Smartphone-Ästhetik: Zur Philosophie und Gestaltung mobiler Medien 9783839435298

Mobile phone, PC, AV player, radio, web browser - a diverse range of media content and platforms converge in the smartph

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German Pages 312 Year 2018

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Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
Vorwort Ästhetische Mobilität oder: Smartphone-Kultur
Smartphone-Theorie Eine medienästhetische Perspektive
Feige Ästhetisches Funktionieren Prolegomena zur einer Ästhetik des Smartphones
Zeitlichkeit aktualisiert Trost der Philosophie auf dem Smartphone
Nicht mehr Zahlen und Figuren Oder: Die ozeanische Verbundenheit mit dem Smartphone
Anästhetische Ästhetiken Über Smartphone-Bilder und ihre Ökologie
Interfacing als Prozess der Teilhabe Zur Ästhetik von Smartphone-Gemeinschaften am Beispiel von Snapchat
Anthropophilie Das neue Gewand der Medien
Das Erscheinen, die Ware und die Explosion
Es gibt keine Software. Noch immer nicht oder nicht mehr
»I can’t remember ever being so in love with a color.« Smartphones und die Rhetorik des Intimate Computing
Rooting, Custom-ROMs und Jailbreaks Eine ästhetische Rückeroberung der Macht
Beweglich werden Wie das Smartphone die Bilder zum Laufen bringt
Zehn Elemente einer Medientheorie mobiler Adressierung
Der smarte Assistent
Narrationen des Selbst Das Smartphone und die neue Ökonomie der Aufmerksamkeit
Beiträgerinnen und Beiträger
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Smartphone-Ästhetik: Zur Philosophie und Gestaltung mobiler Medien
 9783839435298

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Oliver Ruf (Hg.)

SMARTPHONE-ÄSTHETIK Zur Philosophie und Gestaltung mobiler Medien

(Prof. Dr. phil.) ist Professor für Medien- und Designwissenschaft mit den Schwerpunkten Medienästhetik, Designtheorie und Gestaltungskultur an der Hochschule Furtwangen. Er forscht und lehrt zu Theorie, Geschichte und Praxis der Medien und Gestaltungen, Ästhetik, Kulturtechniken sowie Narratologie und Storytelling. Er ist Herausgeber der Schriftenreihe »Medien- und Gestaltungsästhetik«.

OLIVER RUF

Oliver Ruf (Hg.)

SMART PHONE ÄSTHETIK Zur Philosophie und Gestaltung mobiler Medien

Medien- und Gestaltungsästhetik 1 Hrsg. v. Prof. Dr. Oliver Ruf

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar © 2018 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigung, Übersetzung, Mikroverfilmung und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Natalie Herrmann, Theresa Annika Kiefer, Lena Sauerborn, Elisa Siedler, Meyrem Yücel Designkonzeption: Andreas Sieß Gestaltung und Satz: Kiron Patka Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN Print: 978-3-8376-3529-4 ISBN PDF: 978-3-8394-3529-8 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhaltsverzeichnis

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Vorwort Ästhetische Mobilität oder: Smartphone-Kultur

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Oliver Ruf

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Daniel Martin Feige

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Nils Röller

63

Martin Warnke

75

Wolfgang Hagen

Smartphone-Theorie Eine medienästhetische Perspektive

Ästhetisches Funktionieren Prolegomena zur einer Ästhetik des Smartphones

Zeitlichkeit aktualisiert Trost der Philosophie auf dem Smartphone

Nicht mehr Zahlen und Figuren Oder: Die ozeanische Verbundenheit mit dem Smartphone

Anästhetische Ästhetiken Über Smartphone-Bilder und ihre Ökologie

105

Isabell Otto

123

Stefan Rieger

Interfacing als Prozess der Teilhabe Zur Ästhetik von Smartphone-Gemeinschaften am Beispiel von Snapchat

Anthropophilie Das neue Gewand der Medien

143

Jens Schröter

159

Till A. Heilmann

179

Timo Kaerlein

Das Erscheinen, die Ware und die Explosion

Es gibt keine Software. Noch immer nicht oder nicht mehr

»I can’t remember ever being so in love with a color.« Smartphones und die Rhetorik des Intimate Computing

205

Christopher Quadt

227

Lisa Gotto

243

Florian Sprenger

269

Matthias Wölfel

289

Michael Holzwarth

305

Rooting, Custom-ROMs und Jailbreaks Eine ästhetische Rückeroberung der Macht

Beweglich werden Wie das Smartphone die Bilder zum Laufen bringt

Zehn Elemente einer Medientheorie mobiler Adressierung

Der smarte Assistent

Narrationen des Selbst Das Smartphone und die neue Ökonomie der Aufmerksamkeit

Beiträgerinnen und Beiträger

Vorwort Ästhetische Mobilität oder: Smartphone-Kultur

In den medienarchäologischen Aussagen Friedrich Kittlers findet sich eine Passage, die unsere – andauernde – Epoche treffend beschreibt: »Im Medienzeitalter«, schreibt Kittler, sind weit hinter den Werkstätten und Künstlerseelen lauter neue Geheimnisse entstanden. [...] Vor jeder Ausdeutung der Endabnehmer, aber auch vor jedem Kunstwillen der Regisseure oder Programmgestalter stehen technische Standards und elektronische Grundschaltungen, die unsere sogenannte Medienästhetik strenger vorprogrammieren als jeder historische oder individuelle Stil.1

Was sich hinter dem Postulat Kittlers verbirgt, ist die nahe liegende wie nachvollziehbare Überzeugung, dass eine mediale geprägte Gesellschaft, wie sie in den meisten der heutigen Zivilisationen besteht, unabdingbare Voraussetzungen aufweist, die technologischer Natur sind. Vereinfacht gesagt: Nur wenn die Technik funktioniert, gibt es überhaupt technische Medien bzw. genauer: Nur eine technologische Basis garantiert eine verbreitete, dominante und letztendlich erfolgreiche Mediennutzung, die auf bestimmte Leitmedien verweist, d. h. auf solche Erscheinungen, denen eine ausgeprägte »Hauptfunktion in der Konstitution gesellschaftlicher Kommunikation und von Öffentlich-

Friedrich Kittler: »Anmerkungen zum Volksempfang«. Auf: http://www.kunstradio.at/ SILENCE/CONTENT/kittler_d.html, zul. abgeruf. am 05. Februar 2018.

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keit zukommt«2. Dabei hat sich die Ausprägung dominanzmedialer Strukturen zunächst erstaunlich langsam, andererseits dagegen rasch und ›revolutionär‹ entwickelt: Nach Film und Hörfunk – als eine der ersten technischen Leitmedien – stand lange Zeit das Fernsehen und schließlich, immer drängender, der Computer einschließlich des Internets und Multimedia-Formationen im Zentrum einer solchen – hier nur kurz anzudeutenden – mediengeschichtlichen Tendenz.3 Diese läuft aktuell auf eine Verschränkung oder Annäherung der jeweiligen Einzelmedien hinaus, deren Grundlange wiederum dasjenige darstellt, was Kittlers oben zitierte Position privilegiert: die technische Konvergenz, die naturgemäß eine eingehende inter- respektive transdisziplinäre Beforschung verlangt.4 So konvergieren, wie es der vorliegende Band darstellen will, vor allem in der Medienobjektivation des Smartphones einzelne Medieninhalte und Medienphänomene wie Telefon, Mobiltelefon, PC, AV-Player, Radio, Webbrowser etc., während medientechnologische Produktionsformen wie ingenieurwissenschaftliche Konstruktionen innerhalb der Kamera-/Video- und Audio-Technik oder medieninformationswissenschaftliche Programmierung deren zwangsläufige Basis bilden. Hinzu kommen gestalterische Implikationen, die im Umgang mit der buchstäblich vorgeschalteten, ›unsichtbaren‹ Technik deren Optik hervorbringen: das User Interface Design ebenso wie Filmkonzeptionen, 2D/3D-Animationen oder interaktive Applikationen. Allerdings ist es ein auffallender Befund, dass vor allem die Ästhetik des Smartphones (hier verstanden als dessen mediale und denn auch gesellschaftlich virulente Wahrnehmungsmöglichkeiten) bislang nicht vor diesem Hinter-

Udo Göttlich: »Massenmedium«. In: Helmut Schanze (Hg.): Metzler Lexikon Medientheorie Medienwissenschaft. Ansätze – Personen – Grundbegriffe. Stuttgart u. Weimar: J.B. Metzler, 2002, S. 193–195, hier S. 193f. 3 Dazu ist u. a. einführend Jochen Hörisch: Eine Geschichte der Medien. Vom Urknall zum Internet. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2004; Werner Faulstich: Mediengeschichte von den Anfängen bis ins 3. Jahrtausend. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2006; Jürgen Wilke: Grundzüge der Medien- und Kommunikationsgeschichte. Köln u. Weimar : Böhlau, 2008; Frank Bösch: Mediengeschichte. Vom asiatischen Buchdruck zum Fernsehen. Frankfurt a. M.: Campus, 2011; Andreas Böhn u. Andreas Seidler: Mediengeschichte. Eine Einführung. 2. durchges. u. korr. Aufl. Tübingen: Narr, 2014. 4 Siehe dazu Stephan Füssel (Hg.): Medienkonvergenz – Transdisziplinär. Berlin: De Gruyter, 2012. 2

VORWORT

grund untersucht worden ist, obwohl mit diesem Medium gerade auch neue ästhetische Formen als Medientranspositionen entstanden sind.5 11

Einerseits nimmt sich denn auch der vorliegende Band diesem Thema erstmalig an und schlägt dazu den Rückgriff auf Erklärungsmodelle vor, die einerseits Resultate der kulturwissenschaftlichen Wende darstellen,6 die aber auf der anderen Seite derzeit überhaupt erst eine disziplinäre Etablierung erfahren: Vor allem der Bezug auf Positionen der Philosophie, der Designtheorie und der Medienkulturwissenschaft kann, so der Ausgangspunkt, das Smartphone als bemerkenswertes Transmedium, d. h. als Ort nicht allein der Zusammenkunft, sondern der regelrechten ›Verschweißung‹ oder ›Verschwisterung‹ dominanter Einzelmedien erklären. Der Band hat sich denn auch zum Ziel gesetzt, die, erneut mit Kittler formuliert, (technologischen) »Ausgangsvariablen« wie die (praktischen) »Eingangsvariablen« des Smartphones mit medienästhetischen Einsichten zu konfrontieren, um das digitale Mediensystem als tatsächliches »Schaltwerk« zu diskutieren.7 Mit Blick auf die aktuell gesamtgesellschaftlich und medienkritisch (oder: medienethisch) vehement zu diskutierenden Erscheinungen will der Band damit schließlich auch neuralgische Punkte des derzeitigen Medienzeitalters an einem Knotenpunkt von Theorie und Praxis, wie ihn das Smartphone bedeutet, identifizieren. Versammelt sind mithin Beiträge in der ganzen Breite des skizzierten Themas in seinen objektbezogenen (Medien-, Technik-, Designgeschichte) wie in seinen theoretischen und gestalterischen Ausprägungen (Ästhetik, Philosophie, Medien-, Technik- und Designtheorie), um nicht zuletzt einer Smartphone-Kultur in ihrer je differenten Entfaltung eine epistemologische Kontur zu verleihen. Andererseits startet mit dem vorliegenden Band die Schriftenreihe Medien- und Gestaltungsästhetik im transcript Verlag Bielefeld, die davon ausgeht, dass mediale Produktionen und gestalterische Diskurse ein vehement zu beforschendes ästhetisches Dispositiv bilden: Medien nehmen nicht nur wahr, sondern werden selbst wahrgenommen und wahrnehmbar(er) – insbesondere durch die Grundkonstellationen ihrer oft technischen Artefakte und der diesen

Vgl. Volker C. Dörr u. Rolf J. Goebel (Hg.): Literatur in der Medienkonkurrenz. Medientranspositionen 1800 1900 2000. Bielefeld: Aisthesis, 2018. 6 Siehe dazu einmal mehr Doris Bachmann-Medick: Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften. 6. Aufl. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 2018. 7 Kittler: »Anmerkungen zum Volksempfang« (wie Anm. 1), o. S. 5

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voran gehenden Entwürfe, auch vor der Folie des dabei entstehenden Designs. Die Reihe versammelt dazu sowohl theoretische Arbeiten als auch historische Rekapitulationen und prognostizierende Essays, deren übergeordneter Blick den ästhetischen Einschreibungen medialer sowie gestalterischer Phänomene in ihrer gesamten beweglichen und voran schreitenden Vielfalt gilt: in ihrer ästhetischen Mobilität.

Furtwangen im Schwarzwald, im Winter 2017/18 Oliver Ruf

Oliver Ruf

Smartphone-Theorie Eine medienästhetische Perspektive »Der Produktionsbegriff [...] zielt über die materielle Herstellung von Objekten hinaus auf das Werden und Gewordensein des Wirklichen selbst sowie der symbolischen und technischen Mittel seiner Reproduktion und Repräsentation.« Sebastian Egenhofer, Produktionsästhetik

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Glas – Gestaltung – Ästhetik

Eine Ausgangsbeobachtung lautet: Die Frage nach dem Gehalt und der Funktion von Glas ist oftmals eine chemische Frage und zugleich ein Problem der Erscheinung, des Aussehens: germ. glasa heißt ›das Gläserne, Schimmernde‹;1 das Wort ist aber auch – weiter gefasst – eine Bezeichnung für amorphe Feststoffe, die insbesondere aus einer Silizium-Verbindung bestehen.2 U. a. hat Friedrich A. Kittler bereits 1992 in einem Vortrag in Graz herausgestellt, welche Architekturen der Medientechnologien deren Zukunft auf einer Siliziumbasis erfordern, einer Basis, die hier auf jenem materiellen Stoff beruht, aus dem Computerchips hergestellt sind: die »Chip-Architektur« bilde, »von einigen brandneuen Labormustern abgesehen, alle virtuellen Dimensionen weiterhin, wie schon seit 1968, auf ein zweidimensionales Agglomerat von Transistorzellen ab«3. Vor diesem Hintergrund wird die Rolle von Glas in einem digitalen Technikkontext virulent. Mit dem Aufkommen, der enormen

Vgl. Friedrich Kluge: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. Bearb. v. Elmar Seebold. 24., durchges. u. erw. Aufl. Berlin u. New York: de Gruyter, 2001, S. 359. 2 Vgl. Werner Vogel: Glaschemie. 3. Aufl. Heidelberg: Springer, 1992, S. 141–150. 3 Friedrich Kittler: »Die Zukunft auf Siliziumbasis«. In: Ders.: Short-Cuts. Frankfurt a. M.: Zweitausendeins, 2002, S. 177–197, hier S. 186. 1

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Verbreitung und dem erstaunlichen (auch kommerziellen) Erfolg von TouchScreens, auf deren Gebrauch und Einsatz, so der hier eingenommene Standpunkt, insbesondere Smartphones beruhen, wird dieser Diskurs allerdings, so ein weiterer Ausgangspunkt, neu verhandelbar. Im Mittelpunkt des Frageinteresses steht hier nicht nur die materialästhetische Beschaffenheit des Inneren derartiger Medien. Vielmehr geht es an dieser Stelle außerdem um das Wesen ihrer gläsernen Begrenzung – eine Begrenzung der Oberfläche,4 die qua ihres Gehalts als Glas durchlässig ist, die also oszilliert und die neue Kulturtechniken wie diejenige des Wischens und der Gestensteuerung per Hand gleichsam gebärt.5 Dadurch kann im Übrigen noch einmal an Lyotards Rede der Immaterialien erinnert werden: Warum »Immaterialien«? Forschung und Entwicklung in Technowissenschaft, Kunst und Technik, ja selbst die Politik erwecken heute den Eindruck, daß die Wirklichkeit, was auch immer sie sei, ständig ungreifbarer wird, daß sie unmittelbar niemals beherrscht werden kann – sie erwecken den Eindruck einer Komplexität der Dinge. [...] Es ist, als hätte man zwischen uns und den Dingen einen Filter gesetzt, einen Schirm von Zahlen. [...] Die gute alte Materie selbst erreicht uns am Ende als etwas, das in komplizierte Formeln aufgelöst und wieder zusammen gesetzt worden ist.6

Dieser Kontext erscheint mithin als ein vehement ästhetisch zu erforschendes Dispositiv, das eine Theorie des Smartphones wenigstens leitet. Mithin gefragt werden kann, welcher explizit medienästhetischer Rahmen diesen Untersuchungsgegenstand umgibt und wie dieser begrifflich kurz geschlossen werden kann. Eine Smartphone-Theorie führt hin zur Anwendung dieser Begriffe sowie zu mit ihnen verbundenen Medienobjektivationen und gearbeitet werden kann dazu an einer Reflexion des Smartphones, die neue, digitale materielle Kulturen einerseits berücksichtigt und anderseits zunächst als Instanz überhaupt akzeptiert. Die so zu demonstrierende Sicht einer solchen gestaltungsorientierten Theorie neuer, digitaler Medien fußt zum einen entspre-

Siehe dazu etwa Christina Lechtermann u. Stefan Rieger (Hg.): Das Wissen der Oberfläche. Epistemologie des Horizontalen und Strategien der Benachbarung. Zürich u. Berlin: diaphanes, 2015. 5 Siehe dazu näher Verf.: Wischen und Schreiben. Von Mediengesten zum digitalen Text. Berlin: Kadmos, 2014; ders.: Die Hand. Eine Medienästhetik. Wien: Passagen, 2014. 6 Jean-François Lyotard: »Immaterialien. Presse-Mitteilung vom 8. Januar 1985«. In: ders. et al. (Hg.): Immaterialität und Postmoderne. Berlin: Merve 1985, S. 7–18, hier S. 10f. 4

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chend auf einer industriell forcierten, medialen Materialorientierung,7 wie sie der Einstieg über das Silizium/Glas-Dispositiv perspektiviert. Diskutiert werden können mit ihrer Hilfe zum anderen – wie es nicht zuletzt auch der vorliegende Band aus einer Vielzahl an Zugängen versucht – medienästhetische Einsichten, die auch für die Medienpraxis eine nicht unerhebliche Rolle einnehmen. Im Folgenden sollen entsprechende Grundlagen und Einsichten Erkenntnis leitend konturiert und in den oben angedeuteten Kontext eingerückt werden. Ausgehend von einem post-modernen Verständnis bietet es sich also als Erstes an, die Felder von Theorie und Ästhetik als zwei zentrale Betrachtungskategorien insbesondere in einem medientechnischen oder -technologischen Sinn auszulegen. Daraus sich ergebende und formulierte Medientheorien und Medienästhetiken lassen sich mit dem Wissen um diese technische/ technologische Bedingtheit der Medien näher umreißen. Wesen und Kern des Smartphones erhellen sich also theoretisch im Licht entsprechender ästhetischer Bedingungen; sie laufen, wie unterschiedliche ›Schulen‹ betonen, auf ein bestimmtes Verständnis der Medien hinaus, das die menschliche Wahrnehmung sowie die darauf bezogenen Möglichkeiten und Voraussetzungen von Technologie und Technik notwendig zusammen denkt.

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Technik – Medien – Wahrnehmung

In seiner gleichnamigen Berliner Vorlesung aus dem Jahr 1999 will Friedrich A. Kittler den Titel Optische Medien als Anzeige eines systematischen Problems verstanden wissen, das die Medientechnik und deren Bedeutung zu Unrecht riskant vereinfacht. Zeitgleich stellt er die allgemeinen Prinzipien der Bildspeicherung, Bildübertragung und Bilderberechnung über ihre unterschiedlichen Realisierungen. Wenn sich medientheoretisch über optische Medien geäußert werden soll, dann streben diese Äußerungen für Kittler vielmehr auf eine zentrale Erscheinung zu. Wenn man sich klarmache, dass alle technischen Medien Signale entweder speichern oder übertragen oder verarbeiten und dass der Computer, seit 1936 im Prinzip, seit dem Zweiten Weltkrieg in der Praxis, das einzige Medium sei, das diese drei Funktionen auto-

Siehe dazu Christiane Heibach u. Carsten Rhode (Hg.): Ästhetik der Materialität. München: Fink, 2015.

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matisch koppele, nehme es nicht wunder, dass seine Ausführungen auf das Ziel zuliefen, die optischen Medien in die universale diskrete Maschine namens Computer zu integrieren.8 Ob man Kittlers Meinung teilt oder nicht: Seine Abhandlung demonstriert mindestens, dass der Mensch als sinnlich wahrnehmendes Subjekt und Wesen, vollzieht er seine Wahrnehmung mittels Medien, auf deren technische/ technologische Seite angewiesen ist und dass sie, in einer theoretischen Annäherung an die Medien, beachtet werden muss. Denn, um dies noch einmal zu unterstreichen: Ist von Sinnen und Sinneswahrnehmung die Rede, geht es um Aisthesis und damit genuin um Ästhetik, verstanden also gerade nicht in einem landläufigen Verständnis als die Lehre von der Schönheit und der Kunst, sondern als die theoretisch fundierte Akzentuierung von Wahrnehmbaren und Wahrnehmungsweisen. Für Kittler steht beides untrennbar mit technischen Medien in Beziehung. Seine Medientheorie meint also auch eine Medienästhetik und Theorie meint in diesem Zusammenhang, so bereits Karl Popper, gleichsam das Netz, das ausgeworfen wird, um die Welt einzufangen, indem sie rational betrachtet, erklärt und am Ende beherrscht werden kann.9 Eine Medientheorie im Geiste Kittlers bedeutet dabei auch, dass Medien(technik) und Körper(mensch) in einer Verbindung stehen: »Technik und Körper: Die nackte These, um sie gleich voranzustellen, würde lauten: Man weiß nichts über seine Sinne, bevor nicht Medien Modelle und Metaphern bereitstellen.«10 Medienästhetik kann zwar sehr wohl den Zusammenhang von Medien und Kunst thematisieren und auch ihre theoretische Bezogenheit auf Einzelmedien ist nicht von der Hand zu weisen: »Sie meint aber gerade keine produktionsspezifische, sondern eine medienspezifische Darstellungsästhetik.«11 Allgemein bezieht sich Medienästhetik als eine die Friedrich A. Kittler: Optische Medien. Berliner Vorlesung 1999. 2., durchges. u. um das Vorwort zur russ. Übers. erw. Aufl. Berlin: Merve, 2011, S. 22. 9 Vgl. Karl Popper: Logik der Forschung. 10. Aufl. Tübingen: Mohr Siebeck, 1994, S. 31. 10 Ebd., S. 32. 11 Werner Faulstich: »Medienästhetik«. In: ders.: Grundwissen Medien. 4. Aufl. München: Fink 2000, S. 93–98, hier S. 93. Faulstich nennt hierzu im Übrigen auch die medienästhetisch grundierte ›Lebensinszenierung‹ à la Bazon Brock, die medientechnologische Ästhetik à la Balthasar A. Wyss und die Anthropologie der Medien à la Hans Ulrich Reck. Vgl. Bazon Brock: Ästhetik als Vermittlung. Arbeitsbiographie eines Generalisten. Köln: DuMont, 1977; Balthasar A. Wyss: Zur Phänomenologie medientechnologischer Ästhetik. Der Zusammenhang von Medientechnologien und menschlicher Erfahrung. Bern et al.: Lang, 1995; Hans Ulrich Reck: »›Inszenierte Imagination‹ – Zu Programmatik und Perspektiven einer ›historischen Anthropologie der Medien‹«. In: Wolfgang Müller-Funk u. Hans Ulrich Reck 8

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Wahrnehmung und Kunst hervorhebende Medientheorie entsprechend auf die Möglichkeiten und Grenzen der künstlerischen Gestaltung und Wirkung im Rahmen des jeweiligen Mediums, und sie lässt sich noch weitaus komplexer differenzieren, wenn es etwa heißt: Ich denke, wir sind auf der richtigen Spur, wenn wir von der epochalen Transformation sprechen, mit der die Frage der Ästhetik ins Zentrum einer neuen Bedingung des Denkens und der Politik rückt. Dennoch würde ich nicht unbedingt behaupten wollen, dass diese Transformation einer allgemeinen Ästhetisierung des Seins entspricht. Eine solche Sicht könnte uns in problematischer Weise direkt in den vorherrschenden philosophischen Denkrahmen zurückführen, demzufolge das Ästhetische ein Ausdrucksmodus des Seins ist, eine Veräußerlichung der Substanz. Medien werden hier als Mittel der Einschreibung dieses Ausdrucks verstanden. Von der Schrift bis zu Kino und Sound ermöglichen Medien nach dieser Sicht eine Art Kommunikation oder stellen Medien eine stetige Verbindung her zwischen dem Sein und denjenigen, die des Seins innewerden, es wahrnehmen, kurz: zwischen Sein und Welt. Nach dieser Auffassung entspräche das Zeitalter der Ästhetisierung dem Zeitalter des maschinischen Ausdrucks, wobei Medien heterogene Äußerungsweisen wären, die auch nichtbezeichnende Zeichen und Dinge umfassen (z. B. Codes, Bilder, Sounds, Frequenzen, Glitches, Pixel etc.). [...] Ich denke [...], wir sollten die allgemeine Ästhetisierung [...] nicht verwerfen, sondern uns im Gegenteil viel intensiver und genauer damit beschäftigen. Diese Ästhetisierung ließe sich etwa schlicht und einfach als mediale Bedingung statt als Ausdruck von Sein (und sei es eines maschinellen Seins ...) begreifen. [...] Das heißt, Medien sind keine Attribute von etwas, sondern sie sind selbst etwas, das sich nicht einfach zum Hintergrund eines durch Technologie oder Kapital definierten Seins einschmelzen lässt.12

Gleichwohl genügt an dieser Stelle die allgemeine Rede von einem medienästhetischen und medientheoretischen Impetus, mit dem sich nachvollziehen lässt, wie Medien die Welt in ihrer Form und die Gesellschaft in ihrem Verhalten, in ihrem Denken und ihrem Wissen beeinflusst und determiniert haben.13 Jens Schröter hat die Debatten zur Medienästhetik, ihren Diskurs und ihre Diskussion, zusammengefasst, die im Laufe der 1990er Jahre durch Ini-

(Hg.): Inszenierte Imagination. Beiträge zu einer historischen Anthropologie der Medien. Wien u. New York: Springer, 1996, S. 231–244. 12 Luciana Parisi u. Erich Hörl: »Was heißt Medienästhetik? Ein Gespräch über algorithmische Ästhetik, automatisches Denken und die postkybernetische Logik der Komputation«. In: Zeitschrift für Medienwissenschaft 1 (2013) S. 35–51, hier S. 37f. 13 Vgl. Nele Heinevetter u. Nadine Sanchez: Was mit Medien ... Theorie in 15 Sachgeschichten. Paderborn: Fink, 2008, S. 29.

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tiativen und Positionen wie diejenige von Wolfgang Welsch und Martin Seel neu entfacht worden sind.14 Hervor gehoben werden die Weite des zu Grunde liegenden Ästhetik-Begriffs und aufgezeigt werden kann, wie sehr der Begriff ›Medienästhetik‹ den spezifischen Einsatz des Mediums für die ästhetische Wahrnehmung suggeriere.15 Konsens besteht hier wiederum für die Einsicht, dass Medienästhetik nicht auf Kunst oder Künstlerisches reduziert respektive degradiert werden kann, sondern Medialität als Kategorie der ästhetischen Repräsentation fiktionaler Vermittlung unserer gesamten Kultur begriffen werden müsse. Ästhetik werde nicht mehr jenseits von Massenkultur angesiedelt, sondern finde in der technischen Medienkultur ihre eigentliche Repräsentanz.16

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Veranschaulichung – Effekte – Befunde

Eine medientheoretische wie medienästhetische Untersuchung lässt sich am Beispiel mobiler digitaler Geräte, wie sie vor allem Smartphones darstellen, gut veranschaulichen. Bei diesen ist die Bedeutung der Technik für eine medienwissenschaftliche Handhabung auch offensichtlich. Durch deren neue wie grundsätzliche Eingabemöglichkeit, auf einem sensorisch reagierenden Bildschirm durch Bewegungen der menschlichen Hand Objekte zu animieren, d. h. zu bewegen, anzutippen, zwischen Ansichten hin und her zu wischen usw., rückt die taktile, d. h. berührende und berührungsempfindliche händische Wahrnehmung des Menschen ins Zentrum der Mediennutzung bzw. Medienbenutzung.17 Gleichzeitig kann der Mensch nur deshalb derart wahrnehmend/berührend das Medium Smartphone steuern, weil die sich hinter dem Touch Screen befindliche Technik der Programmierung diese ermöglicht und verlangt. Medienästhetik fragt nach solchen Dimensionen in der Nut14 Vgl. Wolfgang Welsch (Hg.): Die Aktualität des Ästhetischen. München: Fink, 1993; Martin Seel: »Zur ästhetischen Praxis der Kunst«. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 1 (1993), S. 31–43. 15 Vgl. Jens Schröter: »Medienästhetik, Simulation und ›Neue Medien‹«. In: Zeitschrift für Medienwissenschaft 1 (2013), S. 88–100, hier S. 89f. 16 Vgl. Faulstich: »Medienästhetik« (wie Anm. 11), S. 96. 17 Siehe dazu näher Verf.: »Medientaktilität«. In: Gerhard Schweppenhäuser (Hg.): Handbuch Medienphilosophie. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2018, S. 191–199.

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zung/Benutzung von Medientechnik; sie fragt aber auch nach denjenigen der damit sich ergebenden Produktion. Gefragt werden kann dann beispielsweise, ob sich etwa durch das Wischen über Touch Screens auch Kulturtechniken wie jene des Schreibens ändern18 und dann zudem, ob im Zuge dessen sogar etwas völlig auch künstlerisch Neues entsteht – in diesem Fall: ein neues Schreiben als digitales Schreiben und dann auch: womöglich neue digitale Literatur.19 Tiefere Erkenntnis erlangt hier die medienästhetische Untersuchung digitaler Medien mittels ihres medientheoretischen Rahmens, indem das ›wischende Schreiben‹ mit Vilém Flusser Überlegung zur Geste des Schreibens erklärt werden kann. Flusser führt in diesem Text all jene Faktoren aus, die für ihn das Schreiben an-sich aus machen.20 Diese Philosophie und Phänomenologie der Geste kann dann medienwissenschaftlich zu einer Darstellung neuer Mediennutzungsgesten führen.21 Medientheorie und Medienästhetik können und dürfen nicht als Konkurrenz angesehen werden. Beide komplettieren einander und formieren eine wesentliche Seite der Medienwissenschaft, in der sich die entscheidende Reflexion der Medien regelrecht auszuleben oder auch: auszutoben vermag. Beide bilden also die Pole, um über Mediengebiete nachzudenken und sie schließlich der Medienproduktion und -praxis als Herstellung von und Vermittlung durch Medien zur Seite zu stellen. Auch Theorie/Ästhetik als eine Art Tateinheit und Praxis/Produktion sind keine Gegenteile, gilt doch die Theorie als das Wissen, das aus der Kenntnis der Praxis durch die Verallgemeinerung erwachse und wiederum Anleitung für neue Praxis sein könne: »Theorie hat hier sowohl den Charakter der Erkenntnissammlung als auch den der Prognose und Anleitung zu einer veränderten (besseren, reflektierten) Praxis.«22 Spezielle Spiel- und Denkarten jener können noch etwas mehr Licht in das Dunkel dieser komplexen Rekapitulation bringen, die eine Theorie des Smart-

Vgl. erneut Verf.: Wischen und Schreiben (wie Anm. 5). Vgl. Verf.: »The Digital Scene of Writing«. In: Franz Thalmair (Hg.): Lorem ipsum dolor sit amet… Possible Content for 18 Pages. A performative research about writing. Berlin: Revolver-Publishing, 2016, S. 231–238. 20 Vgl. Vilém Flusser: »Die Geste des Schreibens«. In: ders.: Gesten. Versuch einer Phänomenologie. Düsseldorf: Bollmann 1991, S. 39–49. 21 Vgl. Verf.: »Wischen«. In: Heiko Christians, Matthias Bickenbach u. Nikolaus Wegmann (Hg.): Historisches Wörterbuch des Mediengebrauchs. Wien, Köln u. Weimar, 2015, S. 641–652. 22 Knut Hickethier: Einführung in die Medienwissenschaft. Stuttgart: Metzler, 2003, S. 366. 18 19

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phones vorbereitet; sie repräsentieren Ansätze, die eine solche bedingen: die Medienarchäologie nach Kittler sowie die Mediologie nach Debray. Ihnen zur Seite stehen die Auffassungen McLuhans, die von sowohl gemeinsamen wie anders ausgelegten Bedingungen ausgehen, um Medien im Allgemeinen sowie das Smartphone im Besonderen theoretisch wie ästhetisch zu erfassen. Frank Hartmann hat mit Bezug auf Siegfried Zielinksi beschrieben, wie in freiem Anschluss an McLuhan und durch den Filter einer an der poststrukturalistischen Theorienbildung geschulten Analyse sich vornehmlich wiederum Friedrich A. Kittler den Medien gewidmet hat, um sie im Sinne einer Archäologie zu beschreiben: »Als Medienarchäologie vermag diese Methode ›in der weitgehend linear und chronologisch konstruierten Geschichte die widerständigen lokalen Diskursivitäten und Ausdruckspraxen des Wissens und des Konzeptionierens technisch basierter Weltbilder und Bilderwelten herauszuarbeiten‹ [...].«23 Medienarchäologie nach Kittler fragt demgemäß nach den Effekten medialer Technik unter Bedingungen steigender Komplexität und zielt damit auf einen informationstechnologischen Materialismus, der ausschließt, dass es eine von technischen Bedingungen abgetrennte soziale Sinnkommunikation gibt. Anders gesagt: Es gibt keine mediale (soziale sinnhafte) Kommunikation, ohne dass diese von technischen Bedingungen und Möglichkeiten gegeben wären. Ein medienarchäologisches Exempel geben die Wandlungen medialer Präsentationsweisen für Vorträge wie für Referate oder auch Vorlesungen. Werden sie heute meist mit der einen Hand an einem Laserpointer, mit der anderen an der Laptoptatstatur vor einer Leinwand und mit Hilfe eines Präsentationsprogramms wie MS-PowerPoint oder Keynote für Mac durchgeführt, kam zuvor für solche Zwecke der Dia- oder Overheadprojektor zum Einsatz. Der Wandel in der Nutzung der unterschiedlichen Präsentationsmedien ist kein historischer. Vielmehr stellt er eine Art Störung und Auffälligkeit, gewissermaßen einen Akzent im Laufe der Medienverwendungsgeschichte dar. Die Medienarchäologie interessiert sich für solche Vorfälle, indem sie, wie ihre Bezeichnung schon nahe legt, in der Geschichte nach technischen Übertragungsmedien gleichsam gräbt, die in Vergessenheit geraten und/oder übersehen worden

Frank Hartmann: »Techniktheorien der Medien«. In: Stefan Weber (Hg.): Theorien der Medien. Von der Kulturkritik bis zum Konstruktivismus. 2. Aufl. Konstanz: UVK, 2010, S. 51–77, hier S. 59.

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sind.24 Was als materielle Medien-Fundstücke zu Tage tritt, kann dazu dienen, zu ermitteln, welchen Einfluss sie auf die Verwendungsweise verbreiteter Medien hatten. Die Ergebnisse können zur Neubewertung der gefundenen Gegenstände führen, die womöglich Hinweise für historische Medien-Umbrüche geben und die bis dato geltende Mediengeschichtsschreibung in Frage stellen respektive reformieren. Für die Medienarchäologie geht es primär um den funktionalen Aspekt eines Mediums, weniger um die Inhalte, mehr um die eigentliche Medienmaterialität, d. h. um die tatsächlichen materiellen Eigenschaften. Mediale Formen erhalten ihre Spezifik daher aus dem Produktionsprozess, aus dem heraus sie entstehen und der auch die jeweils eigene Rezeptionsform bedingt. Die Materialität der Medien kann bearbeitet werden, indem erstens beobachtet wird, wie technische Artefakte bestimmte soziale Erwartungen auslösen, z. B. wenn das Klingeln eines Telefons intendiert, dass der Hörer abgenommen und ein Telefongespräch begonnen wird. Im Verständnis von Bruno Latour handelt somit das Medium Telefon als eigenständiger Akteur.25 Zweitens ist es aber auch immer der menschliche Körper, der zeigt, spricht oder den Computer bedient.26 Drittens lässt sich Medienmaterialität an der technischen Organisation des jeweiligen Mediums festmachen. Die Materialität liegt dann im Medienapparat, der als ein System von technischen Organisationen funktioniert.27 Viertens ergibt sich die Möglichkeit, von der Materialität der Medien zu sprechen, wenn sie in ihren Dimensionen zur sozial unkonventionellen oder subversiven Zeichenverwendung gesehen wird.28 Fünftens findet eine Beobachtung der Medienmaterialität statt, wenn Medien anhand von Bedingungen aufgefasst werden, die das jeweilige Medium charakteristisch von anderen unterscheidet. Dann setzt man sich mit der Technizität ausVgl. Erkki Huhtamo u. Jussi Parikka (Hg.): Media Archaeology. Approaches, Applications and Implications. Berkeley u. Los Angeles: University of California Press, 2011. 25 Vgl. Bruno Latour: Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie [1991]. Übers. v. Gustav Roßler. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2008. 26 Siehe dazu insgesamt Hans Ulrich u. Karl Ludwig Pfeiffer (Hg.): Materialität der Kommunikation. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1988. 27 Vgl. Siegfried Weischenberg u. Ulrich Hienzsch: »Die Entwicklung der Medientechnik«. In: Klaus Merten, Siegfried J. Schmidt u. Siegfried Weischenberg (Hg.): Die Wirklichkeit der Medien. Eine Einführung in die Kommunikationswissenschaft. Opladen: Westdeutscher Verlag, 1994, S. 455–480. 28 Vgl. Sybille Krämer: »Das Medium als Spur und Apparat«. In: dies. (Hg.): Medien – Computer – Realität. Wirklichkeitsvorstellungen und Neue Medien. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1998, S. 73–94. 24

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einander, also mit ihrer technischen Grundlage, die mediale Kommunikation in spezifischer Weise ermöglicht. All diese medienmateriellen Bearbeitungen finden ihren virulenten Einsatzpunkt – und das ist die Einfallsschneise für eine theoretische Bestimmung – im Smartphone. Die verschiedenen Verbindungen, die dessen Theorie bedingen, grundiert die notwendige Zusammenschau von Körperlichkeit und technischem Medienverständnis. Während diese die medienwissenschaftliche Schule Kittlers29 als explizite Medienarchäologie bedenkt, die sich für die Widerstände und Ungereimtheiten, das Nicht-Lineare der Entwicklung und die (Technik-)Geschichte von Medien stark macht, ist es die Mediologie, die in zwar ähnlicher, doch auch verschobener Art und Weise das Menschliche auf technische Maßgaben zurück führt. »Es ist nicht leicht, sich selbst gegenüber zuzugeben«, schreibt René Debray, »dass die Technik den Menschen erfunden hat und nicht umgekehrt«, »dass unsere Instrumente über unsere Zwecke entscheiden«.30 Zu Beginn der 1990er Jahre hat Debray mit dem Cours de Mediologie générale seine Vorstellung derselben formuliert. Wesentlicher Bezugspunkt sind für ihn die Ansichten André Leroi-Gourhans, für den es ›den Menschen‹ nur deshalb gibt, da er gelernt habe, zu laufen, zu greifen und sich zu äußern. Indem der Mensch aufrecht gehen lernte, wurde etwa die Hand dafür frei, nicht mehr der Fortbewegung zu dienen, sondern zum Greiforgan zu werden, und gleichermaßen wurde der Mund vom Greif- zum Sprechorgan.31 Indem die Evolution voranschreitet, entäußert, enteignet und innoviert sich der Mensch und er wird vervollkommnet in Objekten, die er sich entsprechend zu eigen macht: im Faustkeil wie in der Druckerpresse oder im Computer32 bzw., wie hier betont werden soll: im Smartphone. Denn heute wird die Hand noch weiter führend mit technischen Mitteln einsetzbar,33 indem sie das wichtigste Werkzeug zur Bedienung und schließlich auch zur Steuerung dieses bemerkenswerten digitalen mobilen Mediums bleibt.

29 Vgl. Verf.: »Welche Theorie sollen wir lesen? Kittler im Kanon-Spiegel«. In: Stefan Neuhaus u. Uta Schaffers (Hg.): Was wir lesen sollen. Kanon und literarische Wertung am Beginn des 21. Jahrhunderts. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2016, S. 79–98. 30 Régis Debray: Einführung in die Mediologie. Facetten der Medienkultur [2000]. Übers. v. Susanne Löscher. Bern: Haupt, 2003, S. 197f. 31 Vgl. André Leroi-Gourhan: Hand und Wort. Die Evolution von Technik, Sprache und Kunst [1964]. Übers. v. Michael Bischoff. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1987. 32 Vgl. Debray: Mediologie (wie Anm. 30), S. 31f. 33 Vgl. erneut Verf.: Die Hand (wie Anm. 5).

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Man kann der medienarchäologischen und mediologischen Sicht die bereits erwähnten medientheoretischen Grundannahmen Marshall McLuhans zur Seite stellen. Medien versteht dieser bekanntlich als ›Verlängerungen‹ des menschlichen Körpers, als nach außen verlagerte Körperteile und Organe, die bestimmte Funktionen des Körpers übernehmen und ihn als Prothesen mithin entlasten;34 sind sie erst einmal vom System des Menschen abgetrennt, können sie sich in der Außenwelt als Körperteile erweitern und perfektionieren. Der Mensch erscheint hier als mangelhaft, als ein Mängelwesen, worauf lange vor McLuhan schon Ernst Kapp in den Grundlinien einer Philosophie der Technik hingewiesen hat. Jedes vom Menschen geschaffene Werkzeug ist so eine oft unbewusste Imitation menschlicher Körperorgane oder menschlicher Körperfunktionen.35 Sigmund Freud spricht vom Menschen als ein ›Prothesengott‹, da er Werkzeuge schafft, um die menschlichen Organe vollkommen zu machen, um Mängel auszugleichen und bestimmte Grenzen zu überwinden.36 Sinne und Körperfunktionen sowie Medien gehören, so gesehen, zusammen, nur dass dies der Mensch verdrängt: »Solange wir die narzißtische Haltung einnehmen und die Ausweitungen unseres eigenen Körpers als in Wirklichkeit draußen befindlich und von uns unabhängig betrachten, werden wir bei allen Herausforderungen der Technik immer wieder die gleiche Bananenschalenpirouette drehen und dann zusammenbrechen.«37 Medien erscheinen dem Menschen als von ihm getrennt bzw. besser: abgetrennt (amputiert), obwohl sie im McLuhanschen Verständnis als Verlängerungen zu ihm gehören. Der Sinneswahrnehmung kommt in einer prothetischen Medienauffassung eine besondere Rolle zu. Die Medienästhetik, die für eine Theorie des Smartphones, wie sich zeigt, von anhaltender Bedeutung bleibt, wird also auch hier privilegiert. Werden neue Sinnesreize von Medien ausgelöst, aktivieren und verändern Medien die menschliche Wahrnehmung. Für McLu-

34 Vgl. Marshall McLuhan: Die magischen Kanäle. Understanding Media [1964]. Übers. v. Meinrad Ammann. Düsseldorf: Econ, 1992. 35 Vgl. Ernst Kapp: Grundlinien einer Philosophie der Technik. Zur Entstehungsgeschichte der Kultur aus neuen Gesichtspunkten [1877]. Hg. v. Harun Maye u. Leander Scholz. Hamburg: Meiner, 2015. 36 Sigmund Freud: Das Unbehagen in der Kultur und andere kulturtheoretische Schriften [1930]. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2000, S. 56f. 37 McLuhan: Die magischen Kanäle (wie Anm. 34), S. 87.

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han geschieht dies, wie man weiß, entweder ›heiß‹ oder ›kalt‹ bzw. durch ›heiße‹ oder ›kalte‹ Medien: 26

Der Grundsatz, nach dem sich heiße und kalte Medien unterscheiden, kommt genau in der Volksweisheit: ›Mein letzter Wille, eine Frau mit Brille‹ zum Ausdruck. Gläser verstärken das nach außen gerichtete Sehen und zeichnen das weibliche Imago überdeutlich, wenn ›sie‹ auch Marion heißt und Bibliothekarin ist. Sonnenbrillen andererseits erzeugen das undurchschaubare und unnahbare Vorstellungsbild, das sehr stark zur aktiven Teilnahme und Vervollständigung einlädt. [...] Dennoch ist es etwas ganz anderes, ob ein heißes Medium in einer heißen oder einer kühlen Zivilisation eingesetzt wird. Das heiße Medium Radio hat, wenn es in einer kühlen oder nichtalphabetischen Kultur verwendet wird, aufpeitschende Wirkung, ganz anders als sagen wir in England oder Amerika, wo man das Radio als Unterhaltung auffaßt.38

Ein heißes Medium erweitert nur einen einzigen Sinn, aber so, dass er so zu sagen heiß läuft. Photographie und Radio sind solche Medien. Ein kaltes Medium bietet den Sinnen nur wenig Informationen an, so dass sie vom Menschen und seinem Körper vervollständigt werden müssen. Beim Telefon ist dies der Fall. Die Zuschreibungen heiß und kalt machen Medien miteinander vergleichbar und abgrenzbar. Kein Medium habe Sinn oder Sein, so McLuhan, aus sich allein, sondern nur aus der ständigen Wechselwirkung mit anderen Medien.39 Wie der Mensch mit der Welt in Verbindung steht, wie er sie wahrnimmt und wie er sich selbst wahrnimmt, kommt hier auf die Medien an, seien sie heiß, seien sie kalt. Die Aufspaltung der Sinnesanlagen ergeben sich für McLuhan aus der technischen Erweiterung oder Hinausstellen des einen und anderen Sinnes und wer zum ersten Mal den Einbruch einer neuen Technik erlebe, reagiere deshalb auf äußerst lebhafte Weise, da die neuen Sinnesverhältnisse, die von der technischen Erweiterung des Auges oder Ohres geschaffen werden, den Menschen vor eine überraschende neue Welt stellen, die eine nachhaltige Schließung oder ein neuartiges Muster des Wechselspiels zwischen allen Sinnen hervorrufe.40 Ein herausragendes Beispiel eines solchen Mediums ist, was nach dem bereits Gesagten kaum überrascht: das Smartphone (das dann womöglich ›lauwarm‹ genannt werden kann).

Ebd., S. 45f. Vgl. ebd., S. 39. 40 Vgl. Marshall McLuhan: Die Gutenberg-Galaxis. Das Ende des Buchzeitalters [1962]. Übers. v. Max Nänny. Bonn: Addison.Wesley, 1995, S. 27f. 38 39

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Für McLuhan verdrängen neue Medien, auch wenn sie zu Leitmedien werden, nicht ihre Vorgänger. Sie vervollständigen, erweitern und verändern sie, so wie sie es auch mit dem Menschen als Prothesen tun. Der Inhalt eines Mediums, so lautet einer der bekanntesten Sätze McLuhans, ist daher immer ein anderes Medium.41 Daher gibt es für ihn auch keine Brüche bei der Abfolge von Medien innerhalb deren Geschichte, sondern Verweisungszusammenhänge, Weiterentwicklungen und Erneuerungen, die starke Auswirkungen auf die Situation des Menschen individuell und gesamtgesellschaftlich haben. Medien sind somit nicht nur Prothesen bzw. Externalisierungen des menschlichen Körpers; sie verändern auch den Menschen und seine Welt und daher ist McLuhan auch bei einer gewissen Nähe und auch in seiner Vorreiterrolle zu ihr kein Medienarchäologe. Materialität, Funktion oder Inhalt desjenigen, was Medium genannt wird, ist für ihn nicht so wichtig wie dessen Wirkung auf die Gesellschaft oder den Einzelmenschen, ihre Effekte.42 »Denn die ›Botschaft‹ jedes Mediums oder jeder Technik«, heißt es in Die magischen Kanäle, »ist die Veränderung des Maßstabs, Tempos oder Schemas, die es der Situation des Menschen bringt.«43 Über beide Sichtweisen – die gesellschaftlichen Veränderungen sowie die medienarchäologischen und mediologischen Reibungen des Smartphones – geben die hier versammelten Beiträge Auskunft. Die je verschiedenen Auffassungen, seien sie medienästhetisch, medienarchäologisch, mediologisch oder ›McLuhanisch‹, lesen sich wie Repliken aufeinander, wie Fragen und Antworten, wie Streitgespräche. In manchen Fällen sind sie dies auch tatsächlich. In Kittlers oben erwähnter Vorlesung Optische Medien heißt es gleich zu Beginn, nach dem Modell des damals eben entdeckten Stress-Phänomens sollten technische Prothesen eines Sinnesorgans, also Medien, eine natürliche oder physiologische Funktion ersetzt haben, wobei als Subjekt der Ersetzung die biologische Funktion selber auftrat: »Ein Auge, das sich nach dem schönen Ausdruck mit Linsen oder Brillen bewaffnet, betreibt laut McLuhan eine paradoxe Operation, die zugleich eine Selbstausweitung und seine Selbstamputation ist.«44 Kapp und Freud werden an dieser Stelle ebenfalls erwähnt und zitiert, um jede der Grundannahmen, speziell: dass natürlich der Mensch das

Vgl. McLuhan: Die magischen Kanäle (wie Anm. 34), S. 18. Vgl. ebd., S. 40. 43 Ebd., S. 18. 44 Kittler: Optische Medien (wie Anm. 8), S. 26 41 42

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Subjekt aller Medien sei,45 zu verabschieden. Kittler vermisst die Hervorhebung technischer Innovationen an McLuhans Medienidee, obwohl er mit dessen Grundthesen weiterarbeitet: als Inspiration und Gegenpol gleichermaßen. Die Formel, dass der Inhalt eines Mediums stets ein anderes Medium sei, erscheint ihm zwar naheliegend. Die Sehnsucht nach der Technik und damit nach dem Material und der Materialität der Medien ist aber stärker, so dass Kittler fordert, die Leitvokabel der Medien von daher zu übernehmen, wo sie herstammt: »von der Physik im allgemeinen und der Nachrichtentechnik im besonderen«.46 Es ist daher zu bedauern, dass Kittler nicht (mehr) zur Theorie des Smartphone gearbeitet hat oder besser: arbeiten konnte. Dies hätte sich umfassend gelohnt.

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Medienökologie – Spektrum – Theoriebildung

In einem weiteren Anschluss an McLuhan sind die Menschen als Kulturen darstellbar, die sich in Gestalt von Ökosystemen organisieren: als netzartige Zusammenhalte von grundverschiedenen Systemen. Der Mensch kann mithin als physikalisches, psychisches, biogenes, neuronales und soziales System beschrieben werden bzw. insgesamt als informationsverarbeitende Systeme, die sowohl über mehrere Sensoren verfügen, denen es möglich ist, Informationen zu speichern, zu verarbeiten und zu bewerten, als auch über Programme gesteuert werden, die die eine Selbstwahrnehmung der eigenen Prozesse erlauben.47 Der Mensch steht hier zu seiner Umwelt in einem Verhältnis, das auf wechselseitigen Einflussnahmen beruht. Umwelteinflüsse werden jedoch vor allem auf verschiedenen Systemebenen vom Menschen wahrgenommen und verarbeitet. Dies ist ein Standpunkt, der als spezielle Sichtweise einer transdisziplinären ökologischen Kommunikationswissenschaft respektive als Überzeugung einer Medienökologie bezeichnet werden kann, die die Verschränkung ökologischer Wissensbestände mit medientheoretischen/me-

Vgl. ebd., S. 27. Ebd., S. 29. 47 Vgl. Michael Giesecke: »Medienphilosophie der Sinne«. In: Mike Sandbothe u. Ludwig Nagl (Hg.): Systematische Medienphilosophie. Berlin: Akademie, 2005, S. 37–64, hier S. 41. 45 46

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dienästhetischen Ansätzen denkt.48 Wie Petra Löffler und Florian Sprenger zusammenfassen, geht dieser Ansatz nicht nur auf McLuhan, sondern anschließend seit den 1970-er auch auf die Arbeiten von Neil Postman, Joshua Meyrowitz und Lance Strate Jahren zurück. Die Ökologie wird hier zum Grundgerüst einer neuen Wissenschaft, die Medien nicht als Werkzeuge, sondern als Environments fassen will und die weniger eine einheitliche Methodik aufweist als vielmehr ein Sammelbecken für verschiedene Formen der Auseinandersetzung mit Medien und ihren weitreichenden Entwicklungen bedeutet, die ein ökologisch genanntes Selbstverständnis teilen und sich zumeist in institutionellen Außenseiterpositionen wiederfinden.49 Medienökologie bleibt dabei eine Ausrichtung, die von medientheoretischen Begriffen und medienästhetischen Überzeugungen geprägt ist. Das Untersuchungsspektrum medienökologischer Arbeiten reicht von der schon oben genannten Beeinflussung der Kultur durch Medien über die Transformation der Wahrnehmung durch deren Kommunikationskanäle bis hin zu Wissensproduktionen durch Wechselwirkungen zwischen sozialen, politischen und psychischen Dimensionen von Medien und ihrer materieller Grundlagen.50 Medienökologie ist daher auch medienarchäologisch und mediologisch ambitioniert: »Untersucht werden soll, wie sich die Strukturen der Wahrnehmung, des Denkens und des Verhaltens mit der Einführung neuer Medien auf diesen verschiedenen Ebenen verändern.«51 Zum Beispiel würde es im medienökologischen Interesse sein, zu betrachten, wie die Erfindung, Einführung, Verbreitung, schlicht: der Erfolg von mobilen Computern vom Laptop bis hin gerade zum Smartphone (und im Anschluss dazu auch: zur SmartWatch) die wahrnehmenden, denkenden und sich verhaltenden Menschen in unterschiedlichen kulturellen und zeitlichen Kontexten neu aufgestellt haben. Das Potenzial der Medienökologie für die Medientheorie und Medienästhetik liegt denn auch darin, Medien nicht vorauszusetzen, sondern die Verhältnisse zu beschreiben, in denen Medien als Umgebungen wirken, in denen oder durch die sich etwas entfaltet und entwickelt, sei es im konkreten Ver-

Vgl. ebd., S. 43. Petra Löffler u. Florian Sprenger: »Medienökologien. Einleitung in den Schwerpunkt«. In: Zeitschrift für Medienwissenschaft 1 (2016), S. 10–18, hier S. 11. 50 Vgl. Werner D. Fröhlich, Rolf Zitzlsperger u. Bodo Franzmann (Hg.): Die verstellte Welt. Beiträge zur Medienökologie. Mit einer Einleitung v. Neil Postman. Frankfurt a. M.: S. Fischer, 1988. 51 Löffler/Sprenger: »Medienökologien« (wie Anm. 49), S. 12. 48 49

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lauf einer Nutzungssituation, in gesellschaftlichem Rahmen, in evolutionärer oder medienhistorischer Sicht,52 zumal, wie Erich Hörl feststellt, Folgendes zu konstatieren ist: Wir bezeugen den regelrechten Durchbruch einer neuen historischen Semantik: der Ökologie. Es gibt heute ›Tausend Ökologien‹: Ökologien der Empfindung, der Wahrnehmung, der Kognition, des Begehrens, der Aufmerksamkeit, der Mächte, der Werte, der Information, der Partizipation, der Medien, des Geistes, des Wissens, der Relationen, der Praktiken, des Verhaltens, des Sozialen, des Politischen – um nur einige Beispiele zu nennen. Es scheint gegenwärtig kaum einen Bereich zu geben, der sich nicht als Sache einer Ökologie zu erweisen beginnt und damit einer ökologischen Reformulierung unterliegt. Diese Proliferation des Ökologischen ist gepaart mit einer Verschiebung des Sinns von Ökologie. Der Begriff wird darin zunehmend denaturalisiert und es ist zu beobachten, dass er seine politisch-semantische Aufladung mit Natur verliert, er drängt förmlich zur Losung einer ›Ökologie ohne Natur‹. Dabei überbordet er nicht nur jeden Naturbezug, sondern er besetzt sogar vornehmlich unnatürliche Bereiche. Zugleich verliert er seine gerade mit dieser Aufladung oftmals einhergehende und ihn beschränkende immunpolitische Konnotation, seine Legierung mit den Dogmatismen der Nähe, des Unmittelbaren, des Eigenen, des Hauses, kurzum: seine Verbundenheit mit den Dogmatismen der Eigentlichkeit, die seit seiner Genese im 19. Jahrhundert nicht aufhören, den Begriff der Ökologie heimzusuchen und zu reterritorialisieren (vom griechischen oikos her und als dessen problematisches logozentrisches Erbe.53

Im Ideal der Medienökologie verdichten sich die Bestrebungen, mit Medien neben der Technik und der Kultur auch die Natur zu berücksichtigen. Mit Jean-Luc Nancy, der für Erich Hörl ein zentraler Bezug medienökologischen Denkens ist, entpuppt sich die Natur als etwas, was der Technik untersteht (unterstehen kann). Es zeichnet sich eine Technizität von Natur ab: »Genau da erteilt die Technik ihre Lektion: Durch sie offenbart eigentlich die Natur, aus der sie hervorgegangen ist, dass sie selbst der Zwecke entbehrt.«54 Darin und dadurch avanciere Ökologie überhaupt zu einem Leitbegriff und Sig-

Vgl. ebd., S. 17f. Erich Hörl: »Die Ökologisierung des Denkens«. In: Zeitschrift für Medienwissenschaft 1 (2016), S. 33–45, hier S. 33. 54 Jean-Luc Nancy: »Von der Struktion«. In: Erich Hörl (Hg.): Die technologische Bedingungen. Beiträge zur Beschreibung der technischen Welt. Zürich u. Berlin: diaphanes, 2011, S. 54–72, hier S. 57. 52 53

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nal des Verhältnisses von Technik und Natur.55 Medienökologie eröffnet für eine Theorie des Smartphones damit einen weiteren Horizont an Scharnierstellen, die deren einzelne Eintrittstüren öffnen und in Schwingung halten. An ihr lassen sich letztendlich aber auch ein ums andere Mal, so auch Katja Rothe, die Spaltungen und Rivalitäten im Innern der Medienwissenschaft ablesen, vor allem die Opposition von Medienpädagogik, Kommunikationswissenschaft und kulturwissenschaftlicher Medienwissenschaft.56 Für das hier verfolgte Anliegen der Annäherung an eine Theorie des Smartphones geht es aber ohnedies nicht um die Überwindung oder das Ausschalten einzelner oft verhärteter Fronten. Ertragreicher und viel versprechender ist eine Ökologie der Praxis im Sinne Isabelle Stengers, die nicht sagen soll, was ist oder was sein sollte, sondern die das Denken provoziert.57 Oder noch einmal anders formuliert: Eine Auseinandersetzung mit der Ästhetik des Smartphones kommt nicht ohne Theoriebildung aus, Theoriebildung aber auch nicht ohne ästhetische Implikationen. Diese durchscheinen gleichsam das Smartphone-Glas ebenso wie die Silizium-Chips; sie drängen geradezu an die Oberfläche: zum Interface, zu dessen Apps, am Ende: zu uns selbst.

Vgl. Hörl: »Ökologisierung des Denkens« (wie Anm. 53), S. 34. Vgl. Katja Rothe: »Medienökologie – Zu einer Ethik des Mediengebrauchs«. In: Zeitschrift für Medienwissenschaft 1 (2016), S. 46–57, hier S. 46. 57 Vgl. Isabelle Stengers: Spekulativer Konstruktivismus. Mit einem Vorwort v. Bruno Latour. Übersetzt v. Gabriele Ricke, Henning Schmidgen u. Ronald Voullié. Berlin: Merve, 2008, S. 153. 55 56

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Ästhetisches Funktionieren Prolegomena zur einer Ästhetik des Smartphones

Spätestens wenn man zufälligerweise einmal ein kleines Kind in einem Buchladen dabei beobachtet haben sollte, dass es zum Umblättern über die Bilder in Bilderbüchern zu wischen versucht, wird man gewahr, wie tief die neuen Medien, ihre Interfaces wie ihre Ästhetik unsere Alltagskultur bestimmen. Dabei sind sie nicht selten unsichtbar, gewissermaßen in unsere alltägliche Praxis versenkt; erst in bestimmten Fällen des Scheiterns, des nicht mehr Funktionierens bzw. des Fehlens werden sie üblicherweise in ihrer Medialität thematisch.1 Gemäß der wirkmächtigen Überlegungen Marshall McLuhans werden wir in und durch die Arten von Medien,2 mit denen wir hantieren, zu anderen als wir vormals waren; sie verleihen unserem Handeln und damit unserer Rationalität eine jeweils andere Kontur. Eine Anthropologie wie Geschichtsphilosophie, die nicht immer auch Bezug auf entsprechende Medien nimmt, ist einer solchen Auffassung nach verkürzt. Sollte man aus der Omnipräsenz von Smartphones in unserem Alltag nicht die Konsequenz ziehen, dass sie unsere Praxis restlos determinieren, so dass Praktiken gewissermaßen auf medienarchäologischer Ebene explanatorisch reduzibel würden,3 so ist es doch zweifelsohne so, dass der Gebrauch von Smartphones Fragen für die ästhetische

Ich appropriiere hier offensichtlich Heideggers Zeuganalyse; vgl. Martin Heidegger: Sein und Zeit. Tübingen: Niemeyer, 1967, S. 72. 2 Vgl. v. a. Marshall McLuhan: Understanding Media: The Extensions of Man. Massachusetts: MIT Press, 1994. 3 Vgl. in diesem Sinne auch Hartmut Winkler: »Die prekäre Rolle der Technik«. In: Claus Pias (Hg.): Medien. Dreizehn Vorträge zur Medienkultur. Weimar: VDG, 1999, S. 221–240. 1

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Theorie aufwirft. Diese sind vor allem auf die Unklarheit zurückzuführen, in welches Register ein solcher Gebrauch überhaupt gehört. Der Gebrauch von Smartphones kann nämlich weder ausgehend von einer kontemplativ verstandenen Erkundung ihrer ästhetischen Eigenarten verständlich gemacht werden, noch von einer ästhetischen Theorie, die am Paradigma der Kunst orientiert ist. Das möchte ich in einem ersten Teil (i) meiner Überlegungen zeigen, der entsprechend einen wesentlich negativen Charakter haben wird. Demgegenüber werde ich im zweiten Teil (ii) einen positiven Vorschlag unterbreiten, wie zumindest ein kategorialer Rahmen aussieht, von dem aus die Ästhetik von Smartphones plausibel ausbuchstabiert werden könnte: als eine Ästhetik des Funktionierens entsprechender Gegenstände. Ästhetik und Funktion scheinen dabei auf den ersten Blick nicht gut zueinander zu passen. Ich werde gleichwohl eine Rekonstruktion des Ästhetischen vorschlagen, die dies gegenüber dem Begriff des Funktionierens öffnet.4 Gegenstände wie Smartphones werden zu bestimmten Zwecken gebraucht und sind funktional hinsichtlich dieser Zwecke. Das Ästhetische der Funktion besteht nun in der Art und Weise, wie der jeweilige Gegenstand diese Funktion erfüllt. Ästhetisch ist eine Funktion darin, dass die Art und Weise, wie sie erfüllt wird, nicht austauschbar ist; für unsere Praxis macht es entsprechend einen Unterschied, ob wir mit diesem oder jenem Smartphone hantieren. Ein bloß abstrakter Blick auf die Funktionen, die Smartphones hier erfüllen, ist deshalb jenseits der Ästhetik, weil er die Konkretion dieser Funktionen im Lichte der jeweils spezifischen Gegenstände, die sie erfüllen, nicht zu denken vermag. Die Ästhetik von Smartphones gehört damit grundsätzlich in den Bereich von Fragen einer Ästhetik des Designs,5 die ich so verstehe, dass sie sich gerade mit der Unvertretbarkeit funktionaler Gegenständen hinsichtlich der Funktion, die sie erfüllen, beschäftigt.

Lambert Wiesing hat jüngst den aufschlussreichen Versuch unternommen, etwas Vergleichbares hinsichtlich des Begriffs des Besitzens vorzuschlagen, indem er ihn als ästhetische Kategorie gedeutet hat. Vgl. Lambert Wiesing: Luxus. Berlin: Suhrkamp, 2015. 5 Vgl. dazu Daniel M. Feige: Design. Eine philosophische Analyse. Berlin: Suhrkamp, 2018, Kap. 4. 4

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Jenseits von Kunst und Kontemplation 35

Smartphones sind keine Kunstwerke. Zumindest dann nicht, wenn man den Begriff des Kunstwerks in einem strengen und das heißt in einem qualifizierten Sinne verwendet und nicht bloß im Sinne eines unqualifizierten Lobs. Natürlich gibt es Personen, die so etwas sagen wie, dass das neue iPhone von Apple ein Kunstwerk sei. Aber damit wird man weder der Kunst, noch dem iPhone gerecht. Wollte man diese Redeweise weitergehend als in dem Sinne zu rationalisieren versuchen, dass der Kunstbegriff hier in einem unqualifizierten Sinne als Lob und das heißt als ein evaluatives ›Mehr‹ gegenüber anderen Gegenständen, die keine Kunstwerke sind, verwendet wird, so könnte man Folgendes sagen: Eine solche Redeweise orientiert sich an bestimmten Aspekten bestimmter Arten von Kunstwerken, die in Analogie zu Aspekten des Smartphones verstanden werden. Damit kommt sie aber nur durch die Beobachtung von Ähnlichkeiten zustande. Und wie unter anderem Nelson Goodman und Hilary Putnam überzeugend gezeigt haben,6 kann der Begriff der Ähnlichkeit nicht die Rolle erfüllen, die ihm damit zugedacht wird. Er hat keine epistemische Signifikanz, da »alles alles anderem in unendlich vielen Hinsichten ähnelt«.7 Das Entdecken von Ähnlichkeiten ist entsprechend gar kein Entdecken; auf seiner Basis lässt sich nichts der Kunst eingemeinden und nichts von ihr ausschließen.8 Natürlich könnte man sich ein iPhone vorstellen, dass zugleich ein Werk der concept art wäre. Aber aus der Tatsache, dass prinzipiell alles ein Kunstwerk oder ein Teil eines Kunstwerks werden könnte, folgt natürlich nicht, dass alles ein Kunstwerk oder ein Teil eines Kunstwerks ist. Und selbst wenn es solch ein Werk der concept art kontrafaktischerweise geben sollte, so würde dieses nicht den Status bloßer iPhones neu bestimmen.

Vgl. Nelson Goodman: Sprachen der Kunst. Entwurf einer Symboltheorie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1997, S. 15; Hilary Putnam: Vernunft, Wahrheit und Geschichte. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1990. 7 Ebd., S. 94. 8 Ein plausiblerer Kandidat in dieser Frage ist sicherlich die Einordnung in einen Traditionszusammenhang. Vgl. in diesem Sinne u. a. Noël Carroll: »Historical Narratives and the Philosophy of Art«. In: Ders.: Beyond Aesthetics. New York: Cambridge University Press, 2001, S. 100–118; Jerrold Levinson: »Extending Art Historically«. In: The Journal of Aesthetics and Art Criticism 51 (1993), S. 411–423. Entsprechend dieser Vorschläge wäre die Frage, ob etwas Kunst ist, weniger unter Verweis auf sein Aussehen, seinen Klang o.ä. zu beantworten, als vielmehr unter Verweis auf Abstammungslinien, in die es gehört. 6

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So wenig wie Duchamps Fountain dafür gesorgt hat, dass alle Urinale – oder Urinale eines bestimmten Typs – auf einmal Kunstwerke geworden wären, so wenig würden durch dieses kontrafaktische Kunstwerk alle iPhones in den Stand von Kunstwerken erhoben. Ebenfalls nicht in den Stand von Kunstwerken lässt sich das neuste iPhone dadurch eingemeinden, dass wir viele ästhetische Prädikate auf es sinnvoll anwenden können, die wir auch auf Kunstwerke anwenden können; dass das neueste iPhone zweifelsohne elegant, vielleicht auch schön ist, kann keine Eingemeindung in die Kunst verbürgen, denn solche Prädikate sind allgemeine ästhetische Prädikate, die nicht spezifisch für Kunstwerke sind.9 Mehr noch: Mit Blick auf die Kunst nehmen entsprechende Prädikate üblicherweise eine ganz andere Wendung als mit Blick auf alltägliche Gebrauchsgegenstände. Was aber spricht dafür, dass man einem Gegenstand wie dem iPhone prinzipiell den Kunststatus aberkennen sollte? Dafür spricht, dass für Kunstwerke anders als für Gegenstände wie Smartphones charakteristisch ist, dass es sich hier um Gegenstände handelt, die als die Gegenstände, die sie sind, keine praktischen Funktionen erfüllen.10 Wenn ich sage, dass es für sie als die Gegenstände, die sie sind, wesentlich ist, dass sie keine praktischen Funktionen erfüllen, so bestreite ich damit gerade nicht, dass sie auch im Rahmen vielfältiger Weise praktisch instrumentalisiert werden können – Gemälde können als lukrative Geldanlage verwendet werden, Romane als Mittel der moralischen Erziehung im Schulunterricht, Skulpturen als Quellen des Wissens über die Geschichte. Aber solche Funktionen bestimmen ein Kunstwerk nicht als Kunstwerk; sie bestimmen nicht den Begriff des Kunstwerks.11 Gegenüber solchen praktischen Zwecken sind Kunstwerke autonom. Dient ein Stuhl dem Zweck, darauf zu sitzen, lässt sich nichts Vergleichbares von Kunstwerken sagen; die Redeweise, dass ein Kunstwerk dem Zweck dient, betrach-

Vgl. zu ästhetischen Prädikaten insgesamt auch die klassische Studie von Frank Sibley: »Aesthetic Concepts«. In: The Philosophical Review 67 (1959), S. 421–450. 10 Vgl. zum Folgenden ausführlicher auch Daniel M. Feige: Computerspiele. Eine Ästhetik. Berlin: Suhrkamp, 2015, Kap. 4. 11 Das heißt nicht, dass Kunstwerke funktionslos wären. Aber eine solche Funktion ist eben keine praktische oder theoretische Funktion. Das gilt meines Erachtens noch für jüngere Kunstpraktiken, die in den sozialen Raum eingreifen und ihn umgestalten; denn partizipative Kunst ist nicht einfach Politik mit anderen Mitteln, sondern stellt immer die Frage, was sie selbst überhaupt ist. Anders gesagt: Die Werke sind nicht transparent mit Blick auf das, was sie thematisieren; das, was ein Kunstwerk thematisiert ist nur in und durch die Art und Weise, wie es dieses verhandelt, zu haben. 9

ÄSTHETISCHES FUNKTIONIEREN

tet zu werden, wäre eine bloß grammatikalische Angleichung – und gälte zudem sicherlich nicht für Performances und partizipative Kunst. Unabhängig von solch praktischen Zwecken sind Kunstwerke deshalb Kunst, weil sie dergestalt eigensinnige Gegenstände sind, dass sie aus sich heraus bestimmen, was für sie ein Element ist.12 Eine Skulptur aus Holz erfindet anders als ein Stuhl aus Holz ihr Material neu; just weil Kunstwerke zu nichts anderem da sind, als erfahren zu werden, lassen sie sich nur jeweils an dem messen und nur anhand dessen verstehen, was sie aus sich heraus etablieren – und was sie etablieren sind Konstellationen von Elementen. Das heißt: Wer etwa die Werke Beethovens anhand dessen, was ästhetisches Gelingen in einem Werk von Bach heißt, misst, verfehlt, worum es bei Beethoven geht. Smartphones sind ganz sicherlich nicht so zu beschreiben, dass sie in begrifflichem Sinne keine praktischen Funktionen erfüllen, sondern vielmehr dazu da wären, in ihrer autonomen Konstitution erfahren zu werden. Tritt man von der Praxis des Gebrauchs von Smartphones zurück, so kann man sie natürlich so ansehen, als ob sie Kunstwerke wären. Aber dann tut man genau das: Man schaut sie nicht länger als diejenigen Gegenstände an, die sie sind, sondern rückt sie gewissermaßen in ein Register von Wahrnehmungen, mit dem man durch die Erfahrung von Kunstwerken vertraut ist – was zu der durchaus amüsanten wie absurden Konsequenz führt, dass man dann Fragen stellen müsste, was ein entsprechendes Smartphone durch eine autonome Konstitution seiner Elemente verhandelt.13 Natürlich können auch Smartphones durch ihre Gestaltung etwas ausdrücken – Energie, Technizität usf. Aber solche symbolischen Valenzen haben die meisten Dinge, die uns umgeben, ohne dass diese etwas mit Kunst zu tun hätten.14 Man muss natürlich ein kontemplatives Verhältnis in der Wahrnehmung eines Smartphones nicht so beschreiben, dass man es dadurch wie ein Kunstwerk ansehen würde. Vielmehr könnte man es so beschreiben, dass man das Smartphone

12 Ich folge hier Adornos Überlegungen zum Formgesetz der Kunst; vgl. v. a. Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1973, u. a. S. 182f. 13 Vgl. als Argumente für Bezogenheit auf Interpretationen von Kunstwerken in diesem Sinne auch Arthur C. Danto: Die Verklärung des Gewöhnlichen. Eine Philosophie der Kunst. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1991. 14 Vgl. zu symbolischen Eigenarten solcher Gegenstände insgesamt Nelson Goodman: Sprachen der Kunst. Entwurf einer Symboltheorie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1997. Als Analyse entsprechender symbolischer Aspekte von Designgegenständen im engeren Sinne siehe auch Dagmar Steffen (Hg.): Design als Produktsprache. Der Offenbacher Ansatz in Theorie und Praxis. Frankfurt a. M.: form, 2002.

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in diesem Fall kontemplativ in seinen ästhetischen Eigenarten erkundet. In der Tat ist diese Praxis, anders als die Praxis, es als Kunstwerk zu betrachten, nicht absurd: Natürlich haben, worauf die sinnvolle Anwendung vieler Arten ästhetischer Prädikate auf Smartphones hindeutet, Smartphones vielfältige Arten ästhetischer Eigenschaften – sie können elegant oder unelegant sein, sie können ansprechend aussehen oder unansehnlich sein usf. Die Ästhetik von Smartphones wäre entsprechend das, was sich an diesen Gegenständen unter den Bedingungen einer bloßen Betrachtung um ihrer selbst willen zeigt. In einem solchen Bild scheint gleichwohl weiterhin etwas zu fehlen bzw. an einem solchen Bild ist in bestimmter Weise weiterhin etwas durchaus schief. Nicht allein werden ästhetische Aspekte von Smartphones damit auf visuelle Aspekte reduziert, so dass andere Arten von Aspekten wie etwa haptische oder – im Sinne des Sounddesigns – akustische ausgeblendet werden, obwohl sie doch sicherlich etwas mit Ästhetik zu tun haben. Vielmehr und vor allem ist an diesem Bild problematisch, dass es den Gebrauch als etwas versteht, das jenseits der Ästhetik der Gegenstände angesiedelt wäre, die gebraucht werden. Wer die Ästhetik von Smartphones auf eine kontemplative Erkundung ihrer ästhetischen Eigenarten beschränkt, kapselt sie in problematischer Weise von dem ab, wozu Smartphones da sind: Dass man bestimmte ›Sachen‹ – wie telefonieren, Musik hören, im Internet surfen, spielen usf. – mit ihnen macht. Und das, was man mit ihnen machen kann, geht in eine Bestimmung dessen ein, was sie sind: Smartphones sind im Regelfall nicht dazu da, um bloß betrachtet zu werden, sondern sie sind dazu da, um mit ihnen zu telefonieren, Musik zu hören, im Internet zu surfen, zu spielen usf. Wollte man die Ästhetik von diesen Zwecken abkoppeln, so würde man Smartphones gewissermaßen in zwei Gegenstände aufspalten – einen ästhetischen Gegenstand, der sich nur in der Kontemplation zeigt, und einen funktionalen Gegenstand, der sich im Gebrauch artikuliert. Im Rahmen einer solchen Beschreibung verkäme die ästhetische Dimension von Smartphones zu einem bloß äußerlichen Schmuck – hier ihr Funktionieren, dort ihr Aussehen. Ich möchte vorschlagen, die Ästhetik von Smartphones anders als im Sinne einer kunstästhetisch geprägten Theorie ästhetischer Erfahrung oder einer allgemeinen Theorie der Wahrnehmung ästhetischer Eigenschaften zu verstehen. Ich möchte, wie die letzten Bemerkungen andeuten, vorschlagen, die Ästhetik von Smartphones als eine Ästhetik des Gebrauchs in dem Sinne zu verstehen, dass das Funktionieren von Smartphones selbst als eine Dimension derselben betrachtet werden muss, die etwas mit Ästhetik zu tun hat.

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Als eine allgemeine Bestimmung des Ästhetischen gegenüber einer an der Kunst orientierten Ästhetik wie gegenüber einer an der Wahrnehmung ästhetischer Eigenschaften orientierten Theorie lässt sich festhalten, dass Ästhetik eine Aufmerksamkeit für das Besondere als Besonderes meint. Dieser Gedanke kann sich auf Kant berufen. Kant hat im Rahmen seiner Kritik der Urteilskraft eine Rekonstruktion des Ästhetischen vorgeschlagen, die dieses als besondere Urteilsform begreift. Wenn im Titel des Buches der Begriff Urteilskraft auftaucht, so ist zunächst daran zu erinnern, dass damit ein Urteilen gemeint ist, bei dem nicht ein Besonderes unter einen vorgängig gegebenen Begriff subsumiert wird, sondern vielmehr ausgehend von einem Besonderen das Allgemeine erst gesucht wird. In ihrer ästhetischen Spielart geht es gleichwohl nach Kant gerade nicht darum, ausgehend vom Besonderen das Allgemeine zu suchen – wir verbleiben hier vielmehr bei der Wahrnehmung des Besonderen selbst ohne zum Allgemeinen fortzuschreiten. Anders als die sensualistische Tradition der Ästhetik sieht Kant darin allerdings keine Überschreitung begrifflicher Vermögen hin zu etwas bloß in der Wahrnehmung Gegebenen, an dem wir uns hedonistisch erfreuen würden; Kant unterscheidet strikt zwischen dem Sinnesurteil, also dem Urteil darüber, dass mir etwas in der Wahrnehmung gefällt, und dem ästhetischen Reflexionsurteil, also dem Urteil darüber, dass etwas schön sei.15 Sind unsere begrifflichen Vermögen auch im ästhetischen Reflexionsurteil im Spiel, so gewinnen sie hier doch eine andere Form als sie im epistemischen oder praktischen Weltbezug haben, insofern es uns nicht darum geht, etwas über den Gegenstand theoretisch zu erfahren oder etwas mit ihm praktisch anzustellen, sondern allein darum, ob seine Wahrnehmung lustvoll ist oder nicht – just deshalb sagt Kant, dass das ästhetische Reflexionsurteil durch interesseloses Wohlgefallen charakterisiert ist. Reflexiv ist ein solches Urteil für Kant deshalb, weil es eben nicht auf Eigenschaften des Gegenstandes bezogen ist, sondern weil die Wahrnehmung des Gegenstandes auf das Subjekt rückbezogen wird nach Maßgabe der Lust bzw. Unlust, die es dabei empfindet. Anders als man denken könnte, ist ein solches Urteil im Kontrast zum Sinnesurteil nicht subjektiv in dem Sinne, dass im Ur-

Vgl. zu dieser Differenz Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1974, S. 115f.

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teilen das Subjekt allein etwas über sich selbst aussagen würde. Vielmehr beansprucht es etwas über den Gegenstand auszusagen, wenn auch am Gegenstand im Ästhetischen nichts erkannt wird. Ästhetische Urteile sind für Kant von einer subjektiven Allgemeinheit und ihre Äußerung geht entsprechend mit dem Anspruch auf intersubjektive Gültigkeit einher. Das ist nicht im Sinne möglicher empirischer Übereinstimmungen verschiedener Urteilender gemeint und es ist auch nicht so gemeint, dass aus dem Urteilen eine normative Kraft für andere erwachsen würde, ihnen zuzustimmen. Es ist vielmehr so gemeint, dass es zu der Eigenart ästhetischer Urteile gehört, dass sie als die Urteile, die sie sind, mit einem solchen Anspruch einhergehen. Wir müssen also einen Unterschied zwischen Aussagen machen, die allein den Charakter von Berichten über unsere sinnliche Stimulation durch Gegenstände haben – Kant spricht hier auch vom Angenehmen – und Urteilen, die mit dem Anspruch auftreten, dass andere ihnen zustimmen mögen.16 Die weitergehenden Festlegungen von Kants Theorie – dass Kant das Ästhetische letztlich als freies Spiel der Erkenntniskräfte erläutert und sein Wert derart bestimmt, dass das Subjekt in der ästhetischen Wahrnehmung lustvoll sein Passen in die Welt erfährt – brauchen uns an dieser Stelle nicht zu interessieren; wichtig ist die Einsicht Kants, dass das Ästhetische eine Beurteilung des Besonderen als Besonderes meint. Angesichts dieser Bestimmung ist die Frage aber umso drängender, wie im Rahmen einer solchen Urteilsform der funktionale Charakter von Gebrauchsgegenständen, zu denen auch Smartphones gehören, bestimmt werden kann. Dazu bedarf es einer Bestimmung dessen, was Funktionen solcher Gegenstände sind, wobei man nicht länger davon ausgeht, dass die Art und Weise, wie eine solche Funktion erfüllt wird, austauschbar ist. Natürlich bestreiten auch herkömmliche funktionalistische Theorien nicht, dass Gegenstände Funktionen besser oder schlechter erfüllen können. Aber darum geht es im Folgenden nicht: Es geht darum, dass der Sinn entsprechender Funktionen in und durch Prozesse der Formgebung durch die jeweiligen Gegenstände neu- und weiterbestimmt wird. Das möchte ich in gebotener Kürze unter Rückgriff auf den klassischen Funktionalismus und zugleich als eine kritische Alternative zu ihm entwickeln.

16 Einer einflussreichen Linie der Kritik an Kants Ästhetik nach lässt sich gleichwohl einwenden, dass damit entsprechende ästhetische Urteile in bestimmtem Sinne durchaus Objektivität beanspruchen können. Vgl. dazu weitergehend Daniel M. Feige: »Ästhetische Objektivität. Eine hermeneutische Analyse«. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 63 (2015), S. 1048–1071.

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Der klassische Funktionalismus geht davon aus,17 dass im Lichte der Veränderungen von Produktion und Konsumption durch die industrielle Revolution auch ein neues Verständnis des Ästhetischen notwendig wird. Dieses neue Verständnis des Ästhetischen ist einerseits so verstanden worden, dass Gestaltung eine Leistung meint, die als Verlängerung, Verstärkung oder Kommunikation der funktionalen Rolle der in Frage stehenden Gegenstände zu begreifen ist. Paradigmatisch ist hier Peter Behrens, wenn er schreibt, dass »[g]erade der innere Organismus eines industriellem Zwecke dienenden Gebäudes […] klar erhalten bleiben [muss], und [dieser] die Ursache zu einer neuen, den Geist unserer Zeit bezeichnenden Schönheit werden« soll.18 Die Formgebung soll gewissermaßen die Funktion des Gegenstandes wie die funktionale Rolle seiner Teile angemessen kommunizieren. Andererseits ist dieser Gedanke aber mitunter auch so verstanden worden, dass Fragen der Gestaltung letztlich auf Fragen einer technischen Problemlösung durch Ingenieursleistung reduzierbar sind. In polemischer Zurückweisung des Begriffs der Gestaltung hat etwa Naum Gabo festgehalten, dass allein die »Neukonstruktion […] die neue Gestaltung [bedingt]. Der Ingenieur braucht lediglich den Gegenstand so folgerichtig zu konstruieren, dass alle seine Teile ihre Funktionen streng präzise erfüllen. Die gute Gestaltung des Gegenstandes ergibt sich dann aus der Konstruktion von selbst, sie ist mit ihr zwangsläufig verbunden.«19 Ein solcher Vorschlag versteht nicht länger Gestaltung als Kommunikation der Funktion, sondern schafft sie als eigenständige Lösung vielmehr ab. So verschieden die Gedanken auch sein mögen – ästhetische Kommunikation der Funktion auf der einen Seite, Reduktion von Gestaltung auf effiziente funktionale Konstruktion auf der anderen Seite: Beide kommen darin überein, dass es sich bei Designgegenständen letztlich primär um funktionale Gegenstände handelt. Beide Gedanken formulieren Varianten einer These, die vor allem von Louis Sullivan wirkmächtig auf den Begriff gebraucht wor-

Dieser Begriff, obzwar in designtheoretischen Diskussionen etabliert, ist natürlich ein unscharfer Begriff; von einem solchen klassischen Funktionalismus muss dabei mindestens der erweiterte Funktionalismus unterschieden werden, der mit der Offenbacher Hochschule für Gestaltung verbunden ist. 18 Peter Behrens: »Kunst und Technik«. In: Klaus Edelmann u. Gerrit Terstiege (Hg.): Gestaltung denken. Grundlagentexte zu Design und Architektur. Basel: Birkhäuser, 2010, S. 23–27, hier S. 23. 19 Naum Gabo: »Gestaltung?« In: Bauhaus 4 (1928), S. 2–6, hier S. 4. 17

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den ist: Dass die Form aus der Funktion zu folgen habe.20 Historisch in seiner Bedeutung kaum zu überschätzen, steht es heute um einen entsprechenden Funktionalismus denkbar schlecht; nicht erst die Debatten der jüngeren Designforschung haben gezeigt, was Design in Theorie und Praxis demgegenüber alles sein kann.21 Angesichts des nahezu einvernehmlichen Abgesangs auf den Funktionalismus mag es verwundern,22 dass ich abschließend mit Blick auf die Ästhetik von Smartphones eine insgesamt funktionalistische Position verteidigen werde. Dabei handelt es sich gleichwohl um einen nicht länger klassischen Funktionalismus, sondern um einen ästhetischen Funktionalismus, bei dem das Ästhetische weder als Verlängerung, noch als additives äußeres Moment der Funktion des Gegenstandes begriffen wird, sondern vielmehr als die jeweilige irreduzible Besonderheit der entsprechenden Gegenstände. Hat der klassische Funktionalismus recht darin, dass Designgegenstände bestimmten Zwecken dienen, so ist die Redeweise, dass die Form aus der Funktion folge, irreführend.23 Wenn Sullivan behauptet, dass es sich bei dem Slogan, dass die Form aus der Funktion folgt, um ein Gesetz handelt – und zwar ein Gesetz »of all things organic and inorganic, of all things physical and metaphysical, of all things human and all things superhuman, of all true manifestations of the head, of the heart, and of the soul«,24 so ist diese Redeweise nicht allein deshalb problematisch, weil in der just zitierten Liste so disparate Unterscheidungen aufgeführt werden, dass man wohl von mannigfaltigen

20 Vgl. Louis Sullivan: »The Tall Office Building Artistically Considered«. In: Lippincott’s Magazine 57 (1896), S. 403–409. 21 Vgl. dazu u. a. die Beiträge in Claudia Mareis, Gesche Joost u. Kora Kimpel (Hg.): Entwerfen, Wissen, Produzieren. Designforschung im Anwendungskontext. Bielefeld: transcript, 2010. 22 Zu den einschlägigen Kritikern gehören etwa Seeger und Müller-Krauspe. Vgl. Hartmut Seeger: »Funktionalismus im Rückspiegel des Designs«. In: Volker Fischer u. Anne Hamilton (Hg.): Grundlagentexte zum Design. Bd. 1. Frankfurt a. Ma.: form, 1999, S. 216–218; Gerda Müller-Krauspe: »Opas Funktionalismus ist tot«. In: Fischer/Hamilton (Hg.): Grundlagentexte zum Design. Bd. 1, S. 218–225. Zu den differenziertesten Auseinandersetzungen mit dem Funktionalismus gleichwohl unter primär kunsttheoretischer Perspektive gehört der einschlägige Aufsatz Adornos; vgl. Theodor W. Adorno: »Funktionalismus heute«. In: ders.: Kultur und Gesellschaft I. Prismen. Ohne Leitbild. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1977, S. 375–395. 23 Vgl. als Argumente für eine Aufhebung des Begriffs der Funktion im Begriff des Zwecks wie auch als weitergehende Argumente gegen diese Formel auch die Analyse in Andreas Dorschel: Gestaltung. Zur Ästhetik des Brauchbaren. Heidelberg: Winter ,2003. 24 Vgl. Louis Sullivan: »The Tall Office Building Artistically Considered«. In: Lippincott’s Magazine 57 (1896), S. 403–409, hier S. 407f.

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Kategorienfehlern sprechen muss – wenn sie denn überhaupt verständlich ist. Die Redeweise von einem Gesetz ist vielmehr deshalb problematisch, weil es schlichtweg nicht stimmt, dass in einer Beschreibung der Funktion schon irgendeine Bestimmung der Form der entsprechenden Gegenstände angelegt wäre. Richtig ist an der Formel, dass ein gelungener Designgegenstand – anders als eine Ästhetik des Designs, die den Begriff der Ästhetik mit so etwas wie visueller Wahrnehmung verwechselt –, nicht Funktion plus Form ist. An der Kritik des Ornaments, so problematisch sie etwa in dem einschlägigen Manifest von Adolf Loos vorgetragen wird,25 ist der Gedanke durchaus aufschlussreich, dass ein Designgegenstand tendenziell misslungen ist, wenn seine ästhetischen Aspekte eine bloß äußerliche Zutat darstellen.26 Aber so dürfen Fragen der Formgebung gerade nicht verstanden werden. Man ist erst in der Lage, die genuin eigene Leistung des Designs wertzuschätzen, wenn man festhält, dass es sich hier nicht um eine ›Aufhübschung‹ von Gegenständen handelt, die auch rein funktional beschrieben werden können. Denn eine ›rohe‹ Funktion gibt es nicht. Gestaltung meint deshalb die Neu- und Weiterbestimmung der Funktion im Medium von Prozessen der Formgebung. Neubestimmung deshalb, weil kein Designgegenstand, der gelungen ist, redundant ist mit Blick auf frühere Designgegenstände. Er erarbeitet die Funktionen seines Gegenstandes in und durch seine Formen jeweils in eigener Weise, wenn er gelingt; in einer pointierten Umkehrung von Sullivans Formel sollte man deshalb aus der Perspektive einer Ästhetik des Designs eher sagen, dass die Funktion aus Formgebungsprozessen folgt und nicht umgekehrt. Problematisch wäre daran freilich weiterhin, dass hier zwei Seiten einer Medaille künstlich in dualistischer Manier aufgespalten werden. Weiterbestimmung deshalb, weil jeder Designgegenstand natürlich an frühere Designgegenstände und damit frühere Erarbeitungen von Funktionen im Medium von Formgebungen anschließt. Kurz gesagt: Die Form folgt nicht schon aus der Funktion, noch ist sie ein äußerliches Ornament der Funktion. Design ist der Name einer Praxis, der eine ästhetische Neuerfindung wie Weiterbestimmung der Funktion in und durch Formgebungen darstellt. Ist die Form in der Kunst eine eigenlogisch konstituierte Form derart, dass die Elemente eines Kunstwerks sich wechselsei-

25 Vgl. Adolf Loos: »Ornament und Verbrechen«. In: Fischer/Hamilton (Hg.), Grundlagentexte zum Design. Bd. 1, S. 114–120. 26 Vgl. weitergehend dazu auch noch einmal Adorno: »Funktionalismus heute«.

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tig konstituieren, so sind Designgegenstände Formungen von Funktionen.27 Ästhetisch sind Designgegenstände deshalb nicht an erster Stelle darin, dass sie uns visuell, akustisch oder haptisch affizieren – Andreas Dorschel hat im Anschluss an Benjamins Anmerkung vor allem zu Gebäuden, dass diese uns weniger durch ein »gespannte[s] Aufmerken als [durch ein] beiläufige[s] Bemerken«28 ansprechen, überzeugend darauf hingewiesen, dass die Wahrnehmung von Gebrauchsgegenständen »zerstreut«29 sein kann. Die Ästhetik des Designs ist weder eine Ästhetik der Kontemplation, noch eine Ästhetik der Kunst, als vielmehr eine Ästhetik des Gebrauchens – und zwar derart, dass der Gebrauch in und durch jeweils bestimmte Gegenstände bestimmt wird. Der Gedanke, dass Design dahingehend irreduzibel geformte Funktion ist, dass es Neuerfindung von Funktionen im Medium von Prozessen der Formgebung ist, behandelt Designgegenstände also dahingehend als ästhetische Gegenstände, dass sie nicht austauschbar sind hinsichtlich der Funktion, die sie erfüllen; über die Ästhetik von Designgegenständen nachzudenken heißt damit immer auch, Funktionen von Gegenständen als etwas wesentlich Geschichtliches zu verstehen und damit als etwas, dass sich in seinem Sinn verändert; wer nur sagt, dass Stühle zum Sitzen da sind, ohne Bezug zu nehmen auf die Art und Weise, wie verschiedene Stühle etwa diese Funktion jeweils erfüllen, ist noch jenseits der Ästhetik aber auch jenseits dessen, worum es in Gestaltung geht. Handeln damit Designgegenstände im Medium von Formgebungen Funktionen neu aus, so sind sie üblicherweise in die Praxis im Umgang mit ihnen versenkt und damit gewissermaßen unsichtbar.30 Aber in dieser Erläuterung steckt bereits eine Bestimmung der weitergehenden Rolle, die Design in der menschlichen Welt spielt: Es handelt sich hier um eine heute grundlegende Form, in welcher der Mensch seine Welt erschließt. Als spezi27 Ich möchte hier dezidiert festhalten, dass ich mit dieser Analyse nicht bestreite, dass Designgegenstände redundant sein können und ihr jeweiliger Unterschied allein ein vermeintlicher Unterschied ist. Der hier von mir formulierte Vorschlag ist gleichwohl ein Vorschlag zu einer normativen Theorie des Designs derart, dass ich den Versuch unternehme, die wesentliche Rolle zu bestimmen, die Design heute im Rahmen der menschlichen Welt einnimmt. 28 Walter Benjamin: »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit«. In: ders.: Gesammelte Schriften. Bd. I.2, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1997, S. 471–508, hier S. 505. 29 Dorschel, Gestaltung, S. 69. 30 Siehe neben der Bemerkung zu Heidegger in der ersten Fußnote auch Lucius Burckhardt. »Design ist unsichtbar«. In: Edelmann/Terstiege (Hg.): Gestaltung Denken, S. 211–217.

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fisch geformte Funktionen müssen Designgegenstände als ästhetische Formung unserer Praxis verstanden werden und damit als ästhetisch-praktische Welterschließung.31 Im Medium der Formung erarbeitete Funktionen geben unserer Welt somit selbst eine bestimmte Form. Mit einer solchen im weitesten Sinn ästhetisch-empraktischen Perspektive ist die Ästhetik von Smartphones natürlich in bestimmter Weise noch nicht erreicht. Diese spezifischer in den Blick zu nehmen, würde vor allem heißen, sich der Frage zuzuwenden, wie die Vereinigung vormals funktional getrennter Arten von Gegenständen – Telefon, MP3-Players, Fotoapparat usf. – in und durch Smartphones zustande kommt und ob diese anders zu beschreiben wäre als im Sinne eines »Plurifunktionalismus«32 von Smartphones. Auf diese Fragen kann die voranstehende Analyse keine Antworten geben. Wenn sie allerdings überzeugend ausgefallen sein sollte, so hat sie eine veritable Grundlage für eine Antwort auf die Frage entwickelt, was wir unter dem Begriff einer Ästhetik von Smartphones sinnvollerweise überhaupt nur verstehen können.

Ich beziehe mich hier erneut auf Heideggers Zeuganalyse, die ich weiterhin designtheoretisch wende. 32 Roman Jakobson: Poetik. Ausgewählte Aufsätze 1921–1971. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1979, S.8. 31

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Zeitlichkeit aktualisiert Trost der Philosophie auf dem Smartphone

Alles Leben spielt sich in Zellen ab. Mit diesem Allgemeinplatz möchte ich die Ästhetik des Smartphones spekulativ erschliessen. Das führt zu Raum und Zeit als Formen, die Beziehungen zwischen Gerät, Mensch und Umwelt organisieren. Die Bezeichnung ›Handy‹ betont Verfügbarkeit. An dem Ort, an dem sich Körper und Hand befinden, dort ist auch das Handy. Signalisiert wird damit eine räumliche Dimension. Im Unterschied zum Wort ›Smartphone‹. Es ruft zeitliche Aspekte auf, indem es eine mentale Eigenschaft für sich reklamiert. Das Gerät wird durch die Eigenschaft, klug zu sein, charakterisiert, so wie der Mensch in der Antike seinen Unterschied, seine Differenz gegenüber anderen Tieren, mit der Eigenschaft der Rationalität auszeichnete. Durch die Begabung mit Vernunft unterschied sich der Mensch von anderen Lebewesen wie Tieren und Pflanzen, die wie der Mensch nach antiker Vorstellung eine Seele haben. Der Vergleich zwischen der Vernunft als Kennzeichnen des Menschen und der Klugheit des Geräts stellt Fragen: Wie ist die Verknüpfung von Klugheit und Gerät zu denken? Ist das Gerät selbst klug? Findet eine Übertragung von mentalen Eigenschaften zwischen Nutzendem und Benutztem statt? Angesprochen ist etwas, das sich nicht auf einmal, sondern im Verlauf, erst in der Nutzung, in einer Handlung zu erkennen gibt, in einem zeitlichen Prozess. Die Verbindung zwischen Zeit und Seele im Unterschied zur Verbindung von Raum und Körper ist bei den folgenden Überlegungen vorausgesetzt. Es wird rasch kompliziert, wenn der Begriff der ›Ästhetik‹ erörtert wird. Denn im Hintergrund wirkt die Unterscheidung der transzendentalen Ästhetik zwischen dem Raum als Form der äußeren sowie der Zeit als Form der inne-

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ren Erfahrung.1 Dies bietet eine Referenz, um die Ästhetik des Smartphones zu erfassen, und es wird zu diskutieren sein, ob und wie das Smartphone die Grenzen der Unterscheidung von Raum und Zeit konfiguriert. Stehen prinzipielle Begriffe auf dem Spiel, wenn wir ein modisches Gerät analysieren, verändert es die Bedingungen unseres Erkennens von uns selbst und der Welt um uns? Wenn das der Fall ist, dann ist ein Bezug auf Transzendentales und den Apparat der europäischen Philosophie sinnvoll. Denn es könnte sich zeigen, dass eben die klassischen Unterscheidungen von Raum und Zeit, Innen und Aussen auf dem Prüfstand stehen und durch eine aktuelle Bestimmung von Sein abgelöst werden, wie sie zum Beispiel Karen Barad vorschlägt.2 Dann führt die Ästhetik des Smartphone zu einer Sprengung der Zellen, in denen sich das europäische Denken bewegt. Der Gedanke, dass aktuellen technischen Geräten destruktive Kräfte innewohnen, ist allerdings eine Konstante in medienhistorischen Analysen, die sich dem Technikdeterminismus verpflichten. Das stimmt skeptisch. Indem es eine klassische mentale Eigenschaft im Namen mit sich führt, weist sich das Smartphone als etwas aus, das den Binnenbereich betrifft, das, was ›Seele‹ oder ›Geist‹ genannt wird. Der Name ›Smartphone‹ führt eine Aufwertung der Stimme als Ausdruck von mentalen Vorgängen gegenüber dem toten Buchstaben mit sich. Grundiert wird so die klassische Unterscheidung von zeit- und raumbasierten Künsten und damit die Stimme der Zeit und die Schrift dem Raum zugeordnet. Es klingen christliche Motive an. Sie privilegieren die Seele, die Ausrichtung mentaler Zustände gegenüber der Positionierung im Außenraum. Die Namensgebung des Smartphones akzentuiert gegenüber dem Handy zeitliche Strukturen im Spektrum von zeitlichen und räumlichen Orientierungen. Gestaltet das Smartphone die Zeit so, dass sie nicht als Zelle oder Mietskaserne – wie bei der Diskussion der Relativitätstheorie gesagt wurde – erfahren wird, sondern frei, vielleicht so frei wie der ›zeit-freie‹ Geist der platonisch-christlichen Metaphysik?3 Diese Fragen sind

Vgl. Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1983, S. 75, 80: »Der Raum ist nichts anders, als nur die Form der Erscheinungen äusserer Sinne [...]. Die Zeit ist nicht anders, als die Form des innern Sinnes [...].« 2 Vgl. Karen Barad: »Dem Universum auf halbem Weg begegnen: Realismus und Sozialkonstruktivismus ohne Widerspruch«. In: dies.: Verschränkungen. Übers. v. Jennifer Sophia Theodor. Berlin: Merve, 2015, S. 14, 52f., 57–62. 3 Vgl. Werner Beierwaltes: Das wahre Selbst – Studien zu Plotins Begriff des Geistes und des Einen. Frankfurt a. M.: Klostermann, 2001, S. 21. 1

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mit einem Icon auf dem Startbildschirm meines Fairphones verknüpft. Es lädt eine Seite, die aus einem kostbaren Codex gescannt worden ist, einer lateinischen Handschrift des Trost der Philosophie.4 Der Text entstand zwischen in dem Halbjahr zwischen Winter 524 und Sommer 525. Anicius Manlius Severinus Boethius, Politiker, Philosoph und Übersetzer, ist sein Verfasser. Er wurde im Sommer 525 hingerichtet.5 Die Consolatio oder Trostschrift thematisiert die Überwindung der Mauern einer Gefängniszelle durch philosophische Spekulation.6 Die Argumentation des Textes privilegiert mentale Eigenschaften gegenüber körperlichen. Das ist eine Analogie zur klug-modischen Geschicktheit des Smartphones gegenüber der körperlichen Zuhandenheit der Generation früherer Funktelefone wie dem Handy. Die Analogie nutzt eine Interpretation des Namens ›Smartphone‹. Der Name konvergiert mit der Interface-Gestaltung des Geräts. Seine Bedienung erfolgt mittels sanfter Berührung. Die Fingerkuppen bestreichen die Oberfläche des Smartphones, als ob sie im Einklang sind mit der Stimme, dem Hauch einer Seele. Innerhalb der Geräte, die als Cell Phones oder Funktelefone definiert werden, ist das Smartphone durch das Interface, das streichend und wischend bedient wird, unterschieden. Die mechanischen Aspekte der Eingabe mittels räumlich gestalteter Tastaturen werden beim Smartphone optischgraphisch ersetzt. Die Mechanik wird nivelliert zugunsten optischer Modulationen. Deren Flüchtigkeit teilt das Smartphone mit mündlicher Sprache und setzt sich ab vom Drücken, Hämmern und Kratzen, das Tastatur und Schreibfeder mit sich führen. Das Smartphone unterscheidet sich von anderen Funktelefonen durch Gewicht und Gestalt, durch die Interfacegestaltung, und dadurch dass es zwar als Funktelefon funktionieren kann, aber nicht muss. Es kann auf die Verortung in der Funkzelle verzichten, die für andere Funktelefone die Bedingung dafür ist, dass sie senden und empfangen können.

Vgl. Anicius Manlius Severinus Boetius: De consolatione Philosophiae. Bibliothèque nationale de France, Département des Manuscrits, Latin 6405 (1401–1425), online unter http://gallica.bnf.fr/ark:/12148/btv1b8490090z/f01.image, zul. abgeruf. am 31. März 2017. 5 Vgl. Fabio Troncarelli: »Boethius from Late Antiquity to the Early Middle Ages«. In: Thomas Böhm, Thomas Jürgasch u. Andreas Kirchner (Hg.): Boethius as a paradigm of late ancient thought. Berlin: De Gruyter, 2014, S. 213–230, hier S. 219. 6 Vgl. Andreas Kirchner: »Die Consolatio Philosophiae und das philosophische Denken der Gegenwart«. In: Böhm/Jürgasch/Kirchner (Hg.): Boethius as a paradigm of late ancient thought, S.171–212. 4

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›Cells‹ sind nummerierte Funkzellen, in denen mobile Kommunikationsgeräte fehlerfrei senden und empfangen können. Das Senden und Empfangen geschieht mittels elektromagnetischer Wellen, durch Nutzung elektromagnetischer Felder. Diese sind für Menschen nur indirekt, mittels Geräten wie dem Kompass wahrnehmbar.7 Ebenso wie Radio und Fernsehen rufen Funktelefone Vorstellungen auf, die historisch mit dem Äther konnotiert werden, einer Sphäre, die im Unterschied zur festgefügten Erde oder dem flüssigen Wellengeschehen der See, Luftiges und eben nicht-Fassbares aufrufen. Diese Sphäre wird im 20. Jahrhundert zum Luftraum. Er ist in wirtschaftlichen und kriegerischen Konflikte Gegenstand internationaler Rechtsprechung und Verwaltung und wird damit verfügbar.8 Funktelefone sind Faktoren der Rationalisierung und verwaltenden Unterwerfung eines Bereichs, der zwar in großen kulturellen Traditionen astronomisch erforscht wurde, aber vergleichbar mit der Tiefsee verschlossen gegenüber Nutzung und direkten Verfügung blieb. Dementsprechend fungierte der Bereich als Fläche für mythische und religiöse Entwürfe. Die Orientierung in die Vertikale, zu Antennen oder Satelliten, die Radio und Fernsehen im 20. Jahrhundert mit sich führten, trifft auf Funktelefone im Allgemeinen zu. Sie richten sich nach Antennen und Verstärkern in der Höhe aus. Eingetragen sind in das tragbare elektronische Gerät räumliche Vektoren und eine Privilegierung der Vertikalen. Das Smartphone ist ein Funktelefon, das jedoch auch mittels eines WLANs senden und empfangen kann. Damit ist die Nutzung von Orientierung in die Vertikale nicht allein maßgeblich. In diesem Sinne stellt das Gerät eine komplexe Kombination dar und damit eine Vielheit von Orientierungen. Der Wechsel zwischen Optionen ist konstitutiv für das Gerät. Es ist ein Gerät, das unterschiedliche Geräte vereint und damit den Wechseln zwischen Nutzungsweisen anbietet: Zwischen Funknetzen und lokalen drahtlose Netzen, zwischen Medien des Hörens und Sehens, dem Aufnehmen und Abspielen von Sound, Bildern und Texten. Das Interface kann durch Berührung oder durch Spracheingabe bedient werden. Der Trend von Mobile First zu Voice First bedeutet hier eine wachsende Gewichtung zeitbasierter gegenüber raumbasierter Zeichensetzung.9 Die These, die wir aus dem

Vgl. Nils Röller: Magnetismus – Eine Geschichte der Orientierung. München: Fink, 2010. Carl Schmitt: Der Nomos der Erde im Völkerrecht des Jus Publicum Europaeum. Köln: Greven, 1950, S. 285–299. 9 Vgl. Jürg Müller: »Mobile World Congress 2017 – Sag mir, was du willst«. In: Neue Zürcher Zeitung, 27. Februar 2017, S. 21; online am 26. Februar 2017 unter https://www. 7 8

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Namen abgeleitet haben, wird so bestätigt. Wir geben zu bedenken, dass sie derart bestätigt wird, dass dies zur Skepsis einlädt. Wird beim Smartphone die Dominanz der Schrift, als materieller-räumlicher Fixierung von Zeichen obsolet, oder ist das Gegenteil ist der Fall? Handelt es sich um eine smarte Verwendung leichter, flüchtiger Prozesse, die suggerieren ›geschwind‹ handeln zu können, während verschleiert im Hintergrund, auf Ebenen, die nicht unmittelbar erfahrbar sind, Prozesse tätig sind, die das Gegenteil von Flüchtigkeit avisieren, indem sie dokumentieren, so fixieren, dass Einzelne nicht löschen können, was sie flüchtig eingegeben haben? Das Verhältnis von räumlicher Fixierung und zeitlicher Bewegung in der Ästhetik des Smartphone möchte ich untersuchen, indem ich einen historischen Hintergrund aufspanne, der gestattet, auf einen Patch zu fokussieren. Dazu aktiviere ich ein Icon auf dem Startbildschirm meines Smartphones. Es erscheint auf dem Display eine gelblich weiße Fläche, die mit bräunlicher Tinte zwischen 1401–1425 von Nicolas Garbet beschrieben worden ist. Auf dem linken äußeren Rand der Seite sind ebenfalls mit brauner Tinte Notizen vermerkt. Es sind Anmerkungen, die von Jean d’Angoulême, dem Sohn von Louis d’Orléans, verfasst wurden. Der Kopist des Textes, Nicolas Garbet, schrieb ab und schmückte den Text. Sein blaublütiger Zögling Jean, der zweiunddreißig Jahre lang Geisel der Engländer war, notierte dazu in ähnlichen Tinte Randbemerkungen. Die Buchseiten, die Garbet schrieb und mit Blumenmotiven schmückte, zeigen eine feine Handschrift, mit der sich der Hof des Herzogs präsentierte.10 Die Buchstaben O und A sind hervorgehoben, deren Zwischenräume sind blau gefüllt, auf ihnen verlaufen zarte weiße Zeichnungen von Gewächsen. Die Balken der Buchstaben sind mit weißen und rosa Linien ausgezeichnet. Umgeben sind beide Buchstaben mit einem schwarzen Rahmungen. Die Rahmung wird berührt von Darstellungen rankender Pflanzen, deren dünne Stiele in vierblättrigen Blüten münden. Unterhalb des Blatts ist zu lesen ›26v/156‹. Dreiecke auf der linken und auf der rechten Seite ermöglichen es, weitere Seiten zu laden. Das rechte Dreieck führt zu ›27r‹, der nächsten Seite; das linke Dreieck zu ›26 r‹, zur vorigen. Zu sehen sind Pergamentseiten eines Codex, der in Paris für die Bibliothèque Nationale digitalisiert worden ist. ›Bequem‹ laden Buttons ein, Nachrichten betreffs dieses nzz.ch/wirtschaft/virtuelle-assistenten-sag-mir-was-du-willst-ld.147860, zul. abgeruf. am 31. März 2017. 10 Vgl. http://gallica.bnf.fr/ark:/12148/btv1b8490090z/f60.image, zul. abgeruf. am 31. März 2017.

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Digitalisats per E-Mail, Twitter oder Facebook an die Bibliothek zu senden. Diskutierbar unter dem Aspekt der Ästhetik des Smartphones wird nun die Geschichte der Trostschrift, deren Text über 1500 Jahre tradiert wurde, über Jahrhunderte, in denen technische Veränderungen die Gestalt der Buchstaben, ihre Aufzeichnung und deren Zeichenträgern verändert haben. Auf dem Smartphone drücke ich dreieckige Buttons, um von einer beschriebenen Seite zur nächsten zu gelangen. Alternativ dazu kann ich die http-Adresse verändern und so durch numerische Eingaben gezielt Seiten des Codex aufrufen. Jede Seite ist als Bild gespeichert. In der Reclam-Ausgabe des Textes wäre stattdessen eine Seite umzuschlagen (er ist nach einem Vergleich von vorliegenden modernen lateinischen Ausgaben im 20. Jahrhundert ins Deutsche übersetzt worden).11 Hierin ähnelt der moderne Druck dem historischen Kodex. Der wird heute mit Handschuhen unter Aufsicht eines Bibliothekars umgeblättert. Das ist dem historischen Text weniger angemessen als das Scrollen, dem Ein- und Ausrollen von Papyrus. Der Text erwähnt Griffel und Wachstafel. Der Griffel ist ein Attribut, das den Ich-Erzähler in seiner Zelle vor der Hinrichtung charakterisiert. Er ist im Begriff, ein Klagegedicht zu formulieren, als ihm eine weibliche Gestalt erscheint. Sie trägt Bücher und ein zerschlissenes Gewand. Später im Verlauf des Textes erkennt der Ich-Erzähler, dass diese Figur die Dame Philosophie ist. Ihre Größe wechselt, auch der Text wechselt bei der Anordnung der Zeilen. Er ist ein prosimetrum, das Gedichte in Versform und Absätze in Prosa aufeinander folgen lässt. Die aktuelle Forschung bewertet diese Form unterschiedlich als nicht abgeschlossen, andere als komponiert, dritte wie Marenbon sprechen von einem »genuinen Dialog«.12 Gegenstand des Textes ist die Frage, ob das menschliche Schicksal durch die Vorsehung der göttlichen Weisheit, die zeit-frei operiert, im vornherein bestimmt ist. In einem Gedicht verwendet der Autor den Topos der tabula rasa. Nach Auffassung der Stoa ähnelt die menschliche Seele, wenn sie auf diese Welt gelangt, einer unbeschriebenen Wachstafel. Während des Lebens wird sie mit Eindrücken beschrieben wie eine Wachstafel mit einem Griffel. Boethius zitiert diese Überlegung, um sich von ihr abzusetzen. Er ist Platoniker oder genauer Neo-Platoniker und argumentiert, dass die Seele vor der Geburt bereits geformt wurde. Der Autor 11 Vgl. Anicius Manlius Severinus Boethius: Trost der Philosophie. Übers. v. Karl Büchner. Stuttgart: Reclam, 2016, [III m. 4], S. 91. 12 John Marenbon: Pagans and philosophers: the problem of paganism from Augustine to Leibniz. Princeton: Princeton University Press, 2015, S. 52.

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thematisiert die Grenze des irdischen Lebens mittels der Schreibwerkzeuge seiner Zeit. Er vertritt dabei jedoch eine gegenteilige Haltung, die sich nicht in einem einfachen Bild darstellen lässt. Ihm würde heute eine Theorie korrespondieren, die sich abgrenzt von Versuchen, die Psyche oder das Gehirn als Zentralrechner oder als Smartphone aufzufassen. Zugleich sind Bücher, Texturen und Schreibwerkzeuge für den spätantiken Autor Mittel, um die Situation der Gefangenschaft und der bevorstehenden Hinrichtung zu bewältigen. Das gelingt ihm, indem er einen Dialog mit der Dame Philosophie formuliert. Dieser Dialog führt die Möglichkeiten philosophischer Therapie vor, zugleich lotet er sprachlich die Optionen von zeitlicher Modulation aus, und zwar im mehrfachen Sinne: Einmal den Unterschied zwischen argumentierender Prosa, die auf eine Erkenntnis zielt, die nicht sprachlich ausgedrückt werden kann, aber darauf drängt; und dann führt er zum Zweiten aus, wie Zeit poetisch, d.h. durch Silbenmessung, durch Metrik gestaltet werden kann. Er formuliert Gedichte, die in unterschiedlichen Versmaßen demonstrieren, wie mit sprachlichen Lauten rhythmisch beschleunigt und verlangsamt werden kann. Die Trostschrift des Boethius wurde über Jahrhunderte in diversen medialen Formaten überliefert. Der Text formuliert das Beispiel einer philosophisch-künstlerischen Haltung in einer existentiellen Situation. Boethius gestaltet das Argument, dass die Gefangenschaft in der Zelle, in der sich der Ich-Erzähler befindet, durch Spekulationen von Zeit-Freiheit aufgehoben werden kann. Die ersten Fassungen des Textes waren temporär auf Wachstafeln fixiert, die nach der ersten Abschrift glatt gestrichen wurden. Nachdem die Zeichen der Wachstafel auf Haut oder Papyrus übertragen worden sind, wurden die Zeichen mit einem Schaber ausgestrichen und die Tafel konnte erneut beschrieben werden. Die zahlreichen Bilder, die mit einer Bildsuche mittels Google zum Autoren erscheinen, zeigen den Verfasser umgeben von gebundenen Büchern, auch bei der Niederschrift am Schreibpult oder an einem Tisch, so als hätte er selbst in einem Kloster auf Pergament geschrieben. Wahrscheinlich ist (aufgrund der im Text beschriebenen Situation), dass der Verfasser von eigener Hand die Zeichen von der Wachstafel auf ein stabileres Trägermedium überführte. Verfasst wurde der Text während des sechsten Jahrhunderts, einer Zeit, in der Papyrus und Pergament nebeneinander verwendet wurden.13 In beiden Fällen wird zu dieser Zeit die Bewegung des Rol-

Vgl. Theodor Birt: Die Buchrolle in der Kunst. Archäologisch-Antiquarische Untersuchungen zum antiken Buchwesen. Leipzig: Teubner, 1907, S. 34, 36.

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lens prägend gewesen sein, eine Tätigkeit, von der das englische Wort ›scroll‹ abgeleitet ist, das eingedeutscht worden ist und heute die Bewegungen entlang der Vertikalen von Dokumenten bezeichnet, die in digitaler Form auf Bildschirmen erscheinen. Die Verwendung von gerolltem Pergament neben gerolltem Papyrus ist gleich wahrscheinlich. Nicht üblich war in dem Zeitraum von 523–24 die Bindung der Seiten. Insofern ist das Scrollen am Bildschirm dem historischen Medienträger angemessen; die Tätigkeit des Blätterns von Seiten, wie es der Codex und das Reclam-Buch mit sich führen, allerdings nicht. Der Text der Trostschrift wurde vermutlich schon in der Antike durch graphische Darstellungen von Pflanzen oder von Säulen ergänzt. Sie hatten die Funktion, Passagen in Prosa von den Passagen in Versform abzugrenzen. Erhalten sind Abschriften aus der Zeit Karls des Großen, einer Zeit der Standardisierung der Handschriften und der Wissensvermittlung.14 Die Handschrift, die auf meinem Fairphone gespeichert ist, ist durch eine medientechnische Zäsur davon unterschieden, und zwar den Umbruch des 12. Jahrhunderts. De Hamel beschreibt ihn so: Before the 12th century, monks would generally read books alout to themselves, from end to end, slowly meditating and ruminating on the text. A monk could spend several months or even years studying a single book and could still hope to master most of his monastery’s library in a lifetime. By about 1150, however, the number of works in circulation had rapidly become far too great for any person to manage. New kinds of books were therefore devised: glossed texts with selected marginal quotations for quick references, encyclopaedias, concordances, florilegia, digests and indexes … colored paragraph-marks, running titles along the top of pages, sometimes even folio numbers, all of which were the result of a sudden excess of knowledge. This phenomenon has some parallels with the information explosion of the 21th century, with innovations in the ways of searching texts … The changes were also due to an increase of lay readership of books, including literate administrators and lawyers. Unlike monks, these were often people in a hurry.15

14 Vgl. Christian Kiening: »Die erhabene Schrift – Vom Mittelalter zur Moderne«. In: ders. u. Martina Stercken (Hg.): Schrifträume. Dimensionen von Schrift zwischen Mittelalter und Moderne. Zürich: Chronos, 2008, S. 8–126, hier S. 42f. 15 Christopher de Hamel: »The European Medieval Book«. In: Michael F. Suarez (S.J.) u. H.R. Woudhuysen (Hg.): The Oxford Companion to the book. Oxford: Oxford University Press, 2010, S. 38–51, hier S. 41.

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Die Trostschrift ist bereits früh gedruckt worden. Neben Inkunabeln verzeichnet die Forschung einen Druck von 1501, der durchgehend mit Holzschnitten illustriert ist. Der lateinische Text liegt heute in einer neuen Ausgabe von Moreschini vor. Der Button auf dem Startbildschirm des Fairphones verschränkt paradox historische Textualität mit der Erscheinungsform auf dem mobilen Gerät. Unter dem Gesichtspunkt der Mediengeschichte bezeichnet das Scrollen durch die digitale Dokumente treffender die Bewegung des Lesens in der Antike und damit auch zur Zeit der Entstehung des Textes als das Blättern. Das Blättern, das auf dem Browser mittels Dreiecken simuliert wird, ist der historischen Medienform des Buches, dem Codex angemessener, nicht aber der Praxis des Schreibens und Lesens auf Papyrus oder Pergament, das in Rollenform abgelegt wurde. Das ist anekdotisch interessant und zugleich Symptom einer paradoxalen raumzeitlichen Praxis, die das Smartphone installiert, und zwar eine Konvergenz von omnipräsenter Verfügbarkeit und Nutzlosigkeit. Digitalisate von Texten sind mit dem Smartphone überall abrufbar und lesbar. Die Reise an den Aufbewahrungsort der kostbaren Handschrift scheint nicht notwendig. Das gilt für Digitalisate, die im Internet abrufbar sind, allgemein. Ebenso gilt allgemein für Digitalisate, dass historische Daten neben Downloads aktueller Nachrichten gespeichert werden können. Spezifisch ist, dass ubiquitär, an jedem Ort diese Downloads zur Verfügung stehen. Im Fall dieses Textes radikalisiert sich Folgendes: Der Download motiviert eine temporäre Verschiebung. Der Text ist präsent, omnipräsent und zugleich nur rudimentär rezipierbar im Unterschied beispielsweise zur Reclam-Ausgabe des Textes. Der kostbare Codex wird im Format des Smartphone-Displays zwar sichtbar, aber ist kaum für die Analyse des Texts nutzbar. Das Smartphone präsentiert die prächtige Illumination als etwas, das auf andere Nutzungen verweist, die unabhängig des Smartphones stattfinden: Als Ausdruck, am hochlösenden Bildschirm oder in der Bibliothek selbst, in der das Original aufbewahrt wird. Die Ubiquität der Verfügbarkeit, die das Smartphone mit sich führt, führt zeitliche und räumliche Verschiebungen der Rezeption mit sich, durchkreuzt die unmittelbare Rezeption des Verfügbaren, verzögert diese und erzwingt Entscheidungen für Orte und Zeiten, an denen das Digitalisat oder das Original genutzt werden kann. Das Digitalisat der Prachthandschrift ist durch Downloads im Smartphone zwar überall verfügbar, aber nicht für die Erforschung nützlich. Es schmückt den Startbildschirm und damit den Besitzer des Smartphones. Die Ästhetik des Smartphones operiert mit dem Para-

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digma des Aufschubs, der Dislozierung des Dokuments an Raumzeitstellen, die der Rezeption angemessener sind. Was ist aber dem Text angemessen? Die Wachstafel, die Schriftrolle aus Papyrus, die mit ausgestreckten Händen gelesen wird? Der Codex, der an Pult und Tisch gelesen werden muss? Das Reclamheft, das den Text für den Transport im Tornister der Soldaten oder die Schüler in staatlichen Lehranstalten eingerichtet hat? Ein Original ist nicht vorhanden. Abschriften verweisen auf Abschriften, Digitalisate als Kostproben verweisen auf analoge Formen, von denen nicht gesagt werden kann, welche Form dem Text die angemessenste ist, und zwar in Hinblick auf die Materialität des Zeichenträgers und in Hinblick auf die Prozesse, die diese Zeichen auslösen, hinsichtlich der Lektüre, des Aufstiegs der Seele über die physikalischen Grenzen hinweg. Das Smartphone verweist mit der nutzlosen Verfügbarkeit, die es bietet, auf die Frage des angemessenen Studiums. Das weckt Vorstellungen von eigentlichen Nutzungen, Nutzungen, die einem Wesen gemäß sind, sei es eines Textes wie der Trostschrift oder von Kunstwerken überhaupt. Die Frage nach einem Wesen einer Zeichenformation ruft Erwartungen an etwas Substantielles, Fixiertes, Unveränderliches auf, die selbst fragwürdig sind. Das akzentuiert die Reflexion, was für welches mediale Format die eigentliche Nutzung ist? Die Geschichte der Trostschrift zeigt, dass die Fixierung auf ein Original vergeblich ist, da es rekonstruiert werden muss. Diese These beruht auf Überlegungen zu historischen Medienwechseln, die die Funktion eines Textes relativ zu dessen Trägermedium und dem jeweiligen Kontext analysiert. Vorausgesetzt ist damit die Möglichkeit historischer Differenzierung. Ist sie dem Smartphone angemessen? Ist es sinnvoll, das Smartphone in Hinblick auf seine Funktion als Träger von Schriftzeichen zu definieren? Dem Smartphone als System ist bereits strukturell der Wechsel zwischen medialen Formaten eingeschrieben, so dass nun erneut die räumliche oder die zeitliche Orientierung des Geräts diskutiert werden muss. Wie verhält sich das Gerät zur räumlichen Fixierung, zur Spur, die die Schrift im Unterschied zur Stimme und zur bestehenden Navigation mittels ›voice‹ verhält? Im Fall der Trostschrift wird jedes Mal, wenn ich das Icon anklicke, ein Ping an die Bibliotheque Nationale gesendet. Das kann ausgewertet und als Profil modelliert werden. Zugriff zu diesem Profil erhalte ich nicht selbstverständlich. Die Ästhetik des Smartphone führt mittels der leichten Verfügbarkeit dazu, dass Modelle von mir als Nutzer erstellt werden können, über die ich nicht frei verfüge. Die Forschungsgeschichte der Trostschrift diskutiert, ob der Autor im Text eine genuine, zentrale Aussage formuliert oder ob er einen Dialog inszeniert,

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bei dem offen bleibt, bzw. bei dem es der Leserschaft, die über Jahrhunderte auch eine Zuhörerschaft war, offen steht, wie sie Freiheit denkt. Die medienhistorischen Bedingungen der Rezeption der Trostschrift reaktiviert das Wort ›Scrollen‹. Es ist nun Indiz für die Konvergenz von Verfügbarkeit und Nutzlosigkeit. Wird durch das Smartphone ein ähnlich brisantes Intervall zwischen Menschlichem und Göttlichen aufgespannt wie durch die Schriftrollen der Trostschrift? Der Ich-Erzähler nimmt in der Zelle an einem Dialog der Dame Philosophie teil. Er reflektiert dabei sein politisches und sein philosophisches Schaffen und seine Rolle als Wesen, als Körper, der mit einer Seele begabt ist. Diese Seele als Teil seines Selbst ist Gegenstand des Nachdenkens. Die Wissensordnung, in der Boethius als Verfasser der Trostschrift sich bewegte, wertet dieses Denken über sich selbst positiv, ähnlich wie es auch Kunstwerke positiv bewertet und zwar als Schritte der Reflexion von einer raumzeitlichen Situation im Leben hin zu einer transzendenten Ordnung, zum Geist (Nus), der zwischen Kultur und Gott vermittelt. Fremd ist dieser Episteme die Überlegung, dass Instrumente Grenzen zwischen irdischem und göttlichem Wesen ziehen. Gleichwohl denkt diese Episteme, dass Kunstwerke, Bilder oder Dichtung und Philosophie Impulse geben für die Reflexion einer übergeordneten Struktur, die das irdische Leben bewirkt hat. Dabei wird der Gedanke der negativen Theologie ausgebildet, als einem Sprechen, das benennt, was es nicht vom Transzendenten, Göttlichen aussagen kann. Das Gerät ist eine Projektionsfläche für die Optimierungen durch die Programmhersteller. Sie aktualisieren die Software gemäss eines Modells von Gerät, Nutzung und Nutzer, auf das der Nutzer nur beschränkt Zugriff hat. Insofern agieren mittels des Smartphones abstrakte Entitäten gemäß ihren Zielvorstellungen, denen gegenüber der Nutzer relativ ›inkompetent‹ bleibt. Insofern bestimmen die Programmhersteller mittels des Geräts über dessen Nutzer. Das Smartphone löst nicht die Grenzen von Raum und Zeit auf, sondern es etabliert die Gegenwart als Relais, das auf künftige Handlungen verweist, in denen Raum und Zeit geeigneter sind, z. B. für die Auseinandersetzung mit historischen Dokumenten. Die Gegenwart erhält damit den Status eines Indexes auf Zukünftiges. Zugleich liefert sie Spuren, die für die Ausarbeitung von Profilen des Nutzers verwendet werden können. Sie fungiert auch hier als Indikator für künftige Kontrollen oder Optimierungen der Kommunikation mit dem Nutzer. Die Frage ist, ob dieser Modulation Grenzen gesetzt werden durch Gebührenordnungen und Kontrollverfahren, ähnlich wie die Zeit des Ich-Erzählers vor der Hinrichtung bemessen ist? Ihn motiviert der Gedanke, die Reflexion

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seiner eigenen Situation in Hinblick auf eine ausserirdische himmlische Ordnung während der Zeit in der Zelle zu nutzen. Er nutzt sie, um ein Beispiel zu entwickeln, vorzutragen, wie konstruktiv mittels Laut und Verschriftlichung von Lauten, Zeit organisiert werden kann, freie Zeit. Boethius überwindet spekulativ physische Mauern. Mit dem Intervall ist eine Begrenzung benannt. Sie verweist auf die Zelle als Ort, der durch physisch unüberwindbare Mauern begrenzt ist. Das Wort ›Intervall‹ ruft den Begriff des ›Dedekindschen Schnitt‹ auf. Er formalisiert ein Prinzip der Wissenschaftsgeschichte und der Medien- und Kulturtheorie, und zwar dass Grenzen modulierbar sind. Aktuell wird der Begriff des Schnitts in den Interpretationen des Denkens von Niels Bohr, die Karen Barad vorschlägt, wenn sie Messapparate als Schnitte denkt. Diese Schnitte etablieren in der klassischen Physik Unterscheidungen zwischen Beobachter und beobachtetem Objekt. Die Überlegungen, die Niels Bohr bei der Beobachtung quantenmechanischer Phänomene anstellte, werten den Begriff des Phänomens auf. Phänomene sind Produkte der Verwicklung von Theorie und Praxis, die sich in Messapparaturen konkretisieren. Jenseits des Phänomens auf ein Sein der Natur zu schließen, ist erkenntnistheoretisch problematisch. Phänomene sind deshalb nicht kontingent oder unrealistisch, nur weil sie erzeugt sind. Sie sind das Ergebnis von Schnitten, deren Faktoren analysiert werden können und nach Karen Barad analysiert werden müssen, um die Erzeugung von Sein durch Apparaturen nachvollziehen zu können. Bei der Phänomenproduktion, die Karen Barad am Beispiel von Niels Bohrs Forschertätigkeit untersucht, werden Messapparaturen verwendet, die von Theoretikern und Praktikern im Labor gebaut und verändert worden sind. Dieser Aspekt der Nähe von Herstellung und Nutzung gilt für das Smartphone nicht. Der Gedanke des Schnitts muss daher differenziert werden. Das ist möglich mit dem Begriff des ›Dedekindschen Schnitts‹. Er grenzt eine irrationale Zahl durch Folgen ein, die sich von unterhalb oder oberhalb des Zahlenstrahls der Zahl nähern. Bemerkenswert ist daran einmal, dass mittels logisch einsichtiger Verfahren etwas rational nicht Bestimmbares so gefasst werden kann, dass damit gerechnet werden kann. Die irrationale Zahl wird relativ definiert und operational verwendbar, zugleich bleibt sie potentiell unbestimmt. Hier zeigt sich ein Verfahren, das als Paradigma produktiv werden kann, und zwar die relative Definition und Einhegung im Verhältnis zur potentiellen Unbestimmbarkeit. Ein Clou in der Argumentation ist folgender: Die Definitionen, die irrationale Zahlen im Intervall erfassen, operieren mit mathematischen Folgen. Ihre Voraussetzung sind unendliche Prozesse, die gegen einen Grenzwert laufen. Das setzt die Überlegung frei, dass die Geräte, besonders

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digital codierte wie das Smartphone, auf ihre Weise mit Grenzwerten operieren, also per se offen sind. Denken können wir damit, dass in das Smartphone Formen struktureller Offenheit integriert sein können. Die strukturelle Offenheit entspricht allerdings nicht der Realität des Smartphones. Es ist nur auf einer Ebene für die Wahl der Programme, die Installation von Apps offen; im Kern ist das Smartphone determiniert. Es wird geliefert mit einer Hardware, die nur mit einer Software-Architektur funktionsfähig wird, deren Kern bei der Herstellung programmiert worden ist. Dieser vom User nicht veränderliche Kern stellt sicher, dass der User zusätzliche Programme auf das Smartphone speichern und anwenden kann. Insofern ist das Smartphone nicht vergleichbar mit den Apparaturen aus der Frühzeit der modernen Physik oder mit Forschungsinstrumenten wie dem Rastertunnelmikroskop, dessen Funktion von den Forschenden programmiert und justiert werden kann. Bei den historischen Messgeräten konnte vorausgesetzt werden, dass die Akteure prinzipiell die Apparatur verändern konnten. Die Folgerung ist, dass die Ästhetik des Smartphones Fragen der Rezeption von bereits Produziertem stellt und nicht Fragen der Produktion. Inwiefern ist aber diese Rezeption besonders? Da das Smartphone ein System von Geräten ist, gilt es, das Zusammenspiel von Gerät und dem System von Geräten in Hinblick auf die beweglichen Mauern bzw. den Dedekindschen Schnitt zu bedenken. Das System ermöglicht dem User den Download von Dokumenten und Apps. Die kommerziellen Apps werden bei jedem Neustart aktualisiert oder up-gedatet. Das Smartphone ist ein Vehikel des Abspeicherns und des aktualisierenden Aufwertens von Daten und Programmen, mit denen Nutzung optimiert werden soll. Die Performance des Programms wird nach Gesichtspunkten der Programmhersteller optimiert. Diese Gesichtspunkte werden nicht offen kommuniziert. Sie betreffen ökonomische und rechtliche Aspekte und werden legitimiert durch Nutzerfreundlichkeit. Was aber nutzerfreundlich ist, entscheidet dabei nicht der Nutzer. Wie eine irrationale Zahl ist er Gegenstand der Annäherung und zwar durch die Optimierung von Apps. Karen Barad denkt Aufzeichnungsverfahren als Entwicklungen und Verwicklungen von Gewohnheiten, d. h. von Verfahren, die schreibend zur Unterscheidung von Kultur und Natur geführt haben und damit zu Konfigurationen von Wahrnehmung, d. h. zur Formatierung von Raum und Zeit in einer Weise, dass zwischen Kultur und Natur unterschieden werden kann. Das Smartphone wird dabei strukturell mit dem Rastertunnelteleskop vergleichbar. Es wirkt bei der Konstitution von dem mit, was als persönlich bzw. individuell und was als allgemein und gesellschaftlich gilt. Zugleich kann durch den Ex-

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kurs auf den Dedekindschen Schnitt geltend gemacht werden, dass Verfahren, die zur Definition und Eingrenzung verwendet werden, dass in diese Verfahren Potentialitäten, Grenzbewegungen in Form von potentiell unendlichen Rechenvorgängen eingeschlauft sind. Das bedeutet, dass das Smartphone als Verschachtelung von Grenzbewegungen aufgefasst werden kann. Diese Verschachtelungen sind doppelsinnig. Sie richten etwas, das nicht ontologisch fixiert werden kann, so zu, dass es ontologisch operabel wird. Es lässt sich folgern: Die Wände oder die Gitterstäbe der Zelle sind potentiell veränderbar. Das Subjekt in der Zelle hat einen Einfluss darauf, so wie Boethius durch poetische Zeitgestaltung und mit den Gesprächen, die er mit der Philosophia imaginiert, die Wände einstürzen lassen kann. Es gelingt ihm, dichtend und denkend über sich selbst Vertrauen in eine Ordnung zu generieren, die seine Furcht vor der bestehenden Marter und Hinrichtung mindert. Ist das übertragbar? Gleicht das Smartphone dem Griffel, mit dem sich die Erzähl-Figur frei schreibt, oder gleicht es den Mauern, in denen das Subjekt inhaftiert ist? Das Gerät entkernt den Menschen, indem es ihn als Nutzer konfiguriert. Diese Folgerung setzt voraus, dass der Mensch einen Kern, eine Substanz hat. Das aber bestreitet die philosophische Tradition, die argumentiert, dass Menschlichkeit ein Projekt ist. In diesem Projekt konnte sich das Menschliche gegenüber anderen Lebensformen durch technische Mittel ausdifferenzieren. Diese Möglichkeit fordert das Smartphone erneut heraus. Chancenreich bleibt das Projekt, wenn es aufmerksam gegenüber räumlichen und zeitlichen Beziehungen bleibt, die von technischen Mittel aufgespannt werden. Indem das Smartphone paradoxal Flüchtigkeit und permanente Spurensammlung verbindet, omnipräsente, gottgleiche augenblickliche Verfügung mit Nutzlosigkeit paart, kann es herausfordern, und zwar zu Überlegungen dessen, was den Zeichen, der Konfiguration von Welt und dem Menschlichen angemessen ist. Wenn die Zukünfte der Mediennutzung mit den Geschichten der Medien verschränkt werden, dann bleibt die Hoffnung, dass sich das Menschliche als Prozess in einer Triade mit Technik und Umwelt reflektiert. Die Trostschrift formuliert dazu ein Paradigma. Der Text organisiert Gedichte als heterogene Formen von Zeitmessungen. Sie werden im Dialog ausgearbeitet, um Zeitgestaltungen vergleichen zu können. Die Möglichkeit zu vergleichen, bildet Optionen aus, konstruiert den Gedanken der Wahlfreiheit, und zwar in einem Moment, da die körperliche, politische Funktion des Subjekts in der Zelle begrenzt ist. Analog zu den Gedichten der Trostschrift lassen sich Geräte als Mittel der Zeitmessung analysieren. Boethius organisiert im Text der Trostschrift Texte, während das Smartphone Geräte in einem Gerät organisiert. Während

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die Trostschrift ein System von Stufen voraussetzt, die vom Leben der individuellen Seele, über den zeit-freien Geist zum Einen führt, fehlt diese Voraussetzung für heutige Analysen. An ihren Stellen ist die Kritik getreten, die Bedingungen von Orientierungen klärt. Das geschieht durch vergleichende Analysen, die zeigen, wie technische Mittel, die Anschauung von Raum und Zeit konfigurieren und damit Leitdifferenzen zwischen Mensch und Umwelt setzen. Damit ist das Forschungsfeld skizziert, das die Ästhetik des Smartphone aufspannt.

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Nicht mehr Zahlen und Figuren Oder: Die ozeanische Verbundenheit mit dem Smartphone Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren Sind Schlüssel aller Kreaturen Wenn die, so singen oder küssen, Mehr als die Tiefgelehrten wissen, Wenn sich die Welt ins freye Leben Und in die Welt wird zurück begeben, Wenn dann sich wieder Licht und Schatten Zu ächter Klarheit werden gatten, Und man in Mährchen und Gedichten Erkennt die wahren Weltgeschichten, Dann fliegt vor Einem geheimen Wort Das ganze verkehrte Wesen fort. Novalis, Heinrich von Ofterdingen

Wo bei Friedrich von Hardenberg, der sich Novalis nannte, gegen 1800 noch ausschließlich das Dichterwort als alleiniger Nachrichtenkanal »die Welt ins freye Leben« und wieder »zurück« zu senden hatte,1 können wir heute die Alltagsszene wiedererkennen, bei der durch ein Geheimwort aus einem kalten Stück Glas, Metall und Kunststoff der intimste Gegenstand wird, den wir besitzen. Es scheint uns dann, als wären wir nicht mehr nur Zahlen, Figuren – also Daten –, sondern fänden zu uns, unseren Gesängen und unseren Geliebten. Und in der Tat, wie beim großen Romantiker gilt, wenn unser Smartphone entsperrt ist, nicht mehr das Wissen der Tiefgelehrten, die das techni-

Novalis: »Fragment. Entstanden 1799–1800«. In: ders.: Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs. Band 1. Stuttgart, 1960–1977, S S. 359.

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sche Wunder wahr gemacht haben, sondern, ganz medienvergessen, nur noch unser Selbst, unsere Musik, unser Flüstern, unser Herzschlag, unsere Geheimnisse: Auf so ziemlich allen denkbaren Nachrichtenkanälen, hin und zurück. Der mächtigste Staat der Welt musste letztlich gegen den Hervorbringer solcher Wunderdinge alle seine Möglichkeiten aufbieten, um hinter ein durch Kryptographie verkehrtes Wesen zu kommen, um das geheime Wort zu erzwingen, den Schlüssel einer Kreatur zu stehlen, die allerdings nicht liebte, sondern in San Bernadino vierzehn Menschen umbrachte und ein iPhone besaß, das durch Passcode gesichert war.2 Wenn nun Ästhetik eine Erkenntnis ohne logos ist, dann ist es auch eine Sache der Ästhetik, dass die Dinge uns auch nicht mehr nur über unsere Pass-Worte erkennen, dass nicht das Wort allein mehr gilt, sondern auch Berührung oder Blick: Biometrie. Novalis hätte umdenken und -schreiben müssen, Friedrich Kittler hätte das bestimmt gefallen. Und unser Umgang mit dem, was nun ein Computer ist, hat ästhetisch auffällige Seiten: wir berühren ihn, mit unseren Fingern oder mit einem Stylus, gleichsam antik wie geschmeidigen Ton. Eine Welt der scheinbaren Unmittelbarkeit tut sich auf, die nun allen Kreaturen offen steht. Unsere gewindelten Kleinkinder können Datenbanken durchsuchen, denn ein Fingerwisch genügt, um zum nächsten Bild zu kommen. Selbst unsere Haustiere bedienen Programme: fangen virtuelle Mäuse, wenn sie Katzen, oder Kunst-Fliegen, wenn sie Frösche sind: über kapazitive Bildschirme. Wie im ›Mährchen‹ oder dem Wunderblock Freuds.3

Computer für und mit den Massen: Die Trivialisierung des Symbolischen Dass der Buchdruck mit beweglichen Lettern nicht nur Sprache, Sinn und Kultur umgewälzt hat,4 sondern auch die Ästhetik des Sehens, Schreibens und

»2015 San Bernardino Attack«. Auf: Wikipedia, https://en.wikipedia.org/wiki/2015_ San_Bernardino_attack, zul. abgeruf. am 30. Dezember 2016. 3 Vgl. Sigmund Freud: »Notiz über den ›Wunderblock‹«. In: ders.: Psychologie des Unbewußten III. Sigmund Freud Studienausgabe. Frankfurt a. M.: S. Fischer, 1925, S. 363–369. 4 Vgl. Michael Giesecke: Sinnenwandel Sprachwandel Kulturwandel. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1992. 2

NICHT MEHR ZAHLEN UND FIGUREN

Lesens5 steht wohl außer Zweifel. Dabei mag es zunächst überraschend sein, dass einer der Hauptgründe für diese Medienrevolution nicht beim Schönen, Wahren oder Guten zu suchen, sondern bei der schieren Quantität zu finden ist. Nach und durch Gutenberg gab es so viele nun billige Bücher, dass jeder und bald auch jede welche besitzen konnte, weshalb er und dann auch sie das Schreiben und das Lesen lernte und studierte und in einem Nationalstaat eine Hochsprache sprach und nicht mehr Mundart. So etwas Ähnliches ist mit dem Computer6 und nun auch speziell mit dem Smartphone geschehen. Nur noch eingefleischte Verweigerer haben keines mehr, jedenfalls in den Industrienationen. Die meisten haben mehrere davon, zumindest sukzessive. Alle besitzen nun Computer, deren Prozessoren so leistungsfähig sind wie die Tischgeräte von vor zehn oder die CRAY-Supercomputer der 1980er Jahre. Das Smartphone verhält sich zum Computer wie das Buch zur illuminierten Handschrift und bald wird es den ökonomischen Status eines Taschenbuchs oder Groschenromans einnehmen. Dies, vorweg, ist eine der ästhetischen Pointen des Smartphones. Das bedeutet: Ein seltsames Computing ist zum Massenphänomen geworden, das völlig neue Strukturierungen der Wahrnehmungsangebote hervorgebracht, das eine Literalität des Digitalen gezeitigt hat, die komplett anders aussieht als diejenige der Gründerzeiten der Informatik bis zur Jahrtausendwende 2000. Waren die Bedienschnittstellen zunächst größtenteils alphanumerisch-fernschreiberisch, so wurden sie mit dem Smartphone visuell-assoziativ, auditiv und haptisch, haben also die Wahrnehmungsmodi der Gutenberg-Galaxis, die nach Herbert Marshall McLuhan linear und visuell verläuft, überwunden und die Bilder und Metaphern in unser Smartphone-Neu-Mittelalter des 21. Jahrhunderts zurückgebracht. Auch auf der Produktionsseite der Smartphone-User fanden massive Aufschwünge statt. Nicht nur hat das Schreiben enorm zugenommen – das Texting war dann auch das früheste Massenphänomen des Ära der Mobiltelefo-

Vgl. Ivan Illich: Im Weinberg des Textes – Als das Schriftbild der Moderne entstand. Frankfurt a. M.: Luchterhand, 1991; Herbert Marshall McLuhan: The Gutenberg Galaxy. The Making of Typographic Man. London: Routledge & Paul, 1962. 6 Vgl. Martin Warnke: »Ästhetik des Digitalen: Das Digitale und die Berechenbarkeit«. In: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft 59/2 (2014), S. 278–286. 5

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ne –,7 auch die Bildproduktion8 schwoll zu wahren Fluten an: Im April 2016 wurden 80 Millionen Fotos gezählt, die täglich auf Instagram hochgeladen wurden,9 Tendenz exponentiell steigend. Smartphones sind also die Fotografenschule des Globus. Kein mediales Phänomen, auch das Fernsehen nicht, hat je einen solchen Einfluss auf die Bildproduktion der Bevölkerung der entwickelten Nationen gehabt. Es sind Großtaten der User-Interface-Technik dafür vollbracht worden: Die Smartphones, zuerst die iPhones, haben die Bedienung von Computern 2007 neu erfunden, mit den erwähnten dramatischen Folgen, den Kleinkindern und Tieren, die im Stande sind, Digitalcomputer zu steuern, in einem mimetischen Rausch, einem Strom der Simulation, der uns allerdings den vollen Tastsinn, die Düfte und den Geschmack weiterhin vorenthält. Dennoch: Man kann diesen Bedienmodus mit Fug und Recht trivial nennen, oder auch Pop. Trivialisierung wäre dann das ästhetische Schlagwort, im Gegensinn zum Elitären und Verborgenen, ins Werk gesetzt durch völlige Abkapselung10 der ehemals symbolischen Ebenen der Computerarbeit: der Programmierung in formalen Sprachen oder der Kommandozeile. Vollständige funktionale Differenzierung in Software Engineers und User ist der Weg zur Kommodifizierung des Computers, die haptischen User Interfaces auf den kapazitiven Smartphone-Bildschirmen stellen ihren vorläufigen Höhepunkt dar.

Der Monitor erhält einen Rückkanal: Flächen, wie Papier so fein Beim digitalen Sound, einer der Bastionen des Analogen, die mittlerweile völlig geschleift wurde, sagt uns das Abtasttheorem von Shannon und Nyquist,

Vgl. Howard Rheingold: Smart Mobs. Cambridge, Mass.: Perseus Publishing, 2003. Vgl. Wolfgang Hagen: »Digitalfotografie und Entropie«. In: Stephan Günzel u. Dieter Mersch (Hg.): Bild. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart u. Weimar: J.B. Metzler, 2014. S. 267–272. 9 Vgl. Christopher Ratcliff: »23 up-to-date stats and facts about Instagram you need to know«. Auf: Search Engine Watch, dort datiert am 20.4.2016 unter https://searchengine watch.com/2016/04/20/23-stats-and-facts-about-instagram/, zul. abgeruf. am 30. Dezember 2016. 10 Vgl. Friedrich Kittler: »Protected Mode«. In: Norbert Bolz, Friedrich Kittler u. Christoph Tholen (Hg.): Computer als Medium. München: Wilhelm Fink, 1994, S. 209–220. 7 8

NICHT MEHR ZAHLEN UND FIGUREN

dass wir für ein gut funktionierendes menschliches Gehör mindestens 40 kHz als Sampling-Frequenz brauchen, dazu acht Bit Rasterungstiefe, um keine Artefakte mehr zu hören. Damit war digitaler Sound nicht mehr von analogem zu unterscheiden: Die Wahrnehmungsschwelle für’s Sonische ist unterschritten worden, und das war spätestens Anfang der 1980er Jahre der Fall, diese Geschichte ist vielfach erzählt. Seltsamer Weise blieb bislang der Monitor als Simulation von Papier viel länger deutlich hinter seinem analogen Vorbild zurück, und die Schritte fort vom Papier und hin zu einem digitalen Analogon sind größtenteils unbeachtet geblieben. Es ist dies ein Gang der Dinge, der entscheidend von Smartphones befördert wurde und deshalb zum Komplex einer Smartphone-Ästhetik gehört. Für die menschliche visuelle Wahrnehmung von Schrift auf dem Papier wurde die Computertechnik erst mit den Laserdruckern satisfaktionsfähig, die es anfangs auf 300 dpi brachten. Das Aufkommen solcher Drucker, etwa des ersten LaserWriters von Apple im Jahr 1985, trat die Desktop-Publishing-Welle los. Und damit blühte auch die wilde und reiche Phase des Schismas zwischen Druck und Monitor, inklusive der Verwicklungen, die es bringt, wenn man an einem niedrig aufgelösten Display hoch aufgelöste Produkte gestalten wollte – wobei ja 300 dpi nun auch noch keine wirklich hohe Punktdichte war. Wir bekamen die Janusköpfigkeit von Monitor- und Druckfassungen bei digitalen Schriften, denn die Monitore hatten 72 dpi, die Drucker 300 dpi oder viel mehr. D. h.: Es gab für den Monitor die Pixelgestalten, die extra für jede Schriftgröße und Monitorauflösung entworfen werden mussten, und es gab die Umrissformen für die skalierbare Ausgabe in hoher Auflösung, im Idealfall für jede Zeichensatzgröße. Technisch war das lösbar, aber ästhetisch hat dieser große Unterschied eine enorme Rolle gespielt. Es entstanden nämlich Schriften, die speziell für die Arbeit am Bildschirm entworfen wurden; und das war auch bitter nötig! So entstanden beispielsweise die Chicago, die Verdana und die Arial, letztere eine typografische Schlimmheit erster Ordnung. Der Monitor war für alles Fotografische ziemlich gut, denn selbst die 72 dpi waren ja Bildpunkte in Vollfarben, spätestens seit dem Ende der 90er Jahre, mit 8 Bit pro Kanal für Rot, Grün und Blau, also insgesamt 24 Bit pro Pixel. Um so etwas auf dem Papier zu machen, braucht man sehr hohe Auflösungen, weil sich die primären reinen Druckfarben Cyan, Magenta, Yellow und Black aufgerastert erst im Auge mischen konnten, so waren ungefähr 2400 dpi für die Rasterfolien erforderlich, und sie sind es noch immer. Das ergab dann 140 bis 240 lpi an unterscheidbaren Farbzellen, nur doppelt so viel wie

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auf dem Monitor. Also waren auch ältere Monitore ganz akzeptable Medien für kontinuierlich abgestufte Farbbilder. Der Durchbruch, das Unterlaufen der Wahrnehmungsschwelle, geschah dann mit den Retina-Displays im Jahre 2013 am iMac, der eine Punktdichte von 217 ppi erzielte. Treibende Kraft dieser Entwicklung waren die Smartphones, an die man ja auch ganz nah heran musste mit den Augen, die im iPhone der ersten Generation 163 und die neuerdings und massenhaft etwa 400 ppi zu bieten haben. Das Auflösungsvermögen des menschlichen Auges ist damit übertroffen. Wir sehen keine Pixel mehr, und wir wollen auch wirklich keine mehr sehen, weil wir es von den Smartphones so gewöhnt sind. Apple hat sie für’s Auge abgeschafft. Nun haben wir es also mit einer anderen Dichotomie digitaler Schriften zu tun: Die Darstellung beruht weiterhin auf einer rechtwinkligen Rasterung, aber sie erlaubt nun auch in der Typografie völlige Freiheit. Ich kann am Bildschirm mit Futura im ›Light‹-Schnitt arbeiten! Auch Serifen stellen keinen Hinderungsgrund für die Verwendung mit dem Display mehr dar, selbst bei delikaten Schriftschnitten. Allerdings gilt das nur für den Monitor. Bei den Beamern müssen wir noch warten; diese sind immer noch vorsintflutlich und belästigen uns sehr mit Pixeln. Ob es jemals Retina-Beamer geben wird? Ich bin mir da nicht sicher. Im Gegensatz zu Smartphones sind das keine massentauglichen Geräte, sie werden wohl eher von den riesigen hochaufgelösten Fernsehmonitoren abgelöst oder von verteilten Präsentationsmodi auf Smart Devices. Soviel zum Bildschirm als Ausgabemedium. Ihm sind die Pixel abhanden gekommen. Die Glocken läuteten nicht, das hätten sie aber tun sollen ob dieses ästhetischen Großereignisses. Wiederum getrieben von der Mobiltechnologie ist das Display erneut als Eingabemedium entdeckt worden. Seine Erst-Erfindung etwa 50 Jahre zuvor geschah durch Ivan Sutherland mit seinem Sketchpad,11 dessen Display zugleich Ein- wie Ausgabe war. Ergonomisch war das nicht: es gab sehr schnell Verspannungen in der Schulter. Die Maus hat sich gegen den Lichtgriffel durchgesetzt, damit allerdings das Karpaltunnel-Syndrom unter den Bürokräften popularisiert. Im 21., einem halben Jahrhundert später, durften wir dann wieder mit Fingerfarben malen, und das ist großartig! Statt mit der

11 Vgl. Ivan Sutherland: »Sketchpad: A man-machine graphical communication system«. In: AFIPS ’63 (Spring) Proceedings of the May 21–23, 1963, spring joint computer conference (1963), S. 329–346.

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Maus herumzustochern und durch permanente Rückkopplung nicht Flugzeuge sondern Pixel zu treffen, zeigt man trivialer Weise direkt auf den Ort des Begehrens. Das können Windelkinder eben auch. Doch das bloße Zeigen mit dem Finger hat selbst nur eine sehr niedrige graphische und dynamische Auflösung. Die Computer-Malereien geraten alle ein wenig aquarellig-tuschig, nach Wölfflin12 eher malerisch als zeichnerisch, und das liegt an der schlechten Auflösung und der geringen Kontrolle übers Gemalte, denn der notorisch dicke Finger liegt immer genau über seiner Spur, die Reaktionsgeschwindigkeit der Eingabefläche ist mäßig, mit hoher Latenz. Hier sind wir noch weit unter der Wahrnehmungs- und Aktionsschwelle von Papier und Bleistift. Und selbst mit einem den Finger emulierenden Stift funktioniert eines noch nicht gut genug: die Handschrift, denn die ist schnell, mit normalen Kringeln und Winkeln kommt man schon einmal auf 30 cm/s.13 Bei geübtem Schreiben, vielen Kehren und Wenden, Spitzen und Punkten kommt man bestimmt auf 50 bis 100 cm/s, und das stellt hohe Anforderungen an die Display- und Rechnerleistung, die bis vor kurzem noch nicht erreicht war. Erst das Surface Pro von Microsoft (2013) und das iPad Pro von Apple (2015) haben diese Lücke geschlossen. Durch ein Neudesign des berührungsempfindlichen Displays, das eine spezielle Schicht nur zum hochpräzisen Lokalisieren der drucksensitiven Stiftspitze vorsieht, wurde die Rückkopplungsschleife zwischen Hand, Stift und Display eng genug, um von Echtzeit-Interaktion sprechen zu können. Mit anderen Worten: eine Papier-und-Bleistift-Simulation scheint gelungen, womit eine weitere Bastion gefallen ist, die die Digitaltechnik noch gegen das Reale aufzubieten hatte: der Umgang mit einem analogen Zeichenstift auf einer realen Schreibunterlage. Für die Ästhetik des Zeichnens, Malens und Schreibens bedeutet diese Technik den Durchbruch. Er wurde möglich, indem der Monitor einen Eingabekanal erhielt, der am Ende die Wahrnehmungsschwellen des Analogen unterbieten konnte. Das digitale Schreiben von Hand ist endlich da. Und der Rückkanal das Haptischen hat mit taktiler Rückmeldung, die bei Apple Taptic

Vgl. Heinrich Wölfflin: Kunstgeschichtliche Grundbegriffe. Das Problem der Stilentwicklung in der neueren Kunst. München: Bruckmann, 1915. 13 Vgl. Ruud G. J Meulenbroeck, Arnold J. W. M. Thomassen, Joost J. Schillings u. David A. Rosenbaum: »Synergies and Sequencing in Copying L-shaped Patterns«. In: Marvin L.Simner, C. Graham Leedham u. Arnold J. W. M. Thomassen (Hg.): Handwriting and Drawing Research: Basic and Applied Issues. Amsterdam: IOS Press, 1996, S. 41–55, hier S. 45. 12

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Engine heißt, das Hin und Zurück schließlich zur Schleife geschlossen: kybernetisiertes Gefühl. Die Informationstechnologie hat eine vollständige Wandlung vollzogen. Von einer symbolischen und normierenden Adressierung der Objekte, um es mit Jörg Pflüger14 zu sagen, ist sie zu einer subsymbolischen und normalisierenden Behandlung des Graphischen übergegangen. Normierung bildet zählend auf diskrete, unzusammenhängende Adressräume ab, Normalisierung misst, kennt Nachbarschaften und gute relative Abstände. Die Simulation der Fläche als eine der Einschreibung und des taktilen und visuellen Ablesens ist damit komplett. Das Smartphone hat diesen Übergang provoziert.

Rückkanäle auch für das Auge: Der verteilte Blick und das verschwundene Blicksubjekt Doch nicht nur haben die Monitore unserer sehr smarten Devices einen haptischen Zusatzkanal erhalten, der sie als Schreibflächen qualifiziert, die wir als solche instantan beobachten. Die Devices blicken zurück! Alle gängigen Monitore haben eingebaute Kameras, die auf die Betrachter gerichtet sind, wie sie auf die Monitore blicken. Die digitalen Bildmaschinen, allen voran die Smartphones, richten den Blick zurück auf die Betrachterinnen und Betrachter, so dass die Blick-Konstitution ihre Richtung umkehrt. Dieser Rückkanal schafft die Möglichkeitsbedingung verteilter Bild- und Blick-Anordnungen. Es sind nicht mehr nur die Einzelnen, die Bilder rezipieren, es sind die vernetzten Bildmedien selbst, die ihre Betrachter beobachten. Diese technische Entwicklung ist entscheidend durch das Smartphone und das Selfie popularisiert und zur Massentauglichkeit getrieben worden, und auch dieses Ereignis hat allergrößte Aufmerksamkeit verdient.

14 Vgl. Jörg Pflüger: »Wo die Quantität in Qualität umschlägt«. In: Martin Warnke, Wolfgang Coy u. Christoph Tholen (Hg.): HyperKult II. Bielefeld: transcript, 2005, S. 27–94.

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Zunächst lässt sich diese Situation noch binär als Überwachungstechnik beschreiben, man findet sie im öffentlichen Raum,15 in den Social Media16 und bei den als Skandal empfundenen Ausspähungen über die auf die Betrachterinnen gerichteten Kameras an Smartphones17 oder den Video-Rücksendungen der Kameras von Smart-TVs zu Zwecken der Konsumentenforschung.18 Unsere algorithmischen Gegenüber, so scheint es, wissen besser als wir, was uns gefällt, womit man uns verführen, wie man uns als Werbetargets rubrizieren kann oder wovon wir überzeugt sind19 – und welchen Zugang wir zur Welt gewinnen können. Die Sichtbarkeit von Bildern ist das Resultat selbstreferentieller Vorschlagssysteme, die uns aus den Datenmengen diejenigen zeigen, die einer externen Bildpolitik gehorchen.20 Während das Zapping noch als eine Subjekt-Entscheidung zu beschreiben war; prüft das A/B-Testing21 nun an großen Kohorten instantan die Beliebtheit von Web-Page-Varianten und wertet diese sofort aus.

Vgl. Pradeep K. Atrey, Andrea Cavallaro u. Mohan Kankanhalli (Hg.): Intelligent Multimedia Surveillance. Current Trends and Research. Heidelberg: Springer, 2013; Nicolas R. Fyfe u. Jon Bannister: »City Watching: Closed Circuit Television Surveillance in Public Spaces«. In: Area 28.1 (1996). S. 37–46; Thomas Y. Levin, Ursula Frohne u. Peter Weibel (Hg.): Ctrl [Space] Rhetorics of Surveillance from Bentham to Big Brother. Cambridge, Mass.: MIT Press, 2002; Clive Norris: »From personal to digital: CCTV, the panopticon, and the technological mediation of suspicion and social control«. In: David Lyon (Hg.) Surveillance as Social Sorting: Privacy, Risk and Digital Discrimination. New York u. London: Routledge, 2003, S. 249–281. 16 Vgl. Masahiko Itoh, Masashi Toyoda,Tetsuy Kamijo u. Masaru Kitsuregawa: »Visualizing Flows of Images in Social Media«. In: IEEE Conference on Visual Analytics Science and Technology (2012), S. 229–230; Amy Campbell, Christopher Wienberg u. Andrew Gordon: »Collecting Relevance Feedback on Titles and Photographs in Weblog Posts«. In: Proceedings of IUI ’12 (2012), S. 139–148. 17 Vgl. Jack M. Wedam: Cunningly Smart Phones: Deceit, Manipulation, and Private Thoughts Revealed. München: Xlibris, 2015. 18 Vgl. Shane Harris: »Your Samsung SmartTV Is Spying on You, Basically«. Auf: The Daily Beast, dort datiert am 6. Februar 2015 unter http://www.thedailybeast.com/ articles/2015/02/05/your-samsung-smarttv-is-spying-on-you-basically.html, zul. abgeruf. am 30. Dezember 2016. 19 Vgl. Inay Ha, Kyeong-Jin Oh u. Geun-Sik Jo: »Personalized advertisement system using social relationship based user modeling«. In: Multimedia Tools and Applications 74.20 (2013), S. 1–19. 20 Vgl. Benoit Huet, Alan F. Smeaton, Ketan Mayer-Patel u. Yannis Avrithis: Advances in Multimedia Modeling: 15th International Multimedia Modeling Conference. MMM 2009, Sophia-Antipolis, France, January 7–9, 2009. Proceedings. Berlin u. Heidelberg: Springer, 2009. 21 Vgl. Sebastian Schwiecker: »Was ist A/B-Testing?«. Auf: A/B Tests. A/B Testing leicht gemacht unter http://abtests.de/was-ist-ab-testing, zul. abgeruf. 30. Dezember 2016. 15

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Dabei geht es jedoch nicht mehr bloß um eine binäre Anordnung wie zwischen Überwachern und Überwachten. Vielmehr sind Bilder und Blicke über eine Vielzahl von Beobachtern und Geräten verteilt und ist auch der Blick des Monitors zurück auf die Betrachter bereits kein unidirektionaler mehr. Auswahl und Wahrnehmung der Bilder unterliegen komplexen sozialen und maschinellen Verschränkungen. Damit kann der Blick nicht mehr individuell oder subjektiv begründet werden. Das autonom blickende Subjekt ist Geschichte, denn – und dies ist hier die ästhetische Pointe: der Blick hat sich entsubjektiviert und in ein zentrumsloses Netz verteilt. Die Theorie der Ästhetik des Blicks muss umgeschrieben werden. Sie hat ihre Gründung, das Subjekt, verloren. Und das Smartphone ist schuld.

Multiplex: Viel mehr als fünf Sinne Als wären die Einführung von Gefühl und Gesicht beim Smartphone inklusive deren Rückkopplung und Vernetzung noch nicht genug gewesen, dürfen wir weitere Sensationen im Wortsinne erwarten. Denn die Liste der Umgebungsdaten, die die Betriebssysteme heutiger Smartphones auswerten können, weil entsprechende Sensoren ja schließlich auch verbaut sind, hat viel mehr Eintragungen als die Zahl unserer sprichwörtlichen fünf Sinne. Man sucht sich leicht Sensoren für folgende sechzehn Inputs zusammen: Fingerabdruck, Lage im Raum, Beschleunigung, Annäherung, Umgebungshelligkeit, Schall, Berührung, Luftdruck, Temperatur, Luftfeuchte, Erdmagnetfeld, visuelle Umwelt, GPS-Signal, WiFi, Bluetooth, Near Field Technology. Einige davon haben ihrerseits Rückkanäle, können also senden, und für alle gilt, dass sie durch den Mobilfunk ständig im Internet vernetzt sind. Spätestens jetzt ist Alan Turings Computermodell in Form einer lesenden Schreibmaschine22 deutlich historisch. Nicht nur die Vernetzung erweitert das Schema der Turingschen Computability weit über seine universelle Maschine hinaus,23 die Sensorik vertreibt den Computer endgültig aus der Gu-

22 Vgl. Alan M. Turing: »On Computable Numbers, with an Application to the Entscheidungsproblem«. In: Proceedings of the London Mathematical Society 2 42 (1937), S.230–265. 23 Vgl. Martin Warnke: »Synthese Mimesis Emergenz: Entlang des Zeitpfeils zwischen Berechenbarkeit und Kontingenz«. In: Jörg Huber (Hg.): Einbildungen 14. Interventionen.

NICHT MEHR ZAHLEN UND FIGUREN

tenberg-Galaxis. Selbst die vorletzte medientechnische Großrevolution, der Fernseher, taugt nicht mehr zur Metaphorik des Computers, obwohl unsere Fernseher jetzt selbst doch Computer sind. Und auch Telefone sind keine fruchtbaren Paradigmen, obwohl die Technik, die wir hier behandeln, aus ihnen hervorgegangen ist. Es ist vermutlich das Smartphone selbst, das in ein paar Jahrzehnten die dann historische mediale Position markieren wird, von der aus die dann letzten, uns noch unbekannten Phänomene zu beschreiben sein werden, die Metapher, die dann selbst bereits durch diese Medientechnik der Zukunft transzendiert worden sein wird. Smartphones eröffnen ein Reich der Sinne in ozeanischer Verbundenheit, jenseits von Zahlen und Figuren, trotz und wegen ihrer Grundierung auf der List einer Technik des Digitalen. Kein Wunder, dass die Menschheit sie so liebt. PS.: Pünktlich zur Fertigstellung des Textes stellt zum Jahreswechsel 2016/ 2017 das Imagineering Lab der City University London ›Kissenger‹ ihren »World’s first mobile kiss messenger« vor, mit dessen Hilfe man über das Internet Küsse tauschen kann. Ein mit Sensoren und Effektoren bestücktes Paar Silikonlippen wird an das Smartphone gesteckt, und eine App sorgt für das rechte Kussgefühl: High precision force sensors are embedded under the silicon lip to measure the dynamic forces at different parts of your lips during a kiss. The device sends this data to your phone, which transmits it to your partner over the Internet in real time. Miniature linear actuators are used to reproduce these forces on your partner’s lips, creating a realistic kissing sensation. Kissenger provides a two-way interaction just like in a real kiss. You can also feel your partner’s kiss on your lips when they kiss you back.24

Zürich: Edition Voldemeer, 2005, S. 75–92; ders.: Theorien des Internet. Hamburg: Junius, 2011, S. 158–177. 24 http://kissenger.mixedrealitylab.org, zul. abgeruf. 31. Dezember 2016.

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Anästhetische Ästhetiken Über Smartphone-Bilder und ihre Ökologie

Martin Warnke resümiert in diesem Band völlig zutreffend: das Smartphone sei kein Computer mehr, sondern eine Multi-Sensor-Gerätschaft, das gegenüber Alan Turings Computermodell in Form einer lesenden Schreibmaschine deutlich historisch wirke. Gleichwohl gilt aber auch: Technisch betrachtet ist ein Smartphone ein vollwertiger Computer, informatisch korrekter: eine ›Turing-vollständig‹ programmierbare ›von-Neumann‹-Maschine. Alle Smartphone-Sensoren, denen die folgenden Überlegungen im Wesentlichen gewidmet sind, funktionieren deshalb so makellos, weil sie in einen vollständigen Computer eingebaut sind, – und anders gar nicht laufen würden.

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Im Sandkasten: ›Jailbreaking‹ und ›Rooting‹

Die Paradoxie des Smartphone-Computers lässt sich indessen in einer kurzen Definition auflösen: Ein Smartphone ist ein Computer, der ein Smartphone simuliert. Der ›hinter‹ der Smartphone-Simulation operierende Computer mit seinem Android- oder iOS/Apple-Betriebssystem (85 % bzw. 14,3 % Marktanteil)1 ist und bleibt eine ›General-Purpose-Machine‹, die sehr viel mehr kann, als sie der Nutzerin zeigt. Wir haben es also mit einem mit Absicht gezügelten Gerät zu tun. Seine ›wahre‹ Technologie – dass es ein Computer ist – soll man nicht spüren. Dieser Entzug ist es, der hinter dem minimalistischen ›Weniger-ist-Besser‹-Design steckt. Apple-Design-Chef Jonathan Ive und sein Team arbeiten seit zehn Jahren, nach dem Vorbild von Dieter Rams rigoros minima-

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listischer ›BRAUN‹-Ästhetik aus den später 1950er Jahren,2 mit aufwändigster Präzision an diesem Ziel. Lev Manovich bemerkt dazu: »The eventual disappearance of specific technological objects as such as their functions become fully integrated into other objects, surfaces, spaces, and cloves.«3 Was das Smartphone zum Smartphone macht, ist der Software-technische Ausschluss von Computer-Komplexität mittels gegeneinander abgekapselter Apps. Als ginge es um Kinder, die im Sandkasten spielen (Jean Piaget ist ja der geheime Ur-Papst dieser grafischen Computerwelt; siehe unten), operiert jede App in einer ›sandbox‹. So nämlich werden, in beiden Betriebssystem-Welten, die ›Datenräume‹ genannt, die eine App umgeben. »In sandbox-land«, sagt Sicherheit-Ingenieur David Thiel, »applications are shunted into a virtual container that consists of detailed rules specifying which system resources a subject is allowed to access, such as network resources, file read and writes, the ability to fork processes«.4 Anders als in einem normalen PC greifen verschiedene Anwendungen nicht auf alle Dateien und Ordner zu, sondern immer nur auf die zugewiesenen. Sie haben keinen generellen Zugang zu externen Schnittstellen. Im strengen – und für diesen Aufsatz paradigmatisch betrachteten – Fall des iOS-Betriebssystems, gibt es nicht einmal eine Applikation, mit der die Nutzer alle ihre Dateien und Ordner als solche verwalten können. Paste & Copy von einer in eine andere App sind inexistent.5 In den Apple- oder Google-Stores der Schweiz, Österreichs, Frankreichs oder den USA sind Apps erhältlich, die es in Deutschland nicht gibt (und umgekehrt), so dass auch die Globalisierung auf der Gefängnis-Insel der Sandkästen noch keineswegs angekommen ist. Kommerzieller Kern des Sandkasten-Systems ist das ›code-signing certificate‹ der Download-Portale. Neue Apps, egal von wem, kommen nur herein durch das kontrollierte Google- oder Apple-Tor (›IStore‹) im Netz. In dieser Zugangsregelung liegt der Paradigma-Wechsel in Bezug auf das Human-Com-

Vgl. Dieter Rams: Weniger, aber besser = Less, but better. Berlin: Gestalten, 2014. Lev Manovich: »The Back of Our Devices Looks Better than the Front of Anyone Else’s«. In: Pelle Snickars u. Patrick Vonderau, Patrick: Moving Data. The iPhone and the Future of Media. New York: Columbia University Press, 2012, S. 278–286, hier S. 285. 4 David Thiel: iOS Application Security. San Francisco: No Starch, 2016, S. 37. 5 Anthony Wing Kosner: »What 7 Million Jailbreaks Are Saying. Is Apple Listening?« Auf: http://www.forbes.com/sites/anthonykosner/2013/02/10/what-7-million-jailbreaksare-saying-is-apple-listening, 10. Februar 2013, zul. abgeruf. am 23. Januar 2018. 2 3

ANÄSTHETISCHE ÄSTHETIKEN

puter-Interface, im Marketing-Jargon: »The end of solitude«!6 Nicht aber allgemeiner Altruismus, sondern das Geschäftsmodell verlangt diese stete Verbindung von ›Store> und Gerät, nämlich als wesentliche Mehrwertschöpfung, bei Gewinnmargen von 30 % pro App. Die Einheit von »Algorithmen und Datenstrukturen« (Niklaus Wirth), aus denen ein Computer vom Prinzip her besteht, wird in diesem »Mandatory Access Controlling«7 auf der Client-Seite zerrissen, vor allem, um durch das Regime der Softwarekontrolle auf die Hardware den Zu- und Durchgriff zu behalten. Wie alle anderen Hersteller verdient Apple nur mit neuen Geräten die wirklich großen Margen. Der eiserne Griff auf die Software, sprich Apps, nebst fortgesetzter Updates des Betriebssystems, dient nur dazu, recht bald zum neuen Modell zu verführen. Mit einem Wort: Während John von Neumann 1945 den Computer durch freie und unabhängige Daten-Aus- und Eingänge definiert hatte sowie durch unbeschränkte Zugänglichkeit von Daten und Programm in einem SpeicherRaum,8 gründet die computermäßige Simulation des Smartphones als Smartphone in einer nahezu dialektischen Bewegung darauf, diese Basisfunktionen wieder zu verweigern, um in dieser Verweigerung das kapitalistische Modell unaufhörlicher Disruption und Innovation durchzusetzen. Die Vermutung liegt nahe, dass in diesem dialektischen Regime der AppSandkästen der Grund für den weltweiten Erfolg der Smartphones zu finden ist. Immerhin schafft die sklavische Bindung des Geräts an seinen ›Store‹ ja wohl auch ein entlastendes Gefühl von Sicherheit, all die Tücken und Komplexionen eines ›wahren‹ Computers nicht mehr fürchten zu müssen, schon weil man ja auch tatsächlich mit den meisten von ihnen nichts mehr zu tun hat – um so endlich ›mit dabei sein‹ zu können! Sollten das die Motivlagen sein, dann jedoch käme die Nutzung von Abermilliarden Smartphones (allein 2015 wurde über 1,3 Milliarden verkauft) zugleich einem Rückschritt an Computer-Kompetenz gleich. Für seinen Zertifizierungszwang von jedem Stück Software, das auf seinen Rechnern läuft, macht Apple daher lieber ›Sicherheits-

Dalton Conley: »The End of Solitude«. In: Snickars/Vonderau (Hg.): Moving Data, S. 311–316, hier S. 311. 7 Andrew S. Tanenbaum: Modern Operating Systems. Upper Saddle River Nj: Prenticehall, 2001, S. 792. 8 Vgl. John von Neumann, John: »First Draft of a Report on the EDVAC« [1945]. In: Annals of the History of Computing 15/4 (1993), S. 27–75. 6

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gewinne‹ geltend, hat diese aber bisher noch nie transparent machen können,9 sondern wurde eher widerlegt.10 So bleibt es einstweilen bei der Wahrheit der undialektischen Worte des großen ›Jail-Breakers‹ Jay Freemann vor dem Urheberrechtsausschuss der Library of Congress: »There is only one class of device: ›General-Purpose Computers‹«.11 Sie nämlich sind der beste Gegenbeweis dafür, dass die Sandkästen nur begrenzt Sicherheit bieten: Jay Freeman, alias ›saurik‹, Begründer des ›freien‹ App-Portals Cydia, und seine Co-Akteure der ›Jailbreaking‹-Bewegung haben bisher noch in jedem iPhone-Betriebssystem die entscheidenden Lücken gefunden. Während es sich beim ›Jailbreaken‹ des Android-Betriebssystems um eine einfachere (aber immer noch großen Sachverstand verlangende) ›Rooting‹-Prozedur handelt, geht es im Falle des iOS – nur das iPhone betrachtet – um acht verschiedene Hardwareversionen, mit weit über 80 verschiedene Updates des dazugehörigen Betriebssystems, also weit über hundert hochkomplexe Jailbreak-Versionen, die bisher, Stand 2017, herausgekommen sind. In zehn Jahren ist Freeman mehrfach im Namen der Electronic Frontier Foundation, einer internationalen non-profit Gruppe zur Verteidigung digitaler Rechte, vor den Kongress-Ausschuss für Urheberrechtsfragen gezogen, – und war erfolgreich. Im Oktober 2015 wurde das Freilegen des Betriebssystems eines gekauften Gerätes zum Zwecke seiner vollständigen Nutzung urheberrechtlich abermals genehmigt (es wird alle drei Jahre neu entschieden), und damit das ›Jailbreaken‹ des Smartphones in den USA für rechtens erklärt.12 Jailbreaking ist eine Art Kommunalpolitik am proprietären Eigentum, in gewisser Weise irgendwie spießig, aber nicht illegal. Wäre zum Beispiel von Ap-

Vgl. Gerhard Klostermeier u. Andreas Jansche: »Sicherheit von Smartphone-Betriebssystemen im Vergleich«, 27. Januar 2012. Auf: https://publications.icaria.de/smartphoneos-sicherheit/smartphone-os-sicherheit.pdf, zul. abgeruf. am 23. Januar 2018, o.P., hier S. 15. 10 Vgl. Andy Greenberg: »iPhone Security Bug Lets Innocent-Looking Apps Go Bad«. Auf: http://www.forbes.com/sites/andygreenberg/2011/11/07/iphone-security-buglets-innocent-looking-apps-go-bad/#57a2005e2336, 7. November 2011, zul. abgeruf. am 23. Januar 2018. 11 Jay Freeman: »Long Comment Regarding a Proposed Exemption Under 17 U.S.C. 1201«. Auf: https://www.copyright.gov/1201/2015/comments-020615/InitialComments_ LongForm_Freeman_Class20.pdf, 2015, zul. abgeruf. am 23. Januar 2018, o.P., hier S. S. 12 Vgl. Library Of Congress: »Exemption to Prohibition on Circumvention of Copyright Protection Systems for Access Control Technologies«, 28. Oktober 2015. Auf: Exemption to Prohibition on Circumvention of Copyright Protection Systems for Access Control Technologies, zul. abgeruf. am 23. Januar 2018, o.P., hier S. 29. 9

ANÄSTHETISCHE ÄSTHETIKEN

ple vor dem Kongressausschuss nachgewiesen worden, dass Freeman mit seiner Plattform Cydia Softwarepiraterie betreibt, der Kongress-Ausschuss hätte hier gewiss anders entschieden. Beim ›Jailbreaking‹ geht es im kulturellen Kern um schlichte Eigentums-Bewahrung, die in den USA traditionell einen hohen Schutzwert genießt.

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Die jederzeitige Modifizierbarkeit des Smartphone-Codes

Wenig verwunderlich also, dass Jay Freeman in den November-Wahlen 2016 zum Orts-Bürgermeister seiner Heimatstadt Santa Barbara gewählt wurde;13 daneben schreibt er unaufhörlich Reddit-Blogs, z. B. zur Frage, für welche Kultur das Jailbreaking steht. Die Antwort wird für Nicht-Programmierer möglicherweise unverständlich bleiben: »I believe strongly in the vision of runtime code modification as a platform«;14 was nichts anderes heißt, als dass Freeman auf der Freiheit besteht, Computer, inklusive ihrer Programmierbarkeit auf Hardware- und Softwareebene, als offene, kooperative, gemeinschaftliche und zugleich individuelle Ressourcen anzusehen und weiterzuentwickeln. Indem Freeman, ohne das Gerät zu zerstören oder zu beschädigen, den ›wahren‹ Computer wieder freilegt, stellt sich er noch einmal explizit in die Tradition jenes Freiheitspathos der ersten grafischen PC-User-Interfaces aus den 1970er Jahren, die von Allen Kay und seinen MitstreiterInnen im Xerox-ParcProject (1970–1982) entwickelt wurden. In diesem Projekt entstanden das Paradigma des ›Desktop-PC‹ und damit alle unsere grafischen Bildschirmoberflächen, inklusive ›Office-Icons‹, d. h. überlappende Fenster und Menüs, wie wir sie heute kennen und nutzen. Hierbei kamen, Stichwort Sandkasten, noch einmal zentral die Kinder ins Spiel. Denn das, was wir heute nutzen, wurde wesentlich entwickelt von sehr jungen Menschen, zwischen sechs und vierzehn Jahre alt, überwiegend selbstorganisiert tätig in ihrer »Learning Research

Vgl. http://dailynexus.com/2016–11-08/live-election-results-2016/, zul. abgeruf. am 23. Januar 2018. 14 Jay Freeman: »Competition vs. Community«. Auf: http://www.saurik.com/id/20, 2015, zul. abgeruf. am 23. Januar 2018. 13

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Group«.15 Kinder, in den Vokabeln von Jean Piaget’s Drei-Stufen-Theorie gesprochen, gehen auf ihrer ersten, »vor-operationalen« Stufe des Weltverständnisses über das »Figurale« und greifen nach Bauklötzchen. Daraus wurden unsere Icons, kindergerecht greifbar mit dem perimetrischen Gerät namens Maus.16 Das alles war damals im PARC eingebunden in eine Programmiersprache namens Small Talk, die die permanente Veränderung und Korrektur aller zur Laufzeit entwickelten Prozeduren erlaubte. Eben darauf bezieht sich Freemans ›runtime code modification as a platform‹. Small Talk wurde ebenfalls entwickelt von Alan Kay im Xerox-Projekt und gilt heute noch als Urzelle aller objektorientierten, d. h. weltweit heute am meisten gebräuchlichen Programmiersprachen (C++, Java, Ruby etc.); nur dass eben – in den Augen von Kay und sicherlich auch von Freeman – keine der heute gebräuchlichen Sprachen auch nur annähernd an das Freiheitsversprechen der ursprünglichen Ideen heranreichen kann. Wenn Freeman also in seiner Jailbreaking-Versessenheit gleichsam computer-kommunalpolitisch zwar an die heroischen Ursprünge der Entwicklung des Personal Computer anknüpft, folgt er indessen viel weniger dem, was zum Beispiel noch Doug Engelbart im Sinne hatte, nämlich der Idee einer korporativen Teilhabe an einem verteilten System aus vernetzten Computern. Engelbart hatte bei PARC nie mitgemacht und hielt von der Entwicklung isolierter Einzel-PCs überhaupt nichts. Nun aber, nach 1981, waren sie in der Welt. Und klar, wer Eigentümer ›seines‹ Computers ist, hat auch ein Recht auf dessen vollständigen Besitz. Die Frage ist nur, ob der ›PC‹, also das persönliche Eigentum an einem vollständigen Computer, mit der Möglichkeit eines unendlich frei modifizierbaren Codes, heute noch dem sozialen Paradigma des Digitalen entspricht. Auf diese, seit der Smartphone-Ära recht deutliche Paradigma-Verschiebung (Freeman stemmt sich dagegen) verweist der zweite historische Aspekt, den man hinter dem Wort ›jailbreaking‹ ausfindig machen kann. Das Wort ›jail‹ referenziert nämlich auf eine bestimmte Eigenschaft des Betriebssystems UNIX, das seinerseits wiederum das Standardmodell für alle heutigen Betriebssysteme von Android bis iOS darstellt. Schon seit der (im wesentlichen gemeinfreien) UNIX-Version VII (1979) findet sich in seiner Architektur eine

Michael A. Hiltzik: Dealers of lightning. Xerox Parc and the dawn ofthe computer age. New York: HarperBusiness, 1999, S. 141. 16 Jean Piaget: Genetic Epistemology. New York: Norton, 1970, S. 27. 15

ANÄSTHETISCHE ÄSTHETIKEN

Befehlsprozedur, die am Ende der Entwicklung die Simulation eines Smartphones als Smartphone erst möglich gemacht hat. Sie heißt: ›chroot‹ (für ›Change Root‹), und wurde von ihren Entwicklern bald nur noch ›chroot jail‹17 genannt. Mit dieser Prozedur konnten um einen beliebigen Software-Prozess herum jene schon angesprochenen Sandkästen gebaut werden. Der neue Bezirk bekommt ein anderes ›Grund-Verzeichnis‹ (›root‹), als er tatsächlich hat. ›Chroot-jail‹ ist für Freeman Angriffsziel, Namensgeber und Legitimation zugleich, hatten doch die UNIX- Entwickler selbst denjenigen Bezirk ›Gefängnis‹ genannt, den auf Betriebssystemebene zu schließen und zu öffnen ein gemeinfreies System natürlich jederzeit erlaubt.

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Time-Sharing und die techno-soziale Smartphone-Ökologie

Beim Hinweis auf diese tief eingebaute Betriebssystemlogik geht es mir nicht um eine historistische Anekdote. Vielmehr kommt hier, epistemologisch, ein völlig neuer Kontext zum Zuge. Das Manual der 1979er-Version hieß UNIX – Time-Sharing System18 und legte das softwaretechnisch Beste auf den Tisch, was die damalige Computerwelt zu bieten hatte. Man kann im übrigen diese Time-Sharing-Epoche Mitte der 1960-er bis Mitte der 1980er Jahre in ihrer Bedeutung für die Entwicklung der heutigen digitalen Welt gar nicht überschätzen. Denn jetzt, als beliebig viele Time-Sharing-Geräte (Schreibmaschinen, Fernschreiber) an die großen existierenden Rechner angeschlossen wurden, konnten erstmals Nicht-Fachleute – darunter auch Schulkinder, wie etwa Bill Gates19 – Erfahrungen mit Computern sammeln. »Computers are as much for communication as they are for calculation«20 lautete die Devise dieser ersten

Vgl. Ryan Russell: Hack Proofing Your Network. Rockland: Syngress, 2000, S. 358. Vgl. B. W. Kernighan u. M. D. McIlroy (1979): Unix Time-Sharing System. New Jersey: Bell Telephone Laboratories, 1979, S. 404. 19 Vgl. Verf.: »Bill Luhan und Marshall McGates. Die Extension des Menschen als Extension der USA«. In: Alexander Roesler (Hg.): Microsoft. Medien – Macht – Monopol. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2002, S- 24–47. 20 J. C. R. Licklider: Interview (mit William Aspray u. Arthur Norberg am 28. Oktober 1988). Cambridge, Mass.: Charles Babbage Institute. Auf: http://worrydream.com/refs/ Aspray%20-%20JCR%20Licklider%20Interview.pdf, zul. abgeruf. am 02. Februar 2018, S. 51. 17

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Phase der Time-Sharing-Epoche. An sie knüpft die heutige Digital-Kultur in gewisser Weise wieder an. Zum ersten Mal konnte damals so etwas gedacht werden wie eine »man-computer symboisis«, wie Josef Licklider es nannte: »It was natural and easy to allow users to chat with each other, and to send messages to be stored in the user accounts of other system users and read when convenient.«21 Um die Zeit-Slots zu verwalten, die einem Eingabe-Terminal am Rechner zur Verfügung standen, musste jeder Terminal-Job logisch in ein solches ›chroot-jail‹ gesperrt werden, nicht anders als heute die Smartphones in ihre Apps. Time-Sharing Systeme bildeten zwei Jahrzehnte lang in den USA ein stabiles »symbiotisches« Mensch-Computer-Umgebungssystem, eine »geschlossene Zweckmäßigkeit«,22 um es mit Jakob von Uexküll zu sagen, also das, was nach Ernst Haeckels 1866er Wortbildung ›Ökologie‹ genannt wird. Licklider, damals der führende Kopf und verantwortlich für die Finanzierung aller wichtigen Systeme durch das Pentagon, plante von Beginn an eine Erweiterung des Time-Sharing-Systems und nannte dieses Planziel in ironischer Übertreibung ein Intergalactic Computer Network23 (warum sollte man sich mit seinem Terminal eigentlich nur in einen einzigen Großrechner einloggen können?), »called the ARPANET, the ancestor of today’s Internet. Time-sharing was the spark«.24 Epistemologisch kommt das Internet aus dieser Time-Sharing-Welt der 1960er Jahre. Am Front-End allerdings, also vor diesen klobigen Fernschreibern sitzend, die die Antworten des Computers auf Papier zu gegebener Zeit ausspuckten, wuchs allerdings mehr und mehr das Verlangen nach ›personalen‹, eigenständigen Voll-Computern. Denn mit der Time-Sharing-Technologie der 1960er Jahre konnten keine grafischen Bildschirme angesteuert werden.25 In der Rückschau könnte man allerdings meinen, dass die Jahrzehnte der Desktop-PC- und Server-Entwicklung von 1980 bis 200, am Ende nur gut dafür waren, uns wieder in ein neues Time-Sharing-Ökosystem zu versetzen, nun allerdings die Erde umspannend, an deren Back-End alle in21 William Aspray u. Paul E. Ceruzzi: The Internet and American business. Cambridge, Mass.: MIT Press, 2008, S. 109. 22 Jakob von Uexküll: Umwelt und Innenwelt der Tiere. Berlin: Springer, 1921, S. 41. 23 Vgl. J. C. R. Licklider, (1963): Intergalactic Computer Network Topics for Discussion at the Forthcoming Meeting. Washington, D. C.: Advanced Research Projects Agency, 1963. 24 Paul E. Ceruzzi: Internet Alley. High Technology in Tysons Corner. Cambridge, Mass.: MIT Press, 2008, S. 142. 25 Vgl. Wesley Clark: An Interview With Wesley Clark. Minneapolis: University of Minnesota, 1990, S. 11.

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ternet-basierten Clouds, Router, Web-Server und Data-Center der Welt stehen, während am Front-End Milliarden von Smartphones hängen, mit ihren Myriaden von Sandkästen-Apps. Wenn ›Innenwelt‹ und ›Umwelt‹, wie Uexküll sagte, »durch den Bauplan miteinander zusammenhängen«,26 dann entsteht eine Ökologie, in welchem das Objekt untrennbar mit seiner Umgebung verwoben ist. Das Sharing-System des Smartphones ist eine solche techno-soziale Ökologie, und zwar in dreifacher Hinsicht: Erstens, weil alle Ressourcen, die das Gerät, von seiner ›Innenwelt‹ her, wertvoll macht, nicht in ihm selbst zu finden sind, sondern in den Systemen, von denen es umgeben ist: Soziale Medien (Facebook, Twitter, Instragram, Whatsapp etc.), intermediäre Dienste wie GPS, Suchmaschinen-, Wetter-, Karten- oder Navigationsprogramme etc. Zweitens, weil die Smartphone-Welt, um es mit Jose van Dijck zu sagen, eine »doppelte Logik«27 des Sharing kennzeichnet; einerseits findet sich in den sozialen Medien, paradigmatisch bei Facebook, Twitter oder Instragram, mit »liking« und »friending« ein »frictionless sharing across plattforms«28 (mit fast schon promiskuitiven Zügen);29 andererseits aber ist all das gekoppelt an ein Sharing zweiter Art, nämlich das Sharing aller Daten und Informationen durch die Eigentümer der Sandbox-Container auf der Seite des Back-Ends (Facebook, Google, Apple, Twitter oder Instagram etc.) zum Zwecke der Entwicklung optimaler Werbeprofile. Drittens schließlich, computer- und softwaretechnisch gesehen, weil das Smartphone und die es umgebende ›Internet-Welt‹ komplementär gebaut sind. Denn auch ein Web-Portal, implementiert auf einem Web-Server, repräsentiert nichts anderes als einen ›Sandkasten‹, eingerichtet z. B. auf einem Linux-Server – das weltweit verbreitetste Server-Betriebssystem – mithilfe des Programms Chroot, das dazu benutzt wird, »einen Daemon in einen beschränkten Verzeichnisbaum einzusperren«.30 Ein solcher ›Dämon‹ enthält dann beispielsweise die weltweit am meisten verbreitete WebServer-Software Uexküll: Umwelt und Innenwelt der Tiere (wie Anm. 22), S. 6. Jose van Dijck: The culture of connectivity a critical history of social media. Oxford u. a.: Oxford Univ. Press, 2013, S. 81. 28 Ebd., S. 90. 29 Vgl. Robert Payne: »Frictionless Sharing and Digital Promiscuity«. In: Communication and Critical/Cultural Studies (2014), S. 1–18. 30 Javier Fernández-Sanguino Peña: »Anleitung zum Absichern von Debian, Anhang H – Chroot-Umgebung für Apache«. Auf: http://www.jusch.ch/dokus/securing-debianhowto/ap-chroot-apache-env.de.html, zul. abgeruf. am 02. Februar 2018, S. 1. 26 27

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›Apache‹, mittels derer die Webseiten, wieder in ›Jailboxen‹ im Netz zugänglich gemacht werden. Strukturell gesehen, soweit es nur die Computertechnik und die Software betrifft, handelt es sich bei all dem um die Symmetrien und Asymmetrien einer klassischen Ökologie. Das Smartphone in meiner Hand und alle seine App-Ressourcen im Netz, sind, aus Sicht der Nutzerin, gleichermaßen eingekapselte Container. Aber der genauere Blick zeigt auch: Diese Ökologie ist asymmetrisch. Denn der Zugang zu allen Daten bleibt allein den kapitalistischen Monopolkonzernen auf der Back-End-Seite vorbehalten. Den Nutzern ist er verwehrt. So groß und so völlig unreguliert sind die Asymmetrien in dieser Ökologie, dass sie, wie einst die Öl-, Stahl- und Schienen-Monopole in den USA um 1890, in einem neuen »Sherman Act«31 zerschlagen werden müssten.

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Sensorische »Symbiosensationen«

Die techno-ökologische Perspektive erweitert sich noch, wenn man die (mindestens) 19 Umgebungssensoren des Smartphones hinzunimmt, von denen der Nutzer nur mit den wenigsten direkt zu tun hat. Selbst Steve Jobs hatte hier seltsamerweise untertrieben, als er 2007 bei seiner begeisterungstrunkenen Vorstellung des iPhone 2G nur ganze drei aufzählte: (1.) ›proximity sensor‹, (2.) ›ambient light sensor‹, (3.) ›accelerometer‹. Der erste verdunkelt den Bildschirm, wenn telefoniert wird; der zweite passt die Helligkeit des Bildschirms an und der dritte erkennt schnelle Lageänderungen des Geräts. Es war aber schon 2007 ein (4.) GSM-Sensor an Bord, der das Telefonieren und den Standort zu ermitteln erlaubt. Nicht beruhigen konnte Jobs seine erregte Begeisterung über den (5.) ›Multipoint Touchscreen Sensor‹ (MTS), also den kapazitive Bildschirm. Die Entwicklung dieses Hand Tracking, Finger Identification, and Chordic Manipulation On A Multi-Touch Surface-Sensor32 geht als eines der wenigen Computer-Interfaces nicht auf militärische Wurzeln zurück, sondern auf die ebenso intelligente wie zivile Bewältigung einer Hand-

31 William Aspray: Chasing Moores Law: Information Technology Policy in the United States. Raleigh, NC: SciTech Publishing, 2004, S. 234. 32 Vgl. Wayne Westerman: Hand Tracking, Finger Identification, And Chordic Manipulation. Diss., Faculty of the University of Delaware, 1999. Auf: http://resenv.media.mit. edu/classarchive/MAS965/readings/Fingerwork.pdf, zul. abgeruf. am 02. Februar 2018.

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behinderung, – ich komme gleich darauf zurück. Als weiterer – auch schon im iPhone 2007 enthalten – müssen die beiden, nach vorne und hinten gerichteten (6.) ›Cmos Active Pixel‹-Sensoren gesehen werden (mit jährlich steigenden Mega-Pixel-Werten), denn dabei handelt es sich nicht um Fotokameras, sondern Fotokameras simulierende Bild-Sensoren. (7.) Microphon-, (8.) Bluetooth- oder (9.) Wi-Fi-Chips gehören ebenfalls zur Klasse der Sensoren. Heute, Stand 2017, verfügen Smartphones in der Regel über weitere Messinstrumente: einen (10.) ›ambient sound sensor‹, der Umgebungsgeräusche beim Telefonieren auslöscht; einen (11.) GPS-Sensor, der neben den US-amerikanischen NavStar- auch russische GLONASS-Satelliten-Daten empfängt und (kombiniert mit der WiFi- und der GSM-Triangulation) eine auf zehn Meter exakte Ortung und Navigation erlaubt (auch wenn wir das nicht wollen). Um der Navigation auf Karten eine Richtung zu geben, ist ein (12.) ›Magnetometer‹-Sensor eingebaut, der dreidimensional das Erdmagnet-Feld vermisst und aus den lokalen Stärke-Differenzen den magnetischen Nordpol errechnet (aber auch Metall detektieren kann – findige Nerds haben die Algorithmen längst ins Netz gestellt).33 Fehlt noch der (12.) ›moisture-sensor‹, auch ›wet indicator‹ genannt, der die innere Kondens-Feuchte im Gerät, und der (13.) ›humidity‹-Sensor, der die äußere Feuchte erfühlt. Ein (14.) ›temperature-sensor‹ misst Hitze und Kälte (und schaltet bei bestimmten Werten das Gerät aus); der (15.) ›barometer-pressure‹ misst den Druck in der Umgebungs-Atmosphäre (und erlaubt, in Kombination mit dem GPS-Sensor, exakte Höhenortung); der (16.) ›gyroscope sensor‹, mit dem Beschleunigungsmesser (3.) kombiniert, stellt jede Art von Bewegungs-Richtung fest (links, rechts, vor, zurück, oben, unten) sowie Wurf-, Fall- und Gier-Bewegungen; schließlich der (17.) ›fingerprint-sensor‹, der in höchster Sicherheitsstufe den Zugang zum Gerät sichert (zugleich aber den Fingerabdruck seiner Nutzerin als Datensatz speichert und damit – prinzipiell – für die asymmetrischen Back-End-Betreiber zugänglich macht). Zu den physischen Sensoren zählt auch der in allen Computern verbaute (18.) Timer-Chip, der zugleich die lange Reihe von virtuellen34 Sensoren eröffnet, also Geschwindigkeit (10.+18.), Beschleunigung (3.+18.) oder die Herzfrequenz (6.+18.). Noch zu nennen die Virtualisierung

33 Vgl. http://www.byteworks.us/Byte_Works/Blog/Entries/2011/11/30_Using_ techBASIC_to_Turn_Your_iPhone_or_iPad_into_a_Metal_Detector.html, zul. abgeruf. am 02. Februar 2018. 34 Vgl. Shaukat Ali et.al. (2014): »Sensors and Mobile Phones. Evolution and State-ofthe-Art«. In: Pakistan journal of science 66.4 (2014), S. 386–400, hier S. 390.

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des ›Linear Acceleration Sensor‹, der die Erdbeschleunigung/Gravitation herausrechnet, die (3.) stets mit-misst, um Bewegungen des Geräts noch genauer zu registrieren. Apples Geräte haben zur Integration der wichtigsten Bewegungs-Sensoren einen eigenen Ko-Prozessor (›M10 motion coprocessor‹) an Bord, der »knows whether you’re walking, running, or driving in a car and feeds this information to the phone’s processors, which adapt its activity to what you’re doing«.35 Dieser kompiliert – algorithmisch – aus Kompass, Gyroskop und Beschleunigungs-Messer den (19.) ›Attitude Sensor‹, der jederzeit ›weiß‹, wie das Smartphone gehalten wird, d. h. in welcher Haltung es sich befindet: Über Kopf, seitlich flach, hochkant etc. Was kosten alle diese Sensoren zusammen in der Herstellung? Keine 5 Dollar,36 den billigsten gibt’s für 7 Cent. Seit zwei Jahrzehnten sind diese Objekte längst auch jenseits des Smartphones Massenware und Teil dessen, was man das ›Internet der Dinge‹, ›ubiquitous‹37 oder ›pervasive computing‹38 nennt. »Sensors, the last development in our march into the future, are dirt cheap«, schreibt Shawn Dubravac vom Industrieverband Consumer Technology Association: »And yet they are revolutionizing the human experience.«39 Keine Frage, wie alle Prozessoren und Chips, haben diese Micro-Electro-Mechanical-Systems (MEMS) auf Silizium-Basis seit den 1960er Jahren eine gleichermaßen exponentielle, dem Moore’schen Gesetz folgende Entwicklung hinter sich. Es sind Chips von wenigen Kubikmillimeter Größe, die elektronische und mechanische Eigenschaften verbinden. Myriaden davon gibt es z. B. in modernen Autos, mit bis zu sechs Gramm messen sie die Erdbeschleunigung und steuern Airbags und die Bremsen. Ihre Kombination aus Winzigkeit, Komplexität und Massenhaftigkeit bewirkt, dass ihnen nicht nur Marketing-Propheten wie Dubravac, sondern auch Medienphilosophen längst erlegen sind, und, wie MIT-Computer-Philosoph Alex Pentland, proklamieren, dass die Menschheit dabei sei, sich ein »neues Nervensystem« zuzulegen: »The combination of these evolving sensory systems with computational models of social inter35 Shawn DuBravac: Digital Destiny. How the New Age of Data Will Transform the Way We Work, Live, and Communicate. New York: Regnery, 2015, 113. 36 Vgl. »Sensor – $4,50«. In: TechInsights (2017): Apple iPhone 7, S. 9. 37 Vgl. Mark Weiser: »The Computer for the 21st Century«. In: Scientific American special issue 9 (1991), S. 78–80, hier S. 78. 38 Vgl. Mark B. N. Hansen: »Topology of Sensibilit«. In: Ulrik Ekman et al. (Hg.): Ubiquitous computing, complexity, and culture. New York u. London: Routledge, 2016, S. 33–47, hier S. 42. 39 DuBravac: Digital Destiny (wie Anm. 35), S. 113.

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action will soon lead to the ability to model, predict, and influence the behavior of both individuals and whole societies.«40 Mark Hansen schließt an und spricht, Alfred Whiteheads spekulativ-unistische Metaphysik einschließend, von »atmospheric media«, in denen wir »no longer conceive of ourselves as separate and quasi-autonomous subjects«41. Luciana Parisi meint, dass uns die »Technoökologie« in einer innovativen »Symbiosensation« zu einer »Reprogrammierung des Empfindens« bringen wird. 42 Der Geologe Nigel Thrift schließlich behauptet von dieser neuen Ökologie der Sensoren, dass sie ein ›technologisch Unbewusstes‹ konstituieren, »whose content is the bending of bodies-with-environments to a specific set of addresses without the benefit of any cognitive inputs, a prepersonal substrate of guaranteed correlations, assured encounters, and therefore unconsidered anticipations«43. All diese Positionen, wie verstiegen sie auch im Einzelnen sind, geben völlig zurecht zu bedenken, dass die gegenwärtige Lage nicht mehr mit den klassischen Mitteln einer auf Einzelmedien orientierten Medien- oder Kulturwissenschaft zu erfassen ist. Aber andererseits fehlt es diesen Studien an genügender technik- und wissenschaftshistorischer Präzision, um zu geeigneten Schlussfolgerung zu kommen. Am Beispiel der Smartphone-Ökologie wird aus meiner Sicht deutlich, welche konkreten Symmetrien und Asymmetrien sichtbar werden, wenn man ins Detail geht. Das Detail aber zeigt, dass die Sensoren des Smartphones eine Art Mini-Ökosystem bilden, das die Handhabung des Geräts deshalb beeinflusst, weil es mit ihrer Hilfe eine ökosensorische Eigenlogik entwickelt. Ohne an spekulative Theorien der Erfahrung und Wahrnehmung à la Whitehead anzuschließen, fragen wir uns: welche Art von ›Aisthesis‹, d. h. welche Art von umweltlich orientierten Wahrnehmungswissen generiert das Smartphone-Ökosystem? Sieben Jahre lang (2006–2013) existierte an der University of California, Los Angeles, ein Center for Embedded Networked Sensing

40 Alex Pentlan: Honest signals. How they shape our world. Cambridge, Mass.: MIT Press, 2008, S. 93. 41 Mark B. N. Hansen: Feed-forward. On the future of twenty-first-century media. Chicago et al.: The Univ. of Chicago Press, 2004, S. 18. 42 Luciana Parisi:» Was heißt Medienästhetik? Ein Gespräch über algorithmische Ästhetik, automatisches Denken und die postkybernetische Logik der Komputation« (mit Erich Hörl). In: Zeitschrift für Medienwissenschaft 8 (2013), S. 35–51, hier S. 42. 43 Nigel Thrift: »Remembering the technological unconscious by foregrounding knowledges of position«. In: Environment and Planning D: Society and Space 22 (2004), S. 175–190, hier S. 177.

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(CENS), das sich um begriffliche Klarheit bemühte, und in seinen Studien

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die Unterscheidung zwischen »partizipatorischen« und »opportunistischen« Sensoren vorschlug: »(a) participatory sensing, where a participant is actively engaged in the data collection and (b) opportunistic sensing, where the data collection is done automatically by the sensing application«44. Nach dieser Begrifflichkeit dient opportunistisches Messen dazu, das Gerät hinter den Rücken der Nutzerin fit zu machen,45 während partizipatorisches ›Sensorieren‹ die Nutzerin aktiv involviert. Partizipatorisch wären jene »›Grassroots‹ sensing«46-Bewegungen (und entsprechende Apps), die kollektiv Lärm-Werte erfassen, oder auf aller Welt Straßenschäden, Schäden nach Stürmen oder anderen Wetterereignissen sammeln und registrieren. Offenbar fanden diese Initiativen keine bedeutende Resonanz, so dass das CENS inzwischen wieder die Arbeit eingestellt hat. Dagegen haben kommerziell ›kontextualisierende‹ Sensor-Applikationen einen breites Marktsegment eröffnet: ›Momento‹47 registriert den Tag mit allen Treffen von Freunden, Einkäufen und sonstigen Erlebnissen; ›CenceMe‹, ›EmotionSense‹, ›Empath‹, ›Funk‹ (Friends and Family) etc. erlauben das Aufzeichnen von Umgebungs- und eigenen Daten etc.48 – Dennoch macht die Unterscheidung partizipativ/opportunistisch nur begrenzten Sinn, denn nahezu in allen partizipatorischen Smartphone-Apps sind auch ›opportunistische‹ Automatismen am Werk, insofern z. B. DisplayFunktionen vom Gyroskop und Accelerator gestützt werden, damit sich der Screen dem Nutzer immer im richtigen Modus zeigt. Welche Aisthesis aber entwickelt diese ökosensorische Eigenlogik des Smartphones?

44 Anton Kos et.al.: Evaluation of Smartphone Inertial Sensor Performance for CrossPlatform Mobile Applications. Ljubljana: University of Ljubljana, 2016. Auf: www.mdpi. com/1424-8220/16/4/477/pdf, zul. abgeruf. am 05. Februar 2018, S. 477. 45 Shaukat Ali u. Shah Khusro: »Mobile Phone Sensing: A New Application Paradigm«. In: Journal of Science and Technology 9.19 (2016), doi: 10.17485/ijst/2016/v9i19/53088, 42, S. 3. 46 J. Burke et.al.:»Participatory sensing«. In: WSW’06 at SenSys ’06 10 (2006), 5, S 2. 47 Vgl. S. Carter, J. Mankoff u. J. Heer, J. (2007): »Momento. Support for situated ubicomp experimentation«. In: CHI ’07: Proceedings of the SIGCHI Conference on Human Factors in Computing Systems (2007), S. 125–134. 48 Vgl. Denzil Ferreira et al.: »Human Sensors on the Move«. In: Vittorio Loreto et.al. (Hg.): Participatory Sensing, Opinions and Collective Awareness. Heidelberg: Springer, 2017, S. 9–19, hier S. 13f.

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Der Touch-Stream 89

Vor dem Horizont der skizzierten Theorien von Hansen bis Thrift drängt sich die Frage auf: Bedeutet die Durchdringung der Welt durch computergestützte Sensoren eine Durchdringung der Welt durch neue künstliche Intelligenzen? Beim Smartphone und seiner Ökosensorik bleibt eine nüchterne Diagnose zu konstatieren: Nichts ist hier in einem klassisch kybernetischen Sinne selbsttätig. Sensoren werden den Sandbox-Apps als Dienste des Betriebssystems asymmetrisch zur Verfügung gestellt. Auf manche davon kann der Nutzer zugreifen, andere bleiben in gewisser Weise latent. Sie assistieren umgebungs-sensitiv, zum Beispiel bei allen Navigations- und LokalisationApplikationen. Ähnlich dem Sharing hat ihre Funktion der Assistenz aisthetisch ambivalente Züge. Diese aisthetische Ambivalenz wird noch deutlicher, wenn wir denjenigen Smartphone-Sensor näher betrachten, der aus meiner Sicht das Epochale am heutigen Smartphone in Gang gesetzt hat: Vom Namen her gibt es das ›Smartphone‹ schon seit 1997.49 Aber erst mit dem ›Multi-Touch-Screen-Sensor‹ von 2007 kam die riesige Verbreitungswelle (2017, > 2 Milliarden weltweit) in Gang. Vor allem mit diesem Sensor wurde das Gerät revolutionär, weil nie zuvor ein automatisiertes Zusammenspiel von Bewegungs-, Audio-, Licht- und Berührungs-Sensoren, also eine ganze sensorische Ökologik, so effektiv in einen mobilen Computer implementiert wurde. Je in welcher Lage das Phone im Raum liegt, bereiten Sensoren vor, wie das gläserne Display mit Fingern gestisch zu bedienen ist und meine Stimme aus den Umgebungsgeräuschen heraushört. Dieses Setting, dieses Enviroment aus »Rezeptoren« und »Effektoren (Wirkungsorganen)« ist es,50 die den Paradigmawechsel des Smartphones bewirkt haben. Nicht, dass die genannten Entwicklung sich einem Zufall verdankt hätten. Aber zumindest, was den Touch-Screen-Sensor betrifft, also das berührbare Glas-Display, das zum ersten Mal in einem Computer-Interface die Differenz zwischen Sehen und Agieren aufgehoben und beides, Sehen und Berühren,

49 Und dies, als die schwedische Firma Ericsson ihr G 88 unter diesem Namen auf den Markt brachte (eine Art Remake des legendären Nokia Communicator) – und sogleich wieder vom Markt nahm. Es lohnt nicht, die lange Reihe der Toshiba, Siemens und BlackBerry-Geräte aufzulisten, die bis 2007 auf dem Markt gekommen sind. 50 Uexküll: Umwelt und Innenwelt der Tiere (wie Anm. 22), S. 45.

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erstmals verschränkt hat, – nichts davon entstammt einem Entwicklungslabor bei Microsoft, Apple oder Google. Das komplexe Paradigma passte offenbar nicht ins herrschende Denkbild der frühen 2000er Jahre; am Rande vielleicht gerade noch, wie ich gleich zeigen kann, in die Design-Philosophie am MIT. Dort hatte Danny Hillis schon 1982 einen ›elektrischen‹ Finger entwickelt und dabei der Wissenschafts-Welt hinterlassen, dass Berührung und komplexe Gestalterkennung ganz eng verkoppelt sind (»Why Touch Is Easier than Vision«)51. Aber weiter geschah nichts und erst ein gutes Jahrzehnt später, in einem völlig anderen Zusammenhang, kam Wayne Westerman, ein Programmier-Nerd aus Delaware, auf Hilles Arbeiten zurück. Westerman war in jungen Jahren erkrankt am Karpal-Tunnel-Syndrom seiner Hände (aufgrund übermäßigen Tastatur-und Maus-Gebrauchs von Kindheit an) und ersann daraufhin als graduate student mit seinem Computer-Science-Lehrer John Elias 1998 das Patent einer Glasfläche, welche er, um auf der aufgedruckten Tastatur zu schreiben, mit seinen Fingern nur leicht berühren musste. Unter dem Glas war ein dichtes Leitungsgitter von minimaler elektrischer Spannung angebracht. Diese Spannung ändert sich, wo ein menschlicher Finger das Glas berührt und in die Fingerspitzen also Spannung abfließt. In operationellen Bildern visualisiert, wandern Elektronen aus den Elektroden unter dem Glas in die Fingerspitze auf der Glasfläche, wobei diese Spannungsänderung dann nach XY-Koordinaten lokalisierbar ist. Solche ›kapazitive Sensoren‹ laufen mit schnell schaltenden Spannungsreglern (in Gestalt Integrierter Chips), die in Millisekunden abfragen, ob sich irgendwo Spannungszustände geändert haben. Auch die Bell-Labs hatten schon Anfang der 1980er Jahre entfernt Ähnliches patentieren lassen,52 aber nichts davon wanderte in die R&D-Abteilungen der großen Computerfirmen. Also gründeten Westerman und Elias 1998 ihre Firma FingerWorks und verkauften in den folgenden sieben Jahren wohl einige Zehntausend ihrer gläsernen Touch-Screen-Tastaturen. Beide Hände aufliegend tippen auf ihnen die Finger durch minimale Berührungen und simulieren zugleich durch leichtes Wischen eine Computer-Maus (»Gesture your mouse away«).53 »Just Flow« nannten die Entwickler diesen Effekt: »You know that creative flow that

51 W. Daniel Hillis: »A High-Resolution Imaging Touch Sensor«. In: The International Journal of Robotics Research 1.2 (1982), S. 33–44, hier S. 38. 52 Vgl. Robert A. Boie et.al.: »Computer Mouse Or Keyboard Input Device Utilizing Capacitive Sensors«. Patent-Nr.: 5,463,388 [45]. Datum: 31. Oktober 1995. 53 Katie Dean: »Gesture Your Mouse Goodbye«. Auf: https://www.wired.com/2003/05/

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artists and musicians rave about, with their workpieces taking shape at the speed of thought? Programmers want that too. No you can save, select, cut, paste […] indent, stylize, Escape and more by gesturing right over the keys. – No looking, no reaching. No recognition delay. Just Flow.«54 So elegant in den Computer schreiben, wie Paco de Lucia über seine Gitarre gleitet – das waren Ethos und Pathos des MTS aus der Sicht seiner Entwickler. Die Finger kippen beim Tippen nur leicht herab, das Berühren geschieht aus einer fließenden Bewegung heraus. Zwei Finger der rechten Hand, zeitgleich auf dem Glas, steuern die Maus, egal welche Tasten sie überstreichen; zwei Finger links den Cursor; eine Wischgeste mit drei Fingern schließt das aktuelle Fenster, weitere Fingergesten erlauben Datei-Management und Browser-Befehle etc.; der Vorläufer des heutigen Smartphone-Interface erlaubte sehr viel mehr Handund Fingergesten als der später verbaute MTS. Westermans und Elias’ Sensor – hat man genügend geübt und gelernt, das Ding zu bedienen – mag wohl besondere aisthetische Erfahrungen emergieren: Mithilfe der Hände gleichsam im Computer versinken: eins werden mit ihm, zu einem einzigen ›Stream‹. Genau das hatte übrigens bereits der Erfinder der Computer-Maus, Doug Engelbart, mit der von ihm propagierten (und 1968 in der berühmten »Mother of all Demos«55 vorgeführten) Kombination im Sinn: das Fünf-Finger-»Chord-KeySet«56 unter der linken und die Maus in der rechten Hand. Engelbarts Chord-Set hatte allerdings nie irgendeine Marktreife erreicht, denn, um mit fünf Tasten 32 Zeichen zu schreiben, musste man erst den vollständigen »Baudot-Code«57 erlernen. Alan Kay, einer der wichtigsten Designer des heute allgegenwärtigen PC-›Graphical User Interface‹, hatte zu Engelbarts Maus-plus-Fünf-Tasten-Arrangement schon früh bemerkt: »For better or for worse, [he] was trying to make a violin, [but] most people don’t want to learn the violin.« Westerman/Elias blieben hinge-

gesture-your-mouse-goodbye/, wired, dort dat. am 28. Mai 2003, zul. abgeruf. am 05. Februar 2018. 54 Fingerworks: Ad in MacWorld. O.O.: o.V., 2001, o. S. 55 https://www.youtube.com/watch?v=yJDv-zdhzMY, zul. abgeruf. am 05. Februar 2018. 56 Thierry Bardini: Bootstrapping. Douglas Engelbart. Stanford, Calif.: Stanford University Press, 2000, S. 63. 57 Ebd., S. 79.

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gen bei der ›gelernten‹ QWERTY-Tastatur und überließen komplexere Mehrfinger- und Handgesten denen, die ihr Handbuch genauer studieren wollten.58 FingerWorks Ruhm reicht bis auf den heutigen Tag, die Tastaturen haben immer noch Fans, die inzwischen bereit sind, das Zehnfache zu zahlen.59 2005 wurde die Firma (inklusive Patent) von Apple aufgekauft und die Produktion sofort eingestellt. Westerman und Elias – um einige Millionen reicher – wurden bei Apple ›Senior Engineers‹. So kam der ›Touch-Stream‹ als ›Touch-Screen‹ ins iPhone G2. Und so landete im Gegenzug das wohl intelligenteste Tastatur-Maus-Interface Dough Engelbarts auf den großen Haufen der ›toten Medien‹,60 während sein ›Flow‹ sich bis heute erhalten hat, nämlich als aisthetischer flow und stream, als ein körperliches Durchströmt-Werden von einem gestischen Einswerden mit einem neuen prozeduralen Gerät.

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Die Däumlinge und der Doppelklick

Seither verschicken, wie Michel Serres schreibt, die neuen »Däumlinge« mit »beiden Daumen SMS« – unbeleckt von jeder epistemologischen Kenntnis über die beschriebenen Technologien, aber umso mehr voller Enthusiasmus für sie, proklamiert der französische Wissenschaftsphilosoph eine neue Epoche: »Beobachten Sie, wie die kleinen Däumlinge ihre Handys handhaben, mit den Daumen Knöpfe, Spiele, Suchmaschinen bedienen: Sie erschließen, ohne zu zögern, ein kognitives Feld, das ein Teil der überlieferten Kultur, jener der Geistes- und Naturwissenschaften, lange Zeit hatte brachliegen lassen und das ›prozedural‹ genannt werden kann.«61 Mit Prozeduren, auf die Serres hier anspielt, verfuhren von alters her Wissenschaften wie Rhetorik und Medizin. In Serres Sinne wird Prozeduralität heute, im Kontext »pluralistischer Ontologien«,62 definiert in algorithmischen Regeln, gleichrangig zu allen anderen

58 Vgl. http://fingerfans.dreamhosters.com/pub/Main/DownloadArea/TouchStream Booklet.pdf, zul. abgeruf. am 05. Februar 2018, S. 16. 59 Vgl. http://fingerfans.dreamhosters.com, zul. abgeruf. am 05. Februar 2018. 60 Vgl. http://www.deadmedia.org/, zul. abgeruf. am 05. Februar 2018. 61 Michel Serres: Erfindet euch neu! Eine Liebeserklärung an die vernetzte Generation. Berlin: Suhrkamp, 2013, S. 88. 62 Henning Schmidgen: Bruno Latour in pieces. An intellectual biography. New York, NY: Fordham University Press, 2015, S. 132.

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wissenschaftlichen Verfahren. Was die Daumen betrifft, so fand schon Alan Turing, dessen 1936 entwickelte Gedankenmaschine der Vorfahre aller unserer Computer ist, dass Algorithmen nichts anderes seien als »rule of thumb processes«.63 Für Serres wird jetzt die Tatsache, dass Daumenberührung zum Schreiben verhilft, zu einer neuen Daumenregelhaftigkeit. Auf Myriaden von Computern in aller Welt verteilt, ergibt sich für Serres eine epistemologische Verschiebung in Richtung auf prozedurale Wissensgewinnung: »Ces procédures sont en passe de concurrencer l’abstrait, la géométrie par exemple, et pénètrent les savoirs et les techniques.«64 Fraglos, ›Daumenregeln‹, ausgeführt auf extrem schnellen und datenintensiv operierenden Maschinen, treten in der Digitalen Kultur mehr und mehr an die Stelle klassisch analytisch-mathematischer Verfahren, sei es in der Luftfahrt oder globalen Logistik, wie in großen Teilen der Industrie-Produktion, in Klima-Modellen der Wettervorhersage etc. Kurz gesagt, sie kommen in all den Industrie- und Wissenschaftsfeldern zum Zuge, die auf computergestützte Simulationen setzen.65 Bei näherer Betrachtung allerdings drängt sich der Einwand auf, dass Serres hier ein Kurzschluss unterläuft. Wie zu sehen war, entwickeln die Däumlinge an ihren Smartphones keine Algorithmen und Prozeduren, sondern tippen, was vorgegeben ist. Sie tun also genau das Gegenteil von dem, was Serres sagt. Sie haben keine ›Turing-komplette‹ Maschine vor sich, sondern befolgen ausschließlich beschränkte Daumenregeln in abgeschotteten Sandkästen. In der Nomenklatur des Serres-Schülers Bruno Latour könnte man Smartphone-Apps mit jenen »Blackboxen« vergleichen, die, wie der Latourianer Graham Harman bemerkt, eben nur so aussehen wie Heideggers »Zeug«, »das uns erlaubt, das massive Netzwerk von Allianzen zu vergessen, aus denen es zusammengesetzt ist, solange es alles glatt läuft«66. Eine Blackbox, wie sie Latour im wissenschaftsethnographischen Kontext definiert, ist ein Ding, das – wie zum Beispiel ein Geigerzähler – eine komplexe Zahl von Operationen auf einige wenige reduziert, »ganz gleich, aus wievielen Elementen sie besteht«67. 63 A. M. Turing: Programmers’ Handbook for Manchester Electronic Computer. Manchester: University of Manchester Computing Laboratory, 1950, S. 1. 64 Michel Serres: Petite poucette. Paris: Éd. Le Pommier, 2012, S. 55. 65 Vgl. Claus Pias: »On the Epistemology of Computer Simulation«. In: Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung 1 (2001), S. 29–54. 66 Graham Harman: Prince of networks. Bruno Latour and metaphysics. Melbourne: re.press, 2009, S. 34, Übers. d. Verf. 67 Bruno Latour: Der Berliner Schlüssel. Erkundungen eines Liebhabers der Wissenschaften. Berlin: Akademie, 1996, S. 187.

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Bei dieser Art der Reduktion käme, was das Smartphone betrifft, noch eine weitere Latoursche Kategorie ins Spiel, nämlich eine so genannte »Existenzweise« namens »Doppelklick«, wie sie die Däumlinge ohne Unterlass betätigen, die aber, weit mehr noch als die Blackbox, in den Augen Latours absolut ›des Teufels‹ ist: »Diesen Teufel werden wir in Anspielung auf die Computer-Maus als DOPPELKLICK bezeichnen […]. Ausgehend von einer vollkommen exakten Erfahrung – die Referenz erlaubt den Zugang –, wird uns dieser Böse Geist ins Ohr flüstern, es sei besser, über einen kostenlosen, unbestreitbaren und unmittelbaren Zugang zur Information – rein und ohne Transformation – zu verfügen.«68 Im Sinne Latours müsste man gegen seinen Lehrer Serres festhalten: Smartphone-Däumlinge (mit Ausnahme Jay Freemans) sind erzwungenermaßen Adepten des Doppelklicks, dessen ›teuflische‹ Seite darin besteht, dass ihre Sandkasten-Echokammern niemand korreliert, erweitert oder transformiert: »Für Doppelklick kommt nicht nur der Strom aus der Steckdose, sondern auch das Geld. Für Doppelklick verlaufen die Übersetzungen ohne Umweg, ohne Bruch, geradlinig und kontinuierlich. Existenzweisen aber zeigt, dass es gerade Brüche, Pässe und Umwege sind, d. h. die Topologien von Übersetzung und Transformation, die so etwas wie Geradlinigkeit und Kontinuität ermöglichen.«69 Wie immer man diesen seltsamen (und offenbar ansteckenden) fiktional-metaphysischen Stil der Latourschen Gegenwarts-Ethnographie bewerten mag, er deutet hier, wenn auch mit unbrauchbarer Begrifflichkeit, wichtige Punkte an: Selbst wenn die Däumlinge eine enorme Zahl von Applikationen verwenden, und also im Ergebnis mit einer schier unbegrenzten Vielfalt und Varietät in der Welt vernetzt sind/sein können; selbst wenn Sie damit (potentiell und aisthetisch) mehr Wissen erlernen (könnten), und das in kürzerer Zeit, als jede Generation vor ihnen, – bleibt es dabei, dass ihre Zugänge zur Welt stets durch anästhetische Blackboxen hindurch gehen müssen, die ihnen immer wieder neu den Blick verstellen.

68 Ders.: Existenzweisen. Eine Anthropologie der Moderne. Berlin: Suhrkamp, 2014, Pos. 2209. 69 Michael Schillmeier: »Vom Seelentöter der Differenz – Doppelklick in den Existenzweisen«. In: Hennig Laux, (Hg.): Bruno Latours Soziologie der Existenzweisen. Einführung und Diskussion. Bielefeld: transcript, 2016, S. 207–228, hier S. 214.

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Die taktile Synästhesie der Assistenz 95

Technisch zählt die Multi-Touch-Screen-Oberfläche des Smartphones zu den ›taktilen‹ Sensoren, von denen es zahllose, z. B. per Druck und Stift bedienbare, schon vor ihm gab. Allerdings erzeugt die Taktilität dieses Sensors eine seltsame und neue Synästhesie, insofern sie die Assistenzfunktion des ganzen Geräts betrifft, dessen Bildschirm mittels Licht- und Bewegungs-Sensoren (Ambient-, Beschleunigungs- und Gyroskop-Sensor) gleichsam für jede kommende Berührung vorbereitet wird – ein opportunistisches »present-tohand«.70 So, eingebunden zwischen Bild und Berührung, gewinnt das Gerät selbst eine synästhetische Haptik, die nicht einfach nur technisch, sondern durchaus im Sinne Walter Benjamins ›taktil‹ genannt werden kann. Bekanntlich entwickelte der späte Benjamin, im Kunstwerk-Aufsatz 1936, mit dem ›Taktilen‹ einen sehr weiten ästhetischen Begriff, der angesichts des Tonfilms, eines neuen Mediums seiner Zeit, zum Konzept einer neuen Aisthesis, d. h. einer Wahrnehmungslehre wurde. ›Taktil‹ nannte Benjamin eine ›berührende‹ Wahrnehmung, die ohne einen physischen Kontakt im engeren Sinn geschieht. Um zu verdeutlichen, was er meint, nimmt er die Sammler als Beispiel, die ein quasi-physisches, nämlich ›taktiles‹ Verhältnis zu ihren Sammlungsstücken entwickeln und auf diese Taktilität oft genug die idiosynkratische Taxonomie ihrer Sammlungen gründen. Anderes Beispiel: »Bauten werden auf doppelte Art rezipiert: […] taktil und optisch«.71 Die Bedeutung der »taktilen Apperzeption« habe von der »Architektur, wo sie ursprünglich zu Hause ist«, aber längst »auf die übrigen Künste« übergegriffen, argumentiert Benjamin, nämlich vom Dadaismus ausgehend – da »wurde das Kunstwerk […] zu einem Geschoß […] stieß dem Betrachter zu, […] gewann eine taktile Qualität«72 – auf den Film, »dessen ablenkendes Element ebenfalls in erster Linie ein taktiles ist, nämlich auf dem Wechsel der Schauplätze und Einstellungen beruht, welche stoßweise auf den Beschauer eindringen«.73

70 Adam Kossoff: »he Mobile Phone and the Flow of Things«. In: Marsha Berry u. Max Schleser (Hg.): Mobile Media Making in an Age of Smartphones. New York: Palgrave Macmillan, 2014, 35–44, hier S. 37. 71 Walter Benjamin: Medienästhetische Schriften. Mit einem Nachw. v. Detlev Schüttker. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2002, S. 380. 72 Ebd., S. 378. 73 Ebd.

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Bemerkenswert ist, dass dieser Taktilität duale Zuschreibungen wie beim Hören oder Sehen (z. B. bewusst/unbewusst) fehlen, sondern dass das Taktile gleichsam ein sensorisches Zwischenfeld ausfüllt: »Es besteht nämlich auf der taktilen Seite keinerlei Gegenstück zu dem, was auf der optischen die Kontemplation ist. Die taktile Rezeption erfolgt nicht sowohl auf dem Wege der Aufmerksamkeit als auf dem der Gewohnheit«.74 Nichts passt besser zu der Beschreibung der epochalen Veränderung, die das Smartphone emergiert, als dieser weite Begriff des ›Taktilen‹ bei Walter Benjamin, der zwischen Bild und Berührung eine neue aisthetische Gewohnheit und Kulturtechnik eigener Art beschreibt. Für Benjamin, der 1936, mitten im Faschismus und in höchster existentieller Not, sein kunsttheoretisches Vermächtnis resümiert, ist das Taktile ein Utopiens für ein neues Kunstverständnis, in jenen »geschichtlichen Wendezeiten«, in denen »dem menschlichen Wahrnehmungsapparat Aufgaben gestellt werden, [die] auf dem Wege der bloßen Optik, also der Kontemplation, gar nicht zu lösen [sind]«.75 Diesen Kontext reaktualisiert heute, in einer vergleichbar fundamentalen Wendezeit, der elektronische Multi-TouchSurface-Sensor, und das nicht nur, weil er anästhetisch, d. h. unmerklich, die Elektrizität unserer Fingerspitzen nutzt. Auf eine synästhetische Weise kommen im Smartphone Epistemologien und Techniken zusammen, die ich, vor dem Horizont von Benjamins Taktilitäts-Begriff, von ihrer eigenen Entwicklung her erläutern möchte. Dieser Blick führt uns in das Media Lab (1985–) des MIT und zu seiner Vorgängerin, der Architecture Machine Group (1965–1985). Bekanntlich wurden hier, am MIT, von den 1960er Jahren an die ersten grafischen Computer-›Displays‹ entwickelt, die ab 1970 der Entwicklung des PCs im kalifornischen PARC einen wesentlichen Schub gaben. Doch in der MIT-Welt an der Ostküste waren diese Displays mehr oder minder von Beginn an mit etwas ganz anderem verbunden, nämlich einer transzendierend-›ultimativen‹ Utopie. Ivan Sutherland, unbestrittener Pionier des graphischen Bildschirms mit seiner ›Sketchpad‹-Applikation76 von 1963, hatte sich hier am weitesten vorgewagt: »The ultimate display would, of course, be a room within which the computer can control the existence of matter. A chair displayed in such a room would be good enough

Ebd., S. 380. Ebd. 76 Vgl. Ivan E. Sutherland: »Sketchpad – A Man-machine Graphical Communication System« [1963]. In: Noah Wardrip-Fruin (Hg.): The new media reader. Cambridge, Mass. Et al.: MIT Press, 2003, S. 109–126. 74

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to sit in. Handcuffs displayed in such a room would be confining, and a bullet displayed in such a room would be fatal.«77 Nirgendwo wird so klar (und so frech behauptet), was die ComputerPioniere in Harvard und am MIT von Anfang an im Blick hatten. An Screens, Bildschirmen, Datenbrillen oder intelligenten Handschuhen für die Bedienung von Maschinen, als Alternative zur Tastatur und Maus, hatten sie nämlich kaum Interesse. Viel mehr schon an Gesten und Stimmen, environmental in ›Medienräumen‹78 implementiert; vor allem aber an einem »haptischen« Design von Computern, das gleichsam einen anästhetischen Material-Charakter annehmen und dennoch intelligent »respondieren« sollte : »The tactile properties of a computer«, schreibt Nicholas Negroponte in der Rückschau, »have almost exclusively been thought of as you touching it, not vice versa. I was involved in building an early prototype of a machine that pushed back at you, a force-feedback device in which the effort required to move it could be a function of anything you wanted.«79 1967 geht Negroponte in seiner Architectural Machine Group ans Werk, und entwickelt hier, in den nächsten zwei Jahrzehnten, mit seiner Gruppe u. a. die legendäre Aspen Movie Map, einen raumfüllenden Prototyp des heutigen Google-Earth, »a computer-controlled, video-disc-based system which displays two representations of a virtual environment – as travel land and as map land. The user explores both worlds interactively«80. Margaret Minsky (Tochter Marvin Minskys, des Artificial Intelligence-LabGründers am MIT), nebenbei ausgebildete Trapez-Artistin, war 1984 eine der ersten, die den Bildschirm als ein haptisches Gerät umrüstete, so dass man darauf mit unterschiedlicher Kraft herum-›grabschen‹ konnte (»letting the user touch, poke, and move the objects around«)81; und Margaret Minsky war es auch, die 1995 das Prinzip der inzwischen von Apple patentierten »Tap-

77 Ivan E. Sutherland: »The Ultimate Display«. In: Proceedings of IFIP Congress (1965), S. 506–508, hier S. 508. 78 Vgl. Richard A. Bolt: »›Put-That-There‹: Voice and Gesture at the Graphics Interface«. In: ACM SIGGRAPH Computer Graphics 14.3 (1980), S. 262–270 79 Nicholas Negroponte: Being digital. The road map for survival on the information superhighway. London: Hodder & Stoughton, 1995, S. 134. 80 Robert Mohl: Cognitive Space In The Interactive Movie Map. Diss., Massachusetts Institute of Technology, 1982, S. 2. 81 Margaret R. Minsky: »Manipulating Simulated Objects with Real-world Gestures using a Force and Position Sensitive Screen«. In: Computer Graphics Volume 18.3 (1984), S. 195–203, hier S. 195.

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tic Engine«82 entwickelte, die in allen Touch-Pads der 2016-er Macbook-Reihe sowie im iPhone 7 eingebaut ist. Es geht dabei um etwas hoch Synästhetisches, nämlich »a novel lateral-force gradient algorithm«,83 angewandt auf einen kleinen Baustein, in welchem ein Metall-Gewicht, in einem Feder-Mechanismus hängend, magnetisch so angeschlagen wird, dass ein kleiner Lateral-Schlag durch das Gerät geht. Die Synästhesie dieses Effektes ist, dass beim Drücken auf eine Oberfläche (zum Beispiel die kleine runde Glasscheibe namens ›Home-Button‹) auf den Finger der Eindruck übertragen wird, als raste ein Schalter nach unten hin ein, eine elektromechanisch bewirkte Tiefen-Illusion. Ansteuerbar sind solche lateralen Schläge durch jede beliebige Programmierung; App-Entwickler haben vollen Zugang zur entsprechenden Schnittstelle und können es haptisch klicken lassen, wie und wo sie wollen. Es muss demnach nicht, ›ich tippe‹, sondern ›es tippt mich‹ heißen. Anästhetisch kehrt sich hier ganz im Sinne der frühen MIT-Philosophie die Assistenzfunktion um. Nicht ich mache das Smartphone zu meinem Assistenten, sondern es macht mich zu seinem. Diese öko-sensorische Umkehrung schafft weitere Sicherheiten, auf anästhetische Weise, und verkoppelt sich zudem noch einmal mit der öko-systemischen Sandkasten-Funktion, die sich ja auch nur erfüllt, wenn das Gerät im Netz ›gekoppelt‹ ist.

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Smartphone-Bilder und die Anästhesie der Nicht-Repräsentation

Was bedeutet diese doppelte Techno-Ökologie für das, was mit dem Smartphone am Häufigsten geschieht, das Bildermachen?84 »Das digitale Photo«, schreibt Bernard Stiegler schon 1995, »setzt einen bestimmten spontanen Glauben außer Kraft, den das analoge Photo in sich birgt. Betrachte ich ein 82 Shen Ye: »The science behind Force Touch and the Taptic Engine«. Auf: http://www. imore.com/science-behind-taptics-and-force-touch, Wednesday, 08. April 2015, zul. abgeruf. am 05. Februar 2018. 83 Margaret Minsky: Computational Haptics. The Sandpaper System for Synthesizing Texture for a Force-Feedback Display. Diss., Massachusetts Institute of Technology, 1995, S. 1. 84 Vgl. https://www2.deloitte.com/content/dam/Deloitte/de/Documents/technologymedia-telecommunications/Global-Mobile-Consumer-Survey-2016.pdf, zul. abgeruf. am 05. Februar 2018.

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digitales Photo, kann ich nie völlig sicher sein, ob das, was ich sehe, wirklich existiert, sowenig ich sicher sein kann, daß es nicht existiert – denn es handelt sich immerhin um ein Photo.«85 Stiegler fragt, bereits schwankend und unsicher, noch einmal nach der Repräsentation des photographischen Bildes. Er geht dabei, wie Roland Barthes, von einer »techno-intuitiven Wissensart« aus, die sich die Geräte beschaut und von ihrer Funktion her auf das Ergebnis schließt. Stiegler weiß, dass das digitale Bild durch winzigste Photozellen zustande kommt, die das Licht in elektrische Spannung wandeln. Ergänzen wir, dass solche Photodioden – Stand 2017 – in Smartphone-Image-Sensoren zu 23, zwölf oder sieben Millionen auf Briefmarkengröße zusammengepackt sind; jede einzelne Diode ist mit Transistoren für Verstärkung, Übertragung und Löschung der gewonnenen Signalspannung bestückt. Weitere Prozessoren setzen diese ›Pixel‹-Informationen dann zu einem Bild zusammen, erledigen Weiß-Abgleich, Farb-Temperaturen und -korrekturen, beseitigen Bildrauschen, korrigieren defekte Dioden/Pixel, ermitteln den Focus, erkennen Gesichter, Lokalität, (bei Sonne) Tageszeiten und optimieren danach noch einmal die Bildschärfe etc. Wie weit trägt hier eine ›techno-intuitive‹ Sichtweise für die Klärung der Frage nach der Repräsentation? Versuchen wir es mit den Unterscheidungen, die Roland Barthes in seinem chambre claire-Buch zusammengetragen hat, in seinem Todesjahr 1980 geschrieben, das sich heute wie ein Rettungsversuch des fotografischen Mediums liest. Barthes zerlegte die analoge Fotografie in drei Perspektiven, nämlich in die des »operators«, des »spectators« und die des »spectrums«: »Der Operator ist der Photograph. Der Spectator, das sind wir alle, die wir [...] Photos durchsehen. Und was photographiert wird, ist Zielscheibe, Referent, eine Art kleines Götzenbild, vom Gegenstand abgesondertes eidolon, das ich das spectrum der Photographie nennen möchte«.86 Den Unterschied zum Digitalen macht schon auf den ersten Blick die veränderte Rolle des ›operators‹. Barthes bekannte noch, er selbst sei nie Fotograf gewesen, »[...] nicht einmal Amateurphotograph; dafür habe ich zu wenig Geduld: ich muss auf der Stelle sehen können, was ich gemacht habe«.87 Mit einem iPhone wäre er’s also ganz sicher geworden. Denn mit dem iPhone ist

85 Bernard Stiegler: »Das diskrete Bild«. In: Jacques Derrida u. Bernard Stiegler: Echographien. Fernsehgespräche. Wien: Passagen, 2006, S. 162–188, hier S. 166. 86 Roland Barthes: Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie [1980]. 2., durchges. Aufl. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1986, S. 4. 87 Ebd., S. 17.

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mal ebenfalls »nie Fotograf«. Kein Sucher, sondern stetiges farbiges Display, kein Warten auf das Bild (wie noch beim Polaroid), sondern »Predictive Capture«,88 also Bilder, bevor sie überhaupt ausgelöst werden, keine Blende, keine Schärfe, keine Belichtungszeit; alles das regeln Sensor und Image Processing im Augenblick. Es existiert so viel Speicherplatz (fleißiges Löschen und kostenfreie Foto-Portale mit eingerechnet), so dass der digitale ›operator‹ ohne jede Geduld drauf los ›knipsen‹ kann. Der Hauptunterschied ist hier: Das Blickregime eines analogen Operators war von Zeitaufwand und Sorgfalt geprägt. Jim Rakete, der legendäre PopFotograf, verachtet deshalb die digitale Fotografie: Fotografie heißt heute, einer macht mit dem Handy ein Bild und schickt es woanders hin. Das führt zu einer Entwertung des einzelnen Bildes. Es führt weg davon, sich etwas aus einem Foto herauszulesen. Dieser Siegeszug der Bilderflut ist durch nichts mehr einzudämmen. Ein weiterer Nachteil ist dieses ›Wie wollen Sie’s gerne haben?‹. Alles ist verlegt auf das Hinterher. Vollkommen egal was man fotografiert hat, hinterher kann man daraus irgendwas machen. Für mich war die wirkliche Trophäe von Fotografie immer, dass das Foto auch ein Ergebnis einer Begegnung ist. […] Das Bild hat diese Kraft von Begegnung nicht mehr.89

Rakete hat Recht: Ein Sensor, der alles technisch Nötige für das Bild schon berechnet hat, bevor wir Operatoren nur die Augen aufschlagen, ›begegnet‹ seinem Objekt nicht. Für den Smartphone-›operator‹ gibt es keine sozialen Zugangs- und Zeit-Schwellen mehr, seine Bilder werden semiautomatisch erzeugt. Die Abfolge von ›operator‹ und ›spectator‹ sind ohnehin schon umgekehrt, denn der Smartphone-›Knipser‹ sieht sein Bild ja bevor er den Button drückt. Statt mit einer sozialen Begegnung wird er in eine technologische Sensation hineingesogen, wie Jennifer Gabrys bemerkt: »Sensation, in this case, appears to be displaced to technologies that operate as automatic and even ›inhuman‹ organs of sense.«90

88 Vgl. Sony Pressemeldung zum XPeria XS PRemium. Auf: http://www.cdrinfo.com/ Sections/News/Details.aspx?NewsId=51067, zul. abgeruf. am 05. Februar 2018. 89 Jim Rakete (2012): »Fotos sind Ergebnisse von Begegnungen«. In: Kultur und Politik, 09. Februar 2012. Auf: https://www.vorwaerts.de/artikel/fotos-ergebnisse-begegnungen, zul. abgeruf. am 05. Februar 2018. 90 Jennifer Gabrys: »Automatic Sensation: Environmental Sensors in the Digital City«. In: The Senses and Society 2 (2007), S. 189–200, hier S. 190.

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Wir kommen nicht umhin, was hier geschieht, immer noch Fotografie zu nennen, aber das ist schon der Unsinn selbst. Denn die größte Differenz zwischen dem Analogen und dem Digitalen, was technointuitive Wissensfragen betrifft, liegt im ›spectrum‹ der Fotografie. Roland Barthes berühmte Definition unterlegt dieser »Erscheinung (eidolon)«, ein »Noema«, einen Grundgedanken: »Le noème de la Photographie est simple, banal; aucune profondeur : ›Ça a été‹.«91 Diese, wie Barthes betont, nicht eben besonders tiefgehende Idee der Fotografie als indexikalische Repräsentation eines ›Es ist so gewesen‹ schwankt, wie man sieht, schon in der analogen Welt, bleibt aber als Denkstil für ihn, und ich bitte: für die ›alte‹ Fotografie, zwingend. Das indexikalische Zeichen, im Sinne von Charles Sanders Peirce, das Peirce seinerseits aus der Fotografie abgeleitet hatte, unterstellt ein geschlossenes Raum-Zeit-Kontinuum. Aber genau das existiert in der quantenmechanischen und algorithmischen Welt der digitalen Fotografie nicht mehr. Zwar wird Licht, das von außen kommt, in den Photon-Zu-Elektron-Sensoren indiziert, doch werden hier, anders als in der optischen Dichte eines Films, Raum und Intensität signal- und messtechnisch getrennt. Licht fällt in einen Detektor und wird in Ladung verwandelt, aber an welchem Ort das geschieht und um welche Licht-Farbe es sich handelt (denn Detektoren können die Intensität, aber die Lichtfrequenz nicht messen), ergibt sich erst aus der Zurechnung dieser elektrischen Ladungsmenge nach den Raum-Koordinaten der Pixel-Architektur. Mit weiteren Kaskaden an ›Image-Processing on chip‹ werden die Informationen dann zu einem ›gepixelten‹ Bild zusammen gerechnet. Diese Prozedur prägt eine insofern stark abgeschwächte Ontologie, als sie kein Raum-Zeit-Kontinuum, keine ›Dichte‹, keine ›Kette des Lichts‹ mehr referenziert, sondern allein auf Logik basiert. Es ist diese rein logische Indexikalität, die digitale Fotografien, wie Peter Lunenfeld sagt, ›dubitativ‹92 macht, also zu konjekturalen Bildern ›aus zweiter Hand‹; obwohl alles so ›perfekt‹ wirkt und aussieht wie eine Fotografie alten Typs. Viel zu oft wird vergessen: Im ersten und entscheidenden Schritt der Spannungserzeugung ist die Digitalisierung von Licht kein digitaler, kein algorithmischer, kein kybernetischer und auch kein analoger Vorgang, sondern ein quantenmechanischer. Wenn es um Silizium-Physik, also um Sensoren geht, 91 Roland Barthes: La chambre claire. Note sur la photographie. Paris: Gallimard, 1980, S. 176. 92 Vgl. Peter Lunenfeld: »Digital Photography. The Dubitative Image«. In: ders.: Snap to grid. Cambridge, Mass.: MIT Press, 2000, S. 55–69.

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befinden uns in einer besonderen Welt der Anästhesie. Wahrnehmung oder Erfahrung gelten hier nichts. In der Welt der Photonen (Lichtteilchen, die zugleich eine Welle beschreiben), welche mit Elektronen (den Ladungsträgern der Elektrizität) wechselwirken, können wir nichts sehen und uns nichts vorstellen, sondern nur in »operationellen Bildern«93 sprechen. Das sind aber keine Bilder, die die ›Wahrheit‹ sagen, sondern sie sind, wie Percy Bridgman festhielt, gerade eben ausreichend, um Vorgänge im Labor oder mathematische Verfahren zu veranschaulichen. In diesen Messvorgängen einer nicht-repräsentativen, sondern komplett durch-simulierten Welt der Quantenmechanik, wird, wie John von Neumann es elegant formulierte, ›Erinnerung gegen Wissen‹94 getauscht und mit Wissen (und Algorithmen) jederzeit Erinnerung konstruiert. Dem entsprechen unsere Verfahren im Bereich der Smartphone-Sensoren sehr gut: Auf unserem Display sehen wir einen großen Mond, den wir aber, sozusagen auf Knopfdruck, erstens sofort kleiner rechnen oder, mit einer anderen App, in eine gleißende Sonnenscheibe verwandeln könnten. Gerade ihre Nicht-Originalität und Nicht-Repräsentativität gibt sensorisch erzeugten Bildern die Chance auf grenzenlose Varianz und, bildlich gesprochen, eine grenzenlose Kreativität und eine – so zu sagen – maximale künstlerische Freiheit. »Tatsächlich kann die Photographie Kunst sein«, sagte dazu schon Barthes: »wenn jegliche Verrücktheit, jegliches Noema aus ihr verschwunden ist und damit ihr Wesen keine Wirkung mehr auf mich ausübt.«95 Die Instagram-Filter sind wohl auch deswegen so beliebt, weil sie jedem Bild mit einem Klick einen ganz anderen, meist aus der Bildgeschichte der analogen Fotografie herstammenden ›Touch‹ verschaffen können. Insofern im Digitalen ›Erinnerung gegen Wissen‹ getauscht wird, bleibt das bildliche Ergebnis kalt und abstrakt; deshalb werden Filter gesucht, um Erinnerung, Patina, Gestrigkeit, aber auch Stil, Glanz und Eleganz wieder zurückzugeben. Barthes würde diese Bemühungen unter fotografische Kunst subsumieren, wie es sie spätestens seit dem Piktorialismus des späten 19. Jahrhunderts gegeben hat – was ihn nicht interessiert.

93 P. W. Bridgman: The Way Things Are. Cambridge: Harvard University Press, 1959, S. 220. 94 Vgl. Verf.: »Die Entropie der Fotografie. Skizzen zu einer Genealogie der digitalelektronischen Bildaufzeichnung«. In: Herta Wolf (Hg.): Paradigma Fotografie. Fotokritik am Ende des fotografischen Zeitalters. Bd. 1. Frankfurt a. M.:Suhrkamp, 2002, S. 195–235. 95 Barthes: Die helle Kammer (wie Anm. 86), S. 128.

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›Fotografieren‹ mit dem Smartphone ist ein wichtiger ökonomischer und kultureller Treiber seines techno-sozialen Ökosystems. Es erzeugt mit der Überfülle von täglich Aberhundertmillionen neu zirkulierender Fotos eine Allsichtbarkeit und Allpräsenz, die ihrerseits eine epistemologische Drift vorantreibt, welche in einem doppelten Sinn unsere Gegenwart prägt. Es ist die Drift zur »Präsentifikation«96 aller Gegebenheiten und damit zu einer Dehnung oder ›Verbreiterung‹ der Gegenwart selbst. An die Stelle der klassischen Chronotopie einer ›historischen Zeit‹, von der man noch ›für die Zukunft‹ lernte, tritt die perennierende Gegenwart einer techno-sozial induzierten Digitalen Kultur, die stets im Modus einer ›vergangenen Zukunft‹ operiert: Gegenwart zwar, aber schon veraltet, weil immer auf das neueste Update wartend. Nach Georg Simmels berühmter Definition, kann man ein Ereignis ja nur »historisch« nennen, »wenn es aus sachlichen, gegen ihre Zeitstelle völlig gleichgültigen Gründen eindeutig an einer Zeitstelle fixiert ist. Also: dass ein Inhalt in der Zeit ist, macht ihn nicht historisch; dass er verstanden wird, macht ihn nicht historisch. Erst wo beides sich schneidet, wo er auf Grund des zeitlosen Verstehens verzeitlicht wird, ist er historisch«97. Historisches Verstehen ist also an ein unverrückbares Datum in einem Raum-Zeit-Kontinuum gebunden, damit darüber überhaupt ein Verstehensprozess in Gang kommen kann. Mit einer solchen ›eindeutigen Fixierung‹ an eine Zeitstelle ist es vorbei, was sensorische Bilder und ihren algorithmischen Verstehensraum betrifft. Ihre Zirkulation im Ökosystem der Sozialen Netzwerke führt zu einer ständigen Reprogrammierung ihrer ›Zeitstellen‹ – eben zu ihrer stetigen ›Präsentifikation‹. Damit aber gelangen sie keineswegs auf sicheren ›Grund‹, sondern von Beginn an in den Modus einer schwachen Ontologie. Wohl um genau dagegen zu halten, gegen die innere Schwäche jeden einzelnen Smartphone-Bildes, das in gewisser Weise ja keines ist, tritt die sensorische Bildlichkeit in so unvorstellbar massierten Stückzahlen auf. Jeden Tag werden diese Aberhundertmillionen Fotos auf die Plattformen hochgeladen, nur um mit dem nächsten Schwall ihre ontologische Schwäche noch einmal zu überspülen. Es geht immer und immer wieder nur darum, die Präsenz des Fotografen/der Fotografie zu bestätigen.

96 Hans Ulrich Gumbrecht: Diesseits der Hermeneutik. Die Produktion von Präsenz. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2004, S. 111. 97 Georg Simmel: »Das Problem der historischen Zeit«. In: ders.: Gesamtausgabe. Bd. 15. Hg. v. Uta Kösser, Hans-Martin Kruckis u. Otthein Rammstedt. Bd. 15. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2005, S. 288–304, hier S. 294.

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In der Abenddämmerung des Analogen versuchte Roland Barthes eine letzte Definition der Fotografie: »Man könnte eher sagen, daß das Nicht-Imitierbare an der Photographie (ihr Noema) darin besteht, daß jemand den Referenten (d. h. ihr Objekt) leibhaftig oder in persona gesehen hat.«98 Diese Perspektive kehren die Image-Sensoren des Smartphones radikal um, wie in seiner Assistenzfunktion. Die Referenz eines Smartphone-Bildes setzt nämlich überhaupt keine Person voraus, die referentiell gesehen haben müsste, was auf dem Bild zu sehen ist. Das Bildermachen erledigen die Sensoren/Prozessoren selbsttätig. Auch die Person, die das Bild macht, sieht eben nur im Bild, was das Objekt des Bildes ist und starrt nur auf das große fotoerzeugende Display. Wenn man etwas weiter hinten steht, kennt jeder dieses Schauspiel bei allen größeren Events: dass die Bühne von hundertfachen Smartphone-Displays nach vorne hin schier verdeckt ist. Warum gehen die Menschen hier realiter überhaupt hin? Die Däumlinge des digitalen Ökosystems fühlen offenbar bei einem Ereignis nur dann, dass sie real da sind, wenn sie – sich anästhesierend – das Bild ihrer Realität als techno-ökologische Konstruktion vor Augen führen.

98 Barthes: Die Helle Kammer (wie Anm. 86), S. 89, Übersetzung leicht v. Verf. korrigiert.

Isabell Otto

Interfacing als Prozess der Teilhabe Zur Ästhetik von Smartphone-Gemeinschaften am Beispiel von Snapchat

»Laden, nicht verstehen, löschen«1 – so kennzeichnet das Tech-Portal BASIC thinking Anfang 2017 die Umgangsweise vieler Journalist_innen mit der Smartphone-App Snapchat. Dabei wäre eine eingehende Beschäftigung mit Snap Inc., ein seit seinem Start im Jahr 2011 ständig wachsendes Technologieund Social Media-Unternehmen, für den Online-Journalismus durchaus angemessen. Schließlich plante das Unternehmen seinen Börsengang für März 2017 und bietet seine Applikation für iOS- und Android-Mobilgeräte zunehmend Nachrichtenhäusern und Werbekunden als Verbreitungsplattform an. Snapchat ist in erster Linie eine Kamera-App, die den Austausch von Bildnachrichten ermöglicht. Die Besonderheit der App liegt darin, dass die einmal abgerufen Bilder mindestens eine, aber höchstens zehn Sekunden lang auf dem Display des Empfänger-Smartphones aufscheinen und dann verschwinden, eine Anwendung, die somit zur Verbreitung von sensiblen Bildmitteilungen wie Nacktfotos einlädt und in der Frühphase als ›Sexting‹-App2

Fabian Mirau: »Snapchat: Die bekannteste Unbekannte in der Medienlandschaft«. Auf: BASIC thinking, dort datiert am 14.2.2017, https://www.basicthinking.de/blog/ 2017/02/14/snapchat-medien, zul. abgeruf. am 10. März 2017. 2 Vgl. Franziska Roesner, Brian T. Gill u. Tadayoshi Kohno: »Sex, Lies, or Kittens? Investigating the Use of Snapchat’s Self-Destructing Messages«. In: Nicolas Christin u. Reihaneh Safavi-Naini (Hg.): Financial Cryptography and Data Security – 18th International Conference, FC 2014, Revised Selected Papers 8437. Berlin u. Heidelberg: Springer, 2014, S. 64–76; Jennifer Charteris, Sue Gregory u. Yvone Masters: »›Snapchat‹, Youth Subjectivities and Sexuality: Disappearing Media and the Discourse of Youth Innocence.« In: Gender and Education (23.5.2016), doi:10.1080/09540253.2016.1188198, S. 1–17; Joris Van 1

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galt. Snapchat hat mittlerweile zahlreiche zusätzliche Funktionen, die alle den Austausch flüchtiger, aber immer auch fixierbarer, (Bewegt-)BildNachrichten in einer ständig wachsenden Snapchat-Community gewährleisten sollen: Kurze Videos; Filter, die das eigene Selfie animieren und ›in Echtzeit‹ z. B. in ein mit verzerrter Stimme sprechendes Tier verwandeln oder einen Regenbogen ausspeien lassen; Geofilter, die nur in einer bestimmten Region angezeigt werden; die Möglichkeit bewegte und unbewegte Bildern zu einer ›Story‹ zusammenzusetzen, die von den Followern in einem Zeitraum von 24 Stunden angesehen werden können; Praktiken, die mit einem Freund gemeinsam vor dem Display durchgeführt werden können wie der Gesichtertausch in einem Doppel-Selfie (Face Swap), usw. Snapchat ist mit Funktionen, die das Smartphone in seinen unterschiedlichen medialen Verfahren ins Spiel bringen, im ›Mainstream‹ der Social Apps angekommen und beginnt Facebook seinen Rang als größtes soziales Netzwerk streitig zu machen.3 Doch Journalist_innen ist, auch wenn sie sich an den Gebrauch von Facebook oder Twitter zur Verbreitung ihrer Nachrichten gewöhnt haben und ein Smartphone zu ihrer Standardausrüstung gehört, die vor allem bei Teenagern beliebte App noch völlig fremd: »zu jung, zu neu und zu anders«.4 Ebenso ergeht es den mittlerweile in die Jahre gekommenen Pionieren der Netzkultur, die nun als Early Adopters des Nicht-Verstehens gelten können: »Wir, die wir viel früher als alle anderen Snapchat nicht verstanden haben«5, so kennzeichnet Sascha Lobo im Rahmen der Digitalkonferenz re:publica 2016 das Verhältnis der lost generation der Netzkultur – er meint damit Internet-User um die 40 – zur boomenden Smartphone-App.6 Snapchat

Ouytsel u. a.: »Sexting: Adolescents’ Perceptions of the Applications Used for, Motives for, and Consequences of Sexting.« In: Journal of Youth Studies (1.11.2016), doi:10.1080/ 13676261.2016.1241865, S. 1–25. 3 Vgl. Tim Pommerenke: »Snapchat gewinnt, Facebook verliert. Beliebte Apps bei Jugendlichen«. Auf: Spiegel online, dort datiert am 23. Oktober 2016, http://www.spiegel. de/netzwelt/apps/jim-studie-2016-snapchat-gewinnt-facebook-verliert-a-1122761.html, zul. abgeruf. am 10. März 2017. 4 Mirau: »Snapchat« (wie Anm. 1). 5 Zitiert nach: Tweet von Patrick Beuth (@PatrickBeuth). Auf: Twitter, dort datiert am 2.5.2016, https://twitter.com/PatrickBeuth/status/727195217946918912, zul. abgeruf. am 24. Februar 2017. 6 Vgl. Nils Jacobsen: »Sascha Lobos re:publica-Rede und der Snapchat-Frust: ›Wir, die digitale lost generation‹«. Auf: MEEDIA, dort datiert am 5.3.2016, http://meedia.de/ 2016/05/03/sascha-lobos-republica-rede-wir-die-digitale-lost-generation, zul. abgeruf. am 10.3.2017.

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zeichnet eine ganz eigene Palette an Praktiken und Funktionen aus, die nicht vergleichbar und nicht einholbar sind mit den Kompetenzen der einstigen digitalen Elite. Wie zahlreiche Tutorials und Anleitungsvideos zeigen, die auf dem Videoportal YouTube veröffentlicht werden, gibt es jedoch selbst in der Generation der Millennials oder Digital Natives viele, die Snapchat (noch) nicht verstehen, aber – den Adressierungsweisen und View-Zahlen dieser Videos zufolge – dringend verstehen wollen. Der Fall Snapchat zeigt besonders deutlich, dass die Teilhabe an digitalen Kulturen mit ständig neuen Anforderungen verbunden ist und potenziell Teilhabende herausfordert, sich besondere Fertigkeiten – digital skills – fortlaufend neu anzueignen. Es ist nicht ungewöhnlich, dass es stets die jüngeren Generationen sind, die diese Fähigkeiten zuerst ausbilden und sie einsetzen, um eine ebenso exklusive wie (sich selbst) exkludierende Gemeinschaft den bereits etablierten und somit veralteten Praktiken der Gemeinschaftsbildung demonstrativ entgegenzusetzen – im Fall von Snapchat stünde hierfür z. B. die Abgrenzung von Facebook oder WhatsApp, also von Apps, die bereits von der Elterngeneration intensiv genutzt werden. Henry Jenkins hat an diesem Phänomen schon vor Jahren sein Plädoyer für den Erwerb von »new media literacies«7 im Rahmen einer Partizipationskultur des Digitalen ausgerichtet. Die Figur des jugendlichen partizipierenden Users ist hierbei nicht nur Ergebnis einer Beobachtung von Umgangsweisen mit digital vernetzten Medien, sondern eine Idealfigur, die sich eine Medienerziehung zum Vorbild nehmen und ihre Nachahmung fördern soll. Jenkins pädagogisierende und demokratisierende Bestimmung der Netzkultur holt jedoch die Teilhabe an einer Gemeinschaft, wie sie sich gegenwärtig über bzw. vermittelt durch Snapchat formiert, immer erst zu spät ein. Denn genau diese Bemühung eines Einholens, die auch in der gegenwärtigen journalistischen Debatte und den Versuchen einer empirisch-sozialwissenschaftlichen8 oder werbestrategischen9 Vermessung dieser neuen Formen von Gemeinschaftlichkeit zu beobachten ist, droht 7 Henry Jenkins with Ravi Purushotma, Margaret Weigel u. Katie Clinton: Confronting the Challanges of Participatory Culture. Media Education for the 21st Century. Cambridge, MA, u. London: MIT-Press, 2009, S. xiii. 8 Vgl. exemplarisch Joseph B. Bayer u. a.: »Sharing the Small Moments: Ephemeral Social Interaction on Snapchat«. In: Information, Communication & Society 19.7 (2016), S. 956–977. 9 Vgl. Patrick Beuth: »Snapchat. Wir kommen in Frieden«. Auf: ZEIT ONLINE, dort datiert am 3.5.2016, http://www.zeit.de/digital/internet/2016-05/snapchat-republicarpten-sascha-lobo, zul. abgeruf. am 10. März 2017.

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die sich in einer Abgrenzungsbewegung verfertigende Gemeinschaft im selben Zug ihrer Ergründung aufzulösen. Die Gemeinschaft scheint auf, wo sie von (Noch-)Nicht-Teilhabenden (noch) nicht verstanden wird. Ihrer vermessenden Aneignung entzieht sie sich. Um sie, wie es der folgende Beitrag unternehmen möchte, medientheoretisch zu beschreiben, ist deshalb ein Gemeinschaftskonzept sinnvoll, das die sich ständig aufschiebende Form der Gemeinschaft ebenso in den Blick rückt wie die medialen Relationen der Teilhabe, die eine Gemeinschaftsbildung im Sinne eines verbindend-trennenden Mit-Teilens ermöglichen oder verhindern; eine Bestimmung von Gemeinschaftlichkeit also, die Überlegungen zur Dekonstruktion essentialistischer Gemeinschaftsbegriffe und Medien als relationales Vermittlungsgeschehen der Gemeinschaftsbildung und -auflösung fruchtbar macht.10 Der folgende Beitrag fragt nach dem Stellenwert von Wahrnehmungsmöglichkeit für die Herausbildung von Gemeinschaften, für die das Smartphone konstitutiv ist. Besonders interessant im Kontext der Untersuchung einer so verstandenen Smartphone-Ästhetik ist die App Snapchat deshalb, weil sich in der Temporalität ihrer exklusiv-exkludierenden Gemeinschaftsbildung, die in der Debatte um ihr Nicht-Verstehen (›zu jung, zu neu, zu anders‹) ebenso kenntlich wird, wie in den Praktiken des ephemeren Austauschs von audiovisuellen Mitteilungsschnipseln (›Snaps‹), die Bedingung der Wahrnehmungsmöglichkeit von Smartphone-Gemeinschaften besonders gut beobachten lässt. Smartphone-Ästhetik wird im Folgenden in den sicht- und hörbaren Synchronisierungsvorgängen auf Smartphone-Displays analysiert und in ihrem Verhältnis zu Prozessen der Teilhabe bzw. als Vorgang der Verfertigung von Gemeinschaft befragt. Synchronisierung als Sichtbarkeit, Abzeichnung oder Lesbarkeit einer sich ständig verfertigenden, aber auch ständig aufgeschobenen, nicht eingelösten Gemeinschaft lässt sich unter dem Begriff des ›Interfacing‹ beschreiben. Es geht um Vorgänge, die das Smartphone-Display als raumzeitliches Zwischen in den Blick rücken, als verbindend-trennende Schnittstelle, in der sich Hard- und Softwareprozesse, menschliche Fertigkeiten und technische Abläufe aufeinander abstimmen. Die folgenden Ausführungen nehmen zunächst eine genauere Bestimmung des Interface als raumzeitlichen Vorgang der medialen Teilhabe vor (1.) und beziehen diese 10 Vgl. Jean-Luc Nancy: singulär plural sein. Zürich: diaphanes, 2012; Georg Christoph Tholen: »Überschneidungen. Konturen einer Theorie der Medialität«. In: Sigrid Schade u. Georg Christoph Tholen (Hg.): Konfigurationen. Zwischen Kunst und Medien. München: Fink, 1999, S. 15–34.

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Überlegungen auf Snapchat (2.). Der Beitrag widmet sich dann unterschiedlichen Modi der Abstimmung von Gemeinschaftlichkeit, die für SmartphoneGemeinschaften eine große Rolle spielen und im Fall von Snapchat besonders kenntlich werden: Matching (3.), Tuning (4.) und Adjustierung (5.). Abschließend rücken die Störungen der Synchronisierung genauer in den Blick, die unabdingbar sind für die Teilhabeprozesse in/über/vermittelt durch das Smartphone (6.).

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Die Raumzeitlichkeit des Interface

Interfaces sind Schnittstellen zwischen menschlichen und technischen Entitäten. Sie vermitteln und übersetzen zwischen Mensch und Gerät, zwischen Gerät und Gerät oder zwischen Hardware und Software.11 Auch wenn sie mit Displays und Oberflächen wie Touchscreens in Verbindung stehen können, sind Interfaces keine fixierbaren Objekte, sondern prozessual zu denken: Begegnungszonen im Dazwischen, die nicht nur einen räumlichen Zwischenbereich der Navigation in und mit einem Device12 einnehmen sondern auch eine zeitliche bzw. ›zeitkritische‹ Dazwischenkunft markieren.13 In diesem Sinne als raumzeitliche Schnittstellen lassen sie sich auch als ›Puffer‹14 oder als ›Filter‹15 bezeichnen, die Interaktion ermöglichen und einschränken. Als Zonen des ›Zwischen‹ verweisen sie auf differente Zeitlichkeiten unterschiedlicher Entitäten. Interfaces ermöglichen raumzeitliche Verbindungen zwischen disparaten Entitäten (wie User und Smartphone, aber auch zwischen Smartphone-User und Smartphone-User). Statt von Interface ist somit eher von

11 Vgl. Florian Cramer u. Matthew Fuller: »Interface«. In: Matthew Fuller (Hg.): Software Studies. London: MIT Press, 2008, S. 149–152. 12 Vgl. Jon M. Wargo: »Spatial Stories with Nomadic Narrators: Affect, Snapchat, and Feeling Embodiment in Youth Mobile Composing«. In: Journal of Language & Literacy Education 11.1 (2015), S. 47–64, hier S. 49. 13 Vgl. Wolfgang Ernst: Chronopoetik. Zeitweisen und Zeitgaben technischer Medien. Berlin: Kadmos, 2012, S. 175f. 14 Donald A. Norman: »Waiting: A Necessary Part of Life«. In: Interactions – Optimistic Futurism 15.3 (2008), S. 36f., hier S. 36. 15 Adriana de Souza e Silva u. Jordan Frith: Mobile Interfaces in Public Spaces: Locational Privacy, Control, and Urban Sociability. New York u. London: Routledge, 2012, S. 1.

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einem Vorgang des ›Interfacing‹ zu sprechen, und zwar als ein Geschehen, dass die vermittelnden Prozesse der Begegnungszone selbst kennzeichnet.16 Die Disparatheit der Entitäten, die im Vorgang eines Interfacing aufeinander abgestimmt werden, zeigt sich darin, dass sie sich wechselseitig unbekannt sind, füreinander als Blackboxes erscheinen und in ihren Operationen nicht unmittelbar aneinander anschließen können. Sie können sich nur mit Hilfe einer Vermittlung über ein Interface verstehen bzw. miteinander kommunizieren. Eine Nutzerin kann die komplexen Vorgänge in einem Computer nicht nachvollziehen. Sie benötigt eine Vermittlung über ein graphisches User-Interface, das ihr eine begrenzte Einsichts-, Kontroll- und Steuermöglichkeit des Computers gewährleistet. Interfacing ist somit ein Vorgang der Mediation, ein medialer Prozess. Dass Interfaces als raumzeitliche Mediationen operieren, wird besonders in Symbolen deutlich, die ihre Vermittlungsoperation menschlichen Usern sichtbar machen: in Prozessanzeigen wie Ladebalken oder Throbbers, rotierende Bällen, pulsierende Kreise, sich drehende Sanduhren. Sie signalisieren der Nutzerin, die vor einem Computerbildschirm sitzt oder das Display ihres Smartphones auf ihrer Handfläche betrachtet, dass eine Diskrepanz besteht zwischen den Eigenzeiten der digitalen Prozesse, die ihr unzugänglich sind (etwa die Rechenoperationen, die zum Laden eines Videos notwendig sind), und ihrer subjektiven Eigenzeit. Sie muss warten. Doch dieses Warten ist nicht einfach ein Ärgernis in der Mensch-Computer-Interaktion, das die Designer von User-Interfaces durch den geschickten Einsatz von Wartesymbolen abmildern oder gar beseitigen könnten.17 Es zeigt vielmehr einen entscheidenden Aspekt des Interfacing überhaupt: Die Notwendigkeit ebenso wie den Bedarf der Synchronisierung unterschiedlicher

16 Jason Farman spricht ebenfalls von ›Interfacing‹, bezieht den Begriff jedoch auf die Vorgänge, die ein pervasives, aber fixiert gedachtes Interface den beteiligten Akteuren ermöglicht, nicht auf das Vermittlungsgeschehen selbst (vgl. Jason Farman: Mobile Interface Theory. Embodied Space and Locative Media. London u. New York: Routledge, 2012, S. 63). Auch Alexander Galloway ist mit seinem prozessual gedachten Interface-Konzept eher an den Effekten interessiert, die diese Prozessualität nach sich zieht (vgl. Alexander R. Galloway: The Interface Effect. Cambridge: Polity Press, 2012). Vgl. zum InterfacingKonzept, wie es hier verfolgt wird, Isabell Otto u. Mathias Denecke: »WhatsApp und das prozessuale Interface. Zur Neugestaltung von Smartphone-Kollektiven«. In: Sprache und Literatur (SuL) 44.111: »App-Kultur« (2013), S. 14–29; Isabell Otto: »Spinning Beach Ball of Death. Gebräuche der Unterbrechung im Zeitgefüge zwischen Usern und digitalen Medien«. In: lendemains – études comparées sur la France 39.154–155 (2014), S. 120–134. 17 Vgl. Steven C. Seow: Designing and Engineering Time. The Psychology of Time Perception in Software. Boston: Prentice Hall, 2008.

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Geschwindigkeiten und Dauern.18 Das Warten spannt ein raumzeitliches Gefüge zwischen Nutzerin und Smartphone auf, es setzt sie zueinander in Relation und stimmt sie aufeinander ab – und zwar wahrnehmbar auf dem Display des digitalen Device. Die im Fall der Wartesymbole offensichtliche raumzeitliche Operation des Interface hat weitere Dimensionen, die enger mit den Besonderheiten des Smartphones als mobilem, portablem, personalisiertem und sensorisch in seine technosoziale Umwelt eingewobenem (also selbst wahrnehmenden) Device in Verbindung stehen, und somit jene Aspekte betreffen, die das Smartphone vom (stationären) Computer unterscheidet.19 Vorgänge des Interfacing spielen nicht nur zwischen User und Gerät eine Rolle, sondern auch zwischen den durch eben diese Mediationsprozesse des Interfacing eng mit dem Device verflochtenen Smartphone-Usern, die als Mensch-Technik-Hybride20 bestimmt werden können. In der Forschung zum Mobiltelefon ist der Effekt einer raumzeitlichen Abstimmung bereits vor der Verbreitung des internetfähigen Smartphones unter dem Stichwort der ›medialen Kopräsenz‹21 beschrieben worden. Die ubiquitäre und kontinuierliche Erreichbarkeit von Handy-

18 Vgl. Armin Nassehi: Die Zeit der Gesellschaft. Auf dem Weg zu einer soziologischen Theorie der Zeit. Neuauflage mit einem Beitrag »Gegenwarten«. 2. Aufl. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2008, S. 307. 19 Wobei die Grenzen zwischen Computer und Smartphone fließend verlaufen bzw. von ›Mischformen‹ wie Laptops, Tablets, Phablets etc. durchkreuzt werden. Es ist deshalb sinnvoll, das Smartphone nicht als klar fixierbares technisches Ding zu verstehen, sondern als offenes Objekt ohne zentralen Wesenskern und mit ausfransenden Rändern. Dennoch sind die diskursiven Zuschreibungen ernst zu nehmen, die klare Rahmungen und Unterscheidungen vornehmen, – wie diejenige zwischen Computer und Smartphone. 20 In der Forschung wurde eine enge, ja intime Bindung von User und Gerät konstatiert (vgl. Sherry Turkle: »Always-On/Always-On-You: The Tethered Self«. In: James E. Katz, Hg.: Mobile Communication Studies. Cambridge, MA: MIT Press, 2008, S. 121–137; Erika Linz: »Konvergenzen. Umbauten des Dispositivs Handy«. In: Irmela Schneider u. Cornelia Epping-Jäger, Hg.: Formationen der Mediennutzung III: Dispositive Ordnungen im Umbau. Bielefeld: transcript, 2008, S. 169–188), die sich mit Antoine Hennion auch als abhängig-anhängliche Relation zwischen offenem Objekt und offenem Subjekt beschreiben lässt (vgl. Antione Hennion: »Offene Objekte, Offene Subjekte. Körper, Dinge und Bindungen«. In: Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung 11: »Offene Objekte«, 2011, S. 93–109). 21 Vgl. Erika Linz u. Katharine S. Willis: »Mediale Kopräsenz. Anwesenheit und räumliche Situierung in mobilen und webbasierten Kommunikationstechnologien«. In: Annika Richterich u. Gabriele Schabacher (Hg.): Raum als Interface. Massenmedien und Kommunikation (MUK) 187/188. Siegen: Universi, 2011, S. 145–161.

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oder Smartphone-Usern evoziert eine Nähe des Zusammen-Seins, die sich auch bei räumlicher Entfernung einstellen22 und sich auch durch asynchrone Mitteilungen wie Text- oder Bildnachrichten, die nicht unmittelbar beantwortet werden müssen, verfertigen kann.23 In diesem Sinne ermöglicht das Smartphone in seinen unterschiedlichen technologischen Komponenten und Handlungsoptionen mediale Relationen des Interfacing zwischen User-Smartphone-Hybriden, die ein raumzeitliches Gefüge der Ko-Präsenz zwischen ihnen weben. Die Forschung zum Mobiltelefon rückt damit in ihren Befunden in auffallende Nähe zu philosophischen Beschreibungen einer sich im fortlaufenden Werden verfertigenden Gemeinschaft. In Jean-Luc Nancys Bestimmung des Seins als aufgeschobenes, stets ko-präsentisches Mit-Sein gibt es kein singuläres Sein.24 Jedes Da-Sein ist in dieser Denkweise stets Zusammen-Sein, jedes Sein schließt eine »Beziehungsförmigkeit unseres Lebens«25 ein, so auch Judith Butler in ihren jüngeren Schriften; jedes Individuum – in den theoretischen Beschreibungen Michaela Otts formuliert – ist ein Dividuum, das ohne Relationen zu anderen bzw. auch nicht-menschlich anderem nicht denkbar ist.26 Die Ko-Präsenz, die das Smartphone vermittelt, lässt sich als Manifestation des In-Relation-Seins unter der gegenwärtigen technologischen Bedingung verstehen. Es kommt jedoch noch ein wichtiger Aspekt hinzu: Die Operationen des Interfacing, die auf Smartphone-Displays sichtbar werden, leisten die Symbolisierung einer gemeinsamen Raum-Zeit, die Nancy als entscheidend für die (vorübergehende) Herausbildung von Gemeinschaften beschreibt. Symbolisieren meint, die Teilhabe an einer Gemeinschaft in ein Bild zu übersetzen, das gleichermaßen verbindend wie trennend dazwischentritt.27 Was das Interface symbolisiert, ist, dieser Denk- und Beschreibungsweise folgend, das verbindend-trennende ›Mit‹ des Mit-Seins in einer Smartphone-

22 Vgl. Kennetz J. Gergen: »The Challenge of Absent Presence«. In: James E. Katz u. Mark Aakhus (Hg.): Perpetual Contact. Mobile Communication, Private Talk, Public Performance. Cambridge: Cambridge University Press, 2002, S. 227–241. 23 Vgl. Richard Ling: »Texting and the Growth of Asynchronous Discourse«. In: ders.: The Mobile Connection. The Cell Phone’s Impact on Society. Amsterdam: Elsevier/Morgan Kaufmann Publishers, 2008, S. 145–167. 24 Vgl. Nancy: singulär plural sein (wie Anm. 10), S. 100. 25 Judith Butler u. Athna Athanasiou: Die Macht der Enteigneten. Das Performative im Politischen. Zürich u. Berlin: diaphanes, 2014, S. 16. 26 Vgl. Michaela Ott: Dividuationen. Theorien der Teilhabe. Berlin: b_books, 2015. 27 Vgl. Nancy: singulär plural sein (wie Anm. 10), S. 98.

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Gemeinschaft, die medialen Relationen einer Teilhabe an technosozialen Vorgängen, die sich im Downloadsymbol eines Videos ebenso zeigen wie im Warten darauf, dass eine Smartphone-Mitteilung von einem anderen User beantwortet oder kommentiert wird. Snapchat, so die Argumentation, die dieser Beitrag verfolgen möchte, setzt mit seinen ephemeren Bildmitteilungen, die innerhalb einer exklusiven, (sich) exkludierenden Gemeinschaft zirkulieren, an genau dieser raumzeitlichen Symbolisierung von Gemeinschaftlichkeit an.

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Interfacing Snapchat

In diesem Sinne lässt sich auch das eingangs beschriebene (Noch-)Nicht-Verstehen der App als ein Vorgang des gemeinschaftsbildenden Interfacing beschreiben, als eine Synchronisierung von disparaten, sich nicht-verstehenden Entitäten. Abstimmung wird hier als Erweiterung von Fertigkeiten im Gebrauch des Smartphones ausbuchstabiert. Es geht um eine in Aussicht gestellte Teilhabe an einer Gemeinschaft, die an die zu erwerbenden Fähigkeiten sowie ein zukünftiges Verstehen der App gebunden ist und sich in den Anleitungen zum richtigen ›Snapchatten‹ in Form einer persönlichen Adressierung von noch nicht (ausreichend) Teilhabenden verfertigt: Interfacing Snapchat. So präsentiert sich die Reisebloggerin und Social Media Journalistin Christine Neder, die 2011 mit ihrem Couchsurfing-Erfahrungsbericht 90 Nächte, 90 Betten bekannt geworden ist, also ein besonderes Faible für eine ›Teilhabe am Alltag‹28 anderer Menschen hat, auf ihrem Blog Lilies Diary nicht nur als ›Snapchat-süchtig‹, sondern auch als kundige Reiseführerin ins Land der Zombie-Filter und des ›Regenbogenkotzens‹.29 Auf ihrem Blog veröffentlicht die Anfang 30-Jährige und somit relativ ›altersweise‹ Snapchatterin Anleitungen mit Screenshots; in der Snapchat-Playlist ihres YouTube-Kanals

28 Vgl. hierzu das sich u. a. mit Couchsurfing beschäftigende Forschungsprojekt Tourismus 2.0. Zwischen medialer Vermittlung und digitaler Entnetzung, das Urs Stäheli im Rahmen der Forschergruppe Mediale Teilhabe. Partizipation zwischen Anspruch und Inanspruchnahme leitet; vgl. https://mediaandparticipation.com/ueber/teilprojekt-4, zul. abgeruf. am 10. März 2017. 29 Vgl. Christine Neder: »Snapchat – Wie eine App mein Leben verändert hat«. Auf: Lilies Diary, dort datiert am 30. März 2015, http://www.lilies-diary.com/snapchat-wieeine-app-mein-leben-veraendert-hat, zul. abgeruf. am 10. März 2017.

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stellt sie Tutorials für Anfänger und Fortgeschrittene bereit, in denen sie ihre Wisch- und Tippbewegungen mit einer zweiten Kamera filmt und kommentiert.30 Sie stellt dabei ein Feature als besonders relevant für die Frage heraus, was Snapchat ist und kennzeichnet: Die Möglichkeit alle seine Follower, über die Funktion ›Story‹ am eigenen Tagesablauf teilhaben zu lassen. Jeder Snapchat-User, so erklärt Neder, hat die Möglichkeit, kleine (Bewegt-)Bilder zur persönlichen Geschichte seines Tages zusammenzustellen und seinen Freunden so ›in Echtzeit‹ das eigene Leben mitzuteilen: »Ich kann euch endlich live durch den Tag mitnehmen.«31 Die Reisebloggerin stellt dabei deutlich heraus, dass es nicht nur um eine nomadisch-räumliche Weise des Geschichtenerzählens32 geht, sondern um eine raumzeitliche Abstimmung: Neder nimmt ihre Follower auf ihre Reisen und in ihrem Tagesverlauf mit. Um die gesendete Geschichte zu rezipieren, müssen die empfangenden User sie rechtzeitig (innerhalb von 24 Stunden) abrufen. Sie können sie in ihrer Verfertigung also in einer beinahe synchronen Ko-Präsenz mitverfolgen, oder asynchron am Ende ihres Tages. Die mitteilende Reisende kann wiederum in der Liste ihrer Follower sehen, wer schon oder noch nicht an ihrem Tag teilhat oder wer so sehr und nachhaltig teilhaben möchte, dass er einzelne Bilder in Screenshots festgehalten hat. Snapchat leistet nicht nur eine raumzeitliche Abstimmung mit einer Gefolgschaft, die sich sowohl durch synchrone als auch durch asynchrone Praktiken vollziehen kann. Die App macht diese Abstimmung auf Smartphone-Displays sichtbar. Genau hierin liegt, wie im Folgenden anhand von drei Modi der Gemeinschaftsbildung genauer herausgestellt werden soll, die Ästhetik des Interfacing.

30 Vgl. Christine Neder: »Lilies Diary. Travel and Lifestyle Videos. All About Snapchat«. Auf: YouTube, dort zul. aktual. am 29. Dezember 2016, https://www.youtube.com/playlist ?list=PLfjFYnCYoEv1OVxHhu2rm6VTqrPX3j2dw, zul. abgeruf. am 10. März 2017. 31 Christine Neder: »Snapchat – Endlich könnt ihr live dabei sein«. Auf: Lilies Diary, dort datiert am 03. März 2015, http://www.lilies-diary.com/snapchat-endlich-koennt-ihrlive-dabei-sein, zul. abgeruf. am 10. März 2017. 32 Vgl. Wargo: »Spatial Stories with Nomadic Narrators« (wie Anm. 12).

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Matching 115

In den Adressierungsformen der Snapchat-Anleitungen im Rahmen von Lilies Diary wird ein erster Modus des Interfacing kenntlich: Abstimmung als eine Form des Einpassens (›Matching‹), das in eine Paar- und Gefolgschaftsbildung gleichermaßen mündet. Neder spricht in ihren Blogeinträgen und Videos die Gemeinschaft ihrer Freunde an, die jedoch nur durch eine Vielzahl an zumindest potenziell reziproken Paar-Relationen zwischen ihr und einem anderen Snapchat-User entstehen kann. Die einzelnen Paar-Beziehungen zwischen Neder und ihren Followern sind durchaus vergleichbar mit Praktiken der Abstimmung, die für Dating-Apps zentral sind, auch wenn hier weder eine Anbahnung von Liebesbeziehungen noch Sexting eine Rolle spielt. Tinders Slogan »It’s a Match«, der angezeigt wird, wenn sich zwei User ›liken‹, sich also durch reziprokes Gefallen ein Paar gebildet hat, kennzeichnet auch die raumzeitliche Abstimmung in Snapchat: Das ›Adden‹ eines anderen Users, das rechtzeitige Anschauen seiner Snaps und das Erwidern der Mit-Teilung durch eigene Snaps synchronisiert zwei Smartphone-User in ihren raumzeitlichen Praktiken und lässt sie somit zu einem Match werden. Matching blendet – und auch das wird in Tinder ebenfalls deutlich – die dazwischentretende mediale Vermittlung aus und behauptet eine Relation der Unmittelbarkeit und Authentizität. Doch Snapchat geht an einem entscheidenden Punkt andere Wege als Tinder: Zentral für die hier zu beobachtende Verfertigung einer Gemeinschaft durch (Ein-)Passung ist Snapchats Flüchtigkeit: Es geht, so das Versprechen der App, nicht um die perfekte Aufnahme, die rhetorisch fein geschliffene Nachricht und die vorteilhafte Pose, sondern um schnell erstellte Mitteilungen, auf deren unmittelbares Verschwinden ihr Sender vertrauen kann.33 Die ephemere Bildkommunikation in Snapchat wird somit eher als eine neue, digitale Form von Oralität aufgefasst oder als spontane Interaktion, die einem Face-to-Face-Kontakt vergleichbar ist.34 Die zirkulierenden Snaps gleichen gesprochener Sprache, die gleich nach ihrer Artikulation wie-

Vgl. Meredith Salisbury u. Jefferson D. Pooley: »The #nofilter Self: The Contest for Authenticity among Social Networking Sites, 2002–2016«. In: Social Sciences 6.10 (2017), doi:10.3390/socsci6010010, S. 1–24, hier S. 13. 34 Vgl. Joseph B. Bayer u. a.: »Sharing the Small Moments: Ephemeral Social Interaction on Snapchat«. In: Information, Communication & Society 19.7 (2016), doi:10.1080/ 1369118X.2015.1084349, S. 956–977. 33

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der verhallt (»fading-away effect«);35 die Bildlichkeit des Snapens löst sich somit von einer medienkulturellen Bestimmung des Bildes als Verfahren des Festhaltens und Speicherns eines Augenblicks. Die Bloggerin Neder ist in ihren Aufforderungen, an ihrem Leben live teilzunehmen, sehr nahe an der Firmenideologie, die Snap Inc. in der Anfangszeit vertreten hat: Snapchat ersetze die Dauerhaftigkeit und den Dokumentations- bzw. Archivierungszwang von Netzwerken wie Facebook durch die Aufrichtigkeit des ephemeren, nicht fixierbaren Moments.36 Der hauseigene Social Media Forscher Nathan Jurgenson bringt diese (erneut exklusiv-exkludierende) Abgrenzung von sozialen Netzwerken, die auf Permanenz setzen, klar auf den Punkt. Es geht um Bedeutsamkeit und echte Gefühle, um Bilder als »authentic expressions of the true self«,37 deren trennendes Dazwischentreten durch ihre Flüchtigkeit ausgelöscht wird, ohne dass ihr verbindendes Moment davon betroffen wäre: »Permanent social media fixates on the details of a photo, whereas temporary social media fixates on what it meant and what it moved within you.«38 Snapchat, so das Versprechen, setzt an die Stelle des perfekten Bildes den perfekten Match: Die Abstimmung von Usern, deren Identität beweglich und flüssig bleiben darf, die ihr Leben in seiner Fehlerhaftigkeit und Flüchtigkeit sich so zeigen können, wie es ist, ohne es kategorisieren, perfektionieren und dokumentieren zu müssen. Snapchat (einmal verstanden) erlaube ein Interfacing von User-Profilen, die mit der fluiden Zeitlichkeit des ›echten Lebens‹ übereinstimmen: »[T]emporary social media [wie Snapchat] will provide new ways of understanding the social media profile, one

35 Oren Soffer: »The Oral Paradigm and Snapchat«. In: Social Media + Society 2.3 (2016), doi:10.1177/2056305116666306, S. 1–4, hier S. 2. 36 Vgl. Salisbury u. Pooley: »The #nofilter Self« (wie Anm. 33), S. 13. 37 So paraphrasieren James E. Katz und Elizabeth Thomas Crocker abgrenzend Richard Hapers Perspektivierung von Textmitteilungen in seinem Buch Texture, die sie kritisch auf Selfies übertragen: »[A]t least in terms of the visual forms of virtual interaction, there is great deal of calculation that takes place.« (James E. Katz u. Elizabeth Thomas Crocker: »Selfies and Photo Messaging as Visual Conversation: Reports from the United States, United Kingdom and China«. In: International Journal of Communication 9, 2015, S. 1861–1872.) 38 Nathan Jurgenson: »Temporary Social Media«. Auf: Snap Inc., dort datiert am 19. Juli 2013, https://www.snap.com/de-DE/news/post/temporary-social-media, zul. abgeruf. am 07. März 2017.

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that isn’t comprised of life hacked into frozen, quantifiable pieces but instead something more fluid, changing, and alive.«39 117

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Tuning

Was die Behauptung, aus der Mitteilung von ephemeren Snaps gehe eine unmittelbare, nicht-mediale Teilhabe hervor, nicht weiter berücksichtigt, ist, dass Snap Inc. von Anfang an die Möglichkeit des Empfängers, Screenshots der Bild-Mitteilungen zu erstellen, nicht ausgeschlossen, sondern als auf dem Display des Senders angezeigte Praktik in die Konventionen des Snapchattens eingebunden hat. Die Einführung der Funktion ›Memories‹ im Sommer 2016, die es Usern ermöglicht die selbsterstellten Bilder oder Videos zu archivieren, weiter zu bearbeiten und noch origineller zu gestalten, später zu versenden oder erneut anzusehen, hat somit weniger eine grundlegende Veränderung Snapchats zur Folge, weil nun auch hier (wie bei Instagram und Facebook) das schnell und in der Bewegung erstellte Bild einer perfektionierten Hochglanz-Bearbeitung weicht.40 Vielmehr baut Memories Eigenschaften weiter aus, die Snapchat von Anfang an gekennzeichnet haben:41 Das Wechselspiel zwischen Flüchtigkeit und Fixierung bzw. zwischen vorgeblich unbearbeitet-authentischen und ostentativ künstlich-veränderten Bildern. Entscheidend ist, dass auch die Operationen des Eingreifens und Speicherns auf den Smartphone-Displays kenntlich werden: Screenshots des Empfängers werden mit farbigen Doppelpfeilen markiert; alte Aufnahmen, die aus den Memories eines Snapchat-User verschickt werden, sind durch Angabe der Aufnahmezeit und einen weißen Rahmen gekennzeichnet: Flüchtigkeit und Fixierung, Un-

39 Nathan Jurgenson: »The Liquid Self«. Auf: Snap Inc., dort datiert am 20. September 2014, https://www.snap.com/de-DE/news/post/the-liquid-self, zul. abgeruf. am 10. März 2017. 40 Steffen Lüdke: »So funktioniert das neue Snapchat-Memories. Was Snapchats neues Feature kann und wie es die App verändern wird«. Auf: Bento, dort datiert am 12. Juli 2016, http://www.bento.de/gadgets/snapchat-memories-das-steckt-hinter-dem-neuenfeature-695465, zul. abgeruf. am 10. März 2017. 41 Zumal die Erinnerung gerade auch ohne Archivierungsfunktion für die ephemere Bildkommunikation eine Rolle spielt. Vgl. Sarah Handyside u. Jessica Ringrose: »Snapchat Memory and Youth Digital Sexual Cultures: Mediated Temporality, Duration and Affect«. In: Journal of Gender Studies (2.2.2017), doi:10.1080/09589236.2017.1280384, S. 1–14.

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mittelbarkeit und sichtbare Vermittlung bleiben somit in den Prozessen des Interfacing eng aufeinander bezogen. Es zeigt sich hierin ein zweiter Modus der Abstimmung, der die Gemeinschaftsbildung in und vermittelt durch Snapchat prägt und sich unter dem Begriff ›Tuning‹ fassen lässt: ein kalibrierendes Einstimmen aufeinander, eine Regulation zwischen zwei Extremen, die eine möglichst harmonische Mischung herstellen soll. Alfred Schütz, Begründer der phänomenologischen Soziologie, hat den Begriff ›Tuning‹ Anfang der 1950er Jahre verwendet, um für jede Kommunikationsweise die Notwendigkeit einer Beziehung der reziproken Abstimmung geltend zu machen. Diese Abstimmung kennzeichnet Schütz als ein wechselseitiges Teilen von Erfahrungsströmen einer inneren Zeitlichkeit, das ein Zusammenleben in einer lebendigen Gegenwart und auf diese Weise die Erfahrung eines ›Wir‹ ermöglicht, aber durch Tuning überhaupt erst hergestellt werden muss. Ebenso wie in der für ihn einflussreichen Zeitphilosophie Edmund Husserls beschreibt Schütz die innere Zeitlichkeit in musikalischen Metaphern und die Abstimmung der Kommunikation als gemeinsames Musizieren, als »mutal tuning-in relationship«.42 Die bei Schütz weniger relevante räumliche Komponenten des Abstimmens hat Richard Coyne 2010 in seiner Studie The Tuning of Place in den Vordergrund gestellt und auf die Durchdringung sozialer Räume durch digitale Medien und die Stimmung bzw. Kalibrierung von Geräten und Menschen bezogen.43 Für Snapchat lässt sich in Anschluss an diese Bestimmung von Abstimmungsvorgängen eine raumzeitliche Form des Tunings geltend machen, die sich besonders auf ein ko-präsentisches Mit-Sein in einer Snapchat-Gemeinschaft richtet. Im Unterschied zum (Werbe-)Versprechen des ›Perfect Match‹ beim wechselseitigen Mitnehmen durch den Alltag ist die Gemeinschaftsbildung des Tunings enger an die Snapchat-Praktiken gebunden, an die Synchronisierungsarbeit, die in der Herstellung und Mitteilung von gleichermaßen authentischen wie originellen Snaps besteht. Die Praktiken des Tunings zeigen, dass Teilhabebeziehungen nicht einfach gegeben sind, sondern aus einer wechselseitigen Einstimmung in Vorgängen des Interfacing hervorgehen: Filter, Sticker, Animationen, narrative Dramaturgien transformieren das User-Selbst ebenso wie seine Umgebung und seinen Tagesablauf, so dass sie 42 Alfred Schütz: »Making Music Together. A Study in Social Relationship«. In: Social Research 18.1 (1951), S. 76–97, hier S. 96. 43 Vgl. Richard Coyne: The Tuning of Place. Sociable Spaces and Pervasive Digital Media. Cambridge, MA, u. London: MIT Press, 2010.

INTERFACING ALS PROZESS DER TEILHABE

in Hinblick auf die Teilhabe an einer Snapchat-Gemeinschaft mitteilbar werden. Diese Transformations-Möglichkeiten prägen auch die Anleitungsvideos im YouTube-Kanal von Lilies Diary: Die Snapchat-Reiseführerin erläutert und führt vor, wie unterschiedliche Filter übereinander gelegt, Sticker erstellt, das eigene Gesicht mit Filtern animiert, Schriften vorschoben, eingefärbt oder Bitmojis erstellt und eingefügt werden können: »Ihr könnt da total kreativ werden«,44 stellt Neder in Aussicht.

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Adjustierung

Der kreativen Freiheit der Transformationen des Tunings sind jedoch strikte Grenzen gesetzt. Die Vorgänge der Gemeinschaftsbildung sind in technologische und ökonomische Strukturen eingewoben, die im Vorgang des Interfacing als Machtkonstellationen wirksam sind.45 Jedes Interfacing geschieht unter dem Preis der Zurichtung, Einpassung oder Einspannung der zu synchronisierenden Entitäten. Dieser Modus des Interfacing lässt sich unter dem Begriff der ›Adjustierung‹ fassen. Denn schließlich vollzieht sich die Gemeinschaftsbildung vermittelt durch Snapchat nicht spontan, sondern wird technologisch ermöglicht und befördert durch die Entwicklungen eines Konzerns, der von diesen Gemeinschaften möglichst umfassend profitieren möchte. Jeder erstellte Sticker lässt sich somit als unentgeltliche ebenso wie unfreiwillige Mitarbeit an einer Gewinnmaximierung des Unternehmens Snap Inc. verstehen.46 Die Einpassung der User in ökonomische Strukturen geschieht einerseits ganz offensichtlich und wird auf der Snapchat-Website für Werbekunden angeboten: Über die Funktion ›Discover‹, die mit Wisch nach links auf dem Snapchat-Display erscheint, können Nachrichten- oder Werbekanäle platziert werden, die ihre ›Stories‹ zum Abonnement anbieten. Das Feature ›Geofilter‹

44 Lilies Diary: »SNAPCHAT Tutorial *deutsch* | Neue Funktionen – Sticker, Shazam, Gruppenchat | Lilies Diary«. Auf: YouTube, dort datiert am 20. Dezember 2016, https:// www.youtube.com/watch?v=Hmu3R10dZhc&list=PLfjFYnCYoEv1OVxHhu2rm6VTqrPX 3j2dw&index=2, zul. abgeruf. Am 10. März 2017. 45 Vgl. James Ash: The Interface Envelope. Gaming, Technology, Power. New York u. London: Bloomsbury, 2015. 46 Tiziana Terranova: »Free Labor. Producing Culture for the Digital Economy«. In: Social Text 18.2, S. 33–58.

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erlaubt es Unternehmen, ortsbezogene Werbung in Snapchat einzubetten, auch Filter können gesponsert werden. Snap Inc. stellt seinen Kunden darüber hinaus verschiedene Tools zur Vermessung und werbestrategischen Erschließung von User-Praktiken zur Verfügung.47 Das Erfolgsmodell Snapchat als Werbeplattform führt mittlerweile auch zur Adjustierung (und somit ökonomischen Synchronisierung) anderer Social Media-Plattformen am Vorbild der Snapchat-Ästhetik: WhatsApp gibt seit Februar 2017 mit der neuen Funktion ›Status‹ seinen Usern die Möglichkeit, ihren Kontakten Bilder und Videos zu ihrem aktuellen Befinden mitzuteilen.48 Und nachdem Instagram es im Sommer 2016 eingeführt hat, testet auch Facebook das Feature ›Stories‹ und seine Potenziale als Werbekanal.49 Die Adjustierung in Snapchat hat jedoch noch weitere Dimensionen, die mit sehr viel subtileren Machttechnologien und Praktiken der Verfertigung von User-Subjekten einhergeht. Die im September 2015 eingeführten ›Snapchat Lenses‹ ermöglichen eine Transformation des eigenen Selfies ›in Echtzeit‹. Die App nimmt hierbei eine Adjustierung des Gesichts vor, die mit Anweisungen an die Nutzerin eingefordert wird und in schriftlichen Aufforderungen auf dem Display erscheint: »Zieh die Augenbrauen hoch« für das Monokel-Selfie oder »Öffne den Mund« für das Regenbogen-speiende-Selfie.50 Smartphone-User werden auf diese – unterhaltsame – Weise in der Synchronisierung mit den Display-Operationen des Geräts ›zugerichtet‹. Eine verschärfte Form dieser zurichtenden Adjustierung zeigt sich in Debatten um slut shaming51 oder um die Hacker-Angriffe auf Snapchat, die im Herbst 2014

47 Vgl. »Advertising on Snapchat«. Auf: Snapchat, https://www.snapchat.com/l/de-de/ ads, zul. abgeruf. am 10. März 2017. 48 Vgl. »Status-Updates. WhatsApp wird Snapchat ähnlicher«. Auf: Spiegel online, dort datiert am 21. Februar 2017, http://www.spiegel.de/netzwelt/apps/whatsapp-neue-statusupdates-erinnern-an-snapchat-a-1135511.html, zul. abgeruf. am 10. März 2017. 49 Vgl. Christian Erxleben: »›Stories‹ bei Snapchat, Instagram und Facebook«. Auf: Internet World Business, dort datiert am 08. März 2017, http://www.internetworld.de/ onlinemarketing/instagram/stories-snapchat-instagram-facebook-1199612.html, zul. abgeruf. am 10. März 2017. 50 Vgl. »Wenn das Selfie ’nen Regenbogen kotzt: Snapchat-APK bringt Echtzeit-Effekte für alle«. Auf: Chip, dort datiert am 24. September 2015, http://www.chip.de/news/ Dank-Snapchat-Regenbogen-kotzen-Gesichtstracking-bringt-Echtzeit-Effekte_83387750. html, zul. abgeruf. am 10. März 2017. 51 Vgl. Charteris, Gregory u. Masters: »›Snapchat‹« (wie Anm. 2), S. 7; Wendy Hui Kyong Chun u. Sarah Friedland: »Habits of Leaking: Of Sluts and Network Cards«. In:

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die Verbreitung von zehntausenden privater Fotos zur Folge hatten.52 Die technologische Adjustierung der User lässt sich als ein (macht)technologisches ›Framing‹ im Sinne einer Rahmung bzw. Rasterung ihrer Bilder53 verstehen, die Snapchat-User (von sich) mitteilen und sich damit – gerade aufgrund des für Snapchat typischen Wechselspiels zwischen Flüchtigkeit und Speicherung – den Zugriffen einer Gemeinschaft aussetzen, deren Ausmaße sie nicht überschauen können. Die Gemeinschaftsbildung im Modus der Adjustierung macht somit die Gemeinschaft als Zumutung und die Schattenseiten der Teilhabe kenntlich.

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Gemeinschaftlichkeit der Dis-Synchronie

Die Modi des Interfacing, die hier mit den Begriffen Matching, Tuning und Adjustierung unterschieden wurden, sind kennzeichnend für die Verfertigung von Smartphone-Gemeinschaften und am Beispiel von Snapchat besonders gut zu beobachten. Sie sind nicht als Alternativen, sondern als eng miteinander verflochtene, aufeinander bezogene und sich wechselseitig bedingende Verfahren der Gemeinschaftsbildung zu verstehen. Mit Matching wurden diskursive Zuschreibungen (in der Werbung oder in Tutorials) beschrieben, die eine Smartphone-Gemeinschaft als Gefüge aus perfekten Passungen in Aussicht stellen: Die Teilhabenden können sich wechselseitig in ihre raumzeitlichen Situationen mitnehmen und erfahren auf diese Weise ein ›unmittelbares‹ und ›authentisches‹ Teil-Sein. In den Snapchat-Praktiken wird jedoch eher kenntlich, dass Interfacing sich im Modus eines Kalibrierens vollzieht, das zwar von den Versprechen einer unmittelbaren Teilhabe geleitet ist, aber stets auch die medienästhetischen Verfahren ihrer Verfertigung ausstellt, ja in der Verwendung ständig wechselnder Filter und Features sie regelrecht zelebriert. Gleichzeitig sind Snapchat-User immer auch technologischen Bedin-

differences: A Journal of Feminist Cultural Studies 26.2 (2015), doi: 10.1215/10407391-3145937, S. 1–28. 52 Vgl. »Hackerangriff. Mehr als hunderttausend Snapchat-Fotos geleakt«. Auf: Zeit online, dort datiert am 10. Oktober 2014, http://www.zeit.de/digital/datenschutz/201410/snapchat-gehackt-cyberangriff-fotos-gestohlen, zul. abegruf. am 10. März 2017. 53 Vgl. Judith Butler: Frames of War. When is Life Grievable? London u. New York: Verso, 2009, S. 8.

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gungen der App unterworfen und können die Möglichkeiten der Teilhabe nur zum Preis ihrer zum Teil unfreiwilligen und unbewussten Einpassung in einen Vorgang der Gemeinschaftsbildung in Anspruch nehmen. Das Interfacing in den Modi Matching, Tuning und Adjustierung formiert die Gemeinschaft nicht als harmonisches Zusammenspiel oder gelingende Synchronisation, sondern als ständige Synchronisierungsarbeit. Die Gemeinschaft ist nur im Entzug, als nicht erreichter Horizont, aber niemals als fixierte Einheit gegeben. Die mit-geteilten Snaps verbinden und trennen die User gleichermaßen, synchronisieren sie und halten sie in einem Abstand der Dis-Synchronie. Auch dies wird in den Praktiken des Snapchattens kenntlich: Verstörende Selfies, bizarre Transformationen und Entstellungen des eigenen Gesichts, das zu einem (nicht-menschlichen) Anderen wird und mit verzerrter Stimme spricht, Face Swaps mit Baby, Plüschtier oder einem Autoreifen zirkulieren nicht nur über Snapchat, sondern bilden in den Netzkulturen ein regelrechtes Genre heraus: Gerade die faziale (Ver-)Störung, die Irritation im Inter-Facing mit dem Gegenüber, trägt zur Verfertigung einer Gemeinschaft bei, deren Teilhabende zwischen Nähe und Distanz, zwischen Verbindung und Trennung, zwischen scheinbarer Unmittelbarkeit und ausgestellter Vermittlung oszillieren. Durch die ständige Aktualisierung von Filtern, Stickern, Features hält Snapchat (noch) mit dieser Dynamik der Gemeinschaftsbildung Schritt und kann als in Aussicht gestellte Gemeinschaft in ihrem ständig mit produziertem Nicht-Verstehen aufscheinen.

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Anthropophilie Das neue Gewand der Medien »Wem könnten die nicht-menschlichen Wesen gleichen, wenn sie nicht in der Uniform von Objekten daherkämen und im Eroberungszug der Subjekte mitmarschieren müßten? Wem könnten die Menschen gleichen, wenn sie nicht mehr die Uniform von Partisanen tragen mußten, die sich der Tyrannei der Objekte widersetzen?« Bruno Latour, Das Parlament der Dinge1

»›Aposematic Jacket‹ is a wearable camera for self-defense. The lenses on the jacket give off the warning signal, ›I can record you‹, to prevent possible attack. When the wearer pushes a button under threat, the jacket records the scene in 360 degrees and sends the images to the Web.« Shinseungback Kimyonghun, Aposematic Jacket2

1 Medien stehen heute im Zeichen kaschierter Wahrnehmung und sie verändern damit das kulturelle Imaginäre ebenso unterschwellig wie nachhaltig. Sie folgen den Kategorien des Ubiquitären, des Pervasiven, des Unsichtbaren. Sie sind unauffällig, unaufdringlich, schlicht, dezent, multifunktional und dabei allgegenwärtig. All diese Kategorien laufen zusammen in dem, was der amerikanische Informatiker Mark Weiser in seinem programmatischen Text The Computer for the 21th Century aus dem Jahr 1991 als ubiquitous computing

Bruno Latour: Das Parlament der Dinge. Für eine politische Ökologie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2001, S. 60. 2 Shinseungback Kimyonghun: »Aposematic Jacket« [= Beschreibung der Arbeit Aposematic Jacket des südkoreanischen Künstlers], ohne Datum, http://ssbkyh.com/ works/aposematic_jacket/, zul. abgeruf. am 19. Januar 2015. 1

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beschrieb.3 Damit war eine nachgerade ideale Formel für die Allgegenwart und den Status entsprechender Verfahren (everywhere) gefunden.4 Gebündelt werden diese Kategorien im textilen Konzept des Saumlosen, jener seamlessness, die sowohl die Praxis des Mediengebrauchs als auch die gegenwärtigen Theoriebemühungen bestimmen.5 Die etwa in tragbare Kleidung verbrachte Technik erlaubt Flexibilität, sie berücksichtigt zunehmend den Körper in seiner Ganzheit (Naturalisierung von Schnittstellen mittels Taktilität und Haptik!) und erschließt im Modus ihrer Mobilität ungewohnte Schauplätze.6 Damit ist eine Breitenapplikation möglich, die das wearable computing grundlegend unterscheidet von Spezialanwendungen wie etwa das Gadget anfällige Spionage- und Detektivwesen, das gerne als historiographischer Vorläufer der rechnenden Kleider bemüht wird. Abb. 17

Vgl. Mark Weiser: »The Computer for the 21th Century«. In: Scientific American 265.3 (1991), S. 94–104. 4 Vgl. dazu etwa Adam Greenfield: Everywhere. The dawning age of ubiquitous computing. Berkeley, CA: New Riders, 2006, und Paul Dourish u. Genevieve Bell: Divining a Digital Future. Mess and Mythology in Ubiquitous Computing. Cambridge, Mass., u. London: MIT Press, 2011. 5 Stellvertretend für die Verwendung dieser textilen Semantik ist Mark Weiser: »Seamful Interweaving: Heterogeneity in the Design and Theory of Interactive Systems«. In: ACM DIS ’04 Proceedings of the 5th conference on Designing interactive systems. processes, practices, methods, and techniques. New York, NY: ACM, 2004, S. 243–252. 6 Vgl. dazu mit Bezug auf Weiser Bernard Robben u. Heidi Schellhowe (Hg.): Be-greifbare Interaktionen. Der allgegenwärtige Computer. Touchscreens Wearables Tangibels und Ubiquitous Computing. Bielefeld: transcript, 2012. 7 Detective Camera. © National Media Museum, Bradford / SSPL, Creative Commons BY-NC-SA (http://blog.nationalmediamuseum.org.uk/wp-content/uploads/2013/09/ detectivecamerasongsheet1.jpg; Erstelldatum: 12. September 2013, Stand: 02. November 2016). 3

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Deren Equipment ist aus strategischen Gründen darauf angewiesen, ihr Wahrgenommenwerden zu kaschieren – wie jene »Concealed Vest Camera« C.P. Strins aus dem Jahr 1880. Mit dieser zu ihrer Zeit ebenso populären wie kommerziell erfolgreichen und auch mehrfach ausgezeichneten Miniaturkamera, die aus Knopflöchern (buttonhole camera), aus Westentaschen (waistcoat camera) oder von Hüten herab heimlich Bilder für welche Sachdienlichkeiten auch immer produzierte, liegt eine frühe Verwendung vor, der inzwischen auch die gebührende historiographische Aufmerksamkeit zuteil wurde.8 Weil solche Spezialtechniken dem Diktat von Lebensgewohnheiten unterliegen, finden sich heute an Stelle von außer Mode gekommenen Westentaschenkameras sporttaugliche Adaptionen wie ein im Jahr 2005 vorgestelltes »Espionage Jacket for Snowboarding«.9

2 Aber das sind nur vestimentäre Spezialanwendungen, in denen sich das Interesse am wearable computing gerade nicht erschöpft. Unter diesem Label wird vielmehr und über solche beschränkten Anlässe hinaus ein Blick auf technische Umwelten geschärft, der die strategische Unsichtbarkeit zum Ausgangspunkt nicht zuletzt auch (gesellschafts)politischer Überlegungen erhebt. Und es ist gerade diese Flexibilität, die neue Bemühungen der Reflexion notwendig macht. Subkutan ist damit die Frage verbunden, welche Auswirkungen die wearables auf ihre Träger haben.10 Miniaturisierte Messgeräte, in Kleidung verbrachte Sensortechnik und eine Rechnerinfrastruktur für die Verarbeitung der so erhobenen Datenmengen haben dem wearable computing jedenfalls eine eindrucksvolle Palette von Anwendungen beschert, die ihre Benutzer in vielerlei Hinsicht affizieren – individuell wie kollektiv.11 So steht etwa für die BeVgl. dazu Laurent Mignonneau u. Christa Sommerer (Hg.): The Art and Science of Interface and Interaction Design. Berlin u. Heidelberg: Springer, 2007. 9 Vertrieben wird dieses unter dem Modelabel Burton Ronin/Ronin Wear. 10 Vgl. dazu Carmen Baumeler: »Kleider machen Cyborgs. Zur Geschichte der Wearable-Computing-Forschung«. In: Barbara Orland (Hg.): Artifizielle Körper – lebendige Technik. Technische Modellierungen des Körpers in historischer Perspektive. Zürich: Chronos, 2005, S. 221–238. 11 Zu den Grundlagen vgl. Woodrow Barfield (Hg.): Fundamentals of Wearable Computers and Augmented Reality. 2. Aufl. Boca Raton, London u. New York: CRC Press, 2016. 8

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dürfnisse des Quantified Self ein ganzes Arsenal unterschiedlicher Produkte bereit – von mit Smartphones verbundenen Fitnesstrackern, Gesundheitsüberwachungssystemen bis hin zu Anwendungen, die selbst noch den Schlaf (›Sleep Shepard‹) zu optimieren versprechen.12 Neben solchen Anwendungen einer freiwilligen Selbstkontrolle durch Optimierungsfetischisten und selbst ernannte Leistungseliten erschließt das wearable computing in konkreten Anwendungsfeldern wie der Alten- oder Krankenpflege neue Möglichkeiten – projektiert für die Breitenanwendung unter dem nicht zuletzt auch ökonomischen Druck des vielerorts beschworenen demographischen Wandels. In Kleidung verbaute Sensortechnik als Voraussetzung für die Erhebung von gesundheitsrelevanten Vitalparametern ist ein wichtiger Schritt, um Menschen mit Beeinträchtigungen welcher Art auch immer aus der Ferne zu betreuen und möglichst lange in der Privatheit ihrer vier Wände zu belassen – und damit einem zentralen Wunsch der Betroffenen zu entsprechen. Eines der vielen Beispiele dafür ist »NUTRIWEAR«, ein vom BMBF gefördertes System zur unmerklichen Erhebung von Vitalparametern, von dem sich die Betreiber massive Einsparungen im Gesundheitswesen versprechen.13 Abb. 214 12 Vgl. dazu stellvertretend Stefanie Duttweiler et al. (Hg.): Leben nach Zahlen. Self-Tracking als Optimierungsprojekt? Bielefeld: transcript, 2016. Vgl. ferner Volker P. Andelfinger u. Till Hänisch (Hg.): eHealth. Wie Smartphones, Apps und Wearables die Gesundheitsversorgung verändern warden. Wiesbaden: Springer, 2016. 13 Vgl. Bundesministerium für Bildung und Forschung (Hg.): AAL Broschüre – Altersgerechte Assistenzsysteme für ein gesundes und unabhängiges Leben. Bonn u. Berlin: VDI/ VDE Innovation + Technik, 2008; dass. (Hg.): Assistenzsysteme im Dienste des älteren Menschen – Steckbriefe der ausgewählten Projekte in der BMBF-Fördermaßnahme. Bonn u. Berlin: VDI/VDE Innovation + Technik, 2009, sowie dass. (Hg.): Textilintegriertes, intelligentes System zum Ernährungs- und Wasserhaushaltsmanagement – NutriWear. Bonn u. Berlin: VDI/VDE Innovation + Technik, 2009.

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Trotz der integrierten körpernah verbauten Technik ist das System zuverlässig für den Dauerbetrieb geeignet; die unauffällig und bequem zu tragenden Kleidungsstücke sind Teil alltäglicher Lebenswelten und sogar waschbar. Und sie fügen sich in Konzepte veränderten Wohnens und schließen mit diesen eine Allianz. Das macht die Diskussion um das so genannte Ambient Assisted Living (AAL) sichtbar, das mittels technischer Unterstützung den Verbleib von Menschen in der Privatheit ihres vertrauten Umfeldes sichern soll und dazu Daten erhebt – etwa mit intelligenten Fußböden oder Sensormatten, die auf dem Boden ausgelegt das Tracken von Bewegungsmustern erlauben. Eines dieser Programme handelt von einem intelligenten Fußboden (smart floor), der in der Lage ist, Verhaltensnormalitäten zu beobachten und auf etwaige Störfälle unmittelbar zu reagieren.15 Aber es kommen auch Sensorkleider zum Einsatz, die unmittelbar am Körper verbracht die dauerhafte Erhebung von physiologischen Daten erlauben.16 Bemerkenswert ist dabei der besondere Aufwand, der im Werben um die Akzeptanz für diese derart neugestalteten Wohnumgebungen betrieben wird. An den Begründungsmaßnahmen argumentativer, gestalterischer, semantischer und nicht zuletzt pädagogischer Art wird nämlich zugleich ein medienanthropologisches und medienethisches Paradox des AAL sichtbar: Man kommt nicht umhin, zur Wahrung seiner Eigenständigkeit im individuellen Wohnen, Autonomie an technische Systeme abzugeben. Diese Abgabe erfolgt in Form einer Billigung, einer aufgeklärten Zustimmung und damit im Modus dessen, was man eine freiwillige Fremdkontrolle nennen könnte. Wie es in dem Beitrag Intelligent Environ-

14 NutriWear (http://www.derwesten.de/img/incoming/origs3352752/3483586719w552-bF3F3F3-st/20100611-UMIC-Shirt-und-Messkette-198x265.jpg. Auf: derwesten.de; Erstelldatum: 28. Juni 2010 / Stand: 03. November 2016). 15 Smart floor ist damit der gut sicht- und verhandelbare Teilbereich einer Oberflächennutzung, die unter dem Stichwort smart surface eine entsprechende Gestaltung und Nutzung von Oberflächen im Bereich des gerade nicht mehr Sichtbaren verhandelt. Vgl. zu einer solchen Anwendung auf der Grundlage von Microelectromechanical Systems (MEMS) Didier El-Baz et al.: »Distributed Discrete State Acquisition and Concurrent Pattern Recognition in a MEMS-Based Smart Surface#«. In: First Workshop on Hardware and Software Implementation and Control of Distributed MEMS (DMEMS). Besan, TBD, France: IEEE 2010, S. 78–85. Auf: http://homepages.laas.fr/elbaz/4064a078.pdf; zul. abgeruf. am 20. Juni 2016. 16 Einen guten Überblick bietet Juan Carlos Augusto et al. (Hg.): Handbook of Ambient Assisted Living. Technology for Healthcare, Rehabilitation and Well-being. Amsterdam et al: IOS Press, 2012.

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ments von Timo Müller, der sich auf die Ausarbeitungen Marc Langheinrichs stützt, heißt,17 soll dazu der Benutzer auf eine besondere Weise eingebunden sein: Neben einer allgemeinen Zustimmungspflicht für die jeweiligen Maßnahmen gibt es auch eine zur allgemeinen Aufklärung, zu der es unter der wunderbaren Formulierung einer »awareness infrastructure« gleich noch ein technisches Pendant gibt: »Notice: The user has to be well informed so that he can make the privacy decisions. The so-called ›awareness infrastructure‹ is a baseline technology for smart environments.«18 Natürlich müssten neben solchen individualisierungs- und gesellschaftspolitischen Großoffensiven wie Selbstoptimierung und Pflege avancierte Projekte der Modeszene positioniert werden. Deren Entwürfe lassen sich zunehmend schwer unter die Rubrik »Kleidung« fassen, changieren sie doch zwischen Technik und Mode, Witterungsschutz und Lebenserhaltung, Kommerz oder Kunstwerk.19 Das anthropologische Mäntelchen, mit der die Rede von der Kleidung oftmals umgeben ist, um mit ihr den evolutionär schlecht ausgestatteten Menschen einer widrigen Umwelt anzupassen und damit als Beleg für die These vom Menschen als einem Mängelwesen zu belegen, ist fadenscheinig geworfen. In diesem Zusammenhang wird ein ›Exchange-dress‹ der Schweizer Designerin Marsha Jäggi zum Gegenstand einer Aufführungspraxis, die nicht mehr den Gepflogenheiten der Modeszene, sondern denen einer künstlerischen Performance gleicht. Abb. 320 Vgl. Marc Langheinrich: »Privacy by Design: Principles of Privacy-Aware Ubiquitous System«. In: Gregory D. Abowd, Barry Burmitt u. Steven Shafer (Hg.): Ubicomp 2001. Ubiquitous Computing. International Conference Atlanta Georgia, USA, September 30–October 2, Proceedings. Berlin u. Heidelberg: Springer, 2001, S. 273–291. 18 Timo Müller: »Intelligent Environments«. In: Florian Schaub et al. (Hg.): Proceedings of the Seminar »Research Trends in Media Informatics«. Ulm: Universität Ulm, Fakultät für Ingenieurwissenschaften und Informatik 2010, S. 5–11, hier S. 9. Auf: http://vts.uni-ulm. de/docs/2010/7214/vts_7214_10167.pdf, zul. abgeruf. am 20. Juni 2016. 19 Vgl. dazu Katja Vega u. Hugo Fuks: Beauty Technologies. Designing Seamless Interfaces for Wearable Computing. Cham: Springer, 2016. 20 Exchange Dress, ©Ammann+Siebrecht Fotografen AG. Aus: Sabine Seymour u. Laura Beloff: »Fashinable Technology – The Next Generation of Wearables«. In: Laurent Mignonneau u. Christa Sommerer (Hg.), The Art and Science of Interface and Interaction Design. Berlin u. Heidelberg: Springer, 2008, S. 131–140, hier S. 136. 17

ANTHROPOPHILIE

In Abhängigkeit von der Entfernung eines mit einem Armband ausgestatteten Benutzers von der Trägerin wechselt das Kleid seine Farbe, ein Vorgang, der die Besucher in eine Interaktion mit der kommunizierenden Kleidung (und nicht mit ihrer Trägerin) verstrickt.21 Diese Wäscheobjekte werden eben nicht mehr nur getragen, sie werden nicht mehr nur als bloß Getragene einem staunenden Publikum vorgeführt, vielmehr agieren sie selbsttätig und in dieser Teilautonomie auf eine Weise, die auch die geläufigen Vorstellungen der auf den Catwalks laufenden Models irritiert oder ganz außer Kraft setzt. Die vielfältigen Möglichkeiten entsprechender Materialien (leitfähige Textilien, Formgedächtnislegierungen, Stromerzeugung durch den Körper u. a.), die all das erlauben, sind für die Modeszene längst erkannt und genutzt.22 Nicht nur die Vorstellung von der Funktion von Kleidung, sondern auch die von den Weisen ihrer Verfertigung haben sich dabei grundlegend geändert. Das wird deutlich, wenn man etwa das Londoner Studio XO in den Blick nimmt. Anziehsachen fallen dort nicht mehr in den Zuständigkeitsbereich von Schnittmustern und Konfektionsgrößen, von handwerklichem Geschick und saisonal bedingten Marketingstrategien, sie verdanken sich vielmehr einer sehr gezielten Kopplung unterschiedlicher Disziplinen und Kompetenzen. Diese reichen vom Design über Informationstechnologie bis in die Belange der Materialwissenschaft und werden unter Begriffen wie Fashionable Technology inzwischen in großer Nähe zur Kunst verhandelt.23 Der Ort solcher und ähnlicher Bemühungen ist damit nicht mehr die Schneiderei als Handwerksbetrieb zur Verarbeitung von Stoffen aller Art, sondern das Labor als selbstbewusster Verbund avancierter Wissenschaften und Technologien – eine Einschätzung, die der Dokumentarfilm The next black. A Film about the Future of Clothing am Beispiel des Studio XO über alle der Selbstdarstellung geschuldeVgl. dazu Sabine Seymour u. Laura Beloff: »Fashinable Technology – The Next Generation of Wearables«. In: Laurent Mignonneau u. Christa Sommerer (Hg.): The Art and Science of Interface and Interaction Design. Berlin u. Heidelberg: Springer, 2008, S. 131–140. 22 Vgl. E. Rehmi Post u. Margaret Orth: »Smart Fabric, or ›Wearable Clothing‹«. In: ISWC ’97 Proceedings of the 1st IEEE International Symposium on Wearable Computers. Washington, DC: IEEE Computer Society, 1997, S. 167–168; Tim Schröder: »Fasern mit eingebauter Intelligenz«. In: Pictures of the Future (Frühjahr 2003), S. 12–14. Auf: https:// www.siemens.com/content/dam/internet/siemens-com/innovation/pictures-of-thefuture/pof-archive/pof-fruehjahr-2003.pdf, zul. abgeruf. am 20. Juni 2016. 23 Unter den Akteuren der Forschungen zählt natürlich auch die NASA. Vgl. Cory Simon et al.: »Smart Fabrics Technology Development. Final Report. October 8, 2010. A NASA Innovation Fund Project«. Auf: http://ntrs.nasa.gov/archive/nasa/casi.ntrs.nasa. gov/20100042366_2010045164.pdf, zul. abgeruf. am 28. Februar 2016. 21

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ten Rhetorik der daran Beteiligten hinaus eindrucksvoll untermauert.24 Den Macherinnen und Machern geht es dabei um durchaus Grundsätzliches, wie ein Blick auf die Homepage verdeutlicht. Diese wird vom Logo des Elektronikunternehmens AEG geziert und folgt zunächst der von Hausgeräteherstellern gewohnten Unterteilung ihrer Produktpalette in die einzeln anklickbaren Sparten Cooking, Dishwashing, Cooling, Laundry, Vacuum Cleaning bis hin zu einer Rubrik für allerlei haushaltstauglichen Kleingeräte. Mit eben dieser Produktpalette ist der Bogen von der Welt der Kleidung in die des Wohnens und der dort versammelten technischen Belange geschlagen. Dort allerdings, wo zwischen Reklame und Kommerz, wo zwischen Ökobilanzen und Reinigungsqualität von Waschmaschinen die Kreativen selbst zu Wort kommen, zeichnen sich fernab von den Trivialitäten der Haushaltsführung und der dazu erforderlichen Elektrogeräte die ganz weit gefassten Perspektiven der vestimentären Zukunft ab.25 Für das Verschmelzen von Kleidung mit Informationstechnologie stellen die Kreativen gar eine Vision in Aussicht, die auf ihre Weise den Körper grundlegend in Position bringt: »One day we will wear the surface of the computer on our bodies« – so meldet sich Nancy Tilbury, Creative Director von Studio XO, gleichermaßen selbstbewusst wie zukunftsweisend zu Wort. Damit stellt sie eine Phantasmatik der Unmittelbarkeit in Aussicht, die aktuell in Unmittelbarkeitsmaschinen wie dem Haut-Projektor ›Cicret Bracelet‹ umgesetzt sind. Dort soll die nackte Haut ohne jegliches vestimentäre Zwischenspiel zur informationellen Oberfläche taugen. In Aussicht gestellt wird eine Nutzung natürlicher Oberflächen, die in der ihrerseits schon historischen Vision des amerikanischen Computerpioniers Ivan E. Sutherland aus dem Jahr 1965 für die Zukunft als The Ultimate Display erwogen und an die konsequente Nutzung bereits vorhandener architektonischer Oberflächen gekoppelt wurde.26 Für die

The next black. A Film about the Future of Clothing. Regie: David Dworsky, Victor Köhler. AEG/House of Randon, 2014. 25 Um solche Selbsteinschätzungen nicht völlig unkommentiert zu lassen vgl. Ingrid Rügge: »Wege und Irrwege der Mensch-Maschine-Kommunikation beim Wearable Computing«. In: Hans Dieter Hellige (Hg.): Mensch-Computer-Interface. Zur Geschichte und Zukunft der Computerbedienung. Bielefeld: transcript, 2008, S. 199–234. 26 Ivan E. Sutherland: »The Ultimate Display«. In: Proceedings of IFIP (International Federation for Information Processing) Congress. New York: Spartan Books, 1965, S. 506–508. Vgl. dazu auch Stefan Rieger: »Das Gewand der Dinge. Zur informationellen Nutzung von Oberflächen«. In: Christina Lechtermann u. Stefan Rieger (Hg.): Das Wissen der Ober24

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Abb. 427

Macher eines wearable computing stehen dem Körper noch andere Szenarien ins Haus. Er soll zum Schauplatz einer Demokratisierung der Mode werden: Studio XO believes this would enable us to digitally subscribe to fashion content and create playlists for our bodies making fashion more in line with digital entertainment platforms such as Spotify, SoundCloud and Pinterest, effectively democratising fashion with what she calls the »Tumblr of the body«.28

Mode, deren Semiologie bei Roland Barthes eine eigene Sprache ausgeprägt hat und die in anderen Theoriezusammenhängen als Paradefall für die Theorie feiner Unterschiede (Pierre Bourdieu) oder die Subtilitäten gouvernementaler Macht hat gelten können (Michel Foucault), erhebt den Körper in den Rang eines politischen Statements. Was immer den Körper ummanteln, was sich ihm anschmiegen soll, es muss flexibel, verformbar und eben auch anpassungsfähig, es muss auf den Körper zugeschnitten, personalisierbar und darf nicht störend sein. Es hat den individuellen Bedürfnissen des Trägers ebenso

fläche. Epistemologie des Horizontalen und Strategien der Benachbarung. Zürich u. Berlin: Diaphanes, 2015, S. 269–284. 27 Cicret Bracelet (erstellt durch: cicret.com, https://cicret.com/wordpress/wp-content/ uploads/2014/12/vlcsnap-2014-12-27-14h14m40s97.png; Erstelldatum: 27. Dezember 2014, Stand: 03. November 2016). 28 http://www.aeg.ru/plan_and_design/the-next-black/studio-xo/, zul. abgeruf. am 21. Juni 2016.

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zu entsprechen wie den sozialen Situationen, in denen dieser sich jeweils befindet. Die Anleihe an die Playlist in ihrer vestimentären Spielart erweist sich hier als durchaus stimmig – ebenso stimmig wie die Versuche einer affektiven Besetzung der Bekleidung. Für dessen Betonung sind die Arbeiten Rosalind W. Picard wegweisend, die am Media Lab des MIT an affective wearables arbeitet. Dort werden die Möglichkeiten affektiver Kleidung systematisch erforscht und in der zunächst zögerlichen Form von Prototypen Wirklichkeit. Diese verfügen etwa über das Gespür, die Nuancen von Stimmführung und die von Gesichtsausdrücken zu registrieren und entsprechend auf diese zu reagieren. Eine veränderte Achtsamkeit soll das Zusammenspiel von Träger und Getragenem beherrschen: »Our goal is to give computers the ability to pay attention to how the wearer feels, and to use this information to better adapt to what the user wants«.29 Aber nicht beileibe nur die Identifizierung eines freudigen Lächeln oder einer flüchtigen Geste der Verärgerung, ein Stirnrunzeln als Zeichen der Irritation, ein Kopfnicken als das einer Zustimmung oder ein Schulterzucken als das der Indifferenz, auch die Achtsamkeit auf akustische Verlautbarung wie ein Hüsteln und Niesen, soll von den affective wearables geleistet werden. Zu erfassen sind vor allem physiologische Daten, die als Affektindikatoren gelten wie die Veränderungen von Herzfrequenz, Pulsraten oder der Hautleitfähigkeit. Dabei setzen die Autorinnen auf eine neue Form von Intimität, die der unmittelbaren Nähe zum Körper geschuldet ist. Im Gegensatz zu anderen mobilen Gerätschaften wie portable computers, die an Gürteln befestigt oder anderweitig in und an laschenfähigen Futteralen am Körper herumgetragen werden, erschließt die projektierte Technik eine direkte Kontaktform, die als long-term intimate way beschrieben auch Besonderheiten in der Datenproduktion beinhaltet. Dem Gürtel als nur bedingt taugliche Befestigungshilfe für technisches Gerät werden andere Einsatzorte und andere Schnittstellentechniken gegenübergestellt. »A wearable may not just bang on your belt, but it may also reside in your shoes, hat, gloves, jewelry, or other clothing, providing a variety of kinds of physical contact beyond the traditional paradigm of fingertips touching only a keyboard and a mouse.«30 Zwischen rechnendem Kleid und seinem Träger kann eine Atmosphäre der

29 R. W. Picard u. J. Healey: »Affective Wearables«. In: ISWC ’97 Proceedings of the 1st IEEE International Symposium on Wearable Computers. Washington, DC: IEEE Computer Society, 1997, S. 90–97, hier S. 92. 30 Ebd., S. 90. Die Unterscheidung von mobile und wearable wird dabei selbst Gegenstand medienwissenschaftlicher Distinktionsbemühungen. Vgl. Erkki Huhtamo: »Pockets

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Vertrautheit, eine anthropophile Atmosphäre der Intimität herrschen. Man kennt sich eben, man ist sich nicht fremd. Die Umsetzung des affective computing macht über die Belange der Emotionsforschung und ihrer Erhebung von Affektindikatoren hinaus Phänomene sichtbar, die dem wearable computing als Systematik zugrunde liegen: Fragen der Technik, deren Befestigung, deren Stabilität, nach der Robustheit der verwendeten Sensoren, nach deren Dezenz und natürlich immer wieder die Frage nach einer Verbauung, die den natürlichen Ausdruck nicht beeinflusst. So mag vor dem Tableau dieser Gesamtschau der Hinweis auf den Schuh als idealen Ort für die Platzierung von Sensoren als auf den ersten Blick reichlich absurdes Sonderproblem wirken. Aber er hat Methode, bestimmt doch die Unauffälligkeit der Technik sowohl die Ortswahl als auch die Gestalt.31 Und es bleibt eben nicht bei solchen Überlegungen, die auf die Details wissenschaftlicher Einsätze abzielen. Das, was hier auf den Weg gebracht wird, mündet in eine Lage, in der eingespielte Leitkonzepte wie Natur und Leben, Körper und Erfahrung, Realität und Virtualität, Interaktion und Kollaboration zunehmend außer Kraft gesetzt werden. Die Neupositionierung des Menschen zu einer technischen Umwelt mündet in eine veränderte Praxis von Zuschreibung und Autonomie. Diese hat dem Anspruch gerecht zu werden, dass ubiquitäre Technik ihre Funktion einer prothetischen Erweiterung des Körpers überschritten hat. Virulent wird die Autonomie sogar dort, wo Menschen im Modus des Virtuellen agieren. Das Virtuelle ist ein Erfahrungsraum für Sinneseindrücke, für Kommunikationsstrategien, für Handhabungen von Gegenständen und nicht zuletzt für Kollaborationen mit realen und künstlichen Protagonisten – seien diese materialisiert oder ebenfalls virtuell.32 Es stellen sich dabei neue Fragen, etwa ob es in den Immersionsszenarien feste Körpergrenzen gibt und wem der Körper überhaupt noch gehört (body ownership); und natürlich stellt sich die Frage nach einer veränderten Konzeptualisierung von Sozialität und

of Plenty. An Archaeology of Mobile Media«. In: Martin Rieser (Hg.): The Mobile Audience: Media Art and Mobile Technologies. Amsterdam u. New York: Rodopi, 2011, S. 23–38. 31 Vgl. John Kymissis et al.: »Parasitic Power Harvesting in Shoes«. In: ISWC ’98 Proceedings of the 2nd IEEE International Symposium on Wearable Computers. Washington, DC: IEEE Computer Society, 1998, S. 132–139. 32 Vgl. Holger Braun-Thürmann: »Agenten im Cyberspace: Soziologische Theorieperspektiven auf die Interaktionen virtueller Kreaturen«. In: Udo Thiedecke (Hg.): Soziologie des Cyberspace. Medien, Strukturen und Semantiken. Wiesbaden: VS Verlag, 2004, S. 70–96.

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Handlungsträgerschaft.33 Die Notwendigkeit einer Neubestimmung dessen, was als Handlung und was als Handelnde künftig verstanden werden soll, ist allerorten zu greifen und drängt sich in seiner Brisanz förmlich auf.34 Gegenläufig zur Einschätzung, solche Dinge spielten vorrangig an entlegenen Schauplätzen, sie seien irgendwelchen Spezialanliegen geschuldet und eben die Musik einer noch weit entfernten Zukunft, haben diese Phänomene ihren Ort in der aktuellen Lebenswelt: Wenn Fahrzeuge in Abhängigkeit vom physischen Zustand ihrer Fahrer, der mittels Daten über textile Sensoren in den Sitzen erhoben wird, selbsttätig den Verkehr einstellen und in der Pflege eingesetzte Roboter in der Rückkopplung mit in Kleidung verbauter Sensortechnik über die Dosierung von Medikamenten entscheiden und damit die Lage bis zum Lebensende und eben auch am Lebensende selbst bestimmen, ist eine Neukartierung der Zuständigkeiten mehr als überfällig.35 Texte über eine Ethics of Robotic Assisted Dying sind nicht länger Science Fiction, sondern sie sind Bestandteil einer veränderten Zuordnung regionaler Ethiken und sie machen es notwendig, die Verhältnisse zwischen einer Menschen-, Tier- und Maschinenethik neu zu fassen.36

33 Vgl. Michaela Pfadenhauer u. Knud Böhle: »Social Robots call for Social Sciences«. In: Science, Technology & Innovation Studies 10.1 (2014) (Of Social Robots and Artificial Companions. Contributions from the Social Sciences), S. 3–10. 34 Auch zwingt sich hier die Rede von der Hybridisierung beinahe auf. Vgl. dazu etwa Werner Rammert: »Hybride Handlungsträgerschaft: ein soziotechnisches Modell verteilten Handelns«. In: Otthein Herzog u. Thomas Schildhauer (Hg.): Intelligente Objekte. Technische Gestaltung – wirtschaftliche Verwertung – gesellschaftliche Wirkung. Berlin u. Heidelberg: Springer 2009, S. 23–33. Für den Spezialfall der Mensch-Roboter-Kollaboration vgl. Sami Haddadin, Alin Albu-Schaffer u. Gerd Hirzinger: »Requirements for Safe Robots: Measurements, Analysis and New Insights«. In: The International Journal of Robotics Research 28.11–12 (2009), S. 1507–1527. 35 Vgl. zur Diskussion um die juristische Bewertung Eric Hilgendorf u. Jan-Philipp Günther (Hg.): Robotik und Gesetzgebung. Beiträge der Tagung vom 7. bis 9. Mai 2012. BadenBaden: Nomos, 2013, vor allem die Beiträge von Susanne Beck: »Über Sinn und Unsinn von Statusfragen zu Vor- und Nachteilen der Einführung einer elektronischen Person«. In: ebd., S. 239–261, und Sascha Ziemann: »Wesen, Wesen, seid’s gewesen? Zur Diskussion um ein Strafrecht für Maschinen«. In: ebd., S. 183–194. 36 Vgl. Ryan Tonkens: »Ethics of Robotic Assisted Dying«. In: Simon Peter van Rysewyk und Matthijs Pontier (Hg.): Machine Medical Ethics. Cham: Springer, 2015, S. 207– 211. Zu einer damit verbundenen Positionierung der Bereichsethiken vgl. Oliver Bendel: »Considerations about the relationship between animal and machine ethics«. In: AI & Society. The Journal of Human-Centred Systems and Machine Intelligence 31.1 (2016), S. 103– 108 (Open Forum: First Online 11.12.2013).

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Dem Textilen, das all diesen Anwendungen in der Praxis zugrunde liegt, eignet ein semantisches Potential, das eine Fülle unterschiedlicher Bezugnahmen erlaubt – nicht zuletzt für die Aufstellung der Theorie selbst. Und so nimmt es nicht Wunder, dass dieses Potential auch entsprechend vielfältig ausgereizt und in die Diskussion eingebracht wird – zum Teil unterschwellig und in Form der gewählten Performanz, oft aber mit einer ausgestellten Explizitheit. Die Rede vom Saum und vom Weben sind daher nicht nur bei Mark Weiser so allgegenwärtig wie die Phänomene, deren Beschreibung sie gelten. Weil Saumlosigkeit die andere, nämlich die operative Seite des Ubiquitären ist, folgen zahlreiche Arbeiten dieser Semantik: Seamful Interweaving, Seamful and Seamless Design in Ubiquitous Computing oder Interweaving Mobile Games With Everyday Life – um nur einige Titel zu nennen, die diese neue Ordnung von Medien fassen.37 Und selbst noch die Zusammenarbeit von Robotern und intelligenten Wohnumgebungen steht in ihrem Zeichen (»›Maybe it Becomes a Buddy, but do not call it a robot‹ – Seamless Cooperation between Companion Robotics and Smart Homes«).38 Der kanadische Informatiker Steve Mann, einer der maßgeblichen Protagonisten des wearable computing, koppelt dessen Möglichkeit an eine Theorie gouvernementaler Macht. Im Zeichen einer dem Textilen geschuldeten Flexibilität kommt es unter dem Titel Sousveillance: Inventing and Using Wearable Computing Devices for Data Collection in Surveillance Environments gar zu

37 Weiser: »Seamful Interweaving« (wie Anm. 5), S. 243–252. Marek Bell et al.: »Interweaving Mobile Games With Everyday Life«. In: CHI ’06 Proceedings of the SIGCHI Conference on Human Factors in Computing Systems. New York, NY: ACM, 2006, S. 417–426. Vgl. ferner Matthew Chalmers u. Ian MacColl: »Seamful and Seamless Design in Ubiquitous Computing«. In: Proceedings of Workshop At the Crossroads: The Interaction of HCI and Systems Issues in UbiComp 2003. Auf: http://www.techkwondo.com/external/pdf/ reports/2003-chalmers.pdf, zul. abgeruf. am 06. März 2017. 38 Claire Huijnen et al.: »›Maybe it Becomes a Buddy, but do not call it a robot‹ – Seamless Cooperation between Companion Robotics and Smart Homes«. In: Ambient Intelligence Lecture Notes in Computer Science 7040 (2011), S. 324–329. Auch die Gestaltung von Materie steht im Zeichen der Saumlosigkeit. Vgl. dazu Hiroshi Ishii u. Brygg Ullmer: »Tangible Bits: Towards Seamless Interfaces between People, Bits and Atoms«. In: CHI ’97 Proceedings of the ACM SIGCHI Conference on Human factors in computing systems. New York, NY: ACM, 1997, S. 234–241.

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Abb. 541

einer Inversion von Michel Foucaults Konzept der Überwachung.39 Es ist gerade vor dem Hintergrund einer verstärkt geführten Diskussion um Disziplinar- und Kontrollgesellschaften bemerkenswert, dass ausgerechnet im Umfeld des wearable computing der von Foucault theoretisch stark gemachte Begriff eine Entsprechung im Konzept der Unterwachung (Sousveillance) gewinnt. Das wearable computing, das Steve Mann immer näher an den Körper heranführt und dazu den Begriff der underwearables benutzt, egalisiert die Politik der Datenerhebung, indem es sie von Instanzen wie staatlichen Behörden löst und somit Spielarten privater Nutzung und der Subversion eröffnet.40 Eine Skizze, die Steve Manns Tochter anfertigte, demonstriert diese Verkehrung – und liest sich wie ein Kommentar von eigenen Produkten (›wearcam‹, ›aposematic suit‹). Zwei Beispiele von Steve Mann, die mit der wearability einem zentralen Aspekt seiner Arbeiten geschuldet sind, machen das

39 Steve Mann et al.: »Sousveillance: Inventing and Using Wearable Computing Devices for Data Collection in Surveillance Environments«. In: Surveillance & Society 1.3 (2003), S. 331–355. Zu den Details Stefan Rieger: »Freiwillige Fremdkontrolle. Aporien der Gouvernementalität«. In: Beitrag zum Workshop Unterwachen und Schlafen. Lüneburg, Januar 2015. 40 Vgl. Steve Mann: »Eudaemonik Computing (›underwearables‹)«. In: ISWC ’97 Proceedings of the 1st IEEE International Symposium on Wearable Computers. Washington, DC: IEEE Computer Society, 1997, S. 177–178. 41 Stephanie, Age 6, Surveillance versus Sousveillance (erstellt durch: Glogger [Steve Mann], Wikimedia: https://en.wikipedia.org/wiki/File:SurSousVeillanceByStephanie MannAge6.png; Erstelldatum: 14. Februar 2013, Stand: 03. November 2016).

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anschaulich. Auf seine Weise spiegelt das erste Beispiel einer um den Hals tragbaren Kamera ganz allgemein den Blick des beobachteten Beobachters zurück. Im zweiten Beispiel, ›Invisibility/Aposematic Suit‹, greift Mann auf Konzepte der Biologie zurück.

Abb. 642

Entsprechend dem Schrägstrich im Titel hat das tragbare Kunstwerk zwei unterschiedliche Betriebsweisen: Im ersten Fall zeigt es dem Betrachter, was er wahrnehmen könnte, wenn er durch den Bildschirm wie durch eine Glasscheibe hindurchsehen könnte. Dieser Modus erfolgt analog zur Mimikry etwa eines Chamäleons, das sich durch Verschmelzung mit seiner Umwelt für seine Feinde unsichtbar macht. Auch die zweite Betriebsart folgt einem abgewandelten Konzept der Biologie, dem des so genannten Aposematismus. Dabei wird Schutz nicht durch Kaschierung angestrebt, sondern durch deutlich ausgestellte Signale, die auf physische Überlegenheit, etwa auf das Vorhandensein von Gift oder auf andere Eigenschaften schließen lassen, die dem Jäger unzuträglich sind. Im Fall des ›Aposematic Suit‹ sieht sich der Betrachter also 42 Aposematic Jacket and Invisibility Suit (erstellt durch: Glogger [Steve Mann], Wikimedia: https://en.wikipedia.org/wiki/File:AposematicJacket.jpg und https://commons. wikimedia.org/wiki/File:AposematicJacket2.jpg; Erstelldatum: 17. August 2001 / Stand: 18. Oktober 2014).

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unablässig selbst auf dem Bildschirm, gleichgültig, wo er sich gegenüber dem Anzugträger im Raum positioniert, und wird so, ähnlich den Monitoren im Eingangsbereich von Geschäften, mit dem ausgestellten Eindruck der Überwachung unablässig konfrontiert. Natürlich hat das wearable computing eine eigene Genealogie. Bevor tragbare Computer für Militär und Weltraumfahrt, für Büro- und Wohnraumbewirtschaftung, für die diversen Sparten der Selbstoptimierung oder im Sozialwesen zum Einsatz gelangten, führt eine dieser Geschichten zu Edward O. Thorp, einem amerikanischen Spieltheoretiker. Thorp nimmt für sich in Anspruch, den ersten tragbaren Computer überhaupt entwickelt zu haben – für ein Spezialanliegen, nämlich die Berechenbarkeit des Glückspiels Roulette, für dessen Optimierung er sich ausgerechnet mit Claude E. Shannon, dem Begründer einer mathematisch ausgerichteten Kommunikationstheorie zusammentut. Der durchweg launig gehaltene Text The Invention of the First Wearable Computer zeichnet ein eindrückliches Bild ihrer exzentrischen Zusammenarbeit.43 Nach Probeläufen im aufwendig dafür hergerichteten Billardzimmer führt der erste Einsatz die beiden im Sommer 1962 aus dem Intellektuellenmilieu in Cambridge ins Glücksspielparadies Las Abb. 744

43 Edward O. Thorp: »The Invention of the First Wearable Computer«. In: ISWC ’98 Proceedings of the 2nd IEEE International Symposium on Wearable Computers. Washington, DC: IEEE Computer Society, 1998, S. 4–8. 44 Thorp: First Wearable Computer (Fotos einer Ausstellung im Nixdorf Computer Museum 2008; http://edwardothorp.com/sitebuildercontent/sitebuilderfiles/Wearable ComputerPhoto2.jpg, Stand: 03. November 2016).

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Vegas. Mit von der Partie waren die Ehefrauen, die den Schein eines normalen Spielbetriebs aufrechterhalten sollten. In der letzten Fassung gelangte im Kasino ein zigarettenschachtelgroßer Kleincomputer nebst einer im Schuh verbauten und durch Zehendruck zu betätigenden Vorrichtung zur Zeitnahme von Kugel und Rotor zum Einsatz. Die Kommunikation mit dem Computer und damit die Direktiven, worauf beim jeweiligen Lauf zu wetten sei, erfolgte über ein akustisches Signal. Um die Lautsprecher mitsamt der Verkabelung zum Computer zu kaschieren, wurden die Drähte mit einem Hautton bemalt. Die Befestigung erfolgte mit unauffälligem spirit gum, einem farblosen Hautklebemittel, das sonst zum Fixieren künstlicher Nasen, Bärte oder Wimpern verwendet wird. Doch einmal flog die Tarnung bei aller Vorsicht dann doch auf. Eine Frau, die neben Thorp am Spieltisch saß, reagiert mit nacktem Entsetzen auf sein schieres Aussehen (›looked over in horror‹). Geistesgegenwärtig verließ Thorp das Geschehen, um vor dem Toilettenspiegel festzustellen, dass ein Lautsprecher seine Tarnung verloren hatte. Die Gewahrwerdung der Technik beschreibt Thorp im Modus des Animalischen: »I […] discovered the speaker peering from my ear canal like an alien insect.«45 Diese Geschichte aus der Frühphase tragbarer Computer erschöpft sich keineswegs in der Fülle ihrer launigen Details. Vielmehr verhandelt sie grundlegende Fragen der Gewöhnung und der Akzeptanz – Fragen, die den Blick auf Medien und auf das Design von Medien generell modellieren und die besonders dann brisant werden, wenn derlei Geräte zur Breitenanwendung gelangen. In der ›Fremdartigkeit des Insekts‹ wird nicht weniger als das Unheimliche greifbar. Es ist dieses Unheimliche, das in Form des so genannten Uncanny Valley des japanischen Robotikers Masahiro Mori zu einer zentralen Größe im Umgang mit der Bestimmung von Technikakzeptanz werden sollte – und das seit der Veröffentlichung seines Gründungstextes im Jahre 1970 bis in die Gegenwart einen wichtigen Bezugspunkt für Fragen der Akzeptanz bildet.46

Thorp: »The Invention of the First Wearable Computer« (wie Anm. 43), S. 7. Vgl. Masahiro Mori: »The Uncanny Valley«. In: Energy 7 (1970), S. 33–35. Zu einer Neufassung entsprechender Konzepte vgl. etwa Christoph Bartneck et al.: »My Robotic Doppelgänger – A Critical Look at the Uncanny Valley«. In: RO-MAN 2009 – The 18th IEEE International Symposium on Robot and Human Interactive Communication. Toyama, Japan: IEEE, 2009, S. 269–276.

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Abb. 847

Mit der textilen Qualität der Saumlosigkeit zur Beschreibung von Medien wird eine Qualität des Un-Aisthetischen theoretisch gefasst und damit den praktischen Anwendungsfeldern des so genannten wearable computing an die Seite gestellt. Die genannten Bereiche werfen in verstärktem Maße Fragen der Zumutung und Zumutbarkeit von Medien auf. Unter den zahlreichen Strategien der Akzeptanzerzeugung, die dabei in Stellung gebracht werden, zeichnet sich eine gemeinsame Fluchtlinie ab: Medien und Technik erscheinen dabei nicht länger als das Andere des Menschen, sondern sie zeigen sich im Modus der Anthropophilie. Darunter fallen neben der Oberflächengestaltung mittels naturähnlicher Formgebung und Strategien des Affektbezugs (affective computing) nicht zuletzt auch die rhetorischen Strategien, mit denen Technik dem Sozialbereich des Menschen angenähert und integriert wird.48 Technik erschließt neue Intimitäten und Privatheiten, neue Interaktions- und KollaUncanny Valley nach Masahiro Mori (erstellt durch: Smurrayinchester, Wikimedia: https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/thumb/f/f0/Mori_Uncanny_Valley. svg/2000px-Mori_Uncanny_Valley.svg.png; Erstelldatum: 01. Mai 2007, Stand: 02. November 2016). 48 Vgl. dazu und mit Blick auf eine nahezu animistische Verdinglichung Michaela Pfadenhauer u. Christoph Dukat: »Künstlich begleitet. Der Roboter als neuer bester Freund des Menschen?«. In: Tilo Grenz u. Gerd Möll (Hg.): Unter Mediatisierungsdruck: Änderungen und Neuerungen in heterogenen Handlungsfeldern. Wiesbaden: Springer, 2014, S. 198–210. 47

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borationsformen.49 Roboter und virtuelle Sozialagenten erscheinen dort nicht mehr nur als Werkzeuge oder prothetische Erweiterungen des Menschen, sondern erlauben als Freunde und Companions auch eine Übergängigkeit in den sozialen Gefügen. Unter den technischen Bedingungen der Gegenwart, die in ihrer Selbstbeschreibung oft als post- und transhumanistisch auftritt, ist der intime und vertrauensvolle Dialog nicht mehr nur ein Privileg von Personen.50 Was sich abzeichnet, sind Strategien einer artenübergreifenden Kommunikation – vom Interspecies-Internet bis zu Programmen wie dem Manifesto for Symbiogenisis des amerikanischen Künstlers Ken Rinaldo.51 Das Verhältnis zwischen Mensch und Gerät wird inzwischen als so eng veranlagt, dass es im Fall seines Fehlens regelrechte und körperlich manifeste Entzugserscheinungen zur Folge haben kann. Ausgerechnet am Beispiel des Smartphone-Gebrauchs wird so eine Erscheinung greifbar, die in großer Nähe zum Phantomschmerz bei Amputierten verhandelt wird. Die Betroffenen, so ist in einer Überblicksstudie über die bereits erfolgte Verwissenschaftlichung des Phänomens zu lesen, verhielten sich sonderbar, litten sie doch unter dem, was ein Neologismus als ringxiety ausweist: Ringxiety refers to the condition of hearing the mobile phone vibrating or ringing even when it is not. In scientific literature, ringxiety is also referred to as phantom vibration (PV) or phantom ringing (PR). It is understood to be similar to the sensations felt by individuals after the amputation of a part of the body.52

Und weil, wie im Fall der ringxiety, allzu große Nähe eben auch ihre Gefahren birgt, ergehen entsprechende Warnungen in die digitale Welt: Beware the imaginary buzz – it could be the sign of anxiety.53 49 Zur Intimität vgl. Bd. 15 der Zeitschrift für Medienwissenschaft (ZfM): Themenheft Intimität, 2016 (darin: Michael Andreas, Dawid Kasprowicz u. Stefan Rieger: »Technik | Intimität: Einleitung in den Schwerpunkt«, S. 10–17). 50 Vgl. Karen A. Cerulo: »Nonhumans in Social Interaction«. In: Annual Review of Sociology 35.1 (2009), S. 531–552. 51 Ken Rinaldo: »Trans-Species Interfaces: A Manifesto for Symbiogenisis«. In: Damith Herath, Christian Kroos u. Stelarc (Hg.): Robots and Art. Exploring an Unlikely Symbiosis. Singapore: Springer, 2016, S. 113–148. 52 Amrita Deb: »Phantom vibration and phantom ringing among mobile phone users: A systematic review of literature«. In: Asia Pacific Psychiatry 7 (2014), S. 231-239, hier S. 231. 53 Rhodri Marsden: »Phantom vibration syndrome: Beware the imaginary buzz – it could be the sign of anxiety«. Auf: The Independent, dort datiert 24. Februar 2016. Auf: http://www.independent.co.uk/life-style/gadgets-and-tech/phantom-vibrationsyndrome-beware-the-imaginary-buzz-it-could-be-the-sign-of-anxiety-a6894121.html, zul. abgeruf. am 10. März 2017.

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Das Erscheinen, die Ware und die Explosion Die Ästhetik des Smartphones: Was zeigt sich, wenn wir das Smartphone ansehen und ihm zuhören? Wie sind die sinnlichen Angebote geformt und miteinander verbunden? Ist also eine formale Analyse (I.), ein klassisches Werkzeug der Kunstgeschichte, um die ästhetische Form eines Gegenstandes (normalerweise: eines Kunstwerks) zu beschreiben, auch auf ein Smartphone anwendbar? Damit wird begonnen, Gegenstand wird ein iPhone SE von Apple sein, das mit bestimmten Formen in der modernistischen Kunst verglichen wird (II.). Doch diese Analyse scheint – da ein iPhone eben kein Kunst-, sondern ein Gebrauchsgegenstand ist – ins Leere zu führen. Vielmehr führt sie auf die Frage nach der Warenästhetik des Smartphones, die an einem Werbeclip für Samsung entwickelt wird (III.). Am Ende steht das (partiale) Scheitern des Gebrauchswertversprechens in der Explosion der Akkus beim Samsung Galaxy Note 7 – was wiederum auf die Frage nach dem Modernismus zurückführt (IV.).

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Formale Analyse

Zur Geschichte und Theorie sowie zu den methodologischen Implikationen formalanalytischer Verfahren gibt es eine sehr ausführliche und umfangreiche Diskussion, die hier nicht en détail dargestellt werden kann und muss.1

Vgl. u. a. Lambert Wiesing: Die Sichtbarkeit des Bildes. Geschichte und Perspektiven der formalen Ästhetik. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1997.

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Im Folgenden soll nur einmal das Prinzip einer formalen Analyse exemplarisch verdeutlicht werden. 144

Abb. 1/22

Nehmen wir ein berühmtes Beispiel: Abb.1 und 2 sind zwei Abbildungen aus Heinrich Wölfflins klassischem Buch Kunstgeschichtliche Grundbegriffe. Natürlich hat es nach Wölfflin eine Weiterentwicklung der formalen Analyse gegeben und sein Ansatz ist alles andere als unproblematisch, z. B. gibt es keine formalen Kriterien für Farbigkeit; Wölfflin argumentiert mit Begriffen wie Volksgeist und denkt in nationalen Kategorien etc.3 Das ist alles richtig. Hier soll nur erprobt werden, ob eine formale Analyse auch auf das Smartphone anwendbar ist. Zu den Abbildungen 1 und 2: Die linke zeigt einen Akt aus der Renaissance, die rechte einen aus dem Barock. Wölfflin schreibt:

Dürer: »Eva und Rembrandt: Weiblicher Akt«. Aus: Heinrich Wölfflin: Kunstgeschichtliche Grundbegriffe. Das Problem der Stilentwicklung in der neueren Kunst [1915]. Basel: Schwabe & Co., 1991, S. 48f. 3 Vgl. etwa zur Politik von Wölfflins formaler Ästhetik Evonne Levy: »The Political Project of Wölfflin’s Early Formalism«. In: October 139 (2012), S. 39–58.

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DAS ERSCHEINEN, DIE WARE UND DIE EXPLOSION Eine Figur als Helligkeit vor dunklem Grund ist die erste Empfindung bei Rembrandt; in der älteren Zeichnung ist die Figur auch auf eine schwarze Folie gebracht, aber nicht, um das Licht aus dem Dunkel hervorgehen zu lassen, sondern nur, um die Silhouette noch schärfer hervorzuheben: die ringsum laufende Randlinie hat den Hauptakzent. Bei Rembrandt hat sie ihre Bedeutung verloren, sie ist nicht mehr der wesentliche Träger des Formausdrucks, und es liegt keine besondere Schönheit in ihr. Wer ihr entlang gehen wollte, würde bald merken, daß dies kaum mehr möglich ist. An die Stelle der zusammenhängenden gleichmäßigen Konturlinie des 16. Jahrhunderts ist die gebrochene Linie des malerischen Stils getreten.4

Das Argument ist also, dass es einen Unterschied zwischen linearer und malerischer Form gibt, die jeweils charakteristisch für die jeweilige Epoche sind. Wölfflin unterscheidet weiter vier Begriffspaare, mit denen er die Formtendenz von Renaissance und Barock einander gegenüberstellt. Es geht also allein um die Form, das Wie der Darstellung. So problematisch formale Analysen auch sein mögen, ihre Stärke ist, dass sie die Darstellung nicht überspringen, etwa zugunsten eines ›Inhalts‹. Übertragen wir das auf das Smartphone, ist die Frage also weder die nach den ›Inhalten‹ oder den Nutzungspraktiken oder nach einer technischen Tiefenstruktur, sondern alleine die danach, wie das iPhone bzw. die Erscheinungen auf dem Display strukturiert sind. Das wäre die Frage nach der Ästhetik des Smartphones.

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Form des iPhones: Von der Ästhetik zur Warenästhetik

Sehen wir uns das iPhone an (Abb. 3), oder genauer: das, was das Display zeigt. Wir sehen ein Feld, von dem sich einige bunte Quadrate mit abgerundeten Ecken hervorheben. Im Hintergrund ein bläuliches, links unten ins Orange übergehendes Bild, möglicherweise eine Überblendung von Fotos eines blauen Himmels und einer Wüste in orangenem Sonnenlicht. Die einzelnen Quadrate sind binnenstrukturiert und zeigen z. T. eher gegenständliche, z. T. eher abstrakte Motive. Wenn man die Beschreibung so beginnt, so wird sofort deutlich, dass eine solche detaillierte Deskription eines Einzelfalls wenig Sinn macht. Andere NutzerInnen haben andere Hintergrundbilder und

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Wölfflin: Kunstgeschichtliche Grundbegriffe (wie Anm. 2), S. 49.

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Abb. 35

möglicherweise einige andere Apps (bzw. haben ihre Apps anders angeordnet). Die Ästhetik kann sich nur auf die allgemeine Anordnung von Quadraten auf einem Hintergrund beziehen – Quadrate, die eine Art Raster bilden. Nun könnte man von hier auf Rosalind Krauss’ Beschreibung des Rasters als einer Grundfigur der modernistischen Kunst kommen (Abb. 4). Krauss schreibt: Das Raster, das in der kubistischen Malerei der Vorkriegszeit auf der Bildfläche erscheint und von da an immer deutlicher und konsequenter hervortritt, kündigt unter anderem den Willen zum Schweigen an, der der Kunst der Moderne eigen ist – ihre Feindseligkeit gegenüber der Literatur, dem Erzählen, dem Diskurs. Mit solch bemerkenswerter Effizienz hat das Raster diese Aufgabe erfüllt, daß die Barriere, die es zwischen den Augenund Sprachkünsten errichtete, die bildende Kunst erfolgreich und beinahe vollständig in eine Sphäre ausschließlicher Visualität eingeschlossen und gegen das Eindringen der Sprache abgeschirmt hat. [...] Das Raster verkündet die Modernität der modernen Kunst auf zweierlei Weise – die eine räumlich, die andere zeitlich. Auf der räumlichen Ebene proklamiert das Raster die Autonomie der Kunst. Flach, geometrisch, geordnet, ist es anti-natürlich, anti-mimetisch, anti-real.6

http://axeetech.com/wp-content/uploads/2016/03/Apple-iPhone-SE-1024x599.jpg, zul. abgeruf. am 10. Februar 2017. 6 Rosalind Krauss: Die Originalität der Avantgarde und andere Mythen der Moderne [1985]. Amsterdam u. Dresden: Verlag der Kunst, 2000, S. 51f. 5

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Abb. 47

Wäre also die Rasterstruktur, die das Display von iPhones prägt, ein Gestaltungsmittel, welches in der Tradition der modernen Kunst steht? So formuliert erscheint die Behauptung schlicht abwegig: Sicher, es gibt eine formale Ähnlichkeit mit bestimmten Kunstwerken der modernen Kunst, aber schützt das Raster auf dem Display vor dem ›Eindringen der Sprache‹? Das ist schon deswegen abwegig, da das iPhone (auch) ein Telefon ist und zudem, weil die App-Zeichen mit Wörtern unterlegt sind. Sicher, ein Display ist ›anti-natürlich‹ im Sinne, dass es kein natürliches Vorkommnis ist, aber wohl kaum ›antimimetisch‹, da man ja z. B. die Foto-App aufrufen kann. Und ›anti-real‹ trifft auch nicht zu, ist doch das Smartphone für viele das Alltäglichste und Realste. Man wird den Eindruck nicht los, dass die Übertragung formalästhetischer Kriterien aus der auf Kunst bezogenen Diskussion verfehlt ist. Die Quadrate der Apps auf dem Display sind nicht rein für die visuelle Wahrnehmung gemacht, nur, um bloß angesehen zu werden. Sie sollen vielmehr zeigen, wo man das Display berühren muss, um eine bestimmte Funktionalität zu akti-

Agnes Martin, On a Clear Day, 1973 (Detail), http://www.tate.org.uk/contextcomment/articles/agnes-martin-close-up, zul. abgeruf. am 10. Februar 2017.

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vieren. Der Versuch einer formalen Beschreibung dessen, was sich im Sinne einer formalen Ästhetik zu sehen gibt, scheint völlig sinnlos zu sein. Es geht um Benutzung, also entweder um die technisch bereitgestellte Funktionalität und/oder die NutzerInnen – womit man wieder bei den etablierten Tendenzen der Medienforschung ist. Man kann sich mit den Praktiken beschäftigen oder mit der technischen Form des Geräts (immerhin auch eine Form!) – aber sich mit seiner ästhetischen, äußerlichen, sinnlichen Erscheinung auseinanderzusetzen, scheint absurd zu sein. Aber dennoch gibt es Argumente, die Frage nach der Ästhetik, also nach der Form des Geräts, nicht gleich zu verwerfen: Denn erstens bleibt der Punkt, dass die Form, die das Gerät und sein Display annehmen, auch anders sein könnte. Es müsste keine Rasterstruktur von Quadraten sein, es gab Entscheidungen gestalterischer Art, es so und nicht anders zu machen. Und zweitens ist nun gerade Apple durchaus durch ein charakteristisches und oft gepriesenes Design hervorgetreten. Apples Chefdesigner Jonathan Ive wird umstandslos als ›Genie‹ bezeichnet.8 Und so gesehen ist die Ähnlichkeit der Struktur des Displays mit dem modernistischen Raster nicht ganz abwegig: Das Design von Apple und mithin auch das Design des iPhones stehen in einer Tradition klassisch modernen Produktdesigns – das soll hier gar nicht vertieft werden, die Literatur dazu ist reichlich.9 Die Frage ist eher: Was macht man mit diesem Befund? Welche Rolle spielt die Gestaltung des iPhones für sein medienwissenschaftliches Verständnis?10 In der Kunst – siehe oben das Beispiel Wölfflin oder dann die anders gelagerte Analyse von Krauss – ist die Gestaltung das Objekt selbst. Die Bildobjekte gehen aus Linien oder Farbflächen hervor; das Raster ist eine Betonung der Flächigkeit, der Verweigerung von Referenz und Bedeutung und damit die ostentative Negation einer bestimmten künstlerischen Tradition. Ein künstlerisches Objekt – jedenfalls idealiter – zielt darauf ab, seine eigene Form zu thematisieren. Warum ist es so gestaltet und nicht anders? Was bietet es der

Vgl. Leander Kahney: Jony Ive – Das Apple-Design-Genie. Kulmbach: Plassen, 2014. Vgl. Paul Kunkel: Apple Design: The Work of the Apple Industrial Design Group. New York: Graphis, 1997; Volker Fischer: Der i-Kosmos, Macht, Mythos und Magie einer Marke. Stuttgart u. London: Edition Menges, 2011. 10 Zum Verhältnis von Gestaltung und Medienwissenschaft siehe grundsätzlich Claudia Mareis u. Christof Windgätter: »Designwissenschaft«. In: Jens Schröter (Hg.): Handbuch Medienwissenschaft. Stuttgart: Metzler, 2014, S. 548–553, sowie Christina Bartz et al. (Hg.): Gehäuse. Mediale Einkapselungen. München: Fink, 2017. 8 9

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Wahrnehmung an? Was heißt überhaupt Wahrnehmung? Bei einem Smartphone, einem Objekt, das außer dem Erscheinen noch andere Aufgaben hat, scheint das Design sekundär – außer in der Hinsicht, dass ein Objekt funktionaler oder weniger funktional gestaltet sein kann. Doch: Die Gestaltung kann ›Wert‹ und ›Qualität‹ vermitteln, gerade das Design von Apple überdies noch eine ›Futurizität‹ und einen ›Style‹ – und dies alles zusammen kann die Gestaltung zum Ausweis einer gewissen Statusrepräsentation des SmartphoneBesitzers machen. So gesehen wäre die Ästhetik des Smartphones v. a. eine Warenästhetik.

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Warenästhetik des Smartphones

Die Theorie der Warenästhetik wurde erstmals von Wolfgang Fritz Haug in seiner klassischen Studie von 1971 entwickelt.11 Sie hat viel Kritik auf sich gezogen und Folgediskussionen ausgelöst.12 Vorübergehend, einer ebenso weitverbreiteten wie vorschnellen Verabschiedung Marxianischer Theoriebestände geschuldet, wurde es ruhig um das Konzept der Warenästhetik, bis dieses Denkmodell in jüngster Zeit wieder Aufmerksamkeit auf sich zog.13 Kurz gesagt geht das Konzept von der Marxschen Trennung von Gebrauchs- und Tauschwert aus. Eine Ware ist ein Objekt, das einen Gebrauchs- und einen Tauschwert hat. Die Inszenierung und Gestaltung der Produkte – ihrer Warenästhetik – soll ein Gebrauchswertversprechen ausdrücken, den potentiellen KäuferInnen erklären oder einreden, wozu sie die Ware brauchen könnten. Schon Simmel sprach in diesem Sinne über die »Schaufenster-Qualität der Dinge«, dem »Bestreben dem Nützlichen auch einen Reiz für das Auge zu geben«, das im »Kampfe um den Abnehmer« immer wichtiger werde.14 Entsprechend wird bei der Warenproduktion »ein Doppeltes produziert: erstens der 11 Vgl. Wolfgang Fritz Haug: Kritik der Warenästhetik. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1971. Hier wird jedoch die neue Version von 2009 verwendet. 12 Vgl. z. B. den interessanten Aufsatz von Gerd Hallenberger: »Neue Kritik der Warenästhetik. Vom Gebrauchswert im Zeitalter seiner Entbehrlichkeit«. In: Navigationen 1.1 (2001), S. 11–24. 13 Vgl. Heinz J. Drügh et al. (Hg.): Warenästhetik: neue Perspektiven auf Konsum, Kultur und Kunst. Berlin: Suhrkamp, 2011. 14 Georg Simmel: »Berliner Gewerbe-Ausstellung«. In: Die Zeit, Wien, 59 (Samstag, 25.7.1896), S. 59f., hier S. 60.

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Gebrauchswert, zweitens und extra die Erscheinung des Gebrauchswertes«.15 D. h. die Ästhetik des Smartphones muss vom Warencharakter des Smartphones her bestimmt werden. Ein Gebrauchswertversprechen des Smartphones ist natürlich, dass es Kommunikation, Vernetzung und mithin Glück und Erfolg ermöglicht und mehr noch: die Funktionalitäten von Computern, Telefon und Fotoapparat, Radio und vieles mehr kompakt und mobil verfügbar macht. Solche Gebrauchswertversprechen können der Werbung für Smartphones leicht abgelesen werden.16 Das Problem ist, dass das eigentlich wenig über die Ästhetik des Objekts Smartphone selber sagt. Wie ist Aussehen des Smartphones selbst von seinem Warencharakter bestimmt? Zunächst kann man festhalten, dass bestimmte Kriterien wie etwa die Größe des Smartphones natürlich wesentlich davon abhängen, dass man es greifen und halten können muss. Diese Eigenschaften kann man nur schwer als eine Form von Warenästhetik bestimmen. Aber bei vielen anderen Eigenschaften scheint der Warencharakter durchaus eine zentrale Rolle zu spielen. Um der Warenästhetik des Smartphones selbst auf die Spur zu kommen, macht es Sinn, eine exemplarische ›Erscheinung des Gebrauchswerts‹ zu analysieren: eine Werbung.17 Es bietet sich ein Clip von Samsung an – aus drei Gründen: Erstens wird nach dem iPhone ein Beispiel für ein anderes Gerät eingeführt; zweitens inszeniert dieser Clip sehr bewusst das Aussehen (und nicht die Funktionalität) des Smartphones18 und drittens wirft das Debakel um das Samsung Galaxy Note 7 ein besonderes Licht auf die Frage nach der Warenästhetik des Smartphones – auch wenn es in dem Clip mit dem Titel Designing Possible: Samsung Galaxy S6 Edge nicht um das Note 7 geht. Es werden nur einige Einstellungen aus dem Clip analysiert.

Haug: Kritik der Warenästhetik (wie Anm. 11), S. 29. Siehe die Sammlung von iPhone-Werbeclips 2007–2017 auf YouTube, dort datiert 08. Januar 2017. Auf: https://www.youtube.com/watch?v=4wtvqjiQGBg, zul. abgeruf. am 10. Februar 2017. 17 Vgl. Haug: Kritik der Warenästhetik (wie Anm. 11), S. 78f. 18 Und zitiert dabei selbst wiederum die Werbe-Ästhetik von Apple, wie gelegentlich kritisch vermerkt wurde. Vgl. https://www.youtube.com/watch?v=B1bvrlK5efg, zul. abgeruf. am 10. Februar 2017. 19 Still aus dem Werbeclip: »Designing Possible: Samsung Galaxy S6 Edge«, https:// www.youtube.com/watch?v=Nbce0RmhIUs, zul. abgeruf. am 10. Februar 2017. 15

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Abb. 519

Der Clip beginnt mit dunklem Hintergrund, auf dem der Schriftzug »The AllNew Galaxy: Designing Possible« erscheint; zwischen den beiden Teilen des Schriftzugs sieht man ein Smartphone, mutmaßlich das beworbene Samsung Galaxy S6 Edge. Offenkundig wird das Design des Smartphones, sein ästhetisches Erscheinen selbst, thematisiert. Noch kann man nicht viel sehen, außer dass das Gerät recht schmal ist. Diese Schmalheit schließt nicht nur an den sexualisierten Kult des Schlanken an, insbesondere des schlanken Frauenkörpers,20 sondern verweist auch auf die technische Avanciertheit des Neuen

Vgl. Haug: Kritik der Warenästhetik (wie Anm. 11), S. 87, der bemerkt, dass »tendenziell die Gesamtheit der Gebrauchsdinge mit Warenform [...] in irgendeiner Weise Sexualform« annimmt. Und: »So verwandelt der Tauschwert, der die Sexualität in seinen Dienst nimmt, sie sich selber an. In ihre Oberfläche werden zahllose Gebrauchsdinge eingewickelt, und die Kulissen des sexuellen Glücks werden zum häufigsten Warenkleid oder auch zum Goldgrund, auf dem die Ware erscheint.« (Ebd.) Vgl. auch Hanno Rauterberg: »Die Diktatur der Einfachheit. Wie das Apple-Design unser Dasein verändert – eine Ideologiekritik«. In: Zeit Online, dort datiert 09.8.2012. Auf: http://www.zeit.de/2012/33/ Apple-Design-Ideologiekritik, zul. abgeruf. am 10. Februar 2017: »So perfekt in der Form, so allbefähigt erscheinen diese Geräte, dass sich der Mensch neben ihnen zwangsläufig unvollkommen fühlen muss. Allein wie schlank sie sind! Und sie werden immer schlanker! Wer will da bitte mithalten?« 20

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(›The All-New Galaxy‹), bei dem so viel Funktionalität auf so wenig Raum komprimiert werden kann (›Possible‹). Diese technische Potenz, männlich konnotiert durch das männliche Voice-Over, ist das wesentliche Thema des ganzen Clips. Es ist nicht schwer zu erraten, dass diese Inszenierung männlich-technischer Potenz an ein männliches Publikum gerichtet ist. Diese männlich-technische Zeugungskraft setzt sich fort: Das Voice-Over erläutert: »We master impossible materials.« Der männliche Schöpferwille macht Unmögliches möglich. Man sieht eine schwappende Flüssigkeit, mutmaßlich flüssiges Metall und glühende Metallstücke. Der Clip weiß, was man mancher Medientheorie noch beibringen muss: Dass nämlich die digitalen Medien mitnichten ›immateriell‹ sind, sondern vielmehr auf einer massiven industriellen und kapitalistischen Infrastruktur errichtet sind. 21 Stills aus dem Werbeclip: »Designing Possible: Samsung Galaxy S6 Edge«, https:// www.youtube.com/watch?v=Nbce0RmhIUs, zul. abgeruf. am 10. Februar 2017.

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Abb. 8–1022

22 Schmelzendes Metall Stills aus dem Werbeclip: »Designing Possible: Samsung Galaxy S6 Edge«, https://www.youtube.com/watch?v=Nbce0RmhIUs, zul. abgeruf. am 10. Februar 2017.

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Man sieht Bilder einer technischen Infrastruktur, das Handy wird zusammengesetzt, gefeilt, poliert, es wird die Gemachtheit des Geräts ausgestellt – am Ende zusammengefasst in der Formel, gesprochen vom Voice-Over, »We are digital craftsmen. We are Samsung«. Damit wird ironischerweise, obwohl nichts von der massenindustriellen Produktion solcher Smartphones weiter entfernt sein könnte, handwerkliche Qualitätsarbeit als Konnotat aufgerufen. Es wird durch den Verweis auf das geschmolzene Metall (Abb. 10) auf die Ästhetik der industriellen Fertigung verwiesen – auf (männliche konnotierte) Arbeit, die in dem Produkt steckt und es wertvoll und hochwertig macht. Der Clip stellt also gleichsam seine eigene Arbeitswerttheorie aus.23 Doch interessanterweise sieht man überhaupt keine ArbeiterInnen. Die Maschinen operieren wie von Geisterhand selbstbewegt. Einerseits verschwindet damit die schreckliche Arbeit, oft lokalisiert in asiatischen Staaten wie China etc., die Bedingung für die Herstellung der Smartphones ist. Andererseits verweist diese Invisibilisierung der Arbeit (ungewollt?) darauf, dass High-Tech Konzerne wie Samsung zunehmend die Bedingungen schaffen, um eben jene Arbeit endgültig überflüssig und damit große Teile der Menschheit für die Wertverwertung obsolet zu machen.24 Sicher: Einen solchen Clip zu analysieren ist wenig repräsentativ – aber zusammengenommen mit den oben kurz erwähnten Werbeclips für andere iPhones, die wesentlich die Kommunikationspotenzen der Handys vorführen, werden Umrisse einer Warenästhetik des Smartphones sichtbar: Die mediale und kommunikative Potenz verdichtet zu einer kompakten hochwertigen Ware, schmal wie der Körper eines Models. Das Erscheinen des iPhones ist, trotz aller Anleihen beim modernen Design, weniger ein selbstbezügliches Erscheinen de-referentialisierter Form – vielmehr ist es der kompakte und sexualisierte Ausdruck der Ankoppelung an die Netze des High-Tech-Kapitalismus,

Zur Arbeitswerttheorie siehe Peter C. Dooley: The Labour Theory of Value. London u. New York: Routledge, 2005. 24 Vgl. Marisol Sandoval: »Foxconned Labour as the Dark Side of the Information Age: Working Conditions at Apple’s Contract Manufacturers in China«. In: Christian Fuchs u. Vincent Mosco (Hg.): Marx in the Age of Digital Capitalism. Leiden u. Boston: Brill, 2016, S. 350–395. Foxconn produziert auch für Samsung. Vgl. Wikipedia: »Foxconn« https:// de.wikipedia.org/wiki/Foxconn, zul. abgeruf. am 10. Februar 2017: »Um die einfachen, sich stetig wiederholenden Tätigkeiten, die vorrangig Gegenstand der Vorwürfe über schlechte Arbeitsbedingungen sind, zu reduzieren, wurden von Foxconn 2016 in einer Fabrik in Kunshan 60.000 von 110.000 Arbeitnehmern im Rahmen einer Automatisierung der Fertigung durch Industrieroboter ersetzt und entlassen.« 23

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an das »Netz des Weltmarkts«.25 Seine NutzerInnen zeigen ihre Vernetzung und die Steigerung ihrer potentiellen Effizienz, ihrer Leistungsbereitschaft. Kein Wunder, dass die permanente Erreichbarkeit durch Emails, Chats, SMS, Telefon, etc. in der Smartphone-Nutzung als eine mittlerweile problematisierte Totalmobilmachung von ArbeitnehmerInnen verstanden werden kann. Wie Deleuze bemerkt: »Vielleicht sind die Kommunikation und das Wort verdorben. Sie sind völlig vom Geld durchdrungen: nicht zufällig, sondern ihrem Wesen nach.«26 Oder wie Marx über den Kapitalismus anmerkte, trägt in diesem das Individuum »seine gesellschaftliche Macht, wie seinen Zusammenhang mit der Gesellschaft in der Tasche mit sich«.27 Marx bezog das auf das Geld im Portemonnaie – doch ist das dingliche Erscheinen des sozialen Zusammenhangs ›in der Tasche‹ eine Beschreibung, die auch hervorragend auf Smartphones passt. Das Gebrauchswertversprechen der Smartphones ist, eine kompakte, dingliche Operationalisierung des gesellschaftlichen Zusammenhangs zu liefern. Hanno Rauterberg vermerkt kritisch zum Apple-Design und seiner Übernahme modernistischer Formen, etwa vom Bauhaus: »Und es ist kein Zufall, dass Apple zusammen mit den Formen auch die darin bewahrten Träume zu nutzen versteht. Es sind die Träume von Gerechtigkeit und Gleichheit. Von einer Welt, in der die Technik siegt und das Leben für alle besser macht.«28 Der Schein der Stabilität des Smartphones verspricht die Stabilität der Gesellschaft.29

25 Karl Marx: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Bd. 1. In: ders. u. Friedrich Engels: Werke. Bd. 23. Berlin (Ost): Dietz, 1962, S. 790. 26 Gilles Deleuze: »Kontrolle und Werden. Gespräch mit Antonio Negri«. In: ders.: Unterhandlungen 1972–1990. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1993, S. 243–253, hier S. 252. 27 Karl Marx: Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie. In: ders. u. Friedrich Engels: Werke. Bd. 42. Berlin (Ost): Dietz, 1983, hier S. 90. 28 Rauterberg: »Diktatur der Einfachheit« (wie Anm. 20), o. P. 29 Vgl. Gilbert Simondon: Die Existenzweise technischer Objekte. Zürich: diaphanes, 2012, S. 14f.: »Schließlich wird auf der Ebene der technischen Ensembles des 20. Jahrhunderts die thermodynamische Energetik durch die Informationstheorie ersetzt, deren normativer Inhalt eminent regulativ und stabilisierend ist: Die Entwicklung der Techniken erscheint wie eine Stabilitätsgarantie. Die Maschine als Element des technischen Ensembles wird das, was die Informationsmenge steigert, was die Negentropie anwachsen lässt, was sich der Degradation der Energie entgegensetzt. Die Maschine als Organisationsund Informationswerk ist das, was sich wie das Leben und mit dem Leben jener Unordnung und der Nivellierung aller Dinge entgegenstellt, die dazu tendiert, dem Universum alle Kräfte der Veränderung zu entziehen. Die Maschine ist es, durch die der Mensch sich dem Tod des Universums entgegenstellt; wie das Leben verzögert sie die Degradation der Energie und stabilisiert so die Welt.«

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Die Erscheinung, die Ware und die Explosion

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Es zeigt sich, dass eine Ästhetik des Smartphones nicht gut als eine formale Ästhetik, aber besser als eine Warenästhetik verstanden werden kann. Umso schrecklicher, wenn dieses Gebrauchswertversprechen plötzlich explodiert – so wie im Falle des Samsung Galaxy Note 7. Samsung stand und steht in unmittelbarer Konkurrenz zu Apple – und wollte mit seinem Top-Smartphone Galaxy Note 7 dem iPhone 7 zuvorkommen.30 Dieses wurde am 02. September 2016 veröffentlicht. Doch kurz nach der Markteinführung mussten die ersten Exemplare zurückgerufen werden, da sich die Akkus überhitzten oder gar explodierten.31 Schließlich stellte Samsung die Produktion ganz ein.32 Das Gebrauchswertversprechen war nicht zu halten. Widerspricht das nicht deutlich einer Behauptung Latours? Zunächst bemerkt er explizit mit Bezug auf Smartphones: »Jeder, der heute ein iPhone benutzt, weiß, dass es absurd wäre, das, was daran designt wurde, von dem unterscheiden zu wollen, was daran geplant, berechnet, gruppiert, arrangiert,

30 Interessanterweise gab es zwischen Apple und Samsung einen gerichtlichen Konflikt, wer eigentlich das schlichte, modernistische Design des Displays erfunden hat, vgl. Rauterberg: »Diktatur der Einfachheit« (wie Anm. 20). 31 Vgl. Viola Ulrich: »Darum explodieren die Akkus von Samsung Galaxy Note 7«, dort datiert 06. Dezember 2017. Auf: https://www.welt.de/kmpkt/article160020336/ Darum-explodieren-die-Akkus-von-Samsungs-Galaxy-Note-7.html, zul. abgeruf. am 10. Februar 2017: »Ein Lithium-Polymer-Akku, wie er im Note 7 verbaut war, besteht – vereinfacht gesagt – aus zwei verschiedenen Schichten: einer positiv und einer negativ geladenen. Kommen die beiden in Berührung kommt es zu einer starken Hitzeentwicklung und letztendlich zu einer Explosion. Damit das nicht passiert, sind sie durch zwei Isolierschichten voneinander getrennt. Beim Galaxy Note 7 waren diese schlichtweg zu dünn, so die Ingenieure. Daher konnten die Isolierschichten schon dem kleinsten Druck im Alltag nicht standhalten – beispielsweise wenn man das Smartphone in die hintere Hosentasche steckte und sich dann hinsetzte. Der zweite Grund für die brennenden Akkus: das ambitionierte Design des Note 7. Ein Lithium-Akku dehnt sich mit der Zeit aus. Das ist ganz normal. Dieses Phänomen muss also bei der Gestaltung des Gehäuses mit einberechnet werden. Sprich, es muss ausreichend Platz um ihn herum vorhanden sein. Laut der Experten von Instrumental mindestens 0,5 Millimeter. Beim Samsung Galaxy Note 7 sei dieser Abstand aber nur am unteren Rand des Akkus eingehalten worden. An der rechten Seite hätte der Akku lediglich 0,3 Millimeter, oben sogar nur 0,1 Millimeter Platz zur Umrandung gehabt.« Hier haben sowohl Marx’ Tasche, als auch das ›ambitionierte‹ Design, welches in Konflikt mit der Materialität gerät, ihren Auftritt. 32 Vgl. https://en.wikipedia.org/wiki/Samsung_Galaxy_Note_7, zul. abgeruf. am 10. Februar 2017.

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Abb. 1133

zusammengefasst, verpackt, definiert, projektiert, gebastelt, disponiert, programmiert usw. wurde.«34 Und behauptet dann, dass sich heute »die typisch modernistische Wasserscheide zwischen Materialität auf der einen Seite und Design auf der anderen [...] langsam auf[löst]. Je mehr Objekte zu Dingen gemacht werden – das heißt, je mehr neutrale Tatsachen in uns angehende Sachen umgewandelt werden – desto mehr werden aus ihnen Design-Objekte durch und durch.«35 Offenbar hat das beim Samsung Galaxy Note 7 nicht geklappt. Während der Clip, wenn auch in Bezug auf ein anderes Modell von Samsung, den Sieg der männlich konnotierten Warenästhetik über die glü-

33 Samsung Galaxy Note 7 nach Explosion bzw. Selbstentzündung, https://www.welt. de/kmpkt/article160020336/Darum-explodieren-die-Akkus-von-Samsungs-GalaxyNote-7.html, zul. abgeruf. am 10. Februar 2017. 34 Bruno Latour: »Ein vorsichtiger Prometheus? Einige Schritte hin zu einer Philosophie des Designs, unter besonderer Berücksichtigung von Peter Sloterdijk«. In: M. Jongen, S. v. Tuinen u. K. Hemelsoet (Hg.): Die Vermessung des Ungeheuren. Philosophie nach Peter Sloterdijk. München: Fink, 2009, S. 356–373, hier S. 357. 35 Ebd.

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henden Elemente – »We master impossible materials« – verkündet, bricht in Wirklichkeit die brodelnde Energie und Materialität katastrophisch aus dem schlanken Gehäuse wieder hervor. Die Form unterliegt der Materie. Bedeutet das nicht, dass die, wie Latour sagt, ›typisch modernistische Wasserscheide‹ zwischen Materialität und Design eben doch noch besteht? Und wenn dieser Modernismus besteht, ist es dann vielleicht doch nicht so abwegig, das gerasterte Display mit der Ästhetik des Rasters in der Moderne, wie von Rosalind Krauss beschrieben, in Verbindung zu bringen? Immerhin bemerkt sie, dass »das Raster letztlich auf einen unverhüllten und entschiedenen Materialismus«36 verweise. So gesehen verweist das Design des Displays, ob nun des iPhones oder des Galaxy, selbstreferentiell auf jene epistemologische Formation, die nicht nur die Bedingung für die Existenz dieser Geräte ist – sondern eben auch Grenzen der Machbarkeit und Beherrschbarkeit enthält, nämlich dort, wo die Ästhetik an der Materie zerschellt.

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Krauss: Originalität der Avantgarde (wie Anm. 6), S. 54.

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Es gibt keine Software. Noch immer nicht oder nicht mehr Als Friedrich Kittler vor mittlerweile einem Vierteljahrhundert in Stanford erklärte, es gäbe keine Software,1 hatte Microsoft gerade, wie um ihn zu widerlegen, die grafische Benutzeroberfläche Windows in der Version 3.1 veröffentlicht, die dem GUI den endgültigen Durchbruch auf IBM-kompatiblen Personal Computern bescherte und Windows schnell zur industrieweit dominanten Plattform für die Entwicklung und den Einsatz von PC-Software machte. Die folgende »Explosion von Software«,2 d. h. die rasante Zunahme und Ausbreitung von immer neuen Anwendungen, Systemtools, Spielen, Utilities, Betriebssystemversionen usw., vollzog sich in einer architektonisch standardisierten Hardwarelandschaft aus Desktop- und Laptop-Rechnern. Heute, in der sogenannten Post-PC-Epoche,3 deren Ursprünge mit der Kommerzialisierung des Internets und seiner Popularisierung durch das World Wide Web noch in die Zeit von Kittlers Vortrag fallen, zeigen sich die Landschaften der Hardware wie der Software grundlegend verändert. Dank der gemäß dem Moore’schen Gesetz anhaltenden »Implosion der Hardware«,4 d. h. der steigenden Integrationsdichte elektronischer Schaltkreise und der Vgl. Friedrich Kittler: »There Is No Software«. In: Stanford Literature Review 9 (1992), S. 81–90. 2 Ders.: »Es gibt keine Software«. In: ders.: Draculas Vermächtnis. Technische Schriften. Leipzig: Reclam, 1993, S. 225–242, hier S. 228. 3 David Clarke, zit. in Steve Lohr: »Is Mr. Gates Pouring Fuel on His Rivals’ Fire?« In: The New York Times. Auf: http://www.nytimes.com/1999/04/18/business/economic-viewis-mr-gates-pouring-fuel-on-his-rivals-fire.html, dort datiert am 18. April 1999, zul. abgeruf. am 01. März 2017. 4 Kittler: »Es gibt keine Software« (wie Anm. 2), S. 228. 1

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dadurch ermöglichten fortschreitenden Miniaturisierung der Geräte, sind ganz neue Gattungen von Computern mit ebenso neuen Klassen von Software entstanden, deren aktuell maßgebende Ausprägungen im Smartphone und in der App zu sehen sind. Mit all den iPhones, Galaxies und Xperias ist Hardware zum personal computing nicht mehr allein auf den Schreibtischen von Computernutzerinnen zu finden, sondern ebenso in deren Hosen- und Handtaschen. Und die tendenzielle Ubiquität mobiler Digitalgeräte hat eine nur in Zahlen zu fassende Fülle von Programmen mit sich gebracht. In dem zum geflügelten Wort avancierten Werbespruch von Apple, »There’s an app for that«, drückt sich das Versprechen darauf aus, dass es für jede erdenkliche Alltags- und Lebenssituation eine passende Softwarelösung gibt. Im Folgenden soll Kittlers programmatischer Aufsatz vor dem Hintergrund der genannten technischen Veränderungen einer nochmaligen Lektüre unterzogen und die Thesen und Argumente auf ihre Aktualität hin geprüft werden. Was vermag uns die Feststellung, »Es gibt keine Software«, heute zu sagen? Kittlers provokatives Statement wurde viel diskutiert und im Zuge der ungefähr seit der Jahrtausendwende wachsenden Aufmerksamkeit für die kulturelle Wirksamkeit von Software vor allem auch als Essentialismus oder Fetischismus der Hardware kritisiert – bis hin zur schieren Umkehrung der Parole bei Lev Manovich: »There is only software«.5 Wie der Titel des vorliegenden Beitrags verrät, soll hier indes die Auffassung vertreten werden, dass Kittler mit seiner Aussage – die in ihrer einfachsten, wörtlichen Auffassung der Realität augenscheinlich widerspricht – nicht bloß recht hatte, sondern noch immer recht hat und künftig vielleicht gar in einer Art und Weise recht behalten wird, die seinerzeit nicht absehbar war. Natürlich gilt es dabei eines zu bedenken: Die Wahrheit, die sich in Kittlers Satz ausspricht, ist eine mehrfache, keine einfache. Zum einen muss der Satz über die oberflächliche Bedeutungsschicht seiner kontrafaktischen Behauptung wie auch über eine erste, besonders naheliegende Interpretation hinaus auf verschiedene mögliche Sinngehalte hin gelesen werden; zum anderen muss er in seinen verschiedenen Bedeutungen auf die sehr unterschiedlichen technischen Gegebenheiten der frühen 1990er Jahre und der Gegenwart bezogen werden. Gleichwohl der Text stets um die zentrale Frage nach der Pro-

Lev Manovich: Software Takes Command. New York: Bloomsbury Academic, 2013, S. 147. Auf: http://issuu.com/bloomsburypublishing/docs/9781623566722_ web?e=3257035/4651685, zul. abgeruf. am 01. März 2017 [Herv. d. Verf.].

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ES GIBT KEINE SOFTWARE. NOCH IMMER NICHT ODER NICHT MEHR

grammierung und Programmierbarkeit von Digitalcomputern kreist, bewegte sich Es gibt keine Software schon zum Zeitpunkt seiner Niederschrift auf zwei Ebenen der Analyse und der Semantik; und der Satz meint heute anderes und mehr als vor fünfundzwanzig Jahren. Die folgende Lektüre versucht in zwei Anläufen, die den beiden Ebenen entsprechenden Bedeutungen von Kittlers berühmter Devise zu rekonstruieren und auf die Jetztzeit zu beziehen. Dabei wird sich zeigen, dass die zwei Bedeutungsebenen des Textes in einer eigentümlichen Spannung zueinander stehen, sich mitunter gar zu widersprechen scheinen. Meine These ist, dass es sich bei dieser Spannung nicht um einen Widerspruch handelt, sondern um eine, für Kittler nicht untypische, Eskalation seines Arguments, der Hardware ›gerecht‹ werden zu müssen: von der Forderung, Computer ohne ›Software‹ im engeren Sinne zu programmieren (nämlich in Maschinensprache), hin zur Forderung, Programmierung (d. h. jede Form von Software) aufzugeben.

1 Der offensichtliche Widerspruch zwischen Kittlers Diktum und unserer alltäglichen Erfahrung, im Umgang mit digitalen Geräten ständig auch mit Software konfrontiert zu sein (mittlerweile bei jedem Griff zum und mit jedem Blick aufs Mobiltelefon), fordert unmittelbar die hermeneutische Frage danach heraus, was Kittler mit dem Satz ›eigentlich‹ gemeint hat. Um zu einer befriedigenden ersten Antwort auf diese Frage zu gelangen, gilt es zunächst, sich von einer naheliegenden, aber allzu einfachen Interpretation freizumachen – derjenigen nämlich, die den Satz, »Es gibt keine Software«, fortschreibt mit oder umschreibt zu: »Es gibt (nur) Hardware«. Gemäß dieser Auslegung wollte Kittler mit der assertorischen Negation von Software deren faktische Existenz nicht leugnen, sondern vielmehr einen ontologischen Primat der Hardware ausdrücken (und zwar wegen deren, im Unterschied zur Software, unbestreitbarer Materialität). Ein solche Interpretation findet sich in der Literatur zum Thema häufig,6 und sie ist mit Blick auf die Textgrundlage gewiss 6 Vgl. u. a. Paul Feigelfeld u. Arndt Niebisch: »Kittler ist ein Lügner!« In: Metaphora. Journal for Literary Theory and Media 1 (2015), S.1–4. Auf: http://metaphora.univie.ac.at/ volume1-feigelfeld.pdf, VIII-1, zul. abgeruf. am 05. Februar 2018; Irina Kaldrack u. Martina Leeker: »There Is No Software, There Are Just Services: Introduction«. In: Irina

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nicht ganz falsch. Schließlich kann man in Kittlers Aufsatz lesen, die Tatsache, dass »kein Computerprogramm ohne entsprechende elektrische Ladungen in Siliziumschaltkreisen je laufen würde«, spreche als guter Grund »für die Unabdingbarkeit und folglich auch die Vorgängigkeit von Hardware«.7 Allerdings bleibt diese, zugegebenermaßen plausible, Lesart unbefriedigend, so man nicht über die bloße Feststellung eines Primats materieller Hardware (vor vermeintlich immaterieller Software) hinaus gelangt. Große Teile von Kittlers Text werden dadurch kaum erhellt. Interessanter wird es, wenn man dem recht verwickelten und auf den ersten Blick nicht immer widerspruchsfreien Fortgang seiner Ausführungen aufmerksam folgt. Als erstes ist zu klären, was Kittler unter dem titelgebenden Wort versteht. Denn anders, als der Ausdruck gemeinhin verwendet wird, meint Kittler mit ›Software‹ nicht Computerprogramme insgesamt. Stattdessen trennt er – und das ist für seine Argumentation entscheidend – zwischen der direkt maschinell ausführbaren Form von Programmen (d. h. maschinensprachlichem Code sowie dessen einfacher Umschrift in Assembler) einerseits und einer etwaigen Repräsentation in der Syntax einer höheren Programmiersprache (d. h. Quelltext) andererseits. In der maschinellen Ausführung realisieren sich Computerprogramme als schaltlogisches Geschehen von, wie Kittler sagt, »Signifikanten elektrischer Potentiale« in Schaltkreisen.8 Sie sind aus Befehlen (und Daten) gebildet, die »absolut lokale Zeichenmanipulationen«9 bezeichnen: Die ›Referenten‹ des Codes sind die jeweils spezifischen arithmetisch-logischen Einheiten, Rechenregister usw. der ausführenden Maschine. Ganz anders verhält es sich mit Programmen in höheren Sprachen: Sie ›referieren‹ mit ihren Anweisungen gerade nicht auf die einzelnen Teile einer bestimmten Hardware; abstrahiert von der Architektur eines jeweiligen Computers und auf problemorientierte Weise stellen sie Aussagen einer komplexen Syntax dar. Software ist für Kittler der exklusive Name für den zweiten Fall von Programmen. Allein für den ersten Fall, für maschinensprachliche Codes und Kaldrack u. Martina Leeker (Hg.): There Is No Software, There Are Just Services. Lüneburg: Meson, 2015, S. 9–19, hier S. 11; Ian Bogost: Unit Operations: An Approach to Videogame Criticism. Cambridge, Mass.: MIT Press, 2006, S. 36–37; Wendy Hui Kyong Chun: »On Software, or the Persistence of Visual Knowledge«. In: Grey Room 18 (2004), S. 26–51, hier S. 28; Alexander R. Galloway: »Language Wants to Be Overlooked: On Software and Ideology«. In: Journal of Visual Culture 5.3 (2006), S. 315–331, hier S. 318f. 7 Kittler: »Es gibt keine Software« (wie Anm. 2), S. 236f. 8 Ebd., S. 232. 9 Ebd., S. 231.

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Assemblerbefehle also, die keine Semantik, d. h. keine begriffliche Intension haben, sondern, wie Kittler den US-amerikanischen Logiker Stephen Kleene zitiert, »ein System nicht mehr bedeutsamer Aussagen« mit bloß physischer Extension bilden (den Schaltkreisen eben), gilt: »Wenn Bedeutungen zu Sätzen, Sätze zu Wörtern, Wörter zu Buchstaben schrumpfen, gibt es auch keine Software.«10 Programme in höheren Sprachen hingegen haben ›Bedeutungen‹, drücken Ideen aus. In der Einleitung des langjährigen Standardlehrbuchs für Informatik des Massachusetts Institute of Technology heißt es über höhere Programmiersprachen denn auch: [A] computer language is not just a way of getting a computer to perform operations [… I]t is a novel formal medium for expressing ideas about methodology. Thus, programs must be written for people to read, and only incidentally for machines to execute.11

Das aber ist nach Kittler der Sündenfall von Computerprogrammen. Als Software, in Gestalt von Quelltexten, sind sie nicht mehr (in erster Linie) für Maschinen geschrieben, auf denen sie später, »only incidentally«, ausgeführt werden können. In ihrer höheren sprachlichen Form richten sie sich nach den spezifischen Bedürfnissen, dem Sinnverlangen menschlicher Leserinnen und, vor allem, denen von Programmiererinnen. Die Unterscheidung von (höherer sprachlicher) Software und (maschinensprachlichem) Code impliziert nach Kittler mehr als die von der naheliegenden Lesart aufgedeckte Idee der ›Vorgängigkeit‹ von Hardware vor Software, und sie bezweckt daher auch etwas anderes, als einen simplen Gegensatz oder eine klare Hierarchie zwischen materieller und deshalb vorgeordneter Hardware und scheinbar immaterieller und damit nachgeordneter oder abgeleiteter Software aufzustellen. Sie trennt recht eigentlich den maschinellen Bereich der Datenverarbeitung vom menschlichen, indem sie zwei gegenläufige Logiken der Referenz von Computerprogrammen sondert: zum einen die Referenz von Code bzw. Assembler auf Schaltkreise in Maschinen; zum anderen die Referenz von Software auf ›Bedeutungen‹ in den Köpfen menschlicher Programmiererinnen oder Nutzerinnen.

Ebd., S. 232. Harold Abelson, Gerald Jay Sussman u. Julie Sussman: Structure and Interpretation of Computer Programs. Cambridge, Mass.: MIT Press, 1985, S. xv. 10 11

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Sollen die beiden getrennten Bereiche zusammengeführt werden, soll Software auf einem Computer laufen, muss sie erst (durch Compiler oder Interpreter) in den entsprechenden Code übersetzt werden, der von der jeweiligen Maschine ›verstanden‹, d. h. ausgeführt werden kann. Die erste über die naheliegende Interpretation hinausgehende Lesart von Kittlers Satz Es gibt keine Software besagt also: Es gibt keine Software ›in‹ Computern, nur ›für‹ Menschen. Software ist gewissermaßen ein Aggregatzustand von Computerprogrammen, nämlich der menschenorientierte oder -zugewandte Zustand von Code. Und darin liegt nach Kittler das Problem von Software. Was ist an der Zugewandtheit von Computerprogrammen zu Menschen zu kritisieren? Einerseits stellt Software, die es laut Kittler überhaupt »nicht [gäbe], wenn Computersysteme nicht bislang in einer Umgebung aus Alltagssprachen koexistieren müssten«,12 im Rahmen des programmatischen Antihumanismus, der zumindest für Kittlers mittlere Schaffensphase typisch ist, ein ganz grundsätzliches Problem dar (womit wir uns im zweiten Abschnitt auseinandersetzen werden). Andererseits ist Software gemäß Kittler nicht nur als menschenfreundliche Ausdrucksform, sondern sehr wohl auch für menschliche Belange prekär, und zwar in mehrfacher Hinsicht. Erstens bedeutet Software, und d. h. zunächst die Verwendung höherer Programmiersprachen, dass Programmiererinnen aufgrund der Abstraktion von der Architektur der den Code ausführenden Computer oftmals keine Detailkenntnisse der Maschine mehr zu haben brauchen. Software fördert somit tendenziell ein Nichtwissen über Hardware. Zweitens impliziert eine solche Unkenntnis der Hardware, die, wie Kittler sich an anderer Stelle ausdrückt, »selber Effekt von Programmierungen« ist,13 zumindest im Prinzip einen gewissen Kontrollverlust über die Maschine, da diese in höheren Programmiersprachen in der Regel nicht direkt angesprochen werden kann.14 Über die Arbeit der Programmiererinnen hinaus betrifft das Problem der Software auch deren Nutzerinnen. Drittens nämlich lassen sich einmal kompilierte Programme aus dem ausführbaren maschinensprachlichen Code

Kittler: »Es gibt keine Software« (wie Anm. 2), S. 232. Friedrich Kittler: »Hardware, das unbekannte Wesen«. In: Sybille Krämer (Hg.): Medien, Computer, Realität. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1998, S. 119–132, hier S. 199. 14 Tatsächlich produzieren Compiler aus höheren Programmiersprachen gerade für aktuelle, hochkomplexe Prozessorarchitekturen mindestens so effizienten (und dabei wesentlich weniger fehlerbehafteten) Code, wie ihn selbst erfahrene Programmiererinnen in Assembler oder gar Maschinensprache zustande bringen. 12 13

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nicht mehr eindeutig in ihre ursprünglichen (idealerweise gut lesbaren und kommentierten) Quelltexte zurück überführen und dann verändern. Gerade für proprietäre Programme, deren Details aus kommerziellen Gründen nicht öffentlich einsehbar und modifizierbar sein sollen, stellt dieses Merkmal von Software, »ganz wie die sogenannten Einwegfunktionen der jüngsten mathematischen Kryptographie«,15 einen Schutzmechanismus dar. Viertens reproduziert kompilierte Software in Form von Anwendungsprogrammen, Betriebssystemen usw. die Abstraktion von der Maschine auf der Ebene ihrer konkreten Verwendung. Gebrauchsfertige Programme wie Webbrowser, Mailclients oder Tabellenkalkulationen machen den Nutzerinnen die Ressourcen ihrer jeweiligen Computer zwar in bequemer Weise verfügbar, dies jedoch um den Preis, die zugrundeliegende Funktionsweise der Hardware wie der Software zu kaschieren. Ausgehend von der Kritik höherer Programmiersprachen und deren Referenz auf menschliche(n) Sinne und Sinn wird ›Software‹ bei Kittler zur Chiffre für sämtliche Formen und Folgen der Computerprogrammierung, die auf sogenannte Endanwender gerichtet sind, für alle Strategien, »elektronische Signifikanten hinter Mensch-Maschine-Schnittstellen zu verdecken«.16 Sie erscheint sozusagen als informatische ›Hülle‹, welche die Hardware vor ihren Besitzerinnen und Nutzerinnen verbirgt und verschließt. Im Rahmen einer medientheoretisch informierten Ontologie der Computer ist die von Kittler vorgenommene strikte Trennung komputationeller Technik in einen maschinellen und einen menschlichen Bereich, die von ihm behauptete logische »Vorgängigkeit von Hardware«17 vor Programmen, die Idee der Kapselung von Hardware durch Software und näherhin seine Privilegierung von Maschinensprache und Assembler vor höheren Programmiersprachen problematisch und teilweise auch widersprüchlich.18 Aus medienpraktischer und -politischer Sicht aber ist Kittlers Urteil, dass Software

Kittler: »Es gibt keine Software« (wie Anm. 2), S. 234. Hier beißt sich Kittlers Kritik an Software so zu sagen in den Schwanz, insofern er die Lesbarkeit und Modifizierbarkeit von Quelltext als Vorteil gegenüber der Unlesbarkeit von kompiliertem, maschinensprachlichem Code anführt. 16 Ebd., S. 232. 17 Ebd., S. 237. 18 Siehe dazu Till A. Heilmann: »Die Oberflächlichkeit des Digitalen«. In: Christina Lechtermann u. Stefan Rieger (Hg.): Das Wissen der Oberfläche. Epistemologie des Horizontalen und Strategien der Benachbarung. Zürich u. Berlin: Diaphanes, 2015, S. 253–266; Till A. Heilmann: »Worin haust ein Computer? Über Seinsweisen und Gehäuse universaler 15

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(verstanden als Summe der vorgefertigten Systeme, Programme und Dienste für einfache Nutzerinnen) eine nähere Kenntnis von Hardware zugunsten deren vereinfachter Bedienung opfert, und dass bestimmte Arten und Weisen der Programmierung von Personal Computern (Abstraktion von HardwareArchitekturen, proprietäre Systeme und Anwendungen, gesicherte Betriebsmodi19, ›bedienerfreundliche‹ Schnittstellen usw.) zur Einschränkung ihrer universellen Programmierbarkeit beitragen, richtig und wichtig. Die dank höherer Programmiersprachen, Editoren, Debugger, definierter Programmierschnittstellen usw. erleichterte Softwareentwicklung sowie die durch deren Produkte wie Betriebssysteme und Anwendungsprogramme enorm vereinfachte Bedienung von Computern auch für Nicht-Spezialisten korreliert nicht nur statistisch mit einer massiven Mehrheit nicht-programmierender Computerbesitzerinnen. Sie hat diese historisch mit hervorgebracht. Erst Pascal, C und C++, MS-DOS, das Macintosh System und Windows, dBase, Lotus 1-2-3 und WordPerfect haben die Figur und Rolle der PC-Userin möglich gemacht. Die u. a. von Sherry Turkle beschriebenen leidenschaftlichen Hobby- und Amateurprogrammiererinnen der Anfangszeit des personal computing20 mussten hinter ein Heer informatischer Laien zurücktreten, damit PCs die Büros und Privathaushalte der industrialisierten Welt erobern konnten. Wir sind folglich mit dem paradoxal anmutenden Sachverhalt konfrontiert, dass größerer Komfort in der Programmierung von Computern historisch mit einem kleineren Anteil von Programmiererinnen an der Gesamtpopulation der Computerbesitzerinnen einhergeht. Kittlers Behauptung, es gäbe keine Software, interpretiert als Feststellung, dass es Software nicht in Computern, sondern nur ›für‹ Menschen gibt, lässt sich deshalb auch umgekehrt lesen: ›Für‹ Menschen gibt es überhaupt nur Software – jedenfalls für die überwältigende Mehrzahl der Nutzerinnen, die ihre Hardware eben ausschließlich per Software (im Kittler’schen Sinne) bedienen können. Und diese Feststellung ist heute, da Smartphones wohl die im Alltag am weitesten

diskreter Maschinen«. In: Christina Bartz et al. (Hg.): Gehäuse: Mediale Einkapselungen. Paderborn: Wilhelm Fink, 2017, S. 35–51. 19 Siehe dazu Friedrich Kittler: »Protected Mode«. In: ders.: Draculas Vermächtnis (wie Anm. 2), S. 208–224. 20 Vgl. Sherry Turkle: »The Subjective Computer: A Study in the Psychology of Personal Computation«. In: Social Studies of Science 12.2 (1982), S. 173–205.

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verbreiteten und am häufigsten genutzten Digitalcomputer darstellen,21 zutreffender denn je. Das äußert sich schon in der Tatsache, dass die populären neuen Geräteklassen nicht als Plattformen der Programmierung gedacht sind und dazu auch nicht taugen. Angefangen bei den unpassenden Hardware-Schnittstellen, d. h. den (zu) kleinen Bildschirmen und den in der Regel nur auf Touchscreens eingeblendeten (unvollständigen) Tastaturen, über die mangelnde SoftwareAusstattung, d. h. die nicht installierten notwendigen Editoren, Compiler, Linker, Debugger, Bibliotheken usw., bis hin zur fehlenden Dokumentation der Systeme22 eignen sich Smartphones, Tablets, Smartwatches und andere mobile Digitalmedien kaum als Programmierwerkzeuge. Die Entwicklung von Apps für solche Geräte findet in aller Regel auf Desktop-PCs statt, auf denen die Programme für die Zielsysteme mit sogenannten Cross-Compilern erzeugt werden. Schreibtischrechner dienen aber nicht nur professionellen Software-Entwicklerinnen als Plattform der Wahl. Wenigstens bis in die späten 1980er Jahre hinein wurden Heimcomputer und PCs als Maschinen auch zum Schreiben eigener Programme durch ihre Besitzerinnen verstanden. Frühe Modelle wie der Apple II, der TRS-80 oder der Commodore 64 starteten nach dem Einschalten direkt in einen BASIC-Interpreter, dessen blinkender Cursor zum probehandelnden Programmieren geradezu aufforderte. Auch der erste PC von IBM, das Modell 5150 aus dem Jahr 1981, wurde mit gleich vier (von Microsoft lizenzierten) BASIC-Interpretern ausgeliefert. Und bis Windows in der Version 95 die textbasierten Betriebssysteme PC-DOS und MS-DOS endgültig ablöste, war man als PC-Nutzerin nach dem Hochfahren des Systems zunächst immerhin mit einem Kommandozeileninterpreter konfrontiert. Trotz der rasanten Kommerzialisierung und Domestizierung des personal computing war die PC-Kultur, im klaren Gegensatz zum heutigen Smartphone-Lifestyle, noch

21 Abgesehen natürlich von der Legion in Toastern, Fernsehern, Mikrowellen, Geschirrspülern, Waschmaschinen usw. verbauter Mikrochips. 22 Hersteller wie Apple verkaufen ihre Smartphones, Tablets usw. schon lange ohne oder mit nur sehr rudimentären Bedienungsanleitungen, was wohl die Benutzerfreundlichkeit und intuitive Bedienung der Geräte unterstreichen soll. Siehe im Vergleich dazu die mit dem ersten IBM PC im Jahr 1981 mitgelieferten Handbücher, die auf über 600 Seiten das gesamte System dokumentierten, inklusive aller Schaltpläne des Computers und dem Quelltext des BIOS. Vgl. http://www.pcjs.org/pubs/pc/reference/ibm/5150/, dort datiert 2017, zul. abgeruf. am 01. März 2017.

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bis ans Ende der 1980er Jahre deutlich vom Geist des programmierenden Selbermachens geprägt.23 Was dagegen Smartphones und dergleichen anbelangt, gehen die Probleme der Programmierung über die bloße (Nicht-)Eignung der Geräte als Werkzeuge zum Programmieren hinaus: Sie betreffen direkt die Programmierbarkeit der Geräte. Einerseits versuchen Unternehmen wie Microsoft, Apple und Google, den Entwicklerinnen die Arbeit so leicht wie möglich zu machen, indem sie alle notwendigen Mittel freigiebig zur Verfügung stellen.24 Die Millionen mittlerweile erhältlichen Apps für iPhones und Android-Handys zeugen vom Erfolg dieser Bemühungen.25 Andererseits überwacht z. B. Apple rigoros, welche Software auf den eigenen Geräten überhaupt laufen darf. Im Allgemeinen können auf iOS-Maschinen wie iPhones, iPads und iPods nur Apps installiert und ausgeführt werden, die von Apple in einem strengen Review-Verfahren kontrolliert, kryptografisch zertifiziert und dann über den App Store publiziert werden.26 Dabei kann Apple die Zertifizierung von Programmen gemäß seiner restriktiven »Review Guidelines« aus einer Reihe von Gründen verweigern, etwa wegen »anstößiger Inhalte« (wie sexuellem oder pornografischem Material), aber auch wegen Nichteinhaltung der Hausregeln zur Gestaltung des Interfaces, wegen der Erwähnung konkurrierender Hersteller, Produkte oder Dienste, oder wenn sie nach Einschätzung des Unternehmens zu wenig

Um hier nur ein Beispiel zu nennen: Das traditionsreiche und auflagenstarke USamerikanische PC Magazine unterhielt seit seinen Anfängen 1982 und bis in die zweite Hälfte der 1990er Jahre hinein in jeder Ausgabe eigene Rubriken zu den Themen ›Programming‹ und ›Languages‹, in denen Programmiertechniken und -sprachen ausführlich vorgestellt und diskutiert wurden, und veröffentlichte in den 1980er Jahren auch Themenhefte zur PC-Programmierung und zu einzelnen Sprachen wie C; siehe im Online-Archiv der Zeitschrift von Google Books. Auf: https://books.google.de/books?id =w_OhaFDePS4C, zul. abgeruf. am 01. März 2017, etwa die Ausgaben 2.4 (1983), 3.5 (1984), 4.22 (1985) u. 7.15 (1988). 24 Apple beispielsweise bietet mit Xcode eine komplette integrierte Entwicklungsumgebung für alle seine Produktlinien kostenlos an; siehe https://developer.apple.com/ xcode/, dort datiert 2017, zul. abgeruf. am 01. März 2017. Dagegen wurden Programmiersprachen für PCs von spezialisierten Firmen wie Borland noch in den 1990er Jahren für teures Geld verkauft. 25 Siehe »Number of apps available in leading app stores as of June 2016«. Auf: www .statista.com/statistics/276623/number-of-apps-available-in-leading-app-stores/, zul. abgeruf. am 01. März 2017. 26 Siehe »App Review«. Auf: https://developer.apple.com/app-store/review/, dort datiert 2017, zul. abgeruf. am 01. März 2017. 23

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Funktionalität, Originalität oder Unterhaltungswert aufweisen.27 Dass diese Richtlinien nicht nur zum Schutz der Nutzerinnen, sondern gerade auch zum Schutz von Apples eigenen Interessen ausgelegt werden können, dürfte sich von selbst verstehen.28 Zudem dürfen Apps ausschließlich über die von Apple definierten Programmierschnittstellen des Betriebssystems iOS auf die Hardware der Geräte zugreifen. Ein direktes Ansprechen einzelner Bauteile ist untersagt. Die von Kittler bereits zu Beginn der 1990er Jahre beklagte Abstraktion von der Hardware äußert sich bei gegenwärtiger Digitaltechnik noch in anderer Weise. Erstens sind mit der ständigen Funknetzanbindung und den Online-Services von Google, Facebook und Co. große Teile der zur Nutzung populärer Dienste (wie Kurznachrichten, Karten, Musik-Streaming usw.) aufgewendeten Hardware-Ressourcen von den mobilen Geräten und deren Besitzerinnen weg ›ausgelagert‹ worden – nämlich in die Serverfarmen der streng gesicherten Rechenzentren, die von den global agierenden Internetunternehmen an netzwerktechnisch und ökonomisch vorteilhaften Standorten weltweit betrieben werden.29 Im vernetzten Kommunikations- und Informationsgeschehen funktionieren Smartphones und andere Gadgets als Clients von Servern, zu denen die Nutzerinnen der Endgeräte keinen Zugang haben (außer durch die von der Software vorgegebenen Bedienungsmöglichkeiten). Und zweitens entzieht sich die Hardware aktueller Mobilgeräte dem Zugriff auf sehr dinghafte Art: Die typischerweise glatten, rundum dicht schließenden Gehäuseschalen der miniaturisierten Apparate schützen nicht nur die elektronischen Komponenten vor Staub und Wasser. Sie erschweren auch

27 Vgl. »App Store Review Guidelines«. Auf: https://developer.apple.com/app-store/ review/guidelines/, dort datiert 2017, zul. abgeruf. am 01. März 2017. 28 Vom App Store ausgeschlossen wurden in der Vergangenheit beispielsweise die Apps Phone Story (ein Spiel, das die Produktionsbedingungen und globale Wertschöpfungskette von Smartphones auf satirische Weise thematisiert), iDOS (ein Emulator, mit dem man alte DOS-Spiele ausführen kann) und VLC Media Player (ein Videoplayer, der alle gängigen Video-Dateiformate wiedergeben kann); siehe Dylan Love: »BANNED! 13 Apps That Were Kicked Out of the App Store«. Auf: http://www.businessinsider.com/banned13-apps-that-were-kicked-out-of-the-app-store-2012-5, dort datiert am 30. Mai 2012, zul. abgeruf. am 01. März 2017. 29 Zu den data centers der Internetunternehmen siehe u. a. Jennifer Holt u. Patrick Vonderau: »›Where the Internet Lives‹. Data Centers as Cloud Infrastructure«. In: Lisa Parks u. Nicole Starosielski (Hg.): Signal Traffic: Critical Studies of Media Infrastructures. Urbana, Ill.: University of Illinois Press, 2015, S. 71–93.

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das Öffnen der Gehäuse zur Inspektion oder Reparatur.30 Die extrem kompakte Bauweise von Smartphones, Tablets, Fitnesstrackern u. ä. Geräten tut das ihre dazu, so dass ein Austauschen defekter Teile zumindest sehr schwierig, eine Erweiterung um zusätzliche Teile gar undenkbar ist. Der Kontrast zu frühen Maschinen wie dem MITS Altair 8800 oder dem Apple II und den in Formfaktoren konzipierten komponentenbasierten PCs,31 deren Architekturen auf Eingriffe durch die Nutzerinnen hin geradezu ausgelegt waren, könnte größer kaum sein. Was ihre Prozessorleistung oder auch den Arbeitsspeicher betrifft, sind die neuen iPhones, Galaxies und Xperias den PCs, an denen Kittler zu Beginn der 1990er Jahre Programmiererfahrungen sammelte, um Größenordnungen überlegen. Ihre theoretisch universelle Programmierbarkeit jedoch wird im Vergleich durch die genannten industriellen Strategien auf eine bloße Konsumentenwahl zwischen dieser und jener Software im ästhetischen Schein der Apps reduziert, und ihre Hardware ist für Laien kaum mehr zu fassen (im wörtlichen wie im übertragenen Sinne). Im Smartphone kulminiert so eine technikgeschichtliche Tendenz des personal computing, aus programmierbaren Digitalcomputern reine Consumer-Produkte zu machen. Bedienbarkeit triumphiert über Programmierbarkeit.

2 Dass Software in Gestalt gebrauchsfertiger Anwendungen wie Apps für Smartphones universell programmierbare Maschinen zu bloßen Konsumprodukten und ihre Besitzerinnen damit zu informatisch unmündigen Konsumentinnen macht, ist für Kittler allerdings nur ein vordergründiger Makel. Hintergründig stellt sich das Problem der Programmierung, wie im vorigen Abschnitt bereits angedeutet wurde, für ihn viel tiefgreifender. Die Programmierung von Digitalcomputern wird nämlich nicht allein durch Software eingeschränkt, son-

30 Samsungs Smartphone Galaxy S7 etwa erhielt vom Technikportal iFixIt.com die sehr niedrige »Reparierbarkeits«-Wertung 3 (von 10 möglichen Punkten); siehe »Samsung Galaxy S7 Repair«. Auf: https://www.ifixit.com/Device/Samsung_Galaxy_S7, zul. abgeruf. am 01. März 2017. 31 Vgl. Heilmann: »Worin haust ein Computer?« (wie Anm. 18), S. 46–48.

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dern in gewisser Weise durch die Hardware selbst – und zwar gerade weil und insofern diese programmierbar ist. Programmierbarkeit ist nach Kittler ein Attribut von Hardware, nicht von Software: Sie »hängt einzig und allein vom Grad ab, in dem eine jeweilige Hardware dergleichen [Software] wie ein Schreibsystem beherbergen kann«,32 und gründet also in der materiellen Struktur eines Computers (wobei diese Struktur durch unterschiedliche Bauteile realisiert werden kann, durch Elektronenröhren genauso wie durch Transistoren oder integrierte Schaltkreise). Wohl lässt sich zeigen, dass alle universell programmierbaren Digitalcomputer bezüglich der theoretischen Grenzen der Berechenbarkeit zueinander äquivalent oder gleich ›mächtig‹ sind, und in dieser Hinsicht beispielsweise die Hardware eines Desktop-PCs aus den frühen 1990er Jahren auf derselben Stufe steht wie die eines aktuellen Smartphones. Erstens jedoch werden die Grenzen der tatsächlichen Leistungsfähigkeit eines Digitalcomputers durch dessen jeweilige Hardwareressourcen, insbesondere den verfügbaren Speicherplatz und die Verarbeitungsgeschwindigkeit, gegeben. Und zweitens ist die Hardware der als konkrete Digitalcomputer realisierten universell programmierbaren Maschinen, über die Kittler spricht, eben von grundlegend digitaler, d. h. diskreter, Natur. Ihre prozessierenden Elemente, ihre Schaltungen, können nur endlich viele arithmetisch-logische Zustände annehmen (typischerweise 1 oder 0 bzw. wahr oder falsch) und nur in endlich vielen festgelegten Verbindungen zueinander stehen. Und da die Zahl dieser Elemente ebenfalls endlich ist, können Digitalcomputer nur Zahlen mit endlich vielen Dezimalstellen vor und hinter dem Komma verarbeiten. Weil Kittler, gestützt auf seine eigenwillige Interpretation von Jacques Lacans Register des Realen, die physische Wirklichkeit aber als Reich der großen reellen Zahlen mit potentiell unendlich vielen Nachkommastellen begreift, schließt er auf eine »prinzipielle Unmöglichkeit der Digitalisierung, den Körper der reellen Zahlen, also die ehedem so genannte Natur, zu berechnen«.33 Selbstverständlich können die Hardwarekapazitäten von Digitalcomputern technologisch gesteigert wer-

32 Kittler: »Es gibt keine Software« (wie Anm. 2), S. 239. Im strikten Sinne der theoretischen Informatik gilt universelle Programmierbarkeit, auch ›Turing-Vollständigkeit‹ genannt, als Eigenschaft einer Programmiersprache oder eines Kalküls, nicht eines physischen Geräts. Damit ist allerdings nicht Software in Kittlers (engerer) Auffassung gemeint, sondern ein logisches System, das alle Funktionen berechnen kann, die von einer universellen Turingmaschine berechnet werden können. 33 Ebd., S. 237.

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den,34 aber die komputationelle Kluft zwischen dem Endlichen diskreter Maschinen und dem Unendlichen ihrer »kontinuierlichen Umwelt aus Wolken, Kriegen und Wellen«35 lässt sich damit nicht überbrücken. Was ist in dieser Lage zu tun? Folgt die im vorigen Abschnitt vorgestellte Argumentation Kittlers zum ›verhüllenden‹ und abstrahierenden Charakter von Software aus der Unterscheidung zwischen Maschinensprachen und höheren Programmiersprachen sowie seinen eigenen Erfahrungen im Programmieren von PCs,36 so beruhen seine Überlegungen zu den Grenzen programmierbarer Digitalcomputer, mit denen er Es gibt keine Software beschließt, auf der Lektüre eines Aufsatzes des US-amerikanischen Bioinformatikers Michael Conrad mit dem Titel The Price of Programmability. Dieser Aufsatz war vier Jahre vor Kittlers eigenem Text erschienen und behandelt die maximale theoretische Leistungsfähigkeit von Digitalcomputern im Vergleich zu anderen informationsverarbeitenden Systemen.37 Conrad kommt darin zum Schluss, dass strukturell programmierbare Systeme (womit er digitale bzw. diskrete Maschinen wie Digitalcomputer meint) zwangsläufig weniger effizient in der Informationsverarbeitung sind als strukturell nicht-programmierbare Systeme (wie atmosphärische Strömungssysteme oder DNA-Moleküle) mit derselben Anzahl prozessierender Elemente, weil diese Elemente in strukturell nicht-programmierbaren Systemen beliebige Verbindungen miteinander eingehen können.38 Die eingeschränkte komputationelle Effizienz ist der titelgebende ›Preis‹, den strukturell programmierbare Maschinen, Digitalcompu-

34 So wurde etwa die Wort- und Registerbreite von PC-Mikroprozessoren von anfänglich 4 und 8 Bit in den 1970er Jahren über 16 und 32 Bit in den 1980er und 1990er Jahren auf die heute üblichen 64 Bit vergrößert, und die Integrationsdichte der Prozessoren verdoppelt sich gemäß dem Moore’schen Gesetz noch immer alle zwei Jahre. 35 Ebd., S. 240. 36 Vgl. Friedrich Kittler: »Protected Mode«. In: Ute Bernhardt u. Ingo Ruhmann (Hg.): Computer, Macht und Gegenwehr. Bonn: InformatikerInnen für eine andere Informatik, 1991, S. 34–44. 37 Vgl. Michael Conrad: »The Price of Programmability«. In: Rolf Herken (Hg.): The Universal Turing Machine: A Half-Century Survey. Oxford: Oxford University Press, 1988, S. 285–307. Conrads Text ist übrigens nicht der einzige Beitrag in dem von Herken herausgegebenen Sammelband, den Kittler erwähnt. Es gibt keine Software scheint zu einem nicht geringen Teil der direkte Niederschlag von Kittlers Lektüre des Sammelbandes gewesen zu sein: Neben Conrads Text werden auch die Beiträge von Robert Rosen, Charles H. Bennett und Brosl Hasslacher referenziert; siehe Kittler: »Es gibt keine Software« (Anm. 2), S. 17, 22f. 38 Vgl. Conrad: »The Price of Programmability« (wie Anm. 37), S. 289–291.

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ter also, für ihre Programmierbarkeit zahlen müssen. Als Gegenmodell dazu skizziert Conrad das Operieren »evolutionärer Maschinen« und die »evolutionäre Programmierung«39 von Maschinen, welche nach dem Vorbild biologischer Systeme funktionieren sollen, um die Komplexität von Naturphänomenen oder auch der menschlichen Intelligenz angemessen berechnen oder simulieren zu können. Kittler greift Conrads Überlegungen auf, um daraus seine eigenen Schlüsse zum Verhältnis von Hardware, Software, Programmierung und Wirklichkeit zu ziehen, wobei er Ausdrücke wie ›biologisch‹, ›Organismus‹ oder ›Leben‹ jedoch peinlichst vermeidet: Aufgrund ihrer globalen Wechselwirkungen können solche Systeme [physische Systeme], ob nun Wellen oder Wesen, polynomische Zuwachsraten an Komplexität aufweisen, deshalb aber auch nur von Maschinen berechnet werden, die nicht selber den Preis der Programmierbarkeit zahlen müssten. Ganz offenbar würde dieser hypothetische, aber bitter notwendige Maschinentyp reine Hardware darstellen: ein physisches Gerät, das in einer Umgebung aus lauter physischen Geräten arbeitet und nur derselben Beschränkung seiner Ressourcen wie sie untersteht. Software im üblichen Sinne einer immer machbaren Abstraktion gäbe es nicht mehr.40

Spätestens an dieser Stelle des Textes ist Kittler auf der zweiten Ebene seiner Analyse angelangt, auf welcher der Satz Es gibt keine Software nochmals eine neue Bedeutung gewinnt. Hatte er zu Beginn von der Abstraktion gesprochen, durch die Software (und zwar im Sinne höherer Programmiersprachen, GUIs, Anwendungsprogramme usw.) von der konkreten Bau- und Funktionsweise der sie ausführenden Hardware absieht, so erweist sich am Ende seiner Ausführungen jeder Gebrauch von Digitalcomputern zur Berechnung oder Simulation ›natürlicher‹ Phänomene als Abstraktion, da ein ›unendlicher‹, kontinuierlicher Zusammenhang (die den physikalischen Gesetzen gehorchende Realität) mit endlichen, diskreten Mitteln (Schaltkreisen und Code) modelliert wird. Digitale Programmierung ist so gesehen per se Abstraktion, und zwar nicht von der programmierten Maschine, sondern von der durch das Programm erfassten Wirklichkeit.

39 40

Ebd., S. 300–305. Kittler: »Es gibt keine Software« (wie Anm. 2), S. 241.

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Der »einzige Weg zu jenem Körper reeller Zahlen, der ehedem Chaos hieß«,41 impliziert den Ausschluss von Software, Programmierung und (strukturell) programmierbaren Maschinen überhaupt. Anders als von Conrad nahegelegt, bedeutet das für Kittler aber weniger die Imitation biologischer Systeme zur Informationsverarbeitung etwa durch zelluläre Automaten. Stattdessen fordert er, wie gesehen, »reine Hardware«, d. h. ein »physisches Gerät«, das eben nicht mehr, wie die von Menschen programmierbaren Digitalcomputer, »in einer Umgebung aus Alltagssprachen koexistieren« muss,42 sondern nur noch »in einer Umgebung aus lauter physischen Geräten arbeitet«.43 In dieser Neuverortung der Maschine ist unschwer Kittlers viel gescholtener Antihumanismus, seine systematische Elimination des Menschen aus dem Bereich der (Medien-)Technik zu erkennen. Gereinigt von allen humanen Belangen soll Hardware nur noch in Beziehung zu anderer Hardware und zur physischen Wirklichkeit, dem »Chaos«, stehen. Maschinen und die »so genannte Natur«44 würden dann nahtlos ineinander übergehen. Wäre der Störfaktor Mensch mit seinem Zwang zur, notwendig abstrahierenden, Symbolisierung in Sprache erst beseitigt, könnten sich autonom prozessierende Maschinen untereinander und mit dem ›Reellen‹ der Natur selbst kurzschließen. Zehn Jahre nach seinem Vortrag in Stanford wurde Kittler in einem Gespräch mit Alexander Kluge diesbezüglich sehr deutlich: Wovon ich immer träume und was die Leute nicht hören wollen, weil sie immer glauben, dass die Technik und die Wissenschaft nur Werkzeug sind, für die Leute auf der Straße gemacht, was ein lächerliches Gerücht ist, aber den Leuten in der Schule wohl immer weisgemacht wird […] also, wovon ich träume, ist, dass die Maschinen, vor allem die jetzige und intelligente Maschinenzeit, wie sie Turing 1936 im Geist erfunden hat, dass die gar nicht für uns Menschen so sehr ist, wir sind sozusagen viel zu groß gebaut, sondern dass sich da die Natur, dieser leuchtende erkennende Teil der Natur, mit sich selbst rückkoppelt.45

Zu beklagen ist nach Kittler letztlich somit nicht, dass bestimmte Formen der Programmierung von Computern den Menschen die Hardware entziehen. Ge-

Ebd., S. 242. Ebd., S. 232. 43 Ebd., S. 241. 44 Ebd., S. 237. 45 Ders.: »Das Ganze steuert der Blitz. Gespräch mit Alexander Kluge«. In: ders.: Short Cuts. Frankfurt a. M.: Zweitausendeins, 2002, S. 269–282, hier S. 270. 41 42

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rade anders herum müsste die Hardware den Menschen und deren Umgang mit ihr, also der Programmierung mit endlichen diskreten Mitteln, entzogen werden, so dass sie sich vollkommen realisieren und dem »Körper der reellen Zahlen«46 oder der ›Natur‹ ganz anschmiegen kann. Die der antihumanistischen Grundhaltung Kittlers entsprechende Bedeutung des Satzes, »Es gibt keine Software«, erfüllt sich deshalb in der Forderung, nicht die menschlichen Userinnen, sondern die Hardware vor der Software zu retten (und damit zugleich vor den Menschen), d. h. die Maschinen vom Joch der Programmierung zu befreien. Es gibt keine Software ist so gesehen keine deklarative Feststellung mehr, sondern eine direktive Formel: »Es soll keine Software mehr geben!« Kittlers Gedankenspiel einer ›reinen‹ Hardware wird wohl für immer Fantasie bleiben. Trotzdem sollte man seine Bemerkungen zur Autonomisierung der Maschinen im Abschied von Software bzw. Programmierung nicht vorschnell als bloße Provokation oder Wahnvorstellung abtun. Zum einen klingen in Kittlers Formulierung von einem physischen Gerät, »das in einer Umgebung aus lauter physischen Geräten arbeitet«,47 heute recht deutlich die aktuellen Technologie- und Industrieversprechen des Internets der Dinge an, in welchem die Gegenstände und Einrichtungen des täglichen Lebens ohne menschliches Zutun miteinander kommunizieren und sich gegenseitig koordinieren sollen. Zum anderen ist inzwischen tatsächlich ein mögliches Ende von Software oder Programmierung – wenigstens in der hergebrachten Form des zeilenbasierten Schreibens von Programmen – zu erkennen. In den vergangenen Jahren hat der Forschungszweig der Künstlichen Intelligenz (KI) durch die Anwendung sogenannter künstlicher neuronaler Netzwerke einen, für viele unerwarteten, Aufschwung erlebt. Der breiteren Öffentlichkeit wurde diese Entwicklung vor allem durch den Fall AlphaGo bekannt: ein KI-System von Google, das im März 2016 zur Überraschung der Experten den damals weltbesten Spieler, den Koreaner Lee Sedol, im Brettspiel Go schlagen konnte.48 Einer der wesentlichen Gründe für den Erfolg künstlicher neuronaler Netzwerke liegt (neben den in den vergangenen Jahren noch-

Kittler: »Es gibt keine Software« (wie Anm. 2), S. 237. Ebd., S. 241. 48 Vgl. Cade Metz: »This Is Not a Game«. In: Wired 24.6 (2016), S. 80–89. Auf: https:// www.wired.com/2016/05/google-alpha-go-ai/, zul. abgeruf. am 01. März 2017. Nachdem IBMs Deep Blue-Computer 1996 und 1997 im Schach gegen den amtierenden Weltmeister, Garri Kasparow, gewonnen hatte, war das Go-Spiel wegen seiner höheren Komplexität zum nächsten Prüfstein der KI geworden. 46 47

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mals deutlich gestiegenen Rechenleistungen parallel arbeitender Prozessoren und der Verfügbarkeit sehr großer Datenmengen) darin, dass sie in der Lage sind, sich selbst zu optimieren. Die Systeme können sozusagen eigenständig lernen, weshalb die entsprechenden Verfahren auch deep learning genannt werden. AlphaGo etwa ›lernte‹ das Go-Spiel, indem es erst eine Datenbank mit mehreren Millionen von Menschen geführter Spielzüge analysierte und dann so lange Partie um Partie gegen sich selbst spielte, bis es genügend ›Erfahrung‹ und ›Wissen‹ gesammelt hatte, um zuverlässig auch gegen Großmeister gewinnen zu können.49 Der, wenigstens für meine Auseinandersetzung mit Kittlers Thesen zum Verhältnis von Hardware und Software, springende Punkt liegt nun weniger in der Feststellung, dass solche KI-Systeme eine Welt zunehmend souveräner Hardware in Aussicht stellen, die Stück für Stück menschliche Aufgaben und Arbeiten übernimmt und damit das menschliche Subjekt als Träger von Intentionen und Handlungen letztlich abzulösen bzw. zu ›überwinden‹ droht. Entscheidend ist vielmehr, dass sich mit Ansätzen des maschinellen Lernens wie deep learning möglicherweise ein Paradigmenwechsel in der Softwareentwicklung abzeichnet. Denn Systeme wie AlphaGo werden eben nicht mehr in herkömmlicher Weise von Menschen programmiert, d. h. zur Lösung bestimmter Probleme gezielt mit Code instruiert, sondern mit geeigneten Daten ›trainiert‹. Die neuronalen Netzwerke der KI sind nicht Zeile für Zeile von Programmiererinnen geschrieben; sie stellen das Ergebnis eines quasi-autonomen maschinellen ›Lernprozesses‹ dar, in welchem die Systeme ihre problemlösenden algorithmischen Strukturen – unter Überwachung menschlicher Experten, aber weitgehend in eigener Regie – hervorbringen und laufend anpassen. Die Computer programmieren sich gewissermaßen selbst.50 Selbstverständlich wird auch deep learning auf Digitalcomputern realisiert, auf strukturell programmierbaren Maschinen also, die den von Conrad dargelegten theoretischen Grenzen der Informationsverarbeitung unterliegen. Aber mit den neuen Verfahren des maschinellen Lernens könnte sich das von Kittler geforderte Ende von Software in absehbarer Zeit doch einstellen, und zwar als Endes des Programmierens im Sinne einer vorrangig menschlichen Tätigkeit.

Vgl. ebd., S. 86f. Für eine journalistische Annäherung an das Thema siehe Jason Tanz: »The End of Code«. In: Wired 24.6 (2016), S. 72–79. Auf: https://www.wired.com/2016/05/the-end-ofcode/, zul. abgeruf. am 01. März 2017. 49 50

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Und für den Fall digitaler Geräte wie Smartphones mag das Ende menschlicher Programmierung vielleicht noch in einer weiteren Hinsicht den Abschied von Software (zumindest gemäß Kittlers engerer Auffassung) bedeuten. Denn interessanterweise ist maschinelles Lernen gerade für Funktionen gut, die Computer in ein neues Verhältnis zu ihren menschlichen Nutzerinnen setzen könnten: etwa für die automatische Bild- und Spracherkennung. Bereits jetzt werden künstliche neuronale Netzwerke in Gestalt von Sprachassistenten im personal computing breitenwirksam eingesetzt. Unter Namen wie Siri (Apple), Alexa (Amazon), Cortana (Microsoft) oder schlicht Assistant (Google) stehen uns neuronale KI-Systeme Rede und Antwort. Der Zeitpunkt scheint nicht mehr fern, an dem Spracheingabe, die Verwendung der ›natürlichen‹ gesprochenen Sprache der Menschen, eine bevorzugte Bedienart mobiler Digitalcomputer bilden wird, hinter welcher die bislang dominierenden, vorwiegend grafischen und für Tastatur-, Maus-, Finger- oder Gestensteuerung ausgelegten Schnittstellen der einzelnen Programme zurücktreten. Die je spezifischen Funktionalitäten der verfügbaren Hardware und der installierten Software würden dann nicht mehr durch das Starten und Bedienen unterschiedlicher Programme über ihre je eigenen Oberflächen gesteuert, sondern von ihren Nutzerinnen wortwörtlich aufgerufen und angesprochen.51 Software, gedacht als Summe der von den informatischen Konsumentinnen jeweils in Anspruch genommenen Betriebssysteme, Anwendungsprogramme, Apps, Online-Services usw., würde sich dadurch auf eine im Gebrauch weitgehend ›unsichtbare‹ Sammlung von Hintergrunddiensten reduzieren. Sie ginge ästhetisch in der »Umgebung aus Alltagssprachen«52 auf, an die sie bisher eher umwegig über Tastaturen, Icons, Zeigegeräte, Programmfenster usw. angeschlossen ist, und würde von ihr in letzter Konsequenz ununterscheidbar. Als auf Hardware laufender Code würde Software selbstredend nicht aufhören zu existieren; aber sie ginge ihrer alten Gestalt als eigenartiges Oberflächenphänomen tendenziell verlustig. Digitalcomputer verwandelten sich für ihre Besitzerinnen damit endgültig in black boxes, von denen nur noch der eigene

51 Einen Eindruck davon, was schon heute technisch machbar ist, gibt die Vorstellung des KI-Systems Viv, das Ende 2016 von Samsung aufgekauft wurde und u.U. schon bald als Sprachassistent in Samsungs Smartphones (und möglicherweise weitere Produkte des Konzerns) integriert werden wird; vgl. TechCrunch: »Beyond Siri. The World Premiere of Viv with Dag Kittlaus«. Auf: https://www.youtube.com/watch?v=Rblb3sptgpQ, dort datiert am 09. Mai 2016, zul. abgeruf. am 01. März 2017. 52 Kittler: »Es gibt keine Software« (wie Anm. 2), S. 232.

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sprachliche Input und ein ebenso sprachlicher, vielleicht visuell aufbereiteter, Output gewusst wird (bis auch die Hardware durch fortschreitende Miniaturisierung und Implantierung in den Alltagsgegenständen der Welt und in unseren Körpern verschwindet). Womöglich werden wir schon mit den Mobilgeräten der nächsten oder übernächsten Generation den Beweis von Kittlers Satz, »Es gibt keine Software«, in unseren Händen halten.

Timo Kaerlein

»I can’t remember ever being so in love with a color.« Smartphones und die Rhetorik des Intimate Computing

Das Smartphone unter ästhetischen Gesichtspunkten in den Blick zu nehmen, kann aus ganz unterschiedlichen Motivationen heraus geschehen, und dies sowohl in wissenschaftlicher Perspektive als auch in Form einer alltagsästhetischen Wahrnehmung, die sich auf das Gerät als gestaltetes Objekt und auf dessen mediale Inhalte richtet.1 Ausgangspunkt des vorliegenden Beitrags ist die Diskussion einer verbreiteten Rhetorik, die einen vertrauten, ja intimen Umgang mit mobilen computerbasierten Medien im Alltag normalisiert. Diese Sprechweisen zur Charakterisierung des Mensch-Computer-Verhältnisses sollen auf ihre Genese, Spezifik und gesellschaftliche Funktionalität hin befragt werden. Für die Zwecke des Beitrags wird das Smartphone also in der Mediengeschichte des Computers verortet und nicht etwa – wie es auch denkbar wäre – in jener des Telefons oder in einer Genealogie portabler Medien.2

Für wertvolle Hinweise und kritische Rückfragen beim Schreiben des vorliegenden Beitrags danke ich Christoph Neubert. 2 Vgl. für die genannten Perspektiven Stefan Münker u. Alexander Roesler (Hg.): Telefonbuch. Beiträge zu einer Kulturgeschichte des Telefons. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2000; Ulla Autenrieth et al. (Hg.): Dis Connecting Media. Technik, Praxis und Ästhetik des Telefons: Vom Festnetz zum Handy. Basel: Christoph-Merian-Verlag 2011 und Martin Stingelin u. Matthias Thiele (Hg.): Portable media. Schreibszenen in Bewegung zwischen Peripatetik und Mobiltelefon. München: Fink, 2010. 1

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Ich werde mich dabei dem Gegenstand einer Smartphone-Ästhetik auf einem Umweg annähern: Das Interesse gilt nicht direkt einer spezifischen Medienästhetik, sondern es soll erstens danach gefragt werden, welche medienhistorischen Entwicklungen dazu geführt haben, dass das Smartphone überhaupt zum Bestandteil und dezidierten Objekt ästhetischer Praktiken werden konnte.3 Dass die Beschäftigung mit einer Smartphone-Ästhetik aus medienwissenschaftlicher Sicht heute sofort einleuchtet bzw. gar als überfällig erscheint, ist als Resultat einer historischen Entwicklung zu werten, in deren Verlauf Computertechnik, in der Mitte des 20. Jahrhunderts noch Inbegriff von Bürokratie, zentraler Verwaltung und Rationalisierung, zum Bezugspunkt einer ästhetischen Wahrnehmung und mit dieser verbundener Gebrauchsweisen werden konnte. Eine näher zu untersuchende Rolle spielt dabei die Rhetorik und Programmatik des intimate computing, die auf die 1970er Jahre zurückgeht, im Gewand aktueller digitaler Nahkörpertechnologien allerdings ein revival in Verbindung mit einer erheblichen semantischen Umbewertung erfährt. Mit dem intimate computing in seiner zeitgenössischen Erscheinungsweise stehen daher zweitens ästhetische Strategien der Kopplung von Subjekten und Artefakten vor dem politisch-ökonomischen Hintergrund einer postfordistischen Kreativökonomie zur Debatte. Deren Herkunft lässt sich ebenfalls in die Umbruchzeit der 1960er und 1970er Jahre zurückverfolgen, in denen es zu einer weitgreifenden Ästhetisierung der Sphären von Produktion, Arbeit und Beruf kommt. Im Folgenden wird zum Einstieg zunächst ein besonders prägnantes Beispiel einer ästhetisierten und affektiv aufgeladenen Bezugnahme auf das Smartphone als gestaltetes Objekt diskutiert. Von dort aus werde ich das Smartphone als digitale Nahkörpertechnologie und als intimes Medium skizzieren, wozu Quellen aus der medien- und kommunikationswissenschaftlichen Mobilkommunikationsforschung herangezogen werden. Diese gegenwartsdiagnostischen Beschreibungen werden im Anschluss knapp mit der Geschichte der intimate computing-Vision kontrastiert, um zu veranschaulichen, wie sich mit der Professionalisierung des Interfacedesigns eine einem ästhetischen Paradigma folgende Auffassung der Computernutzung durchsetzt.

Den Begriff der ästhetischen Praktiken übernehme ich von Andreas Reckwitz: »Ästhetik und Gesellschaft – ein analytischer Bezugsrahmen«. In: ders., Sophia Prinz u. Hilmar Schäfer (Hg.): Ästhetik und Gesellschaft. Grundlagentexte aus Soziologie und Kulturwissenschaften. Berlin: Suhrkamp, 2015, S. 13–54, hier S. 21–31. Er wird weiter unten diskutiert.

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Das Kernargument des Beitrags besteht dann in dem Vorschlag, den Smartphone-Gebrauch mit Andreas Reckwitz als ästhetisch imprägnierte Praxis zu begreifen, womit eine für spätmoderne Verhältnisse charakteristische Verschränkung von Ästhetisierungs- und Rationalisierungsstrategien bezeichnet ist. An diese theoretische Diagnose knüpfen sich Ansätze einer Kritik, in deren Licht die Smartphone-Ästhetik und mit ihr die gegenwärtige Erscheinungsweise eines intimate computing in ihrer politisch-ökonomischen Rahmung und Funktion als Technik der Teilnahmemotivierung deutlich hervortreten.

The Gadget Lover – Objektophile Annäherung an das industrielle Smartphone-Design Auf seinem privaten Blog Minimally Minimal stellt der Microsoft-Designer Andrew Kim u. a. Entwürfe zur Diskussion, teilt Gedanken zu seiner Tätigkeit und schreibt ausführliche Produktrezensionen zu Geräten der Konsumelektronik, Autos und Modeartikeln. Besonders prägnant sind seine detailverliebten und mit Makroaufnahmen aus verschiedenen Perspektiven kombinierten Besprechungen von Smartphones verschiedener Hersteller. Die auf das Design der vorgestellten Geräte konzentrierten Beschreibungen sind durchzogen von emotional gefärbten Ausdrücken und Phrasen und dokumentieren insgesamt die objektfixierte Faszination eines Experten, der seiner Wertschätzung für ein gelungenes Design offenbar nur in der Sprache der Gefühle angemessen Ausdruck verleihen kann. So findet sich der Rezensent angesichts des Modells iPhone 4S »struck by its beauty« und bezeichnet es als »truly a work of art. […] The most beautiful materials coming together in harmony to create something so dense and thoughtful«; das mit diesem Modell eingeführte Sprachassistenzsystem Siri sei »the beginning of making the computer more human«, der Herstellerfirma Apple sei es immer schon darum gegangen, den Computer weniger als Maschine und mehr als Freund auftreten zu lassen.4 Die Besprechung des iPhone 5S beginnt mit einem selbstreflexiven Innehalten: Alle Zitate von Andrew Kim: »The Best. Made Better. iPhone 4S.« Auf: Minimally Minimal, dort datiert am 23. Oktober 2011. Auf: http://www.minimallyminimal.com/ blog/2011/10/23/the-best-made-better-iphone-4s.html, zul. abgeruf. am 08. Dezember 2016.

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TIMO KAERLEIN Phones are fascinating. They live closer to our body than any other device other than the watch. And if your job doesn’t involve working on a PC, you probably use it more than any other ›computer‹. Because of our intimate relationship to these glowing bricks, we seem to become very emotional about what device we choose.5

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Im Rahmen der Rezension folgen dann ans Parodistische grenzende Einlassungen zur Farbgebung (»I can’t remember ever being so in love with a color«, »It’s quite possibly the biggest innovation of the iPhone 5S, and I mean it«), begleitet von Rezeptionshinweisen (»I’m only being harsh because I love«) und tiefergehenden Einblicken ins Gefühlsleben des Schreibenden (»It’s still the best, but no longer a leader. Frankly, it makes me a bit sad«).6 Insgesamt sind Kims Formulierungen zwar besonders pointiert, aber keine untypische Stellungnahme in dem an Fetischisierungen und affekthaltigen Bekenntnissen reichen Diskurs der Tech-Blogger, Werbetreibenden und Designer im Bereich der Konsumelektronik. Selbst die Klage über ausbleibende Design-Innovationen steht noch im Zeichen einer ästhetischen Faszination: Wenn der New York Times-Rezensent der aktuellen iPhone-Generation als Hauptkritikpunkt nurmehr »absence of delight« anführen kann, scheint sich der Erwartungshorizont bereits gänzlich vom Gebrauchswert gelöst und der Warenästhetik anheimgegeben zu haben.7 Das Unternehmen Apple spielt sicher eine besondere Rolle in dieser Verlagerung, aber es hat insofern symptomatischen Stellenwert, als die auf Design als Dreh- und Angelpunkt der Produktentwicklung setzende Firmenstrategie von vielen anderen Unternehmen kopiert wurde und wird.8 Aus medien-

Andrew Kim: »iPhone 5S – Still the Best, but no Longer a Leader«. Auf: Minimally Minimal, dort datiert am 29. September 2013. Auf: http://www.minimallyminimal.com/ blog/iphone-5s, zul. abgeruf. am 08. Dezember 2016. 6 Alle Zitate ebd. 7 Farhad Manjoo: »What’s Really Missing From the New iPhone: Cutting-Edge Design«. Auf: The New York Times, dort datiert am 07. Dezember 2016. Auf: http://www.nytimes. com/2016/09/08/technology/whats-really-missing-from-the-new-iphone-dazzle.html, zul. abgeruf. am 08. Dezember 2016. 8 Vgl. den Ausstellungskatalog Sabine Schulze u. Ina Grätz (Hg.): Apple Design. Ausst.-Kat. Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg. Ostfildern: Hatje Cantz, 2011, der eine Gesamtschau über alle seit 1997 unter Jonathan Ives Leitung entstandenen Apple-Produkte enthält. Vgl. außerdem Florian Hadler u. Joachim Haupt: »Human Interface Guidelines als absolute Ästhetik. Zur Wiederaneignung avantgardistischer Strategien in Googles Material Design«. Vortrag auf der GfM-Jahrestagung 2016 in Berlin, die die in den User Interface Guidelines von Apple und Google dokumentierte kollektive 5

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kulturwissenschaftlicher Sicht ist das Apple-Design besonders deshalb interessant, weil es stilbildend für einen Großteil der Elektrogeräteindustrie geworden ist, bis hin zu einer weitgehenden Konvergenz der Form. Wer ein iPhone kauft, bezahlt nicht nur für die allgemeine Funktionalität eines Smartphones, sondern erwirbt ein nach bestimmten Gesichtspunkten ästhetisch gestaltetes Objekt. Das iPhone wirkt wie aus einem Guss geformt, ein Gesamtkunstwerk aus mattiertem Aluminium, glänzendem Kunststoff, Edelstahl und kratzfestem Glas. Die »strategische Formkonstanz«9 der gesamten Apple-Produktpalette ist visuell bestechend – iPod, iPhone und iPad unterscheiden sich beispielsweise optisch nur marginal voneinander und garantieren die Corporate Identity auf Endgeräte-Ebene. Die Ästhetik von Apple-Produkten orientiert sich u. a. am Funktionalismus von Produkten der Firma Braun aus der Nachkriegszeit, der seinerseits in einer Kontinuitätslinie zum Bauhaus-Design steht.10 Im Betriebssystem setzt sich das Reduktionsprinzip fort: Hier finden sich Apps als aufgereihte Icons – eine Ansicht, die selbst ikonisch geworden ist.11 Doch zurück zu Andrew Kim und seiner Feststellung, dass Smartphones als mobile Kleincomputer in einem besonderen Verhältnis der körperlichen

Gebrauchsästhetik in die Tradition der künstlerischen Avantgarden des 20. Jahrhunderts stellen, denen es in einer vergleichbaren Programmatik um das Projekt einer breitflächigen Ästhetisierung der Lebenswelt ging. 9 Ina Grätz: »Stylectrical. Von Elektrodesign, das Geschichte schreibt. Ein Rundgang«. In: Schulze et al. (Hg.): Apple Design (wie Anm. 8), S. 10–21, hier S. 16. 10 Ausführlicher zur Designgeschichte von Apple vgl. Bernd Polster: »Kronberg meets Cupertino. Was Braun und Apple wirklich gemeinsam haben«. In: Schulze et al. (Hg.): Apple Design (wie Anm. 8), S. 64–75. Entscheidend sind hier die Bezüge zur Ulmer Hochschule für Gestaltung um Hans Gugelot und die Gestaltungsmethode der ›Guten Form‹, die sich durch Reduktion auf das Wesentliche, Schlichtheit und Rationalität der Form auszeichnet. 11 Vgl. Harald Klinke: »Strategisches Design. Wie Neues alt erscheint. Grundprinzipien der Produktgestaltung bei Apple«. In: Schulze et al. (Hg.): Apple Design (wie Anm. 8), S. 42–53, hier S. 44. Jan Distelmeyer stellt das App-Raster von Smartphones und Tablets in die ästhetische Tradition des Tableaus, einer Wissens- und Darstellungstechnik des 17. und 18. Jahrhunderts, die Übersicht, einen kontrollierenden Zugriff und souveränen Abstand zum Dargestellten garantiere. Gleichzeitig betont er aber, dass es die historisch wandelbaren Formen des Gebrauchs seien, die darüber entscheiden, welche Funktionen der rasterförmigen Übersicht zukommen und welche Subjektpositionen durch sie konstituiert werden. Gerade die Umsetzung auf einem Touchscreen sei hier ein wesentlicher Unterschied zu älteren Darstellungstypen, weil durch ihn der Tastsinn gegenüber dem Sehsinn eine Aufwertung erfahre. Vgl. Jan Distelmeyer: Machtzeichen. Anordnungen des Computers, Berlin: Bertz und Fischer, 2017, S. 151–169.

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Nähe zu ihren Anwendern stünden, was der Interaktion mit ihnen generell einen intimen und emotionalen Charakter verleihe. Diese Einschätzung wird von der Mobilkommunikationsforschung weithin geteilt, und dies bereits vor dem Aufkommen von internetfähigen Endgeräten. Im japanischen Begriff für Mobiltelefon keitai (ungefähr: ›etwas, das man mit sich herumträgt‹) sind entsprechende Konnotationen bereits angelegt: »A keitai is not so much about a new technical capability or freedom of motion but about a snug and intimate technosocial tethering, a personal device supporting communications that are a constant, lightweight, and mundane presence in everyday life«.12 Erika Linz bezeichnet das Handy »nicht nur [als] personalisiertes Medium, sondern auch [als] privates, ja intimes Medium in einem zweifachen Sinne. Es wird vorrangig zur Aufrechterhaltung intimer Beziehungen verwendet, und es ist Teil der Intimsphäre einer Person.«13 Für Heike Weber ist u. a. der Vibrationsalarm für eine »Intimisierung des Mobiltelefons« auschlaggebend, insofern durch ihn die Geräte »nicht mehr nur auf den Kleidungs- und Lebensstil der Besitzer, sondern auch auf deren jeweiliges haptisches Sensorium abgestimmt« würden.14 Ingrid Richardson macht die ›Intimität‹ speziell von Smartphones auch an den gängigen physischen Interfaces wie dem Touchscreen fest: »[T]here is a certain haptic intimacy that renders the iPhone an object of tactile and kinesthetic familiarity, a sensory knowing-ness of the fingers that correlates with what appears on the small screen.«15 Intimität sowie die Vermittlung von Vertrautheit und Nähe über technische Medien stellen gegenwärtig einen Forschungsschwerpunkt der Medienwissenschaften dar. In diesem Zusammenhang wurde unter anderem gefordert »[d]ie klassischen Forschungsfragen an Medien (in ihrer Funktion als Speicher-, Lese- und Schreibapparate) […] um Kategorien des Designs, der

12 Mizuko Itō: »Introduction. Personal, Portable, Pedestrian«. In: dies., Daisuke Okabe u. Misa Matsuda (Hg.): Personal, Portable, Pedestrian. Mobile Phones in Japanese Life. Cambridge, Mass.: MIT Press, 2005, S. 1–16, hier S. 1. 13 Erika Linz: »Konvergenzen. Umbauten des Dispositivs Handy«. In: Irmela Schneider u. Cornelia Epping-Jäger (Hg.): Formationen der Mediennutzung III. Dispositive Ordnungen im Umbau, Bielefeld: transcript, 2008, S. 169–188, hier S. 176. 14 Heike Weber: Das Versprechen mobiler Freiheit. Zur Kultur- und Technikgeschichte von Kofferradio, Walkman und Handy, Bielefeld: transcript, 2008, S. 280 u. 322. 15 Ingrid Richardson: »Touching the Screen. A Phenomenology of Mobile Gaming and the iPhone«. In: Larissa Hjorth, Jean Burgess u. Ingrid Richardson (Hg.): Studying Mobile Media. Cultural Technologies, Mobile Communication, and the iPhone. New York: Routledge, 2012, S. 133–151, hier S. 144.

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Haptik, der Akzeptanz, der Beziehung, des Affekts, kurzum: der Intimität«16 zu ergänzen. Die Adressierung der Ästhetik von Smartphones und vergleichbaren digitalen Nahkörpertechnologien gehört zu diesem Fragehorizont. Die Herstellung von Intimität und Affektivität in der Interaktion mit mobilen computerbasierten Medien ist allerdings primär Aufgabe des Interfacedesigns, womit der zweite aktuelle medienwissenschaftliche Forschungsstrang angesprochen ist, der für eine Diskussion der Smartphone-Ästhetik aus meiner Sicht zentral ist.17 Das Interface markiert hier nicht lediglich eine Schwelle oder Grenzfläche zwischen zwei oder mehr vorab definierten Entitäten, sondern es ist aktiv an der Konstitution dessen beteiligt, was respektive unter dem Computer als Medium bzw. dem menschlichen Anwender als User verstanden wird.18 Erst der Blick auf die konkreten Interfaces, so Jan Distelmeyer, erlaube es, den Computer als »Machtmaschine« zu analysieren, »deren Interfaces Schaltstellen, Mittel und Bühnen eines permanenten Ringens um Einfluss bilden«.19 Eine besondere Rolle misst er dabei ästhetischen Gesichtspunkten zu, weil die »Interface-Mise-en-Scène« der Gegenwart den operativen Spielraum dessen vorgibt, was man wie mit dem Computer machen kann, wobei sich die Gebrauchsweisen in der Regel in einem »Wechselspiel zwischen Verfügen und Fügen« realisieren.20 Vor diesem theoretischen Hintergrund verortet sich der vorliegende Beitrag im Spannungsfeld dreier Konzepte, deren Semantiken zwar aufeinander bezogen sind, ohne dass ihr Verhältnis allerdings unproblematisch bestimmt werden könnte. Erstens ist dies der Begriff der Ästhetisierung, unter dem das Ausgreifen selbstreferenzieller Wahrnehmungsakte in Bereiche jenseits des gesellschaftlichen Teilbereichs der Kunst verstanden wird.21 Zweitens das an-

Michael Andreas, Dawid Kasprowicz u. Stefan Rieger: »Technik|Intimität. Einleitung in den Schwerpunkt«. In: Zeitschrift für Medienwissenschaft 2 (2016), S. 10–17, hier S. 12. 17 Eine Übersicht zum aktuellen medienwissenschaftlichen Interface-Diskurs liefert Sabine Wirth: »Between Interactivity, Control, and ›Everydayness‹. Towards a Theory of User Interfaces«. In: Florian Hadler u. Joachim Haupt (Hg.): Interface Critique, Berlin: Kadmos, 2016, S. 17–35. 18 Vgl. zu diesem Punkt ausführlich Branden Hookway: Interface. Cambridge, Mass.: MIT Press, 2014, der das Interface u. a. in seinem Aspekt des »facing between« versteht als »a boundary or zone of encounter that actively extends into and conditions that which it separates«. (Ebd., S. 9) 19 Distelmeyer: Machtzeichen (wie Anm. 11), S. 30. 20 Ebd., S. 81, 34. 21 Vgl. hierzu Reckwitz: »Ästhetik und Gesellschaft« (wie Anm. 3), S. 31f. Das Konzept der Ästhetisierung positioniert sich somit zwischen einem klassischen Begriff von 16

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gesprochene semantische Feld der Intimität, und zwar insbesondere unter dem Aspekt der »Medialität einer paradoxalen Nähe«,22 die das Mensch-Technik-Verhältnis in aktuellen Interface-Inszenierungen als Kopplungsverhältnis organisiert. Und drittens wird die Praxis und Rhetorik des Spiels Teil der Auseinandersetzung sein, insofern gerade das Interfacedesign in enger Anlehnung an die Sphäre des Spielerischen verfährt, wodurch grundsätzliche Gegensätze wie der zwischen Arbeit und Freizeit oder zwischen Spaß und Ernst in Frage gestellt werden. Der Beitrag wird das Verhältnis von Ästhetisierung, Intimität und Spiel nicht klären können – dazu ist jeder einzelne dieser Begriffe zu voraussetzungsreich und Teil je eigener Diskurslinien –, aber am Gegenstand der Smartphone-Ästhetik den Versuch unternehmen, sie produktiv aufeinander zu beziehen und ihre Verschränkung aufzuweisen. Statt eines die Technik privilegierenden Zugangs ist es in dieser Perspektive sinnvoll, das Smartphone als historisch spezifische Ausgestaltung des Computers zu thematisieren, innerhalb der letzterer nicht primär als Arbeitsgerät erscheint, sondern als relationales Objekt bzw. gar als intimer Beziehungspartner. Eine solche Sichtweise ist bereits im nun einzuführenden intimate computing-Ansatz angelegt, wie er in den 1970er Jahren in der Learning Research Group am Xerox Palo Alto Research Center (PARC) entwickelt wurde. Er spielte eine wichtige Rolle bei der diskursiven Umbesetzung der militärisch geprägten Computertechnologie auf dem Weg zu den ersten kommerziellen Personal Computern, weist aber rhetorisch bereits über diese hinaus.

aisthesis, der die sinnliche Wahrnehmung im Ganzen bezeichnet, und einem engeren, der ästhetischen Theorie entstammenden Begriff, der auf die Produktion und Rezeption von Kunst zielt. In der Praxis des Designs und im alltäglichen Gebrauch gestalteter Objekte kommen diese beiden Bedeutungen zusammen, sodass der Bereich des Ästhetischen keine eigenständige Sphäre gesellschaftlicher Realität bezeichnet, sondern eher ein Querschnittsphänomen darstellt. 22 Andreas et al.: »Technik | Intimität« (wie Anm. 16), S. 12.

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How I Learned to Stop Worrying and Love the Computer – Intimate Computing als historisches Modell der Kopplung von Computer und User Zwar fanden Computer für den Privatgebrauch erst ab den späten 1970er- und dann wesentlich in den 1980er Jahren Verbreitung, doch diesem Prozess ging die Herausbildung und Verbreitung einer Imagination voraus, innerhalb der sich das Image des Computers von einer Herrschaftstechnologie zu einer persönlichen Informationsmaschine wandelte. Fred Turner hat eine Geschichte der Internet- und Computerkultur der 1990er und 2000er Jahre vorgelegt, die die Beschreibung dieser verblüffenden Transformation ins Zentrum stellt.23 Wie ist es möglich, dass aus dem Computer, der noch in den 1960er Jahren in erster Linie mit Bürokratie und Rationalisierung, mit zentraler Datenverarbeitung, mit großen, anonymen Organisationen und letztlich auch mit inhumaner Kriegsführung assoziiert wurde, in den 1990er Jahren eine utopische Maschine werden konnte? Hier muss eine diskursive Entwendung oder Umbesetzung stattgefunden haben, die dazu führte, dass ebenjene bedrohlichen und unpersönlichen Computer zu einem essenziellen Instrument der Befreiung in den Cyber-Utopien der 1990er Jahre avancieren konnten. Vernetzte Computer erschienen darin als Verkörperung des »countercultural dream of empowered individualism, collaborative community, and spiritual communion«.24 Turners Argumentation verweist darauf, dass es nicht rein technische Faktoren gewesen sein können, die für diesen Wandel der kulturellen Semantik um informationsverarbeitende Technologien ausschlaggebend waren. Technische Entwicklungen während der 1960er Jahre begünstigten zwar die Miniaturisierung und Personalisierung des Computers, der sich sukzessive von der per Lochkarte bedienten Großrechenanlage auf ein bürokompatibles Format reduzieren ließ. Damit ergab sich auch eine ganze Bandbreite von neuen Nutzungsmöglichkeiten, beispielsweise in der Bürokommunikation, dem Desktop-Publishing und künstlerischen Tätigkeiten. Turner betont: »These technological developments, however, did not in and of themselves spawn Vgl. Fred Turner, From Counterculture to Cyberculture. Stewart Brand, the Whole Earth Network, and the Rise of Digital Utopianism. Chicago, Ill.: University of Chicago Press, 2008. 24 Ebd., S. 2. 23

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the ethos of personalness to which small computers have since become attached.«25 Dazu bedurfte es vielmehr einer aktiven Verknüpfung von kulturellen Semantiken mit der Technikentwicklung, die nicht von den Ingenieuren alleine bewerkstelligt werden konnte. Als ein zentraler Akteur bei dieser historischen Umbesetzung des Computers kann das Xerox PARC gelten, ein privatwirtschaftlich finanziertes Forschungszentrum, in dem seit 1970 an der Idee eines ›Büros der Zukunft‹ gearbeitet wurde. Insbesondere aber ist das PARC der Ort, an dem die akademischen Überlegungen zu einem Personal Computer erstmals produktförmige Gestalt annahmen, wodurch heute dominierende Aspekte wie user-friendliness und Design überhaupt als relevant für die human-computer interaction (HCI) betrachtet wurden. Mit dieser entscheidenden Weichenstellung wurde das PARC zum Wegbereiter der späteren kommerziellen Computerentwicklung. Nicht zuletzt war das PARC auf inzwischen mythenumrankte Weise zentrale Inspirationsquelle für die später kommerziell erfolgreichen Personal ComputerLösungen von Apple und Microsoft, die einen Massenmarkt von Computerlaien mit dem neuen Medium vertraut machen sollten.26 Alan C. Kay, der in den 1970er Jahren die Learning Research Group am PARC leitete, ist vor allem für seine zentrale Rolle bei der Entwicklung grafischer Gebrauchsoberflächen und objektorientierter Programmiersprachen bekannt. Seltener wurde seine Konzeption eines intimate computing thematisiert, die als bündelndes Leitbild seine Arbeiten organisierte. 1991, also retrospektiv zu den Arbeiten im PARC, fasste Kay seine Vision in einem Aufsatz im Scientific American zusammen: »Ten years from now, powerful, intimate computers will become as ubiquitous as television and will be connected to interlinked networks that span the globe more comprehensively than telephones do today.«27 Intimate computing war für Kay eine medienpädagogisch ausgerichtete Vorstellung von Computern als personal dynamic media, die die Anwender vom Grundschulalter an bei der Bearbeitung kognitiv anspruchsvoller Auf-

Ebd., S. 105. Die Geschichte des Xerox PARC ist gut dokumentiert. Vgl. u. a. Michael A. Hiltzik: Dealers of Lightning. Xerox PARC and the Dawn of the Computer Age. New York: Harper Business, 1999, und Michael Friedewald: Der Computer als Werkzeug und Medium. Die geistigen und technischen Wurzeln des Personal Computers [1999]. 2. korr. Aufl. Berlin-Diepholz: GNT-Verlag, 2009, S. 237–355 sowie S. 381–383. 27 Alan C. Kay: »Computers, Networks and Education«. In: Scientific American 265.3 (1991), S. 138–148, hier S. 146. 25 26

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gaben unterstützen sollten.28 ›Intim‹ bedeutete in diesem Zusammenhang, dass sich die Denkprozesse des Anwenders in enger Relation zu den Affordanzen des Mediums Computer entwickeln sollten, sodass insgesamt eine Steigerung von abstrakten Problemlösungskapazitäten, aber auch von Kreativität und künstlerischem Ausdruck in Aussicht gestellt wurde. Eine besondere Rolle sollte dabei die Fähigkeit des Computers zur Erstellung dynamischer Simulationsmodelle spielen, die die Vorstellungskraft des Anwenders unterstützen könnten.29 Computer und Anwender treten in den Entwürfen am PARC als partnerschaftliche Einheit auf, wozu unter anderem an computerwissenschaftliche Zielvorstellungen wie J. C. R. Lickliders »man-computer symbiosis« und Douglas Engelbarts »augmentation of human intellect« angeschlossen wird.30 Sowohl in der Fachpresse als auch in verschiedenen computer wissenschaftlichen Projekten der 1990er und 2000er Jahre wurde intimate computing als Schlagwort oder als konkretes Designziel in den Folgejahrzehnten aufgegriffen.31 Kays Vorstellung von Medialität ist eng mit dem Aspekt der Intimität verflochten: Erst der intimate computer – und nicht bereits der Computer in Gestalt einer unpersönlichen Rechenmaschine – ist im vollen Sinne ein Medium, insofern seine Botschaft von den BenutzerInnen internalisiert werde. »When he [Marshall McLuhan in Understanding Media, TK] said ›the medium is the message‹ he meant that you have to become the medium if you use it.«32 Als Analogie zu diesem Vorgang verweist Kay auf die Beziehung eines Musikers zu seinem Instrument: Diesem sei klar, dass die Musik nicht im Klavier verortet ist, sondern sich erst aus einer Relation ergibt, innerhalb derer das Instrument

28 Vgl. Alan C. Kay u. Adele Goldberg: »Personal Dynamic Media«. In: Noah WardripFruin u. Nick Montfort (Hg.): The New Media Reader. Cambridge, Mass.: MIT Press, 2003, S. 393–404. 29 Vgl. Kay: »Computers, Networks and Education« (wie Anm. 27), S. 146–148. 30 Vgl. Joseph C. R. Licklider: »Man-Computer Symbiosis«. In: IRE Transactions on Human Factors in Electronics 1 (1960), S. 4–11, und Douglas C. Engelbart: Augmenting Human Intellect. A Conceptual Framework. SRI Project 3578 for Air Force Office of Scientific Research. Menlo Park, Cal.: Stanford Research Institute, 1962. 31 Für eine Auseinandersetzung mit der Diskursgeschichte des intimate computing mit einem stärkeren Fokus auf der Genealogie einer Intimisierung von Nutzerschnittstellen vgl. Timo Kaerlein: »Intimate Computing. Zum diskursiven Wandel eines Konzepts der Mensch-Computer-Interaktion«. In: Zeitschrift für Medienwissenschaft 2 (2016), S. 30–40. 32 Alan C. Kay: »User Interface – A Personal View«. In: Randall Packer u. Ken Jordan (Hg.): Multimedia. From Wagner to Virtual Reality. New York: Norton, 2001, S. 121–131, hier S. 124.

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die Rolle eines Verstärkers und Ausdrucksmittels übernimmt: »Computers can amplify yearnings in ways even more profound than can musical instruments«.33 In Kays Sicht ist der Computer als persönliches Medium also bereits Teil eines ästhetischen Paradigmas, weil er primär dem Ausdruck und der anschließenden Vermittlung von Ideen und Vorstellungen dienen sollte. Zu diesem Paradigma gehört produktionsseitig, dass sich der avisierte Umgang mit dem PC an bestimmten Gestaltungsprinzipien ausrichten sollte, die aus entwicklungspsychologischer Perspektive als lernförderlich erachtet wurden.34 Unter anderem entwickelte Kay die Idee der Nutzung des PCs im Zuge einer user illusion, d. h. die Erzeugung einer möglichst konsistenten Umgebung, die die Anwender bei ihrer Interaktion mit dem System anleiten und für die erfolgreiche Durchführung von Aufgaben belohnen sollte.35 Aus Kays Perspektive bestand kein Zweifel, dass die Aufgabe zur Integration von Informationstechnik und menschlichen Anwendern dem Interface-Design zufallen müsse: »The user interface design will be the critical factor in the success of this new way to work and play on the computer.«36 Das Design von Software und Interfaces mit dem Ziel der Nutzerfreundlichkeit sei dabei im Grunde vergleichbar mit der Aufgabe eines Dramaturgen im Theater und erschöpfe sich nicht in der Programmierung berechenbarer Operationen.37 Besonders hebt Kay auf die Herausforderung ab, eine neue Ästhetik für Computersoftware zu finden, die gleichzeitig einen Beitrag zur Komplexitätsreduktion leisten müsse.38 Es ist diese Auffassung der Computernutzung als hybride ästhetisch-rationale Praxis, die bis in das heutige Design von Smartphones und vergleichbaren digitalen Nahkörpertechnologien nachwirkt, aber auch entscheidende Transformationen erfährt.

Kay: »Computers, Networks and Education« (wie Anm. 27), S. 138. Vgl. Kay: »User Interface« (wie Anm. 32), S. 125–129, wo der für grafische Gebrauchsoberflächen prägende Grundsatz des Doing with Images makes Symbols ausgehend von den Entwicklungstheorien Jean Piagets und Jerome Bruners begründet wird. 35 Vgl. ebd., S. 127–130 sowie ders.: »Computer Software«. In: Scientific American 251.3 (1984), S. 53–59, hier S. 54, wo die »user illusion« als »the simplified myth everyone builds to explain (and make guesses about) the system’s actions and what should be done next« bezeichnet wird. 36 Kay: »User Interface« (wie Anm. 32), S. 130f. 37 Vgl. Kay: »Computer Software« (wie Anm. 35), S. 54, sowie für die Entwicklung der Theatermetapher als Designansatz ausführlich Brenda Laurel: Computers as Theatre [1991]. 2. Aufl. Upper Saddle River, NJ: Addison-Wesley, 2014. 38 Vgl. Kay: »Computer Software« (wie Anm. 35), S. 55f. Als Positivbeispiel finden Tabellenkalkulationsprogramme Erwähnung. 33 34

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Ästhetisch imprägnierte Praktiken in der Human-Computer Interaction Kays personal dynamic media und die im Umfeld der Learning Research Group entstandene Idee des intimate computing können als prominente Beispiele für den u. a. von Andreas Reckwitz beschriebenen Übergang von einer auf Konsum basierenden Massengesellschaft zu einer postfordistischen Kreativökonomie gelten.39 Sie sind Teil einer (gegen)kulturellen Formation, die sich als Kritik an einer Massenästhetik versteht, wie sie im Konformismus der US-amerikanischen Nachkriegsgesellschaft das gängige Modell darstellte. In den 1960er und 1970er Jahren entstanden auf breiter Front neue Formen von Arbeit und Konsum sowie alternative Subjektivitätsentwürfe, die sich nicht immer mit den tatsächlichen Lebensbedingungen in Einklang bringen ließen. Der Personal Computer, das historische Resultat der Arbeiten am Xerox PARC in dieser Zeit, gilt bis heute als eine Schlüsseltechnologie der neuen Kreativökonomie, insofern er Individuen die Mittel an die Hand gibt, selbst z. B. Desktop Publishing zu betreiben, mit Designsoftware zu arbeiten oder Websites zu gestalten. In Reckwitz’ Modell stellt sich die Genealogie der Moderne als eine Serie von Ästhetisierungsschüben dar, die zu einer »Entdifferenzierung des Ästhetischen jenseits des Subsystems der Kunst« und zu seiner »Verzahnung mit Rationalisierungsprozessen« geführt haben.40 Während gerade soziologische Klassiker den Prozess der Modernisierung vornehmlich als formale Rationalisierung und Versachlichung beschrieben hätten, plädiert Reckwitz dafür, den Stellenwert ästhetischer Praktiken für die kulturelle Legitimation der Moderne anzuerkennen. Ästhetische Praktiken können als Aktivitäten verstanden werden, »in denen Sinne, Affekte und Interpretationen selbstreferenziell wer-

Vgl. Reckwitz: »Ästhetik und Gesellschaft« (wie Anm. 3), S. 38–42. Ebd., S. 31. Das Modell umfasst drei Phasen: 1. die bürgerliche Gesellschaft des 19. Jahrhunderts, innerhalb der sich die Kunst als eigenständiges gesellschaftliches Feld autonomisiert; 2. die bis ca. in die 1970er Jahre reichende Massengesellschaft, in der die Ästhetisierung weite Teile der Medien und des Konsums umfasst; 3. die aktuelle spät- oder hypermoderne Epoche, in der es zu einer ästhetischen Aktivierung sämtlicher Gesellschaftsbereiche kommt, insbesondere in den ökonomischen Sphären der Produktion und des Designs. Diese dritte Phase wird auch als postfordistisch bezeichnet und sie ist in ihren zentralen Merkmalen von der digitalen Kultur geprägt. Für die Darstellung der drei Phasen vgl. ebd., S. 31–42. 39 40

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den und sich von der Unterordnung unter zweckrationales oder normatives Handeln lösen«.41 Sie treten »in einer sozial regulierten Form, routinisiert oder gewohnheitsmäßig« auf, ihr Fokus liegt auf dem Erleben statt auf instrumentellem Handeln und sie enthalten »libidinöse Orientierungen«, d. h. sie sind nicht affektneutral.42 Als Mischtyp aus zweckrationalem Handeln und ästhetischer Orientierung bezeichnet Reckwitz sogenannte »ästhetisch imprägnierte Praktiken«,43 die im Zusammenhang mit bestimmten Subjektivierungsweisen, Artefakten und Diskursen stehen. Solche Praktiken kennzeichnen vielfach das professionelle Umfeld der Kreativbranchen und sie sind ebenso charakteristisch für die Interaktion mit Computern mittels grafischer Gebrauchsoberflächen und anderer möglichst intuitiver Interfaces. Speziell das seit den 1980er Jahren in der westlichen Kultur fest verankerte Kreativitätsdispositiv antwortet in Reckwitz’ Darstellung auf den Affekt- und Motivationsmangel der organisierten Moderne und ihrer an bürokratischen Gesichtspunkten ausgerichteten Angestelltenkultur.44 Als »Schnittmenge zwischen Ästhetisierungen und den sozialen Regimen des Neuen« sorge das Kreativitätsdispositiv dafür, dass ästhetische Prozesse eine soziale Aufwertung erfahren und zur kulturellen Legimitierung anderer Prozesse beitragen können.45 Die »Herstellung und den Gebrauch faszinierender Objekte durch faszinierte Subjekte«46 sieht Reckwitz als Merkmale einer Ästhetisierung des Ökonomischen, die u. a. eine Kompensationsfunktion innehabe und die Subjekte zur Teilhabe an der rational-technologischen Moderne motiviere. Wichtig ist hier allerdings der Zusatz, dass die Ästhetisierung kein Prozess ist, der lediglich als Anreiz- und Motivationsstruktur bestehenden Strukturen, Organisationen und Praktiken übergestülpt wird, sondern dass mit der Ausweitung der Ästhetisierung grundsätzlicher eine Transformation bestehender Kategorien wie Arbeit und Freizeit zur Debatte steht. Diese Transformation ist am ehesten mit dem schillernden Begriff des Spiels einzufangen, der bereits im Rahmen der ästhetischen Theorie als Kampfbegriff gegen eine rein instrumentelle Vernunft ins Feld geführt wurde, in gegenwärtigen Entwicklungen wie

Ebd., S. 13. Ebd., S. 26f. 43 Ebd., S. 30. [Herv. i. Orig.] 44 Vgl. Andreas Reckwitz: Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung. 3. Aufl. Berlin: Suhrkamp, 2013, S. 313–319. 45 Ebd., S. 20. 46 Ebd., S. 197. 41 42

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dem Management- und Vermarktungsprinzip der gamification allerdings eine leistungsorientierte Neubewertung erfährt.47 Im Anschluss an Reckwitz lassen sich die HCI-Entwicklungen am Xerox PARC in den 1970er Jahren als für spätmoderne Gesellschaften charakteristische Verschränkung von Rationalisierungs- und Ästhetisierungsprozessen beschreiben. In erster Linie zielte die als Leitbild angestrebte man-computer symbiosis auf Leistungs- und Produktivitätszuwachs, durch die Computerisierung sollten Tätigkeiten zudem effizienter und transparenter werden sowie Arbeitsabläufe übergreifend optimiert werden können.48 Auch mit Douglas Engelbarts Rahmenwerk zu einer augmentation of human intellect wurde primär eine absolute Erweiterung kognitiver Kapazitäten durch technische Hilfsmittel verfolgt, um den komplexen Herausforderungen in wissensintensiven Arbeitsfeldern zu begegnen.49 Die von der Xerox Corporation propagierte Idee des Büros der Zukunft markierte eine Zielvorstellung, an der sich die konkreten Einzelinitiativen ausrichten konnten. Gleichzeitig stellte sich das neue Problem, dass mit der erwarteten Popularisierung der Computertechnik jenseits von Expertenkreisen Wege gefunden werden mussten, Laienanwender an die neuen Affordanzen des Mediums Computer heranzuführen. Exakt an dieser Stelle dienen Ästhetisierungsstrategien als Scharnier, insofern »die formale Rationalisierung […] unter spätmodernen Bedingungen vollends auf Ästhetisierungsprozesse angewiesen [ist], um die Subjekte zur Teilnahme zu motivieren und sich zu legitimieren«.50 Kays Idee der user illusion und die Metapher des virtuellen Desktops machen den mit der Computerisierung von Arbeitsprozessen auf breiter Front realisierten Rationalisierungsprozess affektiv anschlussfähig. Bunte icons laden zum Drag & Drop ein, USB-Hardware läuft automatisch per Plug & Play, der digitale Schreibtisch lockt mit freundlichen Farben und animierten Bildschirmschonern, zum Löschen von Dateien werden diese in einen symbolischen Papierkorb geworfen.51 Der verbreitete Umgang mit PCs weist mindestens einen sekundären Spielcharakter im 47 Vgl. Herbert Marcuse: Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft [1964]. 21. Aufl. Darmstadt: Luchterhand, 1987, sowie kritisch zum gesellschaftlich-ökonomischen Phänomen der gamification Mathias Fuchs et al. (Hg.): Rethinking Gamification. Lüneburg: meson press, 2014. 48 Vgl. Licklider: »Man-Computer Symbiosis« (Anm. 30). 49 Vgl. Engelbart: Augmenting Human Intellect (Anm. 30), S. 102f. 50 Reckwitz: »Ästhetik und Gesellschaft« (wie Anm. 3), S. 41. 51 Vgl. zum Rollenspiel-Aspekt grafischer Gebrauchsoberflächen Britta Neitzel: »Spielerische Aspekte digitaler Medien. Rollen, Regeln, Interaktionen«. In: Caja Thimm (Hg.):

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Sinne Johan Huizingas auf, wenn der Computer nicht gar als explizites Spielgerät Verwendung findet.52 Dass der Umgang mit Computern besonders seit den HCI-Innovationen der 1960er und 1970er Jahre insgesamt spielförmig und damit einem ästhetischen Paradigma folgend organisiert ist, wurde von verschiedenen Beobachtern angemerkt.53 So stellt Britta Neitzel fest: »Das Spielerische durchdringt die digitalen Medien in Hinblick auf durch Programme geregelte Möglichkeiten des Gebrauchs, die durch diese Programme geregelte Interaktion, das Spiel mit Visualisierungen und Rollen und Partizipationsangebote.«54 Daniel Cermak-Sassenrath vergleicht systematisch die Merkmale von Spielen und den Umgang mit Computern, wobei unter Umgang »die alltägliche, produktive, zielgerichtete, explorative, kreative Benutzung von Anwendungssoftware gemeint [ist]; nicht Computerspiel, der Bau von hardware oder die Programmierung von software«.55 Er stellt fest, dass es starke formale Ähnlichkeiten zwischen digitaler Interaktivität und Spiel gibt, die sich »im Ausprobieren, Probehandeln und explorativen Lernen […] zeigen«56. Das Spiel sei deshalb als Design-Metapher für die HCI geeignet, weil damit Aspekte der individuellen Nutzerhaltung betont werden, die für den Umgang mit dem Computer generell üblich sind. Insbesondere das selbstbestimmte Lernen in der Interaktion mit dem Computer sowie sämtliche kreativen Prozesse, an denen er als Mittler beteiligt ist, fördern die Spielhaltung beim Anwender.57

Das Spiel. Muster und Metapher der Mediengesellschaft. Wiesbaden: VS, 2010, S. 107–125, hier S. 121. 52 Vgl. Johan Huizinga: Homo ludens. Versuch einer Bestimmung des Spielelementes der Kultur [1938]. 3. Aufl. Amsterdam: Pantheon, 1940, S. 321: »Beschäftigungen, die in einem materiellen Interesse, in einer Notwendigkeit oder einem Bedürfnis ihre Ursache haben, also anfänglich nicht die Spielform zeigen, entwickeln sekundär einen Charakter, den man schwerlich anders als Spielcharakter nennen kann.« 53 Vgl. Sibylle Krämer: »Werkzeug – Denkzeug – Spielzeug. Zehn Thesen über unseren Umgang mit Computern«. In: Heinz Ulrich Hoppe u. Wolfram Luther (Hg.): Informatik und Lernen in der Informationsgesellschaft. Berlin u. Heidelberg: Springer, 1997, S. 7–13; Neitzel: »Spielerische Aspekte digitaler Medien« (wie Anm. 51) und Daniel CermakSassenrath: Interaktivität als Spiel. Neue Perspektiven auf den Alltag mit dem Computer, Bielefeld: transcript, 2010. 54 Neitzel: »Spielerische Aspekte digitaler Medien« (wie Amm. 51), S. 123f. 55 Cermak-Sassenrath: Interaktivität als Spiel (wie Anm. 53), S. 13. 56 Ebd., S. 88. 57 Vgl. ebd., S. 198–204. Der Grad an ›playfulness‹ im Umgang mit dem Computer steigt sogar noch mit zunehmender Expertise, erschöpft sich also nicht im amateurhaften Herumprobieren.

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Ich möchte die These verfolgen, dass mit dem Smartphone als miniaturisierter Computertechnik der Trend zum Spielerischen, zur Ästhetisierung von Interfaces und der sog. user experience noch stärker in den Vordergrund rückt als beim Desktop-PC und dass diese Entwicklung nicht losgelöst davon zu sehen ist, wie die mobile Computertechnik an der Rationalisierung und Ökonomisierung von Abläufen in Freizeit wie Beruf beteiligt ist. Abschließend möchte ich daher darauf fokussieren, wie im aktuellen Sprachgebrauch von Designern und Werbetreibenden die Rhetorik eines intimate computing zur Bezeichnung des Mensch-Computer-Verhältnisses im Umgang mit digitalen Nahkörpertechnologien in abgewandelter Form wiederkehrt. Dabei gilt es vor allem herauszuarbeiten, welche Funktion diese Rhetorik und die damit verbundenen Interface-Strategien erfüllen, d. h. inwiefern sie dazu geeignet sind, als Techniken der Teilnahmemotivierung vor dem Hintergrund des politisch-ökonomischen Settings des Postfordismus bzw. kognitiven Kapitalismus zu wirken.58 Im Anschluss an Alexander Galloway und Jan Distelmeyer geht es also um von Interfaces aufgeworfene Fragen, die politische Interpretationen verlangen.59

Das Smartphone als intimate computer. Von der ästhetischen Faszination einer Technik der Teilnahmemotivierung zur Anästhetik von Datenprozessen Mathias Glatter, Chief Operating Officer der Medienagentur Initiative Deutschland, verkündet 2015 eine kommende neue Ära des Computing: »Wir stehen am Anfang eines ganz besonderen Zeitalters für Medien – dem Zeitalter des ›Intimate Computing‹. Unsere emotionale und physische Nähe zur Techno-

58 Zum kognitiven Kapitalismus als »Akkumulationssystem, das hauptsächlich auf Wissen beruht« vgl. Yann Moulier-Boutang: »Marx in Kalifornien. Der dritte Kapitalismus und die alte politische Ökonomie«. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 52–53 (2001), S. 29–37, hier S. 30. [Herv. i. Orig.] In diesem ökonomischen System werden Information und Kommunikation zu den zentralen Elementen der Wertschöpfung. 59 Vgl. Alexander R. Galloway: The Interface Effect, Cambridge, Mass.: Polity Press, 2012, S. 75, und Distelmeyer: Machtzeichen (wie Anm. 11), S. 127f.

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logie wird enger als jemals zuvor.«60 Peter Schwartz, US-amerikanischer Futurist und Strategieberater beim Cloud-Computing-Anbieter Salesforce.com, prophezeit ein Zeitalter des »intimate computing« bis 2020 und versieht seine Prognose mit dem Zusatz: »[E]nvironments and networks will know a lot about you«.61 An anderer Stelle führt er aus: »It’s basically the last stage of personal computing, from ‹we know the computer but the computer doesn’t know anything about us›, to it going both ways. The computer will be able to organize your life because it knows you intimately.«62 Christian Lindholm, auf digitale Mobilmedien spezialisierter Industrieberater, spricht im Oktober 2013 von einem sich anbahnenden Paradigmenwechsel in dem Moment, »when the computer meets the physical body full of curves and personality«, also mit der massenmarkttauglichen Einführung von Wearables: »As these computers will have skin contact, they will have sensors, they will [sic!] driven by the individuals and their tastes, Intimate Computing sounded plausible.«63 Die Intimitätsrhetorik in der anbieterseitigen Beschreibung eines erstrebenswerten Mensch-Computer-Verhältnisses bei mobiler Computertechnik spielt – ohne dass es eine direkte Bezugnahme gäbe – mit den Konnotationen des historischen intimate computing-Ansatzes und überschreitet diese in Richtung einer affektiv aufgeladenen und ästhetisierten Interaktion mit nahkörperlicher Digitaltechnik. Stand in den Entwürfen am PARC allerdings noch die Ermächtigung eines durchaus emphatisch verstandenen Individuums im Zentrum der Bemühungen, das durch die Kopplung mit dem Computer mehr und anderes kreativ hervorbringen und leisten können sollte als zuvor, so vollzieht sich im gegenwärtigen Marketingdiskurs eine Umbewertung dessen, was unter Intimität verstanden wird. Der Anschluss an ein lernfähiges und weitge-

60 Mathias Glatter: »Intimate Computing. Im ›Hier und Jetzt‹ erfolgreich kommunizieren«, dort datiert am 13. November 2015. Auf: http://www.initiative-media.de/intimatecomputing-im-hier-und-jetzt-erfolgreich-kommunizieren/, zul. abgeruf. am 09. Dezember 2016. 61 Peter Schwartz, zit. n. Tom Murphy: »Computing Moves from Personal to Intimate #DF14«. Auf: CMS Wire, dort datiert am 13. Oktober 2014. Auf: www.cmswire.com/cms/ customer-experience/, zul. abgeruf. am 09. Dezember 2016. 62 Peter Schwartz, zit. n. Laura Fagan: »IT Visionaries: Futurist Peter Schwartz’s Tech Survival Guide for Next-Gen IT«. Auf: Salesforce Blog, dort datiert am 10. Dezember 2014. Auf: www.salesforce.com/blog/2014/12/it-visionaries-peterschwartz-tech-survivalguide-for-it.html, zul. abgeruf. am 09. Dezember 2016. 63 Christian Lindholm: »Designing Language. With Om’s Article the Intimate Computing Era Is Here, dort datiert 17. Oktober 2013 Auf: www.christianlindholm.com/ christianlindholm/2013/10/, zul. abgeruf. am 09. Dezember 2016.

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hend im Hintergrund operierendes System aus Sensoren, Datenbanken und Algorithmen soll hier garantieren, dass die Geräte den Nutzer besser kennen als er sich selbst. Gegenstand der anhaltenden Optimierungslogik sind nun weniger kognitive Prozesse als unwillkürliche körperliche Regungen vom Puls bis zur täglich zurückgelegten Schrittanzahl sowie Affekte und Stimmungen, die unterhalb der Ebene der subjektiven Verfügung liegen. Aufgrund seiner geringen Größe, hochentwickelter Sensorik und Muster erkennenden und verarbeitenden Algorithmen wird der intimate computer der Gegenwart zum lernfähigen Alltagsbegleiter, für dessen verlässliches Funktionieren eine zeitlich wie räumlich möglichst extensive Nutzung erforderlich ist. Gegenüber einem andernorts als übergreifendes Ziel ausgegebenen ›Verschwinden des Computers‹64 geht es beim zeitgenössischen intimate computing aber nicht vorrangig um eine Eskamotierung der Schnittstellen von System und Benutzer, sondern um die Herstellung besonders enger Kopplungen von Nutzer und Medium – sowohl in physischer Hinsicht als auch durch die möglichst passgenaue Abstimmung von Systemverhalten und Nutzerprofilen. Der Erfolg solcher Strategien lässt sich an dem eingangs zitierten Beispiel des Designblogs von Andrew Kim ablesen, dessen Schreiben über ausgewählte Computertechnik wiederum selbst zur kuratierend-ästhetischen Praxis wird.65 Lev Manovich hat auf die Umstellung des HCI-Designs von einem auf Unsichtbarkeit des Interfaces zielenden Ansatz zu einem user experience design (UXD) hingewiesen.66 Unter anderem berichtet der Autor – guilty pleasure des selbst der ästhetischen Faszination seines Gegenstands erliegenden Medientheoretikers –, dass er sein LG Chocolate ob des durchchoreografierten »mul-

64 Vgl. die EU-Forschungsinitiative The Disappearing Computer (seit 2001), die sich mit der Gestaltung von Post-PC-Interfaces auseinandersetzte. Siehe Norbert Streitz, Achilles Kameas u. Irene Mavrommati (Hg.): The Disappearing Computer. Interaction Design, System Infrastructures and Applications for Smart Environments. Berlin: Springer, 2007. 65 Mit Gernot Böhme: Ästhetischer Kapitalismus. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2016, S. 26f. kann man hier von ästhetischer Arbeit sprechen als Sammelbegriff für »alle menschlichen Tätigkeiten, die den Dingen, Menschen und Ensembles jenes ›Mehr‹ verleihen, das über ihre Vorhandenheit und Zuhandenheit, das über ihre Dinglichkeit und ihre Zweckdienlichkeit hinausgeht«. 66 Vgl. Lev Manovich: »The Back of Our Devices Looks Better than the Front of Anyone Else’s. On Apple and Interface Design«. In: Pelle Snickars u. Patrick Vonderau (Hg.): Moving Data. The iPhone and the Future of Media, New York: Columbia University Press, 2012, S. 278–286, hier S. 279f. Manovich verortet diesen Wandel erst am Ende der 1990er Jahre, während die Entwicklungen am PARC in den 1970er Jahren eindeutig als Vorläufer dieses breiteren Trends identifiziert werden können.

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timedia drama«67 der animierten Sequenz beim Starten des Geräts häufiger als nötig an- und ausschalte. Die von ihm heraus gearbeiteten Merkmale eines erfolgreichen UXD – die Dimension des Erlebens, die Selbstbezüglichkeit der verbundenen Praktiken, ihr spielerisches Moment, das emotionale Involvement der Konsumenten – lassen sich eindeutig als Beschreibung ästhetischer Praktiken im Sinne Reckwitz’ identifizieren. Als Begründung für diese Ästhetisierung der Interaktion führt Manovich die Veralltäglichung der Computertechnik an, d. h. insbesondere den Umstand, dass die Geräte zunehmend auch jenseits des Bürokontexts Verwendung finden. Damit komme es auch zu einer weitgehenden Konvergenz der Interfaces, die in beruflichen wie freizeitlichen Aktivitäten eine konsistente Nutzungserfahrung böten.68 Wenn die Interaktion mit Smartphones sich als ästhetisch imprägnierte Praxis identifizieren lässt, die kontextübergreifend eine einheitliche – und sensuell befriedigende – Nutzungserfahrung stiftet, dann verdeckt eben diese Ästhetisierung die Spezifika der jeweils verrichteten Tätigkeit. Was bereits für den PC galt, gilt für das Smartphone in besonderem Maße: Unabhängig davon, ob gerade eine öffentliche Nahverkehrsverbindung recherchiert, ein Mobile Game gespielt oder eine berufliche Email verschickt wird, es sind die gleichen Interfaces, Gesten und in einigen Fällen sogar die gleichen Software-Anwendungen, die dabei Verwendung finden. Der Übergang zwischen einer beruflichen und einer freizeitlichen Nutzung ist jedenfalls immer weniger an der Art und Weise des Mediengebrauchs festzumachen. Dies trägt zu einer in der Forschung zu mobilen Medien oft beschriebenen Verwischung der Grenzen von Freizeit und Beruf bei, die sich im Regelfall als Ausgreifen beruflicher Tätigkeiten in Transitzeiten und -räume realisiert.69

67 Lev Manovich: »Interaction as an Aesthetic Event«. In: receiver 17 (2006). Auf: http:// dm.ncl.ac.uk/courseblog/files/2011/03/Manovich_InteractionAsAestheticEvent.pdf, zul. abgeruf. am 10. Dezember 2016, S. 6. 68 Vgl. Manovich: »The Back of Our Devices« (wie Anm. 66), S. 279. 69 Vgl. u. a. Günter Burkart: Handymania. Wie das Mobiltelefon unser Leben verändert hat, Frankfurt a. M.: Campus, 2007, S. 70–76; Diana Gant u. Sara Kiesler: »Blurring the Boundaries. Cell Phones, Mobility, and the Line between Work and Personal Life«. In: Barry Brown, Nicola Green u. Richard Harper (Hg.): Wireless World. Social and Interactional Aspects of the Mobile Age. London: Springer, 2001, S. 121–131, und Judy Wajcman, Michael Bittman u. Jude Brown: »Intimate Connections. The Impact of the Mobile Phone on Work/Life Boundaries«. In: Gerard Goggin u. Larissa Hjorth (Hg.): Mobile Technologies. From Telecommunications to Media, New York: Routledge, 2009, S. 9–22.

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In eher designpraktischer Orientierung hat Genevieve Bell dazu angeregt, über die kulturellen Implikationen der Veralltäglichung eines intimate computing nachzudenken.70 Dieses stehe in einem engen Verhältnis zur ebenfalls am Xerox PARC entwickelten Vision des ubiquitous computing, d. h. der Annahme einer Verumweltlichung von Computertechnik, die zum unauffälligen Bestandteil der Umgebung werden solle.71 Beim intimate computing gehe es weniger um das effiziente Erledigen von Aufgaben, sondern um eine Ausweitung der Lebensbereiche – »such as family and interpersonal relationships, religion and devotional practices, sexual behaviors, medical well-being«72 –, in denen direkt am Körper getragene Computertechnik eine immer wichtigere Rolle spiele. Das Internet sei, so stellt Bell bereits 2004 fest, schon lange kein reines Informationsmedium mehr, sondern Schauplatz intimer Transaktionen und Praktiken, zu dem mobile Medien den wichtigsten Zugang darstellen. Diese Beobachtung lässt sich auch anders perspektiviert medienwissenschaftlich anschlussfähig machen: Was mit tragbarer Computertechnik auf sehr grundsätzliche Weise zur Debatte steht, ist das Projekt einer Veralltäglichung und auch räumlichen Ausweitung kybernetischer Prinzipien von Feedback und Kontrolle. Diese sind nicht mehr bloß in Expertenkreisen bzw. im Kontext von Spezialdiskursen relevant, sondern sie setzen an alltäglichen Verrichtungen an und stellen diese in umfassender Weise zur Disposition. Oft handelt es sich bei den betreffenden Prozessen um solche aus Bereichen, die bislang von Vorgängen der Verdatung ausgenommen waren. Wenn alltägliche Praktiken und Körpertechniken wie Gehen, Schlafen und Körperpflege zum Bestandteil informationeller Regelkreise, d. h. auf Grundlage von in der Vergangenheit erhobenen Daten verändert werden, bilden sie eine Datenbasis, an der Techniken der Optimierung, des Marketings, aber auch der Überwachung ansetzen können. Till Heilmann spricht in diesem Zusammenhang und im Anschluss an postoperaistische und marxistische Ansätze zur Netzwerkökonomie von der »technologischen Komplizenschaft der digitalen Medien an der fortschrei-

70 Vgl. Genevieve Bell: »Intimate computing?«. In: IEEE Internet Computing 8.6 (2004), S. 91–93. 71 Vgl. dies., Tim Brooke, Elizabeth Churchill u. Eric Paulos: »Intimate (Ubiquitous) Computing«. In: Proceedings of Ubicomp 2003, New York: ACM Press, 2003, o. S. 72 Bell: »Intimate Computing?« (wie Anm. 70), S. 91.

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tenden Expansion kapitalistischer Verwertung«.73 Damit ist gemeint, dass im Zuge der Proliferation computerbasierter Medien im Alltag eine auf Vollständigkeit zielende Erfassung von scheinbar trivialen Aspekten des Privatlebens vollzogen wird, die es erlaubt, ökonomische Prinzipien in bis dato unregulierten Bereichen einzuführen. In postfordistischen ökonomischen Zusammenhängen, in denen die Produktion und Verarbeitung von Wissen gegenüber der physisch-industriellen Produktion privilegiert wird, sei jede Aktion am Interface, auch wenn sie vordergründig nicht auf Arbeitsprozesse bezogen ist, verwertbar und damit potenziell profitabel.74 Heilmann nennt die einer Logik des capture (Philip E. Agre) folgende Interaktion mit (mobilen) computerbasierten Medien wie Smartphones ›Datenarbeit‹. Sie mache »einen großen Teil dessen aus, was wir mit unseren PCs, Notebooks, Tablets und Smartphones im Internet Tag für Tag tun. Überall löst das Surfen, um mit Gilles Deleuze zu sprechen, schon die alten Arbeitsformen ab.«75 In einer auf die Produktion von Zeichen und sinnlichen Reizsequenzen ausgerichteten Ökonomie rücken Medien ins Zentrum der Wertschöpfung. Dies schließt auch vermeintlich jenseits der Sphäre der Arbeit liegende Aktivitäten in den social media und andere Formen des user-generated content mit ein.76 Diese Dimension einer »strategische[n] Ausweitung der Verwertungszone«77 wird weder von Bell noch von Manovich thematisiert, wenn sie beobachten, dass der Umgang mit Compu-

Till A. Heilmann: »Datenarbeit im ›Capture‹-Kapitalismus. Zur Ausweitung der Verwertungszone im Zeitalter informatischer Überwachung«. In: Zeitschrift für Medienwissenschaft 2 (2015), S. 35–47, hier S. 37. 74 Damit ist keineswegs die Lesart intendiert, physische Lohnarbeit und materielle Infrastrukturen der Telekommunikation würden im Postfordismus keine Rolle mehr spielen. Vielmehr stehen die Verwertungsprozesse im Umgang mit computerbasierten Medien in einem komplexen Abhängigkeitsverhältnis von traditionelleren Formen der kapitalistischen Produktion. Vgl. hierzu u. a. Moulier-Boutang: »Marx in Kalifornien« und Enda Brophy u. Greig de Peuter: »Labors of Mobility. Communicative Capitalism and the Smartphone Cybertariat«. In: Andrew Herman, Jan Hadlaw u. Thom Swiss (Hg.): Theories of the Mobile Internet. Materialities and Imaginaries. New York: Routledge, 2015, S. 60–84. 75 Heilmann: »Datenarbeit« (wie Anm. 73), S. 43. Zum skopischen Überwachungsregimen entgegengestellten Kalkül des capture vgl. Philip E. Agre: »Surveillance and Capture. Two Modes of Privacy«. In: Wardrip-Fruin et al. (Hg.): The New Media Reader (wie Anm. 28), S. 737–760. 76 Vgl. Nigel Thrift: Non-Representational Theory. Space, Politics, Affect. London: Routledge, 2008, S. 33: »[C]onsumption is no longer a passive terminus but a complicit and creative relay in the production of capitalism.« 77 Heilmann: »Datenarbeit« (wie Anm. 73), S. 44. 73

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tern lediglich von arbeits- und berufsbezogenen Kontexten in einen ausgedehnten Bereich alltäglicher Praktiken diffundiere. In vergleichbarer Stoßrichtung wie Heilmann argumentiert auch der in der postoperaistischen Tradition stehende Franco Berardi, dass bereits mit der Diffusion von Mobiltelefonen eine Reorganisation des Arbeitsprozesses vonstattengehe, weil die digitale Vernetzung eine zeitliche wie räumliche Ausdehnung von Informationsarbeit erlaube: In a certain sense, cellular phones realize the dream of capital: that of absorbing every possible atom of time at the exact moment the productive cycle needs it. In this way, workers offer their entire day to capital and are paid only for the moments when their time is made cellular.78

Parallel zu diesem umfassenden Rationalisierungsprozess beobachtet Berardi eine massive affektive Aufwertung von Arbeit im sogenannten kognitiven Kapitalismus: Wissensarbeit werde selten als entfremdend wahrgenommen, sondern im Gegenteil narzisstisch besetzt und eng mit der Identitätskonstruktion verknüpft.79 Die neue Liebe zur Arbeit spiegelt sich, so lässt sich an Berardi anknüpfen, in der ästhetischen Haltung gegenüber den intimate computers der Gegenwart, die als faszinierende Objekte eine Technik der Teilnahmemotivierung darstellen. Die Konnotationen von Intimität verschieben sich hier von einer Relation der Vertrautheit und Expertise – wie sie Alan Kay in seinem Vergleich des Computers mit einem Musikinstrument nahelegte – zu einer ästhetischen Strategie der Kopplung von Subjekten und Artefakten, die nicht mehr primär auf die Ebene der Kognition zielt, sondern vielmehr auf die weitgehende Habitualisierung eines spielerischen Gebrauchs nahkörperlicher Medientechnik. Aus dem kognitiven, auf Wissensprozesse zentrierten Kapitalismus wird schließlich laut aktueller Diagnosen ein ästhetischer oder affektiver Kapitalismus, d. h. die angesprochene Ausweitung der Verwertungsbereiche wird

78 Franco Berardi: The Soul at Work. From Alienation to Autonomy. Los Angeles: Semiotext(e), 2009, S. 90. 79 Vgl. ebd., S. 96: »Capital was able to renew its psychic, ideological and economic energy, specifically thanks to the absorption of creativity, desire, and individualistic, libertarian drives for self-realization.« Vgl. zur Umwertung von Arbeit nach dem Vorbild eines künstlerisch-expressiven und projektbasierten Modells ausführlich Luc Boltanski u. Ève Ciapello: Der neue Geist des Kapitalismus [1999]. Konstanz: UVK, 2003.

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begleitet von einer »Orientierung an affektiver Intensität«.80 Zwar gilt diese Bestimmung für das Produktdesign insgesamt, dennoch ist sie im Fall computerbasierter mobiler Medien wie Smartphones von einer besonderen Brisanz: Die ästhetische Faszination, die diesen Objekten entgegengebracht wird, ist nicht losgelöst von ihren weiteren medialen Qualitäten, insbesondere ihrer Kapazität zum Aufzeichnen, Speichern und Prozessieren von Interaktionssequenzen zu sehen. Statt also bloß sinnlich besonders ansprechende Objekte zu sein, dienen Smartphones auch als Interfaces gegenüber einem ökonomisch verfassten Rückraum der Datenauswertung, in dem jede Berührung des Touchscreens zum Optimierungsparameter gerät, der in die Gestaltung von Arbeitsabläufen oder in das Design des Angebots einfließen kann.81 Die ästhetisierte Interaktion mit den intimate computers der Gegenwart trägt so u. a. dazu bei, Kundenprofile iterativ anzureichern und auf diese Weise die Produktgestaltung eng mit den sich wandelnden Bedürfnis- und Begehrensdispositionen rückzukoppeln.

Schluss Alan Kay verstand die Aufgabe zukünftiger Interface-Designer noch 1984 als eine »romance with the material«, wie sie für die Künste und Wissenschaften in der Auseinandersetzung mit dem Neuen und Unbekannten charakteristisch sei.82 »I have always believed that of all the ways to approach the future, the vehicle that gets you to the most interesting places is Romance.«83 Gerade die Idee des Werkzeugs sei romantisch besetzt, so Kay, wenn es explorativ eingesetzt werde und dadurch im Zuge der Verwendung neue unvorhergesehene Möglichkeiten eröffne.84 Mit der Idee eines intimate computing

80 Reckwitz: Die Erfindung der Kreativität (wie Anm. 44), S. 195. Vgl. weiterhin Böhme: Ästhetischer Kapitalismus (wie Anm. 65). 81 Vgl. für eine kybernetische, d. h. Prozesse der Rückkopplung beschreibende Sichtweise auf Apparate bereits Vilém Flusser: Für eine Philosophie der Fotografie [1983]. 7. Aufl. Göttingen: European Photography, 1994, S. 40. 82 Kay: »Computer Software« (wie Anm. 35), S. 54. 83 Kay: »User Interface« (wie Anm. 32), S. 131. 84 Sherry Turkle hat bereits früh das hier von Kay propagierte nicht-instrumentalistische Verhältnis zum Computer dahingehend kritisiert, dass es insbesondere die männlich dominierte Sphäre des Hackers kennzeichne. In der Computerbranche tätigen Frauen

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als Relation der Vertrautheit und intimen Kenntnis des Mediums haben aktuelle Bezugnahmen nur noch wenig gemein, wenn sie auch – wie die vorangegangene Herleitung gezeigt hat – zumindest der Herkunft nach verwandt sind. Die Romanze mit dem Computer ist heute allerdings nicht mehr primär Sache von Designern und Programmierern, sondern sie ist zur ubiquitären sozialen Praxis und zum kulturellen Topos geworden.85 Als affektiv aufgeladene Interaktion mit digitalen Nahkörpertechnologien, deren Interfaces Vertraulichkeit und Nähe suggerieren, hat das intimate computing der Gegenwart nicht zuletzt die Funktion, die Anwender als Kunden und Angestellte an ein technisches Dispositiv zu binden, in dem Ästhetisierungs- und Rationalisierungsprozesse zusammenlaufen. Speziell der Smartphone-Gebrauch trägt – wie dargelegt wurde – die Züge einer ästhetisch imprägnierten Praxis und nicht selten auch die sozialpsychologische Signatur einer postsozialen Beziehung, also eines von wiederkehrenden Erregungszuständen gekennzeichneten Objektverhältnisses, das als neuer Handlungs- und Erfahrungsraum neben klassischere Formen von Sozialität tritt.86 Ziel meines Beitrags war es, anhand der Herkunft und jüngsten Transformationen der Vorstellung des intimate computing aufzuzeigen, wie die kombinierte Ästhetisierung und Intimisierung von Interfaces sich zu dominanten Strategien der Adressierung und Bindung im ästhetischen Kapitalismus entwickelt haben. Die Smartphone-Ästhetik wird vor diesem Hintergrund zu einem politischen Thema und die Gestaltung von Interfaces für digitale Nahkörpertechnologien zur gesellschaftlich relevanten Praxis.

gehe es dagegen eher darum, so die Ergebnisse von Turkles Befragung von Teilnehmerinnen an Computer Science-Kursen des MIT und der Harvard University, eine sachliche Sicht auf ihre Arbeitsgeräte zu entwickeln und damit jede Konnotation von Romantik und Intimität zwischenmenschlichen Beziehungen vorzubehalten. Vgl. Sherry Turkle: »Computational Reticence. Why Women Fear the Intimate Machine«. In: Cheris Kramarae (Hg.): Technology and Women’s Voices. New York: Pergamon Press, 1986, S. 41-61. 85 So berichtete die New York Times in einem Artikel von Dezember 2011 von Paarbeziehungen, die aufgrund der unterschiedlichen Gerätepreferenzen der Partner großen Belastungen ausgesetzt seien, die u. a. auf »gender disparities in gadget choices« zurückgeführt werden. Vgl. Pamela Paul: »Devisive Devices«. In: The New York Times, 07. Dezember 2011. Auf: http://www.nytimes.com/2011/12/08/fashion/when-couples-find-gadgetsinterfere-with-harmony.html?_r=1&emc=tnt&tntemail1=y, zul. abgeruf. am 10. Dezember 2016. 86 Vgl. Karin Knorr-Cetina: »Sozialität mit Objekten. Soziale Beziehungen in posttraditionalen Wissensgesellschaften«. In: Werner Rammert (Hg.): Technik und Sozialtheorie. Frankfurt a. M.: Campus, 1998, 83–120, hier S. 109.

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Rooting, Custom-ROMs und Jailbreaks Eine ästhetische Rückeroberung der Macht Patrik Tschudin: »If you had three wishes for pop culture today, what would they be?« Malcolm McLaren: »Well, first wish is: do not pray to it, look down on it, trample on it, destroy it and take from its ruins what you want and rebuild something better.« Patrik Tschudin, ArtCast featuring Malcolm McLaren1

Fernab einer möglichen Diskussion, ob Smartphones als ein Teil der zeitgenössischen Popkultur angesehen werden können, offenbart der vorangestellte Ausschnitt aus einem Interview mit Malcolm McLaren, dem ehemaligen Manager der Sex Pistols, eine nicht abzuweisende Parallele zu einer Formulierung aus der Einleitung des XDA Developers’ Android Hacker’s Toolkit von Jason Tyler und Will Verduzco: »The iPhone shackles the user, with its closed source code and ecosystem ruled with an iron fist. Android, on the other hand, frees developers to tear apart and rebuild nearly every aspect of the user’s experience with the operating system.«2 Während die von McLaren für die Popkultur gewünschte Destroy’n’Rebuild-Mentalität im ästhetischen3 ›Mehrwert‹ des Patrik Tschudin: »ArtCast featuring Malcolm McLaren«. Auf: Archive.org, dort datiert am 18. Juli 2005. Auf: http://ia600307.us.archive.org/6/items/Interview_with_Malcolm_ McLaren/ac2005718.mp3, zul. abgeruf. am 26. Februar 2018. 2 Jason Tyler u. Will Verduzco: XDA Developers’ Android Hacker’s Toolkit. The Complete Guide to Rooting, ROMs and Theming. Hoboken: John Wiley & Sons, 2012, S. 1. 3 Im Folgenden verstehe ich den Begriff der ›Ästhetik‹ sowohl als eine schöpferische Handlung (Vgl. Karlheinz Barck: »Ästhetik/ästhetisch«. In: ders., Hg: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Stuttgart u. Weimar: J.B. Metzler, 2000, S. 308–383) als auch nach Wolfgang Welsch als Aisthetik, »als Thematisierung von 1

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Endergebnisses kulminiert, das durch die neue Zusammenstellung der früheren Elemente am Ende »something better« darstelle und damit vage formuliert bleibt, wird das mögliche Endergebnis im genannten Complete Guide to Rooting, ROMs and Theming wesentlich expliziter beschrieben: So lasse das Android Betriebssystem (= operating system, kurz OS) Entwicklerinnen4 im Gegensatz zum Apple Betriebssystem iOS die Freiheit, jeglichen Aspekt der Nutzung zu gestalten, sofern man einen »›root‹ access«5 auf das Gerät habe. Was wie ein schier endloser Baukasten an Möglichkeiten zur Erweiterung der Ästhetik eines, zumindest Android-, Smartphones klingt, soll im Folgenden diskutiert werden. Hierbei werde ich den Akt des Rooting genauer darstellen und in Relation zu der Funktionsweise des Smartphones setzen, um dadurch diese Prozedur sowohl zu erläutern als auch die oben erwähnte Erweiterung der Ästhetik zu exemplifizieren. Dabei werde ich aufzeigen, inwieweit das Rooting des Android OS,6 die Nutzung von unabhängigen Betriebssystemen (= Custom-ROMs) sowie der Akt des Jailbreaks7 des iOS als Praktiken einer ästhetischen Rückeroberung der Macht nach dem Verständnis von Byung-Chul Han gelesen werden können, bei der die Nutzerin durch die Erweiterung der, respektive den Zugriff auf alle, Handlungsmöglichkeiten des Smartphones die Restriktion dieser Funktionen seitens der Herstellerinnen überwinden kann. Diese scheinbare Adaption des Robin-Hood-Stoffes für das 21. Jahrhundert soll dabei jedoch im Kontext des von Gernot Böhme beschriebenen Ästhetischen Kapitalismus8 besprochen werden, um damit auch Wahrnehmungen aller Art, sinnenhaften ebenso wie geistigen, alltäglichen wie sublimen, lebensweltlichen wie künstlerischen« (Wolfgang Welsch: Ästhetisches Denken. Stuttgart: Reclam, 2010, S. 9f.). 4 Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird auf die gleichzeitige Verwendung männlicher und weiblicher Sprachformen verzichtet und stattdessen stets die weibliche Form genutzt. Sämtliche Personenbezeichnungen gelten gleichwohl für beiderlei respektive alle Formen der Geschlechter. 5 Tyler/Verduzco: Android Hacker’s Toolkit (wie Anm. 2), S. 1. 6 Da der Marktanteil der weiteren Betriebssysteme (wie z. B. des Windows Phone) mit 0,2 % im ersten Quartal 2017 derart gering ist, werde ich mich im Folgenden nur das Android OS und iOS betrachten. (Vgl. IDC: »Smartphone OS Market Share, 2016 Q3«. Auf: IDC.com, dort datiert am Mai 2017. Auf: http://www.idc.com/promo/smartphonemarket-share/os, zul. abgeruf. am 26. Februar 2018). 7 Jailbreak hat sich als Äquivalent zur Begrifflichkeit des Rooting für das Apple Betriebssystem iOS entwickelt. Obwohl die Herangehensweise die gleiche ist, möchte ich es nachfolgend gesondert betrachten, da gerade die Metapher des Gefängnisausbruchs Möglichkeiten weiterer Überlegungen im Kontext dieses Artikels offenbart. 8 Vgl. Gernot Böhme: Ästhetischer Kapitalismus. Berlin: Suhrkamp, 2016.

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im steten Rückgriff auf den Machtbegriff zu problematisieren, ob hier überhaupt von einer Verschiebung der Kausalität der Macht gesprochen werden kann. Um nun an erster Stelle den Gegenstand des Smartphones ganz nach McLaren zum Einsturz bringen zu können, werden ich diesen an erster Stelle begrifflich und deskriptiv fassbar machen.9

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I can see right through your plastic mac: Firmware und Root-Zugriff

Als die drei Grundelemente eines Smartphones, die zur kompletten Funktionalität des Geräts beitragen, können die Hard-, Soft- und die Firmware genannt werden: (1.) Die Hardware umfasst alles, was als die physikalische Materialität eines Smartphones10 beschrieben werden kann und zur oberflächlichen ästhetischen Erfahrung des Gerätes beiträgt. Dazu gehören z. B. das Gehäuse, der Akku, aber auch kleinteiligere, durch Gehäuseteile verdeckte, Elemente wie der Prozessor, der Speicher etc. und somit alles, was mit den menschlichen Sinnen wahrgenommen wird.11 (2.) Software, in einer weit gefassten Definition, kann alles beinhalten, was nicht zur Hardware gehört und somit nicht physikalisch erfassbar ist; stattdessen ist sie immateriell. Eine der gängigen Definitionen stammt von Günter Rothhardt, der Software als »die Gesamtheit von Informationen [ansieht], die man der Hardware hinzufügen muß, damit das so entstandene Computersystem für ein definiertes Aufgabenspektrum nutzbar wird«12. Software dient in Hierbei möchte ich anfangs explizit die technischen Aspekte in den Mittelpunkt der Beschreibung stellen, da eine Diskussion ohne die Thematisierung dieser das Smartphone zu einer Black-Box werden ließe, was konträr zum Akt des Rooting selbst steht und daher vermieden werden soll. 10 Im Folgenden werde ich das definitorische Netz an technischen Formulierungen nicht stetig über alle möglichen Geräte spannen, auf die diese Begriffe bezogen werden können, sondern mich im Wesentlichen auf das für diesen Sammelband grundlegende technische Gerät konzentrieren: das Smartphone. Wenn somit von Hard-, Soft-, Firmware etc. gesprochen wird, meine ich dies stets in Verbindung zum Smartphone. 11 Vgl. Per Christensson: »Hardware Definition«. Auf: TechTerms, dort datiert am 05. Dezember 2006. Auf: http://techterms.com/definition/hardware, zul. abgeruf. am 26. Februar 2018. 12 Günter Rothhardt: Praxis der Softwareentwicklung. Heidelberg: Hüthig, 1987, S. 25. 9

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ihrer grundlegenden Funktion somit als Schnittstelle zwischen der Hardware und der Nutzerin und besteht aus Zeilen an Quellcode, die in binären Daten gespeichert und zu einem Programm kompiliert werden, mit deren Hilfe die Hardware bedient werden kann. Dies kann sowohl mithilfe von Anwendungssoftware erfolgen wie z. B. einer App als auch mithilfe von Systemsoftware, die eine Grundlage für die Nutzung von Anwendungssoftware bietet wie z. B. Betriebssysteme oder Treiber. Durch die digitale Vernetzung mithilfe der Strukturen des Internets als auch durch kabellose Übertragungsmöglichkeiten wie WiFi oder Bluetooth kann die zu bedienende Hardware auch an einem anderen Ort präsent sein und mit der Software kommunizieren.13 Ihre Immaterialität erlaubt ihr zudem, einen hohen Grad der Flexibilität hinsichtlich möglicher Veränderungen respektive Verbesserungen durch die Entwicklerinnen einzunehmen. Während Hardware gebunden ist an die eigene Materialität, weshalb z. B. der Wechsel auf einen größeren Bildschirm eines Smartphones stets ein neues Gerät erfordert, lassen sich mithilfe der Software die Funktionen des Smartphones problemlos verändern, verbessern und erweitern, wobei auch hier die entsprechende Kompatibilität zwischen Hard- und Software vorausgesetzt ist.14 (3.) Die Firmware stellt eine spezielle Unterkategorie der Software dar, die als »›embedded software‹ or ›low-level software‹«15 bezeichnet wird. Sie dient

Bereits dieses Kommunikationskonzept kann unter dem Aspekt der Macht diskutiert bzw. analysiert werden. So beruft sich Felix Stalder in seiner Monographie Kultur der Digitalität auf den Politikwissenschaftler David Singh Grewal, der zwischen der »Macht der Souveränität« und der »Macht der Soziabilität« differenziert. Während erstere unter dem Diktum »Du musst!« gefasst werden kann hinsichtlich des Prinzips der Dominanz und Unterordnung, beruht letztere Form der Macht auf der Vorgabe von Bedingungen und Protokollen, die einen Austausch von Menschen untereinander möglich machen. Übertragen auf den Gegenstand der Digitalität und somit auch der Kommunikation zwischen Soft- und Hardware liegt eine scheinbar freiwillige Unterwerfung vor: »Wenn das ganze Internet TCP/IP spricht, dann ist die Entscheidung der Einzelnen, dieses Protokoll ebenfalls zu nutzen, formal zwar freiwillig, aber gleichzeitig unabdingbare Voraussetzung, um innerhalb des Netzwerks überhaupt zu existieren. Protokolle üben Macht aus, ohne dass ein Akteur vorhanden sein muss, der die Macht innehat.« (Felix Stalder: Kultur der Digitalität. Berlin: Suhrkamp, 2016, S. 160). 14 Vgl. Tim Fisher: »Hardware vs Software vs Firmware: What’s the Difference? Firmware, Software, and Hardware are Different... but How?«. Auf: Lifewire, dort datiert am 22. Dezember 2017. Auf: https://www.lifewire.com/hardware-vs-software-vs-firmwarewhats-the-difference-2624567, zul. abgeruf. am 26. Februar 2018. 15 Gary Stringham: Hardware/firmware interface design. Best practices for improving embedded systems development. Amsterdam: Elsevier Newnes, 2010, S. 6. 13

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dazu, die Kommunikation zwischen Hard- und Software sowie zu anderen Hardware-Elementen zu gewährleisten und beinhaltet Instruktionen für die jeweilige Hardware, wie sie sich in entsprechenden Fällen zu verhalten hat, sodass z. B. das Betätigen des Power-Buttons das Gerät ausschalten kann. Da es sich hierbei um Daten handelt, die nicht stetig verändert werden sollen, ist sie eingebettet in die Hardware und liegt meist im Flash-Speicher (ROM, EPROM, EEPROM) des Geräts. Während ROM als Abkürzung für ›read-only memory‹ den internen Speicher des Geräts meint, in dem sich die Information befindet, die wie der Name schon verrät, nur gelesen und nicht verändert werden soll, spricht man beim Smartphone auch von ROM, wenn man die Firmware meint, die im internen Speicher liegt. Da die Firmware das OS beinhalten kann, wird ROM synonym zur Bezeichnung des Betriebssystems genutzt, handelt es sich hierbei ebenso um Daten, die nur ausgelesen werden sollen.16 Hierbei müssen drei Formen der Firmware unterschieden werden: (a) Truly-Stock-ROMs liegen in den Fällen vor, wenn die Herstellerin der Smartphones auch das OS entwickelt hat. So kann z. B. das iOS als Truly-Stock-ROM bezeichnet werden, da das Unternehmen Apple sowohl das iPhone herstellt als auch das iOS für diese Geräte entwickelt. Beim Android OS muss unterschieden werden, auf welchem Smartphone dieses zum Einsatz kommt. Da Google im August 2005 die Firma Android, Inc. aufgekauft hat und Android seitdem unter dem eigenen Namen entwickelt und vertreibt, hat Google im Laufe der Jahre unterschiedliche Smartphones der sogenannten Google Nexus-Reihe17 in Zusammenarbeit mit Firmen wie Samsung, HTC, LG oder Asus entwickelt. Bei den Geräten handelt es sich um eine »reference platform for new Android versions«18, die direkt mit dem unveränderten Android OS ausgeliefert werden und somit als Truly-Stock-ROM bezeichnet werden können. »These devices serve as an open platform for developers. They have unlockable boot loaders

16 Vgl. Haroon Q. Raja: »What Is Meant By Firmware, Stock & Custom ROMs And Flashing [Guide]«. Auf: AddictiveTips, dort datiert am 12. Mai 2011. Auf: http://www. addictivetips.com/mobile/what-is-meant-by-firmware-stock-custom-roms-and-flashingguide/, zul. abgeruf. am 26. Februar 2018. 17 Google Inc. hat die Nexus-Reihe mit dem aktuellen Gerät Nexus 6P erst einmal pausiert; stattdessen produziert das Unternehmen nun unter der Google Pixel-Reihe eigene Geräte »Made by Google« und ohne direkten Hinweis auf eine Zusammenarbeit mit anderen Firmen. (Vgl. Andreas Floemer: »Pixel-Phone: Warum Google jetzt Hardware baut«. Auf: t3n, dort datiert am 07. Oktober 2016. Auf: http://t3n.de/news/pixel-googlehardware-hersteller-752604/, zul. abgeruf. am 26. Februar 2018). 18 Joshua J. Drake: Android hacker’s handbook. Indianapolis: Wiley, 2014, S. 5.

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that allow flashing custom Android builds and are supported by the Android Open Source Project (AOSP). Google also provides factory images, which are binary firmware images that can be flashed to return the device to the original, unmodified state.«19 Das hier angesprochene Flashing beschreibt das Vorgehen bei möglichen Änderungen an der Firmware. Hierbei wird der read-onlyStatus der im Flash-Speicher hinterlegten Firmware aufgehoben und modifiziert respektive durch eine neue Version ersetzt. Da das Android OS nicht nur von Google für die Nexus-Geräte genutzt, sondern als Open Source-Projekt20 vertrieben wird und jederzeit von Firmen für eigene Geräte angepasst werden kann, sind auf den meisten AndroidSmartphones sogenannte (b) Manufacturer or Carrier branded Stock-ROMs im Betrieb: While developing new products, device manufactures have to adapt the Android platform to work well on its new hardware. […] [T]he Android Framework is licensed under the Apache 2.0 License, which allows modifications to be redistributed in binary form without having to release the source code. This is where most vendors try to put their innovations to differentiate their devices from others.21

Firmen wie Samsung, Huawei oder HTC sind somit nicht nur daran interessiert, das Android OS an die eigenen Geräte anzupassen, um eine ideale Funktionsweise zwischen Hard- und Software zu ermöglichen, sondern zudem ein Alleinstellungsmerkmal im Rahmen der modifizierten Stock-ROM zu liefern wie z. B. das von Samsung eigene Spracherkennungsprogramm S Voice. Doch auch Netzbetreiberinnen schließen Verträge mit den genannten Firmen ab, um für das eigene Mobilfunknetz modifizierte Android OS auf den vertriebenen Smartphone zu erhalten, bei der beispielsweise Apps der Netzbetreiberin vorinstalliert sind oder das entsprechende Logo während des Bootvorgangs erscheint.22 Abseits der beiden genannten Firmware-Kategorisierungen existiert eine dritte, die sogenannten (c) Custom-ROMs. Hierunter werden alle Betriebssys-

Ebd. Zur Definition, welche Kriterien einer Software erfüllt sein müssen, damit sie als Open Source bezeichnet werden kann vgl. Open Source Initiative: »The Open Source Definition«. Auf: Opensource.org, dort datiert am 22. März 2007. Auf: https://opensource. org/docs/osd, zul. abgeruf. am 26. Februar 2018. 21 Drake, Android hacker’s handbook (wie Anm. 18), S. 12. 22 Vgl. ebd. 19 20

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teme gefasst, die von unabhängigen Nutzerinnen eigenständig entwickelt und verändert werden. Da der Quellcode öffentlich zugänglich ist, sind besonders beim Android OS die Gegebenheiten zur Entwicklung der CustomROMs geradezu ideal, wie bereits das eingangs erwähnte Zitat von Tyler und Verduzco zeigt. Um eine Custom-ROM auf dem Smartphone zu installieren, muss neben dem Flashing auch ein Root-Zugriff auf das Smartphone hergestellt werden, um alle Möglichkeiten des Geräts ausnutzen zu können. Hier kann von der wörtlichen Bedeutung des Begriffs ausgegangen werden, da das Rooting einer Nutzerin die Rechte überträgt, auf die ›Wurzeln‹ des Dateisystems zugreifen zu können. Diese Bezeichnung geht auf den Betriebssystemkern des Android OS zurück, der auf Linux basiert und dessen Dateisystem nach einer inverted tree structure aufgebaut ist. Die Wurzeln bzw. die hierbei obenliegenden Ebenen des Systems, auf die man als reguläre Benutzerin keinen Zugriff hat, werden mithilfe des Rooting zugreifbar.23 Hierzu müssen jedoch Veränderungen im Bootloader des Systems vorgenommen werden, der für den kompletten Ablauf des Boot-Vorgangs des Geräts zuständig ist und es möglich macht, der Benutzerin am Ende die entsprechenden S(uper) U(ser)-Rechte für einen Root-Zugriff zuzuweisen. Danach ist es zudem möglich, auch das OS bzw. die ROM zu ändern, da mithilfe des Flashing auch der Flash-Speicher zugreifbar wird. Im Gegensatz zu den Google Nexus-Geräten, die mit einem entsperrbaren Bootloader ausgeliefert werden, sind andere Herstellerinnen und Netzbetreiberinnen in erster Linie nicht daran interessiert, den Nutzerinnern die Möglichkeit des Rooting frei zur Verfügung zu stellen und versuchen dies durch gesperrte Bootloader zu verhindern. Die Gründe liegen hierbei darin begründet, (a) die Funktionsweise des Geräts nicht zu beeinträchtigt, (b) die Sicherheit des Systems zu gewährleisten und (c) gleichzeitig den zu leistenden Support nach dem Kauf des Geräts garantieren zu können: »[Rooting] can destabilize the system and lead to unnecessary support calls. Keeping support costs low and protecting against fraudulent warranty replacements are in the vendors’ best interests. To deal with this particular issues, vendors employ boot loader locking mechanisms.«24 Obwohl immer mehr Firmen die Möglichkeit zum Rooting mithilfe eines entsperrten Bootloaders anbieten25, Vgl. Tyler u. Verduzco, Android Hacker’s Toolkit (wie Anm. 2), S. 12. Drake, Android hacker’s handbook (wie Anm. 18), S. 22. 25 So bietet HTC seit 2011 diese Möglichkeit für alle danach produzierten Geräte an: »HTC is committed to listening to users and delivering customer satisfaction. We have 23 24

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bleibt jedoch eine Sanktion bestehen, die auch beim Entsperren des Bootloaders auf Google-Nexus-Geräten zutrifft: der Garantieverlust. Somit kann die Herstellerin bei einem Schadensfall eines Smartphones mit entsperrtem Bootloader eine Reparatur aufgrund eines Verstoßes gegen die Garantiebedingungen verweigern.26 All diese Strukturen sind eingebunden in einen bereits hieran erkennbaren Kontext von Sanktionen und Restriktionen, bei dem folgend die Frage geklärt werden muss, ob eine Loslösung aus diesen, von den Herstellerinnen und Netzbetreiberinnen vorgegebenen, Strukturen eventuell eine Verschiebung der Macht zufolge hat, die mit einer damit verbundenen Erweiterung der Möglichkeiten als ästhetisch bezeichnet werden kann.

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One thing they can’t teach you is how to feel free: Macht und Ästhetischer Kapitalismus

Die Ausgangslage für die Überlegungen Byung-Chul Hans zu einem beweglichen Machtbegriff, die er in seiner Monographie Was ist Macht? zusammenfasst, ist folgende Kausalrelation: Die Macht von Ego ist die Ursache, die bei Alter gegen dessen Willen ein bestimmtes Verhalten bewirkt. Sie befähigt Ego dazu, seine Entscheidungen, ohne auf Alter Rücksicht nehmen zu müssen, durchzusetzen. So beschränkt Egos Macht Alters Freiheit. Alter erleidet den Willen Egos als ihm etwas Fremdes.27

heard your voice and starting now, we will allow our bootloader to be unlocked for 2011 models going forward.« (HTC Corporation: »Unlocking Your Bootloader«. Auf: HTCdev, http://www.htcdev.com/bootloader, zul. abgeruf. am 26. Februar 2018). Auch LG Electronics bietet mit Beginn des Jahres 2015 die Möglichkeit des Entsperren des Bootloaders der eigenen Geräte an: »Starting in 2015, LG will allow customers to unlock the bootloader for certain releases of LG smartphones. This will allow you to participate in Android development using LG hardware.« (LG Electronics: »Unlock Bootloader«. Auf: http://developer.lge.com/resource/mobile/RetrieveBootloader.dev?categoryTypeCode =ANRS, zul. abgeruf. am 26. Februar 2018). 26 Vgl. Christian Solmecke et al. (Hg): Mobile Apps. Rechtsfragen und rechtliche Rahmenbedingungen. Berlin: de Gruyter, 2013, S. 284. 27 Byung-Chul Han: Was ist Macht? Stuttgart: Reclam, 2010, S. 9, Hervorhebungen im Original.

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Diese klare Hierarchie der Macht, innerhalb derer Ego eine höhere und somit machtvollere Stellung als Alter einnimmt und Alter diese Machtausübung als ein Leiden spürt, sieht Han als zu unterkomplex und »undialektisch«28 für seine Definition an und distanziert sich somit von dem hierarchischen Machtmodell, in dem Macht stets von oben nach unten ausstrahlt. Für Han kommt dieses Modell schnell an Grenzen der Beschreibung komplexerer Strukturen, wenn beispielsweise eine Machthaberin auf die ihr unterstehenden Beraterinnen angewiesen sei, die zwar faktisch keine Handlungsmacht besitzen würden, aber durch ihre Rollen der Machthaberin sagen können, was sie befehlen solle.29 Zudem bricht er mit der Einschätzung, Macht müsse grundlegend Freiheit negieren respektive sie mithilfe zwanghafter Gewalt einschränken und kehrt sie somit ins Gegenteil um: »Wer eine absolute Macht erreichen will, wird nicht von der Gewalt, sondern von der Freiheit des Anderen Gebrauch [Herv. i. Orig.] machen müssen. Sie wird in dem Moment erreicht, in dem die Freiheit und die Unterwerfung ganz zusammenfallen.«30 Absolute Macht wird in diesem Verständnis somit nicht ermöglicht, wenn Ego mit physischer Gewalt ein bestimmtes Verhalten bei Alter durchsetzt, sondern erst, wenn Alter das von Ego gewünschte, aber dennoch nicht ausgesprochene Verhalten im Gefühl der Freiheit als seinen eigenen Wunsch ansieht und die Handlung freiwillig vollzieht. Alter gehorcht dem Willen Egos, ohne dass Alter glaubt zu gehorchen. Die Macht ist hierbei verdeckt, sie ist nicht sichtbar wie bei einem offensichtlichen Ausüben eines Befehls, stattdessen kann sie auch »ohne den ausdrücklichen ›Befehl‹ Entscheidungen und Handlungen bewegen«31. Gegenteilig wird ein Durchsetzen von Egos Willen mithilfe von Restriktionen, Befehlen oder Verboten als sichtbare Machtausübung und somit auch als Zwang empfunden, die zwar auch die Durchsetzung von Egos bei Alter erreichen kann, sich jedoch grundlegend bezüglich ihres Vermittlungsgrades unterscheidet. Gewalt zeugt von einer Vermittlungsarmut zwischen Ego und Alter, sodass nur mit Zwang eine Kontinuitätsherstellung geschaffen wird, die sich jederzeit auflösen kann. Den höchsten Grad der Vermittlung und somit auch die stabilste Kontinuität werden daher mithilfe der

Ebd., S. 13. Ebd., S. 13f. 30 Ebd., S. 14. 31 Ebd., S. 18. 28 29

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Macht als Freiheit erreicht.32 In diesem Modell stellen Gewalt und Freiheit für Han »die beiden Endpunkte einer Macht-Skala«33 dar. So vage Han mit seinen Definitionen im weiteren Verlauf von Was ist Macht? auch ist, liefert er mit dieser Grundkonstruktion der Oszillation von Macht zwischen den Polen der Freiheit und der Gewalt eine ideale Grundlage für die Beschreibung des Machtverhältnisses sowohl innerhalb des oben genannten Akt des Rootings als eine mögliche Umkehrung der Macht als auch der Benutzung aller digitalen Medien. Denn wenn man dem Mythos Glauben schenken mag, den viele Netzaktivistinnen, allen voran der Whistleblower Edward Snowden, der im Jahr 2013 die Totalüberwachung des Internets aufdeckte, als einen utopisch anmutenden Gegenentwurf zu diesen Enthüllungen kreieren, war der Raum der Digitalität34 einst charakterisiert durch das Gefühl von Freiheit und unbegrenzten Möglichkeiten: I remember what the Internet was like before it was being watched, and there’s never been anything in the history of man that’s like it. I mean, you could again have children from one part of the world having an equal discussion where you know they were sort of granted the same respect for their ideas and conversation, with experts in a field from another part of the world, on any topic, anywhere, anytime, all the time. And it was free and unrestrained […].35

Auch der Autor Sascha Lobo muss im Zuge der Snowden-Enthüllungen zugeben, dass er sich im Internet geirrt bzw. das Internet einen ›kaputten‹ Zustand erreicht habe.36 Das für ihn einst »perfekte Medium der Demokratie,

Ebd., S. 30f. Ebd., S. 15. 34 Zur Definition und der stetig deutlicher werdenden Präsenz einer Kultur der Digitalität, empfehle ich Stalder, Kultur der Digitalität (wie Anm. 13). Stalder versucht im Zuge der Frage nach dem ›Wie‹ kultureller Praktiken, drei Formen der Kultur der Digitalität zu klassifizieren: Referentialität, Gemeinschaftlichkeit und Algorithmizität. Seine Betrachtung erweist sich dabei als besonders fruchtbar, da er aufzeigt, inwiefern diese kulturellen Praktiken bereits vor Entwicklung der neuen Technologien bestanden und wie diese »auf bereits laufende gesellschaftliche Transformationsprozesse« treffen und »erst entwickelt werden, nachdem eine Vorstellung formuliert worden war, was mit ihnen möglich sein sollte« (ebd., S. 21f.). 35 Citizenfour. Regie: Laura Poitras, USA / D 2014. 00:25:55-00:26:25. 36 Lobo spricht in seinem Beitrag nicht wie Snowden explizit von einem idealen Zeitpunkt in der Vergangenheit des Internets, dennoch lässt die Bezeichnung, das Internet sei kaputt, vermuten, dass er auf einen intakten Zustand des Internets anspielt, den er hier nur nicht genauer beschreibt. 32 33

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der Emanzipation, der Selbstbefreiung«37 sei durch den aufgedeckten Spähskandal entzaubert worden, was ihn letztendlich sogar zu einer Erweiterung des Konzepts der drei Kränkungen der Menschheit von Sigmund Freud38 um eine zusätzliche Dimension treibt: »Die digitale Kränkung des Menschen«.39 Doch kann überhaupt von einem menschlichen Zustand der Kränkung gesprochen werden, wenn in der ›Post-Snowden-Ära‹ weiterhin Keynotes der größten Elektronikherstellerinnen wie Apple, Samsung, Microsoft oder Sony ein mediales und gesellschaftliches Großereignis darstellen, Menschen vor Einführung eines neuen iPhone-Modells vor den Apple-Stores campieren oder mit einem Stichwort wie Big Data der Prozess der Datensammlung idealisiert wird? Han würde hier von einem erfolgreichen Wirken der »Machttechniken des neoliberalen Regimes«40 sprechen, die sich grundsätzlich von traditionellen repressiven Machteinwirkungen wie der im Kontext der Snowden-Enthüllungen oft als Beispiel genannten Überwachung in George Orwells Roman 1984 unterscheiden. Anstatt als unmittelbarste Form der Macht die Freiheit zu verneinen, operiere nach Han im digitalen Raum eine »smarte, freundliche Macht«41, die die Freiheit nicht verbiete, sondern sie stattdessen ausbeute. Als eine viel mächtigere respektive oben angesprochene absolute Macht vernichte sie die freie Wahl »zugunsten freier Auswahl zwischen Angeboten«42, für die man sich freiwillig dem Herrschaftszusammenhang unterwerfe, »während man kommuniziert und konsumiert«43. Ohne Repression bleibe die Macht zu-

37 Sascha Lobo: »Die digitale Kränkung des Menschen. Abschied von der Utopie«. In: FAZ.NET, dort datiert am 11. Januar 2014. Auf: http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/ debatten/abschied-von-der-utopie-die-digitale-kraenkung-des-menschen-12747258.html, zul. abgeruf. am 26. Februar 2018. 38 »Die erste entsprach Kopernikus’ Entdeckung, dass der Mensch nicht wie angenommen Mittelpunkt des Weltalls war. Die zweite war Darwins Evolutionstheorie, die zeigte, dass der Mensch ganz schnöde vom Tier abstammt. In einem ebenso klugen wie jahrhunderteitlen Move erkannte Freud in seinen eigenen Thesen die dritte Kränkung der Menschheit, die Existenz von Unbewusstem und Über-Ich […]. Selbst wenn man Freud nicht im Detail folgen möchte, der Kern des Konzepts passt perfekt, die Kränkung durch Fortschritt und Erkenntnis, den bisherigen Irrtum erkennen zu müssen.« (Ebd.). 39 Ebd. 40 Byung-Chul Han: Psychopolitik. Neoliberalismus und die neuen Machttechniken. Frankfurt a. M.: S. Fischer, 2016, S. 55. 41 Ebd., S. 27. 42 Ebd. 43 Ebd.

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dem ohne Zwang und würde dadurch »kaum oder wenig als solche wahrgenommen. Sie geht gleichsam in der Zustimmung unter«44. Auch wenn ich an dieser Stelle die von Han genannte Zusammenfassung dieser Phänomene unter einem neoliberalen Regime als teilweise zu plakativ kritisieren möchte, lassen sich diese Überlegungen zur Macht im digitalen Raum mit denen von Böhme verbinden, die er in seiner Monographie Ästhetischer Kapitalismus zusammenfasst. Mithilfe des Zugangs zum kapitalistischen Wirtschaftssystems durch den Aspekt des Konsums, fokussiert er explizit den Surplus-Konsum als »interessant für die gegenwärtige Phase der kapitalistischen Entwicklung«45. Während diese Form des Konsums, die nicht mehr für die Reproduktion der Arbeitskraft hinaus notwendig ist, bei Autoren wie Werner Sombart, Georges Bataille und Jean Baudrillard noch als Luxus und Verschwendung gilt, sieht Böhme den Surplus-Konsum heutzutage als eine Selbstverständlichkeit des allgemeinen Lebensniveaus an, die nicht mehr an Privilegien oder Klassen gebunden sei.46 Diese führe laut Böhme im Laufe der Jahrzehnte zu einer »Veränderung der Bedürfnisstruktur«,47 denn Bedürfnisse48 würden im fortgeschrittenen Kapitalismus zu Begehrnissen erweitert, die im Gegensatz zu Bedürfnissen nicht befriedigt werden könnten, wenn man ihnen entspräche, sondern durch die Entsprechung sogar noch gesteigert würden:49 »Der Surplus-Konsum ist dann keine Überschreitung des Reichs der Notwendigkeit mehr und schon gar nicht der Übergang in das Reich der Freiheit [Herv. d. Verf.]. Vielmehr entspricht der Mensch, indem er Begehrnisse entwickelt, genau den Notwendigkeiten des kapitalistischen Wirtschaftssystems.«50 Mit der Nutzung des Terminus des »Reichs der Freiheit« orientiert sich Böhme an Herbert Marcuse, der diesen Begriff als eine Möglichkeit prägt,

Han, Was ist Macht? (wie Anm. 27), S. 17. Böhme, Ästhetischer Kapitalismus (wie Anm. 8), S. 9. 46 Vgl. ebd. 47 Ebd., S. 10. 48 Böhme versteht Bedürfnisse hier in Anlehnung an Georg Wilhelm Friedrich Hegel und Karl Marx als eine grundlegend menschliche Eigenschaft, durch die Menschen »sich in ihrer Beziehung zu ihrer Umwelt sehen« und »dass sie Bedürfnisse fühlen und wie sie diese Bedürfnisse befriedigen oder nicht-befriedigen können« (Andreas Vieth: »Philosophische Grundbegriffe«. In: Michael Quante et al., Hg: Marx-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart: J.B. Metzler, 2016, S. 145–172, hier S. 164). 49 Vgl. Böhme, Ästhetischer Kapitalismus (wie Anm. 8), S. 74. 50 Ebd., S. 11. 44 45

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die eine unfreie zu einer freien Gesellschaft werden lassen könne, wenn »das Reich der Freiheit im Reich der Notwendigkeit«51 erscheint. Für Böhme werde dies jedoch durch das Leistungsprinzip unserer heutigen Gesellschaft verhindert, indem jegliche Form der Aktivität gebunden sei an ein Effizienzdenken. Dieses wirke dabei über den Produktionssektor hinaus und ziehe sich durch alle Bereiche des heutigen Lebens, sodass auch z. B. in der Unterhaltungsindustrie ein Leistungsdenken vorherrsche, das stetig verstärkt würde.52 Hierdurch entstehe ein wesentlicher ›Vorteil‹ im Profitdenkens des Kapitalismus: Das Wachstum des gegenwärtigen Kapitalismus‹ sei laut Böhme nur noch durch die Entwicklung von Begehrnissen möglich, da das Leben im »fortgeschrittenen Kapitalismus« bereits durchkapitalisiert sei und man sich somit in einer Entwicklungsphase befinde, »in der die Ausweitung der Versorgung der Bevölkerung durch Wirtschaft und Handel im Großen und Ganzen abgeschlossen ist«53. Alle Bereiche der Lebenserhaltung seien bereits ökonomisch erfasst worden, weswegen Wachstum nur noch im Konsum zur Lebenssteigerung respektive im Surplus-Konsum möglich sei, der den entsprechenden Vorteil biete, das keinerlei Befriedigung erreicht werden könne. »Wenn man Begehrnissen entspricht, so steigert man sie.«54 Dabei würde gesellschaftliche Produktion zu einer ästhetischen Produktion, in der Gebrauchswerte nur noch eine nebensächliche Rolle spielen und stattdessen auf Inszenierungswerte gesetzt werden würde.55 So besteht z. B. auf Basis der Gebrauchswerte keinerlei Grund für den Kauf eines neuen Smartphones, wenn das aktuelle weiterhin funktioniert, stattdessen dient der Kauf der neuen iPhone-Generation oder eines neuen Samsung Galaxy »der Inszenierung eines bestimmten Lebensstils und unserer selbst«56. Diese gegenwärtige Phase nennt Böhme daher den »ästhetischen Kapitalismus«, in dem die für das Wirtschaftswachstums notwendige Steigerung der Begehrnisse nur durch die Produktion von Inszenierungswerten und somit der Herstellung ästhetischer Werte möglich sei.57

51 Herbert Marcuse: »Das Ende der Utopie«. In: Herbert Marcuse: Psychoanalyse und Politik. Frankfurt a. M.: Europäische Verl.-Anst., 1968, S. 9–18, hier S. 10. 52 Vgl. Böhme, Ästhetischer Kapitalismus (wie Anm. 8), S. 71. 53 Ebd., S. 15. 54 Ebd. 55 Vgl. ebd., S. 39. 56 Ebd., S. 74. 57 Vgl. ebd., S. 16.

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Auf der einen Seite lässt sich nun mithilfe von Hans Macht-Begriff die Entwicklung von Custom-ROMs als eine Möglichkeit beschreiben, das Smartphone58 nicht zu einem Instrument der von ihm genannten »smarten Macht« werden zu lassen, indem man sich einen Zugriff auf alle Funktionen des Geräts verschafft und diese sogar noch erweitern kann. Die Restriktionen und Sanktionen seitens der Herstellerinnen und Netzbetreiberinnen werden dabei als sichtbare Machtausübung empfunden, weswegen versucht wird, dagegen anzugehen. Auf der anderen Seite sollte jedoch auch diese Befreiung aus dem für die meisten Benutzerinnen versteckten Machtverhältnis kritisch hinterfragt werden, wenn man es mit Böhmes Überlegungen zum ästhetischen Kapitalismus liest und die Frage gestellt werden muss, ob es überhaupt möglich ist, die Macht über das Smartphone zurückzuerlangen, hat schließlich auch die Erweiterung der ästhetischen Möglichkeiten eines Smartphones die Produktion von zusätzlichen Inszenierungswerten zur Folge. Zwar gilt weiterhin die Sanktion des Garantieverlustes durch den Akt des Rooting, dennoch zeigt alleine die Bereitstellung der Möglichkeit zur Entsperrung des Bootloaders seitens einiger Firmen neuerdings, das hierbei versucht wird, der Nutzerin das Gefühl einer möglichen Freiheit zu bieten, die eingebunden in den ästhetischen Kapitalismus Begehrnisse weckt, die zum Kauf weiterer Smartphones animieren. Beide Problemstellungen sollen zum Abschluss am Beispiel der Custom-ROM als auch des Jailbreaks diskutiert werden.

58 Das Smartphone betrachte ich als untrennbar verknüpft mit dem Internet, das ich innerhalb der digitalen Medien allen anderen als übergeordnet ansehe. So ist zwar eine Nutzung des Smartphones ohne eine Verbindung zum Internet möglich, aber eine Vielzahl an Funktionen des Geräts sind dadurch eingeschränkt, weshalb beispielsweise keine Apps installiert bzw. genutzt werden können oder die Ortung per GPS deaktiviert ist. Allerdings gibt es im Hinblick auf die stetige Verbindung eines mobilen Telefons zum Internet bereits erste ›neue‹ Alternativen wie das ›Anti-Smartphone‹ MP 01 der Schweizer Firma Punkt., das Nostalgie im Hinblick auf frühere Generationen von mobilen Endgeräten, die nur zum Telefonieren und SMS-Versand dienten, mit neuestem Design und aktueller Technologie wie langer Akku-Laufzeit (20 Tage), Farbdisplay und Bluetooth-Schnittstellen zum Preis von 295$ verknüpfen soll. (Vgl. Rachel Metz: »When Smartphones Become Too Addictive, Stylish Dumb Phones Offer a Respite. Feeling distracted and exhausted by constant connectivity? Maybe you need one more gadget.«. In: MIT Technology Review, dort datiert am 02. Mai 2016. Auf: https://www.technologyreview.com/s/601356/ when-smartphones-become-too-addictive-stylish-dumb-phones-offer-a-respite/, zul. abgeruf. am 26. Februar 2018).

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Don’t be told what you want: Custom-ROMs

Im Sinne der in diesem Aufsatz zu betrachtenden ästhetischen Erweiterungen eines Android-Smartphones mithilfe des Rooting und der Installation einer Custom-ROM, bietet es sich an, die zusätzlichen Möglichkeiten der Anpassung, die eine Custom-ROM wie z. B. die CyanogenMod bietet, zu betrachten. Die CyanogenMod, benannt nach dem Benutzernamen ›Cyanogen‹ des Entwicklers Steve Kondik, zählte im Dezember 201659 noch zu einer der weltweit am meist verbreiteten Custom-ROMs und besitzt zusätzliche Funktionen, die explizit für die CyanogenMod entwickelt wurden und die ich an dieser Stelle nach ihren ästhetischen Möglichkeiten im Kontext der Überlegungen von Han und Böhme diskutieren werde. Boot Animation: Da mit einem Root-Zugriff auch Einfluss auf den Bootvorgang des Smartphones genommen werden kann, ist zudem eine Änderung der sogenannten Boot Animation möglich. Während bei einer Stock-ROM meist das Logo der jeweiligen Herstellerin oder Mobilfunkbetreiberin erscheint, lässt sich dies bei einer Custom-ROM durch den damit verbundenen Root-Zugriff ändern. Nutzerinnen können entsprechende Animationen dabei entweder selbst kreieren oder sie greifen auf eine Vielzahl an angebotenen Animationen im Internet und speziell im XDA-Developers60 Forum zurück. Wie auch bei ei-

59 Im Dezember 2016 gaben die Entwicklerinnen bekannt, dass das Projekt eingestellt wird. Unter dem Namen LineageOS soll das Betriebssystem jedoch weitergeführt werden. Ein Grund hierfür können urheberrechtliche Probleme mit der Cyanogen Inc. sein, die sich 2012 abspaltete und versuchte, mit der kommerziell vertriebenen Cyanogen OS Erfolge zu feiern, letztendlich aber scheiterte. (Vgl. Eike Kühl: »Doch keine Kugel in Googles Kopf. Cyanogen OS«. In: ZEIT ONLINE, dort datiert am 28. Dezember 2016. Auf: http:// www.zeit.de/digital/mobil/2016-12/cyanogen-os-android-google-alternative-custom-rom, zul. abgeruf. am 26. Februar 2018). 60 Zur Erklärung dieses Forums: »The XDA Developers (XDA) website, at http://www. xda-developers.com, is the largest smartphone community on the Internet. As the name implies, the site – launched in 2003 – is a destination for developers. ›XDA‹ was a line of phones based on Windows Mobile that were branded by 02 and developed by a small (at the time) Taiwanese manufacturer called High Tech Computer Corporation (HTC). […] From those early few members, XDA became known as the go-to source for information on how to make phones do more great stuff and how to fix a phone that was otherwise broken.« (Tyler/Verduzco, Android Hacker’s Toolkit, wie Anm. 2, S. 1f.).

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nem GIF-Bild wird die Bootanimation dabei in viele Einzelbilder unterteilt, sodass aus dieser Zusammenstellung in meist 24 oder 30 Bildern pro Sekunde die entsprechende Animation entsteht. Ebenso besteht die Möglichkeit diese Animation mit einer frei wählbaren Hintergrundmusik respektive Sounds zu unterlegen. Bereits hieran lassen sich Individualisierungsstrategien erkennen, die die ästhetischen Möglichkeiten des Smartphones erweitern und dabei zudem eine Anpassung an die eigenen Bedürfnisse ermöglichen, die sich jedoch nicht nur auf die Bootanimation beschränken. Themes/Customizations: Mithilfe des Rooting und dem Zugriff auf alle Ebenen der Ordnerstrukturen des Android OS kann jeglicher visuelle Aspekt das Smartphones nach den eigenen Wünschen angepasst werden. So können z. B. durch den Zugriff auf den Ordner /system/fonts neue Schriftarten installiert bzw. alte ersetzt werden. Zudem bietet die eigens entwickelte Theme Engine der CyanogenMod die Möglichkeit, diese Anpassungen auch Nutzerinnen möglich zu machen, die sich nicht bis ins Detail in die Ordnerstrukturen des Android OS einarbeiten möchten.61 Weiterhin ist es möglich, im Google PlayStore bereits fertige Themes von anderen Nutzerinnen zu erwerben und auf dem eigenen Smartphone zu installieren. Auch hier ist die Eingebundenheit dieser Individualisierungsstrategien innerhalb der Überlegungen von Böhme erkennbar: So lassen die Erweiterung der Gestaltungsmöglichkeiten eines Smartphones den Gebrauchswert des Smartphones unangetastet, stattdessen handelt es sich hierbei wie bereits angesprochen um eine Erhöhung des »Inszenierungswertes«. Diese Inszenierung kann durch die zusätzlichen Möglichkeiten der Individualisierung zudem beinahe unendlich gesteigert werden, gibt es laut Böhme für »Ausstattung, Glanz und Sichtbarkeit […] keine natürlichen Grenzen«.62 Gesture Control: Doch nicht nur die visuellen Aspekte eines Smartphones lassen sich erweitern: Die Custom-ROM Resurrection Remix bietet die Möglichkeit, die Steuerung des Smartphones per Gesten zu individualisieren und auf die eigenen Bedürfnisse anzupassen. So kann z. B. das Öffnen einer App mit einer frei wählbaren Geste, die man mit den Fingern auf dem Touchscreen des Smartphones entlangfährt, erfolgen. Hier wird somit die Palette der Bedienungsmöglichkeiten erweitert, ist man schließlich nicht mehr darauf an61 Vgl. Cyanogen: »android_packages_themes_Template«. In: GitHub, dort datiert am 21. Juli 2015. Auf: https://github.com/cyngn/android_packages_themes_Template, zul. abgeruf. am 26. Februar 2018. 62 Böhme: Ästhetischer Kapitalismus (wie Anm. 8), S. 29.

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gewiesen, das Smartphone mit einzelnen Berührungen zu steuern, sondern kann Abläufe mit eigens gewählten Gesten automatisieren. Xposed Framework/XPrivacy: Um die anfangs aufgestellte Analogie eines Baukastens, der mithilfe des Rooting stetig erweitert wird, erneut heranzuziehen, kann das sogenannte Xposed Framework als Beispiel hierfür genannt werden: »Xposed is a framework for modules that can change the behavior of the system and apps without touching any APKs. That’s great because it means that modules can work for different versions and even ROMs without any changes (as long as the original code was not changed too much).«63 Zwar nicht auf die Installation einer Custom-ROM, sondern lediglich auf einen Root-Zugriff angewiesen, lassen sich mit diesem Framework64 eine Vielzahl an neuen Funktionen mittels einzelner Module hinzufügen. Dabei können nicht nur systemrelevante Möglichkeiten erweitert, sondern zudem auch einzelne APKs (Android Package File; ein Datenpaket, das entpackt eine App ergibt) modifiziert werden. Ein Modul, das dabei im Kontext der für diesen Aufsatz relevanten Rückeroberung der Macht gelesen werden kann, ist der ›privacy manager‹ XPrivacy. Hiermit ist es möglich, die Berechtigungen des Zugriffs einzelner Apps auf die Funktionen des Smartphone zu steuern. Das Modul entzieht der jeweiligen App dabei weder Rechte noch wird der Zugriff auf eine Funktion des Smartphones geblockt, stattdessen wird die zugreifbare Funktion gefälscht: »For example, if you restrict access to contacts for an application, this will result in sending an empty contact list to the application.«65 Die jeweilige App wird daher nicht an der regulären Funktionsweise gehindert, sie agiert lediglich in einem künstlichen Umfeld. Auch wenn hinterfragt werden kann, ob hierbei von einer gefühlten Freiheit, in dessen Rahmen die App agiert, gesprochen werden kann, so kehrt die Nutzerin die Funktionsweise der App ohne Restriktion und ohne Zwang exakt nach dem eigenen Willen um, weswegen man nach Han hier von einer Form der absoluten Macht sprechen kann. 63 Rovo89 u. Tungstwenty: »Xposed Installer«. In: Xposed Module Repository, dort datiert am 19. Juni 2014. Auf: http://repo.xposed.info/module/de.robv.android.xposed. installer, zul. abgeruf. am 26. Februar 2018. 64 Framework meint ein Programmiergerüst, das Entwicklerinnen als Grundlage zur Programmierung weiterer Software nutzen können. Vgl. Per Christensson: »Framework Definition«. In: TechTerms, dort datiert am 07. März 2013. Auf: https://techterms.com/ definition/framework, zul. abgeruf. am 26. Februar 2018. 65 M66B: »XPrivacy«. In: Xposed Module Repository, dort datiert am 01. Juli 2015. Auf: http://repo.xposed.info/module/biz.bokhorst.xprivacy, zul. abgeruf. am 26. Februar 2018.

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Adaptionsrate: Ein weiterer noch nicht thematisierter Anreiz für das Aufspielen einer Custom-ROM besteht in der verzögerten Adaptionsrate der neuen Android-Versionen durch die Herstellerinnen. So braucht es ungefähr ein Jahr bis eine neue Version nach der Veröffentlichung durch Google auf 90% der Geräte läuft bzw. laufen kann.66 Eingebunden in die Überlegungen von Böhme hinsichtlich des Konzepts der Schaffung von Begehrnissen können auch neue Android-Versionen zu solchen gezählt werden. So ist der Release einer neuen Version auch immer mit der Einführung von neuen Funktionen verbunden, die wie bereits beschrieben die Ästhetik des Smartphones erweitern. Braucht eine Herstellerin daher länger mit der Adaption der Android-Version für ältere Geräte oder stellt diese gar ein und implementiert in der Zwischenzeit die neuste Version auf einem frisch erschienenen Smartphone, so kann dies als ein Kaufanreiz gesehen werden. Obwohl das ältere Smartphone weiterhin funktionstüchtig ist und die medialen Grundeigenschaften bedient, kann über diese Erweiterung der Funktionspalette durch die neue Version ein »Unbehagen im Wohlstand« erzeugt werden. Dies bedeutet für Böhme, »dass jede Ausstattung des Lebens unter der Perspektive möglicher Erweiterung und Verbesserung steht, dass jede Ausrüstung mit Geräten, gemessen am neuesten Stand der Technologie, schon veraltet ist […]«67. Auch in Anbetracht der bereits dargestellten Erweiterung der Inszenierungswerte eines Smartphones durch das Rooting oder der Installation einer Custom-ROM ist die Loslösung aus den Machtstrukturen der Herstellerin, die über die Adaption neuer Android-Version bestimmt, dennoch eingebunden in den ästhetischen Kapitalismus und trägt, anstatt sich aus den Strukturen der nicht zu befriedigen Begehrnisse zu befreien, dazu bei. Zwar kann hierdurch der Kauf eines neuen Smartphones umgangen werden, stattdessen wird aber weiterhin den Begehrnissen entsprochen, wodurch diese wie gezeigt noch gestärkt werden. Find my Phone: Welche Möglichkeiten der Ästhetik des Smartphones alleine das Rooting eines Gerätes schaffen kann, beweist der Kurzfilm Find my Phone,68 den der niederländische Filmstudent Anthony van der Meer gedreht hat. Anlass für die Dokumentation ist der Diebstahl seines Smartphones und die damit verbundene Erkenntnis über den einfachen Zugriff, den eine Diebin da-

Vgl. Drake: Android hacker’s handbook (wie Anm. 18), S. 6. Böhme: Ästhetischer Kapitalismus (wie Anm. 8), S. 20. 68 Anthony van der Meer: »Short Film: Find my Phone – Subtitled«, dort datiert am 13. Dezember 2016. Auf: https://www.youtube.com/watch?v=NpN9NzO4Mo8, zul. abgeruf. am 26. Februar 2018. 66 67

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bei auf die gespeicherten Daten wie Fotos, Videos, Nachrichten etc. erhält. Im Film selber installiert van der Meer die »Anti-Diebstahl-Lösung für Android«69 Cerberus auf seinem neuen Smartphone, die es ihm bei einem gerooteten Gerät möglich macht, sie im ROM zu speichern und ein Flashen zu verhindern, sodass er mithilfe der App und dem angebotenen Dienst von Cerberus bei einem Diebstahl weiterhin auf das Gerät zugreifen kann, sobald es mit dem Internet verbunden ist. Dabei kann der Standort stetig abgerufen, Videos oder Fotos während der Nutzung gemacht oder Telefonate abgehört werden , ohne dass die Nutzerin etwas davon merkt. Er lässt daraufhin das Smartphone erneut stehlen und verfolgt mithilfe der Funktionen der App die digitalen Spuren des Diebes. Die Dokumentation zeigt, welche Rückschlüsse die erhaltenen Informationen auf die Identität und speziell den Charakter des Diebes bieten. Ohne Root-Zugriff würde die App zwar ebenso funktionieren, aber nur solange das OS des Geräts nicht in den Werkszustand zurückgesetzt werden würde, was nach dem Diebstahl eines Smartphones eine durchaus wahrscheinliche Handlung darstellt. Somit erlangt man mithilfe des Root-Zugriffs und der Installation der Cerberus-App einen parasitären Zugriff auf sein Gerät, der eine Überwachung immer dann möglich macht, wenn das Smartphone eine Verbindung zum Internet aufweist. All diese Beispiele zeigen, inwieweit sich das Rooting und die Installation einer Custom-ROM bei einem Android-Smartphone die Möglichkeit bieten, mit einem kompletten Zugriff auf das Gerät alle Funktionen nutzen zu können respektive sie und damit auch die Ästhetik des Smartphones zu erweitern. Abschließend erfolgt eine Einordnung des Jailbreaking des iOS in diese Überlegungen, muss hier schließlich von einem wesentlich restriktiveren System ausgegangen werden.

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We are ruled by none: Jailbreak

Die logische Konsequenz eines Gefängnisausbruchs ist grundlegend die Existenz eines Gefängnisses, aus dem man ausbrechen kann. Der sich für die Erlangung eines Root-Zugriffes auf einem iPhones etablierte Begriff des Jail-

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https://www.cerberusapp.com/home/de, zul. abgeruf. am 26. Februar 2018.

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break setzt somit voraus, dass sich einzelne Nutzerinnen bei der Benutzung des iOS, plakativ gesagt, wie in einem Gefängnis und somit wie Gefängnisinsassinnen in ihren Handlungsmöglichkeiten respektive ihrer Freiheit eingeschränkt fühlen. Dass diese Restriktion in wesentlichen Punkten auf das iOS zutrifft, beweist ein Artikel von Thomas R. Eisenmann, Geoffrey Parker und Marshall Van Alstyne, in dem das Betriebssystem des iPhones hinsichtlich der Freiheit(en) bei der Verwendung mit den Betriebssystemen des Macintosh sowie mit Windows und Linux verglichen werden. Einschränkungen werden dabei in folgenden drei Punkten gesehen: Software applications for the iPhone are only available through Apple’s iTunes Store. Apple reserves the right to reject third-party applications due to quality or strategic concerns, and often does so (supply-side user role). Finally, only Apple manufactures and distributes the iPhone (platform provider role) and Apple is solely responsible for the iPhone’s technology (platform sponsor role).70

Der Vorteil dieser geschlossenen Softwareentwicklung liegt besonders in der einfachen Anpassbarkeit des iOS an die firmeneigenen Geräte des iPhone und iPad. Da die Anzahl der Geräte, auf denen das iOS zum Laufen gebracht werden wird/soll, überschaubar ist und Apple diese auch selber produziert, kann somit stetig ein Betriebssystem entwickelt werden, das eine nahezu problemlose Nutzung garantiert. Dennoch hat dies auch zur Folge, dass man als Nutzerin darauf angewiesen ist, nur in der Form mit dem Smartphone zu agieren, wie Apple es vorsieht. So ist z. B. die Installation von Apps, die nicht im App Store verfügbar sind, nicht ausführbar. Die Möglichkeit, sich aus den anfangs beschriebenen Zwängen eines »closed source code and ecosystem«71 des iOS zu befreien, besteht im Gegensatz zum Rooten des Android OS in einem aufwändigeren Jailbreak. Wie auch bei einem realen Gefängnisausbruch wird dabei eine Sicherheitslücke des geschlossenen Systems genutzt, um mithilfe dieser Zugriff auf die bisher verwehrten Dateistrukturen des iPhones zu erhalten. Während die Wahrscheinlichkeit der Nichtfunktionalität des Geräts nach dem versuchten Jailbreak hoch ist, bleiben die erworbenen Möglichkeiten bei einem Erfolg gering respektive nur von kurzer Dauer. Zwar können da-

70 Thomas R. Eisenmann, Geoffrey Parker u. Marshall van Alstyne: »Opening Platforms: How, When and Why?«. In: Annabelle Gawer (Hg): Platforms, Markets and Innovation. Cheltenham u. Northampton: Edward Elgar Publishing, 2009, S. 131–162, hier S. 132f. 71 Tyler/Verduzco: Android Hacker’s Toolkit (wie Anm. 2), S. 1.

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nach wie auch bei einer Custom-ROM alle visuellen Aspekte des Geräts konfiguriert und erweitert werden, da hier jedoch lediglich ein erweiterter Zugriff auf iPhone erlangt und nicht wie bei einer Custom-ROM ein eigenes OS entwickelt wird, in dem diese zusätzlichen Rechte bereits eingeschrieben sind, muss dieser Zugriff mit jedem Update des iOS aufs Neue erfolgen. Weil hierzu Sicherheitslücken des Systems ausgenutzt werden, kann die bei einem Update stets neu zu beginnende Suche nach diesen Lücken Zeit in Anspruch nehmen. Zwar ist gerade in Anbetracht der bereits genannten vorherrschenden Restriktionen des iOS der Schritt, sich mithilfe des Jailbreaks einen Zugriff auf alle Funktionen des iPhones zu verschaffen, ein größerer im Sinne der Befreiung als beim Android OS. Dennoch ähneln sich beide innerhalb der von der Nutzerin selbst durchzuführenden Handlung des Jailbreak bzw. des Rooting, obwohl innerhalb des Android OS die mögliche Befreiung bereits innerhalb der Open Source-Struktur eingeschrieben ist. Das Gefängnis des iOS bzw. des Android OS kann daher als ein Bentham’sches Panoptikum nach Foucault72 beschrieben werden, dessen Strukturen der Überwachung und Restriktion (der Freiheit), aus dem sich die Nutzerin befreien möchte, auch ohne sichtbare Machtausübung wahrgenommen werden. Ein Ausbruch aus diesen Gefängnismauern stellt jedoch nur einen Placebo-Effekt dar, ist dieses Gefängnis wiederum Teil eines Meta-Gefängnisses, dem Digitalen Panoptikum nach Han73. Zwar kann durch das Rooten/den Jailbreak wie beschrieben eine Rückeroberung über die Möglichkeit des Smartphones bzw. der Macht über diese Mittel erfolgen, bedingt durch die Einbindung des Smartphones in die Strukturen des digitalen Raums unterliegt diese Rückeroberung jedoch einer Unterwerfung durch übergeordnete Machtstrukturen, die generell nicht als solche wahrgenommen werden: »Benthams Großer Bruder ist zwar unsichtbar, aber er ist allgegenwärtig in den Köpfen der Insassen. Sie haben ihn verinnerlicht. Im digitalen Panoptikum fühlt sich dagegen niemand wirklich überwacht oder bedroht. […] In ihm fühlt man sich frei.«74 Während die Wärterin in Benthams Panoptikum für die Gefangenen nicht zu sehen ist oder allgemein unklar ist, ob überhaupt eine Überwachung stattfindet, weshalb eine

Vgl. Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2015. 73 Vgl. Byung-Chul Han: Im Schwarm. Ansichten des Digitalen. Berlin: Matthes & Seitz, 2014, S. 91f.; ders.: Psychopolitik (wie Anm. 40), 53f. 74 Ebd., S. 55. 72

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stetige Präsenz der (möglichen) Kontrolle und Überwachung herrscht75, agiert die Insassin im digitalen Panoptikum Han zufolge ohne solches Wissen. Stattdessen lebt sie »in der Illusion der Freiheit«76 und speist das Panoptikum mit Information, indem sie sich freiwillig z. B. auf Plattformen wie Facebook ausstellt und im Sinne der absoluten Macht ohne Zwang und im Bewusstsein einer eigens so empfundenen Freiheit handelt, während im Hintergrund eine Sammlung der eingespeisten Daten stattfindet. »Überwachung und Kontrolle sind inhärenter Teil der digitalen Kommunikation«77, werden als solche innerhalb des digitalen Panoptikums dennoch nicht wahrgenommen, weshalb auch alleine der Jailbreak eines iOS oder das Rooten eines Android-Smartphones nur eine Rückeroberung der Macht auf erster Ebene bleibt. Zwar hat sich gezeigt, wie die hier vorgestellten Methoden des Rooting, der Custom-ROM oder des Jailbreaks als Versuche beschrieben werden können, eine vorherige Machtstruktur zu unterlaufen und sie umzukehren. Dennoch sind sie, wie auch die Sex Pistols als Prototyp einer ›Casting-Band‹,78 eingebunden in den ästhetischen Kapitalismus, der die Produktion von neuen ästhetischen Aspekten an die Erweiterung der Inszenierungswerte der einzelnen Produkte koppelt. Weiterhin stellt das Konzept des Digitalen Panoptikums eine Möglichkeit zur Beschreibung der Machtstrukturen dar, in die das Smartphone durch die notwendige Gebundenheit an den Raum der Digitalität eingebunden ist und somit nur von einer Rückeroberung der Macht auf erster Ebene gesprochen werden kann. Als ästhetisch kann diese aufgrund der aufgezeigten Erweiterung der gestalterischen Möglichkeiten des Smartphones dennoch bezeichnet werden.

Vgl. Burkhardt Wolf: »Panoptismus«. In: Clemens Kammler et al. (Hg): Foucault-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart u. Weimar: J.B. Metzler, 2010, S. 279–284, hier S. 280. 76 Han: Im Schwarm (wie Anm. 73), S. 92. 77 Ebd., S. 93. 78 Vgl. Dave Laing: One chord wonders. Power and meaning in punk rock. Oakland: PM Press, 2015, S. 33f., sowie Jörg Wunder: »Böse ist gut, gut ist langweilig. Zum Tod von Malcolm McLaren«. In: ZEIT ONLINE, dort datiert am 10. April 2010. Auf: http://www. zeit.de/kultur/2010-04/malcolm-mclaren-nachruf, zul. abgeruf. am 26. Februar 2018. 75

Lisa Gotto

Beweglich werden Wie das Smartphone die Bilder zum Laufen bringt

Filme sind beweglich. Als Bewegtbilder unterliegen sie der Bewegung und bringen selbst Bewegung hervor: Das gilt seit Beginn der Kinematographie. Im Zeitalter der Digitalisierung sind Filme jedoch viel mobiler als sie es in der Industrialisierung sein konnten: Das gilt sowohl für ihre Produktion und Rezeption als auch für ihre Distribution. Nirgendwo zeigt sich das deutlicher als beim Smartphone-Film. Nicht nur ist die Kamera, die wir im Smartphone stets bei uns tragen, mobiler geworden. Auch das, was sie aufnimmt, kann ohne zeitliche Verzögerung oder räumliche Separation bearbeitet und betrachtet, verteilt und vernetzt werden: Im Smartphone Film fusionieren mediale Mobilität und mobile Medialität. Inwiefern verleiht die Mobilität der Smartphone-Praxis den filmischen Formen, die sie hervorbringt und vorantreibt, eine spezifische Dynamik? Welche ästhetischen Neuerungen können daraus entstehen? Und schließlich: Wie lässt sich die mediale Beweglichkeit der Verfahren theoretisch und methodisch fassen? Diesen Fragen werde ich im Folgenden in drei Abschnitten nachgehen. Der erste befasst sich mit der Transformation von Alltagspraktiken, denen das mobile Filmemachen im digitalen Zeitalter einerseits unterliegt und die es andererseits selbst hervorbringt, der zweite untersucht die sich im und durch den Smartphone-Film neu konstituierende filmische Ästhetik, und der dritte diskutiert die Frage, wie sich die Untersuchungsmethoden der mobilen Medialität selbst in Bewegung bringen lassen. Dabei werde ich davon ausgehen, dass mit den Operationen und Dynamiken des mobilen Medienhandelns ein neues Bildwissen entsteht – wobei der Smartphone-Film dieses Wissen nicht als bereits Feststehendes proklamiert, sondern durch mobile Verfahren überhaupt erst generiert.

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Mobile Praktiken

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Filme bringen etwas zum Laufen – und sie können selbst laufen. Längst haben sie ihre angestammten Plätze verlassen und sind vom Filmstudio, vom Schneideraum und vom Kino ausgewandert. Wenn nicht an ihre Stelle, so doch an ihre Seite treten neue Orte und Verortungen. Zu ihnen gehört das Überall und Jederzeit, mithin die Möglichkeit, Filme über mobile Medien situativ an jedem Ort zu drehen und zu sehen. Das erste Kennzeichnen mobiler Praktiken besteht somit in der gesteigerten Verfügung über die Mittel der Bildproduktion. Die Digitalisierung erleichtert nicht nur den Konsum und Besitz, sondern auch und vor allem die Herstellung der Bilder. Zwar begann die Entwicklung von Amateurkameras bereits um 1900 und expandierte seitdem kontinuierlich – von der leicht bedienbaren 35mm-Kamera mit Handkurbelbetrieb über die Federwerkkamera, von der 16mm-Kamera der Home Movie-Ära bis zum Camcorder des Videozeitalters. Jedoch ermöglicht erst die Integration von digitalen Kameras in mobile netzfähige Geräte eine nutzungsspezifische Verbreitung, die das Filmemachen für immer mehr Akteure erreichbar macht. Mit der Mobilisierung geht die Steigerung von Leistung und Geschwindigkeit einher. Dabei spielt die Rechenkapazität der bildgenerierenden Maschinen eine entscheidende Rolle. Sie organisiert nicht nur die Länge, sondern auch die Anzahl möglicher Aufnahmen: Wo die Filmrolle oder das Videoband noch ein Ende haben, sieht die digitale Aufnahmeapparatur das potenziell Unendliche vor. Damit verbunden ist das zweiten Kennzeichen mobiler Praktiken: das erweiterte Editieren. Beweglicher sind die Bilder nämlich nicht nur in Bezug auf ihre Herstellung, sondern auch in Bezug auf ihre Bearbeitung. Dabei besteht die grundlegende Steigerung der Digitalisierung im direkten Zugriff auf das Bildmaterial. Jede Schnittfassung kann sofort auf dem Bildschirm dargestellt und sogleich auch revidiert werden. »Das Plus des digitalen Bildes«, darauf hat Lorenz Engell hingewiesen, liegt stets in der Dekomponier- und Rekomponierbakeit, darin also, dass das Bild gerade nicht der Abschluss- oder Endzustand, nicht die gültige Fassung […] und nicht zuletzt deshalb auch aus sich heraus kein Dokument sein kann – außer dem des Verarbeitungszustands selbst.1 1

Lorenz Engell: »Die Liquidation des Intervalls. Zur Entstehung des digitalen Bildes aus Zwischenraum und Zwischenzeit«. In: ders.: Ausfahrt nach Babylon. Essais und Vorträge zur Kritik der Medienkultur. Weimar: VDG, 2000, S. 183–205, hier S. 198

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Ihre Spezifik, so Engell weiter, »ihr besonderes, von allen anderen Bildern unterschiedenes Charakteristikum entfalten die digitalen Bilder daher weniger als Bilder denn als Prozesse«2. Diese Prozessualität betrifft nicht nur das einzelne Bild, sondern auch und vor allem ihre Verknüpfung und Verkettung. Insofern ist auch das digitale Editieren der Bilderfolge immer schon durch den Status des Vorläufigen gekennzeichnet. Dabei erfolgt der Zugriff auf die Bilder mittels nonlinearer Steuerung ihrer Auswahl und Rekombination – mittels eines Verfahrens also, dass das Prozessuale der Bildverarbeitung noch einmal deutlich steigert. Damit einher geht das dritte Kennzeichen des mobilen Medienhandelns: die gesteigerte Distribution. Smartphone-Filme lassen sich nicht nur schnell verarbeiten, sondern auch schnell verteilen. Sie können an einzelne Adressaten verschickt, auf Video-Plattformen bereitgestellt oder auf Social MediaSeiten gepostet werden. Die Verbindung von Mobilität und Konnektivität ist ein Charakteristikum, das den Smartphone-Film sehr deutlich von jeder anderen Form der mobilen Filmpraxis unterscheidet. Denn dadurch, dass der Smartphone-Film sogleich weitergeleitet werden kann, ist er auch für andere verfügbar und erweiterbar. Er rückt damit ein in den Bereich des Kollektiven und Kollaborativen. Dabei geht es weniger darum, dass die Filme von möglichst vielen Nutzern an möglichst vielen Orten gesehen werden können. Entscheidend ist vielmehr, dass sie durch Anschlussoperationen weiterverarbeitet werden. Pierre Lévy unterstreicht: Damit Kollektive Sinn teilen können, reicht es also nicht aus, dass jedes Mitglied dieselbe Botschaft empfängt. Die Rolle kollaborativer Programme besteht eben gerade darin, nicht nur Texte, sondern auch Assoziations-, Anmerkungs- und Kommentarnetze gemeinsam zu erstellen, in denen sie von den einen oder anderen erfasst werden können. Dadurch wird die Konstituierung des gemeinsamen Sinnes sichtbar und quasi materialisiert.3

Smartphone-Filme können nicht nur verteilt werden, sie können darüber hinaus über die mit ihnen in Zusammenhang stehenden Kommentarfelder und Diskussionsforen Hinweise auf ihre Sinnerzeugung geben. Als mobile Medienpraxis zeichnet sich der Smartphone-Film auch dadurch aus, dass er in andere Ebd., S. 197f. Pierre Lévy: »Die Metapher des Hypertextes«. In: Claus Pias et al. (Hg.), Kursbuch Medienkultur. Die wichtigsten Theorien von Brecht bis Baudrillard. Stuttgart: DVA, 1999, S. 525–528, hier S. 527.

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mediale Systeme zu diffundieren vermag, dass er also über etablierte Grenzen hinweg in neue Kontexte gestellt werden kann. Diese Kontexte und Umgebungen sind nun ihrerseits höchst beweglich – nicht nur, weil alte Kommentare gelöscht und neue hinzugefügt werden können oder neue Kommentare die alten rekonfigurieren, sondern auch weil die Verbindungen zwischen Bildern, Filmen und Texten im digitalen Dispositiv nie abgeschlossen sind, sondern immer für ein Update offenbleiben. Social Media Seiten, Videoplattformen oder webbasierte Diskusssionsforen erweitern den Rahmen des Bild- und Textgefüges. Sie dehnen ihn aus und ermöglichen dadurch den Übergang von der feststehenden, unabänderlichen Anordnung des Sinnangebots zur prozessuralen Form der Sinnerzeugung. Die mobile Medienpraxis des Smartphone-Films ist dadurch charakterisiert, dass sie nicht länger von festen oder exklusiven Orten ausgeht – Orten der Produktion, Edition und Distribution. Ihr Spezifikum besteht vielmehr in einer besonderen Form der Beweglichkeit – einer Beweglichkeit der Geräte, Akteure, Verfahren und Übertragungen. Dieser tiefgreifende Wandel hat Folgen nicht nur praktischer, sondern auch ästhetischer Art. Eine Grundüberzeugung der Medientheorie besteht darin, dass textuelle Artefakte nicht unabhängig von den Praktiken und Prozeduren ihrer Hervorbringung betrachtet werden können. Wenn es also zutrifft, dass mit den neuen Möglichkeiten des mobilen Medienhandelns ein verändertes filmisches Verständnis zusammenhängt, dann müsste dieses Verständnis ausgedehnt werden auf die Frage nach der Herausbildung neuer Formen, Darstellungs- und Inszenierungsweisen. Diese wiederum müssten, um als Neues beobachtbar zu werden, sich vom Alten abwenden und dabei das Bekannte verstören. Es sind genau diese Störmomente, die mich im Folgenden interessieren werden.

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Mobile Ästhetiken

Beginnen wir mit einem ersten beweglichen Beispiel. Es zeigt einerseits die neue Kamera-Mobilität, ihre Entfesselung und potenzielle Grenzenlosigkeit und andererseits auch ihre Störung, insofern es dabei um den Zusammenbruch des geregelten und planvollen Ablaufs geht. Das Beispiel trägt den Titel

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Abb. 1: Möwenmobilität

Seagull Steals a Camera und ist auf YouTube zu finden.4 In einer Minute und 39 Sekunden entfaltet sich das Geschehen auf ebenso rasante wie überraschende Weise: Ein Abend in Cannes. Eine Kamera läuft. Der unveränderte Bildausschnitt lässt darauf schließen, dass das Gerät statisch ausgerichtet ist; vermutlich liegt es auf einem Tisch, an dem ein Abendessen eingenommen wird. Doch unversehens kommt es zu einer Umkehrung. Während das Smartphone des Touristen wohl allein die entspannte Abendstimmung einfangen sollte, wird es nun selbst gefangen. Plötzlich erscheint eine Möwe, läuft auf das Gerät zu, nimmt es mit dem Schnabel auf und fliegt davon. War der Vogel zunächst vor der Linse platziert und als Aufnahme-Objekt zu sehen, bringt er die Aufnahme-Situation durch sein Eingreifen abrupt in eine neue Lage. Im Schnabel getragen, fliegt die portable Kamera in einem Gleitflug über Gebäude und Straßen und eröffnet dabei eine veritable Vogelperspektive. Zu sehen sind wechselnde Bildausschnitte, dynamisierte Reißschwenks, der Wechsel von hell und dunkel, Fragmente von Flügeln und Fassaden – und schließlich, nachdem die Möwe auf einem Dach gelandet ist und die Kamera abgeworfen hat, der Anblick der Protagonistin mittels eines direkten Blicks in die Kamera. Der Vogel kreischt, hackt einige Male mit dem Schnabel auf das Display und verschwindet dann ebenso plötzlich wie er erschienen war.

»Seagull Steals a Camera« (RealJap, Upload 25.6.2011). Auf: https://www.youtube. com/watch?v=gcEIMJl6cPQ, zul. abgeruf. am 05. Februar 2018. Vgl. Abb. 1.

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So klein und unauffällig die Aufnahmeapparatur geworden ist, so schnell kann sie auch entwendet werden, um ihrer eigentlichen Bestimmung enthoben und neuen Zwecken und Zielen zugeführt zu werden. Die mobile Kamera vermag nicht nur die Reichweite der Aufnahmemöglichkeit zu steigern, sondern zugleich auch den reibungslosen Ablauf des Aufzeichnens durch Störungen in Frage zu stellen. Es sind jene Abweichungen und Irritationen, die etwas bemerkbar werden lassen, das jenseits der großen Form der geregelten Wissensordnung liegt.5 War die Sinnproduktion der filmischen Aufnahme über weite Strecken durch die technologisch-apparative Anordnung, etwa die Ausrichtung an den Erfordernissen von Licht- und Tonaufnahme organisiert, so sorgt die neue Kompaktheit des Dispositivs für eine ungleich durchlässigere Aufzeichnungssituation. Wo keine Scheinwerfer aufgestellt und keine Tonangeln eingesetzt werden müssen, wo die Szene nicht eigens eingerichtet und abgedichtet werden muss, da kann immer auch etwas ins Bild hineingelangen, das für die Aufnahme eigentlich nicht vorgesehen war. Der Zwischenfall ist auch ein Zweifelsfall: Er wirft das Medium auf seine Grundlagen zurück und erweitert damit die Grenzen des Überschau- und Erwartbaren. Zu diesen Grundlagen gehört, folgt man Béla Balázs, von jeher »die Beweglichkeit und die stete Bewegung der Kamera«6 – für Balázs ist sie sogar eines der wichtigsten »Grundelemente jener optischen Sprache«,7 die der Film formuliert und artikuliert. Denn die Kamera zeigt nicht nur immer neue Dinge, sondern auch immer neue Distanzen […]. Und das ist das historisch absolut Neue an dieser Kunst. Gewiss hat der Film eine neue Welt ent-deckt, die vor unseren Augen bislang ver-deckt gewesen ist. So die sichtbare Umwelt des Menschen und seine Beziehung zu ihr. Raum und Landschaft, das Gesicht der Dinge und den heimlichen Ausdruck des schweigenden Daseins. Aber der Film hat nicht nur Stofflich-Neues gebracht im Laufe seiner Entwicklung. Er hat etwas Entscheidendes getan. Er hat die fixierte Distanz des Zuschauers aufgehoben; jene Distanz, die bisher zum Wesen der sichtbaren Künste gehört hat.8

Zur Produktivität von Fehlern in der Mediengeschichte und für die Mediengeschichtsschreibung vgl. Butis Butis (Hg.): Goofy History. Fehler machen Geschichte, Köln: Böhlau, 2009. 6 Béla Balázs: »Die produktive Kamera« [1930]. In: ders.: Der Geist des Films. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2001, S. 14f., hier S. 14. 7 Ebd., S. 14. 8 Ebd., S. 14f. 5

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Balázs’ Bemerkungen zur medialen Spezifik des Films, also seines Vermögens, Bewegungen nicht nur im Bild, sondern auch und vor allem als Bewegungen des Bildes zu fassen, lassen sich nun dahingehend erweitern, dass sich die Aufhebung der Distanz im Zeitalter des Smartphone-Films vom Bild des Films auf seine Geräte überträgt. Die Möwenmobilität ist ein Beispiel dafür. Als Momentaufnahme einer Bewegung zeigt sie den fließenden Wechsel von Positionen jenseits der sinnhaft-strukturierten Anordnung, verlegt sich also auf »die reine Visualität des Unbestimmten«.9 Dabei entsteht ein »Bild des Wissens, das die Zufälle, die Kontingenzen und Arbitraritäten stärker hervorhebt als das Geplante und Erwartete«10. Der Zwischenfall ist auch ein Zweifelsfall. Er ermöglicht »eine Abkehr von den übergreifenden Orientierungen«11 und richtet den Blick auf jene Leerstellen, aus denen heraus Neues entstehen kann. Mit dem Zusammenhang der unerwarteten Neuausrichtung hat auch das zweite Beispiel viel zu tun. Es handelt sich dabei um eine Episode aus der Web-Serie Glove and Boots, einer Puppen-Comedy-Show, die über einen eigenen YouTube-Kanal ausgestrahlt wird. In der Folge Vertical Video Syndrome12 beschäftigen sich die Protagonisten Mario und Fafa mit einem mobilen Medien-Phänomen, das vertraute Blickanordnungen durcheinander bringt. Auch hier geht es also um eine Umkehrung, genauer: um den Wechsel von der horizontalen zur vertikalen Bildausrichtung. Im Zentrum steht dabei die Beobachtung, dass die Mobilität des Smartphones, d. h. die Beweglichkeit der Kamera-Positionierung, zu einer dramatischen Ausbreitung von hochkant aufgenommenen Videos führt. »Vertical Videos happen when you hold your camera the wrong way«, konstatiert Mario, »your video will end up looking like crap«. Umgeben von zahlreichen vertikal aufgenommenen Handy-Videos erklärt Fafa im Anschluss, worin die eigentliche Bedrohung der vermehrt auftauchenden neuen Formen bestehe. Sie seien nicht nur fehlerhaft und unschön anzuschauen, sondern passten auch nicht zu bestehenden Bild- und Blickkonventionen: »Vertical Video Syndrome is dangerous. Motion pictures have al-

Béla Balázs: »Die Bilderführung« [1924]. In: ders.: Der sichtbare Mensch oder die Kultur des Films. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2001, S. 84–95, hier S. 85. 10 Bernhard J. Dotzler u. Henning Schmidgen: »Einleitung: Zu einer Epistemologie der Zwischenräume«. In: dies. (Hg.): Parasiten und Sirenen. Zwischenräume als Orte der materiellen Wissensproduktion. Bielefeld: transcript, 2008, S. 7–18, hier S. 7. 11 Ebd., S. 7. 12 »Vertical Video Syndrome«, (Glove and Boots, Upload 25. Juni 2012). Auf: https:// www.youtube.com/watch?v=Bt9zSfinwFA, zul. abgeruf. am 05. Februar 2018. Vgl. Abb. 2. 9

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Abb. 2: Vertical Video Syndrome

ways been horizontal. Televisions are horizontal. Computer screens are horizontal. People’s eyes are horizontal. We aren’t built to watch vertical videos.« Diese Beobachtung weist Mario und Fafa als medienhistorisch geschulte Betrachter aus: Sie haben einen klaren Blick für historisch variierende Aufzeichnungstechnologien und Präsentationssysteme, für jene Ensembles also, die Sichtweisen und Blickverhältnisse je spezifisch produzieren und organisieren. Ihre besondere Aufmerksamkeit für das horizontale Bildformat als Zielvorgabe des ästhetisch Akzeptablen erweist sich damit als ein Richtwert im doppelten Sinn. Sie etabliert die horizontale Ausrichtung von Bildern und Bildschirmen als unhinterfragte Grundbedingung, nach der das Medium angeordnet und ausgerichtet wird – und sie macht das, was jener Definition zuwiderläuft, zur unerwünschten Abweichung. Vertikale Videos sind deshalb tatsächlich gefährlich. Ihr vermehrtes Aufkommen lässt darauf schließen, dass wir es nicht mit einer einzelnen Verwerfung, sondern mit der Häufung von Fehlleistungen zu tun haben. Schließlich ist ja nicht vom Symptom die Rede, sondern vom Syndrom; also nicht vom einzelnen Störzeichen, sondern vielmehr vom gleichzeitigen Auftreten verschiedener Defekte. In dieser Häufung liegt die eigentliche Erweiterung. Denn Störungen wirken nicht nur irritierend, sondern auch katalysierend. Sie sind innovationsfördernd, insofern sie nach neuen Verfahren im Umgang mit Störfällen fragen. Derlei Verfahren könnten sich einerseits auf den Ausschluss des nicht Formatgerechten beziehen – oder, interessanter, auf sein Produktivwerden. Denn das würde zeigen, dass sich neue Formen nicht nur imitierend an

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alten ausrichten, sondern über sie hinausweisen. Sie würden dann neue Perspektiven suchen und eigene Dynamiken entwickeln; sich also auf ihre mediale Spezifik besinnen, auf das, was sie sind, was sie können und was sie von anderen bereits etablierten Formen unterscheidet. Das dritte und letzte Beispiel der mobilen Ästhetik soll für den Übergang von der experimentellen Phase mit all ihren Störungen und Irritationen zur Etablierung eines eigenen Bildstils stehen. Das Beispiel ist die Handy-App Vine, die im Januar 2013 veröffentlicht wurde und seitdem ein eigenes soziales Netzwerk ausgebildet hat. Das Prinzip ist ebenso einfach wie kompakt: Die User der App drehen 6 Sekunden lange Videos, die von der Software in eine Endlosschleife überführt werden. Dabei läuft die Aufnahme exakt so lange, wie der Finger des Nutzers den Bildschirm berührt; der Schnitt (so man ihn noch so nennen kann) ist also in die Aufnahmeapparatur integriert und die Aufnahmedauer zeitlich begrenzt. Die fertigen Filme werden dann über die Vine-Plattform veröffentlicht und sind dort abrufbar und vernetzbar. Auch bei Vine wird der Umschwung von der horizontalen zur vertikalen Rahmung ausgestellt; hier allerdings nicht als plötzliche Irritation, sondern als selbstverständlich gewordene Operation. Das zeigt etwa ein Stop Motion-Clip, der eine animierte Puppe beim vertikalen Ausrichten eines iPhones auf einem biegsamen Miniatur-Stativ präsentiert.13 Die Puppe nähert sich dem Stativ, fixiert das Gerät, justiert es ein wenig, bis die richtige Position gefunden ist, und läuft dann vor die Kamera, um sich dort als Aufnahmeobjekt zu posieren. Abb. 3: Kamera/Aufbau

»Untitled« (Ian Padgham, Upload 30. Mai 2013). Auf : https://vine.co/v/ bYwPIluIipH, zul. abgeruf. am 05. Februar 2018. Vgl. Abb. 3.

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Hier manifestiert sich eine ästhetische Reflexion des eigenständig gewordenen Smartphone-Films, der nicht länger Anleihen und Anlehnungen bei anderen Medien sucht. Zudem verweist der Transport des Smartphones zum flexibel auszurichtenden Stativ auf den Produktionsvorgang des Films selbst: der Stop Motion-Trick entsteht durch eine Bewegungsillusion, die das mobile Gerät still und stabil stellt, um einzelne Bilder von unbewegten Motiven aufzunehmen und anschließend wieder in Bewegung zu bringen. Im Gegensatz zum Stop Motion-Verfahren, das den Film in kleinste Aufzeichnungs-Segmente unterteilt, sind auch ununterbrochene Aufnahmen möglich. Häufig handelt es sich dabei um kurze Alltagsszenen, die durch den Loop gleichsam gedehnt werden. Was unserer Aufmerksamkeit im Moment des Geschehens und Aufzeichnens entgeht, kann durch die wiederholende Dauerschleife vielleicht überhaupt erst bemerkt werden. In einem Clip mit dem Titel »Simple Pleasures Café«14 beispielsweise markiert das Flüchtige und Ephemere einer Kleinstbewegung (das leichte Tanzen eines Vorhangs, die Kombination von statischen und kinetischen Schattenwürfen, die Anordnung von Bildern und Objekten, die Verschränkung von Innen und Außen) einen Übergang vom Alltäglichen zum Ästhetischen.

Abb. 4: Licht/Schatten

14 »Simple Pleasures Café«, (Lisbetho, Upload 08. Februar 2013). Auf : https://vine.co/ v/bnFwEFVLzxF, zul. abgeruf. am 05. Februar 2018. Vgl. Abb. 4.

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Weiterhin können auch komplexe Narrationen entstehen – wie etwa im VineVideo … then I woke up in Calgary des Hollywood-Schauspielers Adam Goldberg.15 Der Film zeigt die verzerrte Perspektive einer traumgleichen Szenerie. Er befasst sich mit einer Situation, die zwischen Fahrten und Drehbewegungen oszilliert und wechselnde Raum- und Landschaftseindrücke kombiniert. Wo der Traum beginnt und wo er endet, an welchem Punkt sich Bewusstes und Unbewusstes begegnen, ist in dieser komplexen Überlagerung von Wirklichkeitssegmenten und Wahrnehmungsfragmenten nicht auszumachen. In einem Strudel von Bildeindrücken dreht sich der Loop ins endlos Unausgeglichene.

Abb. 5: Wach/Traum

Schließlich können Bilder von Smartphone-Filmen auch auf Bilder von anderen Filmen Bezug nehmen. Das zeigt beispielsweise der animierte Alptraum eines Oreo-Cookies16 – eine Horror-Vision als Referenz auf Shining (Stanley Kubrick, USA/GB 1980). War es in Stanley Kubricks Film das sehr kurze, sublime und immer wiederkehrendes Bild eines Blutstroms, der aus dem Aufzug des Overlook-Hotels quillt, sieht sich im Vine-Video »The Spilling« ein »… then I woke up in Calgary«, (Adam Goldberg, Upload 07. Dezember 2013). Auf: https://vine.co/v/hxYxbTKDXQA, zul. abgeruf. am 05. Februar 2018. Vgl. Abb. 5. 16 »The Spilling« (Oreo Cookie, Upload 28. Oktober 2013). Auf: https://vine.co/v/ hDq2L9PeVTX, zul. abgeruf. am 05. Februar 2018. Vgl. Abb. 6. 15

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Abb. 6: The Shining/ The Spilling

Oreo-Keks mit seinem Inneren, einem auf ihn zuströmenden Milchschwall, konfrontiert. Erkennbar wird in dieser kleinen Auswahl, dass die mobile Ästhetik des Smartphone-Films einen eigenen medialen Charakter zu entwickeln beginnt. Eine zentrale Rolle spielen dabei Bewegung und Beweglichkeit. SmartphoneFilme beziehen sich nicht auf das Dispositiv des Kinos, sondern auf die Bedingungen der mobilen Bildschirme und Betrachter: Ihre Bilder lernen laufen, indem man sie herumträgt. Jenseits der großen Dramaturgien, etwa des narrativen Kinofilms oder der seriellen Erzählung des Fernsehens, operieren sie mit der kurzen Aufmerksamkeitsspanne und dem verringerten Produktionsaufwand. Ihr Merkmal ist das Vorläufige und Veränderbare, ihr Kennzeichen die volatile Visualität. Deutlich wird dabei, dass die Formen des SmartphoneFilms über jene Kategorien hinausweisen, die die Filmtheorie traditionellerweise für die Auslegung von Filmtexten in Anschlag bringt: nämlich Werk, Autor und Narration. Wie wäre dem methodisch beizukommen? Danach soll abschließend gefragt werden.

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Die besondere Beweglichkeit des Smartphone-Films, seine mobile Medialität, legt es nahe, nach der Beweglichkeit von Untersuchungsansätzen zu fragen. Wenn wir also mit den etablierten filmanalytischen Kategorien nicht weiterkommen – wo könnten wir dann ansetzen? Eine erste Möglichkeit wäre, sozusagen im Rückgriff auf den ersten Punkt, die neuen Praktiken des mobilen Medienhandelns genauer in den Blick zu nehmen. Denn die Mikrodramaturgien, die sich im und durch den Smartphone-Film entwickeln, hängen mit einer transformativen Mobilität zusammen, die sich an der Kleinheit der Geräte ausrichtet. Mit dem Smartphone haben wir sowohl die Kamera als auch den Bildschirm immer schon im Griff – unsere Hand umschließt das gesamte Dispositiv, bringt es zum Laufen und hält es in Bewegung. Das ist keine unbedeutende Kleinigkeit, sondern möglicherweise der Beginn einer neuen Epoche des filmischen Begreifens. War die filmische Hand im Zeitalter der Industrialisierung gewissermaßen ausgelagert und nur in den Handgriffen des Kameramanns, des Cutters oder des Film-Vorführers als Schaltstelle von filmischen Operationen in Bewegung, so können wir nun alle als Produzenten-Rezipienten händisch aktiv werden. Weiterhin rücken unsere Hände den Bildern selbst immer näher. Denn anders als bei der distanzierten Betrachtung des projizierten Leinwand-Bilds, das ganz klar auf Abstand setzt, fordert der Touch-Screen zur Berührung und damit zur Handbewegung auf. Miniaturisierung und Mobilisierung sind auch deshalb interessant, weil sie das Haptische und damit das Handhabbare ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken. Die Hand findet hier neue Betätigungsfelder – es lohnt sich also, ihre Praktiken und Prozeduren im Zeitalter der Digitalisierung genauer in den Blick zu nehmen. Einen Vorschlag dafür hat jüngst Michel Serres unterbreitet. In seiner Liebeserklärung an die vernetzte Generation bezeichnet er deren Angehörige als »petite poucette«, also als kleine Däumlinge – ihrer Fähigkeit wegen, die Welt über den Touchscreen des Smartphones zu erschließen. Die Däumlinge, schreibt Serres, haben sich im Virtuellen eingerichtet. […] Durch ihr Handy sind ihnen alle Personen zugänglich, durch GPS alle Orte, durch das Netz das gesam-

LISA GOTTO te Wissen. Während wir in einem metrischen, durch Entfernungen konstruierten Raum leben, bewegen sie sich in einem topologischen Raum der Nachbarschaften.17

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Interessanterweise nun bezieht Serres dieses System der Nachbarschaft und Nahverhältnisse auch auf die Praktiken des Lesens und Schreibens. Er erkennt dort eine Verlagerung vom Blättern zum Wischen, von der formatierten, abgrenzbaren Papierseite zum fließend abrollenden Text, vom distanzierten Erschließen zum involvierten Erfassen. Damit ist ein wichtiges Bezugsfeld angesprochen – und mit ihm die Hand.18 Das Erfassen und Begreifen der Welt wird im digitalen Zeitalter maßgeblich durch taktile Techniken organisiert: durch Fingerfertigkeiten und Handpraktiken, die nicht mehr vom Abstand und Abgrenzbaren ausgehen, sondern vom Nahen und Berührbaren. Eben hier könnte auch eine Medientheorie des mobilen Bildes ansetzen. Sie müsste nach dem Status der berührbaren Bilder fragen, nach ihrer Gestaltbarkeit und Veränderbarkeit – etwa, wenn wir am Smartphone Bilder nicht nur aufrufen, sondern auch mit unseren Fingern größer oder kleiner ziehen, wenn wir jedes Bild, das wir sehen, mit einem anderen Bild in Berührung bringen können. Es müsste also danach gefragt werden, was passiert, wenn nicht länger der Bildschirm oder die Leinwand Form und Format vorgeben, sondern die Bilder erst über taktile Verfahren generiert und erschlossen werden – und weiterhin, was passiert, wenn die Sinnesmodalitäten von Visualität und Taktilität nicht länger als getrennte Sphären existieren, sondern über die Berührung aneinander vermittelt werden.19 Für die Filmtheorie, die sich über lange Strecken auf das Primat des Visuellen konzentriert hat, muss das eine Herausforderung sein. Denn eine Ideologie des Blicks, die das Sehen als bevorzugten Zugang zur Erkenntnis oder als Garant der Transparenz behauptet, stößt durch die apparativ bedingte Konjunktur der Taktilität auf Widerstand: Hier meldet sich etwas zurück, das dem Augenschein entgeht. Im erfahrbaren Raum der Tastbarkeit werden

Michel Serres: Erfindet Euch neu! Eine Liebeserklärung an die vernetzte Generation. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2013, S. 14f. 18 Zur gesteigerten Bedeutung der Hand und ihrer Operationen im Kontext des digitalen Medienhandelns vgl. ausführlich Oliver Ruf: Die Hand. Eine Medienästhetik. Wien: Passagen, 2014. 19 Zur Medialität dieses Verhältnisses vgl. Lisa Gotto: »Kontaktieren. Zur medialen Begegnungszone von Visualität und Taktilität«. In: Daniela Wentz u. André Wendler (Hg.): Die Medien und das Neue. Marburg: Schüren, 2009, S. 17–28. 17

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die wahrnehmbaren Dinge auf einer vom Betrachtenden und vom menschlichen Auge getrennten Ebene neu angeordnet. Dabei fordert das, was tastend erschlossen werden kann, eine besondere Form der Partizipation. Der Rezipient ist nicht länger ein passiv Außenstehender, sondern ein aktiv Teilnehmender: Er wird gleichsam mobilisiert. Wer etwas ertastet, bleibt in Bewegung. Der Wahrnehmungsmodus des Taktilen selbst konstituiert sich durch Prozessualität und Variabilität. Denn anders als beim Überblick oder der Gesamtschau wird das zu Ertastende sukzessive erfasst. Bereits 1935 schreibt Erwin Strauss: Das Momentane gehört zu jedem Tasteindruck, ›Moment‹ im zeitlichen Sinne wie im Sinne der Bewegung verstanden. […] In der Tastwelt gibt es keinen geschlossenen, erfüllten Horizont; es gibt nur Momente, darum aber auch den Drang fortzugehen von Moment zu Moment. Die Tastbewegung wird darum zum Ausdruck einer ruhelosen und endlosen, nie ganz erfüllten Annäherung.20

Beim Tasten geht es um ein prozessuales Erkunden und Ermitteln, um eine unabschließbare Bewegung innerhalb beweglicher Konstellationen. Das Taktile impliziert nicht das Geschlossene, sondern das zu Erschließende, also etwas, das erst im Werden aufgeht. Dabei wird das Fragmentarische, das Weiterrücken von Moment zu Moment, nicht zuletzt durch die variable Positionierung ermöglicht. Durch die Bewegung ist der Tastende in besonderer, nämlich dynamischer Weise involviert und stets unterwegs. Jeder Haltepunkt ist zugleich ein potenzieller Ansatzpunkt – nicht Abschluss, sondern Anschluss. Eine mobile Methodik müsste eben hier ansetzen. Sie müsste mobile Medien als praktische Hervorbringungen betrachten, die auch prozedurale Beschreibungen erforderlich machen. Sie müsste das Nachdenken über Mobilität, Ubiquität und Konnektivität in ihr Zentrum rücken und sich dabei immer wieder verunsichern lassen. Sie müsste Vögel als Autoren sehen und Flüge und Fahrten als unabgeschlossene Texte verstehen. Sie müsste sich für nicht-lineare Narrationen interessieren, für rekursive Drehungen und Loops. Sie müsste die Beweglichkeit möglicher Archive samt ihrer lösch- und erweiterbaren Operationen im Blick haben: Tags, Kommentare, Bildverknüpfungen mit oder ohne Worte. Sie müsste also, kurz gesagt, ihre Fragen mobilisieren.

20 Erwin Strauss: Vom Sinn der Sinne. Ein Beitrag zur Grundlegung der Psychologie [1935]. Berlin: Springer, 1978, S. 361.

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Den Smartphone-Film zeichnet ein besonderes Verhältnis zur Begreifbarkeit aus. Denn das Smartphone lässt uns die Dinge nicht nur anders sehen, sondern auch ganz anders aufnehmen. Auf diese Weise können die Fragmente der Alltagsrealität medial verarbeitet und ästhetisch produktiv gemacht werden. Durch die allzeit verfügbare Smartphone-Kamera kann jeder noch so kleine Moment sofort eingefangen und fixiert werden, kann gerade das Beiläufige und Flüchtige umstandslos aufgezeichnet und bearbeitet werden. Möglich wird dadurch eine Form der Zeugenschaft, die im gewöhnlichen Kleinen den Zugang zu Welterkundung und Welterschließung findet. Die Affinität des Films zum Alltäglichen beschreibt Siegfried Kracauer 1960 folgendermaßen: Von den kleinen Zufalls-Momenten, die dir und mir und dem Rest der Menschheit gemeinsame Dinge betreffen, kann in der Tat gesagt werden, dass sie die Dimension des Alltagslebens konstituieren, diese Matrize aller anderen Formen der Realität. Es ist eine sehr subtile Dimension. […] Als Produkte von Gewohnheiten und mikroskopisch kleinen Wechselwirkungen bilden sie ein elastisches Gewebe […]. Filme tendieren dazu, dieses Gewebe des täglichen Lebens zu entfalten. […] So helfen sie uns, unserer gegebene materielle Umwelt nicht nur zu würdigen, sondern überallhin auszudehnen. Sie machen aus der Welt virtuell unser Zuhause.21

Was Kracauer hier als filmisches Vermögen herausstellt, nämlich die spezifisch mediale Fähigkeit, sich an die kleinen Alltagsdinge zu heften und sie so erst sicht- und auslegbar zu machen, erscheint im digitalen Zeitalter enorm gesteigert. Denn dadurch, dass das Smartphone allzeit zuhanden ist, macht es die Dinge auf besondere Weise handhabbar. In der Folge entsteht eine mobile Erfassung des Alltags, eine bewegliche Art des Filmemachens, das sein Rohmaterial jenseits der Studios sucht und in der Routine des Alltags findet. Insofern sind Smartphone-Filme, intensiver noch als ihre Kino-Vorgänger, ganz besonders dazu geeignet, »aus der Welt virtuell unser Zuhause«22 zu machen.

21 Siegfried Kracauer: Theorie des Films. Die Errettung der äußeren Wirklichkeit [1960]. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1985, S. 394. 22 Ebd.

Florian Sprenger

Zehn Elemente einer Medientheorie mobiler Adressierung Wer sich mit einem Smartphone durch die Welt und die umgebenden technischen Infrastrukturen bewegt, ist immer und überall erreichbar, wo das Endgerät adressiert werden kann. Die technische Herausforderung besteht darin, dass ein Objekt seine Position ändern kann, dabei aber seine Adresse behält und unter dieser erreichbar ist. Die Netzabdeckung ist beschränkt, doch wenn wir uns telefonierend oder surfend im Raum bewegen, verlieren wir selten den Kontakt. Die Smartness des portablen Geräts, ein Hybrid mehrerer Technologien, liegt nicht nur in seinen umfangreichen Rechenkünsten oder seinen intelligenten Interfaces, sondern vor allem darin, dass es über eine Vielzahl von Adressen verfügt und den Ort dieser Adressen in den jeweiligen Netzen kontinuierlich registriert, auch wenn sich seine Position beständig ändert: die Koordinaten auf der Erdoberfläche, die zugeteilte IP-Adresse (Internet Protocol), die individuelle MAC-Adresse (Media Access Control) des Geräts, die auf der SIM-Karte gespeicherte, zur Einbuchung ins Netzwerk benötigte IMSI-Adresse (International Mobile Subscriber Identity) sowie die geräteeigene IMEI-Adresse (International Mobile Equipment Identity) des Netzteilnehmers, die Position in der Hand und schließlich auch die Nummer, unter der es angerufen werden kann (MSISDN, Mobile Subscriber Integrated Services Digital Network Number).1 Die Information über diese Adressen lokalisiert das Gerät – und mit ihm seinen Nutzer – in den Netzwerken der Gegenwart, die unterschiedliche räum-

Zur Übersicht über die Technologien vgl. Katina Michael, Roger Clarke: »Location and tracking of mobile devices: Überveillance stalks the streets«. In: Computer Law & Security Review 29 (2013b), S. 216-228.

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liche Ordnungen strukturieren und an die virtuellen Register der technischen Adressierungssysteme koppeln. Die Positionen von Adressen sind in diesem Kontext nicht mehr fest an geographische Orte gekoppelt, sondern so mobil wie die Geräte, deren Anwendungsmöglichkeiten sie bestimmen. Doch was bedeutet es, wenn die Adressen sich mit den Geräten durch den Raum bewegen, wenn die Orte unserer Adressen mobil werden und die automatisierte Dokumentation dieser Bewegungen die Bedingung für ihren Vollzug ist? In einem bislang viel zu wenig bedachten medienhistorischen Wandel unterscheiden sich diese technischen Verfahren mobiler Adressierung von den bisherigen postalischen Adressordnungen, die noch im Telefonbuch auf dem Smartphone präsent sind und in denen Adressen an einen geographischen Ort gebunden waren: durch die Kopplung der technischen Adressierungsverfahren mit Bewegungen im Raum, durch die Selbstregistrierung dieser Bewegung, in der im Akt der Bewegung Daten über diese Bewegung erhoben werden, und durch die damit ermöglichte Kommunikation zwischen sich bewegenden Geräten. Vor dem Hintergrund dieser drei technischen Entwicklungen zeigen die folgenden zehn Elemente einige Eckpunkte einer Theorie mobiler Adressierung auf, die versucht, mit den Innovationen digitaler Kulturen Schritt zu halten und sie zugleich auf die geschichtlichen Linien zu beziehen, in denen sie verankert sind. Eine historisch fundierte Theorie der Adressierung ist für diese Auseinandersetzungen insofern ein zentraler Baustein, als Adressen im Kontext mobiler Medien die Zuordnung von Orten zu Geräten sicherstellen, zugleich aber die Bedingung dafür sind, dass sich die Geräte von Ort zu Ort bewegen können, ohne ihre Adressen im jeweiligen Netz zu verlieren. Ohne Adressierung, so könnte man sagen, keine Mobilität. Wie immer hilft ein Blick auf die Etymologie: Der Begriff Adressierung wird im 18. Jahrhundert aus dem Französischen ins Deutsche übernommen. Adresser wiederum ist vom lateinischen addirectiare abgeleitet, was ausrichten oder in eine gerade Richtung bringen bedeutet.2 Im Informatikerdeutsch bezeichnet Adressierung im 20. Jahrhundert die »Zuordnung von Adressen zu Daten oder Befehlen zur Lokalisierung der Speicherplätze, in denen sie untergebracht sind«.3 In den Worten Friedrich Kittlers auf den Punkt gebracht: »Adressen sind Daten, unter denen andere Daten überhaupt erst erscheinen Vgl. Otto Basler, Hans Schulz und Gerhard Strauß. Deutsches Fremdwörterbuch. 2. Aufl. Berlin: De Gruyter, 2008 (Bd. 1), S. 139. 3 Gemeint ist hier die Speicherzuteilung für Mikroprozessoren; die Definition kann aber auf räumlich verteilte Anordnungen ausgedehnt werden, vgl. Hans-Jochen 2

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können.«4 In dieser informationstechnischen Weiterentwicklung des Begriffs stecken drei Vorannahmen, denen die folgenden Thesen nachgehen: Erstens dass die technische Zuteilung von Adressen über die Korrelation von Adresse und Adressiertem hinaus auch jene von adressiertem Gerät und seiner Position umfasst. Dieses Verhältnis von Gerät und geographischem Ort ist zweitens von Übertragungen abhängig, deren von je unterschiedlichen Medien geformte Kanäle einen Raum aus erreichbaren Adressen aufspannen, welcher schließlich drittens einer Lokalisierung dient, also der Bestimmung des geographischen Orts, an dem sich etwas befindet. Über die informationstechnische Bestimmung hinaus ist in diesem Sinne Adressierung als das Wissen über die Position von Objekten im Raum zumindest potentiell mit der Macht über ihre Positionierung an bestimmten Orten verknüpft. Addiert man zu diesen drei Punkten die genannten drei Eigenschaften der Mobilität, die Verfahren der Lokalisierung im Kontext des Mobilfunks auszeichnet, erhält man in groben Zügen ein Gerüst, mit dem sich einige zentrale Aspekte der »technologischen Bedingung der Gegenwart«5 untersuchen lassen. Erreichbarkeit bedeutet in diesem Kontext, dass ein Gerät zum Sende- und Empfangspunkt von Daten in unterschiedlichen Netzwerken, also zur Adresse wird, an die Übertragung gerichtet sein kann. Empfang bedeutet, dass etwas übertragen wird und somit von A nach B gelangt. Dort, wo es ins Netz eingespeist wurde, ist die Adresse von A. Dort, wo es ankommt, ist die Adresse von B. A und B sind aber nunmehr in mobilen Netzen auf eine neue Weise an den geographischen Raum gekoppelt: Sie sind adressierbar, müssen lokalisierbar sein, können sich aber beide bewegen. Während funkende Schiffe, Satellitentelefone oder Walkie Talkies ebenfalls in Bewegung kommunizieren, registrieren Smartphones darüber hinaus ihre Position, weil und indem sie im Mobilfunknetz kommunizieren. Das technische Verfahren der cellular triangulation, um das es im Folgenden gehen wird, stellt sicher, dass die Position und die Bewegung jedes Endgeräts jederzeit in Relation zu drei Sendemasten bestimmbar ist. Damit wiederum tritt die Frage nach ihren Umgebungen her-

Schneider: Lexikon Informatik und Datenverarbeitung. 3. Auflage. München: Oldenbourg, 1997, S. 357-378 (Lemma »Adressierung«). 4 Friedrich A. Kittler: »Die Stadt ist ein Medium«. In: Dietmar Steiner et al. (Hg.): Geburt einer Hauptstadt am Horizont. Wien: BuchQuadrat, 1988, S. 507-531, hier S. 529. 5 Vgl. Erich Hörl: »Die technologische Bedingung. Zur Einführung«. In: ders. (Hg.): Die technologische Bedingung. Beiträge zur Beschreibung der technischen Welt. Frankfurt a. M: Suhrkamp, 2011, S. 7–53.

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vor: Der Raum ihrer Adressierung wird zu einer technisch durchdrungenen Umgebung, die von den Relationen zwischen Adressen gebildet wird. Medienhistorisch von entscheidender Bedeutung ist in diesem Kontext daher die Kopplung von Adressierung und Lokalisierung: In Mobilfunknetzen ist ein Gerät nur adressierbar, wenn seine jeweilige Position identifizierbar ist. Die Besonderheit der Mobilfunknetze besteht darin, dass die Verfahren der Adressierung Bewegungen durch den Raum dieser Netze bei kontinuierlichem Empfang ermöglichen. Um ständig erreichbar zu sein, muss ständig die eigene Position im Netz bekannt sein, und dies wiederum ist möglich, weil die adressierte Bewegung des Endgeräts durch das Netz seine eigene Lokalisierung durch cellular triangulation technisch möglich macht. Bei diesem Verfahren wird die Entfernung eines Gerätes zu mindestens drei Sendemasten ständig gemessen, um die Position innerhalb des wabenförmigen, hexagonalen Mobilfunknetzes durch die Überlappung der drei Sendebereiche zu bestimmen. Um die ständige Erreichbarkeit des Smartphones auch bei Bewegungen und somit beim Wechsel der Sendeantennen zu gewährleisten, um also die Kontinuität des Empfangs aufrecht zu erhalten, wird durch den Akt der Adressierung die Position des adressierten Geräts bestimmt. So wird es möglich, dass sich das Gerät im Raum bewegt und den Kontakt zu einzelnen Masten verliert, ohne vom Netz getrennt zu werden. Adressen bleiben jedoch an die technischen Netze und Infrastrukturen gebunden – mobil ist nur die letzte Verbindung vom Sendemasten zum Empfangsgerät. Außerhalb der Reichweite dieser Netze gibt es keine Adressen und damit keine Lokalisierung von Endgeräten. Die mobilen Netze der Kommunikation gibt es nur, weil die Geräte ständig ihre Position dokumentieren und über Adressen verfügen, die sich mit ihnen bewegen. Adressierbar zu sein ist mithin ein technischer Modus mobiler Existenz – was nicht adressierbar ist, gibt es in den Netzen der Übertragungen nicht, weil es keinen Ort hat und sich nicht bewegen kann. In diesem Sinne sind mobil vernetzte Geräte ständig dabei, ihre Anwesenheit an adressierbaren Positionen zu dokumentieren. Die Konsequenzen dieser neuen, mobilen, als location-aware charakterisierten Verfahren der Adressierung sind überaus weitreichend. Über die geographische Lokalisierung hinaus dienen Adressen nicht nur mannigfaltigen Praktiken des sozialen Zusammenlebens, weil sie regeln, wer sich an wen wendet, sondern auch zu dessen Registrierung: Sie erlauben über den Nachvollzug vergangener Aktionen hinaus im Kontext von Big Data die Prädikation von zukünftigen Bewegungen bis hin zur Graphenanalyse sozialer Beziehungen

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– wer befindet sich wann mit wem an welchem Ort? Mitunter dienen Adressen und computergestützte Verfahren der Adressierung sogar der Entscheidung, wer an einem Ort anwesend sein darf und wer nicht – ob mit oder ohne Wissen der Adressierten. Seit Edward Snowden wissen wir, dass jede unserer digitalen Spuren, sei sie gewollt oder ein Effekt unserer Bewegungen, auch jemand anderen adressiert: einen Dritten, der sich der Kommunikation aufpfropft. Auf der Gegenseite, im Widerstand gegen Überwachung und Kontrolle, unternehmen die von Finn Brunton und Helen Nissenbaum beschriebenen Verfahren der obfuscation, der Verschleierung und der Verschlüsselung große Anstrengungen, Adressen unsichtbar zu machen oder ihre Bewegungen zu verdecken.6 Von den Metallstreifen (chaff), die Militärflugzeuge ausstreuen, um nicht von Radar und Raketen erkannt zu werden, bis hin zum TOR-Browser, der die Rückverfolgung von Datenspuren durch hundertfache Überlagerung unmöglich macht, zielen zahlreiche Techniken des Widerstands auf die Unkenntlichmachung nicht nur von Inhalten, sondern auch von Adressen. Das Ziel dieser Techniken und Praktiken ist eine Re-Symmetrisierung der potentiell überwachten Kommunikation, die nunmehr auch Information über Positionen und Bewegungen umfasst und damit an Verhaltensweisen und Profile rückgekoppelt werden kann. Adressen können somit als Grundoperatoren der Mobilität digitaler Kulturen gelten. Sie sind elementare technische Bausteine einer Gesellschaft, deren Zusammenhang in beständig steigendem Maße durch Übertragungen geleistet wird: Unsere sozialen Verbindungen sind heute von technischen Netzwerken, in denen Daten durch Mikroentscheidungen verteilt und kontrolliert werden, kaum noch zu unterscheiden.7 Wenn technische und soziale Netzwerke in diesem Sinne konvergieren, wenn also technische Möglichkeiten der Verbindung bestehende soziale Relationen überlagern und neue soziale Verbindungen durch technische Kanäle geschaffen werden, wie wir es heute um uns herum beobachten, dann können soziale Beziehungen kaum noch ohne Rückgriff auf die technischen Netze der Kommunikation gedacht werden. Die lange aufrecht erhaltene Trennung von Sozialem und Technischem wird obsolet, was eine medientheoretische Annäherung an Adressierungs-

Vgl. Finn Brunton und Helen F. Nissenbaum: Obfuscation. A user‹s guide for privacy and protest. Cambridge, Mass.: MIT Press, 2015. 7 Vgl. Zum Konzept der Mikroentscheidung Florian Sprenger: Politik der Mikroentscheidungen. Edward Snowden, Netzneutralität und die Architekturen des Internets, Lüneburg: Meson Press, 2015. 6

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verfahren umso dringlicher macht, zumal auch das Wissen vom Sozialen von den technischen Netzwerken seiner Verteilung abhängt. Entsprechend gilt es, darüber nachzudenken, was es bedeutet, dass es heute als allgemeine Teilnahmevoraussetzung an westlichen Kulturen gelten kann, ständig und überall adressierbar zu sein, d.h. ein portables Empfangsgerät mit sich zu tragen. Wir sind Zeugen und Praktizierende eines Übergangs von Adressierbarkeit in permanente Adressiertheit. Smartphone-User sind, so könnte eine erste These lauten, selbst Teil der Infrastrukturen, die die Erreichbarkeit ihrer Geräte definieren. In diesem Sinne stellt das Mobilfunknetz Erreichbarkeit her, indem es als Technologie der Unterbrechungslosigkeit dauerhaften Empfang ermöglicht – auch dann, wenn gar nicht telefoniert wird. Erreichbarkeit impliziert Lückenlosigkeit. Konnektivität und Kollektivität werden, so kann man die aktuelle technologische Bedingung interpretieren, derzeit neu verschränkt. Verbunden sein kann aber nur, was eine Adresse hat oder durch die Verbindung eine Adresse erhält. Konnektivität als die technische Struktur der Verbundenheit ist, so der Medientheoretiker Eugene Thacker, eine Voraussetzung von Kollektivität, von handlungsfähigen, intentionalen Gruppen, resultiert aber keineswegs zwangsläufig in ihr.8 Der Umkehrschluss seiner These wird von Thacker nicht explizit gemacht: Die Zerstörung von Konnektivität, die Aufhebung oder Manipulation von Verbindungen, verhindert Kollektivität. Wer wo wie mit wem verbunden ist, entscheidet darüber, wer wo wie was mit wem gemeinsam tun kann.9 Über die Herstellung oder Trennung von Verbindungen zu entscheiden, sie aufrechtzuerhalten oder sie zu verhindern, bedeutet demnach, Macht auszuüben – eine Macht, die angesichts der durch digitale Netzwerke multiplizierten Relationen und ihrer ökonomischen Ausschöpfung nahezu täglich an Bedeutung gewinnt. Eine der Voraussetzung der Ausübung dieser Macht ist Information über Adressen.

Vgl. Eugene Thacker: »Networks, Swarms, Multitudes«. Auf: CTHEORY, dort datiert am 18.05.2004, http://www.ctheory.net/articles.aspx?id=422, zul. aufgeruf. am 30.11.2016. 9 In diesem Sinne könnte eine Erweiterung des Kommunikationsbegriffs auf einen Kooperationsbegriff, wie von Erhard Schüttpelz und Sebastian Gießmann vorgeschlagen, helfen, die soziale Dimension technischer Verbindungen zu unterstreichen, in der aus Konnektivität Kollektivität wird. Smartphones dienen aus dieser Perspektive der Versammlung von Daten und Menschen und mithin der Ko-operation ihrer Bewegung. Vgl. dazu Sebastian Gießmann, Erhard Schüttpelz: »Medien der Kooperation. Überlegungen zum Forschungsstand« In: Navigationen 15 (2015), S. 7–54. 8

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Eine Theorie der Adressierung kann neben diesen Ansätzen auf eine ganze Reihe von Überlegungen über entsprechende Technologien zurückgreifen: auf John Durham Peters und Briankle Changs Beschäftigung mit den Aporien der Kommunikation, auf Bernhard Siegerts Geschichte der Post, auf Louis Althussers Theorie der Ansprache, auf Jacques Derridas Buch über die Postkarte, um nur die wichtigsten zu nennen.10 In der Soziologie wird Adressierbarkeit im Anschluss an Niklas Luhmann etwa von Alois Hahn als Verfahren der Zurechnung eines Akteursstatus an Subjekte begriffen und damit zwischen der diskursiven Verfasstheit von Menschenbildern und sozialen Institutionen verortet.11 Die Frage der Technik bleibt dabei allerdings weitestgehend ausgespart. Keiner dieser Ansätze stellt jedoch die Frage, was Adressierung heißt, wenn die Adresse sich ständig bewegt und keinen festen Ort hat. In der Mobilität der Adressierung, in der die adressierten Geräte nicht statisch an einem Ort bleiben, ist die Bewegung abhängig von den Variablen der jeweiligen Umgebung. Adressierung bekommt damit eine neue Dimension, weil sie die Zuschreibung von Adressen in eine neue Relation zu den Verhältnissen von Raum und Zeit setzt. Die folgenden zehn Thesen, Geschichten und technischen Erörterungen versuchen, einige Ansatzpunkte für eine Annäherung an die technischen Verfahren und die Politik mobiler Adressierung aufzuzeigen. (1.) Ein Angerufener braucht wie ein Anrufender eine Adresse, eine eindeutig lokalisierbare, einem identifizierbaren Netzanschluss zugeordnete, maschinenlesbare, codierte Angabe eines Punkts im Netz, von dem aus oder an den Signale übertragen werden können. Adressen gibt es nur im Plural: Gäbe es nur einen Ort, an den sich Kommunikation richten könnte, bräuchte dieser Ort keine Adresse, weil es keine Alternative gäbe und Kommunikation zwar

10 Vgl. John D. Peters: Speaking into the Air. A History of the Idea of Communication, Chicago: University of Chicago Press, 2000; Vgl. Briankle Chang: Deconstructing Communication, Minneapolis: University of Minnesota Press, 1996; Vgl. Bernhard Siegert: Relais. Geschicke der Literatur als Epoche der Post, Berlin: Brinkmann & Bose, 1993; Vgl. Louis Althusser: Ideologie und ideologische Staatsapparate, Hamburg: VSA, 2010; Vgl. Jacques Derrida: Die Postkarte von Sokrates bis an Freud und jenseits, Berlin: Brinkmann & Bose, 1982; Vgl. auch Stefan Andriopoulos, Gabriele Schabacher und Eckhard Schumacher (Hg.): Die Adresse des Mediums, Köln: DuMont, 2001. 11 Vgl. Alois Hahn: »Identität und Selbstthematisierung«, in: Alois Hahn/Volker Kapp (Hg.), Selbstthematisierung und Selbstzeugnis: Geständnis und Bekenntnis, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1987, S. 9–24.

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gestört werden, aber nur am richtigen Ort ankommen könnte. Ohne Adressen gibt es kein Kommunikationsnetz, weil sie die Voraussetzung von Relationen zwischen den Knoten sind. Selbst wenn Kommunikation nicht an jemanden gerichtet ist, wenn sie sich also als Broadcasting an alle wendet, hat sie, weil Kommunikation eine Verbindung zwischen A und B herstellt, Adressen. Die Erscheinungsformen der Adressierung sind abhängig von den technischen Gegebenheiten. Adressen fungieren damit als Grundlage aller medialen Netze, in denen Signale, ob analog oder digital, visuell oder akustisch, elektrisch oder elektronisch, versandt werden. In der Logik der Adressierung kommt die basale Operationsstruktur von Kommunikation zum Tragen, verstanden im physikalischen Sinne als Übertragung einer Wirkung von A nach B – physikalische Kräfte liegen jeder Übertragung zugrunde, von Schallwellen über Elektrizität bis zum Licht. Adressen können entsprechend als Funktionen der Kanäle verstanden werden, durch die übertragen wird. Je nach Netzwerk mag es die Adresse schon vor der Übertragung geben oder sie wird durch die Übertragung erzeugt – in jedem Fall gibt es die Adresse nur, wenn es einen Kanal gibt, durch den sie erreichbar ist. (2.) Das Verhältnis von Übertragung und Adressierung ist angesichts der Vielfalt der Kanäle, durch die übertragen werden kann, von zentraler Bedeutung für die sich überlagernden technischen Netze der Gegenwart. Adressierung ist ein Vorgang der Korrelierung, der mit einer Übertragung einhergeht. Nicht nur Adresse und Adressat stehen in einer zu bestimmenden Relation der Übertragung – die Übertragung korreliert Sender und Empfänger und macht sie so in ihrer Ko-Relation zu Adressen. Kommunikation braucht eindeutige Adressierungen, um operieren zu können, indem sie sich an bestimmte Adressen oder an alle im Akt der Übertragung Adressierten wendet. Die Start- und Endpunkte der Übertragung müssen in räumlicher und/oder zeitlicher Dimension voneinander unterschieden sein. Versteht man Kommunikation als einen Akt der Scheidung, der eine Trennung voraussetzt und zugleich zu tilgen versucht, dann wird der Kanal zum Abstand zwischen zwei Adressen, die es gibt, weil es den Kanal gibt. Damit es Kommunikation geben kann, muss es eine Trennung geben, die überbrückt wird.12 Es muss zwei geben, zwischen

12 Diese kommunikationstheoretische Figur haben John Durham Peters und Briankle Chang historisch wie dekonstruktiv genauer umrissen; Vgl. Peters: Speaking into the Air und Chang: Deconstructing Communication.

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denen kommuniziert wird. Kommunikation setzt einen Abgrund voraus, der im Akt der Kommunikation überwunden wird, aber bestehen bleibt. Ihre Adressen bekommen die zwei getrennten Kommunizierenden durch den Kanal, der sie aneinander bindet, indem er sie miteinander verbindet und sie so zu Anfang und Ende möglicher Übertragungen macht. Die Zweiheit der Kommunizierenden ist die Möglichkeit des Kanals. Im Akt ihrer Verbindung werden Sender und Empfänger zu Adressen, weil es einen Kanal der Verbindung zwischen ihnen gibt. Die Konsequenz daraus: Wir können nicht nur nicht nicht kommunizieren, sondern Kommunikation gibt es nicht ohne Adressen. . Selbst wenn sie den Kommunizierenden nicht bekannt sind, wie etwa beim Radio, werden sie im Akt des Übertragens erzeugt: »Nicht wird also der Brief der Adresse zugestellt, sondern die Adresse durch den Brief. Es gibt keinen Ort vor seiner Ankunft, keine Identität vor der Adresse.«13 Umgekehrt gilt: Um einen medialen Kanal zu jemandem zu verwenden, muss der Empfänger Zugang zum Netz dieser Kanäle haben – und damit eine eigene Adresse. (3.) Wenn es keinen Adressaten gibt, dann adressiert sich der Kommunizierende, der Logik der Adressierung folgend, notwendigerweise selbst. Diesen Gedanken noch vor der Formulierung expliziter Theorien der Kommunikation umreißend, imaginiert sich Friedrich Nietzsche in einem nachgelassenen Aphorismus als letzter Mensch und schreibt: Oedipus. Reden des letzten Philosophen mit sich selbst. Ein Fragment aus der Geschichte der Nachwelt – Den letzten Philosophen nenne ich mich, denn ich bin der letzte Mensch. Niemand redet mit mir als ich selbst, und meine Stimme kommt wie die eines Sterbenden zu mir. Mit dir, geliebte Stimme, mit dir, dem letzten Erinnerungshauch alles Menschenglücks, laß mich nur eine Stunde noch verkehren, durch dich täusche ich mir die Einsamkeit hinweg und lüge mich in die Vielheit und die Liebe hinein, denn mein Herz sträubt sich zu glauben, daß die Liebe todt sei, es erträgt den Schauder der einsamsten Einsamkeit nicht und zwingt mich zu reden, als ob ich Zwei wäre. Höre ich dich noch, meine Stimme? Du flüsterst, indem du fluchst? Und doch sollte dein Fluch die Eingeweide dieser Welt zerbersten machen! Aber sie lebt noch und schaut mich nur noch glänzender und kälter mit ihren mitleidslosen Sternen an, sie lebt, so dumm und blind wie je vorher, und nur Eines stirbt – der Mensch. – Und doch! Ich höre dich noch, geliebte Stimme! Es stirbt noch Einer

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Siegert: Relais, S. 127.

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außer mir, dem letzten Menschen, in diesem Weltall: der letzte Seufzer, dein Seufzer, stirbt mit mir, das hingezogene Wehe! Wehe! geseufzt um mich, der Wehemenschen letzten, Oedipus.14

Da es niemanden gibt, mit dem er kommunizieren könnte, unterscheidet sich der letzte Mensch von sich selbst, um zu zweit zu sein. Er verdoppelt sich, um zu Sender und Empfänger in einer Person zu werden. Die Notwendigkeit, dass jede Übertragung einen Empfänger und dass Kommunikation ein Ziel haben muss, weil sie nicht bei sich bleiben kann, führt Nietzsche in aller Deutlichkeit vor. In dem Moment, in dem etwas übertragen wird und in dem es einen Kanal gibt, der A und B miteinander verbindet, gibt es die Adressen am Anfang und am Ende des Kanals – selbst wenn sie am gleichen Ort oder in der gleichen Person liegen. Wenn es keinen Adressaten gibt, wie beim letzten Menschen, der niemanden mehr hat, zu dem er sprechen kann, weil niemand außer ihm mehr da ist, dann muss im Akt der Kommunikation zwangsläufig eine Adresse produziert werden. Adressierungen bedeuten die Möglichkeit, etwas zu-schreiben zu können. Wer eine Adresse hat oder wem durch Kommunikation eine Adresse zugeteilt wird, hat eine verortbare Position im Spiel der Kommunikation, selbst wenn er sie sofort wieder verliert. Der letzte Mensch zieht daraus sich selbst als Lehre. Er kann nicht ins Leere seiner Welt und an die »mitleidslosen Sterne« sprechen, ohne die Leere um ihn anzusprechen, welche die Leere in ihm selbst füllt und ihn verdoppelt. (4.) Adressierung hat nicht notwendigerweise ein vorgegebenes Ziel. Eine an eine Adresse gerichtete Übertragung erreicht aber immer einen Endpunkt. Eine grundlegende These des Strukturalismus, von der Jacques Derrida in seiner Beschreibung der Dekonstruktion ausgeht, besagt, dass etwas, vorzugsweise ein Zeichen, nur etwas sein kann durch die Differenz zu anderem. Laut Derrida muss, ähnlich wie bei Nietzsches letztem Menschen, die Schrift »in radikaler Abwesenheit eines jeden empirisch festlegbaren Empfängers über-

14 Friedrich Nietzsche: »Nachgelassene Fragmente. Herbst 1884 bis Herbst 1885«. In: Ders.: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe. Herausgegeben von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Berlin: De Gruyter, 1974. S. 460-461. Vgl. dazu ausführlicher Florian Sprenger: »Divisionen des Individuums«. In: Natascha Frankenberg, Michael Andreas (Hg.): Im Netz der Eindeutigkeiten. Unbestimmte Figuren und die Irritation von Identität. Bielefeld: transcript, 2013, S. 291–313.

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haupt funktionieren können«15. In anderen Worten: schriftliche Kommunikation ist auch dann möglich, wenn niemand den Text je lesen oder die Zeichen als Zeichen erkennen wird. Doch daraus folgt nicht, dass es Schrift ohne Adressaten gibt. Der von Derrida angestrebte »Bruch mit dem Horizont der Kommunikation als Kommunikation von Bewusstheiten oder von Anwesenheiten und als linguistische oder semantische Übermittlung des Meinens«16 hängt sowohl mit dem Bruch des uneinholbaren, nie festlegbaren Kontextes als auch mit dem Bruch der unausweichlichen Verräumlichung zusammen, laut dem keine zwei Zeichen am gleichen Ort sein können und deshalb Raum brauchen – verstanden als »Unterbrechung der Anwesenheit im Zeichen«.17 Derrida liefert damit einen theoretischen Rahmen, in dem Adressierung gedacht werden kann: Selbst wenn eine Botschaft nie an ihr Ziel gelangen mag und notwendigerweise auch ohne ein solches Ziel eine Botschaft ist, wenn sie sich also als Botschaft an alle wendet, auch wenn niemand ihren Code beherrscht, so adressiert sie in dem Moment, in dem sie gelesen wird. Dies gilt selbst dann, wenn sie nicht verstanden wird. Auch in diesem Sinn ist Adressierung ein Produkt der Übertragung. Wenn sich jede Botschaft zwangsläufig an alle wendet, weil ein Zeichen iterierbar, d.h. unabhängig von Ursprung und Intention wiederholbar ist, wird, weil jedes Zeichen potentiell von allen gelesen werden kann, das Ende der Übermittlung eine Adresse. Adressen mag es nicht dauerhaft geben und eindeutige Adressierung ein hoffnungsloses Unterfangen bleiben – Derrida hat auf diese Dissemination in aller Vehemenz hingewiesen.18 Jedes Zeichen sei ausgerichtet und damit an alle adressiert, auch wenn es nicht den intendierten Empfänger finde oder sogar niemals gelesen werde. Die Verbindungswege mögen unvorhersagbar sein – kommt eine Botschaft an, korrekt, missverstanden oder gestört, am Ziel oder anderswo, so ist eine Verbindung vorhanden und damit Sender und Empfänger gegeben. Adressierung geschieht in diesem Sinne nicht vor der Kommunikation. Eine Adresse gibt es nicht, weil sie auf den Brief geschrieben wird, sondern weil es einen Kanal gibt, durch den er geschickt werden kann.

Jacques Derrida: »Signatur Ereignis Kontext«. In: Peter Engelmann (Hg.): Randgänge der Philosophie. Wien: Passagen, 1988, S. 291–314, hier S. 333. 16 Ebd., S. 299. 17 Ebd., S. 311. 18 Vgl. Derrida: Die Postkarte. 15

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Der Kanal macht aus der phantasmatischen Einheit von Sender und Empfänger, die in der Kommunikation vereint werden sollen, qua Unter-Scheidung eine Zweiheit, denn er schiebt in die Einheit ein Intervall. Der Kanal ist, um den Gedanken Derridas aufzunehmen, beides gleichermaßen: »[…] diese elementare différance der Zwischen-setzung oder des Intervalls zwischen zwei Oberflächen ist zugleich die Bedingung des Kontakts und die originär verräumlichte Öffnung, die unverzüglich nach der technischen Prothese ruft und sie damit möglich macht.«19 In anderen Worten: Um A von B zu unterscheiden, muss A bestimmt werden, indem B bestimmt wird. Dies impliziert einen Aufschub. A liegt damit zeitlich vor B und zwischen ihnen liegt der Kanal. Diese räumliche Ausdehnung, die A mit B verbindet und trotz ihrer geographischen Entfernung aneinander grenzen lässt, ist nicht gegeben, sondern Effekt der medialen Operationen der Übertragung. Der Kanal ist eine Verzeitlichung wie eine Verräumlichung der Übertragung und damit schiebt er auf, indem er seine beiden Enden als Adressen der Übertragung vorgibt. Dies geschieht durch die Differenz des Raumes: Wo A ist, kann B nicht sein, und deshalb muss es eine differenzierende Distanz zwischen ihnen geben. Zeitlich gesehen kann B auch A sein, weil Senden und Empfangen vom gleichen Ort, aber nur nacheinander möglich sind – man kann sich zwar einen Brief schicken, der am nächsten Tag ankommt, sich aber nicht selbst anrufen, weil der Kanal zur gleichen Zeit belegt ist. Auf die Übertragung gemünzt: Das Dazwischen von Raum und Zeit erst erzeugt den Empfänger als Empfänger und den Sender als Sender. Keine Kommunikation kann in unmittelbarer Echtzeit geschehen, weshalb es immer einen Abstand und einen Aufschub geben muss. Dieser Aufschub ist die Zeit des Kanals und dieser Abstand der Raum des Kanals. Diese Teilung bedeutet »ebenso sehr die Teilnahme wie die irreduzible Aufteilung«.20 In der Aufteilung werden Orte verteilt und Adressen zugeteilt. Wer eine an alle gerichtete Botschaft empfängt – wie etwa eine Radio- oder Fernsehübertragung –, ist damit Empfänger und hat eine Adresse, wie jeder Computer in einem Netzwerk über eine eindeutige MAC- bzw. IP-Adresse verfügen muss und ein Smartphone eine eindeutige Geräteadresse und eine eindeutige Netzwerkadresse braucht, um als Teilnehmer im Mobilfunknetz anerkannt zu werden. Die Kanäle der Kommunikation stellen die Adressen zu.

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Jacques Derrida: Berühren. Jean-Luc Nancy. Berlin: Brinkmann & Bose, 2007, S. 292. Ebd., S. 249.

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(5.) Auch wenn scheinbar beide Vorgänge in eins fallen, ist es wichtig, den Unterschied von Adressierung und Lokalisierung aufrecht zu erhalten, denn es handelt sich um unterschiedliche technische Operationen. Adressierung ist eine Funktion der Übertragung. Lokalisierung ist ein Verfahren, Adressen mit Positionen und Bewegungen zu korrelieren. Folgt man Friedrich Kittlers eingangs zitierter Definition, nach der Adressen Daten über das Erscheinen anderer Daten sind, dann sind die Daten der Adressierung, die selbst als Adressen von Daten wirksam werden, die Grundlagen der lokalisierenden Berechnungsoperationen. Adressierung kann somit vom Kanal her verstanden werden. Bei einem schlichten elektrischen Kabel zur Übertragung von Energie oder Signalen werden die Adressen durch die Materialität der Verbindung erzeugt, die an einem Ende beginnt und am anderen Ende des Drahts endet.21 Anfang und Ende des Kabels sind in diesem Fall die Positionen des Senders und des Empfängers. Gibt es einen Kanal, so gibt es zwei Enden, zwischen denen der Kanal vermittelt, wodurch sie zu Adressen werden, weil sie erreichbar sind. Einen Kanal gibt es, wenn es eine Verbindung gibt, durch die etwas geschickt werden kann. Die Adresse ist eine Funktion der Ausdehnung des Kabels und in dieser Hinsicht ein medialer Effekt auf den geographischen Raum zwischen den Enden der Übertragung, der zum Territorium des Kanals wird. Diese basale Übertragungsfunktion bleibt in der Ausdifferenzierung der elektrischen und elektronischen Kabelnetzwerke der Telegraphie und der Telephonie bestehen. Auch bei drahtloser Übertragung sind die beiden Positionen der Übertragung Adressen im Netz – an einem Ort muss es ein Sende- und am anderen Ort ein Empfangsgerät geben, auch wenn es keine verdrahtete Verbindung zwischen ihnen gibt, sondern Wellen und Frequenzen Signale vermitteln. Der Akt der Adressierung durch den Kanal bildet auch bei drahtlosen Übertragungen eine Grundoperation aller Übertragungsnetze. Die Logik des Kanals bleibt bestehen, selbst wenn die Übertragung nicht von Punkt zu Punkt vollzogen wird, sondern als Broadcasting von einem Ort aus alle Adressen im Radius der Erreichbarkeit adressiert. Sobald ein Signal empfangen wird, gibt es einen Kanal zwischen Sender und Empfänger, auch wenn es viele Empfänger für einen Sender oder viele Sender für einen Empfänger gibt.

21 Vgl. Daniel Gethmann, Florian Sprenger: Die Enden des Kabels. Kleine Mediengeschichte der Übertragung. Berlin: Kadmos, 2014.

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Die phatische Dimension des Verhältnisses von Sender und Empfänger besteht darin, dass zwischen ihnen vor jeder Botschaft ein Kanal liegt. Der Kanal hat durch seine Materialität Auswirkungen auf das, was durch ihn hindurch übertragen werden kann: Er organisiert Raum und Zeit, weil Sender und Empfänger räumlich und zeitlich getrennt sind und er selbst eine Ausdehnung besitzt. Ein Kanal hat Anfang und Ende und damit per se ein Ziel. Eine Übertragung hat zwangsläufig einen Ort, an dem sie ankommt, und dieser Ort befindet sich, Unterbrechungen ausgenommen, am Ende eines Kanals. Eine Adresse ist nicht nur dort, wohin eine Botschaft gesendet wird, sondern auch da, wo etwas ankommt. Wer eine falsche Nummer wählt, verwendet zwar eine Adresse, adressiert aber den fälschlicherweise Angerufenen, während das intendierte Ziel unadressiert bleibt. Wer mit seinem Smartphone keinen Empfang hat, ist nicht mehr Teil des Netzes – seine Telefonnummer zu kennen, hilft in diesem Fall nicht bei der Adressierung. Die Anzahl der Adressen entspricht der Anzahl von Enden von Kanälen und möglichen Übertragungen. (6.) Alexander Graham Bell berichtet 1876 in seinem Labortagebuch folgende Begebenheit über das erste Telefongespräch mit seinem Assistenten Thomas Watson: Mr Watson was stationed in one room with the Receiving Instrument [S – F.S.]. He pressed one ear closely against S and closed his other ear with his hand. The Transmitting Instrument was placed in another room and the door of both rooms were closed. I then shouted into M [das Mundstück – Verf.] the following sentence: »Mr Watson – come here – I want to see you«. To my delight he came and declared that he had heard and understood what I said. I asked him to repeat the words. He answered »You said ›Mr. Watson – come here – I want to see you‹.« We then changed places and I listened at S while Mr Watson read a few passages from a book into the mouth piece M. It was certainly the case that articulate sounds proceeded from S.22

Bezeichnenderweise ist die erste telefonisch übertragene Nachricht ein Befehl, der Watsons Namen ausspricht und sagt, dieser solle sich zeigen, um den Befehl zu wiederholen. Die Botschaft artikuliert, was die Verbindung verfügt: Angerufen zu werden bedeutet, der übertragenen Stimme Untertan und als solcher adressiert zu sein. War die erste im Morsecode übermittelte telegra-

22 Alexander G. Bell: Bell Notebook. Volume 1, März 1876, S. 10. https://www.loc.gov/ resource/magbell.25300201/?sp=22, zul. aufgeruf. am 30.11.2016.

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phische Botschaft zwischen Washington und Baltimore 1844 noch ein Bibelzitat – ›What hath God wrought?‹23 –, kann der Befehl der Wiederholung der Botschaft in personam nunmehr direkt erfolgen. Angerufen zu werden ist, darauf weist Louis Althusser in einer vielzitierten Passage seines Textes Ideologie und ideologischer Staatsapparat von 1969 hin, ein Akt der Subjektivierung von Individuen.24 Die Anrufung hat für Althusser eine interpellative Dimension, die das Individuum in die unterworfene Position eines Subjekts zwingt, ohne dass dies durch die gesendete Botschaft intendiert sein müsste.25 Der Experimentalaufbau in Bells Labor ist in diesem Kontext besonders aufschlussreich, weil er nicht der später eingeführten Form des Telefons entspricht: Watson ist darauf vorbereitet, angerufen zu werden, denn während Bell im Nebenzimmer sein Mikrofon justiert, wartet er mit dem Ohr am Lautsprecher auf ein Signal. Strenggenommen gibt es keinen Anruf, sondern nur die im Voraus abgesprochene Erreichbarkeit Watsons. Getestet wird nicht nur die Übertragung der Stimme, sondern auch die Adressierung des anderen Endes des Kabels. Der Befehl an Watson ist lediglich eine Prüfung des Funktionierens des Kanals. Obwohl niemand anderes als Watson die Botschaft empfangen kann, wird er beim Namen genannt. Ein Klingeln des Telefons oder ein anderes Signal, das den Eingang eines Anrufs anzeigen würde, war technisch im ersten Patent Bells nicht vorgesehen.26 Entsprechend ist Watson bereits vor dem Anruf in Erwartung seiner Adressierung. Praktikabel war diese Anordnung naheliegenderweise nicht, denn diese Art der dauerhaften Erreichbarkeit setzt ununterbrochene Aufmerksamkeit und Anwesenheit voraus. Erst einige Jahre nach diesen Ereignissen führt besagter Watson in Fortsetzung der Arbeit Bells die bis heute wirksame Klingel ein: It began to dawn on us that people engaged in getting their living in the ordinary walk of life couldn’t be expected to keep the telephone at their

Vgl. dazu Bernhard Siegert: »Von der Unmöglichkeit, Mediengeschichte zu schreiben«. In: Philipp von Hilgers, Ana Ofak (Hg.): Rekursionen. München: Fink, 2009, S. 157–175. 24 Vgl. Althusser, Ideologie und ideologische Staatsapparate, S. 75 25 Zur performativen Dimension von Anruf, Appell, Adresse vgl. Andrea Allerkamp: Anruf, Adresse, Appell. Figurationen der Kommunikation in Philosophie und Literatur. Bielefeld: transcript, 2005. 26 Vgl. Alexander G. Bell: Improvement in Telegraphy. Patentnummer 174,465, 7. März 1876, https://www.google.com/patents/us174465, zul. aufgeruf. am 30.11.2016. 23

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ear all the time waiting for a call, especially as it weighed about eight pounds, then, and was as big as a small packing case, so it devolved on me to get up some sort of call signal.27

Das Telefon, wie es sich in der Folge durchsetzen wird, ist entsprechend dadurch charakterisiert, dass Erreichbarkeit auch ohne ständige Aufmerksamkeit möglich ist, indem ein akustisches Signal bei einem Anruf den Angerufenen darüber in Kenntnis setzt, dass er gemeint ist, wenn sein Anschluss adressiert wird. Gemäß der daraus entstehenden sozialen Konvention soll ein Absender oder Anrufer sich ebenfalls identifizieren, da anhand der Form einer Botschaft nicht feststellbar ist, woher sie stammt. (7.) Eine Besonderheit aller mobilen Empfangstechniken vom Funkgerät über das Radio bis hin zum Smartphone liegt darin, dass die funkenden Empfangseinheiten dieser Geräte alles empfangen, was ihren Frequenzen entspricht. Ein Funkgerät registriert wie ein Radio alle Nachrichten auf seiner Frequenz, seien sie an den Funkenden gerichtet oder nicht. Eine WLAN-Karte empfängt alle Datenpakete in ihrer Reichweite und sortiert erst nach dem Empfang anhand des Headers jene Pakete aus, die nicht an die Adresse des Gerätes gerichtet sind. Jede derartige Übertragung mobiler Daten erreicht in anderen Worten alle Netzwerkempfänger in Reichweite. Von Mobilfunkgeräten eigenständig sortiert werden, welche Nachrichten an ihre IMSI adressiert und welche überflüssig sind. Wendy Chun hat folgerichtig von einer Promiskuität unserer Gadgets gesprochen.28 Im sogenannten promiscous mode empfängt jedes Gerät alle Übertragungen. Erst die Adresse sortiert, was weiterverarbeitet wird. Und Adressen können gefälscht werden, Adressierung kann aber auch ein Akt der Höflichkeit sein, der Botschaften sortiert.

27 Thomas A. Watson: The Birth and Babyhood of the Telephone. An Address delivered before the Third Annual Convention of the Telephone Pioneers of America at Chicago, October 17, 1913. New York: American Telephone and Telegraph Company, 1929, S. 35. Benjamin Morton hat ausgehend von dieser Geschichte skizziert, wie bereits in den 1920er Jahren mit Pagern die individuelle Adressierbarkeit hergestellt wird, obwohl die zunächst verwendeten akustischen Signale – etwa in Krankenhäusern oder Polizeiwachen – für alle Menschen im Umkreis hörbar waren: Vgl Benjamin Morton: »A Waiting Room Without Walls. Paging, Pagers, and the Rise of Mobile Communication«, in: Robert C. MacDougall (Hg.), Communication and Control. Tools, Systems, and new Dimensions. Lanham: Lexington, 2015, S. 59–73. 28 Vgl. Wendy Chun: »Habits of Leaking. Of Sluts and Network Cards«. In: Differences 26 (2015), S. 2–28.

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Da in mobilen zellulären Netzwerken jede Sendestation eine Vielzahl von Empfangsgeräten bedienen muss, aber nur über eine begrenzte Anzahl von Frequenzkanälen verfügt, sind unterschiedliche Verfahren entwickelt worden, Frequenzen so zu modulieren, dass sie über mehrere Informationskanäle verfügen. So wird es möglich, über einen Kanal viele Geräte zugleich zu adressieren, obwohl alle alles empfangen. In den heutigen Mobilfunknetzen werden mehrere Verfahren parallel verwendet und ein handelsübliches Smartphone beherrscht sie gleichermaßen. Zu diesen sogenannten Multiple Access-Verfahren zählt im GSM-Netz (Global System for Mobile Communications) der dritten Generation, das in weiten Teilen der Welt verbreitet ist, das Verfahren Frequency Division Multiple Access (FDMA), das auf jeder Frequenz nacheinander unterschiedliche Sender adressiert, was mit acht Kanälen pro Frequenz für die Übertragung von Gesprächen ausreicht, für die Übertragung großer Datenmengen aber schnell an Kapazitätsgrenzen stößt. Das UMTS-Netz (Universal Mobile Telecommunications System) der vierten Generation operiert mit dem Wideband Code Division Multiple Access (WCDMA)-Verfahren, bei dem jedes Empfangsgerät über einen Code verfügt, mit dem es die zugeteilten Daten aus der Gesamtübertragung herausfiltern kann. Alle Empfänger teilen also die verfügbare Kapazität. Im aktuellen LTE-Netz (Long Term Evolution) der fünften Generation sind weitaus höhere Datenraten möglich, weil flexible und weitaus größere Bandbreiten genutzt werden können als mit den anderen Standards. Adressierung ist also auch bei kabelloser Übertragung ein Effekt des Kanals, selbst wenn alle Netzwerkkarten und Empfangsantennen alles empfangen, was sie erreicht. (8.) Gegenwärtige Technologien mobiler Adressierung sind dadurch charakterisiert, dass Lokalisierung nicht nur eine zusätzliche Funktion der Adressierung darstellt, die in Anwendungen überführt werden kann, sondern Voraussetzung für die Teilnahme an den verschiedenen Kommunikationsnetzen ist. Es handelt sich um unterschiedliche technische Systeme auf verschiedenen Skalierungsebenen, die hier nicht auf ihre Unterschiede, sondern ihre Gemeinsamkeiten hin befragt werden sollen. Ein handelsübliches Smartphone verfügt im Wesentlichen über vier Möglichkeiten der Ortsbestimmung: Erstens kann mittels eines integrierten Gyroskops, eines Kompasses sowie Geschwindigkeits- und Bewegungssensoren die Ausrichtung des Geräts bestimmt werden, was in zahlreichen Apps und Spielen genutzt wird. Das berührungssensitive Interface operiert mit diesen Funktionen.

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Zweitens verfügen die meisten Geräte über einen GPS-Empfänger, der anhand der relativen Position zu mehreren Satelliten die geographischen Koordinaten des Geräts mit einer Genauigkeit von wenigen Metern bestimmen kann – vorausgesetzt, es befinden sich keine Hindernisse wie Decken, Schluchten oder hohe Gebäude in der Umgebung. Aus der gemessenen relativen Position der Satelliten werden die Koordinaten errechnet – bestimmt wird also nicht die geographische Position, sondern die Relation zwischen den Adressen der Satelliten und dem Gerät. GPS hat den Vorteil, dass die Technologie aufgrund ihrer Passivität von beliebig vielen Benutzern zugleich verwendet werden kann. GPS-Abfragen werden daher auch nicht registriert und können nur indirekt überwacht werden. GPS-Geräte kommunizieren nicht untereinander und können nicht getrackt werden.29 Um sich in den zellularen, vor allem in Europa, Asien und Afrika verwendeten GSM-, UMTS- und LTE-Mobilfunknetzen zu bewegen, muss ein Smartphone drittens dauerhaft mit je drei umgebenden Mobilfunkmasten verbunden sein.30 Die Entwicklung der permanenten Adressierbarkeit durch cellular triangulation beginnt in den 1950er Jahren bei Bell und Motorola. Das 1947 von Donald Ring erfundene zelluläre System wird 1972 von Amos Edward Joel für die Bell Labs patentiert31, 1979 in Tokio von Nippon Telegraph and Telephone erstmals eingeführt und in den 1980er Jahren als erste Generation des Mobil-

29 Vgl. zur Geschichte von GPS William Rankin: After the map. Cartography, Navigation, and the Transformation of Territory in the Twentieth Century. Chicago: University of Chicago Press 2016. Verbunden mit dem GPS-Sensor ist üblicherweise ein Magnetometer, der das Erdmagnetfeld misst und so die Ausrichtung auf den Nordpol bestimmt, nach der die dargestellte Karte ausgerichtet wird. 30 Vgl. zur Verbreitung und Technik des GSM-Netzes Tony Wakefield: Introduction to mobile communications. Technology, services, markets. Boca Raton: Auerbach Publications, 2007, S. 60f. 31 Amos E. Joel: Mobile Communication System (3,663,762) 16. Mai 1972. Dieses Patent sucht nach einer Lösung für das Problem begrenzter Frequenzen: Zwar ist es möglich, über Funk zu kommunizieren, doch erstens ist die Reichweite begrenzt und zweitens reicht die Anzahl der verfügbaren Frequenzen in einer großen Funkzelle in urbanen Räumen nicht aus. Die von Joel vorgeschlagene Lösung besteht in einer Ersetzung großer, reichweitenstarker Sendemasten durch ein hexagonales Netzwerk kleiner Masten, die jeweils über eine ausreichende Kapazität an Frequenzen verfügen. Parallel zu Joel entwickelt Martin Cooper für Motorola ein ähnliches System, das zwar die erste kommerzielle Zulassung erhält, aber mit nur einem einzigen Masten eine sehr beschränkte Reichweite hat. Der erste Anruf mit dem DynaTAC 8000X (Dynamic Adaptive Total Area Coverage) richtet sich am 17. Oktober 1973 an Joel Engel von Motorola: »Joel, this is Marty. I’m calling you from a cell phone, a real handheld portable cell phone.« (Tom Murphy: »40 Years

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funks (1G) marktreif.32 Das Mobilfunknetz ist durch eine Wabenstruktur aus hexagonalen Zellen definiert, die von je drei Antennen auf Sendemasten gebildet werden, die jeweils dreimal einen Winkel von 120 Grad abdecken. Bei einem eingehenden Anruf für ein Mobiltelefon wird zunächst über das Netz des Providers anhand der Telefonnummer (MSISDN) das Endgerät identifiziert und dessen letzte Einbuchung in das Netz anhand der IMSI mit der Angabe der jeweiligen location area abgerufen, einem aus mehreren Funkzellen mit einem gemeinsamen base station controller bestehenden Gebiet. Im Anschluss wird von den Funkzellen dieses Gebiets ein Signal an alle erreichbaren Endgeräte versandt, das die gesuchte IMSI als Adressangabe im Header enthält. Wenn das entsprechend adressierte Gerät verfügbar ist, wird eine Verbindung hergestellt, indem über die Basisstation Datenpakete via TCP/IP durch das kabelgebundene Netzwerk des Providers verteilt werden. Die Lokalisierung mittels der angewählten location area durch die Datenbanken des Providers ist jedoch nur eine Möglichkeit der Adressierung im Netz. Eine zweite Möglichkeit wird dann wichtig, wenn ein Gerät während eines Gesprächs oder einer Datenübertragung (bei Smartphones also ständig) das Empfangsgebiet der Zelle verlässt. Um portabel sein zu können, ohne dass die Verbindung unterbrochen würde, muss das Mobilgerät seine Position kennen und beständig mit den umgebenden Sendern kommunizieren. Dazu misst das Endgerät parallel zur Gesprächs- oder Datenübertragung die Stärke der Empfangssignale der Broadcast Control Channels der umliegenden, mit unterschiedlichen Frequenzen operierenden Masten und wählt sich beim stärksten Masten ein. Durch sogenannte Pings, Aufforderungen der Station an den Empfänger, ein Signal zu senden, dessen Laufzeit Aufschluss über die Entfernung gibt, wird die Distanz vom jeweiligen Sendemasten bestimmt. Die vom Endgerät gemessenen Daten werden an den base station controller übertragen, der die Aufgabe hat, über einen möglichen handover zu einer anderen Zelle zu entscheiden und gegebenenfalls dort einen Kanal zu reservieAfter the First Cell Phone Call: Who Is Inventing Tomorrow‘s Future?«, in: IEEE Consumer Electronics Magazine 2 (2013), S. 44–46, hier: S. 40.) 32 Die historische Entwicklung von Mobilfunknetzen hängt eng zusammen mit Versuchen, Fahrzeuge an das Funknetz anzuschließen und telefonisch adressierbar zu machen. Vgl. zur Geschichte des Mobilfunks Regine Buschauer: »(Very) Nervous Systems. Big Mobile Data«. In: Ramon Reichert (Hg.): Big Data. Analysen zum digitalen Wandel von Wissen, Macht und Ökonomie. Bielefeld: transcript, 2014, S. 405–436, hier S. 415-416; Clara Völker: Mobile Medien. Zur Genealogie des Mobilfunks und zur Ideengeschichte von Virtualität. Bielefeld: transcript, 2010.

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ren. Abhängig von der Signalstärke und mittels Pings kann zwar die Entfernung zu einem Masten berechnet werden, nicht aber die genaue Lokalisation. Der Radius, in dem das Gerät verortet wäre, könnte entsprechend riesig sein. Da aber in die Lokalisation die Triangulation von drei (gegebenenfalls auch mehr) Sendemasten in ihrer Überlagerung miteinbezogen wird, kann die Position, je nach Dichte der Sendemasten, durch die Überlappung der Radii bis auf wenige Meter genau bestimmt werden. Wäre ein Gerät nur mit einem zentralen Masten verbunden, könnte lediglich ermittelt werden, dass es sich in einem 120 Grad breiten Gebiet befindet. Um portabel sein zu können, d. h. um die hexagonalen Waben zu wechseln, die aus den Funkbereichen von jeweils drei Sendemasten gebildet werden, muss ein Mobiltelefon seine Position kennen und beständig mit den umgebenden Sendern kommunizieren, wie Wolfgang Hagen betont:: »Es ist stets lokalisierbar, weil es sich selbst lokalisiert.«33 So wird, in den Worten Erhard Schüttpelz’ beim mobilen Telefonieren »Interaktion eine Ressource der Telekommunikation und umgekehrt; die Produktion eine Ressource der Rezeption und umgekehrt; und die körperliche Verortung und Situierung ein Teil der Information und umgekehrt.«34 Da ein Mobiltelefon die Signalstärke der benachbarten Antennen permanent misst und jeweils auf die stärkste – zumeist die nächste – wechselt, kann ein Netzbetreiber ein im Netz angemeldetes Gerät jederzeit mit einer Genauigkeit von zwei bis fünf Metern lokalisieren.35 Die Mobilfunknetze brauchen diese Information, um den Empfang zu optimieren und denjenigen Sender zu definieren, der jeweils Daten über-

33 Wolfgang Hagen: »Zellular - Parasozial - Ordal. Skizzen zu einer Medienarchäologie des Handys«. In: Jörg Döring, Tristan Thielmann (Hg.): Mediengeographie. Theorie - Analyse – Diskussion. Bielefeld: transcript, 2009, S. 359–380, hier S. 367. 34 Erhard Schüttpelz: »Infrastrukturelle Medien und öffentliche Medien«. Auf: OPUS Siegen, dort datiert am 23.08.2016, http://dokumentix.ub.uni-siegen.de/opus/volltexte/ 2016/998/, zul. aufgeruf. am 30.11.2016. S. 10. 35 Vgl. Alexander Varshavsky, Mike Y. Chen, Eyal de Lara, Jon Froehlich, Dirk Haehnel, Jeffrey Hightower, Anthony LaMarca, Fred Potter, Timothy Sohn, Karen Tang und Ian Smith: »Are GSM Phones THE Solution for Localization?«. In: Proceedings of the Seventh IEEE Workshop on Mobile Computing Systems & Applications. 06 - 07 April 2006. Los Alamitos: IEEE Computer Society, 2006, S. 34–42. Strenggenommen sind zelluläre Mobilfunksysteme keine Netze, sondern aneinander geflickte Teppiche. Google nutzt dieses System unter Umgehung der Netzbetreiber, indem die Daten über den jeweiligen Funkmasten vom Smartphone weitergegeben und mit einer Datenbank verglichen werden, um so die Position des Smartphones zu bestimmen. Jede derartige Lokalisierungsoperation dient auch dazu, die Datenbank weiter zu verfeinern.

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trägt, indem er sie an alle Empfangsgeräte in seinem Bereich sendet und das adressierte Gerät seine Daten empfängt, während die anderen Geräte sie ignorieren. Das Kriterium für den Wechsel zwischen Antennen ist jedoch allein die Signalstärke und nicht die Position in der Zelle.36 Viertens schließlich erlauben die Datenbanken, die Apple, Google oder Microsoft im Zuge ihrer Kartierungsprojekte von WLAN-Netzen weltweit angelegt haben, den Betrieb von location-based services, indem die jeweils genutzten lokalen WLAN-Netze mit einer Datenbank abgeglichen werden. Im Zuge der Street View-Kartierung haben die umherfahrenden Autos von Google zugleich alle verfügbaren WLAN-Netze registriert. Die resultierenden Karten werden zur Lokalisierung eingesetzt.37 Das WLAN-Mapping ist weitaus effizienter, schneller und energiesparender als die Verwendung von GPS und läuft nicht über die Mobilfunknetze der Betreiber, sondern über die Anbieter von Betriebssystemen oder Apps. Vor allem in urbanen Räumen empfangen Mobilgeräte permanent Signale von zahlreichen WLAN-Netzen, die Privatpersonen, Firmen oder Institutionen gehören. So wissen Anbieter von Lokalisierungsdiensten, welches Netz sich wo befindet und bis wohin es sich erstreckt. Combain Positioning Solutions, der Anbieter einer der größten Datenbanken dieser Art, verzeichnet Ende 2016 nach eigenen Angaben mehr als 79 Millionen Sendemasten und 1,1 Milliarden WLAN-Netze.38 Google etwa sammelt darüber hinaus routinemäßig, aber anonymisiert, aktualisierte Informationen über WLAN-Netze von Android-Geräten, um die Google Location Services durch nutzergenerierte Daten zu verbessern.39 Apple hat bis 2010 ein ähnliches System der Firma Skyhook Wireless verwendet und ist danach auf eine

36 Vgl. Robert J. Chapuis und Amos E. Joel: 100 Years of Telephone Switching. Electronics, computers and telephone switching, Amsterdam: IOS Press, 2003. 37 Vgl. Michael, Clarke: Location and tracking of mobile devices; sowie zu Googles Datensammlung allgemein vgl. Carlos Barreneche, Rowan Wilken: »Platform specificity and the politics of location data extraction«. In: European Journal of Cultural Studies 18 (2015), S. 497–513. Bei dieser Datensammlung wurden auch private Informationen der Besitzer gesammelt. Zur rechtlichen Lage vgl. Mark Burdon, Alissa McKillop: »The Google Street View Wi-Fi scandal and its repercussions for privacy regulation«. In: Monash University Law Review 39 (2014), S. 702. 38 Anonym: »CPS – Combain Positioning Service«. Auf: Combain Positioning Solutions, http://www.combain.com, zul. aufgeruf. am 30.11.2016. 39 Vgl. Jordan Frith: Smartphones as Locative Media. Cambridge: Polity, 2015, S. 30.

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eigene Datenbank umgestiegen.40 Die NSA nutzt in ähnlicher Hinsicht die Positionsdaten von Mobiltelefonen, um Bewegungen nachverfolgen zu können.41 Mobilität ist also erstens Teil der händischen Benutzerfreundlichkeit, zweitens eine Fortsetzung globaler Militärlogistik, drittens untrennbar von Adressierbarkeit im GSM-Mobilfunknetz und viertens selbsterfüllende Voraussetzung von Servicedienstleistungen. In diesem Rahmen ist mobile Adressierung in die technischen, politischen, epistemologischen und ökonomischen Auseinandersetzungen der Gegenwart verwickelt. In diesem Sinne könnte man sagen, dass jede Adresse, weil es einen Kanal zu ihr gibt, die Existenz ihrer Vernetzung beglaubigt. Adressierte Positionen sind in diesem Kontext nicht mehr fest an geographische Koordinaten gekoppelt, sondern so mobil wie die Geräte, deren Anwendungsmöglichkeiten sie mitbestimmen. Adressen bleiben jedoch an die technischen Netze und Infrastrukturen gebunden. Außerhalb der Reichweite dieser Netze gibt es keine Adressen und damit keine Lokalisierung von Endgeräten. (9.) Im Kontext von Ubiquitous Computing und dem Internet der Dinge, dessen fortgeschrittenste Entwicklung der Aufstieg des Smartphones darstellt, sollen nicht nur Menschen, sondern Dinge adressierbar werden, d.h. innerhalb eines Netzwerks unter einer bestimmten und eindeutigen Adresse erreichbar sein, indem sie mit Empfangsmodulen ausgestattet und vernetzt werden.42 Mit GPS (Global Positioning System), RFID (Radio Frequency Identification) und mit den GSM-, UMTS- und LTE-Mobilfunknetzen erreicht die Geschichte mobiler Adressierbarkeit heute eine neue Eskalationsstufe, in der Adressierung und Lokalisierung zunehmend von Verfahren der Positionierung ergänzt werden. Der Geograph Nigel Thrift hat in seinen »histories of knowledge of posi-

40 Anonym: »o. T.« . Auf: Skyhook, http://www.skyhookwireless.com, zul. aufgeruf. am 30.11.2016. 41 Vgl. Barton Gellman, Askhan Soltani: »NSA tracking cellphone locations worldwide, Snowden documents show«. In: Washington Post, dort datiert 04.12.2013, https:// www.washingtonpost.com/world/national-security/nsa-tracking-cellphone-locationsworldwide-snowden-documents-show/2013/12/04/5492873a-5cf2-11e3-bc56-c6ca94801fac _story.html, zul. aufgeruf. am 30.11.2016. 42 Einige dieser Gedanken basieren auf den Überlegungen in Christoph Engemann, Florian Sprenger: »Das Netz der Dinge. Zur Einleitung«. In: Christoph Engemann, Florian Sprenger (Hg.): Internet der Dinge. Über smarte Objekte, intelligente Umgebungen und die technische Durchdringung der Welt. Bielefeld: transcript, 2015, S. 7–57.

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tion and juxtaposition«43 beschrieben, wie die Standardisierung des Raums gegenwärtig die im späten 19. Jahrhundert vollzogene Standardisierung der Zeit komplementiert, die mit elektrischen Übertragungsmedien wie der Telegraphie und dem modernen Transportwesen mit Eisenbahnen und Dampfschiffen einherging. Denn nunmehr operieren logistische Verfahren der Verteilung von Waren oder die Lokalisierung von mobilen Empfangsgeräten durch satellitengestützte Positionierungssysteme nicht nur mit zeitlichen Ordnungsregeln wie Fahrplänen oder der Aufeinanderfolge von Signalen, sondern durch zeitkritisches Beobachten ihrer Objekte im Raum. Von Fitnesstrackern, die zurückgelegte Distanzen und Höhenmeter mit Essgewohnheiten kurzschließen, bis hin zu automatisierten Verkehrsflusssystemen, die alle Autos mittels RFID-Chips oder Kennzeichenerkennung registrieren, reicht die Bandbreite der mobilen Anwendungen des Internets der Dinge, die häufig mit den ubiquitären Interfaces von Smartphones verbunden sind oder deren integrierte location-based services zur Datenerhebung nutzen. Die Tendenz geht dahin, mittels Verfahren der Positionierung Objekten oder Nutzern nicht nur Zeiten zuzuweisen, zu denen etwas geschehen, sondern in der Zeit auch die Orte zu bestimmen, an denen dies stattfinden soll. Gegenwärtig kann anhand solcher Technologien des tracings und des trackings eine Modulation von Adressierung zu Positionierung beobachtet werden, in der die Verteilung durch Übertragung, die durch einen Kanal an ein Ziel kommen soll, von exaktem Wissen um die Position des Adressaten und Imperativen seiner Positionsnahme ergänzt wird. RFID und GPS, die paradigmatisch für diesen Umbruch stehen, dienen in letzter Konsequenz nicht nur der Bestimmung einer Position durch eine Adresse, sondern der Positionierung an bestimmten Orten. Die Gefahren und Möglichkeiten der neuen Kulturen der Übertragung werden beschworen, wo die Position jedes Smartphones oder jedes Bauteils im Produktionsprozess eines Autos zu jedem Zeitpunkt gewährleistet sein soll oder die Daten von Pässen mit eingebauten RFID-Chips unbemerkt ausgelesen werden können. So wie in der Logistik die Objekte in den Warenströmen mittels eines RFID-Tags vom Internet aus adressierbar sein und sich in den globalen Logistikketten selbst ihren Weg suchen sollen, so ist die Position eines Smartphones potentiell jederzeit bestimmbar und innerhalb des Mobilfunknetzes registriert. Adressierung und

43 Nigel Thrift: »Remembering the technological unconscious by foregrounding knowledges of position«. In: Society and Space 22 (2004), S. 175–190, hier S. 176.

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Lokalisierung sind in dieser Hinsicht keine optionalen Nutzungsmöglichkeiten, sondern technische Bedingung des Funktionierens der entsprechenden Technologien. Jedes Ding des Internets der Dinge hat, spitzt man diese Entwicklung zu, eine Vielfalt von Adressen und ist nur dadurch Teil von Netzen, die durch die Bewegung der adressierten Dinge selbst gebildet werden. Die Objekte des Internets der Dinge bilden einen relationalen Adressraum, der die Positionen aller Objekte und ihr Verhältnis zueinander abbildet. Durch diese Relationen von Adressen können Positionen bestimmt werden. Implementiert ist damit eine Konnektivität von Dingen, die untereinander in Verbindung treten, sich als Sender und Empfänger gegenseitig orientieren und ihre Funktionen ergänzend zu einem Kontinuum des Gebrauchs verweben. Ein solcher korrelationaler Adressraum umspannt heute den Globus. Adressierende Medien leisten derzeit nicht nur die Lokalisierung, sondern zunehmend auch die Authentisierung – die Entscheidung, ob etwas oder jemand an einem bestimmten Ort sein darf. Daraus wiederum können entsprechende Konsequenzen gezogen werden – von ortsbezogenen Nutzeranwendungen über invasive Werbung bis hin zu Geheimdienstermittlungen. In der letzten Dekade wurden dadurch logistische Verfahren in vielerlei Hinsicht revolutioniert, der alltägliche Umgang mit mobilen Medien transformiert und dabei mit der Diffusion von Öffentlichem und Privatem eine mehrdimensionale Raumpolitik eröffnet, deren Verschiebung der Grenzen von Innen und Außen grundlegende Fragen an unser Verständnis medialer Umgebungen stellt. Damit geht nicht zuletzt die Notwendigkeit einer Neubestimmung von Adressierungs- und in der Konsequenz von Positionierungsräumen einher, in denen Objekte nicht nur in der Übertragung kontinuierlich Adressen zugesprochen bekommen, sondern innerhalb von Netzwerken aus Positionen anderer Objekte lokalisiert sind, die selbst allesamt als Akteure der Vermittlung agieren. (10.) Die Räume, in denen sich auf diese Weise mobil vernetzte Geräte bewegen, können als Umgebungsräume, als berechnete und ein berechnende environments verstanden werden. In ihnen hat jedes Objekt eine eindeutige Adresse, mit der es lokalisiert werden kann. Alle derart vernetzten Objekte müssen permanent Kontakt zu Sendemasten halten und dadurch ihre Position im Netz bestimmen, um die Funktionalität dieses Netzes aufrecht zu erhalten. Das environment der cellular triangulation ist einerseits berechnend, insofern die Position jedes Endgeräts dauerhaft kalkuliert werden muss, da-

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mit es Teil des Netzes sein kann. Es ist andererseits berechnet, insofern ihm Adressierung immanent ist und es nur existiert, wenn die Position der angeschlossenen Geräte registriert wird. Indem sie sich durch den Raum zwischen Sendemasten bewegen, erzeugen Smartphones jene Daten über ihre Bewegung, die zu ihrer eigenen Vernetzung nötig sind. Die Verfahren mobiler Adressierung erlauben es den Geräten, die Spuren ihrer Bewegung selbst aufzuzeichnen, zur Verwertung an die Netzbetreiber und Anbieter zu übertragen und so ihre Position auch füreinander bestimmbar zu machen. Wenn wir uns, in anderen Worten, durch diese Netze bewegen, wissen wir, an welchem Ort wir sind, weil wir uns bewegen. Und weil wir adressierbar sind, können wir uns in diesen Netzen bewegen. In der Konsequenz ist innerhalb dieses Relationsraums notwendigerweise der Ort aller Objekte registriert. Das environment dieser Objekte wird relational durch die Information über die Koordinaten seiner Bestandteile konstituiert. Wenn Objekte mit den genannten Adressen ausgestattet sind, dann werden diese Objekte trotz der beschränkten Reichweite der Infrastrukturen zu einem environment verbunden, dessen Innen kein Außen mehr kennt. Erreichbar ist nur, was eine Adresse im Netz hat. Ein Außerhalb des Netzes ist im Netz nicht repräsentierbar. Als Raum der Verteilung von Daten und der Anordnung von Objekten wird dieser technisch durchdrungene Raum in dem Sinne ubiquitär, dass Adressen nicht mehr an geographische Orte gebunden sind, sondern sich bewegen können. Er wird jedoch zugleich durch die Reichweite der Übertragung von Daten und die Enden ihrer Kanäle begrenzt. Innerhalb dieses Rahmens ist seine Ausdehnung durch die Ko-Relation der Verteilung von Adressen definiert, wie Jordan Crandall argumentiert hat: »[Calculative mobilization] generates an ›enhanced‹ environment in which potentially every entity, defined in terms of its location and its tracked and anticipated movements, can become the subject of its calculative procedures.«44 Außerhalb dieses environments gibt es keinen Ort für vernetzte Objekte. Was nicht vernetzt und ergo nicht berechenbar adressiert ist, kann nicht Teil des environments sein. Der Raum dieser Berechnungen ist mithin trotz seiner Adressdichte gerade nicht ubiquitär, sondern an konkrete Infrastrukturen gebunden. Er reicht nur so weit wie seine Kanäle, die aus Kabeln und Wellen, aus Sendemasten und Endgeräten

44 Jordan Crandall: »The Geospatialization of Calculative Operations. Tracking, Sensing and Megacities«. In: Theory, Culture & Society 27 (2010), S. 68–90, hier S. 76.

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bestehen und nicht ohne Datencenter und Stromversorgung auskommen – Komponenten mobiler Netzwerke also, die immobil sind. Infrastrukturen sind in ihrer unhintergehbaren Materialität Ansatzpunkt für eine Machtanalyse in digitalen Kulturen, die zu adressieren unsere Aufgabe wäre.

Matthias Wölfel

Der smarte Assistent Die Nutzung von Werkzeugen ist eine der grundlegenden Überlebensstrategien von intelligenten Lebewesen. Ohne diese Tools zu benutzen ist der Mensch laut Thomas Carlyle Aussage nichts, aber mit diesen alles.1 Neben der reinen Nutzung von Werkzeugen, wie es auch oft im Tierreich vorkommt, stellt der Mensch diese darüber hinaus auch selber her. Er ist also laut Benjamin Franklin ein »toolmaking animal«,2 also ein Werkzeug herstellendes Tier. Aus mechanischen Werkzeugen wurden elektronische, die immer kleiner, leistungsstärker und auch zunehmend komplexer wurden. So komplex, dass sie von keinem Menschen alleine mehr in ihrer Ganzheit vollständig erfasst werden können. Die massenhafte Verwendung komplexer Werkzeuge, z. B. das Automobil oder das Smartphone als ständiger Begleiter, durch die Gesellschaft ist nur möglich geworden, indem diese auch ohne tiefgreifendes Verständnis der Funktionsweise bedient werden können: über ein Interface wie das Lenkrad oder der Touchscreen, wobei auf das detaillierte Wissen des Prinzips eines Motors oder Mikrokontrollers verzichtet werden kann. Wie bereits Trotsky festgestellt hat, ist der Mensch ein rechtes Faultier und versucht Arbeit zu vermeiden: »По общему правилу человек стремится уклониться от труда. Можно сказать, что человек есть довольно ленивое животное, и на этом качестве в сущности основан человеческий прогресс, потому что если бы человек не стремился экономно расходовать свою силу, [...], то не было бы развития техники и общественной культуры. Стало быть, при

Vgl. Rudy Ruggles: Knowledge management tools. Oxford: Routledge, 2009. Berhard Hänsel: »Vor- und Frühgeschichte, Werkzeug, Gerät, Waffen aus Stein und Metall«. In: Ulrich Troitzsch u. Wolfhard Weber (Hg.): Die Technik von den Anfängen bis zur Gegenwart. Braunschweig: Unipart 1982, S. 8–25, hier S. 10.

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таком понимании лень человека есть прогрессивная сила.«3 »Auf diese Eigenschaft gründet sich eigentlich in bedeutendem Maße der menschliche Fortschritt,« so Trotsky in der deutschen Übersetzung, »denn wenn der Mensch nicht bestrebt wäre, mit seinen Kräften sparsam umzugehen, […], so hätten wir keine Entwicklung der Technik und der gesellschaftlichen Kultur. Von diesem Gesichtspunkt aus also ist die Faulheit des Menschen eine fortschrittliche Kraft.«4 Während diese Faulheit dazu geführt hat, dass wir uns technisch weiterentwickelt haben, führt diese neugewonnene Freiheit zunehmend dazu, dass wir uns diese in gewisser Weise wieder nehmen lassen. Zum einen verlieren wir Kulturtechniken (z. B. das Kartenlesen, weil wir auf Navigationssysteme zurückgreifen) und zum anderen verwenden wir Systeme, die wir nicht verstehen. Das Verhältnis des Anwenders oder zu neudeutsch Users zum Smartphone hat dabei etwas Naives. Dabei geht es nicht nur um die Fähigkeit, das Smartphone selbst herzustellen – was selbst ein einzelner Ingenieur oder Informatiker nicht könnte – sondern um die Durchdringung des Gegenstands. Dies ist ein großer Kontrast zu Werkzeugen wie Hammer und Zange, denn selbst wenn ein Anwender nicht über die Kunstfähigkeit eines Handwerkers verfügt und somit nicht in der Lage ist, diesen Gegenstand herzustellen, so versteht er den Gegenstand in seiner Funktionalität vollständig. Beim Smartphone, und auch anderen digitalen Gegenständen in geringerer Komplexität, ist dies anders. Zugunsten einer einfachen Bedienung werden nicht alle Systemzustände visualisiert und das Produkt wird nicht tiefgreifend, aber gegebenenfalls hinreichend genau, verstanden. Des Weiteren werden beziehungsweise sind wir von diesen Tools bereits so abhängig, dass wir im Alltag ohne diese gar nicht mehr zurechtkommen. Insbesondere fordert der ›digital life style‹, der unmittelbar mit dem Smartphone einhergeht, ununterbrochen unsere Aufmerksamkeit: Hier ein neuer Kalendereintrag, eine E-Mail, dort eine WhatsApp Nachricht und auch Neuigkeiten auf Facebook, die gehandhabt werden wollen. Es wollen so viele Nachrichtenströme jongliert werden, dass wir an die Grenzen der menschlichen Auffassungsgabe und Aufmerksamkeit kommen, was zu einer kognitiven Überlastung führen kann.

Лев Троцкий: Терроризм и коммунизм. Москва-Ленинград: Государственное издательство, 1926. 

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Leon Trotsky: Terrorismus und Kommunismus. Berlin: Olle & Wolter, 1973.

DER SMARTE ASSISTENT

Um dieses höchste menschliche Gut, unsere Aufmerksamkeit, zurückzugewinnen und nicht als ›Smombies‹ zu enden, gilt es den ständigen Informationsfluss besser zu steuern. Als solcher wird jemand beschrieben, der von seiner Umwelt nichts mehr mitbekommt, weil er nur noch – wie ein Zombie – auf sein Smartphone starrt.5 Es gilt also entweder die Technik hart zu regulieren, z. B. kein E-Mail-Versand nach Feierabend,6 oder diese zu smarten Assistenten weiterzuentwickeln. Also zu einem Helfer, der den auf uns einprasselnden Informationsfluss für uns sinnvoll regelt und uns gegebenenfalls Entscheidungen abnimmt, damit wir nicht ununterbrochen abgelenkt werden, um triviale Entscheidungen zu treffen oder irrelevante Informationen zu verarbeiten. Dadurch gewinnen wir Zeit zurück und können uns wieder auf wichtigere Dinge konzentrieren.

Smartness überall Der Begriff smart bedeutet in der englischen Sprache etwa so viel wie clever, intelligent, klug und wurde im 19. Jahrhundert aus dieser in den deutschen Sprachgebrauch übernommen. Im Duden sind dem Wort smart zwei Bedeutungen zugewiesen: clever, gewitzt oder von modischer und auffallend erlesener Eleganz, fein.7 Die inflationäre Verwendung des Begriffs ist allgegenwärtig und es wird als Vorsatz mit jedem beliebigen Gegenstand kombiniert, als Zusammensetzung wie in Smartphone, Smartwatch oder Smartboard, mit einem Bindestrich verbunden wie in Smart-TV oder als getrenntes Wortpaar wie in Smart Home (auch mal als Smarthome oder sogar SmartHome geschrieben), Smart Car, Smart Mirror, Smart Glass, Smart Meter. So hat sich die Häufigkeit des Wortes smart von 1950 (ca. 0.0014%) auf heute (ca. 0.032%)

lov/dpa: »Jugendwort des Jahres 2015 Smartphone + Zombie = Smombie«. In: Spiegel Online, dort datiert am 13. November 2015. Auf: http://www.spiegel.de/lebenundlernen/ schule/smombie-ist-jugendwort-des-jahres-a-1062671.html, zul. abgeruf. am 23. Februar 2017. 6 Sven Astheimer u. Corinna Budras: »Smartphone-Stress Keine Mails nach Feierabend«. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, dort datiert am 13. Dezember 2013. Auf: http://www.faz.net/aktuell/beruf-chance/arbeitswelt/smartphone-stress-keine-mailsnach-feierabend-12697302.html, zul. abgeruf. am 23. Februar 2017. 7 Vgl. http://www.duden.de/rechtschreibung/smart, zul. abgeruf.am 20. Februar 2017. 5

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um den Faktor 23 vervielfältigt.8 Seit 2013 wird es sogar häufiger gebraucht als das Wort Computer.9 Sucht man nach einer allgemeingültigen Definition für smart als Ergänzung zu Substantiven wird man nicht fündig. In Bezug auf digitale Medien wird in der Regel der Zusatz smart ergänzt, um einen Gegenstand zu beschreiben, der sich durch eine hochentwickelte integrierte Informations- und Kommunikationstechnologie mit einem benutzerfreundlichen Interface auszeichnet und oft auf Sensorik zurückgreift. Aber selbst auf diesen Bereich eingeschränkt scheint eine einheitliche Verwendung des Begriffs nicht zu gelten, denn so steht die Smart City für eine effizientere und umweltschonendere Nutzung durch Ressourcenmanagement. Der Begriff Smart Mob, der vom amerikanischen Psychologen Howard Rheingold im Jahr 2003 geprägt wurde, steht für ein Phänomen der Schwarmintelligenz. Der Smartshopper beschreibt jemanden, der den günstigsten Preis bezahlt. Smart Data steht für die wirtschaftliche und gesellschaftliche Wertschöpfung aus den rasant wachsenden digitalen Datenbergen. Der Smart Service wiederum ist eine digitale Dienstleistung, die auf der Basis vernetzter, intelligenter technischer Systeme Daten aggregiert und analysiert. Ein Smartphone wird beschrieben als ein Personal Computer in Hosentaschengröße. Jedes Smartphone verfügt über ein Betriebssystem wie Google Android oder Apple iOS. Dieses ermöglicht Anwendungsprogramme (inzwischen besser bekannt als »Apps« bzw. wenn es auf dem mobilen Endgerät ausgeführt wird, auch präziser »Mobile Apps«) auf dem Smartphone auszuführen. Die Möglichkeit, Apps von Fremdherstellern zu installieren, wurde zum wichtigsten Erfolgsfaktor. Diese, was heute selbstverständlich erscheint, wurde erst mit der zweiten Generation des erfolgreichsten Smartphones aller Zeiten (Apples iPhone) eingeführt.10 Inzwischen scheint man dem Wort bereits überdrüssig zu werden: Da bereits heute, z. B. in den USA, über ⅔ der

Vgl. https://books.google.com/ngrams, zul. abgeruf. am 20. Februar 2017. Vgl. https://trends.google.de/trends/explore?geo=DE&q=smart,computer, zul. abgeruf. am 20. Februar 2017. 10 Stuart Dredge: »Steve Jobs resisted third-party apps on iPhone, biography reveals«. In: The Guardian, dort datiert am 24. Oktober 2011. Auf: https://www.theguardian.com/ technology/appsblog/2011/oct/24/steve-jobs-apps-iphone, zul. abgeruf. am 21. Februar 2017. 8 9

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Telefone smart sind, wurde vorgeschlagen, den Vorsatz smart von Smartphone aufzugeben.11 273

Werkzeug, Maschine, Automat, Assistent Technische Objekte/Systeme können anhand der Eingangsgröße, und deren schrittweisen Übertragung vom Menschen auf das Objekt/System, klassifiziert werden.12 Dabei werden laut Hermann Schmidt drei Stufen unterschieden: 1. die des Werkzeugs, 2. die der Kraft- und Arbeitsmaschinen, 3. die des geregelten Systems, des Automaten. Diese Unterscheidungen werden später auch von anderen Autoren aufgegriffen und interpretiert – siehe hierzu u. a. die Ausführungen von Arnold Gehlen13, Ladislav Tondl14 und Günter Spur.15 Der Begriff der Maschine hat sich zwischenzeitlich von seinen physikalischen Wurzeln gelöst und wird spätestens seit der Einführung der Kybernetik in der Mitte des 20. Jahrhunderts definiert als »Anordnung von Regeln und Gesetzen, durch die gewisse Tatbestände in andere transformiert werden«.16 Des Weiteren kann eine Maschine weiter anhand ihrer Komplexität unterschieden werden: So wird als triviale Maschine eine Maschine bezeichnet, die nur eine Transformationsregel be-

11 Thomas Ricker: »First Click: Isn’t it time to drop the ›smart‹ from smartphone?«. In: The Verge, dort datiert am 31. August 2016. Auf: http://www.theverge.com/2016/8/31/ 12716744/stop-calling-phones-smart, zul. abgeruf. am 20. Februar 2017. 12 Vgl. Hermann Schmidt: »Regelungstechnik: Die technische Aufgabe und ihre wirtschaftliche, sozialpolitische und kulturpolitische Auswirkung«. In: VDI-Zeitschrift 85.4 (1941), S. 81–88, hier 87. 13 Vgl. Arnold Gehlen: Die Seele im technischen Zeitalter: sozialpsychologische Probleme in der industriellen Gesellschaft. Hamburg: Rowohlt, 1957, S. 19. 14 Vgl. Ladislav Tondl »On the Concepts of ›Technology‹ and ›Technological Sciences‹«. In: Contributions to a Philosophy of Technology – Studies in the Structure of Thinking in the Technological Science. Dordrecht u. Boston: Reidel, 1974, S. 1–18. 15 Vgl. Günter Spur. Automatisierung und Wandel der betrieblichen Arbeitswelt. Berlin u. New York: De Gruyter, 1993. 16 Heinz von Foerster: Wissen und Gewissen: Versuch einer Brücke. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1993, S.134f.

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sitzt und einen linearen Zusammenhang beschreibt.17 Die nicht-triviale Maschine verändert nach jedem Input ihren inneren Zustand und damit ihre Überführungs- oder Wirkungsfunktion.18 Wie Heinz von Foerster feststellt, ist eine nicht-triviale Maschine, im Gegensatz zur trivialen Maschine, für einen Beobachter, der die Regeln nicht kennt, analytisch unbestimmbar.19 Doch wo ist hier der Computer, das Smartphone oder der Assistent einzuordnen? So wurde der Computer bereits durch Frieder Nake 1992 als Maschine des Berechnens beschrieben, also der Maschinisierung von Kopfarbeit.20 Je nach Aufgabe kann diese Zuordnung aber variieren in Werkzeug, Maschine, Automat.21 Allerdings ist die Zuordnung des Computers als Werkzeug im eigentlichen Sinne doch sehr umstritten.22 Ähnlich kann das Smartphone ohne Assistenzfunktion eingeordnet werden. Während die Zuordnung des Computers mehrdeutig ist, scheint die Zuordnung des Assistenten in eine der drei vorhandenen Klassen als nicht passend. Aus diesem Grund, wird es nötig den Assistenten als eine weitere, eine vierte Klassen hinzufügen: Werkzeug, Maschine, Automat und Assistent. Während sich ein Automat bereits teilweise vom Menschen emanzipiert, also keine ständige Betreuung mehr benötigt, schreitet beim Assistenten die Emanzipation vom Gegenstand noch weiter fort. Sie erreicht aber nicht ihre methodische Vollendung, wie sie von Hermann Schmitt als »Ausschaltung des Menschen aus dem Wirkungszusammenhang der Maschine definiert ist«23. Denn gerade darum geht es ja bei einem Assistenten nicht: Seine Aufgabe ist nicht nur Dinge selbständig und unüberwacht auszuführen, sondern auch selbständig Entscheidungen zu treffen und diese dem Menschen abzunehmen. Bei den einzelnen Stufen kommt es somit zu einer schrittweisen Abtretung von Aufgaben bzw. Kompetenzen vom Menschen auf das technische Gerät: Ebd. Ebd. 19 Ebd. 20 Vgl. Frieder Nake: »Informatik und die Maschinisierung von Kopfarbeit«. In: Sichtweisen der Informatik. Wiesbaden: Vieweg+ Teubner, 1992, S. 181–201. 21 Vgl. Heidi Schelhowe: Das Medium aus der Maschine: zur Metamorphose des Computers. Frankfurt a. M.: Campus, 1997. 22 Vgl. Frieder Nake: »Was nun ist der Computer?«. Auf: http://viola.informatik.uni-bremen.de/typo/fileadmin/media/lernen/MedWiss1414Computer.pdf, zul. abgeruf. am 24. Februar 2017. 23 Hermann Schmitt: Die anthropologische Bedeutung der Kybernetik. Reproduktion dreier Texte aus den Jahren 1941, 1953 und 1954. Quickborn in Holstein: Schnelle, 1965, S. 31. 17

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1. Werkzeug: Übertragung der Mechanik (Stoff) von dem Menschen auf das Gerät. 2. Maschine: Übertragung der Energie von dem Menschen auf das Gerät. 3. Automat: Übertragung der Information von dem Menschen auf das Gerät. 4. Assistent: Übertragung der Entscheidung von dem Menschen auf das Gerät. Wie diese Zuordnung genau aussieht, wollen wir anhand zweier Beispiele konkretisieren. Das erste Beispiel ist im Bereich der Mobilität angesiedelt: 1. Fahrrad: Füße werden durch Räder ersetzt. 2. Kraftfahrzeug: Antrieb wird durch Motor ersetzt. 3. Selbstfahrendes Schienenfahrzeug: Steuerung wird durch Sensorik und Signalverarbeitung ersetzt. 4. Autonomes Kraftfahrzeug: Routenplanung, Parkplatzsuche, Start- und Endzeit werden durch Künstliche Intelligenz ersetzt. Bei unserem Beispiel in der Kommunikation gilt folgende Zuordnung: 1. Brief: Person wird durch Papier als Informationsträger ersetzt. 2. Telefon: Informationsträger wird durch elektrische Modulation ersetzt. 3. Handy und Smartphone: Telefonbuch verknüpft den Namen mit der Nummer. 4. Smarter Assistent: Rufannahme oder Ablehnung wird vom Assistenten autonom anhand des detektierten Benutzerzustands entschieden.

Smarter Assistent Ein smarter Assistent (auch intelligenter persönlicher Assistent genannt, im engl. smart personal agent oder intelligent personal assistant) ist ein Software-Agent, der Aufgaben oder Dienstleistungen für eine Person durchführen kann. Er ist nicht gleichzusetzen mit dem Verständnis eines Assistenten, der in der Computerwelt eine Oberfläche beschreibt, mittels derer ein Anwender durch Dialoge geführt wird. Ein Software-Agent ist laut Wooldridge »ein Computersystem, das sich in einer bestimmten Umgebung befindet und welches fähig ist, eigenständige Aktionen in dieser Umgebung durchzuführen, um

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seine (vorgegebenen) Ziele zu erreichen«24. Es ist somit eine Anwendung, die zu selbständigem und autonomem Verhalten fähig ist. Die Aufgaben und Dienste eines smarten Assistenten basieren auf Benutzereingaben, Umgebungswahrnehmung (z. B. Standort) und der Fähigkeit, auf Informationen aus einer Vielzahl von Online-Quellen (wie Wetter- oder Verkehrsbedingungen, Nachrichten, Aktienkurse, Nutzerpläne, Endkundenpreise usw.) zuzugreifen und daraus entsprechende Handlungen abzuleiten. Folgende Aufgaben können beispielsweise von einem smarten Assistenten übernommen werden: •







Zeitmanagement Aktualisierung der Kalendereinträge, indem z. B. auf externe Ereignisse reagiert wird. Verzögert sich durch einen Stau die Ankunftszeit, kann der Assistent den Zeitpunkt der Restaurantreservierung ändern und die weiteren Gästen über diese Veränderung informieren. Gesundheitsmanagement Die Protokollierung von Vitalfunktionen, Kalorienzufuhr und Bewegung kann genutzt werden, um Empfehlungen für gesundes Verhalten zu geben. Sitzt z. B. eine Person relativ starr über eine längere Zeit, wird diese aufgefordert sich zu bewegen. Antwortmanagement Als Antwort auf SMS, WhatsApp oder abgelehnte Anrufe schlägt der Assistent in Abhängigkeit des Benutzerzustandes bereits mögliche Antworten vor. Bekommt man z. B. über WhatsApp ein Bild von einer kleinen Katze geschickt, erkennt der Assistent den Inhalt und schlägt als Antwort »Die ist aber wirklich süß!« vor. Informationsmanagement Anhand der Auswahl einzelner Artikel sowie der Zeit, die mit dem jeweiligen Artikel zugebracht wird, und anhand weiteren Parametern (z. B. liken) erkennt der Assistent die Interessensgebiete selbständig und schlägt anhand dieser automatisch neue Informationen oder Artikel vor.

Michael Wooldridge: »Intelligent Agents: The Key Concepts«. In: Vladimir Marik, Jörg Müller u. Michal Pechoucek (Hg.): Multi-Agent Systems and Applications II. 3rd International Central and Eastern European Conference on Multi-Agent Systems, CEEMAS 2003, Prague, Czech Republic, June 2003. Proceedings. Heidelberg: Springer, 2002, S. 3–43, hier S. 5.

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Verfügbarkeitsmanagement Hier entscheidet der Assistent, ob er Informationen zustellt und zu welchem Zeitpunkt diese weitergegeben werden. Befindet sich der Angerufene z. B. in einer Vorlesung, entscheidet das Assistenzsystem den Anruf selbst zu beantworten. Erst wenn der Anrufer dieses System von der Dringlichkeit des Anrufs überzeugen kann, wird der Anruf durchgestellt.

Abgrenzung zum Sprachassistenten

Oft wird der smarte (intelligente persönliche) mit dem rein auf Sprache basierenden Assistenten gleichgesetzt. Beim Sprachassistenten handelt es sich um einen Service, bei dem Spracherkennung und -synthese sowie ein Dialogsystem verwendet werden, um eine intuitive sprachbasierte Schnittstelle zwischen einem Anwender und einem System zu ermöglichen. Hierbei ist das Interface mit einem intelligenten persönlichen Assistenten gekoppelt, der die Aufgaben ausführt. Beim intelligenten persönlichen Assistenten jedoch muss nicht zwangsläufig Sprache zum Einsatz kommen, sondern es kann auch über andere Modalitäten kommuniziert werden. Abgrenzung zum persönlichen digitalen Assistenten

Der persönliche digitale Assistent (engl. personal digital assistant) ist ein kompakter Minicomputer, der zur Kalender-, Adress- und Aufgabenverwaltung verwendet wird. Die Assistenzfunktion beschränkt sich auf das Ablegen von Daten und ist somit von der hier gebrauchten Definition von Assistenz weit entfernt und fehlleitend. Ein Assistent handelt in Abhängigkeit der inneren und äußeren Zustände als auch durch den eventuellen Benutzereingriff • • • • •

adaptiv: das Programm ändert aufgrund der eigenen Zustände und der Zustände der Umgebung seine eigenen Einstellungen, reaktiv: das Programm reagiert auf Änderungen der Umgebung, autonom: das Programm führt Aktionen aufgrund eigener Initiative, unabhängig von Benutzereingriffen, aus, perzeptiv: das Programm nimmt die Umgebung wahr, kognitiv: das Programm ist lernfähig und lernt aufgrund zuvor getätigter Entscheidungen bzw. Beobachtungen,

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kommunikativ: das Programm teilt seine Zustände als Wirkung auf seine Umgebung mit, sozial: das Programm kommuniziert mit anderen Agenten.

Ästhetikbegriff in Bezug auf Assistenten Die Ästhetik wurde von altgriechischen αἴσθησις aísthēsis abgeleitet und bedeutet wörtlich die Lehre von der Wahrnehmung.25 Bis zum 19. Jahrhundert wird sie vor allem als die Lehre von der wahrnehmbaren Schönheit verstanden. So wird der Begriff im täglichen Sprachgebrauch als Synonym für schön, geschmackvoll oder ansprechend verwendet und bezieht sich zumeist auf den visuellen Reiz also die Gestalt oder die Erscheinung von Gegenständen. Ästhetik wird in der Wissenschaft jedoch weiter gefasst und umschließt die gesamte Palette von Eigenschaften, die darüber entscheiden, wie Menschen wahrgenommene Gegenstände bewerten. Sie ist also nicht auf das rein Visuelle beschränkt. So beschäftigt sich zum Beispiel die Musikästhetik mit der Reflexion und der ästhetischen Erfahrung musikalischer Werke und Prozesse. In der Wirtschaftsästhetik geht es um die Ästhetik in Prozessen und wirtschaftlichen Organisationen. In der Medienästhetik geht es um eine »wissenschaftliche Praxis der Aufmerksamkeitssteigerung für die natürlichen und technischen Prozesse der Konstitution von Wirklichkeiten«.26 Doch was bedeutet der Ästhetikbegriff in Bezug auf Werkzeuge und insbesondere in Bezug auf digitale Werkzeuge? Wie kann hier der Ästhetikbegriff definiert werden? Bei Alltagsdingen definiert sich die Ästhetik durch die Funktionalität, die technische Raffinesse und das intelligente Design. Bei ästhetischen Produkten handelt es sich somit um Gebrauchsgegenstände, deren Funktion sofort klar ist oder im Verborgenen liegt und ihre Schönheit erst dann zeigt, wenn man die Funktion erklärt bekommt. Oder sind es Dinge mit Aha-Effekt, solche, die sich auf verblüffende Art verändern oder multi-

25 Siehe dazu einmal mehr Karl Christian Friedrich Krause: Die Lehre vom Erkennen und von der Erkenntnis, als erste Einleitung in die Wissenschaft. Göttingen: Dietrich’sche Buchhandlung, 1836. 26 D.i. die Definition des Lehrstuhls für Medienästhetik an der Universität Siegen. Auf: http://www.medienaesthetik.uni-siegen.de/medienaesthetik/, zul. abgeruf. am 21. Februar 2017.

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funktional nutzen lassen? Oder bleibt bei technischen Dingen die Ästhetik im Verborgenen? Denn der Programmcode einer Software ist für den Anwender unsichtbar. Jetzt wollen wir uns dem Ästhetikbegriff in Bezug auf Interaktive Systeme, so wie das Smartphone oder der Computer, zuwenden: Interaktive Systeme sind Gegenstände, die sich immer weniger über ihr visuelles und akustisches Erscheinungsbild – Gehäuseform, Material, die grafische Abbildung der Benutzerschnittstelle und funktionale Töne – definieren, sondern eher über die Interaktion mit diesen Systemen. So spricht man im Fachbereich des Interaktionsdesigns, der sich intensiv mit der Gestaltung interaktiver Systeme auseinandersetzt, auch von der »Gestaltung des Nichts«, also dem Wechsel von einem Zustand zum anderen, der nicht mehr physikalisch greifbar ist.27 Wie zuvor diskutiert, unterscheidet sich der Ästhetikbegriff in Bezug auf interaktive Systeme erheblich von anderen Objekten. Es geht hier nicht ausschließlich um das Visuelle, Akustische und die Haptik, sondern wird um das Verhalten ergänzt. Umso selbstverständlicher, natürlicher und reibungsloser mit einem technischen Gerät interagiert werden kann und umso einfacher Aufgaben gelöst werden können, desto ästhetischer wird es zumeist auch empfunden.

Gestalt des Assistenten Als bekannteste Plattform smarter Assistenten gelten heute die Smartphones. Diese sind mobile Geräte, welche zunächst die Funktionalität eines Mobiltelefons mit einem Personal Digital Assistant (PDA) vereinten. Die Durchdringung des Smartphones in der Gesellschaft (nach comScore28 gibt es 49 Millionen Smartphone-Nutzer in Deutschland im Jahr 2016; nach einer Studie der Bitkom29 sind es 76% der Bevölkerung) als ständiger Begleiter ist nur möglich, wenn es auch ohne Expertenkenntnisse bedienbar ist. Heutige Smart-

27 Vgl. Wolfgang Henseler: »NUI Usability – Zur Gestaltung des Nichts«. Auf: https://www.youtube.com/watch?v=97U3h9-ixrc, zul. abgeruf. am 22. Februar 2017. 28 comScore Anzahl der Smartphone-Nutzer in Deutschland in den Jahren 2009 bis 2016 (in Millionen) Retrieved from Statista database. 29 Bitkom Anteil der Smartphone-Nutzer in Deutschland in den Jahren 2012 bis 2016 Retrieved from Statista database.

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phones vereinen neben Assistenzfunktionen auch hochauflösende Bildschirme, die per Touch bedient werden, Kameras zum Fotografieren und Filmen und Konnektivität, die nicht nur über Mobilfunk aufgenommen wird, sondern auch über WiFi und Bluetooth, um mit anderen technischen Geräten zu kommunizieren. So ist es möglich, weitere Funktionen zu nutzen, die bis dato in eigener Hardware implementiert waren: portable Musik- und Videospieler, Foto- und Videokamera sowie GPS-Ortung und Navigation. Das Smartphone ist somit ein Paradebeispiel für die Transformation von divergenten Medien (jeder Dienst hat ein eigenes Gerät, z. B. Bücher, Radio, TV, Schreibmaschine) hin zu konvergenten Medien (alle Dienste sind auf allen Geräten verfügbar, z. B. das Smartphone dient zum Bücherlesen, Radiohören, Fernsehen und Schreiben). Laut einer Umfrage von Mind Store Marketing im Jahr 2013 unter 2100 Deutschen im Alter von 18 bis 25 Jahren liegt die tägliche Nutzung der Telefonfunktion (13 Minuten) weit abgeschlagen hinter Instant Messaging (68 Minuten), Sozialen Netzwerken (44 Minuten), Musikhören (37 Minuten), Webanwendungen (28 Minuten) und Spielen (16 Minuten).30 Insofern ist die heutige Verwendung des Begriffs Smartphone irreführend, da nur noch ein geringer Teil der tatsächlichen Nutzung sich auf das Telefonieren bezieht. Obwohl die Sprachassistenten bereits heute in allen Smartphones integriert sind, werden sie aber weiterhin nicht oft benutzt. Laut einer Studie aus dem Jahr 2015 wussten ca. 10% der Anwender nicht, dass auf ihrem Smartphone ein Sprachassistent installiert ist. Häufig wurde er von nur 30% der iPhone Nutzer und 20% der Android Nutzer verwendet.31 Assistenten sind aber nicht auf das Smartphone beschränkt, sondern können auch in anderen Geräteklassen und Gestalt zum Einsatz kommen. Die größten Erfolge feierten diese jedoch bisher als Sprachassistent auf dem Smartphone. Aber auch in anderen Formfaktoren, z. B. ganz ohne Display (Amazon ECHO32 – Haushaltsgerät in Dosenform mit eingebautem Mikrofon-Array und Lautsprecher), Roboter (Jibo33 – hier als anthropomorphisches

30 Mind Store Marketing; Akademie der media Average usage time of selected smartphone functions among digital natives in Germany in 2013 (in minutes per day) Retrieved from Statista database. 31 Ebd. 32 Vgl. unter https://www.amazon.com/Amazon-Echo-Bluetooth-Speaker-with-WiFiAlexa/dp/B00X4WHP5E, zul. abgeruf. am 21. Februar 2017. 33 Vgl. https://www.jibo.com, zul. abgeruf. am 21. Februar 2017.

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Objekt und nicht als humanoider Roboter) oder als »Talking Head«34 kommen sie inzwischen zum Einsatz. Alexa, ein Sprachassistent, der zuerst für das ECHO-Haushaltsgerät von Amazon entwickelt wurde, steht auch anderen Hardwareherstellern zur Verfügung, um sie in ihren eigenen Produkten verwenden zu können. So wird Alexa z. B. auch in die Infotainmentsysteme von Ford integriert.35 Insbesondere bleiben die Assistenten nicht auf ein Gerät beschränkt, sondern folgen auch auf andere Geräte. Das bedeutet, der gleiche Assistent steht auf mehreren Geräten zur Verfügung und ist auf diesen überall auf demselben Wissensstand. Hat man über Ihn am PC die Fahrtenroute geplant, bleibt diese Information bei einem Wechsel vom Arbeitsplatz ins Auto erhalten und steht dort im Assistenten des Informationssystems weiter zur Verfügung. Es sei hier noch angemerkt, dass im Gegensatz zu grafischen Benutzerschnittstellen eine sprachbasierte Benutzerschnittstelle unweigerlich dazu führt, dass das Gegenüber vermenschlicht wird und ihm sogar Persönlichkeit und Bewusstsein zugestanden werden. Dieser Effekt wird verstärkt, wenn es sich um eine vom Menschen aufgenommene Stimme und nicht um eine synthetische Stimme handelt. Dies wird auch von Justine Cassell, Director des Human-Computer Interaction Department an der Carnegie Mellon University bestätigt durch die Aussage »A human voice – particularly a recorded human voice – leads us to believe there’s a real human capability there, and that can lead to trouble«.36 Laut Zukunftsforscher Alexander Mankowsky führt das Konzept der künstlichen Intelligenz gerade bei Sprachassistenten daher in die Irre: Denn in der direkten verbalen Kommunikation gehen Menschen automatisch von einem Gegenüber mit eigenem Bewusstsein aus. Neben dem Bewusstsein impliziert die Verwendung von Sprache auch Verständnis, Einfühlung und Intention.37

34 Ein Talking Head ist ein digital generierter und animierter Kopf oder Oberkörper die in der Lage ist zu reden (visuell entsprechend animiert) und ein Gespräch mit einem menschlichen Nutzern zu führen. 35 Vgl. http://www.businessinsider.de/amazon-alexa-coming-to-ford-cars-2017-1?r= US&IR=T, zul. abgeruf. am 21. Februar 2017. 36 Richard Waters: »As digital assistants become part of our lives, deeper questions on privacy and co-dependence arise«. In: Financial Times, dort datiert am 23. September 2016, https://www.ft.com/content/f78fd0bc-8163-11e6-8e50-8ec15fb462f4, zul. abgeruf. am 21. Februar 2017. 37 Vgl. https://blog.daimler.de/2017/02/20/artificial-intelligence-hype-oderheilsbringer/, zul. abgeruf. am 21. Februar 2017.

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Der Assistent als Kognitives System 282

Computernutzer sind laut Carroll und Rosson im Allgemeinen nicht willens, nur geringfügige Anstrengungen für Zwecke zu unternehmen, die nicht unmittelbar ihren gegenwärtigen Aufgaben dienen, selbst wenn die Benutzer davon auf längere Sicht gesehen profitieren würden.38 In einer Reihe von empirischen Untersuchungen verschiedener Anwendungsbereiche konnte bereits 1994 von Boyle und Encarnacion nachgewiesen werden, dass adaptive Anwendungen Benutzern beträchtlichen Mehrwert bieten können.39 Somit muss das Gerät selbst in die Lage versetzt werden, sich zu adaptieren, indem Einstellungen automatisch verändert werden, oder zumindest Entscheidungen dem Anwender vorzuschlagen, um langfristig eine verbesserte Benutzererfahrung (engl. user experience) bereitzustellen. Unter Adaption wird die Fähigkeit verstanden, sich an externe Faktoren anzupassen. In Bezug auf die Smartphonenutzung bezieht sich die Adaption an der Benutzerschnittstelle auf die Anpassung der dargebotenen Informationen (Inhalt, Layout) und Services (Funktion) anhand der vermeintlichen oder tatsächlichen Ziele des Anwenders. Einfache Beispiele der Anpassung sind dynamische Menüs, bei denen nach Häufigkeit oder Verweildauer die Menüpunkte sortiert oder Favoriten festgelegt werden. Weitreichendere Anpassungen beziehen sich direkt auf Funktionalitäten, die anhand des Benutzermodells vorgeschlagen oder weggelassen werden. Dadurch bleibt das Interface nicht statisch in seinem Bild, wie es von dem Designer gedacht oder vom Benutzer angepasst wurde, sondern verändert sich dynamisch anhand seiner Umgebung und des Benutzerzustands. Während sich die algorithmische Kuratierung von Inhalten und Services für heutige touchbasierte Interface eventuell weit hergeholt anhört, werden wir in naher Zukunft eine Bündelung der heutigen individuellen Apps innerhalb eines smarten Assistenten sehen. Damit dieser die richtigen Informa-

38 Vgl. John M. Carroll u. Mary Beth Rosson: »The Paradox of the Active User«. In: J. Carroll (Hg.): Interfacing Thought. Cognitive Aspects of Human-Computer Interaction. Cambridge, Mass.: MIT Press, 1987, S. 5–23. 39 Vgl. Craig Boyle u. Antonio O. Encarnacion: MetaDoc: »An Adaptive Hypertext Reading System«. In: Peter Brusilovski, Alfred Kobsa u. Julita Vassileva (Hg.): Adaptive Hypertext and Hypermedia. Heidelberg: Springer, 1994, S. 71–89.

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tionen und Services zur Verfügung stellt, lässt sich eine Modellbildung gar nicht verhindern. Grundlage der Handlungen von Assistenten ist die Bewertung des auf aufgabenbezogenen, emotionalen, gesundheitlichen und mentalen Benutzerstatus sowie die gleichzeitige Bewertung weiterer situativer und kontextueller Daten. Somit wird das Smartphone nicht nur von Menschen als Medium wahrgenommen, sondern wird zunehmend selbst wahrnehmend. Anhand der beobachtbaren Daten wird auf dem verborgenen mentalen Zustand des Benutzers geschlossen, um auf die Benutzerwünsche während der Bewältigung der interaktiven Aufgaben einzugehen. Dies führt dazu, dass nicht nur der Anwender ein mentales Modell des Gegenstands schafft, fft, sondern der Gegenff stand ein Abbild/Modell des Gegenübers und der Umgebung, das sogenannte Benutzermodell. Sozusagen eine Erweiterung des Benutzerprofils, welches man in der Regel selbst konfigurieren kann, was aber – wie zuvor diskutiert – oft nicht getan wird. Dieses Benutzermodell wird nicht als handgeschriebenes Regelwerk festgelegt, folgt also keiner zuvor definierten Beschreibung oder einem Ablauf aus endlichen vielen Handlungsvorschriften, sondern wird statistisch beschrieben.

Abb. 1: Wechsel des Systemzustands eines smarten Assistenten in Abhängigkeit des Benutzer-, Umgebungs- und Weltwissensmodells.

Wie in Abb. 1 dargestellt, besteht eine vollständige Beschreibung innerhalb des smarten Assistenten aus dem Systemzustand sowie einem Modell des Benutzers, seiner Umgebung und dem Weltwissen. Dieses Modell wird anhand von Informationen, die anhand von Sensoren, die in der Host-Plattform des Assistenten verbaut sind, und externen Daten aktualisiert. Daraus wird der gewünschte Systemzustand geschätzt und bei einer Abweichung mit dem Istzustand der aktuelle Systemzustand gewechselt.

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Laut Alfred Kobsa et al. werden drei Arten von Daten über Benutzer zu Personalisierungszwecken unterschieden:40 284







Benutzerdaten: Diese können demographische Daten, Informationen oder Annahmen über das Wissen und die Fähigkeiten, Interessen, Präferenzen, Ziele und Pläne des Benutzers beinhalten. Benutzungsdaten: Diese können Auswahl des Benutzers, zeitliches Benutzungsverhalten, Bewertungen durch den Benutzer, Käufe, und verwandte Benutzeraktionen etwa in elektronischen Einkaufskörben, Wunschlisten und Benutzungsverhalten beinhalten. Umgebungsdaten: Diese können Hardware und Software des Benutzers, seinen Aufenthaltsort, sowie personalisationsrelevante Charakteristika des Aufenthaltsorts enthalten.

Zur Entscheidungsfindung des gewünschten Systemzustands spielt aber nach unserem Erachten auch das Weltwissen eine große Rolle. So können z. B. Informationen, die anhand von einem Benutzermodell erst einmal mit einer niedrigen Relevanz eingestuft sind, durch das Weltwissen als relevant eingestuft werden. Sprich, wenn es viele Interessiert, dann wird es vielleicht auch für diejenigen von Bedeutung sein, die sich im Allgemeinen nicht dafür interessieren. Dies trifft z. B. bei Sportgroßereignissen zu: obwohl man keine besondere Neigung für Fußball hat, wird bei einer Weltmeisterschaft der Fernseher eingeschaltet.

Kritik an den Assistenten Wie bereits beschrieben, erfordern die Assistenten eine ganze Reihe von Hypothesen über die Anwender und sammeln dafür viele persönliche Informationen über diese. Dabei geht es nicht nur um klassische Daten, sondern auch um Biosignale wie Fixationspunkt, Blickverlauf, Gesichtsausdruck, woraus auch der emotionale Zustand oder der Stress-Level abgeleitet werden können. Also

40 Vgl. Alfred Kobsa, Jürgen Koenemann u. Wolfgang Pohl: »Personalized Hypermedia Presentation Techniques for Improving Customer Relationships«. In: The Knowledge Engineering Review 16.2 (2001), S. 111–155.

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Daten, die nicht den falschen Leuten in die Hände fallen sollten. Daher gibt es viel Kritik am Sammeln und Abspeichern von personenbezogenen Daten. Damit das Potenzial von Assistenten ausgeschöpft werden kann und diese übergeordnete Aufgaben übernehmen können (Anpassung der Reisebuchungen bei veränderten Umständen, die Aktualisierung der Kalendereinträge, die routinemäßige Einkäufe), ist laut Richard Waters ein tiefes Vertrauen in die neuen Assistenten nötig.41 Ein Vertrauen, welches nicht nur dem Assistenten, sondern auch der dahinter stehenden Firma (moralisches Verhalten als auch Fähigkeit, die Daten gegen Angriffe und Eingriffe zu schützen) und letzten Endes auch dem Staat, in dem man lebt, und dem Staat, in dem die Firma ihren Stammsitz hat oder persönliche Daten gelagert werden, entgegengebracht werden muss. Ein Assistent ist ein rückgekoppeltes System. Also ein Mechanismus, bei dem ein Teil der Ausgangsgröße direkt oder in modifizierter Form auf die Eingangsgröße des Systems zurückgeführt wird. Hinzu kommen Daten an der Eingangsgröße, die ungewollten Einfluss auf das System haben. Diese Daten zu erkennen und zu filtern ist eine Aufgabe, die bis heute nicht automatisch gelöst ist und händischen Eingriff der Entwickler benötigt. Die Stabilität kann bei einem solchen System nicht gewährt werden und das Verhalten ist nur sehr schlecht vorhersehbar. Daher kann es auch zu von den Entwicklern und Designern nicht vorhergesehenen Effekten kommen, die sich negativ auf die Gebrauchstauglichkeit (engl. usability) oder die Benutzererfahrung auswirken können. Zwei Negativbeispiele, bei denen ebendies bereits vorgekommen ist, sind zum einen Watson, IBMs Supercomputer, der am besten für das Gewinnen gegen die besten Spieler bei Jeopardy bekannt ist, und zweitens Tay, ein auf künstliche Intelligenz basierter Chat-Bot von Microsoft.42 So lernte Watson anhand von »schlechten« Quellen, wie dem Urban Dictionary, schlechten Umgang und Sprachgebrauch und fing an, Wörter wie ›bullshit‹ zu verwenden.43 Während bei Watson »nur« das Vokabular beein41 Vgl. Richard Waters: »As digital assistants become part of our lives, deeper questions on privacy and co-dependence arise«. In: Financial Times, dort datiert am 23. September 2016. 42 Vgl. John Markoff: »Computer Wins on ›Jeopardy!‹: Trivial, It’s Not«. In: New York Times, dort datiert am 16. Februar 2011. Auf: http://www.nytimes.com/2011/02/17/ science/17jeopardy-watson.html?pagewanted=all&_r=0, zul. abgeruf. am 23. Februar 2017. 43 Dave Smith: »IBM’s Watson Gets A ›Swear Filter‹ After Learning The Urban Dictionary«. In: International Business Times, dort datiert am 10. Januar 2013. Auf: http://

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flusst wurde, kam es bei Tay sogar zu einer »Persönlichkeitsveränderung«: Kurz nachdem der Bot aktiviert wurde, begann er, als Antworten auf Fragen von Benutzern, rassistische und sexistische Nachrichten auf Twitter zu schreiben.44 Der Bot wurde so entwickelt, dass er auch Aussagen von anderen Benutzern wiederholen kann. Dabei hat Microsoft keine automatisierten Filter zu bestimmten rassistischen und weiteren Begriffen implementiert, wodurch es zu der beschriebenen Veränderung kommen konnte. Das Filtern von Informationen kann wiederum zu tragischen Komplikationen führen: Es kann zu einer sogenannten Informationsblase (auch als Filterblase bezeichnet, engl. filter bubble) kommen. Diese wurde von dem Internetaktivisten Eli Pariser beschrieben als Effekt, dass man nur noch mit der eigenen Meinung konfrontiert wird, da alle anderen Meinungen herausgefiltert werden.45 Die Filterung basiert dabei auf einem Benutzermodell, welches anhand spezifischer Information wie die Suchhistorie und das Klickverhalten aufgebaut wird. Durch das systematische Filtern werden Informationen vorenthalten, die den Benutzer vermeintlich nicht interessieren. Der Filter beschränkt sich dabei nicht ausschließlich auf Themenbereiche, sondern auch auf alternative Meinungen. Daraus resultiert eine Isolation gegenüber Informationen, die nicht der Meinung des Benutzers entsprechen. Dies kann zu einer verschobenen Wahrnehmung führen. Im Gegensatz zu einem reinen Informationssystem werden bei einem Assistenten sowohl die Informationskomponenten als auch die Interaktionskomponenten einer dynamischen Veränderung unterworfen. Führt man diesen Gedanken einen Schritt weiter, lässt sich diese Idee auch auf die Benutzerschnittstelle übertragen. So werden am Interface, egal ob visuell oder sprachbasiert, in Zukunft nur noch solche Funktionen zur Verfügung gestellt, die anhand des Benutzermodells wahrscheinlich sind. Die unwahrscheinlichen stehen entweder gar nicht mehr zur Verfügung oder sind nur sehr schwer zu erreichen. In einer leichten Form kennen wir dieses Verhalten unter Kontakte bei aktuellen Smartphones. Hier werden häufige Kontakte leichter zugäng-

www.ibtimes.com/ibms-watson-gets-swear-filter-after-learning-urban-dictionary1007734, zul. abgeruf. am 22. Februar 2017. 44 Mathew Ingram: »Microsoft’s Chat Bot Was Fun for Awhile, Until it Turned into a Racist«. In: Fortune, dort datiert am 24.5.2016. Auf: http://fortune.com/2016/03/24/chatbot-racism/, zul. abgeruf. am 22. Februar 2017. 45 Vgl. Eli Pariser: The Filter Bubble: What the Internet is Hiding from You. New York: Penguin Press, 2011.

DER SMARTE ASSISTENT

lich gemacht, indem sie prominent im Interface platziert sind. So kommt es ähnlich der Informationsblase zu einer Interaktionsblase, also einer Rückkopplung der Selbstverstärkung von häufigen Interaktionen und einer Reduzierung von weniger häufigen Interaktionen. Bereits heute sind Vorschlagsysteme bei Onlineplattformen alltäglich, welche Kunden Empfehlungen aussprechen, die auf ihrem vergangenen Verhalten und dem Verhalten aller anderen Kunden beruhen: »Kunden, die das Produkt gekauft haben, haben auch dieses Produkt gekauft.« Diese Vorschlagsysteme gibt es auch für Apps, also für Services, die heute über die App-Stores abgerufen werden können. Um den Komfort weiter zu erhöhen wird in Zukunft dieser Typ von Vorschlagssystem vermutlich verschwinden und durch ein Vorschlagssystem ersetzt werden, welches autonomer handelt und stärker im Betriebssystem verankert sein wird. Es werden somit neue Funktionen oder Anwendungen automatisch auftauchen, die wir noch gar nicht installiert haben, und solche verschwinden, die wir nicht, oder vermeintlich, nicht nutzen. Ist sich der Benutzer über die Modellbildung des Algorithmus erst einmal bewusst, kann es vorkommen, dass dieser sein Benutzerverhalten so verändert, um das Modell des Algorithmus in seinem Sinne zu beeinflussen.46 Sprich, er verhält sich nicht, wie er es gerne möchte, sondern täuscht ein anderes Verhalten vor, z. B. dass er bestimmte Artikel gelesen hat oder diese mag, nur um zu erreichen, dass das Modell entsprechend angepasst wird und in Zukunft bestimmte Inhalte oder Service bevorzugt vorgeschlagen werden.47

Schlussbemerkung Die heutigen digitalen Assistenten qualifizieren sich nicht wirklich als smart. Aber es wird nicht lange dauern, bis sie Fähigkeiten erreichen, die tatsächlich diesen Namen verdienen, so dass sie uns in sinnvoller Weise unterstützen können. Dabei erreichen sie es vielleicht, sogar als gleichwertiger Partner angesehen zu werden. Doch welche Aufgaben und Entscheidungen wollen wir

46 Vgl. Konstantin Nicholas Dörr u. Katharina Hollnbuchner: »Ethical Challenges of Algorithmic Journalism«. In: Digital Journalism 4 (2016), S. 404–419. 47 Vgl. Swaran Sandhu u. Tobias Luft: »Nachrichten sind manchmal wie Krimis – wie Smartphones die Nachrichtennutzung junger Menschen verändern«. In: Horizonte 48 (2016), o. S.

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ihnen überlassen und welche Entscheidungen sollten weiterhin bei uns Menschen verbleiben ist eine schwierige, aber wichtige Diskussion, die bereits heute gestartet werden sollte, bevor eine technische Realisierung überhaupt erst möglich wird. Dabei sollten wir insbesondere nicht die Belange der Menschen und das Zwischenmenschliche außer Acht lassen.

Michael Holzwarth

Narrationen des Selbst Das Smartphone und die neue Ökonomie der Aufmerksamkeit

Im Angesicht der Technik etwas zu sagen hat inhärent ein skeptisches und kritisches Moment. Man nimmt die Einladung der Technik, sie einfach zu nutzen, etwas mit ihr zu tun, nicht an, macht stattdessen etwas mit ihr, wofür sie nicht gemacht wurde, gegen ihr Design. Seit der Einführung des ersten iPhones im Sommer 2007 sind elf Jahre vergangen. In diesen elf Jahren ist das Smartphone nicht für Millionen, sondern für über zwei Milliarden Menschen zu einem überaus wichtigen alltäglichen und intimen Begleiter geworden.1 Dabei sind Smartphones nur die handliche und greifbare Materialisation bzw. die individuellen Knotenpunkte eines Netzwerks, welches gerade auf einem umfassenden Prozess der Immatierialisierung beruht. Es steht dabei im Gegensatz zu den noch völlig an Materialitäten und Singularitäten gebundenen Netzen und Netzwerken des Transports und des Verkehrs. Allgemeine Straßen und individuelle Fahrzeuge sind es, die Menschen zu Menschen, Dinge zu Menschen und Menschen zu Dingen gebracht haben. Dieses sozial-materielle Dispositiv des Transports und des Verkehrs erscheint im Angesicht der elektronischen Reproduzierbarkeit des Menschen antiquiert. Smartphone-Gesellschaft ist hier die Chiffre für jenes neue sich entfaltende sozial-digitale Dispositiv. Auf den folgenden Seiten will ich einige Überlegungen anstellen zur Frage, wie sich mit der Nutzung des Smartphones die Möglichkeiten der narrativen Konstruktion von Identität verändern bzw. wie die Smartphone-Gesellschaft die Herstellung neuer Narrative des Selbst einübt und einfordert. Dies

Entsprechende Zahlen finden sich gut zugänglich auf www.statista.de und im Ericsson Mobility Report 2017.

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hängt zusammen mit der Feststellung, dass die Verbreitung des Smartphones drastische Verschiebungen individueller wie kollektiver Aufmerksamkeit erzeugt hat und noch weiterhin erzeugt. Bevor ich sie auf die Smartphone-Gesellschaft anwenden kann, will ich diese beiden hier implizierten Theorien der narrativen Konstruktion von Identität einerseits und der Ökonomie der Aufmerksamkeit andererseits kurz skizzieren.

Die narrative Konstruktion von Identität Im Ausgang seiner monumentalen Arbeit Zeit und Erzählung versuchte Paul Ricoeur eine Grenzbegehung des von ihm erkundeten Gebiets zwischen Augustinischer Theorie der Zeit und Aristotelischer Theorie der Fabel. Eine erste Ernte ist ihm die Erkenntnis, »die Erzählung als den Hüter der Zeit anzusehen, sofern es ohne die erzählte keine gedachte Zeit gäbe«2. Zeit ist nach Ricoeur ontisch unvorstellbar. Auf diese Aporetik der Zeit machte er es sich zur Aufgabe »mit einer Poetik der Erzählung zu antworten«3. Nur in der Erzählung lässt sich Zeit fassen und erfassen. Eine solche erzählte Zeit, so Ricoeur, »gleicht einer Brücke, die über die Bruchstelle geschlagen wird, die sich stets aufs neue zwischen phänomenologischer und kosmologischer Zeit bildet«4. Diese Brückenschläge ermöglichen den tatsächlichen Unterbrechungen und anderen Parallelitäten zum Trotz die Fiktion einer Kontinuität und einer Einheit der Entwicklung. Der Zuhörer eines Erzählers empfindet die Erzählung mit und nach. Diese mimetische Aktivität führt zu einer »dritten Zeit«, die Ricoeur »kalendarische Zeit« nennt, die ich jedoch eher als interpersonale Geschichte bezeichnen würde. Die »mimetische Aktivität« hat, so würde ich ergänzen, dabei auch eine empathische und damit eine gemeinschaftliche Qualität. So entsteht durch die Mimesis der Erzähler und durch die jenseits der Tragödie über Jammer und Schauder hinausgehenden Empathie oder Mit-Mimesis der Zuhörer eine gemeinsame Erfahrung und daraus eine Gemeinschaft. Die Empathie des Zuhörers führt zu einer Aneignung der Erzählung. Durch die Mitteilung wird Paul Ricoeur: Zeit und Erzählung. Band III: Die erzählte Zeit. München: Wilhelm Fink, 1991, S. 389. 3 Ebd., S. 392. 4 Ebd. 2

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die Erzählung zu einem von Erzähler und Zuhörer geteiltem Wissen, welches eine Erzähl- oder Wissensgemeinschaft erzeugt. Ricoeur spricht hier von einer »Überkreuzung« bzw. »Vereinigung von Geschichte und Fiktion«. Darüber lässt sich eine spezifische »narrative Identität« für ein Individuum oder auch für eine Gemeinschaft erzeugen. Ricoeur betont hier, dass er Identität als eine »Kategorie der Praxis« versteht: Die Identität eines Individuums oder einer Gemeinschaft angeben, heißt auf die Frage antworten: wer hat diese Handlung ausgeführt, wer ist der Handelnde, der Urheber? Auf diese Frage wird zunächst so geantwortet, daß jemand benannt wird [...], das heißt durch einen Eigennamen bezeichnet wird. Doch worauf stützt sich die Dauerhaftigkeit des Eigennamens? Was berechtigt dazu, daß man das so durch seinen Namen bezeichnete Subjekt der Handlung ein ganzes Leben lang, das sich von der Geburt bis zum Tod erstreckt, für ein und dasselbe hält? Die Antwort kann nur narrativ ausfallen. Auf die Frage ›wer?‹ antworten, heißt, wie Hannah Arendt nachdrücklich betont hat, die Geschichte eines Lebens erzählen. Die erzählte Geschichte gibt das ›wer?‹ der Handlung an. Die Identität des wer ist also selber bloß eine narrative Identität.5

Die Narrativität der Identität erscheint mit Ricoeur als eine unhintergehbare Position in der Beschreibung des Menschen als ein Gewordener. Ricoeurs Fokus auf die Geschichte eines Lebens bzw. die Erzählung des Vergangenen und der Herkunft, erscheint mir zwar richtig, dennoch auch einseitig. Es fehlt die Narration des Zukünftigen. Die Zukunft hat zwar als ein noch nicht Realisiertes nicht dieselbe faktische Qualität, wie die Vergangenheit als ein schon Realisiertes, dennoch erscheint mir das »ich werde« ein integraler Bestandteil menschlichen Selbstverständnisses, so wie Nietzsche den Menschen als Tier, »das versprechen darf«6 bezeichnet. Er nennt dies »ein aktives Nichtwieder-los-werden-wollen, ein Fort- und Fortwollen des einmal Gewollten, ein eigentliches Gedächtnis des Willens: so dass zwischen das ursprüngliche ›ich will‹ ›ich werde thun‹ und die eigentliche Entladung des Willens, seinen Akt, unbedenklich eine Welt von neuen fremden Dingen, Umständen, selbst Willensakten dazwischen gelegt werden darf, ohne dass diese lange Kette des Willens springt«7. So lässt sich sagen, dass der Mensch auf die Frage, wer bist Du? sowohl erzählen kann, wie er geworden ist, als auch das, was er zu werEbd., S. 395. Friedrich Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse. Zur Genealogie der Moral. München: dtv, 1999, S. 291. 7 Ebd., S. 292. 5 6

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den vorhat. Sein Identität wäre die eines schon Gewordenen, ebenso wie die eines noch Werdenden. Darüber hinaus bezeichnet Nietzsche den Verlust der Vergangenheit in der Vergesslichkeit als ein »aktives, im strengsten Sinne positives Hemmungsvermögen«. In der »aktiven Vergesslichkeit« sieht er eine »Thürwärterin gleichsam, eine Aufrechterhalterin der seelischen Ordnung, der Ruhe, der Etiquette: Womit sofort abzusehen ist, inwiefern es kein Glück, keine Heiterkeit, keine Hoffnung, keinen Stolz, keine Gegenwart geben könnte ohne Vergesslichkeit. Der Mensch, in dem dieser Hemmungsapparat beschädigt wird und aussetzt, ist einem Dyspeptiker zu vergleichen (und nicht nur zu vergleichen –) er wird mit nichts ›fertig‹«.8 Nietzsche folgend lässt sich sagen: die Vergesslichkeit dünnt die Vergangenheit aus und die Gegenwart blendet sie aus. Vergessen zu können ist in Nietzsches vitalistischem Vokabular entsprechend weder Schwäche noch Defekt, sondern Zeichen einer »starken Gesundheit«.9 Zum Zwischenraum von schon Gewordenem und noch Werdendem in der Identität hat Helmuth Plessner einen wesentlichen Beitrag geleistet, der die Perspektiven von Ricoeur und Nietzsche um ein Drittes ergänzt – die Perspektive der Gegenwart und Aktualität.10 In Abgrenzung zu physikalischen Theorien, in denen »Kommen und Gehen, Entstehen und Verschwinden« kausal nachvollziehbar erscheinen, in denen gilt: »Wird etwas, so wird es aus Gewordenem, um Gewordenes zu werden«, sieht Plessner die Psyche auf solche Weise kaum ergründbar. Die »seelische Seinsfülle«, so Plessner, »erschöpft sich nie im Gewordenen, sondern passiert dieses Stadium der Bestimmtheit und Erschöpftheit nur, um wieder ins Werden, in die lebendige Aktualität überzugehen. Aus einem unauslotbaren Quellgrund, dem Innern, steigen ihre schwer faßbaren Gestalten ins Licht des Bewußtseins«.11 Zum Vergangenheitsbezug einer Identität sagt Plessner: »Soweit die Seele geformt ist, mag sie sich eine Beurteilung gefallen lassen; überzeugen kann sie davon doch erst die in der Rückschau erfaßbare Melodie durchlebten Schick-

Ebd. Nietzsche: Ebd. S. 292 10 Damit will ich weder Ricoeur auf die Vergangenheitsperspektive noch Nietzsche auf die Zukunftsperspektive reduzieren; vielmehr habe ich hier nur besonders pointierte Aussagen aus den sehr differenzierten und vielschichtigen Werken von Ricoeur und Nietzsche ausgewählt. 11 Helmuth Plessner: Grenzen der Gemeinschaft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2002, S. 62. 8 9

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sals«.12 Dennoch ist dieser Bezug für Plessner nur ein, für sich genommen, unzureichender Aspekt der Frage nach der Identität eines Menschen. Auf seine Vergangenheit festgelegt zu werden, wäre geradezu eine Gefangennahme und Inhaftierung des Menschen. Für Plessner ist die Seele Werden und Sein in einem, weil sie zugleich die Genesis von beiden ist. Darum erträgt die Seele, die seelenhafte Individualität, keine endgültige Beurteilung, sondern wehrt sich gegen jede Festlegung und Formulierung ihres individuellen Wesens. Darum aber fordert sie ebensosehr das Urteil heraus und bedarf des Gesehenwerdens vom eigenen wie vom fremden Bewußtsein, da ihr keine andere Möglichkeit der Erlösung aus der Zweideutigkeit gegeben ist. [...] Wir wollen uns sehen und gesehen werden, wie wir sind, und wir wollen ebenso uns verhüllen und ungekannt bleiben, denn hinter jeder Bestimmtheit unseres Seins schlummern die unsagbaren Möglichkeiten des Andersseins.13

Gerade in diesen Worten zur Unschärfe der Seele als etwas nicht Stillstehendes, sondern als ein immer in und aus einer unergründbaren Aktualität Werdendes kommt Plessner auf das Bedürfnis nach Selbstvergewisserung durch eine Bestätigung von außen, in der Hoffnung gesehen zu werden, wie man ist. In diesen Begegnungen mit anderen Menschen liegt zugleich das Potential der beruhigenden und befriedenden Bestätigung der Einheit von Selbstund Fremdwahrnehmung einerseits und die Angst davor, nur in dieser Aktualität anerkannt, nur auf dieses Sein reduziert zu werden, andererseits. Sich einmal dem oder den anderen zu zeigen und erkannt zu werden, mag bestätigen, doch ebenso fordert es dazu auf, sich weiteres aus dem Ungrund der Seele Hervorquellendes anzueignen und anzuverwandeln und wiederkehrend diese Bühne der Begegnung und des Abgleichs zu suchen. Wie die Erzählung einen Zuhörer benötigt, bedarf es für Darstellung und Äußerung allgemein der Aufmerksamkeit eines Anderen.

Zur Ökonomie der Aufmerksamkeit Aufmerksamkeit zu bekommen ist für ein neugeborenes Kind lebenswichtig, in Gesellschaft zu sein ist der Normalzustand des Menschen. Irgendwann löst

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Ebd., S. 59. Ebd., S. 62f.

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sich das Kind von der exklusiven Aufmerksamkeit der Mutter und erweitert seinen sozialen Radius. Sozialität kann nur durch Aufmerksamkeit entstehen – man wird anderer Menschen gewahr und richtet zum Beispiel sehend, hörend, sprechend oder riechend seine Aufmerksamkeit auf eine andere Person oder einen Personenkreis. Diese Aufmerksamkeit führt zu einer Wahrnehmung des Anderen und in der Verarbeitung der Wahrnehmung zu einem Wissen oder zumindest zu einer Vorstellung vom Anderen. Aufmerksamkeit und Wahrnehmung sind entsprechend die Grundlagen von Gemeinschaft und Sozialität im Allgemeinen. Die Notwendigkeit mit einer Sache hauszuhalten wird einem meist erst dann bewusst, wenn sie zu einem knappen Gut wird. Dies wäre eine Erklärung für das Aufkommen einer Theorie der Ökonomie der Aufmerksamkeit in einer kulturellen Entwicklung, die mit einer gewissen Plötzlichkeit Aufmerksamkeit verbraucht oder sie von einer Sache auf eine andere Sache lenkt. Darüber hinaus hat besonders das 20. Jahrhundert eine Proliferation der ökonomischen Betrachtungen erlebt, die sowohl deskriptiven, wie auch reifizierenden Charakters sind.14 Auch Herbert A. Simon beschäftigte sich Anfang der 1970er Jahre mit dem neuen Verhältnis von Produzierbarkeit und Konsumierbarkeit. Simon definierte Reichtum und Armut als relatives Verhältnis zu einem Bedarf. In einer Welt, die etwa reich an Möglichkeiten ist, kommt es zu einer verhältnismäßigen Armut an Verwirklichungen. In einer Welt, die reich an Informationen ist, kommt es zu einer verhältnismäßigen Armut an Aufmerksamkeit: In an information-rich world, the wealth of information means a dearth of something else: a scarcity of whatever it is that information consumes. What information consumes is rather obvious: it consumes the attention

14 So haben etwa die Ökonomen Gary Becker und Jacob Mincer Mitte des 20. Jahrhunderts den Begriff des human capital, Humankapital, geprägt, um Wissen, Bildung und Fähigkeiten der an einer Wirtschaft teilnehmenden Personen zu erfassen. Pierre Bourdieu fügte Ende der 1970er noch das Bildungs- oder kulturelle Kapital hinzu – ein Kapital, welches im Kontrast zum Humankapital nicht direkt auf die Produktion käuflicher Güter oder den Erwerb von Geld ausgelegt ist, sondern meist zeitaufwendig durch die Beschäftigung mit kulturellen Gütern, den Konsum kultureller Produkte und eine Verfeinerung der Sitten gewonnen werden kann. Pierre Klossowski beschrieb Mitte der 1990er Jahre zudem auch den Körper als Währung. Gerade im Kontext der stetig produktiver werdenden industriellen Fabrikation von Waren, kontrastierte Klossowski diese mit der stärkeren Begrenztheit des menschlichen Körpers – als Konsument, wie auch als Objekt des Konsums (vgl. Pierre Klossowski: Die lebende Münze. Berlin: Kadmos, 1998).

NARRATIONEN DES SELBST of its recipients. Hence a wealth of information creates a poverty of attention and a need to allocate that attention efficiently among the overabundance of information sources that might consume it.15

Simon hielt es für kaum auszumachen, wie informationsreich die Gesellschaft oder irgendetwas ist, oder wann es informationsreich wurde. Er stellte jedoch fest, es sei recht einfach zu messen, wie viel der knappen Ressource Aufmerksamkeit verbraucht wird – »by noting how much time the recipient spends on it. Human beings and contemporary computers also, are essentially serial, one-thing-at-a-time devices. If they attend to one thing, they cannot simultaneously attend to another«16. Simon hatte hier ganz andere Probleme vor Augen, es ging ihm, ebenso wie um menschliche Aufmerksamkeit, auch um die damaligen Aufmerksamkeits-Kapazitäten von Computern, dennoch formulierte er hier die Grundlagen einer Theorie der Ökonomie der Aufmerksamkeit. Ende der 1990er Jahre veröffentlichte Georg Franck, der Simonschen Überlegungen wahrscheinlich nicht bewusst, seine eher linguistisch inspirierte Theorie einer Ökonomie der Aufmerksamkeit. Er bezeichnete Aufmerksamkeit als ein begehrtes Einkommen, fügt jedoch hinzu: »Aber sie ist begehrt, nicht, weil man anderer Leute Arbeit damit kaufen könnte, sondern weil sie Zugang zu anderen Erlebnissphären verschafft. Um der Rolle willen, die die eigene Person im anderen Bewußtsein spielt, inszenieren wir die hohe Kultur der Attraktivität.«17 Während Franck seine Theorie noch wesentlich aus den Sphären der Massenmedien einerseits und der Wissenschaftsbetrieb andererseits heraus entwickelte, werde ich im Folgenden auf den Ursprung seiner Theorie zurück gehen. Dieser entstammt der Beobachtung, dass in einem normalen Gespräch der »sich selbst organisierende Wechsel von Sprechen und Hören als Form eines stillschweigend ausgehandelten Tauschs zu beschreiben« sei.18 Dieser Ursprung der franckschen Ökonomie der Aufmerksamkeit ist in der Smartphone-Gesellschaft zu einer neuen und von Franck wahrscheinlich nicht geahnten Relevanz gekommen, was mit den gewandelten Faktoren der Produktion und Reproduktion von Aufmerksamkeit konsumierenden Inhalten bzw. mit der Produktion und Lenkung von Aufmerksamkeit

Herbert A. Simon: Designing Organizations for an Information-Rich World (Scan eines Typoskripts/Manuskripts), o.O., o.V., 1969, S. 6f. 16 Ebd. S. 7. 17 Georg Franck: Ökonomie der Aufmerksamkeit. München u. Wien: Carl Hanser, 1998, S. 12f. 18 Ebd., S. 7. 15

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zusammen hängt. Franck definierte Aufmerksamkeit als »attention und awareness stets zugleich – und zwar zugleich in ihrer Verschiedenheit [...] Das Aufmerksamsein sei, ganz im Sinne des umgangssprachlichen Wortgebrauchs, als die zugewandte und zugleich wach daseiende Geistesgegenwart verstanden«.19 Mir geht es in Fortführung der Überlegungen zur narrativen Identität von Ricoeur und den Ergänzungen von Nietzsche und Plessner speziell um die Entstehung und Verwandlung von Identität und Selbstbewusstsein durch die Verschiebungen von Aufmerksamkeit als »Erzähler« und »Zuhörer« im Sinne Ricoeurs. Einerseits: Für wen wird man Erzähler und für wen wird man Zuhörer? Wessen Erzählungen trägt man in sich? und: Wer trägt die eigene Erzählung in sich? Andererseits, mit Bezug auf Nietzsche und Plessner: Wer antwortet einem auf die Fragen, die in der eigenen Erzählung stecken? Ich will nun im dritten Teil der Arbeit die Theorie der narrativen Identität, die auch eine Theorie der menschlichen und phänomenologischen Zeit in der longue durée ist, in Verbindung mit der Ökonomie der Aufmerksamkeit, die hingegen eher eine Theorie der Zeit als courte durée ist, in ihrer zeitgenössischen Verwirklichung in der Smartphone-Gesellschaft betrachten. Auch wenn Ricoeur in der Bildung des Begriffs der Narration des Selbst wahrscheinlich die spezifische Form der sprachlichen Erzählung vor Augen hatte, so will ich in dieser Betrachtung situative und mediale Aspekte der Narration ebenso einbeziehen wie die teilweise auch erzählenden Qualitäten visueller und audiovisueller Selbstzeugnisse.

Das Smartphone zwischen Zeigen und Erzählen Das Smartphone fungiert in unserer Gesellschaft inzwischen als zentrales Gerät zum Management individueller wie auch kollektiver Aufmerksamkeit: visuelle Wahrnehmung wird in relativer Nähe zu den Augen eingeblendet, andere Dinge und Personen in der physischen Umgebung werden ausgeblendet. Ebenso dienen Kopfhörer nicht nur der Einblendung von Wahrnehmung, etwa in Form von Musik, sondern auch zur Ausblendung anderer Geräusche (meist Geräusche, die Menschen in unserer Nähe erzeugen). So können Wahrnehmungen in kreativer und eigenständiger Weise gesteuert und gemischt wer-

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Ebd., S. 30.

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den, die eigene Wahrnehmung erscheint weniger als Resultat des einer Situation ausgeliefert Seins, sondern als Resultat einer freien Entscheidung. Dabei wirkt das jeweilige Einblenden und Überblenden jedoch selten vollständig, es kommt zu einer Parallelisierung der Wahrnehmung oder, wenn man Herbert A. Simon glauben darf, der den Mensch als »serial, one-thing-at-a-time« bezeichnete, zu einem sprunghaften Wechsel der Wahrnehmungsebenen. Die räumliche und zeitliche Diversifizierung und Entkoppelung zahlreicher Tätigkeiten und Beziehungen stellt viele Menschen vor die Herausforderung, nicht nur die eigene Wahrnehmung, sondern auch das eigene Wahrgenommen-Werden zu ermöglichen und entsprechend managen zu müssen. Teil dieser Sorge um das eigene Selbst und dieses Managements ist die Produktion von Bild- und Text-Material, sowie von audiovisuellen Inhalten, die das eigene Leben für andere Menschen wie auch für sich selber sichtbar und nachvollziehbar machen – im Sinne Berkleys esse est percipii. Erst dann werden Bestätigung und Anerkennung möglich. Wer wahrgenommen wird, spielt, wie Franck schrieb, im Bewusstsein anderer einer Rolle und weiß, dass seine Lebenserzählung auch im anderen aufgehoben ist und entsprechend, dass auch er im anderen auf eine gewisse Weise aufgehoben ist. Mit Facebook, Diaspora, Myspace, Instagram, LinkedIn, Youtube, Snapchat, Twitter und einigen weiteren Social Media, Plattformen, Blogging- und Vlogging-Angeboten haben sich neue Möglichkeiten nicht nur der Telekommunikation, sondern auch der Tele-Gemeinschaft ergeben, die mit den Gesellschaftsmodi der Flexibilität und Mobilität besonders kompatibel sind. Das Internet als Über-Ort bietet in einer räumlich und zeitlich flexibler und flüssiger gewordenen Gesellschaft einen zwar virtuellen aber konstanten Ort und dadurch auch das Versprechen einer konstanten Gemeinschaft. Mit den noch ortsgebundenen Formen der telekommunikativen Interaktion, wie dem PC zu Hause und dem Internetcafé unterwegs, kam man um die Pausierung dieser Formen von Tele-Sozialität kaum herum. Das Smartphone hingegen bietet als ständiger und geradezu »intimer«20 Begleiter mit seinem ortsungebundenen Zugriff auf spezifische Formen der Nähe eine Kontinuität, Nahtlosigkeit und Parallelität dieser Gemeinschaft, die dadurch im Rahmen ihrer Möglichkeiten und Beschränkungen eine größere Verlässlichkeit suggeriert als jede physische Gemeinschaft. Analog dem von Franck angesprochenen »stillschweigen-

20 Timo Kaerlein: Intimate Computing. Zum diskursiven Wandel eines Konzepts der Mensch-Computer-Interaktion. in: ZfM 15, 2, 2016, S. 30–40, hier: S. 33.

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den Tausch« im Sprechen und Hören, gilt es hier als fair und reziprok, nicht nur zu senden, sondern auch zu empfangen, nicht nur zu erzählen, sondern auch zuzuhören, das Smartphone also nicht nur zu nutzen, wenn man selber jemanden erreichen will, sondern auch für andere erreichbar und verfügbar zu sein – in anderen Netzwerken nicht nur zu posten, sondern auch zu liken. Trotz dieser zunächst sehr egalitären Startbedingungen kommt es hier rasch zu sehr großen Ungleichgewichten dieser Aufmerksamkeitsökonomie entsprechend, zu großem Reichtum an Aufmerksamkeit und zu ebensolcher Armut. Während Aufmerksamkeit auch als Einladung und Aufforderung zur Erzählung gelten kann, wirkt der Mangel an Aufmerksamkeit eher entmutigend: Wenn man sich an ihn wandte und mit ihm eine Unterredung über welches Thema auch immer führte, sah X ... häufig so aus, als schaute und hörte er woandershin, als achtete er dabei auf etwas anderes ringsum: man hielt entmutigt inne; nach einem langem Schweigen sagte X ...: ›Fahr nur fort, ich höre dir ja zu‹; und dann nahm man schlecht und recht den Faden einer Geschichte wieder auf, in die man schon kein Vertrauen mehr setzte.21

Im Rahmen dieser sich wandelnden Ökonomie der Aufmerksamkeit führt die Produzierbarkeit, Präsenz und Nutzbarkeit digitaler, medial unterschiedlich aufbereiteter Kurzformen auch gesellschaftlich wie individuell zu einem Wandel der Vorstellungen davon, wie viel Aufmerksamkeit und Geduld in die Herstellung einzelner Äußerungen fließen müssen, damit sie die angestrebte Wirkung erreichen. In der Smartphone-Gesellschaft verhalten sich Menschen im Wettbewerb um die begrenzte Ressource Aufmerksamkeit zunehmend wie Unternehmen, indem sie die Investition ihrer eigenen Aufmerksamkeit und die Allokation ihrer Mittel zur Gewinnung der Aufmerksamkeit effizient zu steuern und zu optimieren versuchen.22 Kleine, spontane, affektive Formen des Ausdrucks und der Kommunikation erhalten den Vorzug, weil sie sich (tatsächlich oder scheinbar) gut in alltägliche Vollzüge und Tätigkeiten einfügen

21 Roland Barthes: Fragmente einer Sprache der Liebe, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1988, S. 204. 22 Der Begriff der Ökonomie der Aufmerksamkeit ist besonders in diesem Zusammenhang, seinem Erkenntnis fördernden Potential zum Trotz, mit großer Vorsicht zu genießen, suggeriert er doch die leider völlig falsche Vorstellung einer Rationalität der Aufmerksamkeit, was daran liegt, dass der Begriff der Ökonomie immer noch diskursiv in das Feld der Rationalität eingebettet wird.

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lassen, eine Grimasse, ein Witz, ein Like, irgend ein Zeichen, das sagen soll: »Ich habe dich nicht vergessen!« oder »Ich denke an dich!«. Tendenz und Eigenschaften dieser Formen scheinen zu sein: Schnelligkeit, Bekömmlichkeit, Glätte, Unfertigkeit und Unabgeschlossenheit. Mit den eigenen gesendeten oder geposteten Fotografien, Nachrichten, Filmen und weiteren mit dem Smartphone produzierten Formaten erzeugt man für andere und für sich Spuren und Zeugnisse des eigenen Lebens. Aus diesem Material lassen sich im Sinne einer Arbeit an der eigenen Erzählung narrative Collagen gestalten, die das eigene Leben nach den jeweiligen Vorstellungen von Gelungenheit erzählen. Dabei ergeben sich jedoch auch Probleme in der Kontrolle der eigenen Erzählung. Aus dem eigenen Fotoalbum kann man Bilder eventuell entfernen oder diese neu arrangieren, ähnlich kann man in der mündlichen Erzählung Aktualisierungen und Neubewertungen vornehmen. Dies ist bei einigen digitalen, mit dem Smartphone produzierten Formen nur noch selten möglich. Während sich, mit Nietzsche gesagt, mit der menschlichen Fähigkeit der »aktiven Vergesslichkeit« unser eigenes Gedächtnis permanent aktualisiert und revidiert, bleiben zahlreiche Spuren der textuellen und bildlichen Kommunikation und Selbstdarstellung konstant und erhalten. Auch im Gegensatz etwa zur von Franck näher betrachteten Aufmerksamkeitsökonomie der Scientific Community (SC) vollzieht sich der Austausch und die Kommunikation in den Gemeinschaften der sozialen Netzwerke oft sogleich im Modus der Publikation. Publikation bedeutet immer auch ein Aus-der-Hand-Geben, ein Verlust an Kontrolle. Während in der SC ein wesentlicher Teil der Kommunikation, der Auseinandersetzung noch hinter den Kulissen stattfindet und schlussendlich eher redigierte, abgemilderte Statements veröffentlicht werden, fehlt dem Austausch in den digitalen Formaten eine Art Backstage. Die Reaktion auf nicht nur eklatante, sondern auch auf geringe Fehltritte kann aufgrund der affektiven Aufladung der Smartphone-Kommunikation der Shitstorm sein. Ob gewollt oder ungewollt führt die Telekommunikation in schriftlicher und bildlicher Form in den sozialen Netzwerken meist auch zu einer Form von Telerepräsentation. Mit Telerepräsentation ist die über den Vorgang der Kommunikation hinaus gehende Sichtbarkeit jener Äußerungen gemeint. Telerepräsentation ist auch das Prinzip, nach welchem Facebook sich seit der Um-

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stellung auf die Timeline im Jahr 2011 organisiert.23 Hier werden die Einträge der Nutzer zeitlich sortiert und dargestellt. Bildunterschriften, wie im analogen Fotoalbum, erklären, welcher Ort gezeigt und welche Personen abgebildet sind. Um ein großes Manko Facebooks auszugleichen – es wurde erst 2004 gegründet – werden dessen Nutzer eingeladen, zur Komplettierung ihrer Lebensgeschichte auch Fotos aus früheren Zeiten auf ihr Profil zu laden. Wie schon angesprochen, sind größere Teile der mit dem Smartphone vollzogenen Kommunikation sogleich auch eine Form von Publikation. Während das Handy für viele noch wesentlich ein Gerät des Gesprächs war, hat sich mit dem Smartphone eine Verschiebung hin zur Verschriftlichung und Verbildlichung der Kommunikation ergeben. Sie gilt teilweise als weniger aufdringlich, weil sie nicht wie der Anruf sogleich entgegen genommen werden muss und ermöglicht in gewissen Situationen (etwa eine Absage) die Information ohne unangenehme Gegenrede oder Nachfrage zu vermitteln. Das Gespräch hat meist eine spezifische Zeitlichkeit – Wörter erklingen und verhallen in Bruchteilen von Sekunden. SMS, Tweets, Posts, Emails und anderen Textnachrichten oder Kommentare besitzen hingegen eine ganz andere Zeitlichkeit. Die Datenträger, auf denen die verschiedenen Nachrichten gespeichert werden, besitzen oft eine Lebensdauer von mehreren Jahrzehnten und sind jenseits von Privatnutzern zudem mit Redundanzen und Sicherungskopien ausgestattet. Im Gegensatz zu Papier gibt es hier kein Vergilben oder Verbleichen und durch die Sicherungen auch so gut wie keine Gefahr von Wasser, Feuer oder anderen zerstörerische Kräften. Im November 1998 schrieb der amerikanische Journalist Joseph Daniel Lasica in dem damals geradezu hellseherischen Beitrag The Net Never Forgets: über die Tatsache, dass die Spuren, die Nutzer im Internet hinterlassen, weder vom Wind verweht oder von der Sonne verblichen werden, noch sonst irgendwie schwächer werden: »Once, words were spoken and vanished like vapor in the air; newsprint faded and turned to dust. Today, our pasts are becoming etched like a tattoo into our digital skins.«24 Auch elf Jahre später schrieb Viktor Mayer-Schön-

Auf der facebook heißt es: »Timeline reorganizes all stored user information for display, rather than archival. In previous Facebook incarnations, it was more difficult or impossible to view outdated events, photos and comments.« 24 Joseph Daniel Lasica: The Net Never Forgets. Auf: http://www.salon.com/1998/11/25/ feature_253/, zul. abgeruf. am 05. Februar 2018. 23

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berger: »the shift from forgetting to remembering is monumental«.25 Unter Bezug auf den Gedächtnisforscher Daniel Schacter skizziert Mayer-Schönberger den Konflikt zwischen dem in gewisser Weise eidetischen Gedächtnis zahlreicher Anwendungen im Internet und dem menschlichen Gedächtnis, dessen Erinnerung und Bewertung der Vergangenheit stark von der Gegenwart beeinflusst ist: »Schacter suggest that our brain constantly reconfigures our memory – what we remember is based at least in part on our present preferences and needs«.26 Dieses eidetische Gedächtnis droht mit den Eigenschaften jenes Dyspeptikers, von dem Nietzsche sprach. Verschiedene Social Media haben als kleine, beinahe flüchtige, in ihren Möglichkeiten recht eingeschränkte Formate begonnen und dann peu à peu, nachdem sie eine größere Zahl von Nutzern hatten, ihr Angebot ausgebaut, um ihre Nutzer noch weiter zu involvieren. Das jüngste größere Beispiel ist etwa Snapchat. Diese Anwendung hatte gerade deshalb einen solchen Erfolg, weil sie den Nutzern versprach, den Selfies und anderen Fotos, die sie sich so gerne zusenden, ihre eigentlich intendierte Ephemerität wieder »zurück zu geben«. Man stellte, bevor man das Foto verschickte, ein, ob es nur eine, zwei oder maximal zehn Sekunden zu sehen sein sollte. Doch auch Snapchat lädt seine Nutzer inzwischen dazu ein, ähnlich wie Facebook, ihre Story zu erzählen und entsprechend ihrer digitalen Haut permanente Bilder einzufügen. Dabei kämpfen diese verschiedenen Anwendungen um die Aufmerksamkeit ihrer Nutzer. In der Social-Media-Industrie sind Involvement und Engagement die entsprechenden Schlüsselwörter. Es geht um die Verweildauer auf der Internetseite (average time spent on site) oder die Sitzungsdauer (session duration). Jüngere Zahlen nennen zumindest für die USA eine durchschnittliche Nutzungsdauer der verschiedenen Social Media von knapp zwei Stunden pro Tag.27 Facebook ist hier tatsächlich im Rahmen der Ökonomie der Aufmerk-

25 Viktor Mayer-Schönberger: delete. The Virtue of Forgetting in the Digital Age. Princeton u. Oxford: Princeton University Press, 2009, S. 14. 26 Ebd. S. 20. 27 »Astonishingly, the average person will spend nearly two hours (approximately 116 minutes) on social media every day, which translates to a total of 5 years and 4 months spent over a lifetime. Even more, time spent on social is only expected to increase as platforms develop, and is expected to eat further into traditional media - most notably TV. Right now, the average person will spend 7 years and 8 months watching TV in a lifetime. However, as digital media consumption continues to grow at unprecedented rates, this number is expected to shrink in counter to that expansion. Currently, total time spent on social media beats time spent eating and drinking, socializing, and grooming.«

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samkeit besonders erfolgreich und schafft es inzwischen seine Nutzer durchschnittlich 50 Minuten am Tag an sich zu binden.28 In der Smartphone-Gesellschaft hat sich ein bedeutender Teil der sozialen Aufmerksamkeit in eine Sphäre verlagert, in der es gilt, seine Wahrnehmbarkeit, die im Wesentlichen eine Sichtbarkeit und Lesbarkeit ist, überhaupt erst zu produzieren – als Bedingung der Möglichkeit von Aufmerksamkeit. Viele dieser Über-Orte ignorieren dabei die jeweiligen physisch-geographischen Gebundenheiten und fordern zur Assoziation nach Vorlieben und Interessen auf – unter anderem nach dem Motto »sharing is caring«.29 Dieses Sharing geschieht im Rahmen einer Aufmerksamkeitsökonomie meist in Form einer Aneinanderreihung von kurzen Lebensäußerungen und -signalen. Dieser Aneinanderreihung fehlt jedoch die Qualität einer tatsächlichen Erzählung, die es schafft, einen erzählerischen Bogen zu spannen.30 Vielmehr scheinen die Möglichkeiten einer Narration des Selbst aufgrund der zahlreichen in der Smartphone-Gesellschaft nötig gewordenen Spuren der Selbstherstellung im Sinne einer Sichtbarmachung des Selbst deutlich erschwert. Je spärlicher hingegen die Zeugnisse zu einem Leben sind, desto freier erscheint der Mensch in der Erzählung seiner Selbst.

Evan Asanon am 4. Januar 2017 auf: : http://www.socialmediatoday.com/marketing/ how-much-time-do-people-spend-social-media-infographic, zul. abgeruf. am 05. Februar 2018. 28 »Time is the best measure of engagement, and engagement correlates with advertising effectiveness. Time also increases the supply of impressions that Facebook can sell, which brings in more revenue (a 52 percent increase last quarter to $5.4 billion). And time enables Facebook to learn more about its users — their habits and interests — and thus better target its ads. The result is a powerful network effect that competitors will be hard pressed to match.« James B. Stewart: »Facebook Time: 50 Minutes a Day«. In: New York Times, 06. Mai 2016, S. B2. 29 Dave Eggers: The Circle. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2014, S. 305. 30 »Die Zeitkrise von heute ist nicht die Beschleunigung, sondern die temporale Zerstreuung und Dissoziation. Eine temporale Dyschronie lässt die Zeit richtungslos schwirren und zur bloßen Abfolge punktueller atomisierter Gegenwart zerfallen. Dadurch wird die Zeit additiv und jeder Gegenwart entleert.« (Byung-Chul Han: Transparenzgesellschaft. Berlin: Matthes & Seitz, 2012, S. 55.)

Beiträgerinnen und Beiträger PROF. DR. DANIEL MARTIN FEIGE ist Juniorprofessor für Philosophie und Ästhe-

tik unter besonderer Berücksichtigung des Designs an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Stuttgart. Schwerpunkte: Philosophische Ästhetik, Philosophie des Designs, Geschichtsphilosophie, Philosophische Anthropologie, Kulturphilosophie und Theorien der Kritik. Monographien: Kunst als Selbstverständigung (Münster: Mentis, 2012). Philosophie des Jazz (Berlin: Suhrkamp, 2014). Computerspiele. Eine Ästhetik (Berlin: Suhrkamp, 2015). Design. Eine philosophische Analyse (Berlin: Suhrkamp, 2018). ist Professorin für Filmwissenschaft an der ifs Internationale Filmschule Köln sowie für Media and Game Studies am Cologne Game Lab der TH Köln. Sie ist externes Mitglied der interdisziplinären Arbeitsgruppe »Kulturen des Kleinen« an der Universität Paderborn und Mitherausgeberin der Reihe »Bild und Bit. Studien zur digitalen Medienkultur« im transcript Verlag. Forschungsschwerpunkte: Geschichte und Theorie des Films, Medienästhetik, Game Studies, digitale Medienkultur. Buchpublikationen u. a.: Der Televisionär. Wolfgang Menges transmediales Werk (Mithg.,Bielefeld: transcript, 2016); New Game Plus. Perspektiven der Game Studies: Genres – Künste – Diskurse (Mithg., Bielefeld: transcript, 2015); Jean Renoir (Hg., München: edition text + kritik, 2014), Serious Games, Exergames, Exerlearning. Zur Transmedialisierung und Gamification des Wissenstransfers (Mithg., Bielefeld: PROF. DR. LISA GOTTO

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transcript, 2013); Bildwerte. Visualität in der digitalen Medienkultur (Mithg., Bielefeld: transcript, 2012); Eisenstein-Reader. Die wichtigsten Schriften zum Film (Hg., Leipzig: Henschel, 2011). PROF. DR. WOLFGANG HAGEN ist Professor für Medienwissenschaft an der Leu-

phana Universität Lüneburg. Er studierte Germanistik und Philosophie in Wien und Berlin, arbeitete von 1970 bis 1972 im Merve-Verlag, promovierte 1977, war 1978 Kulturredakteur bei Radio Bremen sowie von 1979 bis 1984 Redakteur und Moderator der Sendung SFBeat des SFB. Von 1985 bis 2002 arbeitete er zunächst als Leiter der Abteilung Kultur Aktuell, als Moderator von Drei nach Neun, dann als Gründungs- und Programmchef von Radio Bremen Vier. 2001 habilitierte Hagen sich an der Universität Basel, war von 2002 bis 2012 Leiter der Kultur- und Musikabteilungen sowie Leiter der Medienforschung im Deutschlandradio Kultur. 2003 begann er als Privatdozent für Medienwissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin. Von 2012 bis 2013 war Wolfgang Hagen Professor für Rhetorik an der Leuphana Universität Lüneburg. Zahlreiche Veröffentlichungen zur Geschichte und Theorie des Computers, des Radios, der digitalen Bildlichkeit und der Medien, darunter Das Radiobuch. Zur Theorie und Geschichte des Hörfunks Deutschland/USA (München: Fink, 2005). ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Schwerpunkte: Digitales Do it yourself, algorithmierter Alltag, (post-)digitale Interfaces, nordamerikanische und deutschsprachige Medienwissenschaft, Standardisierung und Normierung. Jüngste Publikationen u. a.: »Innis and Kittler: The Case of the Greek Alphabet«, in: N. Friesen (Hg.): Media Transatlantic (Cham: Springer, 2016), S. 91–110; »Zur Vorgängigkeit der Operationskette in der Medienwissenschaft und bei Leroi-Gourhan«, in: Internationales Jahrbuch für Medienphilosophie 2 (2016): 7–29; »Datenarbeit im ›Capture‹-Kapitalismus. Zur Ausweitung der Verwertungszone im Zeitalter informatischer Überwachung«, in: Zeitschrift für Medienwissenschaft 2 (2015): 35–8; »Reciprocal Materiality and the Body of Code«, in: Digital Culture & Society 1/1 (2015): 39–52; »Handschrift im digitalen Umfeld«, in: Osnabrücker Beiträge zur Sprachtheorie 85 (2014): 169–192; »›Tap, tap, flap, flap.‹ Ludic Seriality, Digitality, and the Finger«, in: Eludamos 8/1 (2014): 33–46. DR. TILL A. HEILMANN

BEITRÄGERINNEN UND BEITRÄGER

studierte Philosophie, Geschichte und Kulturwissenschaften an der Universität Leipzig. Arbeitet als bildender Künstler und publizistisch, regelmäßig Beiträge in den Scheidewegen – Jahresschrift für skeptisches Denken. Demnächst erscheint sein Essay: Das gute Klo. Gegenwärtig Vorbereitungen für eine Promotion zum Themenkomplex: Smartphone, Kulturen des Sehens und sozialer Wandel. MICHAEL HOLZWARTH

DR. TIMO KAERLEIN ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Medien-

wissenschaften der Universität Paderborn. Schwerpunkte: Digitale Nahkörpertechnologien, Interfaces: Theorie, Ästhetik und Kritik, Medienkulturen der Obsoleszenz, Social Robotics. Jüngste Publikationen: »›Walking for Design‹. Zur Evokation impliziten Wissens im Interaction Design für die mobile Mediennutzung«, in: Navigationen 1 (2018), S. 54-65; »Intimate Computing. Zum diskursiven Wandel eines Konzepts der Mensch-Computer-Interaktion«, in: Zeitschrift für Medienwissenschaft 15.2 (2016): 30–40. ist Professorin für Medienwissenschaft an der Universität Konstanz und Projektleiterin des Teilprojekts »SmartphoneGemeinschaften. Partizipation als Versprechen und Zumutung« der DFGForschergruppe »Mediale Teilhabe. Partizipation zwischen Anspruch und Inanspruchnahme«. Schwerpunkte: Digitale Medien und Kollektivität, Medientheorie und Temporalität, Medien in der Wissensgeschichte – Mediengeschichte des Wissens, Diskursgeschichte der Medien, Film- und Fernsehkulturen. Jüngste Publikationen: ReClaiming Participation. Technology, Mediation, Collectivity. (Hg. zus. mit Mathias Denecke, Anne Ganzert und Robert Stock, Bielefeld: transcript, 2015); The Flexibility of Internet Time. Network Society and the Fleeting Stability of Sociotechnical Collectives, in: Nicole Falkenhayner u. a. (Hg.): Rethinking Order. Idioms of Stability and De-Stabilization (Bielefeld: transcript, 2015). PROF. DR. ISABELL OTTO

promoviert als Stipendiat der a.r.t.e.s. Graduate School for the Humanities Cologne in Deutscher Philologie am Institut für deutsche Sprache und Literatur I der Universität zu Köln und ist Mitherausgeber der Literaturzeitschrift schliff. Schwerpunkte: Neuere deutsche Literatur vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Popkultur, Medientheorie, Didaktik der neuen Medien. Jüngste Publikation: Waka Waka (This Time for Africa): Kritische Perspektiven auf eine popkulturelle Inszenierung von Hybridität. In: Postkolonialismus und (Inter-)Medialität. Perspektiven der GrenzüberCHRISTOPHER QUADT, M.A.,

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schreitung im Spannungsfeld von Literatur, Musik, Fotografie, Theater und Film, hg. v. Laura Beck u. Julian Osthues, Bielefeld: transcript 2016, S. 323–342. 308 PROF. DR. STEFAN RIEGER studierte Germanistik und Philosophie und war wis-

senschaftlicher Mitarbeiter im Sonderforschungsbereich »Literatur und Anthropologie« in Konstanz. Er wurde zu Datenverarbeitung und Mnemotechnik im Barock promoviert und hat seine Habilitationsschrift zum Verhältnis von Medien und Anthropologie verfasst. Er war Heisenbergstipendiat der DFG und lehrt seit 2007 an der Ruhr-Universität Bochum als Professor für Mediengeschichte und Kommunikationstheorie. Jüngere Buchpublikationen u. a.: Das Wissen der Oberfläche. Epistemologie des Horizontalen und Strategien der Benachbarung (hg. zusammen mit Christina Lechtermann. Zürich u. Berlin: Diaphanes, 2015); Kultur. Ein Machinarium des Wissens (zusammen mit Benjamin Bühler. Berlin: Suhrkamp, 2014). Multitasking. Zur Ökonomie der Spaltung (Berlin: Suhrkamp, 2012). ist Professor für Medien- und Kulturtheorie an der Zürcher Hochschule der Künste. Er forscht am Institute for Contemporary Art Research (IFCAR) zur Verschränkung von Bild und Text in der Philosophiegeschichte. Schwerpunkte sind: Philosophie, Medientheorie und Kulturgeschichte. Derzeit führt er ein SNF-Projekt zur Ikonografie der Trostschrift durch. Jüngste Buchpublikationen u.a: Massimo Cacciari, Ikonen des Gesetzes (Einleitung und Übersetzung, Paderborn: Fink, 2018); Bittermeer – Mare amoroso (Wien: Klever, 2017); Über Kräfte (Berlin: Merve, 2014) (mit Barbara Ellmerer und Yves Netzhammer); Roth der Grosse (Wien: Klever, 2013) Empfindungskörper – International Flusser Lecture (Köln: Verlag der Buchhandlung Walther König, 2012). Zahlreiche Aufsätze zu Vilém Flusser, zuletzt: »Architekturen der Bodenlosigkeit: Haller und Flusser im Dialog«, in: Stalder, Laurent u. Vrachliotis, Georg (Hg.), Fritz Haller – Architekt und Forscher (Zürich: gta-Verlag, 2015); zu weiteren Neuerscheinungen siehe: www.romanform.ch. PROF. DR. NILS RÖLLER

ist Professor für Medien- und Gestaltungswissenschaft an der Hochschule Furtwangen und Herausgeber der Reihe »Medien- und Gestaltungsästhetik« im transcript Verlag sowie Mitherausgeber der Reihe »Mikrographien/Mikrokosmen« im Verlag Königshausen & Neumann. Schwerpunkte: Theorie, Geschichte und Praxis der Medien und Gestaltungen, Ästhetik, Kulturtechnikforschung, Narratologie/Storytelling. Jüngste PROF. DR. OLIVER RUF

BEITRÄGERINNEN UND BEITRÄGER

Buchpublikationen u. a.: Storytelling für Designer (Stuttgart: avedition, 2018); Handbuch Designwissenschaft (Mithg., Stuttgart: Metzler, 2018); Wie aus Theorie Praxis wird (Mithg., München: edition text + kritik 2016); Kreatives Schreiben. Eine Einführung (Tübingen: UTB, 2016); Platons Phaidros oder Vom Schönen (Hg., Hannover: Wehrhahn, 2015); Die Hand. Eine Medienästhetik (Wien: Passagen, 2014); Wischen und Schreiben. Von Mediengesten zum digitalen Text (Berlin: Kadmos, 2014). ist Professor für Medienkulturwissenschaft an der der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Zuvor war er Professor für Theorie und Praxis multimedialer Systeme an der Universität Siegen und leitete dort die Graduiertenschule »Locating Media/Situierte Medien«. Schwerpunkte: Theorien und Geschichte digitaler Medien, Theorien und Geschichte der Photographie, Intermedialität, dreidimensionale Bilder, Medientheorie in Diskussion mit der Wertkritik, Audiomedien und Auditive Kultur. Jüngere Buchpublikationen u. a.: Ambient. Ästhetik des Hintergrunds (hg. mit Dominik Maeder, Till A. Heilmann und Gregor Schwering. Berlin u. a.: Springer, 2018); Medien verstehen. Marshall McLuhans »Understanding Media« zum Fünfzigsten (hg. mit Till A. Heilmann, Lüneburg: Meson Press, 2017); Navigationen. Zeitschrift für Medien- und Kulturwissenschaften 17.2, 2017: Medien, Interfaces und implizites Wissen (hg. mit Christoph Ernst); zu]: Sprache + Literatur 115/116 (2015): Sonderheft 3D-Druck. Perspektiven auf ein neues Phänomen (hg. mit Christoph Ernst, Thomas Hensel, Till A. Heilmann u. Dominik Maeder). PROF. DR. JENS SCHRÖTER

ist Junior-Professor für Medienkulturwissenschaft an der Goethe Universität Frankfurt. Schwerpunkte: Medientheorie, Geschichte künstlicher Umgebungen, Überwachung und Infrastrukturen in digitalen Kulturen, Geschichte elektrischer Medien. Jüngste Buchpublikationen: Politik der Mikroentscheidungen (Lüneburg: Meson Press, 2015); Trick 17. Mediengeschichten zwischen Zauberkunst und Wissenschaft (hg. mit Katja Müller-Helle, Jan Müggenburg und Sebastian Vehlken, Lüneburg: Meson Press, 2016); Internet der Dinge. Über smarte Objekte, intelligente Umgebungen und die technische Durchdringung der Welt (hg. mit Christoph Engemann, Bielefeld: transcript, 2015); Die Enden des Kabels. Kleine Mediengeschichte der Übertragung (hg. mit Daniel Gethmann, Berlin: Kadmos, 2014); Medien des Immediaten. Elektrizität, Telegraphie, McLuhan (Berlin: Kadmos, 2012). JUN.-PROF. DR. FLORIAN SPRENGER

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SMARTPHONE-ÄSTHETIK PROF. DR. MARTIN WARNKE ist Professor für Kulturinformatik und Digitale Me-

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dien an der Leuphana Universität Lüneburg sowie stellvertretender Institutsleiter am Institut für Kultur und Ästhetik Digitaler Medien in der Fakultät Kulturwissenschaften. Gemeinsam mit Claus Pias verantwortet er als Direktor die Arbeit der DFG-Kollegforschergruppe »Medienkulturen der Computersimulation«. Schwerpunkte: Wissensordnung im Digitalen, Computersimulation, Bilddiskurse, Theorien des Internet. Jüngste Buchpublikationen u. a.: Dippel, Anne; Warnke, Martin: Interferences and Events. On Epistemic Shifts in Physics through Computer Simulations. Lüneburg: meson press, 2017; Theorien des Internet zur Einführung (Hamburg: Junius Verlag, 2011), HyperKult II: zur Ortsbestimmung analoger und digitaler Medien (hg. mit W. Coy und G. C. Tholen. Bielefeld: transcript, 2005); HyperKult: Geschichte, Theorie und Kontext digitaler Medien (hg. mit W. Coy und G. C. Tholen. Basel: Stroemfeld, 1997). PROF. DR. MATTHIAS WÖLFEL ist Professor für Intuitive und Perzeptive Benut-

zerschnittstellen an der Hochschule Karlsruhe. Zuvor war er Professor für Interaktive Medien in Furtwangen und Professor für Intermediales Design in Pforzheim. In Furtwangen war er Prodekan der Fakultät Digitale Medien und Studiendekan der Masterstudiengänge Medieninformatik sowie MusicDesign. 2017 wurde er mit dem 2. Platz beim bundesweiten Wettbewerb »Professor des Jahres« der UNICUM Stiftung in der Kategorie Ingenieurwissenschaften/ Informatik ausgezeichnet. Neben Industrie (u. a. Präsentationen bei Intel, Microsoft, Porsche) und Wissenschaft (z. B. Keynote Human Factors in Design, Shanghai) ist Wölfel auch bei Ausstellungen (z. B. Architekturbiennale Venedig) und Museen (z. B. ZKM | Zentrum für Kunst und Medien Karlsruhe) tätig. 2013 wurde er mit dem IKT Innovativ Preis durch das Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie ausgezeichnet. 2014 erhielt er den Innovationspreis-IT in der Kategorie Entertainment/3D.