Literatur einer sozialistischen Gemeinschaft: Zur Herausbildung und Entwicklung der multinationalen Sowjetliteratur (1917–1941) [Reprint 2022 ed.] 9783112646922


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Inhalt
Plädoyer für eine neue, sozialistische Weltliteratur
Aufbruch zu schöpferischer Einheit
Einheit und Vielfalt der Sowjetliteratur
Anmerkungen
Personenregister
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Literatur einer sozialistischen Gemeinschaft: Zur Herausbildung und Entwicklung der multinationalen Sowjetliteratur (1917–1941) [Reprint 2022 ed.]
 9783112646922

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L. I. Timofejew / G. J. Lomidse

Literatur einer sozialistischen Gemeinschaft

Literatur und Gesellschaft Herausgegeben von der Akademie der Wissenschaften der DDR Zentralinstitut für Literaturgeschichte

Leonid I. Timofejew / Georgi J. Lomidse

Literatur einer sozialistischen Gemeinschaft Zur Herausbildung und Entwicklung der multinationalen Sowjetliteratur (1917—1941)

Akademie-Verlag • Berlin

1975

Übersetzung aus dem Russischen: Anneliese Globig Fachwissenschaftliche Redaktion: Peter Kirchner

Erschienen im Akademie-Verlag, 108 Berlin, Leipziger Straße 3—4 Copyright 1975 by Akademie-Verlag Lizenznummer: 202 • 100/181/75 Gesamtherstellung: IV/2/14 VEB Druckerei »Gottfried Wilhelm Leibniz«, 445 Gräfenhainichen/DDR • 4440 Bestellnummer: 752 6309 (2150/28) • LSV 8031 Printed in G D R EVP 7 , -

Inhalt

Plädoyer für eine neue, sozialistische Weltliteratur . . 7

L. 1. Timofejew Aufbruch zu schöpferischer Einheit Sowjetische Nationalitätenpolitik und sozialistische Kulturrevolution Überwindung nationaler Selbstbeschränkung . . . . Ausprägung des Nationalen im Gesamtstaatlichen . . Lenin - historisch-reales Ideal des neuen Menschen Kampf der beiden Welten - Grundstein zu schöpferischer Einheit Literarische Gruppierungen - ihre Leistungen und ihre Grenzen Vom Ringen um eine neue ästhetische Konzeption der Wirklichkeit

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G. J. Lomidse Einheit und Vielfalt der Sowjetliteratur E i n e neue historische Qualität zeichnet sich ab . . . . Schöpferische Debatten oder Vom Streit um den sozialistischen Realismus Künstlerische „Neutralität" oder Aufdeckung des Volkslebens in all seinen Widersprüchen? Entfaltung eines reichen Gattungsensembles oder Von der beschleunigten Entwicklung ganzer Literaturen . . Nationale Traditionen - Aufhebung oder Negation? Auf der Suche nach dem neuen Helden W e r - wen, wie und in wessen Namen? 5

111 111 118 133 137 141 149 164

Fakt und Erfindung oder Auf Erkundung einer neuen Realität Freisetzung aller Potenzen künstlerischer Weltaneignung Fakt und Erfindung oder Weshalb wendet sich ein Schriftsteller der Historie zu?

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Anmerkungen

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Personenregister

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Plädoyer für eine neue, sozialistische Weltliteratur

Neuland unterm Pflug - dieser Titel eines der bekanntesten Werke Michail Scholochows könnte zumindest als Untertitel auch über den folgenden Beiträgen stehen, denen die Einleitungen zu den ersten beiden Bänden der Geschichte der multinationalen Sowjetliteratur in sechs Bänden (Moskau 1970/71) zugrunde liegen. Entstanden im Maxim-Gorki-Institut für Weltliteratur der Akademie der Wissenschaften der UdSSR, stellt sich dieses Werk erstmals die Aufgabe, Wege der Sowjetliteratur als Ganzes zu erhellen, Erfahrungen von mehr als siebzig Literaturen wiederzugeben, wobei sowohl Literaturen mit jahrhundertealter Tradition als auch die derjenigen Völker berücksichtigt werden, die zu ihrem Schrifttum erst durch den Oktober gelangten. Diese Aufgabe steht jedoch in einem größeren historischen, insbesondere kulturgeschichtlichen, Zusammenhang. Erst unlängst, in seinem Referat Zum 50. Jahrestag der Bildung der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken (1972), hob Leonid Iljitsch Breshnew hervor, daß in der Vielfalt der nationalen Formen der Sowjetkultur allgemeine internationalistische Züge immer deutlicher hervorträten, daß das Nationale immer mehr von den Errungenschaften der anderen Brudervölker befruchtet werde und daß auf diese Weise der Grundstein, zu einer neuen, kommunistischen Kultur gelegt werde, die keine nationalen Barrieren kennt und allen werktätigen Menschen gleichermaßen dient. Damit kennzeichnete er die gegenwärtige Phase beim Aufbau des Sozialismus, in dessen Verlauf in der Sowjetunion eine neue historische Gemeinschaft von Menschen - das Sowjetvolk - entstanden ist. Ein solches Phänomen war der Geschichte bis dahin unbekannt. Es unterschei7

det sich grundlegend von allen jenen Gemeinschaften von Menschen, die in der Vergangenheit existierten und in der heutigen kapitalistischen Welt vorhanden sind. Schon Marx und Engels nannten in ihrem Werk Die deutsche Ideologie den bürgerlichen Staat und andere ähnliche bürgerliche Vereinigungen von Individuen und gesellschaftlichen Gruppen „Surrogate der Gemeinschaft", in denen die persönliche Freiheit nur für die in den Verhältnissen der herrschenden Klasse entwickelten Individuen und nur existierte, insofern sie Individuen dieser Klasse waren. Da diese „scheinbare Gemeinschaft" stets eine Vereinigung einer Klasse gegenüber einer anderen war, war sie „für die beherrschte Klasse nicht nur eine ganz illusorische Gemeinschaft, sondern auch eine neue Fessel". Die sozialistische Revolution zerstört nicht nur die sozialökonomischen und politisch-rechtlichen Grundlagen des bürgerlichen Staates, sie zerreißt auch die Fessel dieser für die werktätigen Massen illusorischen Gemeinschaft und schafft eine wirkliche Gemeinschaft. Die sozialistische Zukunft und wirkliche Freiheit des Individuums darin antizipierend, schrieben Marx und Engels an gleicher Stelle: „In der wirklichen Gemeinschaft erlangen die Individuen in und durch ihre Assoziation zugleich ihre Freiheit." Der Staat der Diktatur des Proletariats, der später in einen sozialistischen Volksstaat hinüberwächst, ist jene Assoziation von Werktätigen, die jedem Individuum Freiheit garantiert, die Möglichkeiten für seine allseitige Entwicklung schafft. Beim Aufbau des Sozialismus vollziehen sich grundlegende Veränderungen auch in der ethnischen Gemeinschaft der Menschen, der Völker und Nationen, es entsteht ein neuer, sozialistischer Typ ethnischer Gemeinschaften, ein sozialistischer Typ von Nationen. Trotz ihres stabilen Charakters entbehrte jedoch die bürgerliche nationale Gemeinschaft einer inneren Geschlossenheit. Die verschiedenen sozialen Gruppen, welche diese Gemeinschaft bilden, befinden sich in einem unablässigen ökonomischen, politischen und ideologischen Kampf, der die bürgerlichen Nationen auf allen Etappen ihrer Entwicklung begleitet. Schon Balzac schrieb bekanntlich über die französische Gesellschaft der dreißiger Jahre des 19. Jahrhunderts, daß sie in 8

„zwei getrennte, untereinander sich befehdende Nationen" zerfallen sei. Meinte er dabei auch den Adel und die Bourgeoisie, so war doch bereits zu jener Zeit die Teilung der bürgerlichen Nation in zwei andere Nationen - Proletariat und Bourgeoisie - offenkundig. Das zeigte Engels überzeugend schon in einem seiner Frühwerke, in der Arbeit Die Lage der arbeitenden Klasse in England. Engels, der die Lage dieser antagonistischen Klassen, ihre Denk- und Lebensweise gründlich analysierte, kam zu dem Schluß, daß Bourgeoisie und Arbeiterklasse „zwei ganz verschiedene Völker (sind), so verschieden, wie sie der Unterschied der Rasse nur machen kann . . . " . Mit der weiteren Verschärfung des Antagonismus zwischen Arbeit und Kapital wurde auch die klassenmäßige Differenzierung innerhalb der bürgerlichen Nation immer deutlicher. Schon zu Beginn seiner revolutionären Tätigkeit, in der Polemik mit den Ideologen der Volkstümlerbewegung, schrieb Lenin, daß man keinen Nationsbegriff formulieren könne, wenn man von den „Widersprüchen zwischen jenen Klassen (abstrahiere), die diese .Nation' bilden". Später, im Zusammenhang mit der Entwicklung der Theorie von der Nation, entwickelte er seine klassische These von den „zwei Nationen in jeder heutigen Nation", von den „zwei Kulturen in jeder nationalen Kultur". Der Sozialismus eröffnet jedoch nicht nur die Epoche der nationalen Wiedergeburt der Völker, der Umgestaltung alter ethnischer Gemeinschaften in neue und des vollständigen Aufblühens der Nationen und Völkerschaften. Er eröffnet zugleich auch die Epoche der Herausbildung und Entwicklung internationaler Gemeinschaften. Die Menschheitsgeschichte stellt bekanntlich einen Prozeß der Zersplitterung und des Zusammenschlusses, der Differenzierung und der Integration ethnischer Gemeinschaften dar. In diesem komplizierten und widerspruchsvollen Prozeß bildet die gegenseitige Bereicherung und Annäherung der einzelnen Völker die vorherrschende historische Tendenz. Die Menschheit geht von einer Vielzahl verschiedener Gemeinschaften zu ihrer Verringerung und Verschmelzung in kommunistischer Zukunft. Dieser Integrationsprozeß ist historisch unausweichlich. Schon in der Epoche des Kapitalismus, der eine wichtige

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Etappe im Bruch mit nationalen Unterschieden und in der Errichtung allseitiger Beziehungen zwischen Ländern und Völkern (im ökonomischen Interesse der Bourgeoisie) bedeutete, zeigt sich diese Tendenz. Polemisierend gegen die von der Sozialdemokratie aufgestellte Losung von der nationalen Kultur, wies Lenin in seinen Thesen zur nationalen Frage deren Unrichtigkeit mit dem Hinweis darauf nach, daß „das gesamte wirtschaftliche, politische und geistige Leben der Menschheit schon im Kapitalismus immer mehr internationalisiert (wird). Der Sozialismus internationalisiert es vollends". Obzwar der Kapitalismus alle Sphären des gesellschaftlichen Lebens immer mehr internationalisiert, kann er diesem fortschrittlichen Prozeß aufgrund seiner antagonistischen Natur jedoch keinen freien Raum geben. Lenin schrieb aus diesem Anlaß in seinen Kritischen Bemerkungen zur nationalen Frage: „Der Kapitalismus kennt in seiner Entwicklung zwei historische Tendenzen in der nationalen Frage. Die erste Tendenz: Erwachen des nationalen Lebens und der nationalen Bewegungen, Kampf gegen jede nationale Unterdrückung, Herausbildung von Nationalstaaten. Die zweite Tendenz: Entwicklung und Vervielfachung der verschiedenartigen Beziehungen zwischen den Nationen, Niederreißung der nationalen Schranken, Herausbildung der internationalen Einheit des Kapitals, des Wirtschaftslebens überhaupt, der Politik, der Wirtschaft usw. Beide Tendenzen", so fährt Lenin fort, „sind ein Weltgesetz des Kapitalismus. Die erste überwiegt im Anfangsstadium seiner Entwicklung, die zweite kennzeichnet den reifen, seiner Umwandlung in die sozialistische Gesellschaft entgegengehenden Kapitalismus." Der Kapitalismus festigt tatsächlich die Beziehungen zwischen den Nationen, nähert sie einander an. Aufgrund der Klasseninteressen der Bourgeoisie jeder Nation ist er jedoch nicht in der Lage, sie zu einer Einheit zu verschmelzen. „Die Hirngespinste von europäischer Republik, ewigem Frieden unter der politischen Organisation sind ebenso lächerlich geworden wie die Phrasen von der Vereinigung der Völker unter der Ägide allgemeiner Handelsfreiheit", schrieb Engels in seinem Aufsatz Das Fest der Nationen in London (1845), in dem er die sentimentale Idee der Schaffung einer europäischen Republik unter der Herrschaft der Bourgeoisie verspottete. Den 10

Verlauf der historischen Entwicklung der nationalen Beziehungen vorwegnehmend und deren Abhängigkeit von der proletarischen Bewegung unterstreichend, zog Engels daraus den Schluß: „Die Proletarier allein können die Nationalität (nationale Abgesondertheit. P. K.) vernichten, das erwachende Proletariat allein kann die verschiedenen Nationen fraternisieren lassen." Diese These der marxistischen Theorie von der nationalen Frage wurde in Lenins Arbeiten allseitig weiterentwickelt. Nicht von ungefähr wird in diesem E r b e dem Problem der Annäherung der Nationen besondere Aufmerksamkeit zuteil. Nicht Bewahrung und Verstärkung nationaler Unterschiede, sondern ihre Überwindung und die Annäherung der Nationen auf allen Gebieten ist die Forderung des Leninismus. „Die Arbeiter schaffen in der ganzen Welt ihre eigene, internationale Kultur, die seit langem von den Kündern der Freiheit und Feinden der Unterdrückung vorbereitet wurde. D e r alten Welt, der Welt der nationalen Unterdrückung, des nationalen Haders oder der nationalen Absonderung", schrieb Lenin schon in seinem Aufsatz Die Arbeiterklasse und die nationale Frage (1913), „stellen die Arbeiter eine neue Welt, eine Welt der Einheit der Werktätigen aller Nationen entgegen, in der weder Platz ist für irgendein Privileg noch für die geringste Unterdrückung des Menschen durch den Menschen." Erst der Sozialismus schafft jedoch die gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen die freie und allseitige Entwicklung der Nationen mit der stetigen Annäherung der Nationen, mit der vollständigen Internationalisierung ihres materiellen und geistigen Lebens sich verbindet. D a ß diese Erkenntnisse heute noch keineswegs Gemeingut aller sind, zeigt anschaulich die Debatte um die Frage nach der Dialektik von Nationalem und Internationalem in der Kultur, die vor einiger Zeit zwischen dem sowjetischen Kulturhistoriker und Orientalisten Nikolai Konrad und dem englischen Kulturphilosophen Arnold Toynbee geführt wurde. Konrad schrieb in einem Brief vom März 1967 an Toynbee, Kulturgeschichte könne sowohl „akademisch" als auch philosophisch betrieben w e r d e n ; beider Methoden bediene man sich - ebenso wie in anderen Ländern - auch in der Sowjetunion. „Bei uns",

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so fährt er fort, „gibt es jedoch noch etwas, was Sie vielleicht jedenfalls nicht mit solcher Schärfe - nicht haben: Wir m ü s s e n die Geschichte der Weltkultur studieren, müssen es praktisch, es lebensnotwendig tun. Unsere Revolution hat uns die Aufgabe gestellt, nicht nur eine historisch neue Gesellschaftsordnung zu schaffen, sondern auch ein ihr entsprechendes System der Kultur. Dieses System muß für unsere ganze Gesellschaft einheitlich sein und zugleich berücksichtigen, daß jedes Volk, das unserer Union angehört, seine eigene Kulturtradition besaß und besitzt . . . " Konrad stellte nicht zufällig die Korrelation von theoretischer Gesamtkonzeption und realem, historisch-konkretem Material polemisch der spekulativ-idealistischen Kulturphilosophie Toynbees gegenüber. Worum ging es? Schon in seinem Werk Der Gang der Weltgeschichte (1934 bis 1955) hatte Toynbee in der Weltgeschichte nichts anderes als die Summe einzelner, unabhängig voneinander existierender Zivilisationen gesehen. Er war nicht allein von der Isoliertheit verschiedener Kulturtypen ausgegangen, sondern hatte die Geschichte insgesamt als einen zyklischen Wechsel paralleler, voneinander isolierter kultur-religiöser „Monaden" bestimmt. Variierend griff er diese Gedanken nun auch in seinem Brief an Konrad vom Januar 1967 auf, wobei er zugleich allgemeinliterarische und geistige Prozesse und Beziehungen sowie die Bedeutung des nationalen Moments ignorierte. Gerade das aber mußte Konrad - Mitgestalter und Theoretiker der in der Sowjetunion neu entstandenen historischen Gemeinschaft und ihrer Kultur - zum Widerspruch herausfordern. „Von Anfang an", so stellte er zum Beispiel fest, „haben wir gut begriffen, daß die Einheit der Kultur in einem Lande, in dem es so verschiedenartige Völker mit so unterschiedlichen Wegen ihrer Kulturen gibt, sich nicht in Einheitlichkeit ausdrücken kann. Jedes Volk muß seine eigene Kultur haben seine nationale Kultur, gleichzeitig aber muß die nationale Kultur jedes Volkes einen Teil der Gesamtkultur der Sowjetgesellschaft - einer sozialistischen Kultur - bilden." Auch jetzt (1967) war Toynbee nicht vom „Monadenprinzip" als Grundlage seiner Konzeption abgerückt, wiewohl er inzwischen Zweifel hegte an der Integrität der von ihm selbst postu12

lierten Zyklen ethisch-religiöser Zivilisationsmodelle. Bezeichnenderweise griff Konrad auch diesen Gedanken auf, wobei er ihm allerdings eine entscheidende Wendung gab: „Betrachten wir den Verlauf des Weltprozesses, so sehen wir, daß die Welt zu einem bestimmten Zeitpunkt dieses Prozesses . . . in zwei Lager zerfiel - das kapitalistische und das sozialistische. Jedes von ihnen wirkt in bestimmtem Maße gleichfalls wie eine gewisse Geschichtsmonade. Folglich kann als Merkmal des Monadenhaften in diesem Falle auch das dienen, was wir als sozial-ökonomisches System bezeichnen." Mehr noch: „Auch die sogenannten Entwicklungsländer besitzen in unserer Zeit in bestimmtem Maße eine gewisse historische Monadenhaftigkeit, was die Möglichkeit bedeutet, Merkmale des Monadenhaften auch im gesamten sozialökonomischen und kulturellen Entwicklungsniveau zu sehen." Ohne hier über Legitimität oder Illegitimität der Verwendung des Begriffs der „Monade" unter sozialistischen Kulturverhältnissen rechten zu wollen - eines wird offenkundig: die Konrad-Toynbee-Polemik stößt unmittelbar hinein in die weltweite Auseinandersetzung im 20. Jahrhundert über Kommunikabilität oder Inkommunikabilität der Kulturen und Literaturen. Es ist eine Auseinandersetzung, die heute, unter dem Einfluß verschiedenartiger Auswirkungen der wissenschaftlich-technischen Revolution unter sozialistischen bzw. kapitalistischen Verhältnissen, noch eine besondere Zuspitzung erfährt. Wir erinnerten an die Kulturauffassung Toynbees nur deshalb, weil sie - die konträrsten Varianten in Gestalt des Kosmopolitismus und des nationalen Hermetismus vereinend - die Forderung nach „Entnationalisierung" bzw. „Verwestlichung" der Weltkultur, nach Wiederbelebung des „Europa-" bzw. „Asienzentrismus" (neuerdings insbesondere des „Sinozentrismus") am prägnantesten zum Ausdruck bringt. Wir haben diese Polemik auch deshalb zitiert, weil durch sie der Stellenwert der multinationalen Sowjetliteratur in der Weltliteratur wie auch ihre Bedeutung für den Kunstfortschritt sichtbar wird. W a s aber sind die Wesenszüge des Kunstfortschritts? Leonid Timofejew - einer der Mitautoren dieses Bandes nannte kürzlich vor allem drei: erstens Bedingungen, Charakter und Niveau der K u n s t 13

r e z e p t i o n , die Einbeziehung breitester Schichten der Volksmassen in diesen Prozeß (oder umgekehrt: deren Entfremdung von der Kunst als Merkmal des Rückschritts); zweitens das unmittelbare p o e t i s c h e W i r k e n des „einfachen Volkes"; drittens die Einbeziehung einer unzählbaren R e s e r v e an schöpferischen Kräften d e r s i c h b e f r e i e n d e n Volk e r in der ganzen Welt, von denen heute insbesondere die Völker Asiens, Afrikas und Lateinamerikas diesem Prozeß neue Impulse verleihen, „indem sie ihn mit neuen Lebenserfahrungen bereichern, die die Grenzen des Gegenstandes selbst des Kunstschaffens erweitern, wobei sie die Kräfte des Volkes hervorkehren, die sich dieses Prozesses bewußt werden und ihn auch zu artikulieren vermögen". Alles das führte die Sowjetliteratur in der Praxis seit 1917 vor: das schnelle Heranwachsen eines aufnahmebereiten, neuen Auditoriums, das - im Gegensatz zur Selbstisolierung des bürgerlichen Kunstbetriebs von den Volksmassen in kapitalistischen Ländern - einem lebendigen Kontakt mit den sowjetischen Kunstschaffenden stets aufgeschlossen gegenüberstand; der ununterbrochene Zustrom neuer Talente aus der unversiegbaren künstlerischen Schöpferkraft des Volkes; die rasche Entfaltung der internationalen Einheit der Sowjetliteratur, die gestützt auf die einheitliche Weltanschauung und den realen, sozialistischen Humanismus - die schöpferische Entwicklung der unterschiedlichsten Talente und Begabungen des multinationalen Sowjetlandes erst ermöglichte. Das waren die entscheidenden Voraussetzungen für eine neue und außerordentlich wichtige Etappe in der künstlerischen Entwicklung der gesamten Menschheit, für die Hinwendung zu einem neuen System künstlerischer Weltaneignung der Methode des sozialistischen Realismus. Sie bildete sich bereits seit den zwanziger Jahren in allen nationalen Sowjetliteraturen - je nach ihren geschichtlichen Bedingungen - heraus. Die nationalen Traditionen und die damit verbundene Vielfalt der konkreten Formen künstlerischer Weltaneignung und Weltsicht haben die Methode zweifelsohne bereichert. „Dieser Prozeß", so resümiert Timofejew, „hat w e l t h i s t o r i s c h e B e d e u t u n g ; als ein Beispiel neuer künstleri-

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scher Erfassung (der Wirklichkeit) mußte er Widerhall auch im internationalen Maßstab finden." Das Beispiel der multinationalen Sowjetliteratur beweist in der Praxis die Unhaltbarkeit der „Monadentheorie" von Toynbee; es zeigt, wie eng Kunstfortschritt und Internationalisierung des geistig-kulturellen Lebens in der Welt miteinander verbunden sind. Das von Konrad vor allem in seinem Buch West und Ost (2., verb. u. erg. Aufl. 1972) schlüssig nachgewiesene Miteinander aller Literaturen der Welt in verschiedenen Phasen der Menschheitsgeschichte ist in der Epoche des Übergangs vom Kapitalismus zum So2ialismus, der Epoche der nationalen Befreiungsbewegungen in ein qualitativ höheres Stadium getreten. Die multinationale Sowjetliteratur ist sichtbarer Ausdruck dieser neuen Qualität und weist den Weg für die Entwicklung der gesamten Weltliteratur. Es darf als gesicherte Erkenntnis gelten, daß nach dem Sieg der Oktoberrevolution sich deutlich zwei Wege weltliterarischer Entwicklung abzeichnen - den einen geht die Sowjetliteratur im Bunde mit allen sozialistischen, antiimperialistischen und humanistischen Literaturen. Das Entstehen eines sozialistischen Weltsystems, der Eintritt in die Phase des entwickelten Sozialismus und die Konsolidierung der Befreiungsbewegungen in den Nationalstaaten Asiens, Afrikas und Lateinamerikas berechtigen zu der Frage, ob der eben charakterisierte Entwicklungsweg der Weltkultur bereits jetzt zu einer neuen Qualität geführt hat bzw. in absehbarer Zeit führen wird: zu einer sozialistischen Weltliteratur. Auch unter diesem Gesichtspunkt sollte das Buch von Leonid Timofejew und Georgi Lomidse über die Bedeutung der multinationalen Sowjetliteratur gelesen werden. Es gibt für die Beantwortung dieser Frage neue Denkanstöße. Berlin, im Juni 1974

Peter Kirchner

Aufbruch zu schöpferischer Einheit

Sowjetische Nationalitätenpolitik und sozialistische Kulturrevolution In der Geschichte der UdSSR, in der Entwicklung ihres gesellschaftlichen Lebens, ihrer Kultur und Kunst nehmen die Bürgerkriegszeit und die darauffolgenden zwanziger Jahre einen besonderen Platz ein. Es ist eine Periode entscheidender Umgestaltung des Lebens, eine Zeit tektonischer gesellschaftlicher Veränderungen von weltweiter historischer Bedeutung. Es war die Geburtsstunde des neuen Lebens, „wo ringsum das Alte unter schrecklichem Getöse und Krachen birst und zusammenstürzt, während daneben unter unbeschreiblichen Qualen das Neue geboren wird . . . " , wie W. I. Lenin im März 1918 schrieb. „Rußland hat die schroffsten der schroffen Wendungen der Geschichte, die vom Imperialismus zur kommunistischen Revolution verläuft, besonders deutlich beobachten, besonders schwer und qualvoll durchleben müssen. Wir haben in wenigen Tagen eine der ältesten, mächtigsten, barbarischsten und bestialischsten Monarchien zerstört . . . Wir haben nach dem Sturz der Bourgeoisie im Laufe von ein paar Wochen ihren offenen Widerstand im Bürgerkrieg gebrochen. Wir haben den Bolschewismus im siegreichen Triumphzug von einem Ende des gewaltigen Landes zum andern getragen. Wir haben die untersten der vom Zarismus und der Bourgeoisie unterjochten Schichten der werktätigen Massen zur Freiheit und zum selbständigen Leben emporgehoben . . . Wir haben in Millionen und aber Millionen Arbeitern aller Länder den Glauben an ihre eigenen Kräfte geweckt und das Feuer der Begeisterung entzündet." 1 So charakterisierte Lenin Sinn und Inhalt der mit der Großen Oktoberrevolution des Jahres 1917 begonnenen historischen Bewegung. In allen gesellschaftlichen Veränderungen des riesigen, Mil2 Timofejew, Sowjetlit.

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Honen zählenden multinationalen Landes pulsierte von oben bis unten, nach Lenins Worten, „ein neues, von der Revolution geweihtes Leben" 2 , dessen Umrisse gerade erst von der Geschichte gezeichnet, von den Zeitgenossen in ihren das materielle wie das geistige Leben des Volkes erfassenden Hauptkontrasten und Widersprüchen begriffen wurden. „Eine tiefgreifende Umgestaltung der Lebensgrundlagen geht vonstatten: Das Leben vergeistigt sich, reinigt sich, macht sich begreiflich. Es schmiedet sich seine eigene, höhere, proletarische Moral" 3 , heißt es bei Nadeshda Krupskaja im November 1917. Die Literatur erfuhr in diesen Jahren eine bisher nicht dagewesene Umgestaltung, bei der die Schriftsteller sich über ihr Verhältnis zu dem neuen Leben (akzeptieren oder nicht akzeptieren?) klar werden mußten. Sie mußten neue Wege der künstlerischen Widerspiegelung der eben erst entstandenen Lebensformen suchen und vor allem den wichtigsten Gegenstand dieser Widerspiegelung erkennen: den Menschen der neuen Epoche, der die Kunst, auf neue Weise zu leben, noch kaum beherrschte. Mag die Literatur der ersten Jahre aus heutiger Sicht in vielem schematisch und einseitig erscheinen - unter den damaligen Bedingungen war auch das in gewissem Maße notwendig und wertvoll: Es waren die ersten Worte, die ersten Bilder der Revolution, in der sich die neue Kunst artikulierte, die ihre eigene Sprache sprechen lernte. Das kam in den Besonderheiten ihres Inhalts ebenso deutlich zum Ausdruck wie in den Besonderheiten ihrer Form. Dieser Prozeß - allgemeingültig in seinem revolutionären Wes e n - w a r in seinen Erscheinungsformen außergewöhnlich vielfältig und bunt zugleich, je nach den nationalen und geschichtlichen Bedingungen, unter denen sich die Revolution in dem mehr als 120 Nationen und Völkerschaften zählenden Lande realisierte. Zunächst scheint es, als könnte man von einem einheitlichen Prozeß der literarischen Entwicklung sprechen, der sowohl die Literaturen mit jahrhundertealter künstlerischer Tradition, mit „Weltbedeutung", umfaßt als auch die Literaturen jener Völkerschaften, die erst zu Beginn der dreißiger Jahre oder noch später ein Alphabet und die ersten Fibeln in ihrer Muttersprache entwickelten. 4 18

Es geht jedoch nicht allein um die nationalen Unterschiede, sondern auch um den Kampf der vom Volk geschaffenen demokratischen und sozialistischen Kulturelemente innerhalb einer jeden Nation und Völkerschaft mit der Kultur der Feudalen und der Bourgeoisie. In den Jahren der Revolution wird der bürgerliche Nationalismus besonders gefährlich, da er „die Arbeiterklasse durch den nationalen Kampf beziehungsweise durch den Kampf für eine nationale Kultur von ihren großen internationalen Aufgaben a b z u l e n k e n" 5 versucht, wie Lenin bereits 1913, in einer Periode des revolutionären Aufschwungs, bemerkte. Es könnte den Anschein haben, als erlaubten alle diese widersprüchlichen Tendenzen nicht, von einer einheitlichen Richtung der literarischen Entwicklung nach der Oktoberrevolution zu sprechen, sondern eher von selbständigen Richtungen einzelner, in ihren nationalen Besonderheiten und ihrem künstlerischen Niveau unterschiedlichen Literaturen. In Wirklichkeit hat jedoch die Revolution gewaltige Zentripetalkräfte freigesetzt und in Gang gebracht, die bestrebt waren, die in den ersten Jahren nach dem Oktober entstandenen divergierenden Kräfte zu vereinigen. Anatoli Lunatscharski schrieb in jener Zeit: „ . . . ein außergewöhnliches und neues Aufblühen . . . der nationalen Besonderheiten der Kunst . . . ein gewaltiges gegenseitiges Interesse der Nationalitäten füreinander . . . Internationalismus - kommunistisch, leninistisch verstanden - ist eine Kraft, die zu außergewöhnlich scharfen Konturen der nationalen Physiognomien führt, auch auf die Kunst und das Leben bezogen, und gleichzeitig zu einer außergewöhnlichen Verschmelzung aller dieser einzelnen Noten des gesamtnationalen Konzerts zu einer einheitlichen Sinfonie." 6 Der zeitgenössische Dichter erriet bereits, wenn auch noch in poetisch naiver Form, den Sinn des historischen Prozesses: „Dort, wo gegen den Lauf des Rentiers Die Nordlichter funkeln, Begann der Jakute von der Kommune, von Marx, von Lenin zu sprechen . . ." 7 Von der Kommune, von Marx und von Lenin begann das ganze Land, begannen alle es besiedelnden Völker zu sprechen, T

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- jedes auf seine Weise, doch mit dem Blick auf das Wichtigste. „ . . . betrachtet man die Dinge im großen, . . . so fallen alle Einzelheiten und Kleinigkeiten weg, und die Haupttriebkräfte, die die Weltgeschichte bestimmen, werden offenbar"8, heißt es am 1. März 1920 bei Lenin. Dieser Gedanke gilt auch in bezug auf den sehr komplizierten Prozeß der Herausbildung der sowjetischen Kultur, der sowjetischen Kunst und insbesondere der sowjetischen Literatur. Zweifellos ist die Entwicklung der neuen Kultur und Literatur keineswegs ein ununterbrochener Triumphzug; sie ist vielmehr vielschichtig, kompliziert, mitunter sogar qualvoll verlaufen und hatte besonders in den rückständigen Randgebieten schärfste Widersprüche zu überwinden. 9 Hier geht es jedoch darum, die H a u p t r i c h t u n g dieses Prozesses zu charakterisieren und die Haupttriebkräfte deutlich zu machen, die mit der Festigung und Entwicklung der Sowjetordnung im Laufe der Jahrzehnte, die zwischen dem Heute und den Anfangsjahren der Sowjetmacht liegen, immer offensichtlicher werden. 10 Gerade wenn wir die Details außer acht lassen und uns auf die wesentlichen Linien dieses Prozesses konzentrieren, werden wir sehen, in welchem Maße sich die Hauptentwicklungsrichtung - die Entwicklung zur schöpferischen Einheit - bereits in den ersten Jahren des Entstehens der Sowjetliteratur herauskristallisierte. 11 Eine der Hauptfragen, von deren Lösung der Sieg und der Erfolg der Revolution in einem so multinationalen Land wie Rußland abhingen, war die der nationalen Politik. Schon in ihren ersten Deklarationen verkündete die Sowjetmacht „Gleichheit und Souveränität der Völker Rußlands" (Deklaration der Rechte der Völker Rußlands vom 2. bzw. 15. November 1917). „Richtet euch euer nationales Leben frei und ungehindert ein . . . Euer Schicksal liegt in euern eigenen Händen", heißt es in dem Aufruf An alle werktätigen Mohammedaner Rußlands und des Ostens vom 20. November (3. Dezember) 1917.12 Im Leben der Völker und Völkerschaften, die das Territorium des alten Rußlands besiedelten, begann eine neue Ära, es entstand „ein f r e i w i l l i g e s Bündnis der Nationen, . . . das 20

auf vollem Vertrauen, auf klarer Erkenntnis der brüderlichen Einheit" 13 , wie Lenin es definierte, gegründet ist. Die Schaffung dieses Bündnisses und eben damit einer ihrem Inhalt nach einheitlichen sozialistischen Kultur war eine Aufgabe von entscheidender historischer Bedeutung. Der Sieg der sozialistischen Revolution in Rußland konnte nur auf der Grundlage des Zusammenschlusses aller Völker und Völkerschaften des Sowjetlandes errungen werden, mehr noch: Er ging über seine Grenzen hinaus. In dem Aufruf An die Genossen Kommunisten Turkestans vom 7. bis 10. November 1919 sagte Lenin: „Die Herstellung richtiger Beziehungen zu den Völkern Turkestans ist jetzt, das kann man ohne Übertreibung sagen, für die Russische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik von gigantischer, welthistorischer Bedeutung. Für ganz Asien und für alle Kolonien, für viele Millionen Menschen wird das Verhältnis der Sowjetrepublik der Arbeiter und Bauern zu den schwachen, bisher unterdrückten Völkern praktische Bedeutung haben." 14 Die Verwirklichung dieser Aufgaben stieß indes auf unermeßliche Schwierigkeiten. War der Bürgerkrieg im wesentlichen 1920 beendet, so hörte man in den Randgebieten des ehemaligen Rußlands - im Hohen Norden und im Osten - sein Echo noch in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre, und die letzte große Erhebung der Basmatschen unter Ibrahim-Bek in Tadshikistan fand noch 1931 statt. Natürlich wirkte sich auch dies auf das unterschiedliche Tempo und den unterschiedlichen Charakter des Eintretens der einzelnen Völker in den Gesamtprozeß der Schaffung einer Kultur der sozialistischen Gesellschaft aus. So wurde zum Beispiel das Dekret Über die Nationalisierung des Bodens und der Gewässer in Usbekistan im Dezember 1925, in Tadshikistan im Dezember 1926 angenommen, in Kirgisien fand die Land- und Bewässerungsreform in den Jahren 1927 bis 1928 statt, in Kasachstan wurden die Bais im August 1928 ausgesiedelt15, und in Jakutien erfolgte die Bodenreform erst 1929. „Das, was auf dem russischen Dorf 1918 durchgeführt wurde, fand in der Ukraine 1919, im usbekischen Kischljak, im 21

kasachischen und turkmenischen Aul und im kirgisischen Ail in den Jahren 1925 bis 1928 statt." 1 6 Es ging jedoch nicht nur um den unterschiedlichen Zeitpunkt des Eintretens in diesen Prozeß, sondern auch um den gesellschaftlich-historischen Charakter der Vorbereitung hierzu. Bekannt sind die Worte Lenins über die verschiedenen Elemente der gesellschaftlich-ökonomischen Formationen, die es in Rußland gab. „Zählen wir diese Elemente auf", heißt es bei ihm: „1. D i e patriarchalische Bauernwirtschaft, die in hohem Grade Naturalwirtschaft ist; 2. die kleine Warenproduktion (hierher gehört die Mehrzahl der Bauern, die Getreide verkaufen); 3. der privatwirtschaftliche Kapitalismus; 4. der Staatskapitalismus; 5. der Sozialismus. Rußland ist so groß und so bunt, daß sich alle diese verschiedenen Typen ökonomischer Gesellschaftsstruktur in ihm verflechten. D i e Eigenart der Lage besteht gerade darin." 1 7 Der Beschluß des X . Parteitages der K P R ( B ) im März 1921

Über die nächsten Aufgaben der Partei in der nationalen

Frage

gab eine ausführliche Charakteristik dieser ungewöhnlich vielfältigen und widersprüchlichen gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen der kulturelle Aufbau des Sowjetlandes begann: „Die Russische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik und die mit ihr verbundenen unabhängigen Sowjetrepubliken haben eine Bevölkerungszahl von etwa 140 Millionen. V o n diesen sind etwa 65 Millionen Nichtgroßrussen (Ukrainer, Belorussen, Kirgisen, Usbeken, Turkmenen, Tadshiken, Aserbaidshaner, Wolgatataren, Krimtataren, Bucharen, Chiwaner, Baschkiren, Armenier, Tschetschenen, Kabardiner, Osseten, Tscherkessen, Inguschen, Karatschaier, Balkaren, Kalmücken, Karelier, Awaren, Darginier, Kasikumuchen, Kjuriner, Kumücken, Mari, Tschuwaschen, Wotjaken, Wolgadeutsche, Burjaten, Jakuten und andere) . . . Zieht man von den 65 Millionen nichtgroßrussischen Einwohnern die Bevölkerung der Ukraine, Belorußlands, eines Teils von Aserbaidshan und schließlich Armeniens ab, die in diesem oder jenem Grade die Periode des Industriekapitalismus durchgemacht haben, so bleiben ungefähr 25 Millionen übrig - eine vorwiegend aus Türkvölkern bestehende 22

Bevölkerung (Turkestan, der größere Teil Aserbaidshans, Dagestan, die Bergvölker, die Tataren, Baschkiren, Kirgisen und andere) die die kapitalistische Entwicklung nicht durchgemacht haben, kein oder fast kein eigenes Industrieproletariat besitzen, in den meisten Fällen eine auf der Viehzucht beruhende Wirtschaft und die patriarchalische Gentilverfassung beibehalten haben (Kirgisien, Baschkirien, Nordkaukasus) oder über die halbpatriarchalischen, halbfeudalen Lebensformen nicht hinausgekommen (Aserbaidshan, die Krim und andere), aber bereits in den allgemeinen Strom der Sowjetentwicklung einbezogen sind." 18 In den nordöstlichen Gebieten - bei den Eskimos, Ewenken, Tschuktschen, Jukagiren und anderen - hatte sich sogar noch die Urgesellschaft erhalten. „Nach einer Volkszählung gab es 1897 in Turkestan 1,6 % Usbeken, 1 % Kasachen, 0,7 % Turkmenen und 0,6 % Kirgisen, die lese- und schreibkundig waren." 19 Insgesamt betrug in Mittelasien der Prozentsatz der Leseund Schreibkundigen im Durchschnitt nur 5,3 % , und diesen Prozentsatz machten vorwiegend die Städter und die russischen Einwanderer aus. „In den letzten dreißig Jahren des vergangenen Jahrhunderts nahm die Lese- und Schreibkundigkeit in Mittelasien bei den Männern in zehn Jahren durchschnittlich um 0,1 und bei den Frauen um 0,7 % zu. Bei einem solchen Tempo hätte für die Beseitigung des Analphabetentums unter der gesamten Bevölkerung ein Jahrtausend nicht ausgereicht."20 „Im Jakutsker und im Olekminer Kreis gibt es eine Schule für einen Rayon, der so groß ist wie das ganze Gouvernement des Europäischen Rußland, im Werchojansker Kreis eine Schule für einen Rayon, der an Größe zahlreiche europäische Staaten wesentlich übertrifft", schrieb 1909 die Zeitung Jakutskaja mysl (Der jakutische Gedanke). Die Zeitung errechnet, daß selbst dann, wenn in Jakutien „je sechs Grundschulen für 150 Schüler . . . eingerichtet würden . . . , eine allgemeine Grundschulbildung erst nach . . . 125 Jahren realisiert werden könnte. Und das unter der Bedingung, daß die Bevölkerungszahl konstant bliebe" 21 . Diese Berechnung erwies sich für einige Gebiete noch als sehr optimistisch. In Mittelasien erhöhte sich die Zahl der Lese- und Schreibkundigen nur insgesamt um 23

0,4 % jährlich. Unter diesen Bedingungen wäre eine endgültige Beseitigung des Analphabetentums erst nach 4 600 Jahren eingetreten. 22 Hin2u kommt, daß die nationalen Schulen zum größten Teil von den Kindern der Bais, der Kaufleute, Mullas, Beamten usw. besucht wurden. „Die zaristische Selbstherrschaft", so erzählt z. B. der inguschische Schriftsteller Abdul-Galid Goigow, „richtete in der Festung Nasran eine zweiklassige Bergschule ein - die einzige für das gesamte 75 000 Einwohner zählende Inguschenvolk. Jährlich wurden dreißig Kinder in die Schule aufgenommen, das sind vier Hundertstel Prozent der Gesamtbevölkerung . . . Jährlich brachte man bis zu fünfhundert Kinder aus allen Auls Inguschetiens vor die Tür dieses .Tempels der Wissenschaft*. Gewöhnlich kamen in erster Linie die Kinder von Kulaken, Schafzüchtern, Mullas und Kaufleuten an die Reihe . . . Wenn . . . noch freie Plätze blieben, so wurde darüber durch das Los verfügt." 23 Ja, auch in Rußland machte der Anteil von Kindern der Bauern, Arbeiter und der niederen Schichten der Intelligenz nicht mehr als 5 % aus. Viele Völker des Sowjetlandes besaßen vor der Revolution kein eigenes Schrifttum und erhielten es erst unter der Sowjetmacht in ihrer Muttersprache. In der UdSSR gibt es heute etwa sechzig Sprachen mit jungem Schrifttum. 24 „Wir übernahmen als Erbe des Zaren", heißt es im Rechenschaftsbericht des Volkskommissariats für Bildungswesen vom Jahre 1920, „eine durch und durch analphabetische Masse dieser Völkerschaften, erzogen in Finsternis und Unwissenheit, eingeschüchtert bis zur Bewußtseinstrübung, in der jegliche Macht sich mit den Begriffen Landpolizist und Polizeirevier assoziierte, die sie in unterwürfige Sklaven verwandelt hatten, welche weder das Recht besaßen, eine Zeitung in ihrer eigenen Sprache zu drucken und ihr Kind die Muttersprache zu lehren noch in staatlichen Behörden ihre eigene Sprache zu sprechen." 25 Nach der Volkszählung des Jahres 1897 gab es in Rußland etwas über 20 % lese- und schreibkundige Männer und nur ungefähr 1 0 % lese-und schreibkundige Frauen. In den dreißiger Jahren begann eine angestrengte Tätigkeit, um für die zahlenmäßig geringen Völker des Nordens ein Schrifttum zu schaffen. 26 24

E s ging jedoch nicht allein um die Schulbildung. Auf dem Territorium Rußlands konnte man noch Holzeggen, Pfeilen und Bogen sowie Steinhämmern begegnen. Polygamie, Brautgeld, Lewirat 2 7 , Gruppenehe, Blutrache, Brautraub, Ehen zwischen Partnern ungleichen Alters (gemäß dem A d a t 2 8 konnte ein Mädchen nach Erreichung des neunten Lebensjahres verheiratet werden), die verschiedenartigsten Überbleibsel der Gentilund Feudalordnung waren bei vielen Völkerschaften noch fest verwurzelt 29 und stützten sich in starkem Maße auf die Herrschaft des Klerus. 2 300 Moscheen und 40 000 Geistliche in Dagestan, etwa 12 000 Moscheen in Usbekistan, 8 000 orthodoxe Kirchen und viele Hunderte römisch-katholische Kirchen und Synagogen in Belorußland, buddhistische Lamas, die etwa 10 % der männlichen Bevölkerung Burjatiens ausmachten (in Ostburjatien gab es 16 000 Lamas) bestimmten die Macht einer konservativen Schicht, die erst gebrochen werden mußte, um die für eine neue Kultur notwendigen Bedingungen zu schaffen. D i e Revolution zerschlug mit einem Hieb die drei in Jahrhunderten geprägten Hauptwidersprüche: soziale Ungleichheit, nationale Unterdrückung und kulturelle Rückständigkeit. Doch die Überwindung ihrer vielfältigen Relikte erforderte noch jahrelange gewaltige Anstrengungen des gesamten Volkes. „Wir wissen auch", schrieb Lenin im Juni 1919, „daß die Spuren des Alten in den Sitten eine gewisse Zeit nach dem Umsturz unvermeidlich die Keime des Neuen überwiegen werden. Wenn das Neue eben erst entstanden ist, bleibt das Alte stets eine gewisse Zeit lang stärker; das ist immer so, sowohl in der Natur als auch im Leben der Gesellschaft." 3 0 Besonders deutlich zeigte sich das bei der Lage der Frau im Orient. Als 1927 die Partei in Usbekistan den „chudshum" verkündete (ein Vorgehen gegen die alte Lebensweise), insbesondere verbunden mit einer Absage an Schleier und Tschatschwan 3 1 , wurden 1928 203 und im ersten Halbjahr 1929 165 Frauen getötet, die den Schleier abgelegt hatten. 3 2 „Niedergedrückt vom kapitalistischen System, können wir uns gegenwärtig nicht einmal genau vorstellen, welche reichen Kräfte in den Massen der Werktätigen, den mannigfaltigen Arbeitskommunen eines großen Staates, in den intellektuellen Kräften stecken, die bisher als willenlose und stumme Voll25

Strecker der Vorschriften der Kapitalisten arbeiteten, welche Kräfte noch da sind und in der sozialistischen Gesellschaftsordnung entfaltet werden können. Unsere Aufgabe besteht lediglich darin, allen diesen Kräften den Weg zu ebnen." 33 Man braucht keine Worte darüber zu verlieren, in welchem Umfang diese Vorhersage Lenins in bezug auf das Leben sogar der rückständigsten Völker und Völkerschaften Wirklichkeit geworden ist. „Gewöhnlich . . . werden Angaben über das Wachstum von Wirtschaft und Kultur der einen oder anderen Republik gemacht . . . " , schreibt der tuwinische Schriftsteller Saltschak Toka. „Unser heutiges Tuwa ist mit nichts zu vergleichen. Wir hatten keine Industrie. Jetzt leitet die Arbeiterklasse Tuwas den Bau eines mächtigen Kombinats zur Erzeugung eines so wertvollen Rohstoffes wie Asbest . . . In bisher unbekanntem Tempo entwickelt sich der Automobil- und der Lufttransport. Womit kann man ihn vergleichen? Doch weder mit den Kamelen noch mit den Rennpferden! Wir hatten keine Industrie, kein Schrifttum, keine Literatur, keine Elektrizität, kein Radio. Wir hatten keine eigene Intelligenz." 34 Dasselbe bringt der Tschuktsche Juri Rytcheu zum Ausdruck: „In wenigen Jahrzehnten haben die Tschuktschen und die Eskimos einen gewaltigen Weg zurückgelegt, für den andere Völker viele Jahrhunderte gebraucht haben." 35 Grundlage für das Verständnis dieses ungewöhnlich rasch verlaufenden Prozesses der Überwindung des ungleichmäßigen gesellschaftlich-ökonomischen und kulturellen Entwicklungsstandes bei der Schaffung einer einheitlichen sozialistischen Kultur ist die von Marx, Engels und Lenin dargelegte Perspektive einer schnelleren Entwicklung der zurückgebliebenen Völkerschaften. 36 Als Lenin seine These von einem möglichen Sieg des SoziaIismus in nur einem Lande begründete, wies er darauf hin, daß allen werktätigen Massen selbst unter den weit entfernten Völkern die Idee der Sowjets am nächsten ist. In diesem Zusammenhang führte er auf dem II. Kongreß der Kommunistischen Internationale im Juli 1920 aus: „Wenn das siegreiche revolutionäre Proletariat unter ihnen eine planmäßige Propaganda treibt und wenn die Sowjetregierungen ihnen mit allen verfügbaren Mitteln zu Hilfe kommen, dann ist es falsch anzunehmen, 26

daß das kapitalistische Entwicklungsstadium für die zurückgebliebenen Völker unvermeidlich sei . . . die Kommunistische Internationale muß auch den Leitsatz aufstellen, . . . daß die zurückgebliebenen Länder mit Unterstützung des Proletariats der fortgeschrittensten Länder zur Sowjetordnung und über bestimmte Entwicklungsstufen zum Kommunismus gelangen können, ohne das kapitalistische Entwicklungsstadium durchlaufen zu müssen." 37 Auf dieser Grundlage entfaltete sich in der Sowjetunion ein in seiner Stärke und in seinem Tempo ungewöhnlicher Prozeß einer beschleunigten Annäherung der Nationen. Lenin hatte ihn vorausgesehen, weil er sowohl von den materiellen Reserven des Sowjetlandes ausging, die es gestatteten, die gesellschaftlichökonomischen Bedingungen der rückständigen Völker und Völkerschaften von Grund auf umzugestalten, als auch von der Wirksamkeit einer fortschrittlichen Ideologie, die den geistigen Konservatismus der vorsozialistischen Gesellschaftsformationen zu überwinden imstande war. Das Wesen der beschleunigten Entwicklung der zurückgebliebenen Völker und Völkerschaften beruhte darauf, daß diese unter Umgehung des kapitalistischen Entwicklungsstadiums zum Sozialismus gelangten 3 8 und nicht darauf, daß sie es in gedrängter Form durchliefen, wie man häufig annimmt. 3 9 Eine solche gedrängte Wiederholung der Grundmomente der gesellschaftlichen Entwicklung zwingt zu der Annahme einer evolutionären Entwicklung, während wir, wenn wir vom Übergang zur Sowjetordnung unter Umgehung des kapitalistischen Entwicklungsstadiums sprechen, den historischen Sprung betonen, der es den zurückgebliebenen Völkern und Völkerschaften gestattet, zu Formen der materiellen und geistigen Kultur überzugehen, die nicht unmittelbar aus ihrer eigenen Gesellschaftsformation entspringen, sondern dank des Einwirkens fortgeschrittener Länder entstehen. Angewandt auf die Entwicklung der Kunst, führt die Vorstellung vom „Zusammenziehen" in der sowjetischen Kritik mitunter zu einer Betrachtung des kritischen Realismus als einer notwendigen literarischen Entwicklungsstufe, als eines „Stadiums" der Realismusentwicklung insbesondere der Literaturen derjenigen Völker und Völkerschaften, die auf beschleu* 27

nigtem Wege in die sozialistische Kultur einmündeten. Das kann schwerlich gesetzmäßig sein. Die kritische Darstellung der verschiedenen Seiten des Lebens ist der Kunst insgesamt in jeder ihrer Formen immanent und wird um so umfassender, je umfassender und klarer die Vorstellung vom gesellschaftlichen Ideal entwickelt ist. In diesem Zusammenhang erhält auch die kritische Wahrnehmung der Wirklichkeit einen realen künstlerischen Gehalt. Dies gilt beispielsweise für die Satire in der Kunst des sozialistischen Realismus - man denke nur an das Werk Majakowskis: Hier kommt es allein auf den realen Inhalt an, der unter bestimmten historischen Bedingungen den Charakter einer kritischen Darstellung des Lebens in der Kunst annimmt. So gesehen ist der kritische Realismus eine konkrete historisch bedingte Form des Realismus. Er wird in seiner künstlerischen Spezifik vom Niveau der gesellschaftlichen Beziehungen bestimmt, aus denen er hervorgeht, von Grundwidersprüchen des Lebens, vor allem vom zentralen Widerspruch zwischen Gesellschaftsordnung und nationalen Interessen, die sich in ihm widerspiegeln und ihm zugleich den Blick auf die Wirklichkeit diktieren. „So ist es, aber so darf es nicht sein" - das ist im Grunde genommen das Prinzip der Widerspiegelung des Lebens durch den kritisch-realistischen Künstler in der feudal-bürgerlichen vorsozialistischen Gesellschaft (was natürlich nicht ausschließt, daß in seinem Schaffen ein bejahendes Moment im Rahmen der in dieser Gesellschaft möglichen Lebenswerte vorhanden ist). Im sozialistischen Realismus hingegen geht es darum, daß es „so ist und so sein soll", darum, daß es „so nicht war, aber werden wird". Abgesehen davon, daß der sozialistisch-realistische Künstler natürlich die Unvollkommenheit der einen oder anderen Seite des zeitgenössischen Lebens erfaßt, vermag er durchaus auch darzustellen, was in der vorsozialistischen Gesellschaft war, doch geschieht dies nun unter anderen ästhetischen und zeitlichen Voraussetzungen. „So war es, aber so ist es nicht geblieben, und so wird es auch nicht wieder sein." Bei ähnlichem Charakter der darzustellenden Wirklichkeit setzt er andere Akzente als der kritische Realist, betrachtet sie unter einem anderen Blickwinkel (der natürlich angesichts einer Thematik, die 28

sich der Vergangenheit zuwendet, nicht nur in den handelnden Personen und Sujets, sondern auch im Charakter des Erzählens zum Ausdruck kommt, in dessen Untertext bereits eine prinzipiell neue Auffassung des Darzustellenden mitschwingt). Deshalb müssen die Literaturen der Völker, die das kapitalistische Entwicklungsstadium übersprungen oder es beschleunigt durchlaufen haben, nicht unbedingt ein „Stadium" des kritischen Realismus durchlaufen; sie gehen in die neue ästhetische Zeit über, in der ein dem kritischen Realismus ähnlicher Kreis von Lebensfragen anders beleuchtet wird, und spiegeln eben in den Kategorien dieser neuen Zeit ihre dramatische Vergangenheit wider. Der kritische Realismus entwickelte sich auf der Grundlage des Kapitalismus, dessen historische Widersprüche er künstlerisch reflektiert - darauf beruht die Art und Weise seiner Sujets, seiner Charakterzeichnung und seiner Thematik. Der sozialistische Realismus schließt die künstlerischen Entdeckungen des kritischen Realismus nicht aus, er betrachtet sie vielmehr als notwendige Bedingung der eigenen Entwicklung, doch bilden sie bereits ein geschlossenes künstlerisches System, das in der neuen Entwicklungsphase begründet ist: der Epoche der sozialistischen Umgestaltung der Gesellschaft. „Während der ersten Etappen", so schreibt Valentin Kowaljow ganz richtig, „konnte der sozialistische Realismus eine Tendenz innerhalb der übernommenen alten Traditionen der sozial-realistischen Literatur sein . . . Die neue Qualität des Realismus trat von Anfang an äußerlich unmerklich in der Zeichnung der neuen Menschen und Konflikte der revolutionären Epoche zutage, in der Auffassung des Autors von der Grundidee des revolutionären Umschwungs vom Oktober 1917, im Bestreben des Schriftstellers selbst, mit den ihm eigenen Mitteln zum Aufbau des neuen Lebens und der neuen Kultur beizutragen." 40 Die Revolution stieß die Schriftsteller sogleich in eine neue geistige und emotionale Atmosphäre, außerhalb derer die Entwicklungswege der jungen Literaturen nach 1917 nicht zu begreifen sind. (Die Frage der Traditionen des kritischen Realismus in den stärker entwickelten Literaturen muß von einer etwas anderen Warte aus betrachtet werden: Eine Reihe von Schriftstellern, wie Alexej Tolstoi und Konstantin Trenjow, 29

war mit ihm unmittelbar verbunden; zugleich ist zu berücksichtigen, daß sich auch der kritische Realismus selbst durch Aufnahme neuer Inhalte gewandelt hat, was ja in der zeitgenössischen westlichen Literatur - etwa bei Faulkner und Hemingway - deutlich sichtbar ist.) Die jungen Literaturen, die äußerlich die Traditionen des kritischen Realismus fortsetzten, traten weit über dessen Grenzen hinaus, weil ohne die Oktoberrevolution die Vergangenheit für sie keine Wandlung erfahren hätte. Indem sie von dieser Vergangenheit sprachen, bekräftigten sie in Wirklichkeit die Gegenwart, für sie war das Vergangene bereits eine „Erzählung von gewesener Knechtschaft", wie Sadriddin Aini seine Vovjest 'Odina (1924) über das Leben eines armen Tadshiken bezeichnete. „So ist es nicht geblieben und so wird es nicht wieder sein" unter diesem Aspekt wurde die Vergangenheit in der Sowjetliteratur begriffen, und daran ist auch der im Vergleich mit dem kritischen Realismus völlig neue Charakter der Historizität geprägt. Finsternis, Vor der Dämmerung und Morgenröte - so nannte Sabit Mukanow die drei Teile seines Romans Botagos. Die Zeit von 1825 bis 1934 erfaßt Ainis Roman Sklaven, der die verschiedenen Etappen der Vergangenheit gleichsam vom Standpunkt der Gegenwart aus betrachtet. Die kirgisische Literatur erhielt ihr Schrifttum im Jahre 1924. In der ersten Nummer der kirgisischen Zeitung Erkin too (Freie Berge), die am 7. November 1924 erschien, war ein Gedicht Die Epoche des Oktobers von Aaly Tokombajew abgedruckt, der zu dieser Zeit an der Mittelasiatischen Kommunistischen Universität studierte. 1928 erschien die Erzählung Adshar von Kassymaly Bajalinow über das tragische Schicksal eines kirgisischen Mädchens, das an den Manap Sabit-achun verkauft worden war, diesem weglief, in der Steppe von einer Wolfsherde angefallen wurde und dabei ums Leben kam. Ein Schicksal aus der Vergangenheit wird hier zehn Jahre nach Errichtung der Sowjetmacht erzählt, das Pathos der Erzählung erwächst gerade daraus, daß es keine Rückkehr zur Vergangenheit gibt. Auch in Bajalinows Erzählung Frühling im Tienschan taucht dieser Sabit-achun auf, es wird dasselbe Milieu geschildert, aber hier trifft der Held bereits mit Rotarmisten zusam30

men, er hört zum erstenmal den Namen Lenins, und die Erzählung endet mit den Worten des Helden: „Ich werde auch ein Bolschewik." Hier blickt der Schriftsteller, der eben erst begonnen hatte, neue künstlerische Erfahrungen zu sammeln, aus der Vergangenheit in die neue Epoche und aus der neuen Epoche in die Vergangenheit. Auf dem Ersten Allunionskongreß der Sowjetschriftsteller im Jahre 1934 hob der Aserbaidshaner Ali Nasim mit Recht hervor, daß „die Darstellung der Wirklichkeit mit dem Ziel einer ideologischen Umformung des Menschen einen Schriftsteller, der zugleich ein sozialistischer Realist ist, dazu verpflichtet, äußerst kritisch zu sein . . . Das ist besonders wichtig für uns Literaturschaffende jener nationalen Republiken, welche vor der Revolution die kapitalistische Entwicklungsphase nicht durchlebt, die Etappe der bürgerlich-demokratischen Revolution nicht durchlaufen haben und in denen noch bis dahin neben den kapitalistischen Elementen in der Ökonomie und im Bewußtsein des Menschen Elemente vorkapitalistischer Ordnungen und Beziehungen, vorkapitalistischer Lebens- und Denkauffassungen vorhanden waren, die wir mit jedem Schritt überwinden . . . Eben die Methode des sozialistischen Realismus zeigt konkrete Wege zur Schaffung einer nationalen künstlerischen Form." 4 1 Die zwanziger Jahre bringen den größten, zuvor nicht gekannten historischen Umschwung im Leben wie im Bewußtsein besonders der zurückgebliebenen Völker und Völkerschaften. „Das war tatsächlich ein historischer Sieg", betonen M. Kulikow und W. Krjuk in ihrer Arbeit Von der patriarchalischen, auf Gemeindeselbstverwaltung beruhenden Ordnung zum Sozialismus über die Umgestaltung des Lebens der kleinen Völker im äußersten Nordosten. „Die rückständigen, unwissenden, hungernden und im Aussterben begriffenen Stämme durchliefen mit Hilfe des sozialistischen Staates in kürzester Zeit einen tausendjährigen Weg ihrer Entwicklung von der patriarchalischen, auf Gemeindeselbstverwaltung beruhenden Ordnung zum Sozialismus. Das war eine ihrem Charakter wie auch ihrem Entwicklungstempo nach in der Geschichte einmalige Revolution." 42 Welche besondere Vorsicht und Aufmerksamkeit die Len31

kung dieses Übergangs der zurückgebliebensten, am längsten unterdrückten Völker und Völkerschaften zu der neuen gesellschaftlich-ökonomischen Situation erforderte, geht aus Lenins Äußerungen vom April 1921 hervor. Außerordentlich lehrreich ist seine beharrliche Forderung nach Elastizität, Vorsicht und Nachgiebigkeit gegenüber diesen Völkerschaften. 4 3 „Langsamer, vorsichtiger, systematischer zum Sozialismus übergehen - das ist für die Republiken des Kaukasus zum Unterschied von der RSFSR möglich und notwendig" 4 4 , heißt es bei ihm. „Die Arbeiter jener Nationen, die im Kapitalismus Unterdrücker waren, müssen besonders behutsam sein gegenüber dem Nationalgefühl 'der unterdrückten Nationen (beispielsweise die Großrussen, Ukrainer und Polen gegenüber den Juden, die Tataren gegenüber den Baschkiren usw.)" 4 5 . Und auf dem VIII. Parteitag der K P R ( B ) sagte er im Bericht über das Parteiprogramm am 19. März 1919: „Was können wir aber hinsichtlich solcher Völker tun, die, wie die Kirgisen, die Usbeken, die Tadshiken, die Turkmenen, bis auf den heutigen Tag unter dem Einfluß ihrer Mullas stehen? . . . Man muß da die Entwicklung der betreffenden Nation abwarten . . ," 46 Eine Notiz Lenins vom 6. Oktober 1922 für das Politbüro (über den Kampf gegen den Großmachtchauvinismus) zeugt von der grundsätzlichen Bedeutung, die er allen Fragen der Nationalitätenpolitik beimaß: „Man muß u n b e d i n g t darauf bestehen, daß im Zentralexekutivkomitee der Union der Reihe nach ein Russe ein Ukrainer ein Georgier u s w . den Vorsitz führt. U n b e d i n g t !" 4 ? A l l das zeugt von jener angespannten Aufmerksamkeit, mit der Lenin die verschiedensten Seiten der sowjetischen Nationalitätenpolitik verfolgte, wobei er schon 1916 „ i n d e r P t a x i s die absolute Beseitigung auch der kleinsten nationalen Reibungen, des geringsten nationalen Mißtrauens" 4 8 forderte und auf die detailliertesten Fragen einging. 4 9 Lenin realisierte hier die gleichen Prinzipien historischer Konkretheit und Elastizität, die er im gesamtstaatlichen Maßstab vertrat. 32

Ein charakteristisches Beispiel - auf anderer Ebene - führt I. Smirnow in seiner Arbeit Lenin und die sowjetische Kultur an, in der er mitteilt, wie Lenin 1918 die Akademie der Wissenschaften, die sich damals äußerst reserviert und verschlossen gegen die Sowjetmacht verhielt, zu einem Zusammenwirken bei der Ausarbeitung der Grundfragen der Volkswirtschaft heranzog. „Das Zurückbleiben der Akademie der Wissenschaften war Lenin klarer als irgendwem sonst. Doch Lenin stellte unter Wahrung von größtem T a k t und Feingefühl der Akademie keinerlei Bedingungen parteipolitischen oder organisatorischen Charakters. E r hielt es in jener Periode für unerläßlich, die Wissenschaftler vom Standpunkt der Staatsbürgerpflicht aus zu fordern - zum Dienst am Volke, zur Zusammenarbeit mit jener Macht, die zu errichten das Volk für notwendig erachtete. Und sobald die Wissenschaftler darauf eingingen, war die Basis für die Arbeit geschaffen." 50 D i e Aufgabe bestand darin - ohne einen Schritt von den Interessen der Revolution zurückzuweichen und ohne nötigenfalls auf Terror zu verzichten 51 - , all jenen entgegenzukommen, die man letzten Endes für die Revolution gewinnen konnte, und den Feinden jene abzuringen, die zu Freunden der Revolution werden konnten und mußten. Das war vor allem wichtig bei jenen Nationen und Völkerschaften, die den Weg zur Revolution unter besonders komplizierten und schwierigen Bedingungen angetreten hatten. „Die Randgebiete", so heißt es in dem Beschluß einer Beratung des Z K der K P R ( B ) mit den verantwortlichen Funktionären der nationalen Republiken im Juni 1923, „sind so arm an einheimischen Intellektuellen, daß keine Mühe gescheut werden darf, um jeden (jeden! - L. T.) von ihnen für die Sowjetmacht zu gewinnen." Man mußte den „Elementen Zugeständnisse machen, die revolutionär-demokratisch oder auch einfach nur loyal gegenüber der Sowjetmacht waren" 5 2 . Bereits zu Beginn des Jahres 1921 umriß der X . Parteitag der K P R ( B ) ein außerordentlich umfassendes Programm zur Entwicklung der nationalen Kultur aller Sowjetvölker: die ganze Mannigfaltigkeit der Lebensformen, der Kultur und der ökonomischen Lage der verschiedenen Nationen und Völkerschaften, die auf verschiedenen Entwicklungsstufen stehen, zu umfassen . . . , den werktätigen Massen der nichtgroßrussischen 3

Timofejew, Sowjetlit.

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Völker zu helfen, das fortgeschrittene Zentralrußland einzuholen, ihnen zu helfen, a) im eigenen Lande das sowjetische Staatswesen in den Formen zu entwickeln und zu festigen, die dem nationalen Gepräge dieser Völker entsprechen; b) im eigenen Lande in der Muttersprache wirkende Gerichte, Verwaltungskörperschaften, Wirtschaftsorgane, Machtorgane zu entwickeln und zu festigen, die aus Einheimischen zusammengesetzt sind . . . ; d) ein umfassendes Netz von Lehrgängen und Schulen . . . , die sich der Muttersprache bedienen, aufzubauen und zu entwickeln . . . , um möglichst schnell einheimische K a d e r . . . auszubilden." 5 3 So vollzog sich in den zwanziger Jahren der Kampf für eine beschleunigte Entwicklung aller Völker und Völkerschaften, die sich in die Sowjetunion eingegliedert hatten. E r basierte auf der gewaltigen historischen gesellschaftlich-ökonomischen Umgestaltung, die das Land in eine progressive Weltmacht verwandelt und die materielle Basis für die Entstehung einer fortschrittlichen sozialistischen Kultur geschaffen hat. E s ist hier nicht der Ort, detailliert auf diesen Prozeß und sein außergewöhnliches Tempo einzugehen. E s genügt, daran zu erinnern, daß im Verlauf von vierzig Jahren - verglichen mit 1913 - eine ganze Reihe von Städten neu errichtet wurde, daß zum Beispiel während des ersten Fünfjahrplans täglich ein neuer Industriebetrieb die Arbeit aufnahm, daß täglich u. a. zwei Sowchosen, ein bis zwei M T S und 115 Kolchosen entstanden, daß der Umfang der Großindustrie 1940 im Vergleich zu 1913 in Kirgisien um 153 und in Tadshikistan um 324 % höher lag usw. Natürlich zeigt das nur die Grundtendenzen des Prozesses zur Lösung der vor dem Land stehenden „Aufgaben von gigantischer Schwierigkeit". 54 D a s außergewöhnliche Erstarken des Landes fand vor allem in dem ständig wachsenden Zusammenwirken der Völker der Sowjetunion beim gigantischen schöpferischen Aufbau seinen Ausdruck. „In Usbekistan wie in der gesamten U d S S R gibt es keinen einzigen Betrieb, keinen Kolchos, keinen Sowchos und keinen Neubau, wo nicht Menschen verschiedener Völker und Völkerschaften Hand in Hand miteinander arbeiten. Im Tschirtschiker Elektrochemischen Kombinat zum Beispiel sind Vertreter von über dreißig Völkern und Völkerschaften beschäftigt. 3 5

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Konstantin Simonow betonte im Zusammenhang mit den erstarkenden internationalen sowjetischen Traditionen, bei der Herausbildung jener für alle sowjetischen Völker und Völkerschaften gemeinsamen internationalen Kultur, von der auch das Programm der KPdSU kündet, spiele es „eine große Rolle, daß überall bei uns im Lande mit jedem Jahr mehr ihrem Bestand nach internationale Kollektive existieren, angefangen bei den Komsomolbauten und endend bei den Lehranstalten der verschiedensten Art" 5 6 . Dieser Prozeß des Zusammenwirkens aller Völker und Völkerschaften, der mit den ersten Schritten der Entwicklung der Sowjetmacht begann 57 , fand einen international sichtbaren Höhepunkt im Großen Vaterländischen Krieg, an dem alle Völker der Sowjetunion beteiligt waren. Unter den im Krieg ausgezeichneten Soldaten befinden sich Vertreter von über hundert Völkern und Völkerschaften, wobei von den zwölftausend, die den hohen Titel „Held der Sowjetunion" erhielten, etwa viertausend Nichtrussen sind. 5 8 An der Neulandgewinnung nahmen Angehörige von 30, beim Bau des Wasserkraftwerkes Kachowka Arbeiter und Ingenieure von 25 Völkerschaften teil, die in den Erdölbetrieben von Mangyschlak Beschäftigten gehörten bereits 42 Völkerschaften an. 5 9 Im Taschkenter Textilkombinat arbeiteten Angehörige von 41, im Tschirtschiker Chemiekombinat von 32, im Usbekischen Metallurgischen Werk von 30, im Bekabader Zementkombinat von 32, im Werk Oktoberrevolution von 27, im Kolchos Ch. Tursunkulow von 18, im Sowchos Sawai von 18 und im Sowchos Malek von 21 Völkern und Völkerschaften. Die Studenten der Taschkenter Staatlichen Universität gehörten 47, die des Taschkenter Polytechnischen Instituts 42 Völkern und Völkerschaften an usw. usf. Auf diese Weise wird in den multinationalen Sowjetkollektiven in gemeinsamer Arbeit so intensiv und unmittelbar als möglich die wechselseitige Einflußnahme und Bereicherung der Menschen unterschiedlicher Völker und Völkerschaften realisiert, es entwickeln sich neue, kommunistische Beziehungen, neue Merkmale der Kultur, der Moral und der Lebensweise: Eine Erziehung im Geiste des proletarischen Internationalismus findet statt. 3'

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In solchen Kollektiven wächst auch rasch die Zahl der „nationalen Mischehen", es entstehen Familien, die man weder als usbekisch noch als russisch bezeichnen kann, es sind sowjetische Familien. 6 0 Die sozialistischen Verhältnisse in der Sowjetunion bilden einen neuen sozialen Typ des Sowjetmenschen heraus, dessen Haupteigenschaften - bei allen nationalen Besonderheiten der Lebensweise, Geschichte und des individuellen Charakters sich dennoch ähneln. Ali Nasim hob in seinem bereits erwähnten Beitrag auf dem Ersten Allunionskongreß der Sowjetschriftsteller hervor, Dshafar Dshabarly zeige „nicht .überhaupt' den Kampf um die Kolchosen, sondern den Kampf um die Kollektivierung im Turkdorf, in einem bestimmten, historisch entstandenen Milieu. Doch das bedeutet nicht, daß er im Rahmen dieses nationalen Milieus und seiner Besonderheiten verharrte - nein, er erhob sich, von ihm ausgehend, auf das Niveau allgemeiner sozialistischer, produktiver Aufgaben. Im Besonderen machte er das Allgemeine sichtbar." 61 Unter diesen Bedingungen entwickelten sich auch neue Formen der Zusammenarbeit zwischen Sowjetschriftstellern unterschiedlicher Nationalität, von denen beispielsweise die Dichterin Adelina Adalis in ihrer Erinnerung an Samed Wurgun erzählt. „Samed und ich arbeiteten gemeinsam. Er las zunächst die Verse vor, ich lauschte dem Klang, der Rhythmik, dann verfertigte er selbst eine Interlinearübersetzung. Mitunter fand er keine Worte, um seine Gedanken auszudrücken, da half ich ihm. Das ist", so fügte die Übersetzerin hinzu, „der ideale Versuch einer kameradschaftlichen, freundschaftlichen, kommunistischen Arbeit zweier Schriftsteller. Nur mit ihm ist mir das so gegangen. Hier gab es wahrhaftig ein gegenseitiges Verstehen . . . Um in das Wesen der von dem Dichter dargestellten Weiten Aserbaidshans einzudringen", führte sie weiter aus, „fuhr ich mit ihm und mit anderen Genossen nach Aserbaidshan, besuchte ich Lenkoran, Astara, Murgan, jene Orte, die in den Gedichten besungen werden." 6 2 Die beschleunigte Entwicklung der Sowjetvölker, die ihrer eigenen nationalen Kultur Gestalt verlieh, lenkte diese zugleich in den Strom der entstehenden gesamtsowjetischen Kultur.

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„Ich führe ein paar Daten und Fakten aus meinem Leben an", schreibt Muchtar Auesow. „Die Kinder- und Jugendjahre verbrachte ich in einer Filzjurte, in einem Nomadenaul. Ich wuchs in einer polygamen Familie auf. Mein Vater schickte mich in eine altmethodistische mohammedanische Medrese. Er träumte davon, d a ß ich M u l l a werden sollte. Und erst später gelang es mir dank dem Umstand, daß sich mein Großvater Kassymbek für die russische Kultur zu interessieren begann, mit viel Mühe in eine russische Schule überzuwechseln. Zu Beginn der Revolution absolvierte ich das russische Lehrerseminar. Und ich nahm damals an, daß meine Zukunft beschlossen sei: Ich werde Dorfschullehrer. Doch die Revolution gab mir die Möglichkeit zu weiterer Ausbildung. Ich studierte an der Philologischen Fakultät der Staatlichen Leningrader Universität, war Aspirant an der Staatlichen Mittelasiatischen Universität, wurde Professor, Doktor der philologischen Wissenschaften, ordentliches Mitglied der Kasachischen A k a demie der Wissenschaften usw. Ich bin jetzt achtundfünfzig Jahre alt. Und es ist nicht uninteressant, die Erinnerungen der Anfangs- und der heutigen Etappe meines Lebens gegenüberzustellen. In meinem Leben habe ich, ein Vertreter eines der zahlreichen Völker Asiens, drei Gesellschaftsformationen durchschritten: den Feudalismus, den Kapitalismus und den Sozialismus. Und heute nehme ich, wie alle Bürger meines Vaterlandes, am Aufbau des Kommunismus teil. In gewissem Sinne könnte ich, wie mir scheint, als ein wandelndes Lexikon gehen, bei dem zwischen Jugendzeit und Heute buchstäblich eine Ewigkeit liegt. Nach all dem, was ich gesehen, durchlebt und beobachtet habe, bin ich gleichsam wie aus dem fernen, nicht einmal europäischen, sondern asiatischen Mittelalter in die Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts gelangt. Manch einem wird es wohl schon schwerfallen, sich vorzustellen, welch einen Bereich von Erinnerungen, welch eine Distanz von Begriffen das Weltempfinden und die Ansichten eines Menschen darstellen, der einst in einer kasachischen Jurte erzogen wurde und ein halbes Jahrhundert später als Ehrengast und vollberechtigter Kollege, sagen wir, an einem Schriftstellerkongreß in Berlin teilnimmt." 6 3 37

Bereits 1927 schrieb P. S. Kogan über eine Kunstausstellung der Völker der U d S S R : „Auf der Ausstellung wird Literatur in mehr als fünfzig Sprachen und Dialekten vorgestellt. Unter ihnen sind Völkerschaften, die vor dem Oktober nur die Anfänge eines Schrifttums oder nicht einmal diese besaßen, Völker, die, wenn man es so nennen will, stumm, tot für die Zivilisation waren und gewaltsam vom zaristischen Regime auf der Kulturstufe der Urgesellschaft zurückgehalten wurden." 6 4 Und jetzt gibt es in der Sowjetunion künstlerisches Schaffen in den vielen Dutzend Sprachen der das Land bewohnenden Völker und Völkerschaften, und im Verlauf von fünfzig Jahren ( 1 9 1 8 - 1 9 6 7 ) erschienen über 213 000 Buchausgaben in diesen Sprachen. Auf dieser Grundlage entwickelte sich die Literatur des sozialistischen Realismus, die in ihren Schaffensprinzipien einheitlich ist, verbunden durch die organische Nähe ihrer ästhetischen Ideale, die Verwandtschaft der dargestellten Charaktere und typischen Lebenskonflikte, welche die Entwicklung der wichtigsten Sujetsituationen bestimmen. 1928 gab Maxim Gorki eine sehr umfassende Charakteristik des Aufblühens der nationalen Kulturen in der Sowjetunion und der gesamtsowjetischen Bedeutung dieses Prozesses: „Wir leben in einer Epoche der Wunder, die vom Verstand und vom Willen der Menschen geschaffen werden. D i e finnischen und die turkofinnischen Stämme, die alteingesessene Bevölkerung des Wolgagebietes - Mordwinen, Tschuwaschen, Tscheremissen lebten jahrtausendelang stumm, ohne Schulbildung, ohne Schrifttum, und jetzt haben sie sich nach zehn Jahren schon eigene Zeitungen geschaffen, geben Bücher in ihrer eigenen Sprache heraus, errichten Nationalmuseen, gründen Orchester und Chöre. E i n e große Arbeit haben die Kasaner Tataren geleistet, bei denen die künstlerische Kultur eine schnelle Entwicklung nimmt, es werden Kunst- und Musikschulen ins Leben gerufen, die Kulturarbeit ist im vollen Gang. D i e Kirgisen, Baschkiren, Kalmücken, die Stämme des Nordkaukasus und Mittelasiens - all die heterogenen Stämme der Sowjetunion haben mit unwahrscheinlicher Schnelligkeit gemeinsam eine große Arbeit zur Teilnahme an der Weltkultur durch die Entwicklung ihrer eigenen Stammeskultur begonnen. In Rußland vollzieht sich etwas, was es niemals und nirgends

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gegeben hat - das arbeitende russische Volk vereinigt tatsächlich alle verschiedenstämmigen Menschen bei einer großen Sache - bei der Schaffung neuer Lebensformen. Alle Stämme der Sowjetunion erhielten das Recht, frei in ihrer eigenen Sprache zu reden, frei für die Entwicklung ihrer Fähigkeiten zu arbeiten. Es vollzieht sich ein Prozeß gegenseitigen Austauschs von Eigenschaften und Qualitäten, der Typus des neuen Menschen bildet sich heraus. Rußland erteilt der Welt eine große Lehre, indem es die Notwendigkeit zeigt, Verschiedenartiges zu etwas Einheitlichem in Geist und Ziel zu vereinen." 65 Gorki erkannte klar den historisch einmaligen „Prozeß der Herausbildung einer einheitlichen sozialistischen Kultur, die, ohne die individuellen Züge der einzelnen Stämme aufzugeben, eine einheitliche, majestätische, zielgerichtete und die ganze Welt erneuernde sozialistische Kultur schaffen könnte" 66 . Der heutige Kampf für die sozialistische Umgestaltung der Welt bestimmt auch das künstlerische Schaffen der erwachten und durch die Revolution sich befreienden Völker, und dies ist notwendigerweise multinational. Mit der fortschreitenden Entwicklung des sozialistischen Realismus wird immer offensichtlicher, daß sein hauptsächliches Merkmal die Multinationalität der künstlerischen Erscheinungsformen ist. Der sozialistische Realismus ist seinem Wesen nach international. Wie die Entwicklung des kritischen Realismus oder der Romantik in den verschiedenen Ländern auf dem Vorhandensein allgemeiner Gesetzmäßigkeiten beruht, die der Kunst unter vergleichsweise ähnlichen gesellschaftlichen Bedingungen eigen sind, so ist im sozialistischen Realismus das internationale Moment historisch wie ideologisch bedingt: Durch die innere Einheit des multinationalen Befreiungsprozesses, der im Ergebnis der heranreifenden sozialistischen Umgestaltung der Welt entsteht. Nicht zufällig betonte Gorki bei der Charakterisierung der neuen sozialistischen Kunst die Notwendigkeit, sie sich vielfältig vorzustellen in den multinationalen Ausdrucksformen, in den wechselseitigen Beziehungen. Gerade diese Vielfältigkeit macht den Charakter des Entwicklungsprozesses der Sowjetliteratur aus, was Gorki auf dem Ersten Kongreß der Sowjetschriftsteller in die Worte zusammenfaßte: „Sowjetliteratur ist nicht nur eine Literatur der 39

russischen Sprache, sie ist eine Allunionsliteratur . . . Die verschiedenstämmige, verschiedensprachige Literatur aller unserer Republiken tritt als einheitliches Ganzes vor das Proletariat des Sowjetlandes, vor das revolutionäre Proletariat aller Länder und vor die uns befreundeten Schriftsteller der ganzen Welt." 6 7 Auf diesem Ersten Kongreß der Sowjetschriftsteller wurden über 40 Literaturen vorgestellt, und es waren Vertreter von 52 Völkern und Völkerschaften zugegen. „Die sozialistische Sowjetliteratur", so sagte der georgische Schriftsteller Nikolos Mizischwili damals, „entsteht durch die schöpferischen Leistungen nicht nur eines Volkes. Sie muß eine Synthese der gemeinsamen schöpferischen Bemühungen aller Völker der Sowjetunion, das Ergebnis einer Wechselwirkung der ihrer Form nach nationalen Literaturen darstellen." 6 8 In den zwanziger Jahren begann - ungeachtet des unterschiedlichen Entwicklungsstandes der einzelnen Literaturen, der Verschiedenartigkeit ihrer Traditionen, ihres historischen Alters und des Zeitpunktes ihres Eintritts in das allgemeine literarische Leben - der Werdegang einer einheitlichen Sowjetliteratur. Zu einem - bei weitem nicht vollständig erfaßten - Thema, das allen Literaturen der Sowjetunion gemeinsam ist, der Leniniana, gab es allein etwa hundert Bücher in verschiedenen Sprachen. 69

Überwindung nationaler

Selbstbescbränkung

Dieser Prozeß war natürlich außerordentlich kompliziert, da sich in ihm, wie schon gesagt, Literaturen unterschiedlicher Traditionen, Schicksale und ungleichen historischen Alters vereinigten. Ihm zugrunde lag vor allem die gegenseitige Beeinflussung und Bereicherung der Literaturen, die einen gemeinsamen Weg und eine gemeinsame künstlerische Sprache gesucht und gefunden hatten, um den einheitlichen historischen Prozeß der Entwicklung des Sowjetlandes als Ganzes widerzuspiegeln. Die Probleme der literarischen Wechselwirkung werden gewöhnlich auf zwei Ebenen untersucht: Einmal studiert man die literarischen Kontaktbeziehungen, d. h. die unmittelbare literar-

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historische Wechselwirkung von Literaturen, die durch reale künstlerische Wechselbeziehungen miteinander verbunden sind, und zum anderen ihre typologischen Beziehungen, d. h. vor allem die analoge historische Grundlage, die eine künstlerische Nähe der Literaturen unabhängig von ihrer unmittelbaren Einflußnahme bewirkt. 7 0 Bei den sowjetischen Literaturen hingegen haben wir es mit einem qualitativ neuen Typ von Beziehungen zu tun, der in den einheitlichen konkret-historischen Aufgaben begründet liegt, die von allen Völkern der Sowjetunion gemeinsam gelöst werden und dadurch ihre im Prinzip gleichartige künstlerische Widerspiegelung in diesen Literaturen finden. D i e Einheitlichkeit des historischen Weges bestimmt notwendigerweise auch die Einheitlichkeit der ästhetischen Zielsetzung, die Verwandtschaft der dargestellten Charaktere, die Ähnlichkeit der Hauptkonflikte und -sujets, sowie die G e meinsamkeit der künstlerischen Sprache, d. h. die analogen Grundprinzipien in Auswahl und Organisation der sprachlichen Ausdrucksmittel, allerdings entsprechend der nationalen Eigenart. Bei aller Unterschiedlichkeit der zu Beginn der Oktoberrevolution vorhandenen gesellschaftlich-ökonomischen Formationen war eine beschleunigte Entwicklung der zurückgebliebenen Völker und Völkerschaften auch dadurch möglich, daß sie unmittelbar mit komplizierteren und entwickelteren Gesellschaftsverhältnissen in Berührung kamen. Daher waren ihre sozialen Erfahrungen auch breiter, elastischer und letzten Endes stärker vorbereitet, als sich das - wie es scheinen konnte - aus ihren eigenen Möglichkeiten der nach der Revolution entstandenen neuen gesellschaftlichen Verhältnisse ergab. Aus diesem Grunde ist, wie Lenin auf dem Zweiten Kongreß der Kommunistischen Internationale 1920 hervorhob, allen werktätigen Massen unter den entferntesten Völkern die Idee der Sowjets nahe. 7 1 Axel Bakunz wies in seinem Diskussionsbeitrag auf dem Ersten Kongreß der Sowjetschriftsteller gerade darauf hin, daß die „kleinen Völker . . . den Weg einer geistigen Verarmung gegangen waren, indem sie zweifache Knechtung ertrugen die der russischen und die ihrer eigenen Bourgeoisie" 7 2 . Man kann hinzufügen, daß das Fehlen einer solchen eigenen Bourgeoisie bei einzelnen Völkern durch die Knechtung und Aus41

beutung seitens der russischen Bourgeoisie ersetzt worden war. Deshalb stand die Idee der Sowjets den Völkern des Landes selbst so nahe. Deshalb wurden auch die Schriftsteller der verschiedensten Völker und Völkerschaften durch die Einheit der gesellschaftlich-historischen Erfahrung zusammengeführt: Die sozialistische Revolution stellte ihnen zentrale Fragen, auf die sie gemeinsame Antworten finden konnten. Darauf vor allem beruht die Einheit der künstlerischen Methode. In der 1933 entstandenen Erzählung Ewnyto der Hirt des korjakischen Schriftstellers Kezai Kekketyn wird das Leben eines Hirten geschildert, der untertänig für einen Rentierherdenbesitzer namens Tschatschol arbeitet. Ihre Beziehungen sind noch von der patriarchalischen Ordnung geprägt. Da kommen russische Händler zu Tschatschol, dieser erhält Unterstützung vom russischen Kreispolizeichef, der Ewnyto „in das finstere Haus" setzen kann, und als über der Naturalsteuer-Hütte eine rote Flagge gesetzt wird und Ewnyto neben der Jaranga 73 „zwei Männer mit spitzen Mützen und seitlich an einem Riemen hängenden Lederbeuteln" sieht und darin „kleine Gewehre, aus denen sie auf Menschen schießen" 74 , begreift er sehr rasch, daß sich die Menschen in Unterdrücker und Unterdrückte teilen und daß der Kampf zwischen diesen beiden Welten begonnen hat. Der tadshikische Dichter Mirschakar hat die Lebensnähe im Schaffen der Sowjetschriftsteller sehr gut definiert. „Einige Kritiker", so schreibt er, „behaupten bei der Analyse meines Werkes, ich sei deshalb ein realistischer Schriftsteller geworden, weil ich weniger unsere Klassiker und um so mehr die russischen Dichter gelesen habe. Das ist durchaus nicht an dem. Ja, ich habe viele russische Dichter gelesen, auch Klassiker der Weltliteratur, aber mehr noch unsere eigenen Klassiker, ohne die ich überhaupt kein Dichter hätte werden können. Der Realismus in meinem Schaffen entstand auf den Feldern im Gissartal, wo wir als Komsomolzen den Dechanen 75 bei der Umgestaltung ihres Lebens im Kolchos halfen, im Gebiet von Kuljab und Boldshuan, als ich gemeinsam mit den Krasnopalotschniki unser Land von den Überresten der englischen Söldner, der Basmatschen, säuberte, im ehemaligen Kischljak Djuschambe . . . , wo ich täglich nach den Vorlesungen auf der Sowjetischen Par-

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teischule am Aufbau und an der Verschönerung der Stadt mitwirkte, und auf den fruchtbaren Äckern des Wachschtales, die nach Vollendung des grandiosen Bewässerungssystems zu neuem Leben erwacht waren." 7 6 D e r revolutionäre Umschwung führte auch zu einer entscheidenden Wandlung im Bewußtsein der Massen, es entstand eine neue Basis für die Rezeption des Lebensprozesses. In der Kunst drückte sich das vor allem in einer neuartigen künstlerischen Wirklichkeitsbetrachtung aus. Bei aller Vielfalt der Formen, die der Verlauf der Revolution in allen Gebieten des multinationalen Landes - des ehemaligen Russischen Reiches - annahm, waren die sozialen Konflikte doch ähnlich; die Träger der revolutionären Umgestaltung erwiesen sich als ihrem W e sen nach verwandte Charaktere; es kristallisierten sich die entscheidenden Ziele zur Schaffung einer sozialistischen Gesellschaft heraus. Diese diktierten dem Künstler Auswahl und Bewertung der Lebenserscheinungen, da sich verständlicherweise die Auswahl zunächst auf Erscheinungen allgemeiner Art erstreckte. D i e Epoche forderte vor allem eine direkte Antwort auf die Hauptfragen, eine Antwort, die unmittelbar, in der Aktion, in der revolutionären T a t zum Ausdruck kam, die gleichsam in verborgener Form das ganze innere Leben des in die Einheitsbewegung der Volksmassen einbezogenen Menschen in sich trug. Mit dieser durch den Oktober entstandenen Gemeinsamkeit des revolutionären Bewußtseins und Handelns wurde auch der Grundstein gelegt für die revolutionäre Kunst, für ihre gesamte Richtung, in die die Logik der Entwicklung von Leben und Ideologie unweigerlich die Schriftsteller der unterschiedlichsten national- und sozialhistorischen Schicksale hineinzog - unter der Bedingung natürlich, daß die unerbittliche Logik der Geschichte jene beiseite stieß, die nicht den Weg zur Revolution fanden. Hier liegt im Grunde auch der Ausgangspunkt für das, was man künstlerische Methode nennt, liegen die tatsächlichen inhaltlichen und ideologischen Quellen der Kunst. Es veränderten sich die Art und Weise und die Maßstäbe des Erfassens des Lebensprozesses. D i e Darstellung der Innenwelt des neuen Menschen und des neuen Bereichs der gesellschaftlichen Beziehungen traten in den Vordergrund; bei der Gestaltung von Individuen

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und sozialen Konflikten wurden Erfahrungen gesammelt. Die Entwicklung der sozialistischen Kunst war von Anfang an ungeachtet ihrer graduellen künstlerischen Gewichtigkeit hauptsächlich auf die Herausbildung der neuen Schaffensmethode gerichtet, in der jene Betrachtungsweise der neuen Wirklichkeit ihren Ausdruck fand, die durch die gesamte erhöhte materielle und geistige Kultur der sozialistischen Epoche bestimmt war. Von dem Empfinden, daß gerade die Gemeinsamkeit des historischen Weges, die Einheit der von allen Völkern der Sowjetunion zu lösenden konkreten historischen Aufgaben auch eine Einheitlichkeit der Grundrichtung ihres Schaffens bewirkt habe, war immer wieder in den Beiträgen auf dem Ersten Allunionskongreß der Sowjetschriftsteller des Jahres 1934 die Rede. Sehr deutlich drückte das zum Beispiel der tschuwaschische Schriftsteller A . Solotow aus: „Unsere russische Sowjetliteratur", so sagte er, „ist den Tschuwaschen, den Tataren, den Ukrainern, kurz: den Werktätigen aller Völkerschaften so nah und verwandt wie ihre eigene Literatur, und umgekehrt bereichern die besten Errungenschaften der nationalen Literaturen die Sowjetliteratur insgesamt. Denn die Arbeiter und die werktätigen Massen aller Völker vollbringen einmütig und mit gleichem Elan und Enthusiasmus ein großes Werk - das Werk der Errichtung einer klassenlosen, sozialistischen Gesellschaft. Deshalb sind die Bücher der Sowjetschriftsteller allen Völkern der Sowjetunion nahe, verständlich und teuer." 7 7 Prinzipiell neu, einzig und allein durch die Oktoberrevolution bedingt war es, daß in sämtlichen Literaturen und Sprachen der Sowjetunion die Schriftsteller sich darum bemühten, das für alle gleichermaßen Bedeutsame - den Aufbau des Sozialismus - in künstlerischen Bildern mit den ihnen gemäßen Mitteln zu erfassen. In welch unendlich vielfältigen Formen der sozialistische Aufbau vor allem in der ersten Zeit auch gestaltet wurde - von der Darstellung der Eskimo-Jaranga bis zu der des Kirowwerks in Leningrad - , Idee und Taten der Oktoberrevolution waren Inhalt aller Literaturen. Die Wechselwirkung der Literaturen begann mit der Widerspiegelung gerade dieser allgemeinen Erscheinungen der Wirklichkeit, die auch allgemein die Richtung der Ideen, Charaktere und Sujets angaben. 44

„Bedeutsam ist die Rolle der nationalen Kulturen im G e samtsystem des sowjetischen kulturellen Aufbaus", sagte Jeghische Tscharenz auf dem Ersten Allunionskongreß der Sowjetschriftsteller. „Aber . . . diese Rolle kann sich nur dann als annehmbar und fruchtbar erweisen, wenn wir sie nicht durch das Prisma in sich abgeschlossener .Nationalkulturen' betrachten. Als armenischer Schriftsteller gehöre ich auch zu einer ,kleinen' Nationalität und weiß, daß meine schöpferische Tätigkeit, wenn ich sie durch den Rahmen nationaler Abgeschlossenheit psychologisch begrenze, nur kläglich in ihrem Umfang und in ihrem Einfluß sein wird. Ich bin glücklich und fühle mich als ein Teil des fortschrittlichsten Stromes der Menschheit dank des Umstandes, daß die Oktoberrevolution diese klägliche Chimäre nationaler Selbstbeschränkung aus meinem geistigen G e sichtsfeld entfernt hat." 7 8 D i e Wechselwirkung der sowjetischen Literaturen vollzieht sich also in erster Linie über das einheitliche künstlerische E r fassen des Entwicklungsprozesses zum Sozialismus. Die Entwicklung der nationalen Kultur bestand besonders in den zwanziger Jahren hauptsächlich darin, daß sie zur Bestätigung ihrer nationalen Eigenständigkeit über ihre Grenzen hinausgehen mußte. In dem komplizierten und widersprüchlichen kulturhistorischen Prozeß nach der Oktoberrevolution war es außerordentlich wichtig, nicht nur der Umwandlung des Allgemein-Revolutionären in Konkret-Nationales Beachtung zu schenken, sondern auch umgekehrt der Ausweitung von Nationalem zu Allgemeinem, die sich bei der Erneuerung der durch die Revolution von sozialer und nationaler Knechtung befreiten nationalen Kultur vollzog, Aufmerksamkeit zu widmen. „In den ersten Erzählungen und Romanen der Literaturen Mittelasiens und Kasachstans", schreibt Jewgenija Lisunowa, „bestand die historische Konkretheit weniger in der Widerspiegelung der Lebensweise und der Gewohnheiten des Volkes, als vielmehr in der Vermittlung des revolutionären Pathos, in der Offenbarung der aktiven Haltung des Autors, in der Bestätigung des Neuen." 7 9 D i e Wechselwirkung der sowjetischen Literaturen erwächst primär aus der Realität selbst. Dies zu betonen, ist wichtig, da die Bedingungen des literarischen Lebens namentlich in der

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ersten Hälfte der zwanziger Jahre im Grunde genommen oft noch keine wechselseitige Beeinflussung der Literaturen im e n g e r e n S i n n e erlaubten.80 Viele Literaturen hatten gerade erst ihre Richtung eingeschlagen; in den Randgebieten des ehemaligen Russischen Reiches hallte noch das Echo des unlängst zu Ende gegangenen Bürgerkrieges; von daher waren die Bedingungen für eine k ü n s t l e r i s c h e Wechselwirkung noch nicht ausgereift. Auf dem Ersten Kongreß der Sowjetschriftsteller 1934 wurde sehr deutlich die außerordentliche Bedeutung einer solchen Wechselwirkung, besonders auch die Rolle der Übersetzungen von Werken nationaler Literaturen in andere Sprachen betont. Er offenbarte aber auch, daß diese Arbeit eigentlich erst Ende der zwanziger Jahre begonnen hatte. „Die bedeutungsvollste Erscheinung", hob Jeghische Tscharenz hervor, „die auf dem gegenwärtigen Kongreß sichtbar geworden ist, sind meines Erachtens die Vorträge über die nationalen Literaturen, die uns eine vielfältige, bislang unbekannte Welt erschließen."81 „Wieviel büßen wir dadurch ein, daß wir so schwach miteinander verbunden sind, einander so schlecht kennen"82, sagte Iwan Kulyk. Marietta Schaginjan äußerte die Ansicht, daß dieser Kongreß ein erster Anstoß für ein vergleichendes Studium der nationalen Literaturen sei. „Ist es etwa keine Schande", fragte der Georgier Tizian Tabidse, „daß wir, Dichter der Völker der Union - der Ukraine, Belorußlands, Armeniens, Mittelasiens - einander so wenig kennen?" „Wir erlebten die traurige Tatsache", fügte Tscharenz hinzu, „daß über nationale Literaturen nur nationale Autoren sprachen . . . " . - „Wir, die heutigen Dichter der Sowjetunion, müssen uns gegenseitig nicht nur durch zwei, drei zufällige Übersetzungen kennen, sondern - was das wichtigste ist - durch den lebendigen Austausch der schöpferischen Erfahrung, durch gegenseitige Übersetzungen."83 Kornej Tschukowski stellte fest, daß die Frage der Übersetzungen „sich plötzlich zu einem riesigen Problem, zu einem brennenden, keinerlei Aufschub duldenden Problem" auswuchs.84 Es genügt zu erwähnen, daß nach den Angaben der Chronik des Lebens und Schaffens A. M. Gorkis85 von 1917 bis 1924 insgesamt neunzehn Werke Gorkis übersetzt wurden, und zwar lediglich in sechs Sprachen der Völker der Sowjet46

union (ins Aserbaidshanische, Armenische, Georgische, Ukrainische, Tschuwaschische und Estnische).86 Selbstverständlich ist das Problem der Übersetzungen bei aller Wichtigkeit nur ein Teilproblem innerhalb der gesamtkulturellen Wechselwirkung der Völker der Sowjetunion. Es realisierte sich vor allem in unmittelbaren Beziehungen der Schriftsteller untereinander (Begegnungen Gorkis mit Sabit Mukanow, Kawi Nadshmi, Aaly Tokombajew, Waan Terjan und mit aserbaidshanischen Schriftstellern; viele von ihnen studierten in Moskau, Leningrad oder in anderen Städten). „Ich wuchs wie ein Baum mit Wurzel und Herz in Moskau auf. Das ist m e i n e Stadt"87 schrieb Jänis Sudrabkalns, und das gleiche konnten Samed Wurgun, Waan Terjan, Tizian Tabidse, Sabit Mukanow, Mikail Rafili, Mussa Dshalil, Chadi Taktasch, Adel Kutui, Berdy Kerbabajew, Leo Kiatscheli, Serafirn Kulatschikow (Elliai), Nikolai Mordinow, Iljas Dshansugurow, Muchtar Auesow, Askar Tokmagambetow, Tair Sharokow, Mechti Hussejn, Kassym Amansholow, Suleiman Rustam, Aibek, Kassymaly Bajalinow und sehr viel andere in bezug auf russische Städte sagen, in denen sie eine gemeinsame Sprache mit der russischen Kultur, mit dem russischen Volk gefunden haben. Und selbstverständlich spielte bei dieser Annäherung und Wechselwirkung nicht nur die russische Literatur, sondern auch - in stärkerem Maße noch - die russische Sprache eine große Rolle. „Ich hätte Russisch allein deshalb gelernt, weil es Lenin sprach"88, heißt es bei Majakowski. Axel Bakunz brachte diesen Gedanken auf dem Ersten Sowjetischen Schriftstellerkongreß zum Ausdruck: „Die nationalen Sprachen entwickeln sich jetzt unter dem Einfluß der russischen Sprache, was ich für völlig normal halte, denn das ist die Sprache der Oktoberrevolution."89 In seinem Aufsatz Das literarische Schaffen der Völker der UdSSR schrieb Maxim Gorki im September 1928: „Für Leser, die in verschiedenen Sprachen reden und schreiben, wird es leichter sein, sich mit dem Schaffen anderer Schriftsteller in russischen Übersetzungen bekannt zu machen, und das muß das gegenseitige Verständnis für die Gemeinsamkeit der Interessen, für die Gemeinsamkeit der Wege zu dem uns von der Geschichte und von unserem Willen gestellten Ziel beschleunigen."90 47

In der russischen Sprache artikulierten sich vor allem die revolutionären Erfahrungen der Völker der Sowjetunion und beeinflußten damit die Entwicklung der anderen Sprachen. Aufschlußreich sind Zahlen, die A. Altmyschbajew anführt: „Von der intensiven Entwicklung der Sprachen der mittelasiatischen Völker und zugleich von ihrer Annäherung an die russische Sprache künden beredt die Forschungsergebnisse des bekannten sowjetischen Turkologen Alexander Borowkow. Bei einer Analyse des Wortschatzes der modernen usbekischen Literatursprache stellte er fest, daß in einer Nummer der Zeitung Sarawschan vom 25. März 1923 die Anzahl der Wörter arabisch-persischen Ursprungs 37,4 % betrug, während es sowjetisch-internationale Termini, die über das Russische in die usbekische Sprache Eingang fanden, nur insgesamt 2 % gab. Siebzehn Jahre später jedoch, 1940, offenbarte die Zählung ein anderes Verhältnis: So kamen in einer Nummer der Zeitung ,Kysyl Usbekiston' vom 6. Februar 25 % Wörter arabisch-persischen Ursprungs und 15 % sowjetisch-internationale Wörter vor. Diese Zahlen sprechen - auch wenn sie nicht neuesten Datums sind - wohl für sich und bedürfen keiner Erläuterung." 91 In seiner Arbeit Gesetzmäßigkeiten der Entwicklung und der Wechselwirkung der Sprachen in der sowjetischen Gesellschaft^ weist Junus Descherijew nach, daß beispielsweise im Baschkirischen von 1764 physikalischen Termini 1420 und von 1948 chemischen Termini 1800 russischer Herkunft sind. Zugleich darf nicht vergessen werden, daß bei dem Annäherungsprozeß nicht nur die Wechselwirkung der sowjetischen Literaturen aufeinander eine wesentliche Rolle spielte; auch die vorrevolutionären Literaturen hatten daran ihren Anteil, insbesondere die russische.93 In bedeutendem Maße wurde vermittels der russischen Literatur auch die Weltliteratur zum Kulturbesitz der einzelnen Völker und Völkerschaften. „Bereits in meiner Kindheit liebte ich Shelley, doch ich las ihn in der russischen Ubersetzung Konstantin Balmonts, die erste Bekanntschaft mit Verhaeren schloß ich mit Hilfe Waleri Brjussows, zu Whitman gelangte ich erst richtig durch die Vermittlung Kornej Tschukowskis und so weiter, ohne Ende", schreibt Jänis Sudrabkalns. „Die russische Literatur selbst wurde für mich zur zweiten eigenen Literatur. Puschkin und 48

Lermontow, Nekrassow und Block, danach die sowjetischen Dichter wurden meine engsten Freunde. Die russische Sprache erschloß mir die Welt." 9 4 Und weiter: „Die Bücher Puschkins und Blocks, Gogols und Turgenjews, Tschechows und Gorkis . . . halfen mir, nicht nur die Seele Rußlands, sondern auch mein eigenes Lettland - wie überhaupt die Menschheit - besser zu verstehen." 95 Von Puschkin, Lermontow, Nekrassow und Lew Tolstoi sprachen auch Maxym Rylsky und Andrejs Uplts, Mechti Hussein und Andri Malyschko, Mirsa Ibrahimow und Mykola Bashan. Die Aufzählung von Namen könnte fortgesetzt werden. Ohne die russische Klassik wäre die geistige Entwicklung der sowjetischen Schriftsteller undenkbar. Erinnert sei an die Stelle aus Muchtar Auesows Roman Vor Tau und Tag, an der von Abais Übersetzung des Briefes Tatjanas die Rede ist. „Puschkin und Lermontow . . . Beider Lebensweg verlief weitab von der Steppe, in der Abais Väter umhergezogen, und sie beschlossen das Zeitliche in Gegenden, die den Kasachen unbekannt und unbegreiflich waren. Doch in diesem Winter waren sie beide Abai herzensnah g e r ü c k t . . . Aus fernen Welten gekommen, sprachen sie in einer fremden Sprache zu ihm, aber sie traten ihm freundlich entgegen wie Sippenverwandte . . . Das russische Mädchen Tatjana litt an demselben Gram wie die Töchter der Kasachen. Fern an Sprache, Sitte und Geschichte ihrer Völker, waren sie einander wesensnah, und das gleiche Schicksal einte sie . . .'