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German Pages 76 Year 2023
Andreas Heiber
Sofortmaßnahmen
Die wirtschaftliche Lage verbessern
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Andreas Heiber
Sofortmaßnahmen
Die wirtschaftliche Lage verbessern
Sofortmaßnahmen
Inhaltsverzeichnis 1 Vorweg zur Orientierung 1.1 Die problematische Zeit 1.2 Föderalismusfalle! 1.3 Die Mitarbeitenden mitnehmen! 1.4 Das Rezeptbuch
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2 Die Pflegeversicherung und ihre Missverständnisse 2.1 Beiträge und Leistungen 2.2 Einkaufsmodell der Pflegeversicherung 2.3 Wofür war das Pflegegeld gedacht? 2.4 Hilfe zur Pflege ist ‚keine‘ Sozialhilfe!
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3 Die Sachleistungen SGB XI richtig erbringen 3.1 Umgang mit Pauschalen 3.2 Hilfebegriff: wann darf/muss man abrechnen? 3.3 Vor- und Nachbereitung der Grundpflegeleistungen 3.4 Die Körperpflege genau definierten 3.5 Die Hilfen bei der Haushaltsführung abgrenzen 3.6 Zeitleistungen 3.7 Beratungsbesuche § 37.3 sinnvoll nutzen! 3.8 Erstgespräche abrechnen 3.9 Veränderungen schrittweise einführen 3.10 Strategien bei Preissteigerungen
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4 Kostenerstattungs- und Privatleistungen 4.1 Die richtigen Preise berechnen 4.2 Investitionskosten weiter berechnen 4.3 Verhinderungspflege richtig einsetzen 4.4 Entlastungsleistung nach § 45b differenzierter nutzen
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5 Behandlungspflege53 5.1 Wer ist zuständig für die richtige Verordnung? 53 5.2 Wer ist von Kürzungen betroffen? 54 5.3 Die missverständlichen Fristen 56 5.4 Widerspruchsverfahren effektiv führen 57 5.5 Leistungen abgrenzen 58 6 Organisationsfragen63 6.1 Wegezeiten reduzieren 63 6.2 Umgang mit kurzfristigen Absagen 64
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Inhaltsverzeichnis
6.3 Hybride Dienstbesprechungen und Fortbildungen 6.4 Autopflege 6.5 Rufbereitschaft verteilen 6.6 Digitales Übergabebuch nutzen! 6.7 Verwaltungsabläufe überprüfen
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7 Weiterführende Links und Literatur zu bestimmten Themen 74 Autor 75
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1 Vorweg zur Orientierung Als erstes eine Warnung: Wer hier ganz neue oder noch nie veröffentlichte Tipps und Ansätze erwartet, liegt falsch. Aufmerksame Leserinnen und Leser der Fachzeitschrift „Häusliche Pflege“ oder meiner/unserer Bücher werden hier kaum neue Punkte entdecken. Für diese Gruppe ist das Buch nicht erstellt worden (sorry)! Wer Tipps, Infos und Strategien zur Optimierung kompakt und einfach zusammengeschrieben sucht, der ist hier richtig!
1.1 Die problematische Zeit Momentan sind nicht wenige Pflegedienste in einer wirtschaftlich schwierigen Situation: Seit September 2022 sind die Personalkosten und deren Untergrenzen durch das Gesundheitsversorgungsweiterentwicklungsgesetz (GVWG) landesweit systematisch vorgegeben, was dazu führte, dass insbesondere die Gehälter der Pflege- und Pflegehilfskräfte zum Teil deutlich gestiegen sind und damit die Personalkosten insgesamt. Je nach Bundesland, gewähltem Tarif oder regionalem Entgelt werden die bisherigen eigenen Kalkulationen massiv verändert und sind zum Teil zumindest momentan nicht immer kostendeckend. Dazu kommen die unterschiedlichen Angleichungen im Bereich der Häuslichen Krankenpflege, wo die Krankenkassen noch sehr viel ‚zurückhaltender‘ in der Umsetzung sind als die Pflegekassen. Das führt mindestens kurzfristig zu wirtschaftlichen Problemen, die strukturell und dauerhaft nur durch eine bessere Vergütung zu verändern sind. Aber Vergütungsverhandlungen erfordern erst einmal Zeit und sind auch abhängig von Laufzeiten, landesweiten Strukturen etc. Die hier beschriebenen Sofortmaßnahmen können u. a. die nötige Zeit schaffen, die es für erfolgreiche Vergütungsverhandlungen braucht. Die Sofortmaßnahmen ersetzen aber keine Vergütungsverhandlungen! In der täglichen Beratungspraxis begegnen uns immer wieder scheinbar ganz banale Punkte und Verbesserungsmöglichkeiten, die zwar auf der Hand liegen, aber nicht bekannt, vergessen oder schlicht übersehen worden sind. Pflegedienste erbringen weiterhin und auch heute noch oftmals Leistungen, die sie richtig abrechnen könnten, wenn sie es nicht zwischendurch ‚vergessen‘ hätten: Wir nennen sie „Vergessene Leistungen“. Das ‚Vergessen‘ hat oft mit Gewohnheiten, mit ungenauen Formulierungen in den Leistungskatalogen, mit falschen Behauptungen von Mitarbeitenden des Medizinischen Dienstes und vielen anderen Faktoren zu tun.
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Sofortmaßnahmen
Fakt ist aber: Hier liegen Leistungszeiten und Umsätze, die eigentlich vertragskonform dem Pflegedienst gehören, und die er (warum auch immer) vergessen hat abzurechnen. Daher können hier relativ schnell erste Umsatzverbesserungen erreicht werden. Und die sind (vor allem dann) nötig, wenn es darum geht, die jetzt höheren Personalkosten zu refinanzieren. Diese Maßnahmen ersetzen keine Preisanpassungen und Vergütungsverhandlungen bzw. Vergütungssteigerungen, weder im SGB XI und bei Privatleistungen noch im SGB V. Aber sie können dringend notwendige Zeit verschaffen, bis die Verhandlungen erfolgreich geführt worden sind. Außerdem gehört es zur wirtschaftlichen Betriebsführung, in der Regel all das abzurechnen, was ein Pflegedienst leistet. Genauso gehört es zu einer wirtschaftlichen Betriebsführung, nicht ständig für andere die Arbeiten zu übernehmen (Stichwort Behandlungspflege).
1.2 Föderalismusfalle! Wir haben in Deutschland zurzeit bei 16 Bundesländern – ca. 20 verschiedene Leistungskataloge im SGB XI, – ca. 30 verschiedene Leistungskataloge und Vergütungsvereinbarungen im SGB V, – 16 Heimgesetze, – 16 verschiedene Regelungen zur Ausgestaltung der Angebote zur Unterstützung im Alltag (§ 45a), aber nur – ein Pflegeversicherungsgesetz SGB XI, – eine gesetzliche Grundlage zur Behandlungspflege § 37 mit einer Richtlinie Häusliche Krankenpflege und einer Bundesrahmenempfehlung nach § 132a, Abs. 1 (Grundlage der Verträge mit den Pflegediensten nach § 132a, Abs. 4). Wegen dieses föderalen Wirrwarrs ist es nicht möglich, immer den ‚richtigen‘ (in Ihrem Bundesland genutzten) Leistungskatalog zu erklären oder die richtigen Begrifflichkeiten etc. zu nutzen. Trotzdem dürfte erkennbar sein, was wie gemeint ist oder es gibt auch einmal die Übersicht zum föderalen Chaos wie beim „Teilwaschen“.
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1 Vorweg zur Orientierung
1.3 Die Mitarbeitenden mitnehmen! Die hier aufgeführten Sofortmaßnahmen sind sicherlich nicht vollständig, sondern könnten und müssten immer noch individuell ergänzt werden. Aber bei allen Maßnahmen wegen einer wirtschaftlichen Schieflage muss darauf geachtet werden, dass diese nicht (einseitig) zu Lasten der Mitarbeitenden gehen (negatives Stichwort: Erlösorientierte Einsatzplanung). Denn tatsächlich sind es die Mitarbeitenden, die den ambulanten Pflegedienst erst ermöglichen. Das heißt andererseits nicht, dass alle ‚Gewohnheitsrechte‘ so bleiben, wie sie sind und die Mitarbeitenden sich nicht auch verändern/anpassen müssen. Gleiches gilt für die „Heimlichen Leistungen“, die zwar allen Mitarbeitenden bekannt sind, die aber trotzdem ‚heimlich‘ erbracht werden. Diese sind, neben den vergessenen Leistungen, ebenso sichtbar zu machen und zu reduzieren. Nur müssen die Mitarbeitenden entsprechend abgeholt und mitgenommen werden. Dafür sind im Buch die vielen Fakten zur Pflegeversicherung und konkreten Beispiele da! Ohne Verständnis und Akzeptanz der Mitarbeitenden werden viele Umsetzungsschritte ins Leere laufen! Meine Erfahrung nach vielen Hundert Schulungen und Beratungen seit 1993 lautet: Es ist im Regelfall nicht schwierig, allen Mitarbeitenden die Probleme aufzuzeigen und die hier vorgestellten Veränderungsschritte zu gehen. Im Gegenteil: Je klarer Leistungen gemeinsam besprochen und geklärt werden, umso größer ist die Bereitschaft zur Umsetzung. Und die Fakten zur Pflegeversicherung – insbesondere die Aufklärung zu tatsächlichen Beitragszahlungen bisher und abgerufenen Leistungen – erzeugen immer ein erst mal ungläubiges Staunen und schaffen dann eine gute Grundlage für die weiteren Veränderungen! Um es gern wiederholt klar zu sagen: Pflege ist ein Wachstumsmarkt, insbesondere die ambulante Pflege. Die Babyboomer-Generation (zu der auch ich noch gehöre), kommt ins Rentenalter und dann irgendwann auch ins Pflegealter! Für keine andere Branche kann man so sicher vorhersagen, dass die Arbeit in den nächsten 30 bis 40 Jahren sichergestellt ist! Wer heute mit der Ausbildung beginnt, wird fast sicher nicht mehr arbeitslos Die Zahl der Pflegebedürftigen steigt deutlich an: Von 2019 auf 2021 um 20 %, bereinigt um den Pflegegrad 1 (der in 2019 nicht vollständig erfasst war), sind es immer noch 12 %! Und die stationäre Pflege stagnierte auch schon von 2017–2019 (und nicht erst coronabedingt 2021).
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Sofortmaßnahmen
Bundespflegestatistiken 1999-2021: Anzahl der Pflegebedürftigen
1999 2001 2003 2005 2007 2009 2011 2013 2015 2017 2019 2021
© SysPra.de, Daten: Bundespflegestatistiken Ambulant in % Stationär in % 1.442.880 71,57% 573.211 28,43% 1.435.415 70,37% 604.365 29,63% 1.436.646 69,17% 640.289 30,83% 676.582 31,79% 1.451.968 68,21% 68,43% 1.537.518 709.311 31,57% 1.620.762 69,32% 717.490 30,68% 70,29% 1.758.321 743.120 29,71% 70,89% 1.861.775 764.431 29,11% 72,61% 2.076.877 783.416 27,39% 76,00% 2.594.862 818.289 23,97% 80,17% 3.309.288 818.317 19,83% 84,01% 4.167.685 793.461 15,99%
Gesamt 2.016.091 2.039.780 2.076.935 2.128.550 2.246.829 2.338.252 2.501.441 2.626.206 2.860.293 3.414.378 4.127.605 4.961.146
Hinweis: In 2019 fehlten Lt. Bundesamt 160.000 Pflegebedürftige Pflegegrad 1 ambulant Der vollstationäre Rückgang 2021 ist auch bedingt durch die Pandemie.
Entwicklung der Pflegebedürftigkeit bis 2021 (© SysPra.de, Daten: Bundespflegestatistik)
6.000.000 5.000.000 4.000.000 3.000.000 Ambulant
2.000.000
Stationär Gesamt
1.000.000 0
199920012003200520072009201120132015201720192021
Abbildung 1.1: Entwicklung der Pflegebedürftigkeit (Bundespflegestatistik)
1.4 Das Rezeptbuch Als schnelles Rezeptbuch liefert das Buch hier keine ausführlichen Herleitungen mit umfangreichen Fußnoten, diese sind in anderen Büchern zu finden. Zweck dieser „Sofortmaßnahmen“ ist die einfache und pragmatische Erläuterung und konkrete Hilfestellungen im Sinne eines einfachen Rezeptbuches. Alle hier dargestellten Maßnahmen sind praxiserprobt und können
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1 Vorweg zur Orientierung
eigentlich in jedem Pflegedienst umgesetzt werden, soweit hier entsprechender Bedarf vorhanden ist! Die „Sofortmaßnahmen“ sind zwar schnell und sofort umsetzbar, aber sollten immer dauerhaft eingeführt werden. Sie sorgen für eine weitere wirtschaftliche Stabilisierung und schaffen so eine verlässliche Grundlage auch für das Führen von Vergütungsverhandlungen, wenn es z. B. um Fakten wie Versorgungszeiten oder Wegezeiten gehen wird. Ohne angepasste Vergütungen werden die „Sofortmaßnahmen“ nicht helfen. Daher muss parallel die Kostenrechnung aufgebaut/vorbereitet werden, die die Grundlagen für Vergütungsverhandlungen ist. Nur wer seine genauen Kosten im Bereich SGB XI oder SGB V oder Privatleistungen kennt, kann auf dieser Basis erfolgreich Einzel- oder Gruppenverhandlungen führen! Gerade im SGB XI sind Einzelverhandlungen führbar und in der Regel erfolgreicher als die Abschlüsse auf Landesebene. Dabei ist die Verhandlungsvorbereitung der wesentliche Erfolgsfaktor für die Verhandlungen (siehe dazu Literatur). Im Anhang finden sich einige Hinweise zu weiterführender Literatur und Links zu den wesentlichen Gesetzestexten und Dokumenten. Das Buch hat seinen Ausgangspunkt im Artikel „Sofortmaßnahmen zur Verbesserung der wirtschaftlichen Lage“ in der carekonkret vom 03.03.2023. Lukas Sander, Chefredakteur der Häuslichen Pflege, hatte dann die Idee, daraus ein Buch zu machen, das aus meiner Sicht nur dann sinnvoll ist, wenn es schnell auf den Markt kommt. Pünktlich zur Altenpflege 2023 wird es nun erscheinen, auch dank der zügigen Korrekturen durch meinen Kollegen Gerd Nett und der schnellen Umsetzung in Lektorat und Herstellung bei Vincentz Network. Viel Erfolg bei der Umsetzung! Bielefeld, 02.04.2023 Andreas Heiber
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2 Die Pflegeversicherung und ihre Missverständnisse Die Frage, wie die Pflegeversicherung konstruiert ist und was sie absichert, ist von Beginn an mit falschen Hoffnungen, verkürzten Darstellungen und bewusstem Ignorieren von Fakten verbunden gewesen und weiterhin verbunden. Die Absicherung der Pflege wurde und wird nicht als staatliche Aufgabe definiert, sondern wurde als Teil der Sozialversicherung konstruiert. Selbst die Absicherung ist reduziert auf die ‚soziale‘ Absicherung des Risikos der Pflegebedürftigkeit. Diese alleinige soziale Risikoabsicherung kollidiert mit der heutigen Realität der Pflege sowie mit den Erwartungen der Bürgerinnen und Bürger. Ob man das Konzept der Pflegeversicherung in dieser Form gut findet oder nicht, es bildet die Grundlage der Versorgung. Die damit verbundenen Fehlinterpretationen sind ein Grundproblem bei der Leistungserbringung, dass die Pflegedienste von Beginn an zu bearbeiten haben. Leider kennen aber auch die Mitarbeitenden in der Pflege die vereinbarten gesetzlichen Grundlagen genauso wenig, so dass sie sich immer wieder durch zum Teil falsche Behauptungen der Pflegebedürftigen beeindrucken lassen. Daher müssen erst einmal (wieder) die tatsächlichen Grundlagen auf der Basis der Geschichte und der Fakten geklärt werden.
2.1 Beiträge und Leistungen Die Pflegeversicherung wurde 1995 zwar als fünftes Bein der Sozialversicherung eingeführt (neben Krankenversicherung, Unfallversicherung, Arbeitslosenversicherung und Rentenversicherung), aber mit einem völlig anderen Bauprinzip: Zum ersten Mal steht bei den Leistungen nicht die (wie auch immer geartete) Bedarfsdeckung im Vordergrund, sondern nur ein Zuschuss als Teil dieser Bedarfsdeckung. Die ambulanten Leistungen sollen immer nur die familiäre, nachbarschaftliche oder sonstige ehrenamtliche Pflege und Betreuung ergänzen (§ 4 Abs. 2 SGB XI)! Dafür hat sich der etwas sperrige Begriff „Teilkasko“ etabliert (wobei auch die meisten Fahrzeugbesitzer den Unterschied zwischen der Teilkasko und der Vollkaskoversicherung ihres Autos nicht wirklich kennen). In der Bevölkerung ist auch nach 28 Jahren Pflegeversicherung immer noch der Irrglaube verankert, dass man allein mit Leistungen der Pflegeversicherung ausreichend versorgt sei! Das ist der Alltag in jedem Vertragsgespräch der Pflegedienste mit den Pflegebedürftigen und ihren Angehörigen: Erst einmal aufzuklären, dass diese Leistungen gar nicht reichen sollen und reichen können.
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Sofortmaßnahmen
Das Argument, dass dann immer kommt und auch immer gegenüber den Mitarbeitenden genutzt wird: „Ich habe doch mein Leben lang einbezahlt und jetzt bekomme ich so wenig!“ Dies ist schlichtweg falsch, obwohl es täglich ausgesprochen wird.
Die Fakten: – Die Pflegeversicherung wurde 1995 eingeführt, also im Jahre 2023 vor 28 Jahren. Alle Mitarbeitenden, die Jahrgang 1995 oder älter sind, haben genauso lange Beiträge in die Pflegeversicherung einbezahlt (in Kinderjahren über die Familienversicherung) wie der z. B. neunzigjährige Pflegebedürftige, den diese Mitarbeitende gerade versorgt! – Was hat denn ein Pflegebedürftiger von 1995 bis Ende 2022 (also in 27 Jahren) tatsächlich eingezahlt? Wer in den ganzen Jahren jeweils über der Beitragsbemessungshöchstgrenze (2022 bei 4.837,50 € in Westdeutschland) mit seinen Einkünften lag, hat insgesamt in den 27 Jahren 25.967,86 € an Beiträgen bezahlt. Dazu muss man allerdings wissen, dass Einkünfte aus Vermietung sowie Kapitaleinkünfte (z. B. aus Aktienpaketen) nicht sozialversicherungspflichtig sind. Pflegebedürftige mit Einnahmen aus diesen Einkunftsarten haben also tatsächlich oftmals weniger eingezahlt (zumindest im Verhältnis zu ihren Einkünften) als die Pflegebedürftigen, die keine anderen Einkünfte als ihren Lohn oder jetzt ihre Rentenzahlung haben. – Ein Pflegebedürftiger mit einer heutigen Rente von 1.580 €/Monat (West), der keine Kinder hatte, hat in dieser Zeit maximal 8.594,04 € eingezahlt, ein Rentner in Ostdeutschland hat mit einer heutigen Rente von 1.506 €/Monat nur 7.907,27 € an Beiträgen in den 27 Jahren gezahlt. – Eine Bruttorente am 01.01.2022 (Westdeutschland) von 1.580 € entsprach am 01.01.1995 einer Bruttorente von 1.058 € (Steigerung 48%); in Ostdeutschland entsprach eine Bruttorente am 01.01.2022 von 1.506 € einer Bruttorente am 01.10.1995 von 815,51 € (Steigerung 80%). Die Rentenwerte sind ab Juli 2023 dann in Ost- und Westdeutschland identisch, lt. der aktuellen Information zur Rentensteigerung 2023. Die Höhe der Leistungen, die die Pflegeversicherung pro Jahr finanziert, sind in Abb. 2.1 dargestellt, auch im Mix der verschiedenen Leistungsarten. Die ausgezahlten Leistungen waren für alle Pflegebedürftigen in West- und Ostdeutschland gleich hoch. Die heutigen Pflegebedürftigen erhalten viel mehr Leistungen, als sie jemals an Beiträgen eingezahlt haben. Das ist sozialpolitisch so gewollt und auch gut so! Aber auf dieser Grundlage ist der Satz „Ich habe mein Leben lang einbezahlt und jetzt erhalte ich so wenig!“ schlicht falsch, verfängt aber gern bei den Mitarbeitenden. Daher ist insbesondere Abb. 2.1 hilfreich,
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2 Die Pflegeversicherung und ihre Missverständnisse
Leistungsbezug: Kosten pro Jahr ab 2022 Pflegegrad 2
Ambulante Leistungen
Pflegegrad 3
Pflegegeld Sachleistung Verhinderung/Entlastungsbetrag Tagespflege
3.792 € 8.688 € 3.112 € 8.268 €
Pflegegeld + Verhind.+ Entlastung
6.904 € 11.800 € 20.068 €
Sachleistung + Verh. + Entlastung Sachl. + Verh./Entl. + Tagesp.
Vollstationär
Pflegegrad 4
Pflegegrad 5
Ambulante Leistungen pro Jahr
9.240 €
6.540 € 16.356 € 3.112 € 16.356 €
8.736 € 20.316 € 3.112 € 20.316 €
10.812 € 25.140 € 3.112 € 25.140 €
Gesamt pro Jahr 9.652 € 11.848 € 19.468 € 23.428 € 35.824 € 43.744 €
13.924 € 28.252 € 53.392 €
15.144 €
24.060 €
21.300 €
sowie steigende Reduzierung der Eigenanteile pro Jahr
Abbildung 2.1: Leistungen pro Pflegegrad
um diese aufzuklären und etwas gegen das falsche Argument zu immunisieren. Es hilft auch, die Abb. 2.1 groß kopiert im Dienstzimmer aufzuhängen!
2.2 Einkaufsmodell der Pflegeversicherung Die Pflegeversicherung ist 1995 nicht nur als Teilkasko-Modell konzipiert worden, sondern auch als Einkaufsmodell. Klar ist beim ‚Teilkasko-Modell‘, dass die Leistungen der Pflegeversicherung nicht bedarfsdeckend sind und auch nicht sein sollen. Die Pflegeversicherung versteht den Pflegebedürftigen als ‚Kunden‘, der frei wählen und damit einkaufen kann, welche Hilfestellungen er mit dem ihm zur Verfügung stehenden Budget einkaufen will und welche nicht. Dabei wurde nicht infrage gestellt, ob die Pflegebedürftigen tatsächlich sich wie echte Kunden benehmen können und bewusst, unter Berücksichtigung der Konsequenzen, einkaufen. Oder ob sie nicht eher den Status von ‚Patienten‘ haben, um die sich die Fachpflege zu kümmern hat. Genau diese beiden unterschiedlichen Rollen trifft man in der Praxis zum Teil zeitgleich nebeneinander an: – Im Vertragsgespräch bei der Aushandlung von Leistungen und übrigbleibenden Pflegegeldanteilen finden die Gespräche mit dem Kunden statt, egal ob in Gestalt des Pflegebedürftigen oder seiner Angehörigen als Sachwalter des Pflegebedürftigen (oder als Sachwalter des potentiellen Erbes). Sie entscheiden im Kundensinne, was sie nicht
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Sofortmaßnahmen
wollen und akzeptieren dann die Konsequenzen (das bestimmte Tätigkeiten oder Unterstützungsleistungen nicht durchgeführt werden). Und insbesondere ein Blick auf die jeweilige(n) Preisliste(n) führt oft zu überraschenden Spontanheilungen: Wenn man für eine bestimmte Leistung, wie zum Beispiel die morgendliche Hilfe aus dem Bett aufzustehen, Geld bezahlen soll, dann kann man (auf einmal) wieder selbstständig aufstehen. – Im Pflegealltag wechselt dann die Rolle des selbstbestimmten Kunden in die Rolle des hilfe- und kümmerbedürftigen Menschen. Und die Pflegekraft ist ja angeblich erst einmal zum Helfen da und nicht für vorher vereinbarte Leistungen. Erst wenn die Pflegekraft darauf hinweist, dass bestimmte zusätzliche Leistungen gern erbracht werden könnten, wenn sie sie abrechnen kann, dann wechseln die Rollen wieder zurück vom Patienten zum Kunden. Wer bei diesem Rollenwechsel durcheinander kommt, vergisst, dass die Auswahl der beauftragten Leistungen bewusst und mit Absicht durchgeführt wurde und eine davon abweichende Hilfe/Leistung ohne ausdrückliche Zustimmung und Abrechnung eigentlich ein Verstoß gegen das Selbstbestimmungsrecht des Pflegebedürftigen ist, das in jedem Pflegedienstleitbild beschrieben steht. Natürlich kann der Pflegebedürftige sich jederzeit anders entscheiden mit der Konsequenz der Abrechnung. Aber warum sollten Leistungen erbracht werden, die nicht bezahlt werden? Um hier nicht missverstanden zu werden, es geht nicht um einmalige Leistungen, die in einer Sondersituation erbracht werden, sondern um dauerhafte Leistungen. Kein Kunde einer Bäckerei leitet aus der Tatsache, dass er heute vielleicht mal ein Brötchen geschenkt bekommen hat, einen dauerhaften Anspruch auf ein kostenfreies Brötchen pro Tag ab. Aber in der ambulanten Pflege scheint dies Standard zu sein!
BEISPIEL Die Familie des Pflegebedürftigen hat gemeinsam mit ihm im Vertragsgespräch darauf bestanden, dass die Windelhose nicht am Morgen vom Pflegedienst gewechselt wird, sondern erst am Mittag von der Schwiegertochter. Die Leitungskraft hat zwar mehrfach darauf hingewiesen, dass aus gesundheitlichen Gründen die Windelhose häufiger gewechselt oder wenigstens kontrolliert werden müsste, aber der Pflegebedürftige schließt sich dem Familienwillen an und beauftragt nur andere Leistungen am Morgen. Am nächsten Tag soll morgens nur die Insulininjektion erbracht werden. Der Kunde sitzt sehr unruhig im Bett, am Geruch ist schon zu merken, was die Ursache ist. Wenn die Pflegefachkraft ihm nun den Wechsel mit den Worten „Wir machen das mal schnell weg!“
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2 Die Pflegeversicherung und ihre Missverständnisse
ankündigt, ist das ohne seine Zustimmung schon übergriffig. Nur mit seiner Zustimmung und der konsequenten Abrechnung könnte die Leistung erbracht werden. Wenn er aber die Zustimmung verweigert, weil sie dann Geld kostet, darf die Pflegekraft die Leistung nicht erbringen! Sie muss nur dokumentieren, dass sie das Problem bemerkt und ihm eine Lösung angeboten hat, die er abgelehnt hat!
Für alle Mitarbeitenden, die sich nun aufregen mit dem Hinweis „man könne den alten Menschen doch nicht dort so liegen lassen“ (Dermatitis- und Dekubitusgefahr, Menschenwürde ...) stellt sich die Frage, ob sie sich über den erklärten Willen des Pflegebedürftigen hinwegsetzen dürfen? Oder hat er das Recht selbst zu entscheiden, auch mit der Konsequenz einer eigenen Gefährdung? Eine vergleichbare Situation wird jeden Tag im Pflegedienst anders beurteilt: Kolleg:innen, die rauchen, werden zwar in die Raucherecke geschickt, aber trotzdem entreißen ihnen ihre Fachkolleg:innen nicht die Zigaretten, um sie vor einem möglichen Lungenkrebs zu bewahren. Auch hier geht es allein um die Freiheit, selbst zu entscheiden und die Konsequenzen zu tragen. Bei den Pflegebedürftigen ist das nicht anders. Sollte der Pflegebedürftige nicht mehr geschäftsfähig sein, kann dies tatsächlich nur von einem Gericht festgestellt werden. Solange keine gesetzliche Betreuung vorliegt, dürfen die Pflegebedürftigen noch selbst entscheiden, auch wenn sie dabei dem Willen der Angehörigen folgen und/oder sich selbst objektiv schaden.
TIPPS ZUR UMSETZUNG • Diese Diskussion immer wieder im Team führen! Faktisch hat jeder Pflegebedürftige das Recht „zu stinken“, das gehört zum Selbstbestimmungsrecht. Und solange sie geschäftsfähig sind, dürfen sie das Recht ausüben, ansonsten sind die rechtlichen Betreuer in der Verantwortung. Nur wenn die Pflegekräfte nicht (ständig) sämtliche bewusst gelassenen Lücken ‚stopfen‘, sondern diese sichtbar werden, wird sich etwas ändern. • Auf bewusste defizitäre Versorgungswünsche kann der Pflegedienst nur reagieren, indem er bspw. den Pflegevertrag kündigt (und so die Konflikte von den eigenen Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen fernhält). Aber er hat bei der Erbringung von Sachleistungen auch das Recht und die Pflicht, die Pflegekassen zu informieren, weil sich der Zustand des Pflegebedürftigen wesentlich geändert hat (§ 120 Abs. 1 SGB XI). Wenn dann die Pflegekassen nicht einschreiten (z. B. über die Pflegeberatung nach § 7a), bleibt nur der Selbstschutz in Form der Kündigung.
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Sofortmaßnahmen
2.3 Wofür war das Pflegegeld gedacht? In Deutschland wurde das erste Pflegegeld schon 1991 im Rahmen der Leistungen zur Schwerpflegebedürftigkeit (§§ 55-57 SGB V in der Fassung bis 1994) eingeführt, damals wie heute als „Dankeschön“ für die ehrenamtliche Hilfe und Unterstützung. Im Gesetzentwurf zur Pflegeversicherung 1993 wird die Leistung folgendermaßen begründet: „Die Geldleistung stärkt die Eigenverantwortlichkeit und Selbstbestimmung des Pflegebedürftigen, der mit der Geldleistung seine Pflegehilfen selbst gestalten kann. Die Höhe des Pflegegeldes ist abhängig vom Grad der Pflegebedürftigkeit. Das Pflegegeld soll kein Entgelt für die von der Pflegeperson oder den Pflegepersonen erbrachten Pflegeleistungen darstellen. Es setzt vielmehr den Pflegebedürftigen in den Stand, Angehörigen und sonstigen Pflegepersonen eine materielle Anerkennung für die mit großem Einsatz und Opferbereitschaft im häuslichen Bereich sichergestellte Pflege zukommen zu lassen. Das Pflegegeld bietet somit einen Anreiz zur Erhaltung der Pflegebereitschaft der Angehörigen, Freude oder Nachbarn. Die Geldleistung stellt ein Sachleistungssurrogat dar (siehe § 30)“. § 30 „ Das Pflegegeld ist keine Geldleistung im eigentlichen Sinne. Vielmehr ist es zweckgebunden zur Sicherstellung der Pflege durch selbst beschaffte Pflege und ersetzt nur die eigentliche Leistung, nämlich die Sachleistung (sogenannte Sachleistungssurrogat“ (Erläuterung zu §§ 30 und 33; BR-Drs. 505/93 vom 13.08.1993). Das Pflegegeld ist eine Versicherungsleistung und war und ist weiterhin zweckgebunden nur für die Sicherstellung der Pflege im Sinne der Pflegeversicherung gedacht. Ob es aber immer dafür verwendet wird, darf bezweifelt werden, wie eine Studie des VdK-Sozialverbandes aus dem Jahre 2022 zeigt, die die Hochschule Osnabrück unter Verantwortung von Prof. Dr. Andreas Büscher durchgeführt hat (Abb. 2.2). Wenn mehr als die Hälfte der (freiwillig) Teilnehmenden an der Onlinebefragung bei dieser Frage die Aussage ankreuzen, dass sie das Pflegegeld (auch) für „Andere Ausgaben“ nutzen, weitere 18 % für „Sonstige Ausgaben“ angeben, dann stellt sich die Frage, ob das Pflegegeld in dieser Höhe zweckbestimmt im Sinne der Versicherung genutzt wird. Ein Großteil der Pflegebedürftigen nutzt die Sachleistungen aktuell gar nicht aus, sondern bezieht Kombinationsleistungen mit einem entsprechenden Anteil Pflegegeld. Wenn diese Pflegekunden gleichzeitig die Aussage treffen, sie könnten sich nicht mehr Pflege leisten, ist diese Aussage in Bezug auf die Versicherungsgelder falsch! Denn sie geben ja nicht alle für die Pflege verfügbaren Leistungen für die Pflege aus, sondern für etwas anderes.
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2 Die Pflegeversicherung und ihre Missverständnisse
Wofür wird das Pflegegeld verwendet ? Frage einer Onlineberatung des VdK- Sozialverbandes 2022 ca. 56.000 Teilnehmende, davon 21.000 aktive Pflegepersonen; Mehrfachnennungen möglich
Durchgeführt von der Hochschule Osnabrück, Prof. Dr. Andreas Büscher
Für laufende Ausgaben (n = 8796) Für Dienstleistungen, die in der Pflegeversicherung nicht vorgesehen sind (n = 6.546) Für Angehörige/Hauptpflegepersonen ("Das bekomme ich") (n = 6.214) Für andere Familienmitglieder und Freunde, die der pflegebedürftigen Person helfen (n = 3.157) Für Betreuungsangebote wie Tagesgruppen oder Einzelbetreuung durch Betreuungskräfte ( n=2.101) Für ehrenamtliche Hilfe (n = 1.396) Sonstiges (n = 3.086)
Angehörige (n = 16.970) 51,8% 38,6% 36,6% 18,6% 12,4% 8,2% 18,2%
Quelle: VdK-Pflegestudie, 3. Zwischenbericht 2022, Hochschule Osnabrück, Prof. Dr. Büscher
Abbildung 2.2: Wofür wird das Pflegegeld verwendet?
TIPPS ZUR UMSETZUNG Die Mitarbeitenden über den eigentlichen Zweck des Pflegegeldes aufklären und informieren, welche Pflegebedürftigen die Sachleistungen tatsächlich ausschöpfen und welche die Leistungen nur teilweise nutzen (Kombileistungen). Wenn die Mitarbeitenden wissen, dass die Leistungen bei diesem Kunden gar nicht ausgenutzt werden, können sie einfacher/entspannter auf die Forderungen nach kostenfreien Leistungen reagieren. Sinnvoll wäre, dass die Mitarbeitenden zusätzlich im Tourenplan die Information sehen (durch einen Zusatz oder eine farbliche Markierung) könnten, ob ein Pflegebedürftiger die Sachleistungen ausschöpft oder nicht. Diese Zusatzinformation könnte helfen, die Menge von möglichen Heimlichen Leistungen zu begrenzen.
2.4 Hilfe zur Pflege ist ‚keine‘ Sozialhilfe! In der Sozialhilfe kann man zwei grundsätzliche Hilfearten unterscheiden: zu einem die Hilfen zum Lebensunterhalt bzw. Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung. Diese setzen den kompletten Einsatz des vorhandenen Einkommens (und natürlich des Vermögens) voraus. Die Höhe der Hilfe ergibt sich inzwischen aus dem aktuellen Bürgergeld (2023: 502 €) zzgl. Kosten für angemessenen Wohnraum, Familien- und Kinderzuschläge (siehe Abbildung 2.3)
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Sofortmaßnahmen
Hilfearten und Einkommenseinsatz Kap. 3 Hilfe zum Lebensunterhalt
Kap. 4 Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung
Kap. 5. - 9. Sonstige Leistungen
Bedürfnisse eines Menschen im täglichen Leben ab
orientiert sich an den qualifizierten Notlagen eines Menschen
Notwendiger Lebensunterhalt insbesondere Ernährung, Unterkunft, Kleidung, Körperpflege, Hausrat, Heizung und persönliche Bedürfnisse des täglichen Lebens. Auch in vertretbarem Umfang Beziehungen zur Umwelt und Teilnahme am kulturellen
Arten der Hilfe 5. Kap. Hilfe zur Gesundheit 6. Kap. ohne Inhalt (früher Eingliederungshilfe) 7. Kap. Hilfe zur Pflege 9. Kap. Hilfe in anderen Lebenslagen
voller Einkommenseinsatz
Einkommenseinsatz nur oberhalb der geschützten Einkommensgrenzen
nach "Hilfe zur Pflege nach dem SGB XII", Hrsg. U.Krahmer, H. Schellhorn, Vincentz Network 2022
Abbildung 2.3: Sozialhilfe: Hilfearten und Einkommenseinsatz
Die weiteren Hilfearten der Sozialhilfe, wie bspw. die Hilfe zur Pflege, setzen nur voraus, dass der Betroffene Einkommen oberhalb geschützter Einkommensgrenzen einsetzen muss. Dabei ist auch nicht das komplette Vermögen einzusetzen, hier ist die Freigrenze auf 10.000 € erhöht worden, auch andere Vermögenswerte wie Erbstücke etc. können geschützt sein. Die Definition der Einkommensgrenze, bis zu der das eigene Einkommen nicht für die Hilfe zur Pflege eingesetzt werden muss, ist in § 85, Abs. 1 SGB XII geregelt. – Grundbetrag in Höhe des Zweifachen der Regelbedarfsstufe 1 (aktuell: 502 €; also zweifach = 1.004 €) – angemessene Kosten für Unterkunft mit Nebenkosten – Familienzuschlag je Partner/unterhaltspflichtige Person: 70 % der Regelbedarfsstufe 1
BEISPIEL Die pflegebedürftige Rentnerin hat eine Rente von 1.000 €, die Mietkosten mit Nebenkosten betragen 400 €. Sie hat Pflegegrad 2 und benötigt Pflegeleistungen über den Pflegegrad hinaus in Höhe von 250 €. Da die doppelte Regelbedarfsstufe zuzüglich
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2 Die Pflegeversicherung und ihre Missverständnisse
Miete bei 1.404 € liegt, könnte der Sozialhilfeträger die kompletten 250 € Pflegeleistungen übernehmen. Selbst wenn die Rentnerin 1.500 € Rente hätte, müsste sie nur 96 € selbst übernehmen, der Sozialhilfeträger könnte immer noch 154 € tragen.
Nicht wenige Pflegebedürftige könnten Leistungen zur Pflege erhalten, obwohl sie ausreichend Geld für ihren Lebensalltag haben. Die Leistung setzt aber einen Antrag voraus. Zwei weitere Punkte sind zu klären: – Das vorhandene Vermögen muss eingesetzt werden, bis auf das Schonvermögen von 10.000 € pro Person, sowie angemessener Hausrat, Erbstücke etc. (§ 90 SGB XII). Das selbst bewohnte Haus ist natürlich ein Vermögensgegenstand, aber solange der Pflegebedürftige hier wohnt, muss es nicht verkauft werden. Dann kann die Leistung auch als Darlehn geleistet werden, der Sozialhilfeträger würde sich seinen Anspruch dann entsprechend notariell eintragen lassen (§ 91 SGB XII). – Grundsätzlich waren immer nur die eigenen Kinder unterhaltsverpflichtet gegenüber den Eltern (und umgekehrt). Durch das Angehörigenentlastungsgesetz 2020 ist in § 94, Abs. 1a geregelt, dass der Sozialhilfeträger grundsätzlich vermutet, dass deren jeweiliges anzurechnendes Jahreseinkommen nicht über 100.000 € liegt und sie deshalb nicht unterhaltsverpflichtet sind. Die Leistungen der Hilfe zur Pflege könnte also für einen größeren Personenkreis zugänglich sein, wenn diese Pflegebedürftigen einen Antrag stellen!
TIPPS ZUR UMSETZUNG Wenn Pflegebedürftige tatsächlich kein Geld oder verwertbares Vermögen haben, gibt es keinen Grund, nicht die Hilfe zur Pflege in Anspruch zu nehmen, die für diese besonderen Lebenslagen konzipiert ist. Nur fehlt es hier oft an Aufklärung in die Richtung, dass es kein ‚Manko‘ ist, Hilfen vom Sozialamt für diese besondere Situation in Anspruch zu nehmen. Und oft würden frühzeitige Hilfen dafür sorgen, dass der Pflegebedürftige sehr viel länger zu Hause leben kann und eben nicht ins (auch für den Sozialhilfeträger sehr viel teurere) Pflegeheim ziehen muss. Und dass die eigenen Kinder im Prinzip nicht mehr unterhaltspflichtig sind, hat sich leider noch nicht herumgesprochen! Der Hinweis auf diese Leistung kann allerdings bei ‚vermeintlich armen‘ Pflegebedürftigen dazu führen, dass diese weiterhin auf Leistungen verzichten, weil sie in Wirklichkeit
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Sofortmaßnahmen
Vermögen haben, welches jedoch die Kinder bekommen sollen. Wenn dann die Kinder entsprechende Tätigkeiten übernehmen, wäre dies im Sinne des Generationenvertrags, bei dem die Eltern die Kinder und später die Kinder die Eltern versorgen und auch deshalb die Kinder das Erbe erhalten, richtig!
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3 Die Sachleistungen SGB XI richtig erbringen Die Sachleistungen der Pflegeversicherung werden in der Regel als Leistungskomplexe oder Module definiert, einige Kataloge kennen auch eine Zeitabrechnung für bestimmte Leistungen. Bei der Anwendung dieser Leistungen gibt es eine Reihe von klassischen Problemen und Missverständnissen, die zu fehlerhaften, also im Regelfall reduzierten Abrechnungen führen. Es geht um folgende Punkte: – Umgang mit Pauschalen, – Hilfebegriff, – Vor- und Nachbereitung, – die Körperpflege genau definieren, – die Hilfen bei der Haushaltsführung abgrenzen, – Umgang mit Zeitleistungen, – Leistungskürzungen aktiv steuern!
3.1 Umgang mit Pauschalen Leistungskomplexe/Module sind im Kern Festpreise bzw. Pauschalleistungen: Der Inhalt der Leistung steht fest, nicht aber die Zeitdauer. Eine Beispielleistung wie „Kleine Pflege“ enthält das An- und Auskleiden, Teilwaschen, die Mund-/Zahnpflege sowie das Rasieren. Der Preis ist definiert mit einer bestimmten Punktzahl von beispielsweise 200 Punkten. Bei Leistungserbringung einer Pauschalleistung kommt es nicht darauf an, wie viel Zeit die Erbringung dieser Inhalte benötigten, sondern nur, ob diese Inhalte erbracht sind. Dabei müssen auch nicht immer alle Inhalte durchgeführt werden. Will/muss der Pflegebedürftige nicht rasiert werden, dann erhält er diese Teilleistung nicht, aber es ändert sich weder etwas am Preis noch kann der Kunde diese nicht durchgeführte Leistung gegen z. B. Kaffee kochen eintauschen. Der Gedankengang dahinter: Man würde ja die Zeit für das Rasieren nicht benötigen, dafür wäre diese für das Kaffeekochen übrig. Pauschalen sind jedoch Festpreise/Pakete: Wenn man aus dem Paket nicht alle Leistungen benötigt, kann man diese weder eintauschen gegen etwas anderes noch ändert sich der Preis.
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Sofortmaßnahmen
BEISPIEL Beim Bäcker möchte der Kunde Kaffee kaufen: allerdings nicht ein ganzes Paket mit 500 Gramm, sondern nur 100 Gramm aus diesem Paket. Die Bäckereifachverkäufer sagen, das wäre nicht möglich. Auf seinen Wunsch hin überreicht sie ihm eine Tüte, er öffnet das Kaffeepaket und schüttet ca. 100 Gramm Kaffee in die Tüte. Den Restkaffee gibt er zurück mit der Aufforderung, ihm für diesen Wert entsprechend Brötchen zu geben! Trotz der ‚Rückgabe‘ muss er den vollen Preis für den Kaffee und die Brötchen bezahlen! Denn weil er die Packung ‚aufgerissen‘ hat, ist der komplette Preis fällig.
Was im normalen Leben jedem klar ist, kommt bei den Leistungskomplexen immer wieder vor, selbst Mitarbeitende machen diesen Vorschlag. Das liegt daran, dass nicht deutlich genug erklärt wurde, wie Pauschalen funktionieren und finanziert sind. Unser Beispiel-Leistungspaket „Kleine Pflege“ dauert im Durchschnitt 16 Minuten und hat einen Preis von 200 Punkten. Dabei ist die Punktmengendefinition (die es in allen Bundesländern außer Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz gibt) allein ein Hilfsmittel zur Vergütungsfindung, gibt aber keine echten Hinweise auf die reale Versorgungszeit. Denn vereinbart ist nur die Durchführung der entsprechenden Leistungsinhalte aber keine definierte Zeit für den Einzelfall. Wie in Abbildung 3.1 zu sehen, ergibt sich der Durchschnitt aus vielen unterschiedlichen Werten von 8 Minuten bis 25 Minuten. Dabei sind für den Durchschnitt die kürzeren Einsätze wichtig zum Ausgleich der längeren Einsätze. Das heißt aber auch, dass in der Tourenplanung die Einsatzzeiten für jeden Pflegekunden individuell angepasst werden müssen.
Wie entsteht ein Durchschnittswert? 23
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8 Einsätze
Echte Verteilung
Abbildung 3.1: Wie entsteht ein Durchschnitt?
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Durchschnitt echt
3 Die Sachleistungen SGB XI richtig erbringen
Auf den ersten Blick scheint es ungerecht zu sein, wenn ein Pflegekunde, der nur 8 Minuten für seine Versorgung benötigt, den identischen Preis bezahlt wie ein Kunde, der 25 Minuten benötigt. Allerdings wird dabei vergessen, dass der Preis immer gleichbleibt, unabhängig vom Gesundheits- und Pflegezustand des Kunden. Er zahlt also am ‚Anfang‘ seiner Versorgung mutmaßlich mehr, als er benötigt, aber das gleicht sich im Laufe der Zeit wieder aus. Man kann gedanklich auch von einem ‚Konto‘ sprechen, in das man am Anfang einzahlt und später das wieder herausbekommt! Alternativ könnte man einmal überlegen, ob die Zeitabrechnung für die Körperpflege die bessere Alternative wäre. Im Prinzip ist das eine gute Möglichkeit der Leistungserbringung, aber sie steht im deutschen Leistungssystem Pflegeversicherung vor dem Problem des Pflegegeldes: Solange die Vertragsgespräche vor allem darum kreisen, wie viel Pflegegeld übrigbleibt, ist die Zeitabrechnung deshalb problematisch, weil dann eher die ‚erbenden‘ Angehörigen die Leistungsdauer bestimmen und nicht etwa fachliche Notwendigkeiten. Außerdem ist bei minutengenauer Abrechnung immer die Gefahr von Rennpflege gegeben: Wenn ein:e Mitarbeiter:in schneller ist als der Kollege/die Kollegin, dann droht die Diskussion um die Frage der lahmen Mitarbeiter:innen, die durch ihre langsame Arbeit das Pflegegeld kürzen. In den allermeisten europäischen Ländern mit Versorgungssystemen nach Zeit gibt es kein Pflegegeld. So diskutieren weder in den Niederlanden noch in Dänemark die Pflegefachkräfte die Frage, wie viel Pflegegeld übrigbleibt, sondern nur, was fachlich nötig ist. Bei der Nutzung von Pauschalen (Leistungskomplexen) in der Körperpflege sind es jedenfalls nicht die ‚erbenden‘ Angehörigen, die über die Versorgungszeit bestimmen.
Der Fehler der erlösorientierten Einsatzplanung Der Gedankengang der erlösorientierten Einsatzplanung ist ganz einfach: Wenn man für eine bestimmte Leistung nur einen bestimmten Betrag bekommt, dann kann man bei definierten Kosten pro Stunde nur eine bestimmte Zeit bleiben! Ein praktisches Beispiel mit Zahlen: Wenn man für eine Leistung 16 € erhält und der Stundensatz für die Pflegekräfte im Durchschnitt 60 € beträgt, dann wären rechnerisch 16 Minuten die Vorgabezeit. Das heißt, solange der/die Mitarbeiter:in nur 16 Minuten benötigt, rechnet sich dieser Einsatz, bei längeren Zeiten nicht. Viele Softwareprogramme unterstützen diesen Ansatz, indem sie in der Planung schon zeigen, ob sich dieser Einsatz rechnet oder nicht. Bei Zeitüberschreitungen zeigt das Programm dann „rot“ und ‚erwartet‘ eine Reaktion oder eine Änderung der Leistungen. In der Praxis führt das dazu, dass man nur noch die Überschreitung überwacht, nicht aber schaut, ob die Leistung noch zügiger erbracht werden könnte. Auch die Mitarbeitenden erkennen sehr schnell, dass sie dann eine ‚Mindestzeit‘ haben, die sie nutzen können (egal, was sie in der Zeit noch alles machen). Denn nur die Überschreitung führt zu Nachfragen, nicht aber die Einhaltung der Zeiten.
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Sofortmaßnahmen
Der systematische Fehler dieser Steuerung liegt darin, dass mit den Vertragspartnern (Pflegekassen auf Landesebene bzw. dann den Pflegekunden) gar keine feste Zeit vereinbart wurde, sondern konkrete Inhalte! Nur weil der Preis im Durchschnitt eine Versorgungszeit von 16 Minuten zulässt, kann man nicht daraus auf die Einsatzdauer im Einzelfall schließen! Da sich Zeitüberschreitungen schon aufgrund der sich immer wieder ändernden gesundheitlichen Situationen nicht vermeiden lassen, sieht dann das Bild der Leistungserbringung mit erlösorientierter Einsatzplanung folgendermaßen aus: Abbildung 3.2
Veränderte Verteilung und anderer Durchschnitt bei Mindestzeiten z.B. durch erlösorientierte Einsatzplanung
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10 Einsätze
Verteilung bei Mindestzeit
Durchschnitt bei Mindestzeit
Durchschnitt ohne Mindestzeiten
Abbildung 3.2: Erlösorientierter Durchschnitt
Einsatzplanung Die Mindestdauer ist in jedem Fall© SysPra.de; 16 Minuten, aber es1/2006 kommt eben auch zu Überschreitungen. Damit allein geht schon der eigentlich geplante Durchschnitt verloren, denn es fehlen die kürzeren Einsätze, die zur Finanzierung der längeren Einsätze nötig sind! Bei steigenden Stundenkosten, aber gleichbleibenden Preisen zeigt sich die echte Schwäche der erlösorientierten Einsatzplanung: Wenn beispielsweise die Stundenpreise nun bei 70 € liegen, müsste nach diesem System die Einsatzzeit auf 13,8 Minuten sinken, bei gleichbleibenden Inhalten! Einerseits würde das System der erlösorientierten Einsatzplanung hier ‚wunderbar‘ funktionieren, aber die Versorgungsqualität würde leiden und die Mitarbeitenden müssten ‚schneller‘ laufen! Auch der ‚Ausgleich‘ über andere Leistungen wie Pflegerische Betreuung ist vertragskonform nicht möglich, sondern tendenziell sogar Falschabrechnung: Wenn unsere Beispielleistung „Kleine Pflege“ länger dauert als finanziert, dann ist das kein Grund, eine fremde Leistung dazu zu dazuzunehmen! Das System der erlösorientierten Einsatzplanung ist so praktikabel, weil man dann mit den festen Vorgabezeiten im EDV-System hinterlegt arbeiten kann. Aber genau damit fehlt
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3 Die Sachleistungen SGB XI richtig erbringen
einem der Blick auf die tatsächliche Versorgung und auf Leistungen, die erbracht, aber nicht abgerechnet werden.
BEISPIEL Der/Die Mitarbeiter:in erbringt neben der Kleinen Pflege noch einen Vorlagenwechsel. Dabei geht alles schnell und ist in 14 Minuten fertig, zwei Minuten eher als vorgegeben. Eine Rückmeldung auf die zusätzliche Leistung „Hilfe bei Ausscheidungen“ entfällt. Der Leitungskraft fällt dies nicht auf, denn die pauschale Vorgabezeit von 16 Minuten wurde sogar unterschritten! Mit individuellen Einsatzzeiten wäre viel eher aufgefallen, dass die Mitarbeiter:in nun mehr Leistungen als bisher vereinbart erbringt, über eine Nachfrage hätte man dies klären und dauerhaft den Pflegevertrag ändern können.
TIPPS ZUR UMSETZUNG Die Leistungszeiten werden schrittweise pro Kunde individualisiert (moderne Computerprogramme ermöglichen Zeiten pro Kunde, die dann im System gemerkt werden bis zu einer Änderung). Die nötigen Zeiten erhält man aus dem Soll-/Ist-Abgleich. Bei Zeitabweichungen ist mit den Mitarbeitenden zu klären, was sie tatsächlich erbringen und ob sich die Leistungsinhalte gegenüber den vereinbarten Leistungen verändert haben.
3.2 Hilfebegriff: wann darf/muss man abrechnen? Der Hilfebegriff der Pflegeversicherung war bis 2016 im Gesetzestext in § 14 Abs. 3 normiert: Hilfe im Sinne der Pflegeversicherung ist demnach die – Unterstützung – teilweise, oder – vollständige Übernahme der Verrichtungen, – Beaufsichtigung und Anleitung mit dem Ziel der eigenständigen Übernahme dieser Verrichtungen. Diese ausführliche Definition ist nicht mehr Bestandteil des Gesetzestextes, sondern die Konkretisierung der Hilfe bei der Bewältigung oder Kompensation der entsprechenden Beeinträchtigungen findet sich nun in den Rahmenverträgen nach § 75 bzw. in den Leistungskatalogen, die Inhalte sind im Prinzip identisch.
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Sofortmaßnahmen
In der Praxis stellt sich immer dann die Frage der ‚Hilfe‘, wenn es um die Abrechnung von Leistungen geht, bei denen die Pflegekräfte scheinbar ‚gar nichts‘ tun. Um den Hilfebegriff zu verdeutlichen, sei zunächst ein artfremdes Beispiel herangezogen, das viele vermutlich aus der eigenen Betroffenheit gut kennen!
BEISPIEL Die vierzehnjährige Tochter ist völlig selbstständig und kann auch sehr gut einschätzen, wie sie ihre Zeit am Morgen im Wettlauf mit dem Schulbus effektiv nutzt! Um 6.30 Uhr weckt sie der führsorgliche Vater mit freundlichen Worten. Weil aus Sicht der Tochter aber das Wecken um ein paar Minuten zu früh erfolgt, wird diese Freundlichkeit entsprechend mürrisch kommentiert. Da nach einer Viertelstunde die Tochter immer noch nicht zum Frühstück erscheint, muss der Vater das Wecken wiederholen. Er steht nun vor der Fragestellung, wie er der Tochter helfen kann: Durch Unterstützung mit Öffnen des Fensters und Wegnehmen der Decke, durch eine teilweise Übernahme mit dem Unterstützen der Beine beim Verlassen des Bettes? Ausgeschlossen ist wegen eigener Rückenprobleme die vollständige Übernahme. Es bleibt die aktivierende Pflege, die diesmal mit einer etwas intensiveren Stimmlage durchgeführt wird.
Die Pflegekraft (Vater) führt hier zweifelsfrei eine Beaufsichtigung und Anleitung durch, auch wenn er die Tochter weder direkt körperlich unterstützt, noch sonst etwas tut außer deutlichem Reden. Damit wäre die entsprechende Leistung (z. B. Aufstehen) abzurechnen, wenn es sich um einen eingestuften Pflegefall handeln würde. Die Prüffrage würde lauten: Was würde die Tochter machen, wenn er nicht ins Zimmer käme? Sie würde natürlich weiterschlafen! Ohne Intervention kann sie (jedenfalls zurzeit) nicht alleine aufstehen! Entsprechendes gilt auch bei Pflegebedürftigen mit deutlich höherem Alter und vorhandener Einstufung. Wenn der Pflegebedürftige noch im Bett liegt und von der Pflegekraft geweckt werden muss und diese ihn motiviert, aufzustehen, wäre dies als Hilfeleistung abzurechnen. Gleiches gilt (je nach Katalogvarianten verschieden) z. B. in Hessen, Niedersachsen oder Bayern, wo die Leistung „Kämmen“ separat wählbar ist: Wenn der Pflegebedürftige sich nur in Gegenwart der Pflegekraft kämmt, meist mit Erinnerung und Anleitung, dann ist diese Leistung abzurechnen. Oder wenn der Pflegebedürftige sich bei der morgendlichen Grundpflege das Gesicht und den Oberkörper selbst wäscht. Allerdings nur nach entsprechender Vorbereitung und mit Assistenz und Nacharbeiten des Pflegemitarbeiters.
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3 Die Sachleistungen SGB XI richtig erbringen
TIPPS ZUR UMSETZUNG Den Hilfebegriff im Team immer wieder schulen. Die Prüffrage in jedem Fall würde lauten: Was wäre, wenn keiner im Zimmer wäre/keiner käme? Könnte/würde der Pflegebedürftige die entsprechenden Verrichtungen allein beginnen und durchführen können, inklusive der nötigen Vor- und Nachbereitungen? Wird die Frage mit „Nein“ beantwortet, dann ist die entsprechende Leistung auch abzurechnen.
3.3 Vor- und Nachbereitung der Grundpflegeleistungen Zu den Morgenritualen der Menschen gehört nicht nur, sich zu waschen und anzuziehen, sondern auch das Bettmachen, die Wäsche sortieren, die Dusche trocknen oder das Waschbecken ausspülen/putzen. Je nach Wohnsituation, Größe und Ausstattung des Badezimmers, aber auch je nach eigenen Ansprüchen kann diese Vor- und Nachbereitung unterschiedlich viel Zeit in Anspruch nehmen. Zu den Grundpflegeleistungen gehört, so ist es in allen Katalogen beschrieben, die unmittelbare Vor- und Nachbereitung dazu. Dabei hängt diese weder von der Größe/Ausstattung des Badezimmers ab noch von den Lebensgewohnheiten der Pflegekunden. Nur weil jemand in der Dusche eine Glasabtrennung hat, kann der Wunsch nach Trocknung dieser Flächen nicht automatisch Bestandteil der Leistung sein. Aber auch Mitarbeitende interpretieren selbst sehr individuell die Frage, was dazu gehört: Für die einen gehört das Trocknen der Dusche dazu, für die anderen nicht! Das führt damit zwangsläufig zu Konflikten („Gute Schwester“ – „Böse Schwester“) und eben auch zu Heimlichen Leistungen! Daher ist es nötig und von Beginn an hilfreich, wenn man schon im Vertragsgespräch solche ‚Fallen‘ benennt und evtl. Lösungen anbietet und findet. Klassische Problemfelder und ihre mögliche Abgrenzung – Dusche ausspülen, aber nicht die Duschwände abtrocknen/abziehen, – Wasserflecken vom Fußboden aufwischen (Sturzgefahr), aber nicht damit gleichzeitig noch das Badezimmer wischen, – Waschbecken ausspülen, aber nicht das komplette Waschbecken inklusive Armatur reinigen, – Badewanne ausspülen, aber nicht mit Scheuermittel reinigen, – Toilette mit Klobürste bei Bedarf reinigen, aber nicht mit Reiniger/Scheuermittel die gesamte Toilette putzen,
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Sofortmaßnahmen
– Bett aufschlagen zum Lüften, aber nicht das Bett sofort wieder komplett machen (schon aus hygienischen Gründen verbietet sich das). Die Notwendigkeit der Vor- und Nachbereitung ergibt sich nur aus der konkreten Leistung, aber nicht aus den Lebensgewohnheiten des Pflegebedürftigen. Weitergehende hauswirtschaftliche Leistungen können erbracht werden, wenn entsprechende Leistungen zusätzlich vereinbart sind.
TIPPS ZUR UMSETZUNG Die Abgrenzung im Team diskutieren und evtl. auch pro Kunde festlegen. Als ergänzende Abrechnungsmöglichkeit (statt Hauswirtschaft als Sachleistung) könnte auch die Entlastungsleistung nach § 45b genutzt werden. Da sie eine Kostenerstattungsleistung (also Privatleistung) ist, kann sie auch z. B. in 5-Minuteneinheiten definiert und angeboten werden. Sie hat zudem den Vorteil, dass dadurch das Pflegegeld nicht betroffen ist. Insbesondere bei Neukunden, die bisher die Entlastungsleistungen noch gar nicht genutzt haben, bietet sich diese Möglichkeit an. Auch wenn später dann keine Entlastungsleistung für eine separate Wohnungsreinigung vorhanden ist, weil sie es schon am Morgen verbraucht wurde. Bei Kunden, die im Vertragsgespräch auf die ausführliche Nachbereitung verzichten, sollte das im Maßnahmenplan ausdrücklich auch aufgeführt sein („Die Duschwände werden auf Wunsch des Pflegebedürftigen nach dem Duschen nicht getrocknet!“).
3.4 Die Körperpflege genau definierten Die Leistungen der Körperpflege sind in den verschiedenen Katalogen nicht immer klar und verständlich definiert. Daraus entstehen dann Missverständnisse und Heimliche Leistungen, wenn man die Definitionslücken nicht füllt und verbindlich für alle Mitarbeitenden regelt.
Teilwaschen Die Frage: „Wie viele Teile gehören zur Teilwäsche“, ist so komisch wie verständlich, wenn man sich einmal die Leistungsdefinitionen in den aktuellen Leistungskatalogen der Pflegeversicherung anschaut: Die Übersicht in der Abb. 3.3 zeigt die Varianten: Vom Substantiv ohne weitere Erläuterungen („Teilwaschen“), z. B. in Berlin oder Hamburg, über klare Definitionen „Ober- oder Unterkörper“ (z. B. NRW oder Niedersachsen) bis zu komplizierten und unklaren Aufzählungen wie
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3 Die Sachleistungen SGB XI richtig erbringen
in Thüringen (Teilwaschen umfasst in der Regel das Waschen des Gesichts, Oberkörpers und/ oder Genitalbereich/Gesäß (Hinweis: der Rücken gehört nicht zum Oberkörper, er ist in der Großen Körperpflege separat aufgeführt!). Die Leistung "Teilwaschen" in der Leistungsbeschreibung der Leistungskataloge SGB XI Bundesland
Name
© Zusammenstellung: Andreas Heiber, SysPra, März 2023
BadenWürttemberg Bayern Wohlfahrt
Kleine Toilette Teilkörperwäsche
Bayern Privat Berlin Brandenburg
Morgen/Abendtoilette Kleine Körperpflege Kleine Körperpflege
Bremen
Kleine Morgen-/Abendtoilette
Hamburg Hessen Module
Kleine Morgen-/Abendtoilette Kleine Körperpflege
Hessen Zeitabrechnung Meckl.-Vorpommern
Zeitabrechnung Kleine Morgen-/Abendtoilette
Niedersachsen
Kleine Pflege
Nordrhein-Westfalen
Teilwaschung
Rheinland-Pfalz Saarland
Kleine Morgen-/Abendtoilette Kleine Morgen-/Abendtoilette
Sachsen Sachsen-Anhalt Schleswig-Holstein
Kleine Morgen-/Abendtoilette Kleine Morgen-/Abendtoilette Kleine Morgen-/Abendtoilette
Thüringen
Kleine Morgen-/Abendtoilette
Beschreibung des "Teilwaschens"
Waschen (im Bett oder am Waschbecken) Waschen und Abtrocknen einzelner Körperteile oder Körperbereiche steht im Vordergrund Teilwaschen Teilwaschen Teilwaschen: Waschen von Körperbereichen, z.B. Gesichts, Oberkörpers, Genitalbereiches/Gesäß Teilwaschen umfaßt das Waschen von Teilbereichen des Körpers (z.B. Gesicht/Oberkörper oder Genitalbereich/Gesäß oder Beine/Füße Teilwaschen Teilwaschen umfaßt in der Regel das Waschen des Gesichts, Oberkörpers und/oder Genitalbereichs/Gesäß (Hinweis: Rückenwaschen gehört zur Großen Körperpflege) keine Definition nötig Teilkörperwaschen: Diese Hilfe umfaßt das Waschen einzelner Körperbereiche (z.B. Genitalbereich, Füße, Haare, Gesicht); werden Körperbereiche des Ober- und des Unterkörpers gewählt, ist die Große Morgen-/Abendtoilette auszuwählen Teilwaschen: das Waschen von Teilbereichen des Körpers, z.B. Gesicht, Oberkörper oder Genitalbereich/Gesäß Teilkörperwaschung (Ober- oder Unterkörper) soweit notwendig oder mindestens Waschung des Intimbereiches Teilwaschen Teilwaschen: umfasst in der Regel das Waschen von Teilbereichen des Körpers wie z.B. das Gesicht, Oberkörper oder Genitalbereich/Gesäß Teilwaschen Teilwaschen Waschen von Körperteilen, z.B. Gesicht, Oberkörper, Unterkörper, Genitalbereich, Gesäß Teilwaschen umfaßt in der Regel das Waschen des Gesichts, Oberkörpers und/oder Genitalbereichs/Gesäß (Hinweis: Rückenwaschen gehört zur Großen Körperpflege)
Abbildung 3.3: Definition von Teilwaschen in den Länderkatalogen
Wenn im Team nicht die landesspezifische Definition besprochen und ausformuliert und einheitlich angewandt wird, werden allein bei dieser Leistung die Versorgungszeiten und die Inhalte beliebig durcheinander schwanken. Dabei ist die klare Einteilung wie in NRW: „Ober- oder Unterkörper“ eine sinnvolle Definition, die auch dem unterschiedlichen Arbeitsaufwand gerecht wird und außerdem einfach und verständlich zu handhaben ist. Dabei ist die Gürtellinie die Grenze. Denn wenn man diese Grenze beim Waschen überschreitet, muss aus pflegefachlicher Sicht das Wasser, der Handschuh, das Handtuch etc. gewechselt werden. Dieser zusätzlicher Aufwand ist damit das Signal, das es sich nicht mehr um Teilwaschen handelt!
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Sofortmaßnahmen
Weil die klassische Morgenversorgung im Regelfall das Waschen des Gesichts-, Oberkörpers sowie des Intimbereichs umfasst, wäre die Morgenversorgung keine ‚Teilwäsche‘, sondern eine Große Pflege. Das heißt also auch für potenzielle Kennzahlen, dass in der überwiegenden Mehrzahl Große Pflegen statt Kleine Pflegen erbracht werden.
Hilfe bei Ausscheidungen Jede Hilfestellung bei Ausscheidungen ist in allen Leistungskatalogen als eigenständige Leistung abzurechnen. Dazu gehört insbesondere das Wechseln von Inkontinenzmaterial, wie Einlagen, Vorlagen, Windelhosen, Pants etc. Es kommt nicht darauf an, wo das Inkontinenzmaterial gekauft wurde oder ob es eine Hilfsmittelkennzeichnung hat, sondern allein auf den Zweck und die dabei nötige Hilfeleistung. Auch jede Teilhilfe gehört dazu: Wenn man beispielsweise schon im Badezimmer ist wegen der Morgenversorgung und nur deshalb ‚allein‘ auf die Toilette geht, weil man schon ausgezogen ist, ist diese Leistung abzurechnen. Denn könnte/ würde der Pflegebedürftige auch allein auf die Toilette gehen, wenn er nicht schon ausgezogen im Badezimmer wäre, könnte er sich allein für den Toilettengang ausziehen und sich danach entsprechend säubern? Nur weil der Pflegebedürftige tagsüber ohne fremde Hilfe Toilettengänge durchführt, muss dies nicht heißen, er könnte dies komplett selbstständig. Es könnte auch sein, dass diese Toilettengänge mehr schlecht als recht durchgeführt werden und daher einmal am Tag eine richtige Reinigung des Intimbereichs notwendig ist. Beim Toilettengang gibt es zweifelsfrei Synergieeffekte, wenn er im Zusammenhang mit der morgendlichen oder auch abendlichen Grundpflege durchgeführt wird. Man ist schon im Bad, teilweise schon ausgezogen etc. In mehr als der Hälfte aller Kataloge gibt es deshalb zwei Leistungen zur Hilfe bei Ausscheidungen, mit jeweils einem reduzierten Preis, wenn sie zusammen mit der Körperpflege stattfinden. In den anderen Ländern gibt es immer nur eine Leistung, egal, ob diese schnell geht (am Morgen) oder auch noch ein Transfer etc. benötigt wird. Nur spielt das für die Frage der Abrechnung tatsächlich keine Rolle, die Preishöhe hat keinen Einfluss auf die Frage der Abrechenbarkeit.
Lagern Die Lagerungsleistung setzt eine zumindest partielle Immobilität voraus. Der Pflegebedürftige kann sich nicht selbstständig in eine günstige Körperhaltung bringen, das muss mit Hilfe von außen erfolgen. Dabei spielt es keine Rolle, wie lange oder aufwendig das Lagern ist oder wie schnell es geht. Das Hochlagern eines Armes (Dauer 20 Sekunden) ist genauso ein „Lagern“ wie das richtige Lagern im Bett mit Hilfe von zwei Personen. Die Prüffrage wäre immer nur: Kann der Pflegebedürftige dies allein und wenn nicht, welche Folgen hätte das Nichtlagern. Jede Lagerung dient der Vermeidung von Sekundärerkrankungen. In manchen
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3 Die Sachleistungen SGB XI richtig erbringen
Katalogen wird eine schon sprachlich schwierige Unterscheidung getroffen: Wenn das Lagern (nur) der Bequemlichkeit und dem körper- und situationsgerechten Liegen und Sitzen dient, dann gehört es zum normalen Transfer und ist kein Lagern. Dabei führt jede Lagerung zu einem situationsgerechten Liegen und Sitzen und hoffentlich auch zu einer bequemen Position. Aber ohne diese Lagerung würden Sekundärerkrankungen (Haut, Gelenke, Versteifungen etc.) entstehen. Daher ist es sinnvoll und notwendig, im Maßnahmenplan auf diese Ziele explizit einzugehen. Bei Pflegebedürftigen, die bettlägerig sind und das Bett nicht mit fremder Hilfe verlassen können, ist ebenso eine Lagerung bei Beendigung der Grundpflege zu erwarten wie bei insbesondere älteren Pflegebedürftigen, die auf einen Rollstuhl angewiesen sind. In manchen Katalogen wird als Leistung im Komplex „Lagern“ das „Bett machen/richten“ beschrieben, wobei hier aus dem Kontext heraus sicherlich nur die Vorbereitungshandlung zum Lagern im Bett gemeint sein kann. Die reine hauswirtschaftliche Tätigkeit des „Betten machen am Morgen“ ist unter ‚Lagern‘ nicht gemeint und daher nicht abrechenbar.
TIPPS ZUR UMSETZUNG Oftmals sind in einer guten Pflege- oder/und Maßnahmenplanung alle wesentlichen Schritte der Körperpflege handlungsleitend beschrieben. Nicht immer sind die dann geplanten und abgerechneten Leistungen deckungsgleich zu diesen Beschreibungen! Wenn das Lagern hier richtig beschrieben ist, warum wird das Lagern dann nicht auch abgerechnet?
3.5 Die Hilfen bei der Haushaltsführung abgrenzen Die hauswirtschaftlichen Leistungen sind je nach Katalog entweder als Pauschalen oder nach Arbeitszeit definiert. Während Pauschalen für das ‚Bett beziehen‘ oder das ‚Frühstück zubereiten‘ sinnvoll und praktikabel sind, sind Pauschalen für das ‚Reinigen der Wohnung‘ oder ‚Einkaufen‘ etc. wenig transparent und hilfreich: Denn diese Leistungen hängen in hohem Maße von Faktoren ab, die nichts mit Pflegebedürftigkeit zu tun haben. Die Wohnungsgröße oder die Vorlieben beim Einkauf beruhen auf dem bisherigen Lebensstil (Wohnungsgröße, Ernährungsgewohnheiten, verfügbares Einkommen, etc.). Pauschalen für das Einkaufen scheinen dann aus Sicht des Pflegebedürftigen genial zu sein: Eine „Einkaufsflatrate: fünf Geschäfte für einen Pauschalpreis!“. Um das einigermaßen einzugrenzen, bleibt in den Ländern ohne definierte Zeitabrechnung für die Hauswirtschaft nur die Möglichkeit, die Leistungen klar abzugrenzen
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und interne Zeitvorgaben zu definieren. Eine dauerhaft sinnvolle Lösung gibt es nur in der Änderung der Leistungskataloge hin zu einer Leistung: Hauswirtschaft nach Zeit, wie sie seit langem zum Beispiel in Niedersachsen oder Hessen existiert. Die hauswirtschaftlichen Leistungen sind grundsätzlich auf das beschränkt, was zur Versorgung des Pflegebedürftigen notwendig ist. Bei einem alleinlebenden Pflegebedürftigen stellt sich diese Frage kaum, aber wenn auch der Ehepartner mit im Haushalt lebt, ist die Abgrenzung nötig und schwierig. Denn alle Leistungen der hauswirtschaftlichen Versorgung sind nur für jeweils eine Person ausgelegt. Sollen Leistungen auch für eine zweite Person erbracht werden, müsste die Leistung entweder verdoppelt werden (bei Pauschalen) oder entsprechend länger dauern (bei Zeitabrechnung).
BEISPIEL Die Autos der zwei Freundinnen stehen auf dem Waldparkplatz, als plötzlich ein Baum beide Autos demoliert. Fest steht, dass es sich um einen Fall von höherer Gewalt handelt und deshalb die eigene Versicherung zuständig ist. Jetzt kommt die eine Freundin auf die Idee zu fragen, ob denn nicht die andere Versicherung für beide Schäden aufkommen könnte.
Natürlich ist das Beispiel absurd, aber wenn es um das Wechseln der Bettwäsche eines Ehebettes geht, bei dem nur ein Partner pflegebedürftig (= Leistungsbezieher) ist, stellt sich die identische Frage: Warum muss die Versicherung des Pflegebedürftigen das Beziehen des zweiten Bettes mitbezahlen?
Abgrenzung bei Pauschalen Reinigen der Wohnung: Dazu gehören nur die vom Pflegebedürftigen genutzten Zimmer, weder Gästezimmer noch Schlafzimmer der Ehepartner. Die Hausordnung ist im Regelfall nicht Bestandteil der Hauswirtschaftlichen Sachleistungen. Bett beziehen: nur das Bett des Pflegebedürftigen. Wäsche waschen: nur die Wäsche des Pflegebedürftigen. Einkaufen: nur für den Pflegebedürftigen, und je nach Definition nur für eine Woche etc. entsprechend den Abrechnungsmerkmalen des eigenen Katalogs. Zubereiten einer Mahlzeit: nur eine Mahlzeit (nicht abends gleich das Frühstück mit vorbereiten) und das Spülen des Geschirrs der einen Mahlzeit am nächsten Tag: Aber das Geschirr,
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das sich im Laufe des Tages noch in der Spüle angesammelt hat, wird nicht im Rahmen der Frühstücksleistung gespült! Soll das mitgespült werden, dann gehört dies zu anderen hauswirtschaftlichen Leistungen wie ‚Reinigen der Wohnung‘ etc.
Hauswirtschaft nach Zeit definiert Formal gelten alle Einschränkungen wie oben auch für die Hauswirtschaftlichen Leistungen, wenn sie nur oder alternativ (wie z. B. in NRW oder Bayern) nach Zeit definiert sind. Auch hier gehören Leistungen für andere als den Pflegebedürftigen nicht dazu. Wenn man aber z. B. zwei Betten bezieht, wirkt sich das bei der Zeitabrechnung wenigstens nicht negativ auf den Pflegedienst aus, da nun mehr Zeit benötigt wird. Die Abgrenzungsproblematik ist jedoch identisch mit der Leistungsdefinition nach Pauschalen.
TIPPS ZUR UMSETZUNG Bei Neukunden sind die Leistungen (auch als Privatabrechnung) so zu vereinbaren, dass dies in Haushalten mit anderen Personen entsprechend berücksichtigt wird (also z. B. „Bettwäsche wechseln“ gleich noch als zusätzliche Privatleistung vereinbaren). Bei Bestandskunden die Mitarbeitenden insbesondere bei der Leistung „Zubereiten einer sonstigen Mahlzeit“ aufklären, dass nur das Frühstücksgeschirr, nicht aber das Tagesgeschirr zur Leistung ‚Spülen‘ dazu gehört!
3.6 Zeitleistungen Bei Zeitleistungen sind grundsätzlich zwei Definitionsarten zu unterscheiden: – Minutengenaue Abrechnung: Hier wird die Versorgungszeit minutengenau dokumentiert/gestoppt und abgerechnet. Dabei gibt es in vielen Katalogen zusätzlich eine Mindestdauer, die mindestens erbracht und abgerechnet werden muss. Da bei der minutengenauen Abrechnung jede Minute ‚zählt‘, ist hier die Diskussion über die Leistungszeit erheblich schwieriger, als bei Zeitmodulen. – Zeitmodule: Zeitleistungen, die in festen Einheiten (fünf, zehn oder 15-Minuten) getaktet sind. Die Abrechnung erfolgt pro angefangener Zeiteinheit. Das gilt auch bei Leistungen der Pflegerischen Betreuung oder Hauswirtschaft, die im Leistungskatalog ohne Zeitvorgaben, allein mit Preisen (Punktmengen) bewertet sind. Hier muss/ kann jeder Pflegedienst die Einheiten selbst definieren, weil ohne diese keine Planung möglich ist.
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Sofortmaßnahmen
Zur abzurechnenden Zeit gehört die Arbeitszeit i.d.R. vom Betreten bis zum Verlassen der Wohnung ebenso wie die (in der Wohnung durchzuführende) Zeit für die notwendige Dokumentation der Leistung (Leistungsnachweis, evtl. Pflegebericht). Da jede Minute zählt, kann es hier schon vorkommen, dass sich Pflegebedürftige über die lange Dokumentationszeit beschweren oder nicht wollen, dass dies in ‚ihrer‘ Zeit geschieht. Das wird dann doppelt schwierig, wenn die Dokumentation primär auf dem Smartphone erfolgt („Sie sollen nicht ständig auf dem Ding rumspielen, das ärgert mich schon bei meinen Enkeln!“). Dann bleibt nur die Möglichkeit, nach Schließen der Wohnungstür im Hausflur/vor der Tür die Dokumentation durchzuführen und erst danach die Zeit zu stoppen! Wichtig für die Definition der Zeit ist daher, dass man die Leistung immer etwas früher beenden muss, um noch die Zeit für die Dokumentation zu haben: Wenn also fünfzehn Minuten Grundpflege nach Zeit vereinbart sind, müsste man nach vierzehn Minuten fertig sein, weil man i.d.R. eine Minute zur Dokumentation benötigt. Die schlechteste Lösung könnte durch eine digitale Dokumentation verführerisch naheliegen: dass diese erst im Büro vorgenommen wird. Damit fehlt aber diese Zeit bei der Erfassung beim Kunden und kann nicht mehr abgerechnet werden. Daher muss man dafür sorgen, dass immer vor Ort dokumentiert wird.
Die Zeit steht fest, nicht das Ergebnis! Bei der Zeitabrechnung im Bereich der Körperpflege besteht immer die Diskrepanz zwischen der nötigen und sinnvollen Versorgung und der vereinbarten Zeiteinheit. Streng genommen vereinbart man bei der Zeitabrechnung für den Bereich der Körperpflege primär eine bestimmte Versorgungszeit, nicht aber bestimmte durchgeführte Leistungen. Wenn eine Zeit von fünfzehn Minuten vereinbart ist, dann steht nicht wirklich fest, was in dieser Zeit alles fertig sein muss, sondern nur, dass die Leistung nach fünfzehn Minuten endet. Wenn es einmal länger dauern wird, aber der Kunde nicht bereit ist, über die vereinbarte Zeit hinaus zu bezahlen, müsste die Leistung entsprechend nach fünfzehn Minuten enden, auch wenn noch nicht alles fertig ist. Was bei der hauswirtschaftlichen Versorgung problemlos möglich ist (zum Beispiel nicht alles Geschirr zu spülen), wird bei der Körperpflege schwierig: Man kann nicht mitten beim Abtrocknen aufhören, nur weil die Zeit abgelaufen ist. Streng genommen ist aber genau das vereinbart worden! Bei vielen Pflegebedürftigen wird die Zeitschwankung keine großen Probleme machen und klaglos bezahlt werden. Bei allerdings sehr geldfixierten Pflegebedürftigen/Angehörigen wären dann Pauschalleistungen die bessere Wahl, weil hier die Pflegekräfte die tatsächlichen Versorgungszeiten bestimmen, nicht die Frage der Höhe des verbleibenden Pflegegeldes. Bei Neukunden sollte bei der Vereinbarung von Zeitabrechnung in der Körperpflege daher tendenziell eher mehr Zeit als vermutlich notwendig vereinbart werden, so dass die Mitarbeitenden dann später weniger Diskussionen haben. Die vereinbarte Zeit (für Grundpflege oder/und Hauswirtschaft oder/und Betreuungsleistungen) ist immer die Mindest-, aber meist auch die Maximalzeit. Wenn insbesondere bei
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3 Die Sachleistungen SGB XI richtig erbringen
pflegegeldfixierten Kunden einzelne Mitarbeiter:innen schneller fertig sind als andere, wird es für die scheinbar langsameren Mitarbeiter:innen stressig! Daher sollte die vereinbarte Zeit immer als Mindestzeit eingehalten werden! Denn wenn man bei minutengenauer Abrechnung eher geht, dann kann nur weniger abgerechnet werden, aber es setzt alle anderen unter neuen Zeitdruck. Bei Zeitpauschalen ist das etwas abgemildert, weil hier im Prinzip Einheiten abgerechnet werden. Betriebswirtschaftlich kann die Zeitabrechnung nur dann wirtschaftlich erfolgreich sein, wenn der jeweilige Stundenpreis leistungsgerecht ist.
BEISPIEL Der Stundenpreis der Grundpflege liegt im Pflegedienst bei 60 €. Die Zeitvergütung für die Grundpflege beträgt aber nur 50 €; damit kann die Grundpflege nach Zeit nicht wirtschaftlich erfolgen. Mit jeder Stunde Leistung wird ein Defizit von 10 € erwirtschaftet, das nicht ausgeglichen werden kann. Während es bei Leistungskomplexen den Ausgleich zwischen den Einsätzen gibt (oder geben kann), gibt es bei Zeitabrechnung keinen Ausgleich: Ist man bei einem Einsatz schneller, kann man entsprechend weniger abrechnen, aber nichts ansparen!
TIPPS ZUR UMSETZUNG In Bundesländern mit Wahlmöglichkeiten (Bayern, Bremen, Hamburg und Niedersachsen) sind dann Leistungskomplexe die bessere Wahl, wenn entweder der Stundenpreis nicht leistungsgerecht ist, oder es im Konflikt mit ‚erbenden‘ Angehörigen immer nur um die zu langsame Leistungserbringung geht. Zeitabrechnung wäre die Leistung der Wahl bei dementen oder psychisch kranken Pflegebedürftigen, bei denen nie feststeht, was im Einsatz tatsächlich erbracht werden kann.
3.7 Beratungsbesuche § 37.3 sinnvoll nutzen! Die Beratungsbesuche nach § 37.3 SGB XI dienen der Sicherung der Qualität der häuslichen Pflege und der regelmäßigen Hilfestellung und praktischen pflegefachlichen Unterstützung der häuslich Pflegenden, so formuliert in § 37 Abs. 3a. Sie können auch bei Kunden, die (auch) Pflegesachleistungen beziehen, zweimal im Halbjahr abgerechnet werden.
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Sofortmaßnahmen
Wollen Kunden bestehende Leistungen ändern (z. B. wegen der gestiegenen Preise), dann muss der Kostenvoranschlag/Anlage zum Pflegevertrag in der Regel geändert werden. Die Änderungen könnten (abhängig von den Definitionen im eigenen Leistungskatalog) bspw. im Rahmen eines sogenannten Folgebesuchs (Sachleistung in vielen Katalogen) besprochen und vereinbart werden. Aber auch ein Beratungsbesuch nach § 37.3 kann dazu genutzt werden mit dem finanziellen Vorteil für den Pflegebedürftigen, dass dieser nicht über das Sachleistungsbudget abgerechnet wird. Bestandteil jedes Beratungsbesuchs ist das ausführliche Beratungsprotokoll insbesondere mit der detaillierten Beschreibung der Versorgungssituation und der Beurteilung des Pflegedienstes, ob die Versorgung wie vorgefunden sichergestellt ist. Daher sollten die Beratungsbesuche mit der notwendigen Sorgfalt und Zeit durchgeführt und nicht einfach als kurze ertragreiche Einsätze missbraucht werden. Gerade bei Sachleistungskunden ist es von großem Vorteil, wenn die Mitarbeitenden, die die Tourenplanung machen, selbst diese Besuche durchführen. Denn wenn die Kunden sie kennen und umgekehrt, können die Planungskräfte die Kunden besser einschätzen und die Kunden akzeptieren eher Umplanungen, wenn sie die Mitarbeitende des Pflegedienstes, die sie anruft, persönlich kennen! Beratungsbesuche sollen generell nur durch entsprechend geschulte und qualifizierte Pflegefachkräfte durchgeführt werden, die mit Menschen sprechen können und die Leistungen so erklären, dass ‚normale‘ Menschen sie verstehen! Die Verteilung aller Beratungseinsätze auf alle Fachkräfte je nach Verfügbarkeit ist keine sinnvolle und effektive Strategie: So wie nicht jede Pflegefachkraft zu speziellen Wunden geschickt wird, so sollte die Beratung auf diejenigen konzentriert werden, die entsprechend qualifiziert sind! Zwei weitere Punkte müssten eigentlich selbstverständlich sein: – Der Pflegedienst plant die Einsätze und erinnert die Kunden an den nächsten Termin. So können die Beratungseinsätze gleichmäßig auf alle zwölf Monate verteilt werden und man vermeidet sonst die Halbjahres- oder Quartalsspitzen. Bekannt sein dürfte, dass die Beratungsbesuche nicht im Abstand von 6 bzw. 3 Monaten erfolgen müssen, sondern entsprechend einmal im Halbjahr oder einmal im Quartal. Wann, ist aber nicht festgelegt und somit variabel! – Der Pflegedienst sollte nur in den Gebieten Pflegeberatung nach § 37.3 anbieten und durchführen, in denen er dauerhaft die Versorgung übernimmt oder übernehmen will. Denn sonst würde die gute Beratungsleistung der Mitarbeitenden ‚verpuffen‘, wenn es zwar gelingt, den Pflegebedürftigen und seine Angehörigen z. B. von einem Duscheinsatz oder der Verhinderungspflege zu überzeugen, aber dann auf einen fremden Pflegedienst verwiesen werden muss!
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3 Die Sachleistungen SGB XI richtig erbringen
TIPPS ZUR UMSETZUNG Viele Pflegebedürftige benötigen Zeit und wiederholte Ansprachen, um (endlich) eine fremde Versorgung zuzulassen. Daher ist die Beratung auf Wiederholungen angewiesen und man darf beim nächsten Besuch nicht davon ausgehen, dass schon alles klar ist und beispielswiese der Verweis auf die Verhinderungspflege nicht wiederholt werden muss! Das sprichwörtliche Bild: „der letzte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt!“ ist hierfür die sinnbildliche Übersetzung. Erfolgreiche Beratung benötigt immer die Wiederholung von schon einmal besprochenen Leistungen oder Möglichkeiten, denn erst irgendwann ist der richtige Zeitpunkt da!
3.8 Erstgespräche abrechnen Was eigentlich selbstverständlich und banal ist, geschieht in der Praxis oft nicht: Der Pflegedienst führt ein Vertragsgespräch durch, es kommt zum Pflegevertrag und eine Anamnese und Pflegeplanung werden erstellt. Trotzdem wird das Erstgespräch dann nicht abgerechnet? Warum? Das Erstgespräch/Erstbesuch gibt es in allen Leistungskatalogen (mit zum Teil ähnlichen Bezeichnungen). Es refinanziert den Zeitbedarf für die Anamnese, das Vertragsgespräch sowie die Pflegeplanung. Es ist oftmals gar nicht der ‚erste‘ Besuch, beispielswiese wenn Kunden mit Behandlungspflege dann erstmals Sachleistungen nach SGB XI in Anspruch nehmen. Der Zeitaufwand ist nicht nur die Zeit vor Ort, sondern auch der spätere Aufwand für das Schreiben der Pflege-/Maßnahmenplanung. Trotz dieses Aufwandes wird es sehr oft ‚vergessen‘ abzurechnen, woran liegt das? Beim Aushandlungsprozess mit dem Pflegebedürftigen und seinen ‚erbenden‘ Angehörigen geht es zwar vordergründig um die richtige Versorgung, aber eigentlich um die Kosten. Auf der Basis eines Monats wird also gemeinsam eine Versorgung definiert, auch in Hinblick auf die durchschnittlichen Kosten. Das Erstgespräch im ersten Monat würde diesen mühselig ausbalancierten Vertrag wieder durcheinander bringen. Das scheint die Logik zu sein, weshalb auf die Abrechnung so oft verzichtet wird. Dabei gibt es hier dann wohl eine Wissenslücke bezüglich des Sachleistungsbudgets: Sachleistungen sind Monatsleistungen, die ebenso bei einem ‚angebrochenen‘ Monat in voller Höhe zur Verfügung stehen: Wenn also die Pflege erst am 25. des Monats beginnt, wäre immer noch das volle Budget des Pflegegrads verfügbar. Das bedeutet, die zusätzliche Berechnung des Erstgesprächs im ersten Monat würde kaum auffallen, auf jeden Fall aber fast nie den Monatsplan durcheinander bringen. Nur wenn die Versorgung am 1. des Monats beginnt, sähe das anders aus. Andererseits hat der Pflegedienst einen zum Teil erheblichen Zeitaufwand, der refinanziert werden muss!
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Sofortmaßnahmen
Daher sollte darauf geachtet werden, dass die Erstgespräche immer abgerechnet werden. Die Nutzung des Folgegesprächs hängt einerseits von den länderspezifischen Regelung ab, in welcher Situation diese abrechenbar sind. Es wäre in den meisten Fällen zunächst sinnvoller, erst die Beratungsbesuche nach § 37.3 zu nutzen und erst bei einem darüber hinausgehenden Bedarf die Folgebesuche.
3.9 Veränderungen schrittweise einführen Mit einer Schulung der Mitarbeitenden kann man sehr schnell auf die hier geschilderten Punkte aufmerksam machen. Man kann und sollte die Pflegebedürftigen aber nicht einfach mit der veränderten Umsetzung überfallen! Denn die Kunden nehmen das als Normalität und bezahlte Leistung wahr, was sie bisher immer bekommen haben. Wenn also alle Mitarbeitenden immer die Vorlage kostenfrei gewechselt haben, ist es erst mal unverständlich, warum das nun plötzlich als Leistung „Hilfe bei Ausscheidungen“ abgerechnet werden soll. Bei Neukunden, die bisher keine alternative Durchführung kennen, ist die Umsetzung einfach. Hier werden gleich die richtigen Leistungen von Beginn an vereinbart. Bei Bestandskunden hat sich folgendes Vorgehen bewährt: 1. Mitarbeitende schulen: Nur wenn alle Mitarbeitende die Leistungen mit der identischen Definition verstehen und umsetzen, kann etwas geändert werden. Dazu gehören verständliche und entsprechend klar formulierte Preislisten, die evtl. zusätzlich die Leistungen mittels Beispielen erläutern. Alle Mitarbeitenden müssen verstehen, dass es nicht sein kann, dass jeder/e seine/ihre eigene Interpretation der Leistungen behalten kann. Die Kunden kaufen die gleichen Leistungen, also muss die Leistungserbringung gleich sein, unabhängig davon, wer diese durchführt! Und es sollte darauf hingewiesen werden, dass die Leistungskataloge mit den Definitionen im Bundesland für alle Pflegedienste identisch sind und von allen so umgesetzt werden müssen. Das Argument wie: „Andere machen das aber auch so“ kann nicht richtig sein! Nur weil einige bei Rot über diese Ampel gehen, ist es trotzdem nicht erlaubt! 2. Serviceleistungsnachweis einsetzen: Der hier vorgestellte Serviceleistungsnachweis (Abb. 3.4) dient nur als „Spiegel“: Hier werden nun (erstmals) die Leistungen und Arbeitsschritte eingetragen (und damit dem Kunden gespiegelt), die man bisher über die vereinbarten Leistungen hinaus erbracht hat. Der Serviceleistungsnachweis muss in Papierform vor Ort sichtbar sein (i. d. R. in der Pflegedokumentation), auch wenn man die Pflegedokumentation ansonsten digital verwaltet. Denn nur wenn für jeden (auch analog) sichtbar
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3 Die Sachleistungen SGB XI richtig erbringen
ist, was der Pflegedienst zusätzlich erbringt, werden die Kunden und ihre Angehörigen tatsächlich über den wirklichen Arbeitsumfang aufgeklärt, den der Pflegedienst aktuell erbringt! Die Formulierung: „Die hier aufgeführten Serviceleistungen werden zurzeit kostenfrei von Ihrem Pflegedienst für Sie erbracht“ sorgt schon dafür, dass alle erkennen können: Irgendwann werden diese Leistungen auch Geld kosten (oder wegfallen)! Es gibt nicht wenige Pflegebedürftige/Kunden, die beim Einsatz des Serviceleistungsnachweises relativ schnell dem Pflegedienst sagen, dass diese zusätzlichen und so dokumentierten Leistungen nun doch nicht mehr benötigt werden! Allein die Sichtbarkeit der bisher heimlich erbrachten Leistungen führt schon zu Veränderungen. 3. Pflegeverträge anpassen: Mit den ausgefüllten Serviceleistungsnachweisen lassen sich Vertragsgespräche zur Änderung der Leistungen viel leichter führen. Denn es ist dokumentiert, was bisher über das vereinbarte Maß hinaus erbracht wurde und nun muss man klären, wie dies zukünftig weiter gehen soll: was wegzulassen ist oder was zu finanzieren ist. Der Kunde hat die Wahl; lassen Sie ihn entscheiden. Dass Pflegedienste hier natürlich mit Augenmaß vorgehen, versteht sich von selbst!
3.10 Strategien bei Preissteigerungen Gerade mit der Umsetzung der Tariftreueregelungen im Rahmen des GVWG mussten/haben viele Pflegedienste die Preise ab September 2022 (oder eher oder später) zum Teil deutlich anheben müssen. Das gilt meist nur in geringem Maße für die Einrichtungen, die tarifgebunden sind. Viele Pflegedienste konnten auch deshalb mit niedrigeren Preisen auskommen, weil eben nicht alle Mitarbeitenden so hoch bezahlt werden mussten. Dabei hängt der tatsächliche
Serviceleistungen Ihres Pflegedienstes Übersicht für Klaus Müller
Leistung
Monat
Pflegedienst Januar
Jahr
2020
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31
Be t t ma che n
ah
ah
ah
ah
R o llä d e n im G ä s t e z im m e r ö ffne n
ah
ah
ah
ah
Mü ll ( K ü c he ) m it ne hm e n
ah
ah
mg
mg
ah
tr
tr
tr
ah
tr
tr
gm
gm
ah
Summe
4 4 ah
15
© SysPra.de 2011/2020
Die hier aufgeführten Serviceleistungen werden zurzeit kostenfrei von Ihrem Pflegedienst für Sie erbracht. Unterschrift Pflegedienst
C la u d ia Mu s t e rm a nn
Unterschrift Kunde
K la u s Mü lle r
Abbildung 3.4: Der Serviceleistungsnachweis
41
Sofortmaßnahmen
‚Nutzen‘ der Entlohnung auch mit der Region etc. zusammen. Was in einer Großstadt wegen der höheren Lebenshaltungskosten kaum reicht, kann auf dem ‚Lande‘ ausreichend sein. Die Pflegebedürftigen auf dem ‚Lande‘ haben bisher von günstigeren Preisen profitiert, obwohl sie die gleiche Leistungshöhe von der Pflegekasse finanziert bekamen wie Pflegebedürftige in der Großstadt mit höheren Preisen. Die Tariftreueregelung verpflichtet nun alle Dienste auf bestimmte Mindesthöhen. Deshalb müssen und haben nun sehr viele Dienste (aber eben auch Tagespflegen und Pflegeheime) die Preise zum Teil deutlich erhöhen müssen.
BEISPIEL In Bielefeld lagen die Preise der Pflegedienste für den Leistungskomplex 1 (Katalog NRW, inklusive Ausbildungsumlagen) 2021 bei einer Preisspanne von 19,94 € bis 27,17 €, also 36 %. Anfang März 2023 lag die Preisspanne für die identische Leistung bei 22,62 € bis 27,30 €, also nur noch bei 20 %. Dabei erfolgte die Anhebung vor allem im bisher günstigen Bereich!
Diese Ausgangslage müssen alle Pflegedienstmitarbeitenden erläutert bekommen und verstehen: Weil sie mehr Geld bekommen, müssen die Preise angehoben werden. Das gilt für alle Pflegeeinrichtungen in Deutschland! Der wesentliche Teil der Preiserhöhungen ist den gestiegenen Personalkosten in der Pflege geschuldet, weniger der Inflation etc. Eigentlich müssten die Pflegebedürftigen den bisher günstigen Pflegediensten dankbar sein, dass deren Mitarbeitende so lange auf höhere Löhne verzichtet haben und die Pflegebedürftigen sich damit mehr Pflegeleistungen leisten konnten als bei Pflegediensten mit Tarifverträgen. Aber natürlich ist die Reaktion umgekehrt: sie ärgern sich, dass es auf einmal so viel teurer wird und ihr gewohntes Pflegegeld sich nun reduzieren soll, dass vielleicht in dieser Höhe fest eingeplant ist für irgendeinen Zweck außerhalb der Zweckbestimmung. Bei dieser Diskussion sollten die Pflegedienstmitarbeitenden immer auf den eigentlichen Zweck der Leistung hinweisen und darauf, warum die Preise angehoben werden!
Mitarbeitende müssen richtig reagieren! Wenn Kunden nun Leistungen kürzen oder abwählen, muss der Pflegedienst entsprechend reagieren. Bei dauerhaft steigender Nachfrage dürften reduzierte Einsätze oder Absagen kein echtes Problem darstellen, weil dann die frei werdenden Kapazitäten für neue Kunden genutzt werden können. Problematisch ist es aber, wenn sich der „Tagesschau-Effekt“ einstellt: Die
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3 Die Sachleistungen SGB XI richtig erbringen
Leistungen werden reduziert und verändert, aber die Leistungszeit der Mitarbeitenden bleibt gleich (siehe Abb. 3.5). Die Tagesschau im ersten Fernsehprogramm dauert jeden Tag immer 15 Minuten, egal ob in den nachrichtenarmen Sommerferien oder bei Ausbruch des Ukrainekrieges 2022. Wenn also wie in der Abbildung dargestellt die Mitarbeitenden für die veränderten Touren immer die gleiche Zeit benötigen, stimmt etwas mit der Steuerung nicht. Reduzierte Leistungen müssen nicht nur zu reduzierten Plan-/Sollzeiten führen, sondern in der Praxis sich dann in reduzierten Leistungszeiten (Ist-Zeiten) niederschlagen. Weil hier eben sehr oft die Gefahr des Tagesschau-Effekts auftritt, müssen bei Leistungsänderungen insbesondere die ‚neuen‘ Versorgungszeiten beobachtet und überprüft werden.
Das Tagesschauprinzip oder das Phänomen der immer gleichen Tour Tourdauer 8 Pflegekunden 1. Tag 300 Minuten
Ertrag 210 €
2. Tag
10 Pflegekunden
300 Minuten
250 €
3. Tag
6 Pflegekunden
300 Minuten
185 €
© SysPra.de 2006/2020: Einsatzplanung
Abbildung 3.5: Das Tagesschauprinzip
Wesentliche Gründe für gleichbleibende Tourenzeiten sind Leistungskürzungen im Einsatz, weil der Pflegebedürftige nun bestimmte Leistungsanteile selbständig übernehmen will. Dann muss auf jeden Fall geklärt sein, dass es keine Wartezeiten gibt, sondern die selbst übernommene Leistung dann durchzuführen ist, wenn die Mitarbeitenden wieder gegangen sind (siehe Kap. 3.2). Gleichzeitig muss sichergestellt sein, dass die Mitarbeitenden die Kundenwünsche nach weniger Leistung respektieren und nicht etwa diese Leistungen trotzdem (nun aber kostenfrei) durchführen!
Auf mögliche Konsequenzen bei der Leistungskürzung hinweisen! Beim Gespräch über die Leistungsänderungen sollte man darauf hinweisen, dass diese möglicherweise Auswirkungen auf eine kommende Folgebegutachtung haben können. Wenn im Gutachten festgestellt wurde, dass z. B. Hilfen bei der Körperpflege im Bereich des Kopfes
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Sofortmaßnahmen
notwendig sind (weil überwiegend unselbständig), nun aber beispielsweise auf die Leistung Kämmen/Rasieren verzichtet wird (je nach Leistungskatalog), ergibt sich die Frage, wer dies nun übernimmt oder ob der Pflegebedürftige das doch wieder selbständig kann! Leistungen zu reduzieren, ohne dass diese dann von Pflegepersonen übernommen werden, kann deshalb einstufungsrelevant sein/werden. Auch muss den Kunden in diesem Zusammenhang wieder erklärt werden, dass die Mitarbeitenden weder zum Warten verpflichtet sind, noch warten können! Wenn Kunden Leistungen kürzen, müssen sie selbst die Konsequenzen tragen und vor allem tatsächlich erleben! Wenn Mitarbeitende aus Mitleid, Gewohnheit oder anderen Gründen trotzdem alles so machen wie bisher, fehlt dauerhaft das Geld zur Refinanzierung, aber der Kunde hat mit seinem Verhalten ‚gewonnen‘: Identische Leistung zum reduzieren Preis! Dabei müssen die Mitarbeitenden immer wieder auf diesen Zusammenhang aufmerksam gemacht werden: Es geht am Ende schließlich um die Finanzierung ihrer Arbeitsplätze!
BEISPIEL Der Bäcker hat die Preise für die Brötchen erhöht! Der überraschte Stammkunde kann dies gar nicht verstehen und regt sich auf, dass es nun so teuer ist. Der nette Bäcker schenkt dem Stammkunden daraufhin ein Brötchen! Aber auch der Stammkunde erwartet nicht, dass er am nächsten Tag und jetzt dauerhaft zum Ausgleich immer ein Brötchen geschenkt bekommt!
Was im ‚normalen‘ Leben völlig verständlich und klar ist, ist in der Pflege anders: Hier wird ständig erwartet, dass Pflege nichts kosten darf und sich die Preise nicht verändern dürfen! Schließlich ist man ja auf Hilfe angewiesen. Diese ‚Mitleidstour‘ funktioniert immer mal wieder!
TIPPS ZUR UMSETZUNG Bei Leistungskürzungen werden i.d.R. automatisch die Leistungszeiten gekürzt (wenn weniger Leistungen geplant sind, kürzt das Computerprogramm automatisch die Plan-/ Soll-Zeiten). Wesentlich ist hier ein täglicher Soll-/Ist-Abgleich, ob die Mitarbeitenden die Leistungsänderungen gesehen und zeitlich umgesetzt haben! Nur mit einer zeitnahen Kontrolle kann man effektiv und schnell genug reagieren, bevor sich hier neue Heimliche Leistungen etablieren!
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4 Kostenerstattungs- und Privatleistungen Leistungen der Kostenerstattung der Pflegeversicherung, also die Verhinderungspflege nach § 39 sowie der Entlastungsbetrag nach § 45b sind formal gesehen Privatleistungen. Denn der Pflegedienst hat hierzu keine Verträge mit den Pflegekassen zu vereinbaren und darf (formal) diese Leistung gar nicht direkt mit den Pflegekassen abrechnen. Der Gesetzgeber will sich hier eine gewisse Flexibilität erhalten, damit auch andere Einrichtungen oder Personen die Leistungen abrechnen können, die keine Verträge mit den Pflegekassen abgeschlossen haben.
4.1 Die richtigen Preise berechnen Für Privat- und Kostenerstattungsleistungen gibt es auf den ersten Blick keine Preisdefinition oder Preisbindung. Allerdings dürfte sich diese schon aus dem praktischen Geschehen ergeben: Wenn die gleichen Mitarbeitenden zum Kunden gehen und gleiche Leistungen erbringen, die bei verschiedenen Kostenträgern abgerechnet werden, dann gibt es keinen Grund, dass diese Preise unterschiedlich hoch sind (nur die Ärzteschaft hat sich aus nicht wirklich nachvollziehbaren Gründen das Privileg herausgenommen, bei Privatversicherten für identische Leistungen mehrfach höhere Preise abzurechnen). Bei den Entlastungsleistungen nach § 45b ist gesetzlich eine scheinbar fixe Grenze definiert, die im Kern den obigen Sachverhalt abbildet: Die verlangte Vergütung darf die Preise für vergleichbare Sachleistungen nicht übersteigen (Abs. 4, § 45b). Wichtig ist in diesem Zusammenhang, den Wortlaut zu beachten: Hier ist nicht definiert, dass ein Pflegedienst nur nach dem Leistungskatalog der Sachleistungen abrechnen darf, es gilt hier nur die Preishöhe vergleichbarer Leistungen. Wenn beispielsweise im Leistungskatalog des Bundeslandes die hauswirtschaftlichen Leistungen nach Zeit definiert sind und in der Vergütungsvereinbarung ein Stundensatz von 30 € vereinbart wurde, wäre dies der vergleichbare Preis für eine hauswirtschaftliche Leistung nach § 45b. Entsprechend wäre auch der Preis für Betreuungsleistungen abzuleiten. Allerdings müsste zu diesem Preis die (soweit vereinbart) entsprechende Wegepauschale dazu kommen sowie die weiter berechneten Investitionskosten, soweit sie in dem Bundesland nicht ausdrücklich über die Landesförderung refinanziert sind (wie überwiegend in Niedersachsen). Sind die Investitionskosten (wie in den meisten Bundesländern) privat weiter zu berechnen, würde der vergleichbare Preis sich im Beispiel zusammensetzen aus 30 € Stundenvergütung +
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Sofortmaßnahmen
weiterberechnete Investitionskosten + Wegepauschale. Da bei den Entlastungsleistungen die Aufwendungen refinanziert werden, die bei Inanspruchnahme der Leistungen anfallen, können die Komplettkosten über den Entlastungsbetrag nach § 45b refinanziert werden. Zwar gibt es für die Verhinderungspflege keine vergleichbaren Regelungen wie in § 45b Abs. 4 definiert, aber die Übernahme dieser Regelungen ist naheliegend und logisch. Allerdings können für die Stunde Verhinderungspflege nur die Kosten pro Stunde sowie die Wegekosten (soweit im Bundesland vereinbart, sonst Gesamtpauschale) erstattet werden, weil im Gesetz hier die Erstattung auf die Kosten (also ohne Investitionskosten) reduziert ist (die notwendigen Investitionskosten müssten wie bei den Sachleistungen privat in Rechnung gestellt werden). Allerdings umfasst eine pauschale Leistung ‚Verhinderungspflege‘ oftmals ein Leistungsmix aus Körperpflegeleistungen (Mobilität, Toilettengänge etc.), Pflegerischer Betreuung (z. B. gemeinsames Einkaufen) sowie Hilfen bei der Haushaltsführung, so dass sich der Preis eher an den Körperpflegeleistungen orientierten müsste. Sind im eigenen Leistungskatalog keine Zeitleistungen vereinbart, sondern die Leistungen nur mit Punktmengen definiert, so muss der Pflegedienst seine internen Zeitdefinitionen entsprechend selbst festlegen und übertragen.
Die Preis-Obergrenze ist auch eine Untergrenze Zwar ist in § 45b Abs. 4 nur eine Obergrenze definiert, diese gilt aber damit automatisch auch als Untergrenze für andere Leistungen. Denn um auf das Beispiel zurück zu kommen: Wenn eine Stunde Hauswirtschaft als Sachleistung Pflegeversicherung z. B. mit 30 € vereinbart wurde plus einer Wegepauschale von 5 € plus weiter berechneten Investitionskosten von 1,20 €, dann müsste in diesem Beispiel eine Stunde Hauswirtschaft insgesamt 36,20 € kosten. Damit dürften dann andere Privatleistungen der hauswirtschaftlichen Versorgung praktisch nicht günstiger angeboten werden. Denn wer z. B. als Pflegedienst Privatkunden die Leistung für 25 € anbietet, wird sich bei Vergütungsverhandlungen von der Pflegekasse zurecht fragen lassen müssen, warum die Kasse selbst 30 € + Weg zahlen soll, wenn die Leistung auch für 25 € ohne Weg zu bekommen ist.
4.2 Investitionskosten weiter berechnen Die Pflegeversicherung definiert in § 82 Abs. 2, was investive Kosten sind und dass diese nicht von der Pflegeversicherung refinanziert werden. Um es kurz zu machen: Zu den investiven Kosten im Sinne SGB XI gehören ambulant alle Fahrzeugkosten bis auf Steuern, Sprit/Strom sowie Versicherung, alle Kosten der Büroausstattung einschließlich Computer, Computerprogramme sowie deren Wartungsverträge sowie die (Kalt-)Mietkosten.
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4 Kostenerstattungs- und Privatleistungen
Diese Kosten werden lt. Gesetz von den Ländern refinanziert, was nur noch in NRW, Niedersachsen und Schleswig-Holstein der Fall ist, in Bayern in einigen Regionen. In allen anderen Ländern ohne oder mit nicht vollständiger Förderung (wie in Bayern) müssen diese Kosten den Leistungsbeziehern privat in Rechnung gestellt werden. Dies ist der zuständigen Behörde nur mitzuteilen, ist aber lediglich bei Sozialhilfeempfängern zustimmungspflichtig. Der Weiterberechnungsmodus ist (wie immer in der Pflegeversicherung) föderalistisch vielfältig: Von prozentualem Anteil pro Leistungsumsatz über Tages- oder Einsatzpauschalen gibt es alles. Tatsache ist, dass Pflegedienste diese Kosten weiter berechnen müssen, sonst fehlt ihnen die Einnahme zur Refinanzierung. Aber Achtung: Es geht nur um die Weiterberechnung der investiven Kosten in dem Betriebsteil „Pflegeversicherung Sachleistungen“, nicht um die gesamten Investitionskosten. Da jeder Pflegedienst (zumindest theoretisch) eine Kostenrechnung hat, in der die Betriebsteile Pflegeversicherung, Krankenversicherung und Privatleistungen mit Erträgen und Aufwendungen getrennt voneinander dargestellt sind, könnte man hier überprüfen, ob die bisherige Höhe der Weiterberechnung kostendeckend für die Kosten im SGB XI waren oder nicht (siehe Abbildung 4.1). Die Erträge der Investitionskosten Pflegeversicherung müssen/sollen nur die Aufwendungen der Investitionskosten Pflegeversicherung decken, nicht die der anderen Bereiche. Diese Finanzierungstrennung gibt es nicht in der Krankenversicherung oder bei anderen Privatleistungen.
Musterkostenrechnung Zusammenfassung
Erträge 1. 2. 3.
Erträge Pflege gesamt
Gesamt
1.740.984
PV
836.581
KV
769.499
Pri
102.839
Erträge Investitionskosten
34.031
32.097
1.646
220
Andere Erträge
30.868
13.072
1.528
204
Erträge Gesamt
1.805.883
881.750
772.673
103.263
Personalaufwendungen Gesamt
1.601.464
783.463
696.052
92.996
Zentrale Dienstleistungen
37.805
18.495
16.431
2.195
Sachkosten
80.922
39.588
35.171
4.699
Investive Sachkosten
77.406
37.868
33.643
4.495
Andere Aufwendungen
14.444
13.890
306
41
Aufwendungen Gesamt
1.812.041
893.304
781.603
104.426
PV
KV
Pri
Aufwendungen 4. 5. 6. 7. 8.
Gesamt Differenz
-6.158
-11.554
-8.931
-1.163
Abbildung 4.1: Ambulante Kostenrechnung und Investitionskosten
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Sofortmaßnahmen
TIPPS ZUR UMSETZUNG Investitionskosten müssen immer weiter berechnet werden. Wer bisher auf die Weiterberechnung verzichtet hat, sollte zumindest mit der Höhe anfangen, die die örtlichen Mitbewerber momentan nehmen. Parallel sollte mit dem Steuerberater bzw. Zuständigen für die Finanzbuchhaltung die richtige Höhe ermittelt werden.
4.3 Verhinderungspflege richtig einsetzen Voraussetzung für die Nutzung der Verhinderungspflege ist eine tatsächlich vorhandene (ehrenamtliche) Pflegeperson, die zu vertreten ist. Dabei muss diese Pflegeperson (bisher) nicht der Pflegekasse bekannt gewesen sein, sie kann jederzeit ‚nachgemeldet‘ werden. Aber nur wer bisher ‚da‘ war und etwas gemacht hat, kann auch ‚verhindert‘ sein und vertreten werden. Die Leistungen dieser ‚Vertretungspflege‘ sind nicht dazu gedacht, Geld zu sparen oder regelmäßige Leistungen zu übernehmen: Einmal die Woche Hauswirtschaft für das ganze Jahr wäre damit prinzipiell keine Leistung der Verhinderungspflege, denn für das Jahr ist gar nicht geplant, dass die Pflegeperson diese Leistung erbringen will oder vorhatte. Die Verhinderungspflege dient eben nicht der regelmäßigen Entlastung, sondern der Vertretung ‚außer der Reihe‘, im ‚Notfall‘ oder bei zeitweiser Abwesenheit wie Urlaub. Trotz der Grauzone der Leistung und trotz auch grenzwertiger Abrechnungen wird die Verhinderungspflege bundesweit nur zu ca. 29 % genutzt (wenn man die Leistungsausgaben ins Verhältnis setzt zu den Leistungsberechtigten). Das kann auch daran liegen, dass viele scheinbar keine Pflegepersonen haben: Dabei sind diese nicht dadurch definiert, dass sie bei der Pflegekasse gemeldet oder im Gutachten eingetragen sein müssen. Sie könnten jederzeit benannt werden, wenn sie faktisch für einen Pflegebedürftigen ehrenamtliche Pflegeleistungen (also Leistungen der Körperpflege und/oder Betreuung und/oder Hauswirtschaft) erbringen. Durch eine Meldung bei der Pflegekasse und sei es im Rahmen der Abrechnung von Verhinderungspflege entsteht trotzdem keinerlei Verpflichtung, nun dauerhaft als Pflegeperson gewisse Tätigkeiten übernehmen zu müssen.
TIPPS ZUR UMSETZUNG Weil es faktisch sehr viele Vertretungsmöglichkeiten gibt, könnte durch eine qualifizierte Beratung diese Leistung auch öfter und zielgerichteter genutzt werden. Das setzt aber voraus, dass die Beratungskräfte gut informiert/geschult sind und insbesondere das entsprechende Rundschreiben des Spitzenverbandes Bund der Pflegekasse zu den leistungsrechtlichen Fragen der Pflegeversicherung kennen.
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4 Kostenerstattungs- und Privatleistungen
4.4 Entlastungsleistung nach § 45b differenzierter nutzen Die Idee der Entlastungsleistung (die formal „Entlastungsbetrag“ heißt) für alle Pflegebedürftigen war, den Pflegebedürftigen zu animieren, sich auch einmal/erstmalig externe professionalisierte Hilfe zu holen. Daher darf die Leistung nur durch zugelassene Dienstleister erbracht werden, um so sicherzustellen, dass die Dienstleistungen auch tatsächlich ausgeführt werden (was bei der Verhinderungspflege nicht immer garantiert ist). Leider wird die Entlastungsleistung oftmals reduziert auf reine hauswirtschaftliche Versorgung und nur so abgerufen, obwohl auch Betreuung, Hilfe bei Mobilität, Beratung und Begleitung zu den Leistungsmöglichkeiten zählen. Leider beraten Mitarbeitende von Pflegekassen häufig auch nur dahingehend: „Dann lassen Sie doch dafür putzen“ ist eine häufige Aussage, folgt man den Schilderungen von Pflegediensten. Nicht wenige Pflegedienste reduzieren ihre hauswirtschaftlichen Angebote, weil sie scheinbar nicht in das Profil eines Pflegedienstes passen. Dabei beginnt der Einstieg in Pflegeleistungen meist mit der Hilfe beim Treppenputzen, danach kommt dann relativ schnell der Bedarf der Hilfestellung beim Duschen/Baden. Andererseits sind die Forderungen der Pflegebedürftigen/Angehörigen, was angeblich alles mit dieser Leistung gemacht werden soll, oftmals schon eher übergriffig, z. B. wenn das gesamte Treppenhaus des Mehrfamilienhauses gereinigt werden soll oder der Rasen gemäht und der Garten gepflegt werden muss. Dabei handelt es sich bei Entlastungsleistungen nicht um die Leistungen einer „Gartenpflegeversicherung“ und sie ist auch nicht dazu da, Leistungen für andere als die Versicherten zu refinanzieren. Daher sollten Pflegedienste hier klare Grenzen ziehen, auch in Bezug auf Vorgaben der Unfallversicherung: Die Nutzung von privaten Leitern und Tritthilfen dürfte sich von selbst ausschließen ebenso wie die Reparatur von elektrischen Geräten, Hausmeistertätigkeiten oder die Nutzung von Gartengeräten wie ein Rasenmäher. Und zur Information: Auch in der Gesetzesbegründung im Pflegestärkungsgesetz 1 aus dem Jahre 2015, als die Leistung für alle Pflegebedürftigen eingeführt wurde, findet sich in der Kommentierung lediglich das Wort „Blumenpflege“, aber Gartenarbeiten hat der Gesetzgeber garantiert nicht gewollt!
Klare Regelungen mit wenig Flexibilität! Bei der Erbringung von Hauswirtschaft nach Zeit sollte man eher größere Zeiteinheiten wählen wie pro Stunde oder pro angefangene halbe Stunde. Der Planungsaufwand ist sonst unüberschaubar. Da Zeitmodule (siehe Kap. 3.6 ) genutzt werden, entfällt eine minutengenaue Abrechnung. Die Mitarbeitenden sollten diese Zeitvorgaben entsprechend einhalten. Wird der Einsatz früher beendet (eine Zeiteinheit weniger), sollte geprüft werden, ob es sich hier um
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Sofortmaßnahmen
eine kurzfristige Absage/Leistungsreduzierung handelt, und folglich der nicht erbrachte Zeitanteil als reine Privatleistung (ohne Refinanzierungsmöglichkeit) in Rechnung gestellt wird. Bei der Absage von Einsätzen im Bereich Hauswirtschaft/Entlastungsleistungen könnte auch vereinbart werden, dass diese mindestens 48 Stunden vorher abgesagt werden müssten.
BEISPIEL Frau B. ruft Dienstagmorgen an und will den Einsatz der Entlastungsleistung am Mittwochvormittag verschieben, da sie zum Friseur geht. Aber die bekannte Kraft muss diese Woche unbedingt noch kommen, weil am Wochenende Besuch kommt! Dabei dürfte der Friseurtermin schon seit ca. 4 Wochen bekannt sein, weil er beim letzten Besuch vereinbart wurde! Plant der Pflegedienst diesen Einsatz um (sehr zum Ärger der Mitarbeiter:in), wird die Kundin weiterhin immer auf die letzte Minute absagen und auf die Umplanungsqualitäten vertrauen!
Durch eine zu hohe Flexibilität werden genau die Pflegekunden weiterhin mit kurzfristigen Änderungswünschen auf den Pflegedienst zukommen, die damit den höchsten Umplanungsaufwand generieren, der immer zu Lasten der Mitarbeitenden geht! Verhaltensänderungen lassen sich hier eher erreichen, wenn der Pflegedienst diese Umplanung nicht vornimmt und deshalb in der entsprechenden Woche die Leistung ganz ausfallen muss! Oder eine kurzfristige Absage dann entsprechend eine ‚echte‘ Privatrechnung nach sich zieht, die nicht bei der Pflegekasse eingereicht werden kann! (s. Kap. 6.2)
Die Entlastungsleistungen in Zusammenhang mit der Pflege nutzen Die Entlastungsleistungen können in Zusammenhang der Vor- und Nachbereitung bei Grundpflegeeinsätzen am Morgen gut genutzt werden. Da im Rahmen der Entlastungsleistungen auch Hilfen bei der Mobilität erbracht werden können, wären weitere Einsatzmöglichkeiten/ Kombinationen möglich: – Der Pflegebedürftige benötigt morgens eine Insulininjektion sowie eine Große Körperpflege inklusive Duschen. Eine Pflegefachkraft wäre mit dieser Leistung 40 Minuten beschäftigt, was momentan morgens um 8.00 Uhr wegen Personalmangel nicht möglich ist. – Als Lösung könnte man folgende Kombination anbieten: Die Pflegefachkraft hilft dem Pflegebedürftigen morgens beim Aufstehen und macht das Frühstück, die Leistung würde über die Entlastungsleistung abgerechnet. Dann spritzt sie noch das Insulin. Am späteren Vormittag wird dann in einem zweiten Einsatz das Duschen durchgeführt.
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4 Kostenerstattungs- und Privatleistungen
Diese Variante wäre für den Pflegebedürftigen deutlich günstiger, als wenn die Leistung komplett über Sachleistungen abgerechnet wird, wobei es in vielen Leistungskatalogen kaum passende kleine Leistungen gibt.
TIPPS ZUR UMSETZUNG Die Entlastungsleistungen werden bundesweit nur zu ca. 50 % genutzt. Oftmals fragen die Pflegebedürftigen anfangs nach hauswirtschaftlichen Leistungen, die entweder generell nicht erbracht werden oder momentan nicht erbracht werden können. Später wird dann oftmals vergessen, dass es hier immer noch Leistungsmöglichkeiten gibt oder geben könnte. Daher sollte man gezielt überprüfen oder vom Pflegebedürftigen bei der Pflegekasse nachfragen lassen, welche Leistungen noch verfügbar sind (Übertrag aus dem letzten Jahr ins erste Halbjahr des Folgejahres!).
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5 Behandlungspflege Die Richtline Häusliche Krankenpflege (HKP-RL) in der jeweils aktuellen Fassung ist vom Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) erlassen worden. Mitglieder des G-BA sind die Verbände der Ärzteschaft und der Krankenhausgesellschaft sowie des Spitzenverbandes der Krankenkassen. Die Ärzteschaft hat also mit den Krankenkassen verbindliche Arbeitsabläufe für die Häusliche Krankenpflege vereinbart. Die Krankenkassen haben wiederum in Verträgen nach § 132a SGB V mit den einzelnen Pflegediensten bzw. ihren Verbänden auf Landesebene die Strukturen, Abläufe, Regelungen und Vergütungen der zu erbringenden Leistungen vereinbart. Zur Vereinheitlichung wurde auf Bundesebene die Bundesrahmen-Empfehlungen nach § 132a, Abs.1 zwischen den Verbänden der Krankenkassen und Verbänden der Pflegedienste vereinbart: Dort sind bundeseinheitliche Abläufe und Regelungen definiert, die dann in den jeweiligen Verträgen auf Landesebene berücksichtigt werden müssen. Eigentlich sind alle Abläufe und Fragen klar geregelt, trotzdem erleben die Pflegedienste in der Praxis immer ganz andere Anforderungen und Behauptungen. Und vor allem sollen dann die Pflegedienste immer für die anderen (verordnende Ärzte und Krankenkassen) die Arbeit machen, die eigentlich anders geregelt ist. Daher müssen grundlegende Fragen geklärt sein, damit der Verwaltungsaufwand auf das Maß reduziert wird, das eigentlich vertraglich vorgesehen ist! Leider liegt es auch zum Teil an der Naivität bei vielen Pflegediensten, die glauben, die Krankenkassen hätten grundsätzlich Recht und wären immer am längeren Hebel! Das gilt aber nur solange, wie die eigenen Grundlagen nicht bekannt sind und man nicht schrittweise die übergriffigen Verhaltensweisen reduzieren kann.
5.1 Wer ist zuständig für die richtige Verordnung? Im Rahmen der Häuslichen Krankenpflege ist die Zuständigkeit klar geregelt: Der verordnende Arzt/Ärztin koordiniert die Therapie (§ 7 HKP-RL). Zur Unterstützung der vertragsärztlichen Versorgung kann als Sicherungspflege Häusliche Krankenpflege verordnet werden. Verantwortlich für die dauerhafte Therapie ist damit immer der/die ausstellende Verordner/ in (§ 2b HKP-RL). In § 3 HKP-RL ist klar geregelt, wie der/die Verordner/in die jeweilige Verordnung auszufüllen hat, von den Stammdaten, Verordnungszeiten über die Diagnosen bis zu den Therapien
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einschließlich Benennung der Präparate oder Verbandmaterialien, wenn es um eine Medikamentengabe oder die Wundversorgung geht. In der Bundesrahmenempfehlung ist geregelt, was zu tun ist, wenn die Verordnung nicht sachgerecht erstellt wurde. In § 2, Abs. 1 ist Folgendes formuliert: „Ergeben sich aus der Verordnung nicht alle für die Leistungsentscheidung erforderlichen Informationen oder ist die Verordnung nicht eindeutig, unzureichend oder fehlerhaft ausgefüllt, wendet sich die Krankenkasse ausschließlich an die ausstellende Ärztin/an den ausstellenden Arzt oder ggf. an die Versicherte/den Versicherten zur diesbezüglichen Klärung.“ Somit stellt sich die Frage, warum Folgendes in der Praxis täglich geschieht: – Die Kasse ruft im Pflegedienst an, weil ein Medikamentenplan fehlt und fordert die Übersendung. – Die Kasse schickt die Verordnung zurück an den Pflegedienst mit dem Hinweis, dass das Ausstellungsdatum falsch wäre. – Die Kasse schickt die Verordnung zurück, weil die Diagnosen nicht passen. – … Alle diese Fragen müssten laut der bestehenden Verträge und Regelungen die Krankenkassen direkt mit den verordnenden Ärzten/Praxen klären. Da es aber einfacher ist, die Pflegedienste zu schicken, werden diese mit der Klärung dieser Fragen beauftragt, obwohl diese nicht zuständig sind! Auch der Hinweis, der Pflegedienst hätte ja ‚eh‘ einen Medikamentenplan und könnte diesen ja eben mal an die Kasse senden, ist zwar pragmatisch, aber blendet völlig aus, wie viel Arbeitszeit in den Pflegediensten gebunden wird, weil sie die Pläne zu den Kassen schicken, die die Praxen vergessen haben. Und da die Pläne gar nicht mehr bei der Arztpraxis angemahnt werden, wird sich das Verhalten der Praxen auch nicht ändern! Falls die Praxen die Verordnung formal richtig ausfüllen, weil sie bei den anzugebenden Präparaten „Siehe Medikamentenplan“ schreibt, dann ist es ihre Aufgabe, den Medikamentenplan auch gleich auszudrucken und an die Verordnung zu hängen. Daher sollten sich die Pflegedienste vertragskonform verhalten und die Krankenkassen an die verordnende Praxis verweisen.
5.2 Wer ist von Kürzungen betroffen? Um Pflegedienste dazu zu bewegen, auch für die Krankenkasse Laufarbeiten zu übernehmen, wird gern von Kassenmitarbeiter:innen damit gedroht, dass ansonsten die Verordnung nicht bewilligt wird. Diese Drohung verfängt nur, wenn man nicht weiß, wessen Leistungen eigentlich gekürzt werden:
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– Der Arzt/Ärztin verordnet im Rahmen seiner/ihrer Therapie Häusliche Krankenpflege für den Versicherten zu Lasten der Krankenkasse (siehe Abbildung 5.1) – Die Krankenkasse genehmigt dem Versicherten die Leistung oder verändert/kürzt sie dem Versicherten und greift so in die ärztliche Therapiefreiheit ein. – Da dem Versicherten die Leistungen gekürzt werden, hat nur dieser das Recht, dagegen Rechtsmittel (Widerspruch) einzulegen, bzw. der Arzt/Ärztin, da in seine Therapiefreiheit eingegriffen wird und er/sie theoretisch wegen fehlerhafter Verordnung regresspflichtig gegenüber der Krankenkasse ist, wenn dieser dadurch ein Schaden (nämlich die Rechnung des Pflegedienstes für die schon erbrachten Leistungen – s. nächster Punkt) entstanden ist . – Der Pflegedienst ist nur indirekt von allem betroffen: Bis zum Eingang der Änderung der Krankenkassen hat er die Leistungen wie verordnet zu erbringen; diese werden auch bis zum Eingang der Änderung so von den Krankenkassen finanziert (§ 6, Abs. 5, HKP-RL).
Arzt
Versicherter
Krankenkasse Pflegedienst MDK Abbildung 5.1: HKP: Arzte, Krankenkassen und Versicherte
Die oftmals ausgesprochenen ‚Drohungen‘ von Kassenmitarbeiter:innen gegenüber dem Pflegedienst sind somit ohne jede Substanz: „Wenn wir den Medikamentenplan nicht bekommen, müssen wir Ihnen (Pflegedienst) die Leistungen ablehnen“! Auch eine Ablehnung betrifft erst die Finanzierung der Zukunft und würde folglich keinen ‚Schaden‘ anrichten; denn wenn die Leistung abgelehnt würde, wird sie zukünftig nicht mehr erbracht. Aber für bereits durchgeführte Leistungen sind die Kassen zur Zahlung verpflichtet!
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5.3 Die missverständlichen Fristen Im Gesetzestext nach § 37. Abs. 2 ist geregelt: „Versicherte erhalten … als häusliche Krankenpflege Behandlungspflege, wenn diese zur Sicherung des Ziels der ärztlichen Behandlung erforderlich ist.“ Das Leistungsrecht des Versicherten ist grundsätzlich nicht abhängig von bestimmten Fristen, eine Einschränkung des Leistungsrechts durch die HKP-RL ist nicht im Gesetz vorgesehen. In § 6 Abs. 5 der HKP-RL ist eine Fristsetzung definiert, die nun vier Arbeitstage beträgt. Aber auch diese Fristsetzung ist nicht absolut, wie in der Bundesrahmenempfehlung nach § 132a , § 2, Abs. 4 zu lesen ist: „Kosten für genehmigte und vom Pflegedienst erbrachte Leistungen sind auch bei verfristeter Einreichung der Verordnung ab Verordnungsbeginn durch die Krankenkasse zu tragen.“ Dies gilt nur nicht, wenn die Leistungen grundsätzlich nicht verordnungsfähig waren (Satz 5).
BEISPIEL Die Verordnung über dreimal tägliche Medikamentengabe wurde am 10. Januar mit Laufzeit für das ganze Jahr ausgestellt. Am 3. Februar erhält der Pflegedienst die gekürzte Verordnung mit einmal täglicher Medikamentengabe ab dem 10. Januar bis 30. März. Der Pflegedienst rechnet nun die Leistung vom 10. Januar bis 2. Februar dreimal täglich ab, danach einmal täglich. Das Rechenzentrum kürzt die Rechnung auf einen Einsatz mit dem Hinweis, die Leistung wurde so nicht bewilligt! Der Pflegedienst schickt daraufhin der Krankenkasse eine Mahnung über die ausstehenden 2 Einsätze vom 10. Januar bis 2. Februar und erhält dann auch das Geld für diese Einsätze.
Die im Beispiel dargestellte Kürzung ist klar rechtswidrig und falsch. Dabei ist das Rechenzentrum weder für die Kürzung verantwortlich noch Ansprechpartner des Pflegedienstes, obwohl die Kassen immer gern auf das Rechenzentrum verweisen. Denn der Vertragspartner ist die Kasse, nicht ein Dienstleister und die Krankenkasse hat den mutmaßlich falschen Datensatz an das Rechenzentrum gegeben, dass dann nur die Arbeit gemacht hat. Wenn die Krankenkasse dem Pflegedienst wegen der Fristen die Leistungsbezahlung reduziert, könnte dieser die nicht refinanzierten Leistungen dem Versicherten auch privat in Rechnung stellen und dieser reicht diese Rechnung zur Kostenerstattung bei der Krankenkasse ein. In § 13 Abs. 3 SGB V ist geregelt, dass die Krankenkassen eine Leistung dann zu erstatten haben, wenn sie diese zu Unrecht abgelehnt hat, was hier der Fall ist: denn als Ablehnungsgrund sich auf die Fristen zu berufen wäre aufgrund der vorgestellten Regelungen unrechtmäßig.
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Auch hier gilt: Nur wer sich gegen die Kürzungen zur Wehr setzt, wird das vertraglich vereinbarte Leistungsentgelt bekommen!
5.4 Widerspruchsverfahren effektiv führen Es gibt weitere Gründe für durchaus willkürliche Leistungskürzungen. Zum Beispiel wird dann auf die Ausführungen im Leistungsverzeichnis verwiesen, wenn zum Beispiel die Menge der Einsätze oder die Dauer der Leistungserbringung verkürzt wird. Dabei sind die Angaben im Leistungsverzeichnis „Empfehlungen für den Regelfall, von denen in begründeten Fällen abgewichen werden kann“ (Vorbemerkung Leistungsverzeichnis der HKP-RL) und keine rechtsverbindlichen und endgültigen Aussagen zur Leistungsmenge! Bei allen zukünftigen Leistungskürzungen geht es primär um die Rechte des Versicherten auf die von seinem/seiner Arzt/Ärztin verordneten Leistungen, die gekürzt werden (die bisher erbrachten Leistungen sind wie oben ausgeführt nicht strittig). Daher hat (nur) der Versicherte selbst das Recht, dem eingrenzenden Leistungsbescheid seiner Krankenkasse zu widersprechen. Das setzt voraus, dass sein/seine Arzt/Ärztin ebenfalls der Meinung ist, dass die Kürzung, also der Eingriff in ihre Therapie nicht hinzunehmen sei. Würde der Arzt/die Ärztin das akzeptieren, gäbe es keinen Widerspruchsgrund. Allerdings würde er/sie damit ‚zugeben‘, dass die Leistung zu Unrecht so verordnet wurde und er/sie damit prinzipiell regresspflichtig würde (s.o.). Das ist den meisten Ärzt:innen so nicht bewusst und immer ein guter Hinweis, gegen die Kürzung vorzugehen. Das Widerspruchsverfahren ist ein sogenanntes Vorverfahren zur Klärung der Rechtmäßigkeit und Zweckmäßigkeit des Verwaltungsaktes. Die Widersprüche können formlos eingelegt werden, darüber entscheidet dann abschließend der Widerspruchsausschuss. Erst danach ist die Klage vor dem Sozialgericht möglich. Bei den privaten Krankenversicherungen gibt es kein Vorverfahren, hier kann es ein Schlichtungsverfahren geben, ansonsten ist hier ebenfalls zu klagen. Im Widerspruchverfahren kann sich der Versicherte anwaltlich vertreten lassen. Die Krankenkassen tragen dann die Kosten des Anwalts, wenn dem Widerspruch ‚stattgegeben‘ wird. Erfahrungsgemäß reagieren die Kassen völlig anders auf einen Widerspruch, der durch einen Anwalt eingelegt wird. Daher kann es sehr effektiv sein, einen spezialisierten Anwalt dem Versicherten zu empfehlen! Denn tatsächlich werden hier die Versichertenrechte eingeschränkt, die man nur durch effektive Begleitung rückgängig machen kann. Auch spart die Einschaltung eines qualifizierten Anwalts dem Pflegedienst den entsprechenden Arbeitsaufwand.
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BEISPIEL Prof. Ronald Richter aus Hamburg, bekannter Sozialrechtler und Stammautor bei der Häuslichen Pflege, hat vor einigen Jahren das Portal: hp-widerspruch.de eingerichtet. Dort werden Widersprüche im Bereich der Häuslichen Krankenpflege überprüft und dann kostenfrei anwaltlich vertreten, weil die Finanzierung bei den erfolgreichen Widersprüchen durch die zuständigen Krankenkassen erfolgen. Das Projekt gibt es seit 2019, Anfang 2023 wurden bereits über 1.000 Widersprüche erfolgreich bearbeitet. Das heißt aber auch, in diesen 1.000 Fällen hätten die Krankenkassen ihre Versicherten Leistungen zu Unrecht abgelehnt und es wäre nicht aufgefallen, wenn kein Widerspruchsverfahren durchgeführt worden wäre!
5.5 Leistungen abgrenzen Im Rahmen der Behandlungspflege werden gern viele weitere Arbeitsschritte auf den Pflegedienst abgewälzt, für die dieser gar nicht zuständig ist. Der Arzt/Die Ärztin verordnet eine bestimmte Behandlungspflege zur Sicherung seiner ärztlichen Therapie auf der Seite eins des bekannten Formulars 12. Auf der zweiten Seite unterschreibt der Versicherte diesen Antrag, denn formal ist es sein Antrag auf Bewilligung der Leistungen, die der Arzt/Ärztin verordnet hat. Der Versicherte beauftragt den Pflegedienst, bestimmte Leistungen zu übernehmen, was der Pflegedienst im Formular dokumentiert. Dann bringt der Versicherte seinen Antrag zu seiner Krankenkasse. Läuft die Verordnung aus, ist der verordnende Arzt/Ärztin zuständig für die Folgeverordnung, wenn nur so die weitere Therapie gesichert ist. Soweit also die Theorie, die Praxis ist anders: – Die Arztpraxis sagt dem Versicherten, dass der Pflegedienst sich um alles weitere kümmert! – Der Pflegedienst sorgt dafür, dass die Verordnung richtig unterschrieben und pünktlich zur Kasse kommt (und sei es vorab per Fax). – Die Arztpraxis kümmert sich nicht um die Folgeverordnung, daran erinnert sie der Pflegedienst. – Bei Rückfragen ruft die Krankenkasse immer den Pflegedienst an und nicht die zuständige Arztpraxis. – Im Rahmen der Medikamentengabe erwarten die Pflegebedürftigen, dass der Pflegedienst auch die Tabletten mitbringt und neue besorgt, einschließlich des Organisierens eines neuen Rezeptes gegen Vorlage der Chipkarte in der Arztpraxis natürlich.
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– Und wenn der Pflegedienst schon beim Pflegebedürftigen/Patienten ist, kann er auch das eine oder andere schnell noch mitmachen, er ist ja ‚eh da‘! Die Pflegebedürftigen/Kunden gehen automatisch davon aus, dass der Pflegedienst alles erledigt, er bekommt ja dafür Geld von der Krankenkasse und außerdem hat das der Arzt ja so gesagt! Dabei ist die Arztpraxis verantwortlich für die Therapie und Folgeverordnung!
BEISPIEL Der Patient ist insulinpflichtig, das der Pflegedienst zweimal täglich spritzen soll. Die Verordnung läuft am 31. März aus. Stellt die Arztpraxis nicht automatisch die Folgeverordnung aus, darf der Pflegedienst ab dem 1. April die Leistung nicht mehr erbringen, es wäre sonst Behandlungspflege ohne Auftrag (also potentiell Körperverletzung sowie ein klarer Verstoß gegen das Berufsrecht). Verantwortlich für die Folgen ist allein der ausstellende Arzt/Ärztin.
Zwar hat das Verwaltungsprogramm der Arztpraxis eine Wiedervorlagefunktion, aber trotzdem wird automatisch erwartet, dass der Pflegedienst mit einer entsprechenden Erinnerung sich in der Praxis meldet. Wobei die Anforderung neuer Verordnungen von manchen Praxisassistenten als Zumutung und Zusatzarbeit empfunden wird, die der Pflegedienst wieder verlangt! Dabei ist die Arztpraxis für die Therapie zuständig und verantwortlich, nicht der Pflegedienst als Dienstleister.
Verordnungs- und Medikamentenmanagement Der Aufwand für das Verordnungsmanagement und das Medikamentenmanagement ist nicht durch die Leistungen der Krankenkasse finanziert, das wäre im ersten Schritt den Patienten zu erklären. Die Leistung kann natürlich als Dienstleistung des Pflegedienstes eingekauft werden: entweder im Rahmen der Sachleistungen SGB XI (Einkauf, Besorgungen, Hilfen bei der Haushaltsführung), als Kostenerstattungsleistung nach § 45b, wenn diese gleichzeitig pflegebedürftig sind und einen Pflegegrad besitzen. Oder als echte Privatleistung bei Kunden ohne Pflegegrad. Die meist relativ aufwendige Leistung Medikamentenmanagement wird von vielen Pflegediensten als monatliche Pauschale angeboten, das Verordnungsmanagement meist pro Verordnung (weil es auch z. B. nur um eine Jahresverordnung geht).
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Sofortmaßnahmen
Kunden/Angehörige, die diese Leistung nicht wünschen, müssen dann selber dafür sorgen, das alles Benötigte für die Durchführung der Behandlungspflege vorhanden ist, sonst kann die Leistung nicht erbracht werden. Unser Musterinfoschreiben (Abb. 5.2) enthält neben einer allgemeinen Erläuterung die Wahlmöglichkeiten zur aktiven Auswahl: Die Kunden wählen zwischen der Leistung oder kreuzen an, dass sie alles selbst machen, werden damit aber auch über die Konsequenzen aufgeklärt.
Hilfestellungen rund um die Kompressionsstrümpfe Die zweithäufigste Leistung der Behandlungspflege sind Hilfestellungen rund um das Anlegen/Ablegen von Kompressionsstrümpfen bzw. Verbänden. Auch hier gibt es Zeitfallen und Abgrenzungsprobleme, denn die Krankenkasse zahlt nur die eigentliche Leistung: – Kompressionsstrümpfe/Verbände am Morgen: nur die Strümpfe anziehen, keine weitere Hilfestellung beim Anziehen von Kleidung oder kein Transfer. – Kompressionsstrümpfe/Verbände am Abend: nur das Ausziehen/Abnehmen sowie bei Bedarf die Dokumentation der Krankenbeobachtung, jedoch kein Transfer, kein Umkleiden und keine Hautpflege (gehört zur Grundpflege). Gerade abends sieht die Realität häufig anders aus:
BEISPIEL Der Pflegedienst kommt zur Pflegekundin, die noch auf der Terrasse die Sonne genießt. Die Kompressionsstrümpfe will sie aber nicht hier draußen ausgezogen bekommen, sie lässt sich vom Pflegedienst ins Schlafzimmer begleiten. Da die Haut durch das Tragen strapaziert und trocken ist, erwartet sie selbstverständlich die entsprechende Hautpflege der Beine und anschließend noch die weitere Hilfe beim Umziehen für die Nacht. Bezahlt wurde jedoch nur das ausschließliche Ausziehen der Strümpfe.
Wie man diese zusätzlichen Leistungen (Transfer, Umkleiden, Hautpflege) abrechnen kann, hängt auch vom Leistungskatalog der Pflegeversicherung im jeweiligen Bundesland ab. Oftmals fehlen jedoch kurze Transferleistungen, dann wäre entweder die nächstgrößere Leistung zu wählen oder alternativ eine Zeitleistung privat anzubieten. Selbst bei Kunden ohne Pflegegrad oder mit Pflegegrad 1 sollten die Leistungen so abgerechnet werden. Auch hier ist eine vorherige Aufklärung, was alles zur Kompressionstherapie gehört und was davon von der Krankenkasse bezahlt wird, hilfreich und wichtig (übrigens auch für die eigenen Mitarbeitenden, die das oftmals nicht wirklich wissen!).
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5 Behandlungspflege
System Praxis
Unternehmensberatung
Informationsblatt Medikamentenmanagement Um was geht es? Zur Weiterführung der ärztlichen Behandlung hat Ihr Arzt Ihnen Leistungen der Häuslichen Krankenpflege verordnet. Diese Leistungen müssen von Ihrer Krankenkasse genehmigt werden, daher hat der Arzt Ihnen hierzu eine sogenannte Verordnung mitgegeben. Diese müssen Sie auf der Rückseite /zweiten Seite unterschreiben und einen Pflegedienst mit der Durchführung beauftragen. Das vom Pflegedienst unterzeichnete Formular muss zur Krankenkasse gebracht werden. Die Verordnung wird von der Krankenkasse genehmigt oder evtl. eingeschränkt. Nach dem Ablauf (Enddatum der Verordnung) muss der Arzt eine neue Verordnung ausstellen, falls die Leistung weiterhin nötig ist. Diese ist dann erneut der Krankenkasse zur Genehmigung vorzulegen.
Was ist Aufgabe des Pflegedienstes? Die Krankenkassen bezahlen dem Pflegedienst nur die unmittelbare Leistung, nicht aber weitere Organisationsleistungen. So wird im Rahmen der Leistung zur Medikamentengabe oder dem Stellen von Medikamenten nur das Geben oder Stellen der Medikamente, nicht aber das Einholen eines Rezeptes oder das Holen aus der Apotheke bezahlt. Deshalb müssen diese Leistungen anders finanziert werden.
Unser Angebot für Sie Wir bieten Ihnen hierzu ein Pauschalpaket oder Sie entscheiden sich, die notwendigen Organisationsleistungen selbst zu übernehmen: Medikamentenmanagement über den Pflegedienst Der Pflegedienst übernimmt für Sie das Organisieren von Anschlussverordnung für die Medikamentengabe bzw. das Stellen von Medikamenten. Der Pflegedienst bestellt die notwendigen Rezepte in der Arztpraxis, holt diese ab und besorgt die Medikamente aus der Apotheke. Dafür berechnen wir eine monatliche Pauschale von xxx Euro. Diese Dienstleistung kann jederzeit zum Ende des Monats kündigen. Ich mache alles selbst! Ich möchte das Medikamentenmanagement nicht in Anspruch nehmen und besorge selbst die nötigen Folgeverordnungen sowie die notwendigen Medikamente. Sollte der Pflegedienst kurzfristig bestimmte Leistungen übernehmen müssen, werden sie nach Zeitaufwand abgerechnet. Allerdings kann es dann zu Verzögerungen bei der Leistung kommen. Ort, Datum
Unterschrift
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Abbildung 5.2: Infoblatt Medikamentenmanagement
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6 Organisationsfragen Im Rahmen der Abläufe, der Verwaltung und der Organisation sind Möglichkeiten zu diskutieren, die den Aufwand dauerhaft erheblich verringern. Das setzt aber eine konsequentere Steuerung voraus. Hier nicht weiter vertieft wird die Einsatzplanung und der wesentliche Soll-/Ist-Abgleich (siehe auch Kap. 3.10). Nur wenn die Tourenplanung zeitnah überprüft wird, können Abweichungen schnell erkannt und im Einzelfall Lösungen gefunden werden. Die weiteren Stichpunkte unter diesem Themenfeld zeigen nur einige Verbesserungsmöglichkeiten auf, die sich sicherlich weiter ergänzen lassen. Die Reihenfolge ist zufällig und enthält keinerlei Wertung.
6.1 Wegezeiten reduzieren Die Mitarbeitenden im Pflegedienst benötigen oftmals ca. 30 % der Arbeitszeit, um die zu versorgenden Kunden aufzusuchen. Je nach Einzugsgebiet kann dieser Anteil deutlich höher liegen. Überproportional hoch ist der Arbeitszeitanteil bei den relativ kurzen Leistungen der Behandlungspflege: Gerade bei alleinigen Einsätzen wie einer morgendlichen Insulininjektion dauert die Wegezeit (von Wohnungstür zu Wohnungstür) oftmals länger als die eigentliche Leistungszeit. Eine Möglichkeit der Reduzierung dieser Wegezeiten ist die klare Definition des Einsatzgebietes, vor allem in Abhängigkeit vom Straßenverlauf und der tatsächlichen Erreichbarkeit. Dabei sind zwar in den Versorgungsverträgen meist sehr viel größere Einzugsgebiete definiert, oft der Landkreis oder bestimmte Städte etc., aber es ist weder wirtschaftlich sinnvoll noch praktikabel, überall hinzufahren. Der limitierende und deshalb sachlich richtige Ablehnungsgrund sind die mangelnden Kapazitäten. Eine sinnvolle Strategie zur Reduzierung von Wegezeiten wäre der direkte Austausch mit den benachbarten anderen Pflegediensten, die angesichts des Personalmangels bei gleichzeitig steigenden Kundennachfragen eher Kooperationspartner denn Mitbewerber sind. Daher sollte man ernsthaft prüfen, wie weit man mit der Abgabe einzelner Kunden durch die Einsparungen bei der Wegezeit nicht deutlich mehr Kunden versorgen kann. Oftmals wäre ein ‚Tausch‘ auch eine Win-Win-Situation für beider Partner, vor allem dann, wenn er gegenseitig funktioniert. Natürlich kann ein Kunde nicht so einfach ‚getauscht‘ werden, er selbst entscheidet, durch wen er versorgt werden will. Eine gute Aufklärung über den notwendigen Wechsel dürfte viele Vorbehalte und Ängste zerstreuen. Aber auch eine fristgerechte Kündigung wäre immer ohne Grund möglich.
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Sofortmaßnahmen
Um das klar und deutlich zu formulieren: Es geht nicht darum, Kunden loszuwerden, die sich ‚scheinbar‘ nicht rechnen, sondern nur darum, dass Arbeitsgebiet effektiv zu reduzieren, um durch verkürzte Wegezeiten mehr Zeit für die Versorgung der Kunden zu haben. Und dieses Interesse dürften die Mitbewerber ebenfalls haben. Natürlich würde man keinen Wettbewerber ansprechen, von dessen Qualität man selbst nicht überzeugt ist!
6.2 Umgang mit kurzfristigen Absagen Wenn Kunden Einsätze kurzfristig absagen oder Leistungen reduzieren, entstehen immer Aufwand und Kosten, sei es durch eine unnötige Anfahrt und/oder die Umplanung. Dazu kommen Diskussionen und evtl. Ärger mit den nächsten Kunden, weil man nicht zur gewohnten Zeit kommt, sondern zu früh da ist. In den allermeisten Pflegeverträgen ist geregelt, dass der ausgefallene Aufwand dann den Pflegebedürftigen/Kunden privat in Rechnung zu stellen ist. Denn nicht erbrachte Leistungen dürfen nicht gegenüber den Sozialleistungsträgern abgerechnet werden! Da der Einsatz kurzfristig in der Regel nicht umgeplant werden kann, würde es Zeit und Mühe sparen, wenn man dann die nicht erbrachte Leistung komplett dem Kunden in Rechnung stellt und der/die Mitarbeiter:in in der Zeit eine bezahlte Pause macht. Das setzt aber voraus, dass die Mitarbeitenden immer genau dokumentieren/rückmelden, wenn eine Leistung kurzfristig ausfällt. Das gilt auch, wenn nur eine Teilleistung nicht erbracht werden soll: Es sollen zwar die Kompressionsstrümpfe ausgezogen werden, aber die Kleine Abendtoilette soll nicht erbracht werden. Erfahrungsgemäß ist es immer eine bestimmte Kundengruppe, die vom Pflegedienst ständig spontane Änderungen erwartet. Diese Gruppe kann man in der Regel gut erziehen, wenn die Spontanität ihren tatsächlichen Preis bekommt, sie also eine Privatrechnung erhalten. Nur so wird sich dauerhaft der Aufwand reduzieren. Der Pflegedienst muss nur dafür sorgen, dass dieses dann konsequent geschieht. Man kann im ersten Schritt mit einer Verwarnung arbeiten, zum Beispiel in Form einer Gelben Karte (siehe Abbildung 6.1). Diese dient (wie im Fußball) als einmalige Verwarnung und regelt dazu noch die Frage, was zu tun ist, wenn man den Pflegebedürftigen/Kunden nicht angetroffen hat. Zu beachten ist immer das eigene Notfallkonzept: Wenn z. B. ein insulinpflichtiger Kunde die Wohnungstür nicht öffnet, muss man sicherlich anders handeln, als wenn es nur um das Ausziehen der Kompressionsstrümpfe geht! Die Reduzierung des Umplanungsaufwandes sorgt für stabilere und damit verlässlichere Touren und damit zufriedenere Kunden und Mitarbeiter.
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Unternehmensberatung
Kurzfristige Absage der mit uns vereinbarten Leistungen Sehr geehrte Frau/Herr _______________________________________ Sie hatten mit uns folgende Leistung vereinbart, die wir heute erbringen sollten: Leistung__________________________________________________________ Uhrzeit___________________ Mitarbeiter ______________________________________ Wir konnten die Leistung heute nicht vertragsgemäß erbringen, weil die Leistung schon erbracht worden ist Sie diese Leistung kurzfristig abgesagt haben. Eine nicht erbrachte Leistung können wir nicht gegenüber Ihrer Kranken-/bzw. Pflegekasse abrechnen. Gleichzeitig haben wir durch den Einsatz Kosten (Anfahrt, Arbeitszeit), die wir eigentlich vertragsgemäß Ihnen privat in Rechnung stellen müssen. Ausnahmsweise werden wir Ihnen heute diese Leistung nicht in Rechnung stellen. Allerdings möchten wir Sie bitten, zukünftig die Leistung vertragskonform, also am Vortag/24 Stunden (Regelung aus Pflegevertrag übernehmen und verweisen) vorher abzusagen. Im Wiederholungsfall müssen wir die Leistung Ihnen privat in Rechnung stellen. Wir haben Sie nicht angetroffen. Wir gehen davon aus, dass Sie die vereinbarte Leistung heute nicht mehr über den Pflegedienst benötigen. Falls Sie nach Ihrer Rückkehr doch noch die vereinbarte Leistung benötigen, melden Sie sich bitte über die Rufbereitschaftsnummer 0xxx xxxxxxx. Wir werden kann klären, wann wir zeitlich diesen Einsatz noch erbringen können. Wir müssen Ihnen dafür allerdings zusätzlich zur geplanten Leistung eine anteilige Einsatzpauschale von xxx € privat in Rechnung stellen.
Wir möchten gern alle unsere Kunden und natürlich auch Sie zuverlässig versorgen. Dazu ist eine gute Tourenplanung nötig, die nur möglich ist, wenn wir rechtzeitig über veränderte Leistungen informiert werden. Mit freundlichen Grüßen Ihr Pflegedienst
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Abbildung 6.1: Gelbe Karte: Verwarnung bei kurzfristiger Absage
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Sofortmaßnahmen
6.3 Hybride Dienstbesprechungen und Fortbildungen Die Coronazeit hat zumindest eine Entwicklung massiv voran gebracht: der Umgang mit digitalen Medien und insbesondere die breite Nutzung von Videokonferenzsystemen. Auch jetzt ist das eine angenehme Errungenschaft: Sich im Rahmen eines Videocalls direkt sehen und gemeinsam auszutauschen ist effektiver als ein Telefonat oder eine Telefonkonferenz. Auch Besprechungen in größerem Rahmen sind mit einer Videosoftware machbar und es spart teilweise massiv Wegezeit und Wegekosten, wenn zum Beispiel der Qualitätszirkel virtuell tagt. Allerdings ersetzen virtuelle Formate nicht den direkten Austausch: An der Kaffeemaschine oder bei der Zigarette in der zugigen Raucherecke findet ein wichtiger Teil der betrieblichen Kommunikation statt, der nicht ersetzt werden kann und auf den man auch nicht verzichten sollte. Es gibt immer Formate oder Themen, bei denen einzelne Termine digital organisiert werden könnten und so entsprechende Arbeitszeit gespart wird. In Bezug auf eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie sollten solche technischen Möglichkeiten ebenfalls genutzt werden. So könnten Dienstbesprechungen hybrid durchgeführt werden: Ein Teil der Mitarbeitenden wäre anwesend, die Anderen per Video zugeschaltet.
BEISPIEL Die Dienstbesprechung ist um 14.00 Uhr nach dem Mittagsdienst angesetzt. Die Mitarbeiter:innen des Spätdienstes kommen daher früher, die Frühdienstkräfte müssen nochmal in die Station kommen, da ihre Touren schon um 11.00 Uhr beendet waren. Die zweite Anfahrt wird ihnen vereinbarungsgemäß als Arbeitszeit vergütet. Zwei Kolleg:innen können nicht kommen, weil ihre Kinder zuhause nicht anders versorgt werden können. Die Dienstbesprechung wird nun hybrid durchgeführt: Dabei erfolgt die wesentliche Übertragung/Kamera über einen Laptop. Zwei weitere Mitarbeiter:innen haben sich mit den Mobiltelefonen in die Konferenz eingeloggt und nutzen diese als zusätzliche Mikrophone bzw. Kameras bei Wortmeldungen und Diskussionsbeiträgen. Die Mitarbeiter:innen zuhause nutzen die Mobiltelefone und sind so an der Dienstbesprechung beteiligt.
Auch Fortbildungen lassen sich so organisieren und damit einerseits Wegekosten reduzieren und die Teilnahmequote verbessert sich deutlich!
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6.4 Autopflege Dienstwagen sind in den allermeisten Pflegediensten unverzichtbare Arbeitsmittel. Nur wer Glück hat, ein innerstädtisches Quartier zu versorgen, in dem alles fußläufig oder per Fahrrad erreichbar ist, benötigt keine Dienstwagen. Dienstwagen benötigen eine gewisse Pflege, vom Tanken bis zur Autowäsche. Die Tankproblematik beschränkt sich nur noch auf Verbrennungsmotoren, denn die Elektroflotte wird normalerweise direkt auf dem Firmenparkplatz an die Ladestationen angeschlossen, Besuche der Tankstelle entfallen damit. Das Tanken sollte genauso in die Tourenplanung eingeplant werden wie andere Einsätze, denn nur so sind zusätzliche Fahrten zur Tankstelle genauso überflüssig wie das Tanken zu verkehrten Zeiten (z. B. in der voll ausgeplanten Wochenendtour). Tankkarten für bestimmte Tankstellen erleichtern das Flottenmanagement und die Abrechnung. Sie sind dann aber relativ gesehen teuerer, wenn die Tankstelle zu weit vom Pflegedienststandort entfernt ist und die Anfahrten damit alle Spareffekte aufzehren. Ein weiterer Zeitfresser sind die notwendigen Autowäschen. Ein dreckiger Dienstwagen ist kein positiver Werbeträger (dabei sind Dienstwagen die effektivste Art im Einzugsgebiet Werbung zu machen!). Normalerweise fährt derjenige Mitarbeitende zur Waschanlage, der an einem bestimmten Tag Dienst hat oder gerade da vorbei kommt. Allerdings ist es nicht nur in Zeiten von Fachkraftmangel uneffektiv, wenn Pflegefachkräfte zur Autowaschanlage fahren und mit Wartezeit dort eine halbe Stunde Arbeitszeit benötigen. Sinnvoller wäre es, wenn dies entweder durch Pflegehilfskräfte oder durch zusätzliche Mitarbeitende (z. B. Rentner, etc. als Aushilfe) übernommen würde und die gesparte Arbeitszeit der Fachkräfte für Einsätze geplant würde. Es geht nicht um den Innenraumdreck, den bitte jeder Nutzer selbst wegmacht! Nutzen Mitarbeitende die Dienstwagen im Rahmen von Regelungen zur Privatnutzung, können solche Arbeiten im Rahmen von Dienstvereinbarungen anders geregelt werden. Transferfahrten zur Autowerkstatt (Inspektion, Reifenwechsel, etc.) müssten ebenfalls nicht durch Pflegefachkräfte erbracht werden.
6.5 Rufbereitschaft verteilen Die Verpflichtungen zur Erreichbarkeit und zur Rufbereitschaft sind in den Versorgungsverträgen und Rahmenverträgen geregelt: – Pflegedienste müssen rund um die Uhr telefonisch erreichbar sein, eine indirekte Erreichbarkeit über einen Anrufbeantworter ist nicht ausreichend (siehe MuG Ambulant Punkt 3.1.1).
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– Der Pflegedienst führt die von ihm vereinbarten und geplanten Leistungen jederzeit durch: Dabei geht es um die vereinbarten, also geplanten Leistungen. – Nicht geregelt sind folglich Spontaneinsätze, die nicht vertraglich vereinbart sind! Lt. MuG könnte der Nachweis über die Erreichbarkeit beispielsweise durch den Dienstplan geführt werden, wen hierin Ruf-/Einsatzbereitschaftsdienste ausgewiesen sind. Dabei muss aber die telefonische Erreichbarkeit gar nicht durch den Pflegedienst selbst sicher gestellt werden, es könnte auch durch eine andere Telefonzentrale übernommen werden. Aus der Formulierung kann aber nicht abgeleitet werden, dass es einen (eigenen) Rufbereitschaftsdienst geben muss! Die weitere Frage, die sich stellt, lautet: gibt es überhaupt Spontaneinsätze, zu denen der Pflegedienst fahren muss, wenn er diese nicht vereinbart hat? Hat der Pflegedienst im Pflegevertrag (ungeschickterweise) vereinbart, dass „Toilettengänge bei Bedarf“ durchgeführt werden, dann sind spontane Anrufe für einen Toilettengang vertraglich vereinbart! Was ist mit klassischen Anrufen: weil der Pflegebedürftige gestützt ist oder weil es ihm schlecht geht oder weil die Hausnotrufzentrale einen ausgelösten Notruf hat, aber der Kunde sich nicht mehr meldet? Alle diese Anfragen haben das Problem, dass hier eigentlich unzuständigerweise der Pflegedienst angerufen wird! Denn da die Mitarbeitenden des Pflegedienstes weder diagnostizieren können oder dürfen und auch über keine Fahrzeuge mit Sonderrechten verfügen, um die Kunden schnell zu erreichen, wären sie für die beschriebenen Fallkonstellationen unzuständig! Zu beauftragen wäre der hausärztliche Notdienst oder der Rettungsdienst! Auch die Schlüsselfrage ist kein Argument: Denn ein Pflegedienstmitarbeiter:in braucht in der Nacht oftmals mehr als 45 Minuten, um spontan loszufahren, in der Station den Schlüssel zu holen und zum Kunden zu fahren, um die Tür zu öffnen. Bei einem akuten Notfall wäre der Patient bis dahin verstorben! Auch gibt es im Regelfall keine Einsätze für spontan zu erbringende Behandlungspflegen, da diese einen ärztlichen Auftrag voraussetzen! Die Pflegedienste sollten auch gegenüber den Kunden klarstellen, in welchen Fällen sie überhaupt spontan nur kommen könnten: Es bleibt nur eine spontane Hilfe bei Ausscheidungen übrig! Und da dies ein nicht vereinbarter Spontaneinsatz ist, sollten die Kosten für diesen Rufbereitschaftseinsatz entsprechend hoch liegen (da in der Regel der Mitarbeiter:in hier die entsprechende Arbeitszeit mit Zuschlägen bezahlt bekommt). Aus dem abgegrenzten Leistungsspektrum ergibt sich, dass die Rufbereitschaft auch durch Pflegekräfte (die sonst Grundpflegeleistungen erbringen) übernommen werden könnten, was die Pflegefachkräfte entlasten könnte. Je mehr Mitarbeiter:innen die Rufbereitschaft übernehmen, umso weniger Einsätze pro Person. Und auch die Pflegekräfte wie die Pflegefachkräfte sind regelmäßig in Notfallmaßnahmen geschult und könnten so die spontane erste Hilfe bis zum Eintreffen des Rettungsdienstes leisten.
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TIPPS ZUR UMSETZUNG Im Pflegevertrag müssen keine weiteren Leistungen ‚bei Bedarf‘ aufgeführt werden, weil im Regelfall schon vertraglich definiert ist, dass die Leistungen jederzeit auch erweitert werden könnten. Weil die Pflegebedürftigen dem Pflegedienst oft mehr vertrauen als anderen und der Pflegedienst erreichbar ist, werden oftmals Einsätze durchgeführt, für die die Pflege formal weder qualifiziert noch zuständig ist. Aber die Einsätze belasten die Mitarbeitenden und führen zu weiteren Problemen wie der Tourenplanung unter Beachtung des Arbeitszeitgesetzes etc. Die sachgerechte Beschränkung der Einsätze sowie ein entsprechend hoher Preis für Rufbereitschaftseinsätze reduzieren diese erfahrungsgemäß erheblich. Und insbesondere mit den Hausnotrufzentralen sollte geklärt werden, wann die Rufbereitschaft des Pflegedienstes nicht zuständig ist!
6.6 Digitales Übergabebuch nutzen! Nicht jeder Schritt unter dem Stichwort ‚Digitalisierung‘ führt zwangsläufig zu Verbesserungen. So wird sich eine digital erstellte Pflegeplanung von einer handschriftlichen erst einmal nicht wirklich unterscheiden und der Zeitaufwand zum Schreiben dürfte mindestens gleich hoch sein. Im normalen Ablauf gibt es neben den Pflegeberichten in der vor Ort liegenden Pflegedokumentation weiterhin ein Übergabebuch, das analog im Büro des Pflegedienstes liegt und für Informationen notwendig ist, die man vor Beginn der Tour benötigt, oder das grundlegende Informationen für alle Mitarbeitenden enthält. Hier ist die digitale Version, die inzwischen immer mehr Einsatzplanungsprogramme enthalten, ein wesentlicher Fortschritt. Denn anders als in der analogen Version gibt es hier schon mal keinen ‚Stau‘ beim Eintragen und/oder Lesen der Einträge, weil diese nun mit jedem Smartphone erstellt und gelesen werden können. Die Einträge dürften im Regelfall sortierbar und durchsuchbar sein, was den Zeitaufwand wesentlich begrenzen kann (man liest nur die Informationen für die eigene Tour, die Sortierung hat der Computer übernommen). Auch die Leitungskräfte können sich so jederzeit informieren. Aber unabhängig von der Technik bleibt wie immer das alte Problem zu klären, was und wie ausführlich was an welchem Ort dokumentiert wird. Wie in den Papierversionen werden sich weiterhin Doppeldokumentationen (gleicher Text auch im Pflegebericht) oder Lücken wiederfinden, die Technik verändert nicht automatisch das Verhalten einzelner Mitarbeitenden.
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6.7 Verwaltungsabläufe überprüfen Die Digitalisierung hat zwar viele Abläufe verändert und verbessert, aber trotzdem sollte man immer noch einmal kritisch überprüfen, ob das, was man macht, in dieser Form auch notwendig ist. So müssten beispielsweise die noch analogen Leistungsnachweise zwar notwendigerweise kopiert werden, aber die Ablage kann dann stapelweise, nach Monaten gebündelt und nicht alphabethisch in den einzelnen Kundenakten, erfolgen. Die Kopien sind notwendig, um im Einzelfall Ersatz zu haben, wenn mal wieder etwas bei den Kostenträgern verschwunden ist. Statt Kopien könnte natürlich auch ein Scan in ein digitales Archiv erfolgen, dann spart man den Papierweg. Auch müssen natürlich keine Rechnungen in Kopie ausgedruckt und archiviert werden, diese sind im digitalen System jederzeit zu finden. Der Weg muss nicht zwangsläufig in ein komplett papierloses Büro gehen, aber jede Reduzierung spart dauerhaft Zeit.
Nur notwendige Kostenvoranschläge neu erstellen Aufgrund der inhaltlich völlig unglücklich formulierten Prüffrage 16.1 (QualitätsprüfungsRichtlinien vom 18.12.2019, Anlage 2, Prüfanleitung) erfolgt oftmals ein übertrieben hoher Verwaltungsaufwand in der ständigen Aktualisierung von Kostenvoranschlägen (oder in der vorsorglichen Vereinbarung von Spontanleistungen, siehe Kap. 6.5): die Prüffrage: „Liegt für den geprüften Abrechnungszeitraum ein gültiger Pflegevertrag vor“ ist zunächst einmal wie erkennbar nur eine Infofrage („M/Info“) und keine Bewertungsfrage (Abkürzung „M/B“)! Gemeint ist hier weniger der Pflegevertragsmantel, sondern der in der Regel als Anlage zum Pflegevertrag konzipierte Kostenvoranschlag. Wenn dieser von den aktuell erbrachten bzw. abgerechneten Leistungen abweicht, ist die Frage mit ‚Nein‘ zu beantworten. Man kann hier einmal fragen, welche Konsequenzen denn ein ‚Nein‘ in einer Informationsfrage hat? Unabhängig davon ist ambulante Pflege in der Praxis so von den täglichen Besonderheiten abhängig, dass ein für einen zukünftigen Monat geplanter Kostenvoranschlag meist nicht mit den erbrachten Leistungen übereinstimmt. Das ist auch ein Kennzeichen von ambulanter Pflege, dass sie bedarfsorientiert auf die täglich besonderen Umstände reagiert. Die Frage ist eher, wann ein Kostenvoranschlag angepasst werden muss? In der Regel dürfte eine dauerhafte Abweichung von 10 % innerhalb der normalen Bandbreite liegen und keine Veränderung auslösen. Nur in Bayern (soweit bekannt) gibt es definierte Vorgaben in der Vergütungsvereinbarung: Hier müssen die Pflegeverträge geändert werden, wenn die Abweichung mehr als 15 % beträgt und diese dauerhaft mehr als 2 Monate geplant ist. Um einerseits die Transparenz gegenüber dem Pflegekunden zu bewahren und andererseits die Erstellung ständig neuer Kostenvoranschläge (einschließlich des Einholens der neuen Unterschrift etc.) zu reduzieren, könnte für einzelne Änderungen beispielsweise das Kostenübernah-
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meformular genutzt werden. Es hat gegenüber dem Eintrag im Pflegebericht den Vorteil, dass es sich einfacher und schneller als Anlage zur (evtl. notwendigen) Privatrechnung verwenden lässt und gleichzeitig als Anlage zum Kostenvoranschlag diesen aktualisiert (Abbildung 6.2; dieses Formular gehörte zu meiner Formularsammlung Häusliche Pflege, dass 1996 damals noch mit einer Diskette beim Vincentzverlag veröffentlicht wurde)!
Musterpflegedienst Musterstadt
Kostenübernahmeerklärung Herr/Frau Müller beauftragt die oben genannte Pflegeeinrichtung
x
folgende Leistungen zu erbringen: zusätzlich zum bisher geschlossenen Pflegevertrag folgende Leistungen zu erbringen:
Anzahl
x
Leistung
Preis
1 Kleine Toilette
9,95 €
© SysPra 1995/2018
Die oben genannten Leistungen sollen nur heute erbracht werden. Die oben genannten Leistungen sollen im Zeitraum vom __________ bis __________ erbracht werden. Die oben genannten Leistungen sollen dauerhaft erbracht werden.
Alle Kosten, die nicht von anderen Kostenträgern wie Pflegeoder Krankenkassen übernommen werden, zahle ich selbst. Datum:
14.06.2023
Cl. Pflege Unterschrift Pflegekraft
Müller Unterschrift Kunde
Abbildung 6.2: Formular Kostenübernahmeerklärung
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Das Formular wird dann direkt beim Kunden von anwesenden Pflegemitarbeitenden ausgefüllt und ergänzt den bisherigen Kostenvoranschlag. Wenn man auf die freie Rückseite die Kurzpreisliste mit den Sachleistungen kopiert, hat der/die Mitarbeiter:in auch gleich die richtigen Preise dabei.
Zahlungsfristen gelten auch für die Krankenkassen! In den Verträgen nach § 132a SGB V, aber auch den Rahmenverträgen nach § 75 auf Landesebene, sind jeweils verbindliche Zahlungsfristen für die Kostenträger vertraglich vereinbart. Je nach Vertrag oder/und Bundesland sind dies meist 21 Tage, teilweise auch nur 14 Tage. Wenn nach diesem Zeitablauf die Rechnungsbeträge nicht eingegangen sind, dann muss das nicht nur in der Finanzbuchhaltung bemerkt werden, sondern es müssen dann auch die nächsten Schritte eingeleitet werden: von der netten Zahlungserinnerung über die kostenpflichtige Mahnung bis zum Mahnverfahren. Während es im Bereich der Pflegeversicherung kaum zu verzögerten Abrechnungen kommt, sieht dies im Bereich der Krankenversicherung zum Teil ganz anders aus. Zunächst sei noch einmal daran erinnert, dass nicht das ausführende Rechenzentrum der Vertragspartner ist, sondern die zuständige Krankenkasse (siehe auch Kap. 5.3). Adressat der Zahlungserinnerung und der Mahnungen ist deshalb immer die Krankenkasse. Auch deren Hinweis, für die Zahlungen sei das Rechenzentrum zuständig, ist daher irreführend und falsch, weil die Krankenkasse die entsprechenden Leistungsaufträge gibt. § 288 BGB regelt den Ablauf und die Zinssätze, die bei den Krankenkassen gelten (weil sie keine Verbraucher sind). Auch ist eine pauschale Bearbeitungsgebühr von 40 € für die Mahnung zusätzlich in Rechnung zu stellen. Im Zweifelsfall sollte man diese Verfahren dann einem Anwalt überlassen, auch um gegenüber der Krankenkasse sachgerecht auftreten zu können.
Abrechnung ‚ohne‘ Bewilligung Da alle Leistungen der Behandlungspflege dem Grunde nach bewilligt sind, wenn die Verordnung fristgerecht eingereicht wurde und es sich nicht um Leistungen handelt, die nicht verordnungsfähig waren, kann und muss auch ohne individuelles Abrechnungskennzeichen (das mit der bearbeiteten Verordnung übersandt wird) abgerechnet werden. Dafür wurde in der Bundesrahmenempfehlung § 8 Abs. 6 ein vorläufiges Abrechnungskennzeichen geschaffen, das je nach Softwarelösung unterschiedlich sein kann (Nachfrage bei der Herstellerfirma). Dann können auch Leistungen abgerechnet werden, für die noch keine individuelle Bewilligung vorhanden ist (eine andere Frage ist, ob ein Abwarten zu einem längeren Bewilligungszeitraum führt als eine Abrechnung, die vermutlich eine schnellere Bearbeitung auslöst).
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BEISPIEL Die Verordnung über dreimal täglicher Medikamentengabe vom 2. Januar für das gesamte Jahr wird von der Krankenkasse bisher nicht bearbeitet. Mit dem nächsten Abrechnungslauf in der ersten Februarwoche wird die Leistung für den Monat Januar abgerechnet. Das Rechenzentrum schickt die Rechnung zurück mit dem Hinweis, die Leistung wurde so nicht bewilligt. Der Pflegedienst schickt nach 21 Tagen eine Mahnung an die Krankenkasse, weil sie die vertraglich vereinbarte Leistung nicht bezahlt hat, einschließlich einer Pauschale von 40 € und Mahnzinsen in Höhe von 9 % über Basiszinssatz. Laut der vertraglichen Vereinbarungen sowie der gesetzlichen Regelungen muss die Krankenkasse auch die Zinsen und die Pauschale bezahlen. Nur zur Erinnerung: Bleibt einmal der Pflegedienst Sozialversicherungsbeiträge der Krankenkasse oder anderen Sozialleistungsträgern schuldig, so werden ab dem ersten Tag der Verspätung sofort Säumniszuschläge fällig, die dann auch automatisch gefordert werden!
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7 Weiterführende Links und Literatur zu bestimmten Themen – Die aktuellen Gesetzestexte auf Bundesebene findet man im Portal: www.gesetze-im-internet.de. – Die Rahmenverträge zur Pflegeversicherung auf Bundesebene findet man beim GKV-Spitzenverband im Bereich Pflegeversicherung, ebenso die Rundschreiben zum Leistungsrecht: www.gkv-spitzenverband.de/pflegeversicherung/pflegeversicherung.jsp. – Die Rahmenverträge SGB XI pro Bundesland findet man im Regelfall im AOK-Portal für Gesundheitspartner unter dem Bereich des eigenen Bundeslandes und dann ambulante Pflege (www.aok.de/gp/) oder auch über die Seite des vdek Bundesverbandes, Landesvertretungen, Themen: Pflege (www.vdek.com). – Die Richtlinie Häusliche Krankenpflege in der aktuellen Fassung findet man beim Gemeinsamen Bundesausschuss: www.g-ba.de unter Richtlinien, die Bundesrahmenempfehlung § 132a SGB V auf der Seite des GKV-Spitzenverbandes im Bereich Krankenversicherung, Ambulante Leistungen (www.gkv-spitzenverband.de/krankenversicherung/krankenversicherung.jsp). – Das Grundlagenbuch zur Kostenrechnung und Kalkulation einschließlich der rechtlichen Grundlagen zur Führung von Vergütungsverhandlungen: „Kostenrechnung und Vergütungsverhandlungen, Stundensätze richtig kalkulieren“ von Andreas Heiber, Vincentz network, Juli 2020. – Im „Handbuch Ambulante Einsatzplanung“ von Andreas Heiber/Gerd Nett finden sich alle Grundlagen für die Einsatzplanung in der ambulanten Pflege. – Die Sozialhilfe wird ausführlich und praxisnah erläutert im Buch: „Hilfe zur Pflege nach dem SGB XII, Leistungen der Sozialhilfe bei Pflegebedarf“ von Utz Krahmer und Helmut Schellhorn (Hrsg.), Vincentz Network 2022. – In 61 Beispielfällen erläutert Ronald Richter praxisnah die Fallstricke und Willkürlichkeiten rund um die Häusliche Krankenpflege und ihre Bewilligung: „Behandlungspflege 2020/2021: Kommentar und 61 Praxisfälle zu § 37 SGB V und en Richtlinien zur Verordnung Häuslicher Krankenpflege“, Vincentz Network 2020.
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Autor
Autor Andreas Heiber wurde 1963 in Bielefeld geboren, wo er auch aufwuchs und später einige Jahre Geschichte an der Universität Bielefeld studierte. Nach langjähriger ehren- und hauptamtlicher Tätigkeit beim Verband Deutscher Schullandheime e.V. in Flensburg war er mehrere Jahre angestellt im Softwarevertrieb für den sozialen Bereich, bevor er 1993 die Unternehmensberatung System & Praxis Andreas Heiber mit heutigem Sitz in Bielefeld gegründet hat. Fachbuchautor u. a. Ambulante Einsatzplanung, Kostenrechnung und Preiskalkulation, Beratungshandbuch SGB XI, Studienbriefe für die Hamburger Fern-Hochschule (Bereich ambulant), Stern-Ratgeber Pflegeversicherung, Bücher zu aktuellen Pflegereformen wie PNG, PSG 1, 2 und 3, sowie eine Vergleichsstudie der Leistungskataloge der Pflegeversicherung sowie ihrer Vergütung(2018). Er war Mitglied im Expertenbeirat der Studie zum Unternehmerischen Wagnis in der ambulanten Pflege, die 2019 veröffentlicht wurde. Seit 1998 regelmäßiger Autor der Fachzeitschrift Häusliche Pflege , vor allem mit den Kolumnen in PDL Praxis sowie „Hier spricht Heiber“. Referent für viele Verbände und Kongresse (u. a. Altenpflege, Häusliche Pflege Managertag, Vincentz Akademie, Sozialgerichtstag, DATEV, Bank für Sozialwirtschaft, Landesvereinigung für Gesundheit und Akademie für Sozialmedizin Niedersachsen e. v.). Unternehmensberatung für ambulante Pflegedienste mit den Schwerpunkten Organisation, Kostenrechnung und Vergütungsverhandlung für einzelne Einrichtungen, Träger und Verbände, Entwicklung von Strategien zur Quartiersversorgung, Ambulante Wohngemeinschaften sowie Umsetzung der gesetzlichen Veränderungen. Sein Kollege Gerd Nett (Arzt, Unternehmensberater) aus Wershofen ist seit 2002 mit in der Unternehmensberatung System & Praxis tätig. Gerd Nett betreut insbesondere die Schwerpunkte Qualitätsprüfungen, SIS und Einstufungen.
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...weitere Titel des Autors Andreas Heiber
Unser Tipp
Kostenrechnung und Vergütungsverhandlungen Stundensätze richtig kalkulieren Andreas Heiber Wenn Vergütungsverhandlungen anstehen, ist es wichtig, Kosten und Erträge mit einer professionellen Kostenrechnung im Griff zu haben. Unternehmensberater Andreas Heiber führt in die Kostenrechnung ein und stellt eine Vergütungsprognose vor. 2020, 2., überarb. Auflage, 212 Seiten, kart., Format 17 x 24 cm ISBN 978-3-7486-0306-1, Best.-Nr. 21366
Leistungskataloge und Vergütungen SGB XI 2018 Ein bundesweiter Vergleich – Studie Andreas Heiber Sie treten für leistungsgerechte ambulante Vergütungen ein? Dann informieren Sie sich in dieser Studie über die von Bundesland zu Bundesland unterschiedlichen Vergütungsstrukturen. Andreas Heiber analysiert und zeigt die wachsende Ungleichheit auf. 2019, 198 Seiten, kart, Format 17 x 24 cm ISBN 978-3-86630-739-1, Best.-Nr. 20739
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