverständliche, indem er sie nach ihren ethischen Motiven neu befragte, sie erscheint gewissermaßen als Sternstunde der Wissenschaft. Untersuchungen zur Natur des Lichts waren wichtiger als die glänzende Karriere an der Seite einer überragenden geschichtlichen Persönlichkeit. Mit dieser Akzentuierung mißt Granin-Arago die Rolle des Despoten an den menschlichen Aufgaben der Wissenschaft: Die Bedeutung Napoleons hält Arago für geringer als irgendeine physikalische Forschung, deren Nutzen noch nicht einmal bewiesen ist. Granin ist nicht allwissend, er kennt Aragos geheime Gedanken nicht, aber er weiß sich und den Lesern im Entscheidenden Rat. Durch seine eigene Vorstellungskraft fordert er auch die des Lesers. Der Leser muß die Entscheidung Aragos mit durchleben, er erkennt, wie bedeutsam sie für unsere Zeit ist, vor allem für jene Wissenschaftler, die unter den modernen Formen der Despotie — im Monopolkapitalismus — leben und arbeiten, aber nicht nur für sie. Die Beschäftigung mit Wissenschaft — so abstrakt der jeweilige Forschungsgegenstand auch sein mag — ist 197
immer mit moralischen Entscheidungen verknüpft, fordert immer ein bestimmtes gesellschaftliches Engagement. Diese bekannte Wahrheit auf eine neue, dennoch originelle Weise künstlerisch herausgearbeitet, an einem allgemein wenig bekannten, aber doch nicht unbekannten Menschenschicksal vorgeführt zu haben, darin liegt die Leistung Granins in dieser Erzählung. Die Darstellungsweise der Erzählung — starke Anlehnung an dokumentarisches Material, Erörterung möglicher anderer Wege, diesen Stoff erzählerisch zu fassen (Variante Abenteuerroman!), das Heraussuchen des prägnanten Punktes, der im Gegenstand enthalten ist (Sternstundenmotiv), die dichterische Fiktion in der kompositorischen Gruppierung des zu Erzählenden um diesen Punkt — dies alles ist eine von Granin vorgeführte Möglichkeit, wie heute epische Prosa des sozialistischen Realismus geschrieben werden kann, um den Leser zu fesseln. Granin bevorzugt rationale ästhetische Wirkungskomponenten in seiner Prosa. Es wäre ganz falsch, wieder mit dem untauglichen Begriff der „intellektuellen Prosa" zu operieren, dem die schematische Unterteilung der Menschen in intellektuelle bzw. nichtintellektuelle Schriftsteller und Leser zugrunde lag. Wahr ist allerdings, daß Granin seine naturwissenschaftliche Ausbildung nicht leugnen kann und er bei b r e i t e s t e n Lesermassen auf zunehmende Beeinflussung des Denkens durch wissenschaftliche Denkformen und -gewohnheiten rechnet, und, wie seine bedeutenden literarischen Erfolge beweisen, richtig rechnet. Granin stellt aber nicht die äußeren Erscheinungen der Wissenschaft und Technik, die unser Alltagsleben immer mehr prägen, in den Vordergrund — obwohl es ihm als Physiker ein Leichtes wäre, mit solchen Effekten zu glänzen. Der Physiker Granin dringt vielmehr zum s o z i a l e n Kausalkomplex, in dem der Mensch sich verwirklicht, vor, zu den psychischen Prozessen und ethischen Fragen, die die wissenschaftlich-technische Revolution provozierte. Das Besondere an seiner Schreibweise ist vielleicht der Reflex dessen, daß Gesellschaftsganzes wie menschliches Einzelschicksal heute stärker als je zuvor von Wissenschaft und Technik durchdrungen sind bzw. berührt werden. 198
Eine andere, lyrische Art Prosa zu schreiben, ist Ion Drutä eigen. Als Beispiel diene eine seiner Erzählungen aus dem Anfang der siebziger Jahre, in deren Mittelpunkt der moldauische Dorfjunge Andrej steht. 231 Vergeblich würde man hier versuchen, einen so deutlichen Bezug zur wissenschaftlich-technischen Revolution herzustellen wie bei Granin. Drutä findet andere Wege, über unsere Zeit, die tagtäglich in Zeitung, Funk und Fernsehen in Worte gefaßt wird, zu erzählen, die überstrapazierte Aufmerksamkeit der Menschen durch dieses Erzählen immer wieder zu fesseln und aufs Wesentliche zu lenken. Die sehr kurze Episode, die Drutä schildert, ist alltäglich und scheinbar unbedeutend. Er berichtet von einem Lehrer namens Oschlobanu, dereinen Schulchor gründet, vom Schüler Andrej, für den dieser Chor ein einmaliges Erlebnis wird, und schließlich von einem zweiten Lehrer, dem es nicht gelingt, den Chor am Leben zu erhalten. Die Erzählung heißt Das Laub ist von den Rebstöcken gefallen, das ist zugleich der Titel eines der bekanntesten moldauischen Volkslieder, dieses Lied wiederum symbolisiert in der Handlung die Poesie, die Drutä als für den Menschen lebensnotwendig beschreibt. Er erfaßt einen wichtigen, poetischen Augenblick im Leben des Jungen Andrej, den Auftritt des Schulchores, der gerade jenes Lied von den Jahreszeiten singt, mitten im November die Hoffnung auf den Frühling verkündet. Nach der Feierstunde hört Andrej, wie Leute aus dem Dorf über ihn erzählen, er habe beim Singen in der ersten Reihe gestanden. „Das klang etwa so, als hätten sie gesagt: Er hat auch am Sturm auf die Festung teilgenommen, er war in den ersten Reihen, und was kann man über einen Mann mehr sagen, als daß er eine Festung gestürmt hat, dabei noch in den ersten Reihen." 232 Die Gleichsetzung des Chorsingens mit einer Heldentat im Krieg zeigt an, welche Bedeutung Drutä der Poesie im Leben der Gesellschaft wie des einzelnen Menschen beimißt. Von daher erhält die Funktion des Lehrers Oschlobanu, der den Kindern die Schönheit dieses ihnen altbekannten Liedes und des Singens überhaupt nahebringt, ihr besonderes Gewicht. Von hier aus erkennt der Leser um so schärfer, welch unglückselige Rolle jener andere Lehrer spielt, der kein 199
poetisches Empfinden hat und damit den Chor zerstört. Drutä hat beide Lehrer — am Anfang und am Ende der Erzählung — in die gleiche Situation gestellt. Als Oschlobanu den Chor gründen will, läßt er sich in der Klasse von den Schülern etwas vorsingen. Zunächst genieren sich alle, keiner möchte der erste sein. Da tritt Andrej vor und singt ein scherzhaftes Trinklied, das aus dem Munde eines-so kleinen Jungen — er geht in das vierte Schuljahr — doppelt erheiternd wirkt: „Zittere nicht, mein Becher, ich leere dich, ich eß dich doch nicht a u f ' [. . .] 233 Oschlobanu lacht herzlich, die Beklemmung der Schüler löst sich. Andrej hat mit dem — eigentlich deplazierten — Lied den Bann gebrochen, jeder singt etwas, der Chor kommt zustande. Oschlobanu aber heiratet bald und übersiedelt in die Stadt, der Chor zerfällt, ein anderer Lehrer will ihn neu aufbauen, die Vorsingeszene wiederholt sich, Andrej singt wieder das Scherzlied. Aber der Lehrer reagiert völlig anders als der sympathische, heitere Oschlobanu, er wendet sich empört zur Klassenleiterin und fragt, was das heißen solle. Der Elan, die Freude der Schüler ist durch das verständnislose Verhalten des Lehrers gebrochen. Der Chor wird nicht mehr aufleben. Diese kurze Erzählung erinnert in Stil und Aussage an Strittmatters kleine Prosa, an dessen Gedanken über die poetischen Augenblicke in der Kindheit, die mit Worten so schwer faßbar sind, die aber dennoch nur von der Literatur wiedergegeben werden können — und müssen. Das Poetische im Leben hat in unserer Zeit nicht an Gewicht verloren, es wird im Gegenteil immer kostbarer — so will Drutä sagen — es ist genauso wichtig wie die „Erstürmung einer Festung" d. h. wie die Einsatzbereitschaft zum Kampf um die Sicherung des Sozialismus. Deshalb ist die Episode, die Drutä sehr dicht und poesievoll beschreibt, nicht unwesentlich. Auch sie ist Teil der literarischen Arbeit, das zentrale Anliegen der sozialistischen Gesellschaft durchsetzen zu helfen: die wissenschaftlich-technische Revolution mit den Vor200
zügen des Sozialismus zu verbinden. Ein gut funktionierendes, technisch bestausgerüstetes, wissenschaftlich geplantes und geleitetes Gesellschaftsganzes ist unabdingbar für die Verwirklichung der humanistischen Ziele des Sozialismus. Die Menschen, die das Ganze in Bewegung halten und die der Sinn des Ganzen sind, müssen dabei Menschen bleiben. Ohne das Gefühl für Poesie aber ist der Mensch ein einseitig entwickeltes Wesen, zu dieser lebensnotwendigen simplen Erkenntnis führen viele Schriftsteller der Sowjetunion hin — von Aitmatow über Drutä bis Solouchin und Wassiljew —, sie ist auch die Leitidee der Kurzprosa Strittmatters, der Erzählungen und publizistischen Äußerungen Anna Seghers' und der Essayistik Christa Wolfs. Der einseitig gebildete Mensch, mit geringer Vorstellungskraft, mit unterentwickeltem Empfinden für Kunst wird immer dazu neigen, die wissenschaftlich-technische Revolution als Selbstzweck zu sehen. Was dabei herauskommt, zeigt in erschreckendem Ausmaß der heutige Monopolkapitalismus, der diesen Menschentyp kultiviert, den er zu seinem Erhalt dringend braucht. Der Sozialismus hat alle Möglichkeiten, die Beherrschung von Wissenschaft und Technik völlig anders zu organisieren, die Menschen vielseitig zu entwickeln und somit besser darauf vorzubereiten. Die Literatur ist im Gesellschaftsganzen eine — und nicht die geringste — dieser Möglichkeiten. Neben der rationalen, analytischen (Granin) und der mehr lyrischen (Drutä) Art der epischen Prosa scheint uns noch die expressive, gleichnishafte Schreibweise eines Wassil Bykau erwähnenswert. Sein Kurzroman Der Obelisk zählt unseres Erachtens zu den bedeutendsten Werken dieses talentierten Schriftstellers und verdient in mehrfacher Hinsicht Interesse: wegen seiner ungewöhnlichen Fabel, seiner Erzähltechnik und Komposition, vor allem aber auf Grund der starken Akzentuierung des Ethos, des Gewissens und wegen der großen Rolle, die Bykau der Literatur bei der Herausbildung der Moral beimißt. Der Kampf der Partisanen in Belorußland war schon Gegenstand in Bykaus Erzählung Die Brücke von Krugljany (1969)234, er steht in vielen Werken der belorussischen wie 201
der sowjetischen Literatur überhaupt im Mittelpunkt — man. denke an Iwan Schamjakins Niemand ist allein (1964), an Alexander Adamowitschs Dilogie Partisanen (1960 bis 1964) an Pawel Nilins Über den Friedhof (1962)235 u n d andere. Bykau fürchtet sich aber nicht vor einer „Übersättigung" der Leser mit diesem Stoff, er weiß: „Das Leben — das sind Millionen Situationen, Millionen Charaktere. Und Millionen Schicksale." 236 Alles hängt davon ab, wie man eines der Millionen Geschehnisse herausgreift und darstellt. Dieses Geschehnis ist anders als alle schon erzählten; die geschilderte Partisanenaktion gleicht einem Jungenstreich, und der Lehrer. Moros, die Zentralgestalt, kämpft gar nicht mit der Waffe gegen die Deutschen, er hat — wie ihm noch im Nachhinein vorgeworfen wird — nicht einen einzigen Faschisten erschossen. Bykau wählte eine Rahmenerzählung mit der ihr eigenen doppelten Perspektive: Die Rahmenhandlung wird von der Position eines figürlichen Erzählers dargetan, die Binnenhandlung läßt Bykau eine andere Gestalt, den pensionierten Lehrer Tkatschuk, erzählen. Beide Erzähler haben eine ethische Verpflichtung gegenüber den Helden der Binnenhandlung, den Lehrern Moros und Miklaschewitsch, wobei eine leichte Spannung zwischen Tkatschuk und dem anderen Erzähler bleibt: Tkatschuk hat seine Verpflichtung eingelöst, während der andere Erzähler das nicht getan hat, sich schuldig fühlt. Dieses Schuldgefühl verleiht dem Ganzen eine erregende Note, es erscheint nicht nur als eine persönliche Schuld; hier offenbart sich letzten Endes das immerwährende und immer wachzuhaltende Empfinden, wieviel die heutige Generation der Sowjetmenschen der Kriegsgeneration schuldet. Das Versäumnis des Erzählers gegenüber Miklaschewitsch hat eine für unsere Zeit sehr charakteristische Ursache, auf diese zielt u. a. die ideelle Stoßrichtung des Werkes: Die Schnellebigkeit unserer Zeit; die Hast des Alltags, die Gefahr, nicht zum Nachdenken zu kommen über das Wohin und Woher des Menschen; die Gefahr, daß Denken und Fühlen verflachen. Der Erzählauftakt ergibt sich also nicht aus Ruhe und Beschaulichkeit, sondern aus der Hast: Der Erzähler hört zwischen Tür und Angel vom Tode des Lehrers Mikla202
schewitsch, er — der die Reise in das nahegelegene Dorf Selzo, in dem Miklaschewitsch als Lehrer gearbeitet hatte, aus tausend Alltagsgründen über Jahre hinweg immer wieder verschoben hatte — fährt nun Hals über Kopf dorthin. Der Versuch, durch Eile das durch Alltagshast Versäumte gleichsam wettzumachen, kann zu nichts mehr führen, der Erzähler kommt sogar zum Begräbnis zu spät. In der für Bykau so charakteristischen leidenschaftlichen Art wird der nicht zu korrigierende Fehler — die Ignorierung der Bitte Miklaschewitschs, den Fall Moros klären zu helfen — verurteilt: „So sei sie dreimal verflucht, diese eitle ameisenhafte Hast um des gespenstischen unersättlichen Wohlstandes willen, wenn wegen ihm etwas weitaus Wichtigeres abseits liegenbleibt. Denn damit wird dein ganzes Leben leer und hohl; es scheint dir nur autonom, getrennt von anderem menschlichen Leben, es verläuft nur scheinbar in deinen streng individuellen Alltagsbahnen. In Wirklichkeit aber, wie das nicht erst seit heute bemerkt wurde, ist es doch so: Wenn das Leben überhaupt von etwas Bedeutsamen erfüllt ist, dann doch vor allem wohl von kluger menschlicher Güte und der Sorge um andere — dir naher oder sogar ferner Menschen, die diese deine Fürsorge brauchen." 237 Dem Erzählauftakt entspricht auch die Erzählsituation: Es wird nicht in Ruhe, in trauter Runde erzählt, sondern anläßlich einer Totenfeier. Obwohl im herkömmlichen Sinne dort die Lebensgeschichte des Verstorbenen am Platze gewesen wäre, erlauben die dramatischen und tragischen Umstände, unter denen das Leben Miklaschewitschs verlief, seine Verquickung mit dem Schicksal der eigentlichen Zentralfigur, des Lehrers Moros, keine ruhige Erzählung in der Versammlung der Begräbnisgäste. So wandern denn der erste Erzähler und der Erzähler der Binnenhandlung, Tkatschuk, auf der Chaussee in Richtung Stadt. Später werden sie von einem Pferdefuhrwerk mitgenommen, der Kolchosbauer, der es führt, ist sogar in die Geschichte, die Tkatschuk erzählt, eingeweiht; einer der Jungen, die mit Moros zusammen starben, war sein Neffe. Der Schluß der Binnenhandlung wird in einer Dorfgaststätte erzählt. 203
Im Erzählauftakt, in der ungewöhnlichen Erzählsituation, sind wichtige Züge unserer Zeit eingefangen, mit einem gewissen kritischen Abstand, der vom Gegenstand der Binnenerzählung herrührt: Der Krieg und die sich daraus bis heute ergebenden ethischen Folgerungen schaffen die Distanz zur Gegenwart. Umgekehrt ergibt sich aber auch aus dem Heute, das mit ganz anderen Problemen und Sorgen zu ringen hat, ein besonderer Blick auf die damaligen Ereignisse. Dennoch ist da eine große Klammer, die Gegenwart und Vergangenheit umfaßt, die beide Erzähler in sich einschließt : das sozialistische Ethos. Ohne den viel umstrittenen ewigen Werten unkritisch das Wort reden zu wollen, legt Bykau hier, wie in den meisten seiner Werke, den Akzent auf moralische Eigenschaften des Individuums, die im Wandel der gesellschaftlichen Aufgaben im Sozialismus eine relativ gleichbleibende Bedeutung behalten bzw. deren Bedeutung sogar wächst. Bykau teilt darin die Überzeugung mit vielen sowjetischen Autoren, die über den Krieg schreiben. Der besondere Charakter des Krieges, den die Sowjetunion zu führen gezwungen war, der volle Einsatz jedes einzelnen zur Verteidigung der Heimat und damit des Weltsozialismus bewirkte u. a. auch eine Vertiefung und Festigung der ethischen Begriffswelt des sowjetischen Menschen. Das humanistische Wesen der sozialistischen Gesellschaft blieb selbst unter diesen abnormen Bedingungen unangetastet, ja es trat vor der ganzen Welt noch offener hervor. Dieses Bewußtsein ist in der Kriegsgeneration lebendig, es ist in dialektischer Einheit verbunden mit den anderen, den unendlich leidvollen, bitteren Erfahrungen aus der Zeit des Weltkrieges. Viele der damals mit Blut und Leben bezahlten Erkenntnisse von Wert und Unwert bestimmter ethischer Verhaltensweisen sind geblieben, und sie sind anwendbar aueh in der Gegenwart. Die große Frage, die Bykau, Simonow, Bondarew, Baklanow, Hontschar, Wassiljew, die Schöpfer solcher Filme wie Der Belorussische Bahnhof und andere bewegt, ist: In welchem Maße wirken die im Krieg besonders ausgeprägten bzw. weiterentwickelten ethischen Verhaltensweisen in der Gegenwart, wie helfen sie die spezifischen Probleme unserer Zeit — Aufbau des 204
Kommunismus und wissenschaftlich-technische Revolution — zu meistern? Was ist an den im Krieg gewonnenen ethischen Erfahrungen überholt, und was bleibt, was muß sogar aktiviert werden Bykau konzentriert sich bei der Beantwortung dieser Fragen meist auf einen Punkt — das menschliche Gewissen. Er untersucht immer wieder jene komplizierten gesellschaftlichen und psychischen Vorgänge, durch die das Ethos des Sozialismus zu einem unablösbaren Teil der Persönlichkeit, zum Gewissen, wird. Für ihn ist der Große Vaterländische Krieg eine wesentliche Phase in diesem Prozeß, der die Verschmelzung neuer sozialer Verhaltensnormen mit den persönlichen Erfahrungen des Individuums wie auch die gleichzeitige Bewährung des sich formierenden Gewissen umfaßt. In nahezu allen Werken Bykaus sind die Helden im entscheidenden Konflikt auf sich allein gestellt, unter dem unerbittlichen Zwang der Situation fällt alles von ihnen ab, was aufgetragen, unecht war. Es bleibt in ihnen nur das ganz Eigene, das Gewissen. In der Dialektik von gesellschaftlicher Determiniertheit und individueller Aktivität des Menschen akzentuiert Bykau eindeutig die letztere Seite, dabei voraussetzend, daß das Individuelle trotz der historisch noch kurzen Existenz des Sozialismus bereits von dieser entscheidend geprägt ist. Thema und Idee der Erzählung Der Obelisk klingen bereits in einer Episode der Brücke von Krugljany an, worin Maslakow, ein Partisan, die Geschichte eines Brigadekommandeurs der Roten Armee erzählt, der bei den Partisanen kämpfte. Preobrashenski, so hieß er, übernachtete mit einigen Kampfgenossen bei Bauern. Sie wurden von den Deutschen überrascht, konnten sich zwar noch im Garten verstecken, aber der Kommandeur vergaß seine Feldbluse im Haus. Die Faschisten fanden diese und stellten daraufhin die ganze Familie an die Wand. Sie wollten den Aufenthalt der Partisanen erfahren und begannen, die Kinder zu erschießen. In diesem Augenblick kam Preobrashenski aus seinem Versteck hervor und ergab sich. Die Faschisten ließen von der Familie ab, Preobrashenski wurde später erschossen. Nachdem Maslakow diesen Vorfall berichtet hat, stellt ihm 205
ein Partisan dazu die harte Frage: Wenn aber die Deutschen die Familie trotzdem umgebracht hätten, was dann? Daraufhin erwidert Maslakow: „Weißt du [. . .] das ist eine Sache des Gewissens. Für den einen mag die ganze Welt in Stücke gehen, Hauptsache, er kommt davon. Ein anderer aber will, daß sein Gewissen rein bleibt." 238 Um ein ähnliches Problem geht es im Obelisk. Die Zentralfigur Moros bleibt nach der Besetzung Belorußlands durch die faschistische Wehrmacht Lehrer, um seine Schulkinder nicht einem Sowjetfeind in die Hände zu geben. Eine kleine Gruppe seiner Schüler unternimmt eine Partisanenaktion, sie beschädigt eine Brücke, über die ein faschistisches Auto fahrt und abstürzt, aber sie stellt es so ungeschickt an, daß sie sofort verhaftet wird. Moros, der von der Aktion nichts wußte, rettet sich zunächst zu den Partisanen. Die Okkupanten erklären heuchlerisch, sie ließen die sechs Jungen frei, wenn sich ihr vermeintlicher Anstifter, der Lehrer Moros, freiwillig stelle. Jeder weiß, daß das eine Lüge ist; die Kampfdisziplin hätte erfordert, keinen weiteren Menschen den Besatzern auszuliefern. Moros ist das zutiefst klar, dennoch entscheidet er anders. Natürlich wäre es vorderhand wichtiger gewesen, wenn seine Kampfkraft den Partisanen erhalten geblieben wäre, und der Kommandeur besteht deshalb streng darauf. Moros aber geht gegen dessen Willen ins Dorf und stellt sich den Feinden. Hier ist der direkte Berührungspunkt zu der Episode in der Brücke von Krugljany. Das freiwillige Sich-gefangen-Geben des Lehrers ist der ideell-ästhetische Drehpunkt der Erzählung, hier geht es um die Gewissensfrage. Moros handelt aus einem Beweggrund, den wir — etwas abstrakt — als ein höheres Prinzip bezeichnen könnten. Nicht dem Terminus, sondern vielmehr der Sache nach drängt sich hier der Vergleich zur Erzählung Das höhere Prinzip aus der Sammlung Die stumme Barrikade2^ des tschechischen Schriftstellers Jan Drda auf. Auch hier begibt sich der Gymnasiallehrer Malek in tödliche Gefahr, als er vor der ganzen Klasse das Attentat auf den SS-Führer Heydrich billigt, in einem Augenblick, da drei seiner Schüler bereits hingerichtet sind, er also mit dem 206
Bekenntnis de facto nichts mehr ändern kann. Für die Lebenden aber sind seine Worte in diesem Moment von entscheidender Bedeutung. Bisher hatte er zwar stets vor seinen Schülern vom „höheren Prinzip" gesprochen und sich dafür sogar den Spitznamen „Prinzip" zugezogen. Der Abwehrkampf des tschechischen Volkes gegen die Okkupanten zwingt Malek nun in einer sehr dramatischen und tragischen Situation, für seine Auffassung vom „höheren Prinzip" auch mit der Tat einzustehen. Der etwas abstrakte Begriff wird dadurch zum konkreten Ausdruck eines kämpferischen Humanismus und eines diesem Humanismus verpflichteten menschlichen Gewissens. Es ist nicht erforscht, ob Bykau mit dieser Erzählung innerlich korrespondiert, ob er sie überhaupt kennt. Das ist vielleicht auch nicht entscheidend; in jedem Falle zeigt sich hier eine bemerkenswerte Parallelität im Menschenbild zweier sozialistischer Schriftsteller verschiedener Nationen — ungeachtet der Entstehungszeit (1946 und 1972), der ganz unterschiedlichen historischen und nationalliterarischen Situation, aus der heraus und für die die Werke geschrieben wurden: Moros ist Kommunist, in seinem Handeln wird der sozialistische Humanismus einer Bewährungsprobe unterworfen; Malek ist bürgerlicher Intellektueller, sein Bekenntnis ist der erste Schritt von einem abstrakten Humanismus zum Humanismus der Tat. Das Gemeinsame der Auffassungen beider Schriftsteller ist zweifellos die Frage nach dem Gewissen, das in den Erzählungen nicht als Abstraktum postuliert, sondern konkret am individuellen Verhalten, an der Reaktion auf reale Gesellschaftsbeziehungen bzw. auf katastrophale Störungen im Gefüge solcher Beziehungen geprüft und erkundet wird. Die Helden beider Autoren haben als Erzieher in dieser Hinsicht eine besondere, weitreichende Verpflichtung. Für die Literatur des sozialistischen Realismus ist die Gewissensproblematik, wie sie Bykau bewegt, durchaus nicht neu, andererseits ist der Obelisk alles andere als eine Wiederholung des schon Bekannten. Das beharrliche Ringen um dieses Problem deutet auf dessen Ungelöstheit in der Realität oder genauer, auf die Notwendigkeit, es in jeder neuen 207
historischen Situation neu zu lösen — in der Wirklichkeit und in der Literatur als Teil dieser Wirklichkeit. Die Antwort auf die Frage, warum und wozu sich Moros dem Feind stellt, liefert Bykau nicht fertig, er gibt Denkanstöße und Anhaltspunkte zu ihrer Beantwortung. Zunächst ist offenkundig: Die Aktion seiner Schüler war die logische Konsequenz seiner Erziehung. Deshalb fühlte Moros sich dafür mitverantwortlich, obgleich sie — wie erwähnt — ohne sein Wissen geschah. Er konnte die Schüler aus ihrer Lage nicht mehr erretten, so wollte er wenigstens bei ihnen sein in der schwersten Stunde. Die Jungen waren froh, solange er in Freiheit war, aber sie wußten, welches „Versprechen" die Faschisten gegeben hatten — wer konnte da mit Sicherheit behaupten, daß nicht dem einen oder anderen (es waren unter ihnen ja Kinder) in der Todesangst der Gedanke kam, Moros hätte sie retten können und hat es nicht getan? Als er unter ihnen ist, verrät er nicht, daß er freiwillig kam. Er hat dennoch verhindert, daß der eben gehegte verzweifelte Gedanke aufkommen konnte. Das war für ihn sehr wichtig, obwohl diejenigen, denen diese Tat vor allem zugedacht war, davon im Leben nichts mehr hatten, denn wenige Tage darauf waren sie schon hingerichtet — mit Ausnahme Miklaschewitschs, der bei einem •Fluchtversuch auf dem Wege zur Hinrichtungsstätte zwar niedergeschossen wird, aber mit dem Leben davonkommt. Durch ihn vor allem wirkt Moros' Beispiel weiter. In diesem Kontext erst können die Größe und der tiefe menschliche Sinn der Handlung Moros' erahnt werden. Daß in den Augen der Dorfbewohner von Selzo die Heuchelei und das Verbrechertum der Faschisten und ihrer einheimischen Handlanger endgültig entlarvt wird, ist ein weiterer Zweck, den Moros verfolgt, aber der erstgenannte ist sicher das zentrale Anliegen des Helden — und des Autors — gewesen. Moros selbst hat auf äußere, weiterwirkende Faktoren sicher ganz zuletzt gerechnet. Bykau mußte, wenn es ihm um die Bedeutung des Gewissens ging, die Situation so zuspitzen: Moros kam unbemerkt ins Dorf, früh, als alle Bewohner noch schliefen. Ihm war allein seine Verantwortung für 208
das wichtig, was er die Kinder gelehrt, seine Pflicht, sie nicht allein zu lassen — und sein Stolz vor den Faschisten, die mit seiner Tat am allerwenigsten gerechnet hatten, denen er damit seine Verachtung und Überlegenheit demonstriert. Aitmatow hatte, mit Bezug auf seinen Weißen Dampfer, sehr nachdrücklich vom menschlichen Gewissen gesprochen, er bezeichnete es „als eine der wichtigsten Funktionen des Bewußtseins, als eine der Qualitäten, die den Menschen von allem übrigen auf der Welt unterscheiden" 240 . In Boris Wassiljews Schießt nicht auf weiße Schwäne war das Gewissen für die Zentralgestalt Fjodor Poluschkin wichtige Richtschnur des Handelns. Die Ursachen für die verstärkte künstlerische Gestaltung der Gewissensproblematik sind zweifelsohne in Entwicklungsprozessen des Sozialismus zu suchen. Die wichtigste dieser Ursachen dürfte die wachsende Rolle des subjektiven Faktors in der reifen sozialistischen Gesellschaft sein, die wiederum aufs engste mit der Entfaltung der sozialistischen Persönlichkeit und der wissenschaftlich-technischen Revolution zusammenhängt. Die wissenschaftlich-technische Revolution vervielfacht die dem Sozialismus immanenten Möglichkeiten zur allseitigen Entwicklung des Menschen, sie stellt auch konkret dem Individuum enorme Kräfte und Mittel zur Verfügung, die es zum Wohle des Gesellschaftsganzen anwenden kann. Das wiederum aber erhöht die Last — und die Lust — .der Verantwortung jedes einzelnen, intensiviert die Forderungen an die moralischen Qualitäten des Menschen, auch an sein Gewissen. Es wird immer mehr Entscheidungssituationen von gesellschaftlicher Tragweite geben, die der einzelne zunächst einmal allein meistern muß, in denen er selbständig als Organ der Gesellschaft fungiert. Sicher ist diese Gesellschaft so strukturiert, daß sie mögliche Fehlentscheidungen korrigieren, deren Wirkungen abschwächen kann, aber bei dem Folgenreichtum, den viele individuelle Handlungen infolge der wissenschaftlich-technischen Revolution haben, und angesichts der Langfristigkeit, mit der sich solche Folgen oft erst bemerkbar machen, muß alles getan werden, das Individuum zu richtiger Urteilsfindung zu befähigen. Dazu gehört nicht nur eine solide fachliche Ausbildung, sondern 14
H i e r s c h e , Sowjetlit.
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gleichermaßen eine ethisch-ästhetische Erziehung. Das Fehlen einer solchen Erziehung führe zu einer — wie Bykau sagt — „seelischen Kurzsichtigkeit" 241 . Er charakterisiert damit die Haltung jener, die den Schritt des Lehrers Moros nicht verstehen oder nicht billigen, und er verweist mit seinem gesamten Werk dringend darauf, daß unter den heutigen Bedingungen „seelische Kurzsichtigkeit" weniger denn je Privatsache ist. Das leidenschaftliche künstlerische Engagement Bykaus, Aitmatows und anderer für die Gewissensproblematik zeigt somit nicht einen Rückzug in die individuelle Sphäre des Menschen an, sondern verweist auf etwas Entgegengesetztes — auf die wachsende gesellschaftliche Bedeutsamkeit individueller Wesenszüge des Menschen. Das heißt nichts anderes, als daß die „Vergesellschaftung" der Persönlichkeit, die beim Voranschreiten zum Kommunismus und damit auch infolge der wissenschaftlich-technischen Revolution forciert wird, und die stärkere Profilierung des menschlichen Individuums nicht zwei gegenläufige Tendenzen sind, wie bürgerliche Ideologen heute behaupten, sondern zwei Seiten eines einheitlichen dialektischen Prozesses bilden. Unter diesem Aspekt ist auch die Berufung auf Turgenjew, Tolstoi und Dostojewski in der Erzählung Der Obelisk zu betrachten. Bykau befragt die russische klassische Literatur nach den ethischen und ästhetischen Impulsen, die sie zur Ausbildung sozialistischer Persönlichkeiten, zur Ausprägung ihrer individuellen Moral heute vermitteln kann. Die drei Episoden, in denen die Rede von der russischen Klassik ist, kennzeichnen die Erziehungsarbeit der Lehrergestalten Moros und Miklaschewitsch, sie deuten auf ein großes Erziehungskonzept, das dem Autor vorschwebt und für das er mit den Mitteln der Kunst streitet. Die erste Episode zeigt, wie Moros im Unterricht Turgenjews Erzählung Mumu behandelt — jene bittere Geschichte vom Hofknecht Gerassim, der, der Laune seiner Gutsherrin gehorchend, das ihm liebste Geschöpf, seinen einzigen Gefährten, einen Hund, ertränken muß. Moros' Schüler bringen daraufhin viele Hunde in die Schule, die zu Hause im Wege waren und die sie eigentlich hätten ins Wasser werfen müssen. Moros 210
unterstützt die Kinder bei diesem Tun: Sie haben — naiv zwar — begriffen, daß der Umgang mit Literatur kein bloßer Zeitvertreib ist, daß er Folgen hat, Folgen haben muß für das Leben, für die Verhaltensweisen der Menschen. Hier ist gewissermaßen die unvermitteltste Stufe der ethischen Wirksamkeit von Literatur vorgeführt. Die zweite Episode weist auf eine höhere, kompliziertere Form der ethisch-ästhetischen Wirkung der Literatur, auf die es Bykau vor allem ankommt: Moros liest seinen Schülern aus Tolstois Krieg und Frieden vor, und zwar anstelle des Lehrstoffes verschiedener anderer Fächer. Er ist der Auffassung, das Unterrichtsprogramm eines ganzen Monats sei nicht so viel wert wie zwei Seiten Tolstoi. An einer anderen Stelle schon legte Bykau dem Lehrer Tkatschuk im gleichen Zusammenhang leidenschaftliche Worte in den Mund. Tkatschuk kritisiert Unterrichtspraktiken, in denen etwa ein Binom Newtons hundertmal wichtiger sei als die Poetik Puschkins oder Tolstois Menschenkunde, in denen Adverbialpartizipkonstruktionen als höchstes Maß des Könnens angesehen würden und Schüler wegen eines Kommafehlers zur Hochschule durchfielen. Ohne diese Binome und Kommata könne man leben: „Aber wie will man ohne Tolstoi leben? Kann man in unserer Zeit ein gebildeter Mensch sein, ohne Tolstoi zu lesen? Ja, kann man da überhaupt ein Mensch sein?" 242 Entkleidet man diese Gedanken ihrer offensichtlich polemischen Zuspitzung, so bleibt als deren Kern die Notwendigkeit der allseitigen Erziehung sozialistischer Persönlichkeiten, einer Erziehung, in der die Literatur mit ihren ethisch-ästhetischen Wirkurigskomponenten einen wesentlichen Platz einnehmen muß. Bykaus Polemik wählt zwar den Schulunterricht als Angriffspunkt, hat aber eine viel weiterreichende Bedeutung. Sein Erziehungskonzept ist auf die Ausbildung eines Menschen gerichtet, der in der Lage sein muß, die immer gewaltigeren, globalen Prozesse der Auseinandersetzung der Gesellschaft mit der Natur, der Einrichtung des gesamten Erdballs zum Wohle aller zu beherrschen, die auf diesem Wege sich noch auftürmenden Hindernisse — Imperialismus, Neokolonialismus, Wettrüsten — zu beseitigen. Die Erregtheit des 14»
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Autors resultiert sicher aus einem Bewußtsein, daß der Menschheit — obwohl durch die Errichtung des Sozialismus in einem Teil der Welt schon Entscheidendes geleistet wurde — noch schwere Kämpfe bevorstehen, auf die jeder einzelne innerlich gut vorbereitet werden muß. Es wäre angesichts dessen falsch, in Bykaus vehementer Parteinahme für Tolstoi Züge des Tolstoianertums, einer antitechnischen, antiwissenschaftlichen Borniertheit sehen zu wollen. Die Leidenschaftlichkeit und polemische Schärfe sind diktiert von der Dringlichkeit der Probleme, die die Realität — Aufbau des Kommunismus, wissenschaftlichtechnische Revolution bei erbitterter Auseinandersetzung mit dem Imperialismus — auf die Tagesordnung gesetzt hat. Bykau streitet nicht gegen die wissenschaftliche Bildung des Menschen, sondern f ü r die gleichzeitige und verstärkte Entwicklung der ethischen Qualitäten der sozialistischen Persönlichkeit mittels der Literatur. Die dritte Episode, in der Bykau Bezug auf die russische Klassik nimmt, ist die Begegnung von Tkatschuk und dem Erzähler der Rahmenhandlung mit einem Bauern, der sich daran erinnert, wie Miklaschewitsch, im Krankenhaus liegend, den anderen Patienten in seinem Zimmer aus Dostojewskis Schuld und Sühne vorgelesen hatte. Dem Bauern hatte sich daraus vor allem die Auseinandersetzung um die Idee des „Alles-ist-erlaubt" eingeprägt. Tkatschuk fragt ihn, wie er denn diese Sache verstünde, worauf der Bauer antwortet: „Ich bin ein ungebildeter Mensch, habe nur drei Klassen besucht. Aber ich verstehe das so, daß im Menschen irgendetwas sein muß. Irgendeine Sperre." 243 Wieder stellt Bykau das Mitwirken an der Ausbildung des Gewissens als wichtige Aufgabe der Literatur in den Mittelpunkt; die „Sperre" im Innern des Menschen — gleich, ob man sie Gewissen, „höheres Prinzip" oder anders nennt — erscheint nicht als etwas Mystisches, Naturgegebenes, sondern als eine gesellschaftliche Größe, die in den Menschen hineingetragen und entwickelt werden muß. Bykau läßt an keiner Stelle einen Zweifel daran aufkommen, daß es ihm um die spezifische Wirksamkeit der Literatur, nicht um reine Didaktik, nicht um abstraktes 212
Moralisieren geht. Die Vermittlung zwischen den ethischen Erfahrungen aus der Realität des Krieges und den Forderungen der Gegenwart erfolgt durch Kunst. Durch die künstlerische Formierung erst erhalten der Vorfall im belorussischen Dorf Selzo und die Tat des Lehrers Moros ihre volle Aussagekraft, ihre erschütternde, aufwühlende Wirkung. Bykau hat sich zudem im Obelisk direkt zu literarischen Gestaltungsproblemen geäußert. Der Erzähler der Rahmenhandlung reflektiert, als er nachts mit Tkatschuk auf der Landstraße zur Stadt wandert, beim Anblick der Sternbilder: „Und ich dachte, wie gespreizt und unnatürlich die alten Mythen in ihrer hochtrabenden Schönheit doch eigentlich sind, etwa die vom schönen Jüngling Orion, der in die Göttin Eos verliebt war, den Artemis aus Eifersucht tötete, als ob es in ihrem mythischen Leben keine anderen, schrecklicheren Nöte und wichtigeren Sorgen gegeben hätte. Nichtsdestoweniger erfaßt und bezaubert dieses von den Alten so schön Ausgedachte die Menschheit weit mehr als die ergreifendsten Tatsachen ihrer Geschichte. Vielleicht würden sich sogar in unserer Zeit viele zu einem legendären Tod bereit finden, besonders zu der danach folgenden kosmischen Unsterblichkeit in Gestalt dieses nebelhaften Sternbildes am Rande des nächtlichen Sternhimmels. Leider oder glücklicherweise ist dies keinem beschieden. Die mythischen Tragödien wiederholen sich nicht, und die Erde ist von ihren eigenen erfüllt, ähnlich der, die sich irgendwann in Selzo zugetragen hat [. . ,]"244 Bykau bewertet die Mythen etwas apodiktisch und wird ihrer Bedeutung nicht gerecht. Ungeachtet dessen hilft uns gerade wieder seine Schroffheit zu begreifen, worum es ihm geht: um die Eigentümlichkeit und Einmaligkeit dieser unserer Zeit. Die „prosaischen" Stoffe des Heute bedürfen ihrer eigenen literarischen Darstellungsmittel, ihrer eigenen Poetisierung. Die poetische Aussagekraft der Tragödie von Selzo gleicht der der alten Mythen, sie braucht sich nicht den Glanz mythologischer Parallelen zu borgen. Diese eigenwillige Auffassung äußert Bykau zu einer Zeit, da Schriftsteller sozialistischer Länder sich des mythologischen Gleichnisses bedienen, um etwa die welthistorische Bedeu213
tung eines zeitgenössischen Stoffes aufscheinen zu lassen — man denke an die drei Intermedien in Heiner Müllers Bühnenfassung des Romans Zement von Fjodor Gladkow. Drei Prosaschreibweisen im Rahmen der sozialistischrealistischen Methode haben wir vorgeführt: Eine vorwiegend mit rational-analytischen Mitteln arbeitende, stark vom Dokument ausgehende bei Granin, eine betont lyrische, verhaltene, fein nuancierte Stimmungen erfassende, aber nicht sentimentale bei Drutä, schließlich Bykaus expressive, gleichnishafte. Mit Ausnahme der ersten ist ein direkter Einfluß naturwissenschaftlichen Denkens und Schreibens nicht nachzuweisen, der Zusammenhang mit den Prozessen der wissenschaftlich-technischen Revolution ist komplizierter, liegt viel tiefer. Diese drei Schreibweisen sind nicht die einzigen, sie sind auch nicht zu verwechseln mit den drei Hauptstilrichtungen bzw. Strömungen der Literatur des sozialistischen Realismus, wie sie Boris Sutschkow zu definieren suchte. 245 Die Behauptung der epischen Prosa als notwendige Form der Wirklichkeitserkenntnis und Wirklichkeitsgestaltung gegenüber der sprachlichen und bildlichen Fakteninformation ist ganz zuletzt erst eine Frage der theoretischen Deklaration und Definition, sie ist zuvörderst ein Prozeß ständiger Auseinandersetzung der Prosaautoren mit ihrer Zeit. Die Berechtigung der epischen Prosa ist identisch mit der Berechtigung jeder Kunst und ihrer spezifischen ideellästhetischen Funktion im Gesellschaftsganzen. Daher berufen sich die Schriftsteller immer wieder zu Recht auf die großen Leistungen etwa der russischen realistischen Erzählliteratur des 19. Jahrhunderts und deren kaum nachlassende Wirkung. Die Berufung auf den bleibenden ideell-ästhetischen, darin einbegriffen auch den ethischen Wert dieser Literatur — das zeigte Bykau sehr deutlich — ist aber nicht zugleich als Hinweis auf die Gültigkeit der Schreibweise der Autoren des 19. Jahrhunderts oder überhaupt vergangener Zeit zu verstehen. Im ersten Kapitel dieses Buches wiesen wir eine Auffassung zurück, die von der Literatur eine Erschütterung der alten Schreibweise, der alten Psyche verlangte, weil Relativitätstheorie, Kybernetik usw. auch die 214
alten Denkweisen der Naturwissenschaften erschüttert bzw. entthront hätten. Dieser Anspruch zielte letztlich auf die Negation der spezifischen Wirkungsweise von Literatur überhaupt und ging am Wesen des tatsächlichen Problems vorbei, vor dem Literatur heute wirklich steht. Niemandem ist der Zwang nach neuen Wegen, vor allem des Prosaschreibens, so deutlich bewußt wie den Schriftstellern selbst, und niemand weiß so genau wie sie, daß es mit Experimenten allein der Form hier kaum getan ist, hier muß der gesamten Lebensweise, den- Erfahrungen, auch der Denkweise, dem Wissen der Leser Rechnung getragen werden. Das erfordert z. B. von solchen Literaturen der Sowjetunion, die der Folklore gerade erst entwachsen sind, auf bisher beliebte und erprobte Gestaltungselemente wie übermäßige Allegorisierung, Monumentalisierung, undialektische Ganzheit der Gestalten, physische Unverletztbarkeit der Helden usw. zu verzichten. 246 Das wirft zusätzliche Schwierigkeiten bei der Entwicklung von realistischen Schreibweisen auf. Was Literatur und Leser heute u. a. besonders auszeichnet, das danken sie nicht zuletzt der weltweiten Information: Aufnahmebreite und Aufnahmeintensität, die in ständigem Kampf mit anderen Reaktionen auf die Informationsfülle — Abstumpfung, Oberflächlichkeit — entwickelt werden: „Welch ein feines Gespür für das Aktuelle hat die heutige Poesie, wie nahe ist sie den Bauleuten von Tjumen und dem brennenden Lateinamerika und der protestierenden Studentenschaft des Westens — und allen heutigen Leiden und Sorgen." 2 4 7 So schreibt Wosnessenki über die Dichtung, und das gilt für die gesamte Literatur. Aufnahmebreite und Aufnahmeintensität sind nicht nur quantitative Größen, sie drücken vor allem eine höhere Qualität der Verallgemeinerung aus, des perspektivischen, philosophischen Denkens in weiten geographischen und historischen Räumen.
Schlußbemerkungen
Die wissenschaftlich-technische Revolution, ihre Verbindung mit den Errungenschaften des Sozialismus und alle damit zusammenhängenden Prozesse befinden sich noch in einem sehr frühen Stadium. Die dargestellten bzw. hier vorgelegten eigenen Erkenntnisse über die Auswirkungen dieser Vorgänge auf die Sowjetliteratur, über die Rolle der Literatur in den heutigen Gesellschaftsprozessen haben vorläufigen Charakter. Die enormen Bewegungen und Veränderungen in der Realität finden ihr Pendant in ausgedehnten, vielfaltigen literarischen Erkundungen und Experimenten, die hier nicht vollständig erfaßt werden konnten. Unter Berücksichtigung dessen seien einige Ergebnisse unserer Untersuchungen abschließend resümiert und zur Diskussion gestellt: Wissenschaftlich technische Revolution wirkt in der Regel als Ganzes, als g e s e l l s c h a f t l i c h e s Phänomen auf die Sowjetliteratur. Ein direkter Einfluß der Wissenschaft insgesamt, einzelner Wissenschaftsdisziplinen bzw. neuer technischer Errungenschaften und Verfahren auf Literatur ist durch spezielle Forschungen noch zu belegen, unseres Erachtens kann er nicht das Bestimmende sein. Der Zusammenhang von wissenschaftlich-technischer Revolution und Literatur realisiert sich vorwiegend über soziale Faktoren. Der wichtigste dieser sozialen Faktoren ist die Arbeiterklasse, ihre gesellschaftsleitende und materiell-produktive Tätigkeit, daher die gesteigerte Aufmerksamkeit der Literatur für diesen Gegenstand. Die Rolle der Sowjetliteratur als eigenständige und unersetzliche Form ästhetischer Weltaneignung und Welt217
gestaltung wird durch die wachsende Bedeutung von Wissenschaft und Technik in der sozialistischen Gesellschaft nicht gemindert, es erfolgt eine Intensivierung bestimmter Seiten der Literatur. Die Akzentuierung ihrer ethischen Seite läßt sich eindeutig nachweisen. Die Entwicklung des Sozialismus und dementsprechend der wissenschaftlichtechnischen Revolution bringt die größere Gesellschaftlichkeit des Individuums mit sich, Gesellschaftlichkeit verstanden als dialektische Einheit von stärkerem Einbezogensein des Menschen in das Gesellschaftsganze und sich erweiterndem gesellschaftlichem Wirkungsradius der bewußten Tätigkeit des Subjekts. Das bedingt und fördert die allseitige Entwicklung der menschlichen Persönlichkeit. Die ethische Ausbildung ist in diesem Zusammenhang eines der dringendsten gesellschaftlichen Erfordernisse. Das Verhältnis des Menschen zur Natur, soweit es für die Sowjetliteratur Bedeutung besitzt, unterliegt einem starken Wandel, das Pathos des Sieges des Menschen über die Natur wird abgelöst vom Pathos des Miteinanders von menschlicher Gesellschaft und Natur, des Schutzes der Natur. Diese Änderung innerhalb der Wirkungsabsichten von Literatur geht sehr eng mit der Verstärkung der ethischen Komponente konform. Hier widerspiegelt sich ein epochaler Umschwung im gesellschaftlichen Bewußtsein, für den sich Schriftsteller bereits seit den fünfziger Jahren zunehmend einsetzen. Wosnessenski sagte in diesem Zusammenhang: „Poesie ist heute eine Gesellschaft zum Schutze des Lebenden und vor allem des Menschen." 2 4 8 Die Ursachen für diesen Umschwung sind zweifellos in den enormen Möglichkeiten zur Beherrschung der Natur zu sehen, die die wissenschaftlich-technische Revolution dem Menschen in die Hände gegeben hat. Die internationalistische Erziehung — eine andere wesentliche Komponente der ideell-ästhetischen Wirkung der Sowjetliteratur — wird seit Ende der sechziger Jahre oft über den scheinbaren Umweg der sozialen Analyse des Nationalen realisiert. Je konkreter und künstlerisch überzeugender diese Analyse, um so mehr macht sie die internationalistische Prägung des Nationalen und seine internatio218
nale Wirkung sichtbar. Die Internationalisierung des gesellschaftlichen Lebens tritt im Verlaufe der wissenschaftlichtechnischen Revolution in ein höheres Stadium ein, hier liegen die tieferen Wurzeln für die spezifisch literarischen Prozesse. Die Sowjetliteratur sucht nach neuen Möglichkeiten, die Dialektik des Lebens darzustellen. Hier bahnt sich unseres Erachtens eine wichtige Veränderung in der ideel-ästhetischen Wirkung der Literatur der Gegenwart an. Dieser Vorgang wurde in letzter Konsequenz durch die grandiosen Umwälzungen der wissenschaftlich-technischen Revolution hervorgerufen. Daniii Granin schreibt in seiner mehrfach erwähnten Erzählung Gedanken vor einem Porträt, das es nicht gibt: „Das Streben nach Erkenntnis ist in der Natur des Menschen angelegt. Dieses Bedürfnis ist stärker als jegliche Furcht. Prometheus raubte das Feuer, brachte es den Menschen, die Götter straften ihn dafür grausam und für ewig. Adam und Eva kosteten den Apfel vom Baum der Erkenntnis, und auch der neue Gott strafte sie ebenso grausam und verurteilte sie auf ewig zu Qualen. Die Legende wiederholte sich. Die Erkenntnis fordert Opfer. Das Wissen muß bezahlt werden. Während die Menschen sich das Verständnis der Natur aneignen, Macht über sie gewinnen, verlieren sie etwas, nicht vorübergehend, sondern für immer; das sind ewige Verluste, die Qualen und Leiden mit sich bringen. Die Erkenntnis birgt in sich Bitternis, Gift, sie ist unvereinbar mit dem Paradies. Die Kenntnisse verändern die Struktur der menschlichen Seele, aber der Mensch ist nicht imstande, diesen Qualen zu entsagen. Die Schlangc des Versuchers hat den Menschen zum Menschen gemacht. Nicht Gott, sondern die Schlange. Der Mensch, welcher von Gott geschaffen war, unterschied sich durch nichts von der Masse anderer Geschöpfe. Der aus dem Paradies vertriebene Mensch bewahrte in sich den Geschmack der Erkenntnis, er bewahrte auch die Schlange des Versuchers in sich nicht weniger, vielleicht sogar mehr als Gott. Die heidnischen und biblischen Legenden sind gar nicht so religiös." 249 219
Der Gedanke Granins enthält eine Erkenntnis, die, obwohl eigentlich nicht neu, erst heute immer tiefer ins Bewußtsein der Menschen eindringt: Fortschritt der Welterkenntnis, die nach marxistisch-leninistischem Begriff die Weltveränderung einschließt, vollzieht sich in der Dialektik von Gewinn und Verlust. Die Welterkenntnis unter sozialistischen Bedingungen, obwohl bewußt beherrscht und zum Nutzen der Menschen gelenkt, bildet keine Ausnahme, denn die Entwicklung hört nicht auf, sie beschleunigt sich. Nur wenn sich Literatur als Teil dieser Praxis begreift, wird sie die in dem Miteinander von Gewinn und Verlust auftretenden Probleme richtig erfassen und darstellen können. Nur dann entgeht sie der Gefahr, in die heute mehr denn je abgesungene bürgerliche Litanei von der Tragik des menschlichen Daseins, von den unüberwindlichen Grenzen „des" Menschen einzustimmen. Nur so vermeidet sie aber auch das andere Extrem, den Lesern eine wolkenlose ideale Zukunft zu verheißen, einen Zustand widerspruchslosen Glücks, dessen Grundlage eine einwandfrei funktionierende, technisch und wissenschaftlich durchorganisierte Gesellschaft sei. In den Werken der Martynow, Wosnessenski, Granin, Dworezki, Schatrow, Bokarjew, Leonow, Aitmatow, Solouchin, Wassiljew, Kulijew, Kugultinow, Abramow, Below, Drutä, Bykau und anderer zeigt sich mehr oder weniger deutlich, daß sie das Problem aufgegriffen haben. Vielleicht ist das vertiefte Wissen um die Dialektik der Entwicklung, der Doppelgesichtigkeit des Fortschritts eine der wichtigsten und hoffnungsvollsten Folgen der wissenschaftlich-technischen Revolution für alle Menschen. Vielleicht ist dieses Bewußtsein für den ersten Augenblick schmerzlich, vielleicht lebten viele Menschen im Sozialismus vordem ruhiger, als sie bestimmte Widersprüche, die bei der Vereinigung von wissenschaftlich-technischer Revolution mit den Vorzügen des Sozialismus zu überwinden sind, noch nicht so deutlich sahen. Die Erkenntnis dieser Widersprüchlichkeit, ihrer Eigenart, die sie von den Widersprüchen in der Klassengesellschaft qualitativ unterscheidet, ist für Schriftsteller wie Leser schwierig, hier stehen wir erst am Beginn. Hier deutet sich eine neue Wirkungskom220
ponente der Literatur an, möglicherweise sogar eine neue Entwicklungsstufe des sozialistischen Realismus. Auf jeden Fall zeichnet sich ein entscheidender Schritt zur Ausbildung einer allseitig entwickelten Persönlichkeit ab — im gesellschaftlichen Bewußtsein, in der Literatur. Der Schluß liegt nahe: In der Entwicklung der Sowjetliteratur tritt die Wende von den sechziger zu den siebziger Jahren immer klarer als eine Zäsur hervor. Eine der wichtigsten Ursachen ist zweifelsohne das sich fühlbarer auch künstlerisch manifestierende Bewußtsein, aktiver, verantwortungsbewußter Teilnehmer in jenem weltumwälzenden Prozeß zu sein, der Vereinigung der wissenschaftlichtechnischen Revolution mit den Vorzügen des Sozialismus heißt. Die Freude an der Meisterungsmöglichkeit des menschlichen Daseins zu zeigen und zu wecken, ist heute für die Literatur komplizierter geworden. Das bedeutet aber nichts anderes, als daß diese Freude selbst größer wird.
Anmerkungen
Abkürzungsverzeichnis MEW — K. Marx/F. Engels: Werke. Bd. 1—39 (u. 2. Erg. Bde, 2 Verz. Bde). Berlin 1968-1971. Lenin — W. I. Lenin: Werke. Bd. 1 - 4 0 . Berlin 1961 — 1964.
Einleitung 1 Wir verweisen auf folgende Diskussionsrunden bzw. Artikel zum Problem „Wissenschaftlich-technische Revolution und Literatur" besonders hin: Diskussionsrunde: Literatura. Naucno-techniceskaja revoljucija. Celovek (Literatur. Wissenschaftlich-technische Revolution. Mensch). In: Literaturnaja gazeta 1971, Nr. 47,48; 1972, Nr. 1, 6 , 9 , 1 2 , 13, 18, 25, 34, 45; 1973, Nr. 1, 21, 22, 28, 33, 41, 44, 47. Diskussionsrunde: Literatura i ntr (Literatur und WTR). In: Druzba narodov 1973, H. 10—11. — Artikelfolge : Chudoznik pered licom N T R (Der Künstler im Angesicht der WTR). In: Literaturnoeobozrenie 1973,1,3, 5 , 6 , 7 , 8 , 9 , 1 0 , 1 2 . — I. Frolow : Naucno-techniceskij progress i razvitie celoveka (Der wissenschaftlich-technische Fortschritt und die Entwicklung des Menschen). In: Pravda v. 16. 2. 1973. — A. Jegorow: Naucno-techniceskaja revoljucija i iskusstvo (Wissenschaftlich-technische Revolution und Kunst). In: Znamja 43 (1973) 1. — A. Metschenko : Vecnyj zov i pozyvnye veka (Der ewige Ruf und die Rufzeichen des Jahrhunderts). In: Moskva 16 (1972) 4. — Ders.: Paradoksy ntr i socialisticeskij realizm (Die Paradoxa der WTR und der sozialistische Realismus). In: Moskva 18 (1974) 9. — B. Anaschenkow: Progress techniki i „konservatizm" literatury (Der Fortschritt der Technik und der „Konservatismus" der Literatur). In: Voprosy literatury 17 (1973) 1. 2 Vgl. G. Chromuschin: Naucno-techniceskaja revoljucija i ideologiceskaja bor'ba (Wissenschaftlich-technische Revolution und ideologischer Kampf). In: Novyj mir 48 (1972) 3. 3 Internationale Beratung der kommunistischen und Arbeiterparteien. Moskau 1969. Berlin 1969, S. 13.
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4 Vgl. Filosofskaja énciklopedija (Philosophische Enzyklopädie). Moskau 1967, Bd. 4, S. 6, Stichwort: Naucno-techniceskaja revoljucija (Wissenschaftlich-technische Revolution). 5 Philosophisches Wörterbuch: Hrsg. von Georg Klaus und Manfred Buhr. 10. neubearb. u. erw. Aufl. Leipzig 1974, Bd. 2, S. 1313, Stichwort : Wissenschaftlich-technische Revolution. 6 K. Hager: Sozialismus und wissenschaftlich-technische Revolution. In: Neues Deutschland v. 22. 6. 1972, S. 4. 7 Vgl. L. I. Breshnew: Rechenschaftsbericht des Zentralkomitees der KPdSU an den X X I V . Parteitag der Kommunistischen Partei der Sowjetunion. In: Der X X I V . Parteitag der Kommunistischen Partei der Sowjetunion. Moskau-Berlin 1971, S. 79. — E. Honecker: Fragen von Wissenschaft und Politik in der sozialistischen Gesellschaft der D D R . In: Neues Deutschland v. 16. 1. 1972, S. 3. 8 Literatura i ntr. Ot redakcii (Literatur und W T R . Von der Redaktion). In: Druzba narodov 1973, 11, S. 251. 9 Vgl. Naucno-techniceskaja revoljucija i obscestvo (Wissenschaftlichtechnische Revolution und Gesellschaft). Moskau 1973, S. 63—64. — Dieses Buch enthält die bisher umfassendste und tiefgründigste Darstellung aller Aspekte des Problems. 10 Vgl. N. Aitow: Ne radi pribyli — radi celoveka (Nicht um des Profits — um des Menschen willen). In: Druzba narodov 1973, 10, S. 243. 11 Vgl. G. Chromuschin: Naucno-techniceskaja revoljucija i ideologiceskaja bor'ba (Wissenschaftlich-technische Revolution und ideologischer Kampf). In: Novyj mir 48 (1972) 3, S. 1 6 2 - 1 6 6 . 12 M E W , Bd. 20, S. 264. 13 Institut für Weltwirtschaft und internationale Beziehungen der Akademie der Wissenschaften der U d S S R : Über die Vertiefung der allgemeinen Krise des Kapitalismus. I n : Probleme des Friedens und des Sozialismus 17 (1974) 8, S. 1083. 14 Vgl. L. I. Breshnew: Rechenschaftsbericht des Zentralkomitees der K P d S U an den X X I V . Parteitag der Kommunistischen Partei der Sowjetunion: In: Der X X I V . Parteitag der Kommunistischen Partei der Sowjetunion. Moskau-Berlin 1971, S. 57. 15 Zitiert nach A. Metschenko: Vecnyj zov i pozyvnye veka (Der ewige R u f und die Rufzeichen des Jahrhunderts). In: Moskva 16 (1972) 4, S. 200. 16 A . U r b a n : Krizis ostroty (Die Krise der Schärfe). A. Wosnessenski: Struktura garmonii (Die Struktur der Harmonie). Ot redakcii (Von der Redaktion). [Bemerkungen der Redaktion zum Briefwechsel zwischen A . U r b a n u. A. Wosnessenski]. In: Voprosy literatury 17 (1973) 4, S. 81. 17 A. Botscharow: A cto my skazem potom? (Aber was sagen wir dann?) In: Druzba narodov 1973, 10, S. 245.
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18 W. Lipatow/M. Sluzkis/S. Chandsadjan : Ritmy épochi (Die Rhythmen der Epoche). In: Literaturnaja gazeta v. 5. 11. 1972, S. 5. 19 M. Sluckis: I, kak vsegda, ostaetsja celovek! (Und es bleibt, wie immer, der Mensch!). In: Druzba narodov 1973, 11, S. 247. 20 Vgl. M. Kolessnikow: Pravo vybora (Das Recht der Wahl). Moskau 1970. — Dt. Das Recht der Wahl. Berlin 1974. — Ders.: Industrial'naja ballada (Industrie-Ballade). Moskau 1972. — P. Sahrebelny : S tocki zrenija vecnosti (Vom Standpunkt der Ewigkeit). Moskau 1969. — Ders. : Perechodim k ljubvi (Gehen wir zur Liebe über). Moskau 1971. 21 D. Granin : Söjuz, prodiktovannyj vremenem (Ein Bund, von der Zeit gefordert). In: Chudozestvennoe i naucnae tvorcestvo (Künstlerisches und wissenschaftliches Schöpfertum). Leningrad 1972, S. lOf. 22 Vgl. A. Metschenko : Paradoksy ntr i socialisticekij realizm (Die Paradoxa der WTR und der sozialistische Realismus). In: Moskva 18 (1974) 9, S. 191. 23 Literatura i ntr. Ot redakcii (Literatur und WTR. Von der Redaktion). In : Druzba narodov 1973, 11, S. 251. 24 A. Metschenko: Paradoksy ntr i socialisticeckij realizm (Die Paradoxa der WTR und der sozialistische Realismus). In: Moskva 18 (1974) 9, S. 191. 25 Ebenda, S. 190. 26 A. Metschenko : Vecnyj zov i pozyvnye veka (Der ewige Ruf und die Rufzeichen des Jahrhunderts). In: Moskva 15 (1972) 4, S. 200 u. 208. 27 E. Iljenkow: Projdena Ii tablica umnozenija? (Ist das Einmaleins wirklich schon durchgenommen?). In: Literaturnaja gazeta v. 1. 3. 1972, S. 4. 28 MEW, Erg.-Bd., Erster Teil, S. 517. 29 Gesellschaft, Literatur, Lesen. Literaturrezeption in theoretischer Sicht. Berlin-Weimar 1973, S. 29. 30 MEW, Bd. 25, S. 828.
Anmerkungen zum Text 1 I. Ehrenburg: Otvet na odno pis'mo (Antwort auf einen Brief). In: Komsomol'skaja pravda v. 2. 9. 1959, S. 2. 2 I. Poletajew: V zascitu Jurija (Zur Verteidigung Jurijs). In: Komsomol'skaja pravda v. 11. 10. 1959, S. 4. 3 K.. Selinski: Kamo grjadesi? (Quo vadis?). In: Literaturnaja gazeta v. 10. 3. 1960, S. 3. 4 B. Sluzki: Fiziki i liriki (Physiker und Lyriker). In: Literaturnaja gazeta v. 13. 10. 1959, S.l. 15
Hiersche, Sowjetlit.
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5 K. Selinski: K a m o grjadesi? (Quo vadis?). In: Literaturnaja gazeta v. 10. 3. 1960, S. 3. 6 Fiziki i liriki (Physiker und Lyriker). In: Literaturnaja gazeta v. 1.3. 1960, S. 2. 7.P. Antokolski: Poezija i fizika (Lyrik und Physik). In: Literaturnaja gazeta v. 21. 1. 1960, S. 3. 8 I. Ehrenburg: O Lüne, o Zemle, o serdce (Über den Mond, über die Erde, über das Herz). In: Literaturnaja gazeta v. 1. 1. 1960, S. 3. 9 E. Miezelaitis: Nocnye babocki (Nachtfalter). In: E. Miezelaitis: Kontrapunkt. Liriceskaja proza (Kontrapunkt, Lyrische Prosa). Moskau 1972, S. 318. 10 Ebenda, S. 379f. 11 P. Antokolski: Poezija i fizika (Lyrik und Physik). In: Literaturnaja gazeta v. 21. 1. 1960, S. 3. 12 R. Jungk: Heller als tausend Sonnen, Stuttgart 1956. Zit. nach M. Steenbeck: Über das Schöpferische in der Naturforschung und einige seiner Beziehungen zur Kunst. In: Neue deutsche Literatur 19 (1971) 1, S. 19f. 13 Vgl. hierzu K. Hager: Sozialismus und wissenschaftlich-technische Revolution. In: Neues Deutschland v. 22. 6. 1972, S. 3. 14 Vgl. hierzu Tsch. Aitmatow/L. Nowitschenko: Neizbeznost' garmonii (Die Unvermeidlichkeit der Harmonie). In: Literaturnaja gazeta v. 1. 1. 1973, S. 2f. 15 Vgl. hierzu vor allem das Grundlagenwerk von G. Lomidse: Leninizm i sud'by nacional'nych literatur (Der Leninismus und das Schicksal der Nationalliteraturen). Moskau 1972. 16 Vgl. hierzu als besonders charakteristisch F. Schirokow: Tablica umnozenija davno projdena . . . (Das Einmaleins ist längst durchgenommen . . .). In: Literaturnaja gazeta v. 9. 2. 1972, S. 5; siehe auch die sehr gute Polemik von E. Iljenkow: Projdena Ii tablica umnozenija? (Ist das Einmaleins wirklich schon durchgenommen?). In: Literaturnaja gazeta v. i . 3 . 1972, S. 4. 17. F. Schirokow: Tablica umnozenija davno p r o j d e n a . . . (Das Einmaleins ist längst durchgenommen . . .). In: Literaturnaja gazeta v. 9. 2. 1972, S. 5. 18 E. Iljenkow: Projdena Ii tablica umnozenija? (Ist das Einmaleins wirklich schon durchgenommen?). In: Literaturnaja gazeta v. 1. 3. 1972, S. 4. 19 Ebenda. 20 Produktivkraft Poesie. Gespräch zwischen Erwin Strittmatter und Heinz Plavius. In: Neue Deutsche Literatur 21 (1973) 5, S. 9. 21 L. Martynow: Sed'moe cuvstvo (Der siebente Sinn). In: Vo-pervych, vo-vtorych, v-tret'ich (Erstens, zweitens, drittens). Moskau 1972, S. 122. (Diese und alle folgenden Gedichte sind von mir wörtlich übersetzt —
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A. H.). Eine Nachdichtung dieses Gedichts findet sich in: L. Martynow: Der siebente Sinn. Berlin 1968, S. 53. 22 Vgl. A. M. Gorki: Über Theaterstücke. In: A. M. Gorki: Über Literatur. Berlin 1968, S. 324. — Bei Gorki heißt es: „Der dramatischste Held der Gegenwart aber ist der Mensch des Weltverstehens, er strebt danach, die Welt zu erforschen und zu verstehen, um sie sich völlig anzueignen und in Besitz zu nehmen. Er ist ein Vertreter der neuen Menschheit, er ist groß, kühn und stark — deshalb wird er von den Menschen der alten Welt so erbittert gehaßt." 23 Vgl. A. M. Gorki: Nasa literatura — vlijatel'nejsaja literatura v mire (Unsere Literatur ist die einflußreichste Literatur der Welt). In: A. M. Gorki: Sobranie socinenij v 30 tomach (Gesammelte Werke in 30 Bänden). Moskau 1953, Bd. 27, S. 419. 24 L. Martynow: Cto delaetsja.v mechanike (Was sich in der Mechanik tut). In : Vo-pervych, vo-vtorych, v-tret'ich (Erstens, zweitens, drittens). Moskau 1972, S. 164. 25 L. Martynow: Nebo i Zemlja (Himmel und Erde). In: Ebenda, S. 173. 26 Vgl. Filosofskaja enciklopedija (Philosophische Enzyklopädie). Moskau 1964, Bd. 3, S. 81; Stichwort: Krasnoe smescenie (Rotverschiebung), vgl. ferner: Philosophisches Wörterbuch. Leipzig 1971, Bd. 2, S. 964f; Stichwort: Rotverschiebung. 27 L. Martynow: Prostota (Einfachheit). In: Vo-pervych, vo-vtorych, v-tret'ich (Erstens, zweitens, drittens). Moskau 1972, S. 226. 28 L. Martynow: Tvorcestvo (Schöpfertum). In: Giperboly (Hyperbeln). Moskau 1972, S. 11. 29 J. R. Becher: Macht der Poesie. Berlin 1955, S. 132. 30 L. Martynow: Efir (Äther). In: Giperboly (Hyperbeln). Moskau 1972, S. 165'. 31 L. Martynow: Budnicnost' (Alltäglichkeit). In: Ebenda, S. 190. 32 A. Urban: Krizis ostroty (Die Krise der Schärfe). In: Voprosy literatury 17(1973) 4, S. 58 f. 33 Ebenda, S. 60. 34 Ebenda, S. 62. 35 Ebenda, S. 67. 36 Ebenda, S. 69. 37 A. Wosnessenski: Vzgljad (Der Blick), Moskau 1972, S. 38. 38 A. Wosnessenski: Struktura garmonii (Die Struktur der Harmonie). In: Voprosy literatury 17 (1973) 4, S. 76. 39 Ebenda, S. 75. 40 Ebenda, S. 74. 41 V. Schklowski: Po povodu novogo sbornika Andreja Voznesenskogo (Über den neuen Gedichtband Andrej Wosnessenskis). In: Literaturnoe obozrenie 1973, 1, S. 93. 15'
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42 A. Wosnessenski: Avtomat (Die Telefonzelle). In: Vzgljad (Der Blick). Moskau 1972, S. 94f. 43 A. Wosnessenski: Slozi atlas, skoljarka salaja (Klappe den Atlas zu, übermütige Schülerin). In: Ebenda, S. 92f. 44 A. Wosnessenski: Jabloki s britvami (Äpfel mit Rasierklingen). In: Ebenda, S. 108 f. 45 A. Wosnessenski: Struktura garmonii (Die Struktur der Harmonie). In: Voprosy literatury 17 (1973) 4, S. 74f. 46 Zit. nach F. Kusnezow: Vstreci s grjaduscem (Begegnungen mit der Zukunft). In: Literaturnoe obozrenie 1973, 1, S. 48. 47 D. Granin: Garten der Steine. Berlin 1973, S. 409f. 48 Ebenda, S. 145. 49 D. Granin: Razmyslenija pered portretom. kotorogo net (Gedanken vor einem Porträt, das es nicht gibt). I n : D . Granin: Sad kamnej (Garten der Steine). Moskau 1972, S. 123. 50 Ebenda, S. 112. 51 Ebenda, S. 115. 52 Ebenda, S. 116. 53 Ebenda, S. 123. 54 Ebenda, S. 124. 55 M. Schatr'ow: Losad' Przeval'skogo (Das Prshewalskipferd). In: Teatr 1972, 11, S. 23f.; dt. M. Schatröw: Campanella und der Kommandeur. In: Theater der Zeit 28 (1973) 7, S. 56f. 56 Ebenda. 57 L. Karpinski: Novaja rabocaja arena. Naucno-techniceskaja revoljucija i sovetskij rabocij klass (Die neue Arena der Arbeiter. Die wissenschaftlich-technische Revolution und die sowjetische Arbeiterklasse). In Novyj mir 48 (1972) 5, S. 195. 58 A. Jegorow: Naucno-techniceskaja revoljucija i iskusstvo (Wissenschaftlich-technische Revolution und Kunst). In: Znamja 43 (1973) 1, S. 155. 59 E. Miezelaitis: Liriceskie etjudy (Lyrische Etüden). In: E. Miezelaitis: Kpntrapunkt, Liriceskaja proza (Kontrapunkt. Lyrische Prosa). Moskau 1972, S. 168. 60 E. Miezelaitis: Nocnye babocki (Nachtfalter). In: Ebenda, S. 320. 61 Ch. Wolf: Lesen und Schreiben. Berlin 1971, S. 173. Der Genetiker Hans Stubbe sagt im Gespräch mit Ch. Wolf: „Wer sagt uns, daß wir nicht gerade die Anstrengung brauchen, die das Lernen jedes menschliche Individuum kostet, um Intelligenz und Persönlichkeit zu entwickeln?" 62 K. Marx: Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie. Berlin 1953, S. 387. — Auf dieses Zitat verweist Iljenkow in dem schon mehrfach erwähnten Artikel.
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63 Vgl. vor allem die Diskussionsrunden: Rabocij klass i literatura (Arbeiterklasse und Literatur). In: Druzba narodov 1970, 3; Ékonomika, zizn', literatura (Wirtschaft, Leben, Literatur). In: Voprosy literatury 15 (1971)1. 64 F. Burlazki: Nadezdy i illjuzii. Naucno-techniceskaja revoljucija i upravlenie (Hoffnungen und Illusionen. Wissenschaftlich-technische Revolution und Leitung). In: Novyj mir 48 (1972) 7, S. 147f. 65 L. Karpinski: Novaja rabocaja arena. Naucno-techniceskaja revoljucija i sovetskij rabocij klass (Die neue Arena der Arbeiter. Die wissenschaftlich-technische Revolution und die sowjetische Arbeiterklasse). In: Novyj mir 48 (1972) 5, S. 181. 66 L. Karpinski: Novaja rabocaja arena. Naucno-techniceskaja revoljucija i sovetskij rabocij klass (Die neue Arena der Arbeiter. Die wissenschaftlich-technische Revolution und die sowjetische Arbeiterklasse). In: Novyj mir 48 (1972) 5, S. 183. 67 W. Lipatow hatte sich beispielsweise dafür ausgesprochen, daß sich Literatur mehr jenen Arbeitern zuwende, deren Tätigkeit der der Ingenieure angenähert sei. Andere Arbeiter seien für die Literatur einfach uninteressant: „Jetzt gelingt es einem Arbeiter, der das Niveau eines Einrichters nicht erreicht hat, leider nicht, Technik und Arbeitsverfahren zu verbessern, und er, der Arbeiter, wird manchmal zum mechanischen Befehlsausführer. Ein solcher Mensch kann natürlich schwer zum Helden einer Novelle, eines Romans, einer Erzählung gemacht werden, und das Übel unserer ,Arbeiterliteratur' besteht darin, daß sie die Verwandlung des Arbeiters in den Einrichter und des Einrichters in den Ingenieur übersehen hat." W. Lipatow: Problemy dlja pisatelja (Probleme für den Schriftsteller). In: Voprosy literatury 15 (1971) 1, S. 47. 68 M. Lyssenko: Za predelami prochodnoj (Außerhalb des Werktores). In: Voprosy literatury 15 (1971) 1, S. 60. 69 Ebenda, S. 59. — Wörtlich heißt es dort: „Der Arbeiter hat die Grenzen des Werkes weit überschritten, sein Leben wurde voller, reicher, und deshalb kann uns Leser, uns Arbeiter, die Darstellung des Helden nur am Aggregat, während der Arbeit am Hochofen schon nicht mehr befriedigen — wir wollen ihn außerhalb des Werktores sehen." 70 I. Dworezki: Celovek so storony. (Der Mann von außerhalb). In: Teatr 1972, 10. 71 Vgl. Sovremennyj geroj, kakov on? Obsuzdaem p'esu I. Dvoreckogo „Celovek so storony". (Der Held der Gegenwart — wie ist er?. Wir diskutieren über das Stück von I. Dworezki „Der Mann von außerhalb"). In: Voprosy literatury 16 (1972) 8. S. 3 7 - 9 1 ; dt. Der Held von heute — wie ist er?. In: Kunst und Literatur 20 (1972) 11 — 12. 16
Hiersche, Sowjetlit.
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72 Vgl. Ju. Kusmenko: Problemy celoveceskie — problemy literaturnye (Menschliche Probleme — literarische Probleme). In: Voprosy literatury 15 (1971) 1, S. 7: „Anstelle des traditionellen ,Familien'-Romans entstand in der sowjetischen Prosa und fand weite Verbreitung der bis dahin unbekannte,Produktionsroman'. Aber es ist ganz offensichtlich, daß die Autoren des ,Neuland unterm Pflug', des ,Werkes im Urwald' oder des Wasserkraftwerkes' nicht die Produktion als solche interessierte. Das waren epische R o m a n e d e r s o z i a l i s t i s c h e n U m g e s t a l t u n g , wo die Schaffung von Kolchosen, Werken, Kombinaten, Kraftwerken als Formierungsprozeß einer neuen Persönlichkeit und neuer menschlicher Beziehungen in der kollektiven Arbeit, als Prozeß massenhaften sozialen Schöpfertums, einer wirklichen .Erschaffung der Welt' vor den Augen der Leser erstand." — Zum Problem „Produktionsroman" vgl. die Ausführungen des Verfassers im Buch Mullinationale Sowjetliteratur. Berlin 1975, S. 5 2 8 - 5 3 1 . 73 Vgl. W. Oserow: Die Herausbildung des Charakters und der Standpunkt des Autors. In: Kunst und Literatur 20 (1972) 12, S. 1306. 74 I. Dworezki: Seine Arbeit gut verrichten. In: Kunst und Literatur 20 (1972) 12, S. 1300. 75 F. Kusnezow: Vstreci s grjaduscem (Begegnungen mit der Zukunft). In: Literalurnoe obozrenie (1973) 1, S. 52. 76 I. Dworezki: Celovek so storony (Der Mann von außerhalb). In: Teatr 1972, 10, S. 167. 77 Ebenda, S. 171. 78 I. Dworezki: Seine Arbeit gut verrichten. In: Kunst und Literatur 20 (1972) 12, S. 1302. 79 Vgl. L. Anninski: Bitva na polputi (Schlacht auf halbem Wege). In: Teatr 1972, S. 2. 80 I. Dworezki: Celovek so storony (Der Mann von außerhalb). In: Teatr 1972, 10, S. 176. 81 Ebenda, S. 184. 82 Ebenda, S. 183. 83 Ebenda, S. 190. 84 G. Kulagin: Wesenszüge eines Leiters der Industrie von heute. In: Kunst und Literatur 20 (1972) 11, S. 1137 f. 85 Gennadi Bokarjew: Stahlschmelzer. Michail Schatrow: Das Wetter für morgen. Berlin 1974. 86 Karl-Heinz Jakobs: Die Interviewer. Berlin 1973, S. 226—227. 87 Vgl.: Irene Böhme: . . . wie auf dem Tablett. In: Theater der Zeit 28 (1973) 10, S. 8—9. Die sowjetische Rezension zu Bokarjews Stahlschmelzer gibt eine differenziertere Wertung der Helden beider Dramen, vgl.: Irina Patrikejewa: „Stahlgießer" im MCHAT. In: Ebenda, S. 6—7.
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88 Vgl. Trudovoj semestr (Das Arbeitssemester). In: Pravda v. 20. 6. 1973, S. 1. 89 Michail Schatrow: Campanella und der Kommandeur. In: Theater der Zeit 28 (1973) 7, S. 59. 90 Ebenda, S. 52. 91 Ebenda, S. 53. 92 Ebenda. 93 Ebenda, S. 54. 94 Ebenda, S. 56. 95 Ebenda, S. 63. 96 Vgl.: Manfred Nössig: Wege der Jungen. In: Theater der Zeit 28 (1973) 10, S. 10. 97 Michail Schatrow: Campanella und der Kommandeur. In: Theater der Zeit 28 (1973) 7, S. 56f. 98 W. Solouchin: V zaacitu poezii (Zur Verteidigung der Poesie). In: Literaturnaja gazeta v. 27. 2. 1960, S. 4. 99 MEW, Bd. 20, S. 453. 100 101 102 103
MEW, Erg.-Bd., Erster Teil, S. 516. MEW, Bd. 32, S. 53. MEW, Bd. 25, S. 828. I. Laptew: Priroda — zizn' — celovek (Natur — Leben — Mensch). In: Nas sovremennik 9 (1972) 9, S. 11.
104 L. I. Breshnew: Rechenschaftsbericht des Zentralkomitees der KPdSU an den XXIV. Parteitag der Kommunistischen Partei der Sowjetunion. In: Der XXIV. Parteitag der Kommunistischen Partei der Sowjetunion. Berlin-Moskau 1971, S. 108. 105 Vgl. E. Fjodorow: Aktual'nye problemy vzaimodejstvija obscestva i prirodnoj sredy (Aktuelle Probleme der Wechselwirkung von Gesellschaft und natürlicher Umwelt). In: Kommunist 49 (1972) 14, S. 70 bis 81. — Vgl. in diesem Zusammenhang auch die Diskussion: Celovek i sreda ego obitanija (Der Mensch und seine Lebenssphäre). In: Voprosy filosofii 1973, 1—4. — Vgl. ferner den Bericht über die Vollversammlung der Akademie der Wissenschaften der UdSSR vom 21. bis 22. 6. 1973: Ochrana biosfery — delo vsego celovecestva (Der Schutz der Biosphäre — eine Sache der ganzen Menschheit). In: Priroda 1973, 8, S. 107. 106 Internationale Diskussionen von Marxisten. Der Umweltschutz. In: Probleme des Friedens und des Sozialismus 15 (1972) 6, S. 734—765. 107 Zit. nach I. Laptew: Priroda — zizn' — celovek (Natur — Leben — Mensch). In: Nas sovremennik 9 (1972) 9, S. 15. 108 P. N. Fedossejew: Vzaimootnosenie kul'tury i morali (Das Wechselverhältnis von Kultur und Moral). In: Znamja 44 (1974) 5, S. 182 (Über16'
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arbeiteter Vortrag vor dem XV. Weltkongreß der Philosophen, Warna, September 1973). 109 A. Wosnessenski: Vzgljad (Der Blick). Moskau 1972, S. 204. 110 Vgl. A. Metschenko: Vecnyj zov i pozyvnye veka (Der ewige Ruf und die Rufzeichen des Jahrhunderts). In: Moskva 16 (1972) 4, S. 209. 111 D. Kugultinow: O prirode (Über die Natur). In: D. Kugultinow: Bliz' i dal' (Nähe und Ferne). Moskau 1972, S. 218. 112 L. Martynow: Krasota (Die Schönheit). In: L. Martynow: Giperboly (Hyperbeln). Moskau 1972, S. 14. 113 L. Martynow: Cvety (Blumen). In: Junost' 1972, 6, S. 56. 114 I. Laptew: Priroda — zizn' — celovek (Natur — Leben — Mensch). In: Nas sovremennik 9 (1972) 9, S. 15. 115 L. Nowitschenko/Tsch. Aitmatow: Neizbeznost' garmonii (Die Unvermeidlichkeit der Harmonie). In: Literaturnaja gazeta v. 1. 1. 1973, S. 5. 116 Nauka, celovek, nravstvennost'. Obsuzdaem kinofil'm „Soljaris" (Wissenschaft, Mensch, Ethos. Wir diskutieren den Film „Solaris"). In: Voprosy literatury 17 (1973) 1, S. 100. 117 L. Martynow: Zemnye blaga (Güter der Erde). In: L. Martynow: Giperboly (Hyperbeln). Moskau 1972, S. 22. 118 Nauka, celovek, nravstvennost'. Obsuzdaem kinofil'm „Soljaris" (Wissenschaft, Mensch, Ethos. Wir diskutieren den Film „Solaris"). In: Voprosy literatury 17 (1973) 1, S. 92. 119 I. Laptew: Priroda — zizn' — celovek (Natur — Leben — Mensch). In: Nas sovremennik 9 (1972) 9, S. 2. 120 E. Miezelaitis: Der Mensch. Berlin 1967. 121 E. Miezelaitis: Liriceskie étjudy (Lyrische Etüden). In: E. Miezelaitis: Kontrapunkt. Liriceskaja prosa (Kontrapunkt. Lyrische Prosa). Moskau 1972, S. 202 u. 185. 122 A. Schogenzukow: Kabardinskie sonety (Kabardinische Sonette). In: Druzba narodov 1973, 2, S. 61. 123 Zit. nach A. Metschenko: Vecnyj zov i pozyvnye veka (Der ewige Ruf und die Rufzeichen des Jahrhunderts). In: Moskva 16 (1972)4, S. 211. 124 K. Kulijew: Gde-to bomb vodorodnych rastut stabelja (Irgendwo wachsen die Stapel mit Wasserstoffbomben). In: K. Kulijew: Kniga zemli (Buch der Erde). Moskau 1972, S. 183. 125 Ebenda. 126 K. Kulijew: Rakety uletajut na Lunu (Die Raketen fliegen zum Mond). In: K. Kulijew: Kniga zemli ( Buch der Erde). Moskau 1972, S. 139f. 127 E. Strittmatter: Die kleine Fabrik. In: E. Strittmatter: Schulzenhofer Kramkalender. Berlin 1967, S. 103. 128 W. Solouchin: H o m o sapiens. In: Nas sovremennik 9 (1972) 9, S. 134. 129 Ebenda, S. 36.
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130 Ebenda. 131 Zum Problem Sewan-See vgl. S. Daronjan: Priblizenie k geroju (Annäherung an den Helden). In: Literaturnoe obozrenie 1973, 7, S. 63 bis 70. — Daronjan schreibt: „Die komplexe Nutzung der Wasser des Sewan war die Haupttriebkraft zur Entwicklung der Wirtschaft Armeniens." (S. 66). 132 MEW, Bd. 20, S. 452. 133 Nauka, celovek, nravstvennost'. Obsuzdaem kinofll'm „Soljaris" (Wissenschaft, Mensch, Ethos. Wir diskutieren den Film „Solaris"). In: Voprosy literatury 17 (1973) 1, S. 70. 134 I. Laptew: Priroda — zizn' — celovek (Natur — Leben — Mensch). In: Nas sovremennik 9 (1972) 9, S. 14. 135 A. Wosnessenski: Vzgljad (Der Blick). Moskau 1972, S. 196 u. 199. 136 G. Chromuschin: Naucno-techniceskaja revolucija i ideologiceskaja bor'ba (Wissenschaftlich-technische Revolution und ideologischer Kampf). In Novyj mir 48 (1972) 3, S. 172. 137 I. Laptew: Priroda — zizn' — celovek (Natur — Leben — Mensch). In: Nas sovremennik 9 (1972) 9, S. 7. 138 E. Rosental, zit. nach G. Chromuschin: Naucno-techniceskaja revoljucija i ideologiceskaja bor'ba (Wissenschaftlich-technische Revolution und ideologischer Kampf). In: Novyj mir 48 (1972) 3, S. 172. 139 Interview mit dem Präsidenten des Klubs von Rom Aurelio Peccei. Die Grenzendes Wachstums. In: UNESCO Kurier 14(1973) 1, S. 11 f. 140 J. de Castro: Umweltproblem Nr. 1: Unterentwicklung. In: Ebenda, S. 22. 141 G. Chromuschin: Naucno-techniceskaja revoljucija i ideologiceskaja bor'ba (Wissenschaftlich-technische Revolution und ideologischer Kampf). In: Novyj mir 48 (1972) 3, S. 173. 142 V Central'nom Komitete KPSS i Sovete ministrov SSSR. Ob usilenii ochrany prirody i ulucsenii ispol'zovanija prirodnych resursov (Aus dem Zentralkomitee der KPdSU und dem Ministerrat der UdSSR wird mitgeteilt. Über die Verstärkung des Naturschutzes und die Verbesserung der Ausnutzung der Naturreserven). In: Pravda v. 10. 1. 1973, S. 1. 143 I. Laptew: Priroda — zizn' — celovek (Natur — Leben — Mensch). In: Nas sovremennik 9 (1972) 9, S. 14. 144 Ochrana biosfery — delo vsego celovecestva (Der Schutz der Biosphäre — eine Sache der ganzen Menschheit). In: Priroda 1973, 8, S. 107. 145 V. Kunin: Kompas — dlja dalnej dorogi (Ein Kompaß für einen weiten Weg). In: Literaturnaja gazeta v. 13. 6. 1973, S. 10. 146 Ebenda. 147 L. Martynow: Vozduch (Luft). In: Vo-pervych, vo-vtorych, v-tret'ich (Erstens, zweitens, drittens). Moskau 1972, S. 228.
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148 Vgl. Jürgen Kuczynski: Das Gleichgewicht der Null. Berlin 1973. 149 MEW, Bd. 19, S. 104. F. Engels spricht hier von der „Befriedigung aller nationeilen Bedürfnisse". 150 L. Nowitschenko/Tsch. Aitmatow: Neizbeznost' garmonii (Die Unvermeidlichkeit der Harmonie). In: Literaturnaja gazeta v. 1. 1. 1973, S. 5. 151 E. Strittmatter: Wie ich meinen Großvater kennenlernte. In: E. Strittmatter: Die blaue Nachtigall. Berlin 1972, S. 22. 152 A. Wosnessenski: Vzgljad (Der Blick). Moskau 1972, S. 88. 153 L. Martynow: Zavody (Die Werke). In: Vo-pervych, vo-vtorych, v-tret'ich (Erstens, zweitens, drittens). Moskau 1972, S. 143. 154 D. Kugultinow: Zakon dvizenija (Das Gesetz der Bewegung). In: D. Kugultinow: Bliz' i dal' (Nähe und Ferne). Moskau 1972, S. 74. 155 Tsch. Aitmatow: Der weiße Dampfer. Berlin 1971, S. 113. 156 Ch. Wolf: Lesen und Schreiben: Berlin 1971, S. 219. 157 L. Nowitschenko/Tsch. Aitmatow: Neizbeznost' garmonii (Die Unvermeidlichkeit der Harmonie). In: Literaturnaja gazeta v. 1. 1. 1973, S. 5. 158 Vgl. Im Brennpunkt des Meinungsstreits „Der weiße Dampfer" von Tschingis Aitmatow: In: Kunst und Literatur 20 (1972) 3, S. 241 bis 264. 159 A. Alimshanow: Tragödie in der Försterei. In: Ebenda, S. 257. 160 Tsch. Aitmatow: Eine notwendige Präzisierung. In: Ebenda, S. 262f. 161 W. Neubert: Erwin Strittmatter: 3/4-hundert Kleingeschichten. In: Neue deutsche Literatur 19 (1971) 9, S. 147. 162 P. N. Fedossejew: Vzaimootnosenie kul'tury i morali (Das Wechselverhältnis von Kultur und Moral). In: Znamja 44 (1974) 5, S. 171 u. 182. 163 W. Solouchin: „Märchen schreibt man für Mutige". In: Im Brennpunkt des Meinungsstreits „Der weiße Dampfer". In: Kunst und Literatur 20 (1972) 3, S. 246 f. 164 I. Laptew: Priroda — zizn' — celovek (Natur — Leben — Mensch). In: Nas sovremennik (1972) 9, S. 5. 165 MEW, Bd. 20, S. 453. 166 Tsch. Aitmatow: Eine notwendige Präzisierung. In: Kunst und Literatur 20 (1972) 3, S. 261. 167 B. Wassiljew: So stille Dämmerstunden. Berlin 1973. 168 B. Wassiljew: Ne streljajte v belych lebedej (Schießt nicht auf weiße Schwäne). In: Junost' 1973, 6—7. 169 A. Wosnessenski: Vzgljad (Der Blick). Moskau 1972, S. 304. 170 A. Metschenko: Vecnyj zov i pozyvnye veka (Der ewige Ruf und die Rufzeichen des Jahrhunderts). In: Moskva 16 (1972), 4, S. 211. 171 S. Gerassimow: U ozera(Am See). In: Iskusstvokino 1968,11,S. 188f.
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172 E. Miezelaitis: Liriceskie etjudy (Lyrische Etüden). In: E. Miezelaitis: Kontrapunkt. Liriceskaja proza (Kontrapunkt. Lyrische Prosa). Moskau 1972, S. 202. 173 L. Martynow: Giperboly (Hyperbeln). Moskau 1972, S. 59. 174 Ebenda, S. 166f. 175 Lenin, Bd. 19, S. 237. 176 L. I. Breshnew: Über den 50. Jahrestag der Union der sozialistischen Sowjetrepubliken. In: Neues Deutschland v. 22. 12. 1972, S. 4. 177 Ebenda. 178 Ebenda. 179 G. Lomidse: Jasnoe i spornoe(Klaresund Strittiges). In: Nacional'noe i internacionarnoe v sovetskoj literature (Nationales und Internationales in der Sowjetliteratur). Moskau 1971, S. 27. 180 Tsch. Aitmatow: Das Maß des Lebens ist das M a ß der Zeit. In: Sowjetliteratur 25 (1973) 6, S. 122. 181 Lenin schrieb in den Kritischen Bemerkungen zur nationalen Frage, in der Polemik mit dem Bundisten Libman: „Ja, die internationale Kultur ist nicht anational, verehrter Bundist. Niemand hat das gesagt. Niemand hat weder eine ,rein' polnische, noch jüdische, noch russische usw. Kultur verkündet [. . .]" Im Anschluß an diese Polemik entwickelt Lenin dann die Lehre von den zwei Kulturen in einer Nation. — Lenin, Bd. 20, S. 8. 182 V. Panowa: Skazanie ob Ol'ge. — Feodorec, Belyj Klobucok (Die Sage über Öleg. — Feodorez mit der weißen Kappe). In: Zvezda 1966, 10. 183 J. Marcinkievicius: Mindaugas. In: Druzba narodov 1972, 2. 184 J. Avyzius: Poterjannyj krov (Verlorenes Obdach). In: Druzba narodov 1971, 8—11. Dt. J. Avyzius: Zeit der verödeten Höfe. Berlin 1974. 185 I. Melesh: Polesskaja chronika (Polessische Chronik). [l.Buch]: Ljudi na bolote (Menschen im Moor). Moskau 1962; [2. Buch]: Dychanie grozy (Atem des Gewitters). In: Druzba narodov 1967, 5—7. Dt. Menschen im Sumpf, Berlin 1974. 186 O. Hontschar: Sobor (Die Kathedrale). In: Vitcyzna 1968, 1. 187 I. Drutä: Bremja nasej dobroty (Die Last unserer Güte). [1. Buch]: Stepnye ballady (Steppenballaden). In: Druzba narodov 1963, 3. [2. Buch]: Bremja nasej dobroty (Die Last unserer Güte). In: Druzba narodov 1968, 1; dt. I. Drutä: Die Last unserer Güte, Berlin 1972. 188 R. Gamsatow: Moj Dagestan (Mein Dagestan); 1. Büch in: Novyj mir 44 (1967) 9 - 1 1 , 2 . Buch in: Novyj mir 47 (1971) 9 - 1 2 , dt. R. Gamsatow: Mein Dagestan. In: Sowjetliteratur 20 (1968) 11. 189 G. Matewossjan: My i nasi gory (Wir und unsere Berge). In: Literaturnaja Armenija 1965, 6—8, dt. H. Matewossjan: Das Schelmenstück der Hammeldiebe. Berlin 1969.
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190 Tsch. Aitmatow: Djamilja: In: Novyj mir 34(1958) 8, dt. Tsch. Aitmatow: Djamila. In: Ders.: Goldspur der Garben. Berlin 1964. — Ders.: Proscaj, Gul'sary! (Leb wohl, Gulsary!). In: Novyj mir 42 (1966) 3, dt. Tsch. Aitmatow: Abschied von Gulsary. Berlin 1968. 191 A. Nurpeissow: Kröv' i pot (Blut und Schweiß). [1. Buch]: Sumerki (Morgendämmerung). In: Druzba narodov 1965, 11 — 12. [2. Buch]: Mytarstva (Irrwege). In: Druzba narodov 1967, 12; [3. Buch]: Krusenie (Der Zusammenbruch). In: Druzba narodov 1972, 10—12. — Dt. A. Nurpeissow: Morgendämmerung. Berlin-Weimar 1971; ders.: Irrwege. Berlin-Weimar 1972; ders.: Untergang. Berlin-Weimar 1974. 192 Ju. Rytcheu; Son v nacale tumana (Traum zu Beginn des Nebels). In: Neva 15 (1969) 10; ders.: Inej na doroge (Reif auf dem Wege). In: Neva 16 (1970) 9—11. — Dt. J. Rytcheu: Traum im Polarnebel. Berlin 1973. 193 G. Chodsher: Belaja tisina (Weiße Stille). In: Dalnij Vostok 1967, 4-6. 194 S. Kurilow: Chanido i Chalercha (Chanido und Chalercha). 1. Buch in: Poljarnada zvezda 1968, 5—6; 2. Buch in: Poljarnaja zvezda 1971, 4, 6, 1972, 1—2. — Ju. Schestalow: Kogda kacalo menja solnce (Als mich die Sonne wiegte). Moskau 1972. — V. Sangi: Tyngraj. Moskau 1970. 195 G. Lomidse: Leninizm i sud'by nacional'nych literatur (Der Leninismus und das Schicksal der Nationalliteraturen). Moskau 1972, S. 254f. 196 A. Jakowlew: Protiv antiistorizma (Wider den Antihistorismus). In: Literaturnaja gazeta v. 15. 11. 1972, S. 5. 197 V. Below: Privycnoe delo (Eine gewöhnliche Sache). In: Sever 1966, 1; dt. Sind wir ja gewohnt. In: Sowjetliteratur 21 (1969) 1. 198 V. Gussew: O proze, derevne i cel'nych ljudjach (Über die Prosa, das Dorf und die unverdorbenen Menschen). In: Literaturnaja gazeta v. 14. 2. 1968, S. 6. 199 F. Abramow: Brat'ja i sestry (Brüder und Schwestern). [l.Büch]: Brat'ja i sestry. In: Neva 4 (1958) 9; [2. Buch]: Dve zimy i tri leta (Zwei Winter und drei Sommer). In Novyj mir 44 (1968) 1—3; [3. Buch]: Puti-pereput'ja (Wege und Kreuzwege). In: Novyj mir 49 (1973) 1—2. 200 S. Salygin, zit. bei A. Metschenko: Vecnyj zov i pozyvnye veka (Der ewige Ruf und die Rufzeichen des Jahrhunderts). In: Moskva 16 (1972) '4, S. 203. 201 W. Tschalmajew: Neizbeznost' (Unvermeidlichkeit). In: Molodaja gvardija 1968, 9, S. 287. 202 J. Starikowa: Der soziologische Aspekt der heutigen „Dorfprosa". In: Kunst und Literatur 21 (1973) 1, S. 63. 203 Ebenda, S. 51.
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204 Zit. bei A. Metschenko: Vecnyj zov i pozyvnye veka (Der ewige Ruf und die Rufzeichen des Jahrhunderts). In: Moskva 16 (1972) 4, S. 208. 205 Vgl. hierzu Ju. Surowzew: O nacional'noj samobytnosti i „fantasticeski vycurnoj ljubvi" k nej (Über die nationale Bodenständigkeit und die „phantastisch gezierte Liebe" zu ihr). In: Literaturnoe obozrenie 1973, 2, S. 60—70; ferner A. Jakowlew: Protiv antiistorizma (Wider den Antihistorismus). In: Literaturnaja gazeta v. 15. 11. 1972, S. 4. 206 J. Starikowa: Der soziologische Aspekt der heutigen „Dorfprosa". In: Kunst und Literatur 21 (1973) 1, S. 65. 207 J. Drutä: Die Last unserer Güte. Berlin 1972. 208 J. Drutä: Pticy nasej molodosti (Vögel unserer Jugend). In: Teatr 1972, 1. 209 Ebenda, S. 175 f. 210 Ebenda, S. 174. 211 Ebenda, S. 185. 212 Ebenda, S. 190f. 213 A. Seghers: Wird der Roman überflüssig? In: Neues Deutschland v. 23. 5. 1973, S. 4. 214 Ch. Wolf: Lesen und Schreiben. Berlin 1971. 215 V. Schklowski: Po povodu novogo sbornika Andreja Voznesenskogo (Über den neuen Gedichtband Andrej Wosnessenskis). In: Literaturnoe obozrenie 1973, 1, S. 94. 216 B. Brecht: An die Nachgeborenen. In: B. Brecht: Gedichte. Bd. IV. Berlin 1961, S. 148. 217 F. Burlazki: Nadezdy i illjuzii. Naucno-techniceskaja revoljucija i upravlenie (Hoffnungen und Illusionen. Wissenschaftlich-technische Revolution und Leitung). In: Novyj mir 48 (1972) 7, S. 169. 2T8" Ebenda. 219 S. Salygin: Juznoamerikanskij variant (Die südamerikanische Variante). In: Nas sovremennik 10 (1973), 1, S. 68. 220 Ch. Wolf: Lesen und Schreiben. Berlin 1971, S. 183. 221 W. Lipatow/M. Sluckis/S. Chandsadjan: Ritmy epochi (Rhythmen der Epoche). In: Literaturnaja gazeta v. 5. 11. 1972, S. 4. 222 Ebenda. 223 D. Granin: Sojuz, prodiktovannyj vremenem (Ein Bund, von der Zeit gefordert). In: Chudozestvennoe i naucnoe tvorcestvo (Künstlerisches und wissenschaftliches Schöpfertum). Leningrad 1972, S. 10—11. 224 V. Beekman: Anturaz i personal (Handlungsmilieu und literarische Figur). In: Literaturnoe obozrenie 1973, 9, S. 52. 225 E. Miezelaitis: Nocnye babocki (Nachtfalter). In: E. Miezelaitis: Kontrapunkt. Liriceskaja prosa (Kontrapunkt. Lyrische Prosa). Moskau 1972, S. 356. 226 Ch. Wolf: Lesen und Schreiben. Berlin 1971, S. 210.
237
227 L. Martynow: Koroce, koroce, koroce (Kürzer, kürzer, kürzer). In: Vo-pervych, vo-vtorych, vo-tret'ich (Erstens, zweitens, drittens). Moskau 1972, S. 157. 228 J. Avyzius: Derevnja na pereput'e (Das Dorf am Kreuzwege). Vilnjus 1964; O. Hontschar: Ciklon (Der Zyklon). In: Druzba narodov 1970, 8, dt. O. Hontschar: Der Zyklon. Berlin 1972. 229 D. Granin: Povest' ob odnom ucenom i odnom imperatore (Erzählung von einem Gelehrten und einem Kaiser). In: Druzba narodov 1971, 1; dt. Der Gelehrte und der Kaiser. In: Erlesenes. Berlin 1973. 230 D. Granin: Der Gelehrte und der Kaiser. In: Erlesenes. Berlin 1973, S. 118-119. 231 I. Drutä: Osypalas' listva na vinogradnikach (Das Laub ist von den Rebstöcken gefallen). In: Junost' 1972, 8. — Diese Erzählung ist zusammen abgedruckt mit folgenden, die offensichtlich einen — nicht betitelten — Zyklus bilden: Splosnye nevezenija (Lauter Pech), Svoi ljudi (Menschen, die einem nahe sind), Cernye ceresni (Schwarze Kirschen), Napadenie gunnov (Der Einfall der Hunnen). 232 I. Drutä: Osypalas' listva na vinogradnikach (Das Laub ist von den Rebstöcken gefallen). In: Ebenda, S. 7.
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233 Ebenda. 234 W. Bykau: Krugljanskij most (Die Brücke von Krugljany). In: Novyj mir 45 (1969) 3, S. 20. 235 I. Schamjakin: Serdce na ladoni (Das Herz auf der Hand). In: Druzba narodov 1964, 1—3; dt. I. Schamjakin: Niemand ist allein. Berlin 1967. — A. Adamovic: Partizany (Partisanen). Dilogie, bestehend aus: Vojna pod krysami (Krieg unter den Dächern). In: Druzba narodov 1960, 8—9; Synov'ja uchodjal v boj (Die Söhne ziehen in den Kampf). In: Druzba narodov l'Hi's " s I' Silin: f e r e z kladbisce(Überden Friedhof). In: Znamja (1962) 7. dl. P Nilin: Über den Friedhof. Berlin 1963. 236 W. Bykau: Obelisk (Der Obelisk). In: Novyj mir 48 (1972) 1, S. 4 4 . ' Von Bykau sind bisher in der D D R erschienen: Die dritte Leuchtkugel. Berlin 1964; Alpenballade. Berlin 1970; Die Schlinge. Berlin 1972; Der „Obelisk" ist in Vorbereitung. 237 Ebenda, S. 4. 238 W. Bykau: Krugljanskij most (Die Brücke von Krugljany). In: Novyj mir 45 (1969) 3, S. 20. 239 Jan Drda: Die stumme Barrikade. Berlin 1951. 240 Tsch. Aitmatow: Eine notwendige Präzisierung. In: Kunst und Literatur 20(1972) 3, S. 261. 241 W. Bykau: Obelisk (Der Obelisk). In: Novyj mir 48 (1972) 1, S. 43. 242 Ebenda, S. 14. 243 Ebenda, S. 27.
238
244'Ebenda, S. 21. 245 B. Sutschkow: Historische Schicksale des Realismus. Berlin 1973, S. 495. — B. Sutschkow nennt drei Strömungen — eine erste, die „das Leben in objektiven, in der Realität selbst existierenden Formen" nachzeichnet, eine zweite, die „das Leben in konventionell-metaphorisch verschlüsselter F o r m " wiedergibt, und eine dritte, die den Gegenstand „lyrisch-pathetisch" behandelt. Demnach gehörten Granin und Bykau zur ersten, Drutä zur dritten Strömung. 246 G. Lomidse: Tvorceskaja okrylennost' i bratskoe edinenie (Schöpferischer Schwung und brüderliche Einigkeit). In: Znamja 42 (1972) 12, S. 243. 247 A. Wosnessenski/W, Ognew: Dialog o poezii (Dialog über Lyrik). In: Junost' 1973, 9, S. 76. 248 Ebenda, S. 77. 249 D. Granin: Razmyslenija pered portretom, kotorogo net (Gedanken vor einem Porträt, das es nicht gibt). In: D. Granin: Sad kamnej (Der Garten der Steine). Moskau 1972, S. 155 f.
Personenregister
Abramow, F. A. 165 169 170 171 173 174 176 195 220 Achmadulina, B. A. 33 Adamowitsch, A. M. 202 Aitmatow, Tsch. 32—34 41 52 78 81 87 114 116 136-138 140-147 150 164 167 168 178 184 201 209 210 220 Alimshanow, A. 142 Antokolski, P. G. 27 28 30 46 Arago, François 196 197 Arutjunow, L. N. 7 Astafjew, V. P. 174 Auesow, M. 81 142 167 Avicenna (eigtl. Ibn Sinâ, Abu Ali
Bykau, W. W. 33 34 201-205 207. 208 210 212 213 220
al-Husain) 138 Avyzius, J. 165 186 194 Axjonow, W. P. 33
Ehrenburg, I. G. 25 27 30 31 76 86 Einstein, Albert 12 39 52 Engelgardt, W. A. 27 Engels, Friedrich 14 110 130 147 153
Bach, Johann Sebastian 26 38 Baklanow, G. Ja. 32 116 204 Becher, Johannes R. 51 Below, W. I. 51 78 165 169-171 173 174 176 220 Block, A. A. 25 26 Bokarjew, G. 83 84 94 220 Bondarew, Ju. W. 31 32 204 Borschtschukow, W. I. 7 Botscharow, A. 18 19 21 Bruno, Giordano 73 Brzezinski, Zbigniew 13 Burd 70
Calley, William 63 Chodsher, G. 167 Davy, Humphrey 72 Dostojewski, F. M. 27 63 187 210 212 Drda, Jan 206 Drutä, I. 51 166 175 176-186 199-201 214 220 Dworezki, I. M. 8 3 - 9 8 108 220 Dymschitz, A. L. 7
Fadejew, A. A. 81 142 170 175 Fedin, K. A. 31 Fedossejew, P. N. 112 143 Feoktistow, K. 118 Fermi, Enrico 29 65 72 Fraas, Karl Nikolaus 110 Furmanow, D. A. 170 175 Gagarin, Ju. A. 118 Galilei, Galileo 73 Gamsatow, R. 51 166 186
241
Gej, N. K. 7 Gerassiraow, M. P. 131 Gladilin, A. T. 33 Gladkow, F. W. 81 86 88 214 Goethe, Johann Wolfgang von 9 Gogol, N. W. 27 Gorki, M. (eigtl. Peschkow, A. M.) 44 81 116 170 175 177 Granin, D. A. 20 21 31 6 5 - 7 4 78 88 191 194-199 201 214 219 220
Lern, Stanislaw 118 Lenin, W. I. 32 111 134 162 Leonardo da Vinci 131 Leonow, L. M. 28 35 41 81 86 114 131 175 220 Lipatow, W. W. 33 83 Lomidse, G. I. 7 164 Lugowskoi, W. A. 31 Lukäcs, Georg 39 81
Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 37 Heydrich, Reinhard 206 Hontschar, O. 33 165 195 204 Huxley, Aldous Leonhard 94 Iljenkow, E. 22 23 38 40 Jakobs, Karl-Heinz 95 Jegorow, A. 22 Jewtuschenko, J. A. 33 Kahn, Hermann 13 Kasakewitsch, E. G. 32 Kasakow, Jü. P. 151 Katajew, W. P. 32 33 Kolessnikow, M. 20 66 Koshewnikow, W. M. 32 33 78 82 90 Kotschetow, W. A. 81 82 Kowski, W. 7 22 Krutilin, S. A. 33 Krymow, Ju. (eigtl. Beklemischew, Ju. S.) 86 88 90 Kugultinow, D. N. 52 114 139 220 Kulagin, G. 92 Kulijew, K. Sch. 52 120 121 123 220 Kurilow, S. 167 186 Kusnezow, F. 22 88 Kuusberg, P. 165 Landau, L. 27 Laptew, I. 131 145
Majakowski, W. W. 81 170 189 Malyschkin, A. G. 86 Marcinkievicius, J. 165 Marcuse, Herbert 106 Martynow, L. N. 4 3 - 5 5 64 74 115 117 122 135 136 139 157-161 193 194 220 Marx, Karl 78 110 111 Matewossjan, H. 1. 166 186 Medina 63 Melesh, I. P. 165 194 Metschenko, A. 21 22 113 152 Miezelaitis, E. 28 33 77 118 120 157 192 Mindaugas 165 Muchtar, A. 137 Müller, Heiner 214 Napoleon I. Bonaparte 196 197 Nikolajewa, G. Je. (eigtl. Woljanskaja) 82 85 88 Nilin, P. F. 202 Nowitschenko, L. N. 116 Nurpeissow, A. 167 186 195 Oppenheimer, J. Robert 70 71 Osmanowa, S. G. 7 Ostrowski, N. A. 88 170 Owtscharenko, A. I. 7 Panowa, W. F. 165 Paustowski, K. G. 31 42 151 Pawlenko, P. A. 88
242
Peccei, Aurelio 132 Petrow, W. W. 72 73 78 195 Planck, Max 12 39 Plenzdorf, Ulrich 100 Pogodin, N. F. 81 Poincaré, Henri 71 Poletajew, I. A. 2 5 - 2 9 38 39 76 109 Popow, W. F. 83 Prischwin, M. M. 42 151 Puschkin, A. S. 172 211
Sluzki, B. A. 26 45 122 Solouchin, W. 1 7 - 1 9 109 110 126-131 138 144 151 201 220 Starikowa, Je. 172 174 Strittmatter, Erwin 41 42 120 125 136 137 141 151 188 201 Stubbe, Hans 78 Sutschkow, B. L. 7 214
Raffael (eigtl. Santi, RafTael) 131 Rokossowski, K.. K. 32 Roshdestwenski, R. I. 33 Rylenkow, N. I. 120 122 Rytchéu, Ju. S. . 167 186
Tolstoi, L. N. 27 38 172 2 1 0 - 2 1 2 Trojepolski, G. N. 152 Tschechow, A. P. 27 Tschuikow, W. I. 32 Turgenjew, I. S. 116 210 Twardowski, A. T. 28 31 170 175
Sahrebelny, P. A. 20 189 Salygin, S. P. 32 171 189 Sangi, W. 167 Schamjakin, I. P. 202 Schatrow, M. F. 7 5 - 7 7 79 83 9 7 - 1 0 0 1 0 3 - 1 0 8 178 220 Schestalow, Ju. 167 Schirokow, F. 3 8 - 4 0 50 Schklowski, V. B. 56 61 188 Schogenzukow, A. A. 120 Scholochow, M. A. 29 41 81 170 175 Schtemenko, S. M. 32 Seghers, Anna 171 187 188 201 Shakespeare, William 142 Shukow, G. K. 32 Simonow, K. M. 32 63 178 195 204 Sluckis, M. 1 9 - 2 1 189 194
Tarkowski, A. 119 Toffler, Alwin 13 Tolstoi, A. N. 81
Urban, A. 55 Uschakow, A. M. 7 Wassiljew, B. 147 150 201 204 209 220 Weinberg, I. 7 Wernadski, W. I. 112 Wischnewski, W. W. 81 Wolf, Christa 78 141 187 189 192 201 Wosnessenski, A. A. 32 33 43 51 5 4 - 5 6 58 59 6 1 - 6 4 74 112 113 122 131 135 138 139 150 188 215 218 220 Zanussi, Krzysztof 119 Zweig, Stefan 196