Slavische Erzähltheorie: Russische und tschechische Ansätze 9783110225945, 9783110225938

The eight contributions to this collection, written by members of the ‘Narratology  research group in Hamburg and by ext

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German Pages 373 Year 2009

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Table of contents :
Frontmatter
Inhaltsverzeichnis
„Fabel“ und „Sujet“
Konzepte der Sujetentfaltung
Die russische Kompositionstheorie
Jurij Lotmans semiotischer Ereignisbegriff. Versuch einer Neubewertung
Autortheorien des slavischen Funktionalismus
Russian Formalists’ Views of Film and Theater Interdependence
Der semantische Aufbau von Erzählwerken in der Konzeption des Prager Strukturalismus
The Prague School and Lubomír Doležel’s Theory of Fictional Worlds
Backmatter
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Slavische Erzähltheorie: Russische und tschechische Ansätze
 9783110225945, 9783110225938

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Slavische Erzähltheorie

Narratologia Contributions to Narrative Theory

Edited by Fotis Jannidis, Matías Martínez, John Pier Wolf Schmid (executive editor) Editorial Board Catherine Emmott, Monika Fludernik José Ángel García Landa, Peter Hühn, Manfred Jahn Andreas Kablitz, Uri Margolin, Jan Christoph Meister Ansgar Nünning, Marie-Laure Ryan Jean-Marie Schaeffer, Michael Scheffel Sabine Schlickers, Jörg Schönert

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De Gruyter · Berlin · New York

Slavische Erzähltheorie Russische und tschechische Ansätze

Herausgegeben von Wolf Schmid

De Gruyter · Berlin · New York

Gedruckt auf säurefreien Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

ISBN 978-3-11-022593-8 ISSN 1612-8427 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© Copyright 2009 by De Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Druck und buchbinderische Verarbeitung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen

Vorwort Der vorliegende Band ist hervorgegangen aus der Arbeit des Projekts Der Beitrag des slavischen Funktionalismus zur internationalen Narratologie, eines der 11 Teilprojekte der in den Jahren 2001 bis 2007 von der DFG geförderten Forschergruppe Narratologie an der Universität Hamburg.1 Das Projekt hat sich die Aufgabe gestellt, narratologische Konzepte zu rekonstruieren, die in slavischen Ländern entwickelt worden sind, insbesondere Konzepte russischer und tschechoslowakischer Provenienz, und sie auf ihre Relevanz für die heutige Diskussion zu betrachten. Eine Reihe von erzähltheoretischen Konzepten aus den slavischen Wissenschaftskulturen ist von der internationalen Narratologie intensiv rezipiert und weiterentwickelt worden. Andererseits sind einige in den russischen Schulen und im tschechoslowakischen Strukturalismus entwickelte Konzeptionen, die die internationale Narratologie hätten bereichern können, im Westen bislang kaum bekannt geworden. Das Projekt sollte zum einen die erkennbare Rezeption und Weiterentwicklung slavischer Theoreme theoriegeschichtlich und in ihren Bedingungen reflektieren, zum andern nach den Gründen fragen, warum bestimmte Theoreme nicht oder nur ansatzweise rezipiert wurden. Im zweiten Fall war zu erörtern, welche Relevanz den betreffenden Theoremen für die internationale Narratologie heute zukommt, d. h. ob und gegebenenfalls welche Konzepte die bestehende Theoriebildung korrigieren, ergänzen oder mit neuen Facetten bereichern können. An dem Projekt haben mitgewirkt: Dr. Matthias Aumüller, Dr. Marianne Dehne, Dr. Christine Gölz, Dr. Christiane Hauschild, Eugenia Michahelles, M.A., und Dr. Galina Potapova. Für die Film- wie Theatertheorie und die Behandlung des tschechoslowakischen Strukturalismus hat das Projekt die Hilfe auswärtiger Experten in Anspruch genommen. Frau Professorin Yana Meerzon, Ph.D., vom Department für Theaterwissenschaften der Universität Ottawa konnte für eine Abhandlung gewonnen werden, die die russische wie tschechische Theorie des Theaters im Verhältnis zur Filmtheorie des russischen Formalismus betrachtet. Die narratologischen Aspekte im Werk Felix Vodi!kas wurden von Dr. Tomá" Kubí!ek und die narrative Semantik Lubomír Dole#els von Dr. Bohumil Fo$t und Dr. Ond$ej Sládek (alle drei Mitglieder der Akademie der Wissenschaften der Tschechischen Republik) dargestellt. _________ 1

Siehe: www.narrport.uni-hamburg.de > Projekte > Projekt 2.

VI

Vorwort

Als erstes Ergebnis der Arbeit des Projekts ist vor kurzem die Anthologie Slavische Proto-Narratologie. Texte in kommentierten Übersetzungen als Band 16 der Reihe Narratologia erschienen. Diese Sammlung enthält 12 Texte zu kardinalen Themen der russischen Proto-Narratologie, mit den Schwerpunkten der Theorie des „Sujets“ und des Problems der werkimmanenten Autorinstanz. In beiden Themenbereichen hat die russische Erzählforschung Konzepte erarbeitet, die für die gegenwärtige internationale Narratologie immer noch Anregungspotential haben. Kommentare und Annotationen zu den übersetzten Texten rekonstruieren den wissenschaftsgeschichtlichen Kontext der jeweils präsentierten Theoreme und erläutern ihre Relevanz für die heutige narratologische Diskussion. Der vorliegende Band, der parallel mit der Textsammlung entstanden ist und die in ihr präsentierten Themenkreise aufgreift, beleuchtet acht Facetten der russischen und tschechischen Erzähltheorie. Er wird eröffnet von einem Beitrag des Herausgebers zur Dichotomie von „Fabel“ und „Sujet“, dem wirkungsmächtigsten Konzept, das der Russische Formalismus der Narratologie hinterlassen hat und das, wie jüngste Einführungen in die Literaturwissenschaft zeigen, immer noch rezipiert wird. Die Dichotomie wird in ihren unterschiedlichen Ausprägungen bei Viktor !klovskij, Michail Petrovskij, Lev Vygotskij und Boris Toma"evskij dargestellt, wobei die durchaus unterschiedlichen konzeptuellen Kontexte dieser Theoretiker der 1920er Jahre beachtet werden. Der Ursprung der formalistischen Dichotomie liegt weniger in der Suche nach erzählanalytischen Grundkategorien als vielmehr nach Begriffen, in denen die Deviationsästhetik und das sie begründende Verfremdungstheorem für die narrative Literatur sinnfällig werden. !klovskij setzte die „Fabel“ mit dem „Material“ und das „Sujet“ mit dem „Verfahren“ gleich. Die Anwendung des Sujets auf die Fabel ist für ihn die spezifisch narrative Form der Verfremdung.2 In ihrer weiteren Entwicklung löste sich die Dichotomie von ihrer ursprünglichen deviationsästhetischen Motivierung und wurde zu jener erzählanalytischen Opposition, wie sie im bekannten Lehrbuch Toma"evskijs erscheint. Nicht zufällig diente Toma"evskijs didaktische Definition als Grundlage für die weitere Proliferation der Dichotomie in der westlichen Literaturwissenschaft. Einer Skizze der sowjetischen Nachgeschichte der „Fabel“-„Sujet“-Opposition folgt in diesem ersten Beitrag ein Abriss der westlichen Verarbeitung und der spezifischen Akzentverschiebungen, die mit der Dichotomie _________ 2

Zu !klovskijs Konzeption vgl. die unter dem Titel Über das Sujet und seine Konstruktion in der Textsammlung übersetzten und kommentierten Auszüge aus dem Sammelband Theorie der Prosa.

Vorwort

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von histoire und discours und den entsprechenden Kategorien rezenter Drei- und Vier-Ebenen-Modelle verbunden sind. Ein zentraler Begriff der formalistischen Sujettheorie war die „Entfaltung“ (razvertyvanie), ein Begriff unterschiedlicher Extensionen. Damit wurde sowohl die Entwicklung von Sujets in der Geschichte ihrer Tradierung bezeichnet als auch die Genese von Sujets aus dem Wörtlichnehmen von Mikrotexten und Redeklischees. In beiden Fällen liegt die bei Viktor !klovskij artikulierte Vorstellung zugrunde, dass die Genese von Sujets nicht den Bedürfnissen der Fabel gehorche und nicht vorgängige Intentionen realisiere, sondern nach eigenen, besonderen, in der Kunst angelegten „Sujetgesetzen“ erfolge, die es zu erforschen gelte. Matthias Aumüller unterzieht den Begriff der Sujetentfaltung einer begriffskritischen historischen Betrachtung, die mit den unterschiedlichen Facetten des Begriffs bei Roman Jakobson und Viktor !klovskij einsetzt. Eine weitere Station bildet das Konzept Aleksandr Reformatskijs, das insbesondere der Genese eines Gesamtwerks gilt. Ein Derivat des Entfaltungskonzepts ist die von Aage Hansen-Löve aus den Schriften Jakobsons extrapolierte Theorie der „Realisierung“, der die Aufspaltung des Entfaltungsbegriffs für die Hemisphären der „Wortkunst“ und „Erzählkunst“ zugrunde liegt. Im Rahmen der Tartu-Moskau-Schule der 1960er Jahre haben die Strukturalisten Jurij !"eglov und Aleksandr #olkovskij ein Modell der Generierung von Kunstwerken entwickelt, das Aumüller ebenfalls auf Derivate der Entfaltungskategorie befragt. Eine letzte Station des Parcours ist die Erzählsemiotik Manfred Flügges, in der mit dem Begriff der Entfaltung unterschiedliche Realisierungen invarianter narrativer Strukturen bezeichnet werden. In einer „Allgemeinen narrativen Grammatik“ soll über Transformationsregeln die Konstitution eines Erzähltextes als Entfaltung modelliert werden, womit Flügge die formalistischen Ansätze zu einer semiotischen Erzähltheorie zu entwickeln sucht. Aumüller beschließt seinen Beitrag mit dem eigenen theoretischen Vorschlag eines Konzepts der „narrativen Explikation“, das an die Stelle des in seiner Geschichte überaus diffus verwendeten Entfaltungsbegriffs gesetzt werden soll. Einer – zumindest im Westen – wenig bekannten Seitenlinie der formalen Bewegung der 1920er Jahre, der so genannten Kompositionstheorie, gilt ein zweiter Beitrag Matthias Aumüllers. Sein relativ streng gehandhabter Begriff beschränkt die Kompositionstheorie im Wesentlichen auf die Arbeiten Michail Petrovskijs und Aleksandr Reformatskijs.3 _________ 3

Zu Petrovskij vgl. seine in der Textsammlung übersetzte und kommentierte Analyse von A. Pu$kins Erzählung Der Schuss.

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Vorwort

Ein Anliegen des Aufsatzes ist es, die Konzeption dieser Arbeiten mit der Prosatheorie der klassischen Formalisten zu konfrontieren, um Gemeinsamkeiten und Differenzen herauszuarbeiten und einen klaren Begriff der Kompositionstheorie zu gewinnen, die einen „morphologischen“ und „funktionalen“ Zugang für sich reklamiert. Es erweist sich, dass der methodische Ansatz vor allem Petrovskijs dem der Formalisten sehr ähnlich ist, dass aber die radikale ästhetische Konzeption der Formalisten von dem auch am Thematischen interessierten Kompositionstheoretiker nicht geteilt wird. Eine weitere Aufgabe des Aufsatzes besteht darin, die von einigen Forschern unterstellte Beeinflussung der russischen Kompositionstheoretiker durch formale Ansätze deutscher Provenienz (insbesondere Otmar Schissel von Fleschenberg, Wilhelm Dibelius, Bernhard Seuffert) zu überprüfen. Die kritische Sichtung der deutschen Theorieansätze führt zu dem Schluss, dass der russischen Kompositionstheorie eine eigenständige Konzeption zugrunde liegt und dass sich die Gemeinsamkeit mit den als Vorläufer vermuteten deutschen Kompositionstheoretiken auf die Verwendung einiger gleicher Ausdrücke beschränkt. Der in Russland aus politischen Gründen nicht weiter entwickelte kompositionstheoretische Ansatz stellt sich auch heute noch als ein originelles Theorieangebot dar. Auf der formalistischen Sujettheorie ruht die von Jurij Lotman, dem spiritus rector der Moskau-Tartu-Schule, entworfene Definition des Ereignisses als grundlegender Einheit des Erzählwerks auf, die in rezenten narratologischen Arbeiten auch außerhalb Russlands intensiv aufgegriffen wird. Christiane Hauschild rekonstruiert in ihrem Beitrag Jurij Lotmans semiotischer Ereignisbegriff diese Definition im Kontext der Zeichenkategorien Lotmans und strebt eine Neubewertung des Konzepts an. Als Innovation wird insbesondere gesehen, dass Lotman in seiner Ereignisdefinition die Kategorien von Zeitlichkeit und Räumlichkeit kombiniere: anders als in den klassischen Ereignisbegriffen der Narratologie, die einseitig zeitbezogen definiert seien, operiere Lotman in seinem Begriff der Grenzüberschreitung auch mit der Kategorie des Raums. Der Beitrag setzt auch einige kritische Akzente: Lotmans scharfe Dichotomisierung von mythischem und sujethaftem Text, die der Genese des letzteren aus ersterem widerspreche, präferiere die Sujethaftigkeit zu einseitig gegenüber dem Mythos, dessen Abwertung in der Tradition der rationalistischen Mythenkritik des 20. Jahrhunderts stehe. Die Narratologie sei gut beraten – so die in dem Beitrag gezogene Schlussfolgerung –, sich auf ihre Vorgeschichte zu besinnen, nämlich die historisch vergleichende Erzählforschung, und damit Formen von Textualität einzubeziehen wie das mythische und magische Sprechen, die in der

Vorwort

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einseitig auf Sujethaftigkeit fixierten aktuellen Narratologie notorisch zu kurz kämen. In der Erzähltheorie slavischer Kulturen hat das Konzept des werkimmanenten Autors, der vom mehr oder weniger deutlich dargestellten fiktiven Erzähler zu scheiden ist, eine lange Tradition. Jahrzehnte vor Wayne C. Booth, der 1961 den für die westliche Literaturwissenschaft maßgeblichen Begriff des implied author, des „implizierten (nicht: impliziten!) Autors“, prägte, hat die slavische Erzähltheorie entsprechende Konzepte entwickelt. Christine Gölz gibt in ihrer Abhandlung zu den Autortheorien des slavischen Funktionalismus einen umfassenden Überblick über die einschlägigen Theoriebildungen in Russland, der Tschechoslowakei und in Polen und korreliert sie mit den in den Ländern unternommenen Bemühungen um eine funktionalistische Ästhetik. Die Darstellung, die sich in besonderer Weise um die Einbeziehung des wissenschaftsgeschichtlichen und kulturpolitischen Kontextes bemüht, setzt ein mit der Modellierung im Kreis der Russischen Formalisten. An deren Anfang stand Il’ja Gruzdevs Beschreibung des so genannten Skaz mit Hilfe der Metapher der „Maske“, die Gruzdev von Jurij Tynjanov übernommen hat.4 Im Spätformalismus konzipierte Tynjanov zunächst für lyrische Texte die Instanz des „lyrischen Helden“ und dann, in größerer Abstraktion, die „literarische Persönlichkeit“ (ein Konstrukt des Œuvre-Autors, das Booth – ohne Kenntnis der slavischen Theorien – career author nannte). Seit den zwanziger Jahren bemühte sich in Russland der Linguist und Stilanalytiker Viktor Vinogradov um ein Konzept des werkimmanenten Autors, das er Autorbild nannte und dessen Genese in dem Beitrag ausführlich dargelegt wird. Dem als in sich widersprüchlich empfundenen Begriff des Autorbilds stellte Michail Bachtin, der in vielem als Antagonist Vinogradovs auftrat, seinen reinen oder primären Autor entgegen. Die Konzeptionen der beiden Theoretiker suchte Boris Korman in den 1960er Jahren in einem eigenen Ansatz miteinander zu verbinden. Im Rekurs auf Vinogradovs Konzept des „Autorbilds“ und gestützt auf Bachtins Theorie der dialogischen Kollision unterschiedlicher „Sinnpositionen“ im Werk, entwickelte Korman eine von ihm „systemhaft-subjektbezogen“ genannte Methode, in deren Mittelpunkt die Erforschung des Autors als des „Bewusstseins des Werks“ stand.5 Der tschechische Beitrag zur Problematik des werkimmanenten Autors ist mit den Kategorien Werksubjekt und Persönlichkeit repräsen_________ 4 5

Vgl. dazu auch Gruzdevs Text in der erwähnten Anthologie zur Russischen Proto-Narratologie. Vgl. auch die von Christine Gölz übersetzten und kommentierten Auszüge aus verschiedenen Texten Kormans in der Anthologie zur Russischen Proto-Narratologie.

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Vorwort

tiert, die von Jan Muka!ovsk" und Miroslav #ervenka im Kontext einer dezidiert funktionalistischen Ästhetik geprägt wurden. Die Abhandlung über die Autortheorien des slavischen Funktionalismus beschließt ein Blick auf das differenzierte Modell der Autor- und Leser-Rollen, das von verschiedenen Vertretern des literatursoziologisch und kommunikationstheoretisch ausgerichteten polnischen Strukturalismus entworfen wurde. In der heutigen Situation, da nach der Verbannung des Autors allenthalben seine Rückkehr diagnostiziert wird, kann ein Wissen um die slavischen Konzepte die Diskussion wesentlich inspirieren. Die slavischen Strukturalismen suchten ihr Objekt neben der Literatur auch im Film und im Theater. Schon der Russische Formalismus hatte eine Filmtheorie entwickelt und nach der Korrelation von Film und Theater gefragt. Ein Meilenstein dieser Bemühungen war der 1927 herausgebene Sammelband Poetik des Films mit Beiträgen von Viktor $klovskij, Boris %jchenbaum, Jurij Tynjanov und anderen.6 Darin wurde nichts weniger als eine genuine Theorie des Films skizziert, mit Ausführungen zur spezifischen Sprache dieser Kunstform, zu der für sie charakteristischen Erzählweise, zur Besonderheit der filmischen Handlung. Unverkennbar war die Tendenz, den Film als narrative Gattung zu würdigen und ihn von andern darstellenden Genres, insbesondere der Photographie, aber auch dem Theater abzugrenzen. Das Theater erschien dabei in einer archaischen Form, die weit entfernt war von der im Russland der 1920er Jahre entwickelten avantgardistischen Bühnenkunst. Hier setzt der Beitrag von Yana Meerzon ein: Russian Formalists’ Views of Film and Theater Interdependence. Die Theaterwissenschaftlerin konfrontiert die formalistische Film- und Theaterkonzeption von 1927 mit den Film- und Theaterstudien des tschechischen Strukturalismus der dreißiger und vierziger Jahre (Petr Bogatyrev, Jan Muka!ovsk", Ji!í Veltrusk", Otakar Zich), mit späteren Arbeiten Roman Jakobsons sowie der Moskau-Tartu-Schule (Jurij Lotman, Vja&eslav Ivanov) und fragt jeweils nach der Bestimmung des Verhältnisses von Film und Theater. Der Beitrag demonstriert die Bedeutung der im westlichen Kontext kaum bekannten slavischen Film- und Theatertheorien. Den Semantischen Aufbau von Erzählwerken in der Konzeption des Prager Strukturalismus beleuchtet Tomá' Kubí&ek. Die allgemeinen theoretischen Grundsätze der Prager Schule werden an Jan Muka!ovsk"s Ästhetik dargelegt, sein spezifischer Beitrag zur Narratologie an seinen Analysen tschechischer Erzählwerke. Im Mittelpunkt steht dabei die zentrale _________ 6

In deutscher Übersetzung jetzt als Poetika Kino, hg. von Wolfgang Beilenhoff, Frankfurt a. M. 2005

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Kategorie der „semantischen Geste“, für deren Konstitution nach Muka!ovsk"s Auffassung nicht nur Autor und Werk, sondern auch der Rezipient verantwortlich ist. Auf Muka!ovsk"s Theorie baut Felix Vodi#ka auf, der in seinem 1948 erschienenen Buch Die Anfänge der neutschechischen literarischen Prosa eine Art impliziter Theorie oder angewandter Narratologie verfasst hat. Kubí#ek unternimmt es, aus den literarhistorischen Untersuchungen Vodi#kas, in denen die Konkretisierung des Werks in seinen Rezeptionen und die Entwicklung der ästhetischen Norm in den unterschiedlichen Rezeptionskontexten besonders gewürdigt werden, die leitenden narratologischen Kategorien herauszudestillieren. Zunächst gilt die Rekonstruktion Vodi#kas Auffassung von den Ebenen des literarischen Werks. In einem Ebenenmodell, das unverkennbar von Roman Ingarden beeinflusst ist, aber viel stärker die Dynamik der Entwicklung berücksichtigt, werden die für Vodi#ka ausschlaggebenden Ordnungen und Verfahren des Erzählwerks herausgearbeitet und seine Methode der Analyse des „semantischen Geschehens“ an einem konkreten Beispiel vorgeführt. Der Beitrag schließt mit Ausführungen zu den Kategorien, mit denen der Prager Strukturalismus die gegenwärtige narratologische Diskussion bereichern kann. Lubomír Dole$el, ein Vertreter des tschechischen Strukturalismus der zweiten Generation, hat durch eine Reihe origineller Konzepte nachhaltig die Narratologie beeinflusst. In den sechziger und siebziger Jahren hat er zunächst in tschechischsprachigen Arbeiten und dann in englischen Publikationen wegweisende Modelle zur Analyse der Erzählperspektive und Redewiedergabe entwickelt. Mit Dole$els Emigration nach Kanada änderte sich das Paradigma. Die Begegnung mit der analytischen Philosophie, der Modallogik und der Theorie möglicher Welten inspirierte ihn zu Analysen der „narrativen Semantik“ und zu seiner Theorie fiktiver Welten. Eine Rekonstruktion dieses Ansatzes und seiner Fundierung durch die Konzepte des tschechischen Strukturalismus unternehmen Bohumil Fo!t und Ond!ej Sládek. In ihrem Aufsatz The Prague School and Lubomír Dole!el’s Theory of Fictional Worlds konzentrieren sich die beiden Autoren auf zwei Aspekte, in denen Dole$els Theorien vom tschechischen Strukturalismus inspiriert sind. Das ist zum einen das Problem der poetischen Sprache und der ästhetischen Funktion in der Konzeption Jan Muka!ovsk"s und zum andern das Konzept der fiktiven Welt, wie es Felix Vodi#ka entworfen hat. Die Theorie fiktiver Welten, die im Mittelpunkt der theoriegeschichtlichen Studie steht, wird in der Forschung zu wenig mit den Kategorien der Prager Schule in Verbindung gebracht. Die Autoren zeigen, dass sich in Dole$els Konzept der fiktiven Welt Spuren sowohl der Stilkunde als auch der Narratologie der Prager Schule finden. Durch die Wandlungen

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Vorwort

der Konzepte (etwa des Begriffs der „Welt“) und die Begegnungen mit neuen Denkrichtungen hindurch bleiben in Dole!els Denken Grundprinzipien der Prager Schule erhalten. Die Erstellung des Bandes wurde unterstützt durch die Wissenschaftliche Mitarbeiterin Maja Nemere, M.A., sowie die studentischen Hilfskräfte Svetlana Boguen, Tatjana Delgas und Maciej Grzenkowicz. Die Einrichtung des Bandes lag in den Händen von Eugenia Michahelles, M.A. Hamburg im November 2008

Wolf Schmid

Inhaltsverzeichnis WOLF SCHMID „Fabel“ und „Sujet“ ...................................................................................

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MATTHIAS AUMÜLLER Konzepte der Sujetentfaltung................................................................

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MATTHIAS AUMÜLLER Die russische Kompositionstheorie......................................................

91

CHRISTIANE H AUSCHILD Jurij Lotmans semiotischer Ereignisbegriff. Versuch einer Neubewertung ...........................................................................................

141

CHRISTINE GÖLZ Autortheorien des slavischen Funktionalismus................................

187

YANA MEERZON Russian Formalists’ Views of Film and Theater Interdependence ................................................................................................

239

TOMÁ! KUBÍ"EK The Semantic Structure of the Narrative Text in the Conception of Prague Structuralism ............................................................

273

OND#EJ SLÁDEK/BOHUMIL FO#T The Prague School and Lubomír Dole$el’s Theory of Fictional Worlds..........................................................................................................

313

Index der Namen......................................................................................

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WOLF SCHMID (Universität Hamburg)

„Fabel“ und „Sujet“ 1. Die Aktualität der Fabel-Sujet-Dichotomie Unter den Konzepten des slavischen Funktionalismus hat für die Narratologie zweifellos die Fabel-Sujet-Dichotomie die größte Bedeutung erlangt. Auch außerhalb des slavischen Sprachraums ist das von den russischen Formalisten geprägte Begriffspaar noch in jüngster Zeit fester Bestandteil von Einführungen in die Literaturwissenschaft.1 Es sei zunächst danach gefragt, auf welche Weise die Dichotomie in den internationalen narratologischen Diskurs gelangt ist. Der westliche Kontext ist mit dem Fabel-Sujet-Problem durch Viktor Erlichs umfassende systematische und historische Darstellung Russian Formalism (1955; dt. 1964, 268–271) bekannt geworden. Aber schon vorher war die Dichotomie durch René Welleks und Austin Warrens bahnbrechende Theory of Literature (1949) eingeführt worden. Die beiden Autoren griffen auch auf die formalistische Terminologie zurück: „The Russian Formalists distinguish the ‚fable‘, the temporal-causal sequence which, however it may be told, is the ‚story‘ or story-stuff, from the ‚sujet‘, which we might translate as ‚narrative structure‘“ (Wellek/Warren 1949, 218).2 Unglücklicherweise wurden die russischen Termini fabula und sju!et in der für die englischsprachige Rezeption maßgebenden Übersetzung von !klovskijs Aufsatz zum Tristram Shandy (1921d/1965b) und des einschlägigen Kapitels aus Toma"evskijs Theorie der Literatur (1925/1965a) durch _________ 1

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Von rezenten Einführungen in die Literaturwissenschaft, Handbüchern und einführenden Aufsätzen in Sammelbänden in deutscher Sprache, die die formalistische Unterscheidung von Sujet und Fabel vorstellen, sind vor allem zu nennen: Schwarze 1982; Schutte 1985; Pechlivanos u. a. (Hgg.) 1995 (darin bes. Meyer 1995 und Schardt 1995); Jahn 1995, 30; Grübel 1996, 402–404; Vogt 1998, 97 f.; Beck/Küster/Küster 1998, 305; SchulzeWitzenrath 1998, 48 f.; Gfrereis 1999, 60, 199; Martinez/Scheffel 1999, 22–26; Nünning/Nünning 2001, 104–134; Biti 2001, 219, 780; Nünning (Hg.) 1998 [2001, 508 f. s.v. „plot“]; Herman/Jahn/Ryan (Hgg.) 2005, 157, 566. Für Unterstützung bei der Recherche danke ich Frau Tatjana Delgas. Mit !klovskijs Aufsatz zum Tristram Shandy (1921d), in dem die Fabel-Sujet-Opposition zum ersten Mal dargelegt wird, ist das englischsprachige Publikum bereits durch Harper 1954 bekannt gemacht worden.

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Wolf Schmid

Lemon/Reis (Hgg.) 1965 mit story und plot übersetzt, was sie als Äquivalente der von E. M. Forster (1927) eingeführten und im angelsächsischen Kontext einflussreich gewordenen Opposition von story und plot erscheinen ließ.3 In der englischsprachigen Forschung wurde das formalistische Begriffspaar mit Forsters Opposition story vs. plot nicht nur konfrontiert4, sondern nicht selten auch identifiziert. Die vermeintliche Äquivalenz der Dichotomien Fabel vs. Sujet und story vs. plot führte zu nicht geringer Begriffsverwirrung, die durch die Mehrdeutigkeit des plot-Begriffs verschärft wurde.5 Erst Meir Sternberg (1974, 8–14; 1976) zeigte die Differenz zwischen den Dichotomien, demonstrierte die Komplementarität der Begriffe und führte ihre Korrelation in einem vierteiligen Schema vor. Für Klarheit in der Zuordnung der vier Begriffe sorgte auch Emil Volek (1977)6, und José Ángel García Landa widmete in seinem Buch Acción, relato, discurso (1998, 32–60) der Darstellung der formalistischen Dichotomie und ihrem Vergleich mit den prominenten story-plot-Oppositionen (Forster 1927; Muir 1928; Wellek/Warren 1949; Brooks/Warren 1943; Crane 1952; Scholes/Kellog 1966) ein ganzes Kapitel. Durch Tzvetan Todorovs Vermittlung (1966) wurde die russische Dichotomie in den französischen Strukturalismus eingeführt7, wo sie durch die nicht ganz analogen Begriffspaare récit vs. narration (Barthes 1966) oder histoire vs. discours (Todorov 1966) ersetzt wurde. Im englischsprachigen Kontext erscheint die französische Dichotomie als story vs. discourse (Chatman 1978) oder story vs. text (Rimmon-Kenan 1983). (Von den Differenzen zwischen der Fabel-Sujet-Dichotomie der Russen und den westlichen Oppositionen histoire vs. discours und story vs. discourse wird noch die Rede sein.) In der Folgezeit wurde die binäre Opposition, in der beide Glieder eine unverkennbare intensionale und extensionale Doppelwertigkeit aufweisen, durch Drei- und Vier-Ebenen-Modelle ersetzt.8 Ungeachtet _________ 3

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Forsters (1927, 93 f.) berühmte Definition lautet: „We have defined a story as a narrative of events arranged in their time-sequence. A plot is also a narrative of events, the emphasis falling on causality“. Zu den unterschiedlichen im Schwange befindlichen Bedeutungen von plot vgl. Martinez 2003. Die erste vollständige englische Übersetzung von !klovskijs Theorie der Prosa (!klovskij 1990, 170) gibt die Begriffe mit story line und plot wieder, führt aber immerhin auch die russischen Originalbegriffe (fabula – syuzhet) an. Zur Differenz der Dichotomien vgl. auch Brooks 2002, 130 f. Todorov hat 1971 (engl. 1973, 12–19) eine relativ ausführliche Darstellung der Dichotomie in ihren verschiedenen Definitionen bei !klovskij, Toma"evskij und Tynjanov gegeben. Vgl. dazu unten, Abschnitt 7b. Vgl. auch die Übersichten bei Cohn 1990, 777; Fludernik 1993, 62 und Martinez/Scheffel 1999, 26. Zur semiotischen Problematik der in verschie-

„Fabel“ und „Sujet“

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der Umformulierung von Fabel und Sujet zu Neudefinierten Dichotomien und der Ausweitung zu Drei- und Vier-Ebenen-Modellen wird in der erzähltheoretischen Forschung und in erzählanalytischen Arbeiten immer noch auf die formalistischen Ausgangsdefinitionen zurückgegriffen.9 In diesen Rückgriffen erhält die Dichotomie häufig freilich eine Modellierung, die eher aktuellen theoretischen Interessen als dem formalistischen Ursprung entspricht. Es empfiehlt sich deshalb, noch einmal den Ursprung zu rekonstruieren.10 Dabei wird deutlich werden, dass die russischen Theoretiker der zehner und zwanziger Jahre unter den Begriffen durchaus Unterschiedliches verstanden und überhaupt weniger einheitlich dachten, als das in mancher Rekonstruktion unterstellt wird. Es seien deshalb die wichtigsten Ansätze gesondert betrachtet.11 2. Viktor !klovskij a. Die Intention !klovskij beabsichtigte nicht, eine narratologische Theorie zu entwerfen oder auch nur eine Differenzierung narrativer Ebenen vorzunehmen. Er war nicht im Geringsten an einer Systematisierung bestehender Begriffe interessiert. In seiner Begriffsverwendung verhielt er sich durchaus schwankend und inkonsequent. Seine Texte waren nicht wissenschaftliche Abhandlungen, sondern Essays, seine zentralen Theoreme formulierte er als Aperçus.12 !klovskijs Interesse in dem Bereich, den er „The_________ 9

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denen Modellen figurierenden Ebenen einschließlich der formalistischen Dichotomie vgl. Pier 2003. Vgl. etwa Chatman 1978; Culler 1980; Ricœur 1984 (dt. 1989, 138); Bordwell 1985; Bruner 1986, 17–21; 1991, 12; Onega/García Landa 1996; Nelles 1997, 100; Dannenberg 1998, 52; Kafalenos 1999, 36 f.; Lothe 2000, 7, 28 f.; Richardson 2002, 47; Abbot 2002, 16, 195; Brooks 2002, 230 f.; Oatley 2002, 44; Zuschlag 2002, 13–23; Buchholz 2003, 92 f.; Martinez 2003; Schulz 2003. Eine besondere Erwähnung verdient Hayden White (1973, 1978), der mit seinem die Tätigkeit des Geschichtsschreibers bezeichnenden Begriff des emplotment auf die von den russischen Formalisten vorgenommene Unterscheidung von Fabel und Sujet (bei ihm story und plot) rekurriert (vgl. bes. White 1994, 569). Die wichtigsten Abhandlungen zum Ursprung der Dichotomie sind: Volek 1977; 1985; Hansen-Löve 1978a, 238–263. Gegen das Fabel-Sujet-Paar und vergleichbare Dichotomien wie story vs. discourse sind vor allem aus postmodernistischer, aber auch aus prä-postmodernistischer Warte zahlreiche Argumente vorgebracht worden, so etwa von Richardson 2001. Vgl. dazu die Übersicht der Pekinger Narratologin Dan Shen (2002), die die vorgebrachten Argumente einerseits widerlegt, anderseits aber die Dichotomie aber auf eigene Weise problematisiert. Für die deutsche Rezeption der für die Fabel-Sujet-Dichotomie einschlägigen Schriften !klovskijs sind die beiden von Striedter (1969) und Stempel (1972) herausgegeben Texte der russischen Formalisten maßgebend gewesen, ferner sind die (gekürzte) Übersetzung der

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orie der Prosa“ nannte, galt ausschließlich dem Sujet, und diesen Begriff verwendete er im Zusammenhang mit dem für ihn zentralen Konzept der „Verfremdung“ (ostranenie).13 Der Begriff Sujet bedeutete für !klovskij in den meisten Fällen seiner Verwendung14 – im Gegensatz zu seinem späteren französischen Äquivalent discours – nicht ein fertiges Produkt, etwa das Resultat von Transformationen, sondern eine Energie, den Prozess der künstlerischen Konstruktion, der Deformation, ein Moment der „Form“15: _________

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Theorie der Prosa (in der Fassung von 1925: !klovskij 1966b) und ein Sammelband mit Essays zur Prosa zu erwähnen: !klovskij 1973a. Die französische Rezeption wurde gesteuert durch die von Todorov (1965) übersetzte und herausgegebene Théorie de la littérature und die in Lausanne erschienene Übersetzung der Theorie der Prosa (!klovskij 1973c), die englischsprachige durch Lemon/Reis (Hgg.) 1965. Im Spanischen liegen eine Übersetzung der Erzählungen über die Prosa (!klovskij 1971) und zwei Übersetzungen des Sammelbands Tetiva. Über die Unähnlichkeit des Ähnlichen (!klovskij 1973b; 1975) vor. Die tschechische und slowakische Rezeption von !klovskijs Prosa- und Sujettheorie setzte wesentlich früher ein. Die Theorie der Prosa erschien bereits 1933 in tschechischer Übersetzung (2. Aufl. Praha 1948). (Zu dieser Übersetzung veröffentlichte Jan Muka"ovsk# [1934; dt. 1971] eine ausführliche kritische und programmatische Besprechung, in der er seine von !klovskij abweichende strukturalistische Position darlegte.) Und im Jahr 1941 gab Mikulá$ Bako$ eine umfangreiche Anthologie der Hauptschriften der Formalisten in slowakischer Übersetzung mit einer umfangreichen, kommentierten Bibliographie heraus. Diese Ausgabe wurde 1971, allerdings ohne Bibliographie, wiederaufgelegt. (Die Neuauflage in dem für die „normalisierte“ Tschechoslowakei schwierigen Jahr 1971 wurde offensichtlich durch die Tatsache erleichtert, dass die erste Auflage 1941 durch die Organe der Slowakei, damals eines Satellitenstaates des Deutschen Reiches, konfisziert wurde, da sie Übersetzungen „sowjetischer“ Autoren enthielt.) Zu den unterschiedlichen Bedeutungen, Funktionen und Mittel, die in !klovskijs Schriften dem Begriff und dem Phänomen der Verfremdung zugeordnet werden, vgl. die Typologie in Schmid 1973. Die formalistische Sujettheorie betrachtet unter dem Aspekt des Verfremdungs-Prinzips: Hansen-Löve 1978a, 238–263. Den Begriff Sujet übernahm !klovskij von dem russischen Ethnographen Aleksandr Veselovskij, der „Motiv“ („die einfachste Erzähleinheit“) und „Sujet“ („ein Thema, in dem verschiedene Situationen oder Motive angelegt sind“) unterschied (zit. nach !klovskijs Wiedergabe: 1919, 38; vgl. Veselovskij 1913, dt. 2009). !klovskijs Verhältnis zu Veselovskijs Konzeption beleuchtet Sherwood 1973, 30–36. Unsere Rekonstruktion der am ehesten formalistisch zu nennenden Fabel-Sujet-Dichotomie soll nicht vergessen machen, dass !klovskij schon in seiner frühen Phase den Sujetbegriff nicht selten im konventionellen Sinn gebraucht, als Synonym für Fabel, einen typischen Handlungsverlauf oder als Bezeichnung des Resultats der Anwendung der Verfahren. Die Bedeutung des Terminus Sujet muss in !klovskijs Schriften jeweils aus dem Kontext erschlossen werden. Oszillierend und oft änigmatisch ist die Semantik von Fabel und Sujet besonders im Spätwerk. Hier muss vor allem die im Untertitel Das Buch vom Sujet genannte Essaysammlung Energie der Verirrung des Achtundachtzigjährigen angeführt werden (!klovskij 1981), aus der für unsern Zusammenhang besonders das 20. und letzte Kapitel Bedeutung erhält, das, überschrieben mit Noch einmal von den Anfängen und den Enden der Werke; Von Sujet und Fabel, einen Abschied des Autors von seinen Lesern darstellt. Ich zitiere einige der fragmentarischen Definitionen: „Ich habe gelebt und lebe und habe doch keine genaue Vorstellung davon, was ein Sujet ist“ (337) – „Sujet, das ist der Gegenstand. Das ist der Gegenstand der Beschreibung“ (338) – „Das Sujet von Evgenij Onegin ist nicht einfach Evgenij Onegin, sondern Evgenij Onegin, der die Wissenschaft von der Liebe betrieben hat“ (339) – „Die Nichtigkeit der Fabel kann ein Sujet werden“ (340)

„Fabel“ und „Sujet“

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Die Methoden und Verfahren des Sujetbaus sind den Verfahren etwa der Klanginstrumentierung ähnlich und im Prinzip mit ihnen identisch. Wortkunstwerke sind ein Geflecht von Klängen, Artikulationsbewegungen und Ge16 danken. (!klovskij 1919, 106; Hervorhebung im Original) […] das Sujet und die Sujethaftigkeit [sju!etnost’] sind eine ebensolche Form wie der Reim. (!klovskij 1919, 108) Die Fabel ist ein Phänomen des Materials. Das ist gewöhnlich das Schicksal des Helden, das, was über ihn im Buch geschrieben ist. Das Sujet ist ein Phänomen des Stils, der kompositionelle Aufbau des Werks. (!klovskij 1928, 220)

b. Der Opponent !klovskijs Aussagen zu Sujet und Sujetbau sind gegen eine Konzeption gerichtet, die die Ähnlichkeit oder den Zusammenfall von Erzählmotiven entweder mit Entlehnung oder – in Fällen weit voneinander entfernter Kulturen – mit der Ähnlichkeit von Lebensformen und religiösen Vorstellungen erklärt und in Märchenmotiven Erinnerungen an urtümliche Gesellschaftsordnungen, Riten und Gebräuche erblickt. In Russland wurde eine solche Konzeption von der so genannten Ethnographischen Schule vertreten, deren Hauptvertreter Aleksandr Veselovskij war. Die Polemik mit Veselovskij durchzieht !klovskijs Essay Die Verbindung der Verfahren des Sujetbaus mit den allgemeinen Stilverfahren (1919) wie ein roter Faden. !klovskijs Einwand gegen diese Theorie war, dass sie mit ihrer genetischen Erklärung die eigenen Gesetze des Sujetbaus nicht berücksichtige. Der mit Entlehnung, Übernahme und Einfluss argumentierenden heteronomistischen Erklärungsweise setzte !klovskij eine autonomistische entgegen, in deren Zentrum die „Gesetze des künstlerischen Willens“ stehen, eines Willens, der auf das „Schaffen spürbarer Werke gerichtet ist“ (1919, 96 f.; 2009, 20): Im Kunstwerk gibt es neben den Elementen, die aus Entlehnungen entstehen, auch das Element des Schöpferischen, eines gewissen Willens des Schöpfers, der das Werk baut, ein Stück [Material] nimmt und es neben andere Stücke stellt. (ebd.)

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– „Das Sujet ist das Ziel des Autors“ (340) – „Das Sujet sind die vorgelegten Umstände, die andere Umstände eröffnen, einen Umstand anderer Ordnung, anderen Stils“ (343). Bei aller Rätselhaftigkeit dieser Bestimmungen bleibt eine Grundopposition von Fabel und Sujet bestehen, wobei Fabel das Konventionelle an Handlungen bezeichnet und Sujet das Innovative: „Das Sujet ist die Ausnutzung des gesamten Wissens von einem Gegenstand“ (347) – „Was ist die Fabel? Die Fabel ist die Rückkehr zu einem alten, verstandenen und dem Leser oder Zuschauer nahen Thema. Die Fabel, die ja die Intrige ist, erleichtert die Wahrnehmung, die Wiederholung, aber sie macht wie ein grammatischer Reim die Wiederholung manchmal nichtig“ (348). Die Seitenangabe der Zitate aus !klovskijs Essays bezieht sich auf die zweisprachige Ausgabe von Striedter (Hg.) 1969, soweit die entsprechenden Texte dort abgedruckt sind. Die in dem Band enthaltene Übersetzung wird hier jedoch leicht revidiert.

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c. !klovskijs Aristotelismus Sowohl das Bild, das !klovskij von der Tätigkeit des Künstlers entwirft, als auch die Betonung seiner besonderen Wirkabsicht weisen den russischen Formalisten als einen Aristoteliker aus. Und so braucht es nicht zu verwundern, dass er sich in diesem Essay über die Sujetverfahren mehrfach ausführlich auf den Theoretiker des gut gebauten Mythos beruft. Es geht dabei immer um die Akte der künstlerischen Poiesis, die nicht als organisches Werden oder als traditionsbewusste Übernahme, sondern im wörtlichen Sinne des griechischen Worts !"#$% als ein Machen, als ein konstruktives, manchmal, nach Maßgabe der erstrebten Wirkung, auch durchaus manipulatives Machen verstanden wird. !klovskijs Betonung des Machens und des Zusammenfügens entspricht durchaus dem Geist der Poetik des Aristoteles’, die die „Darstellung der Handlung“ (&'&()#* !+,-.%*) mit dem „Mythos“ (&/0"*) gleichsetzt und diesen Begriff, der am besten mit (erzählter) „Geschichte“ wiederzugeben ist17, definiert als die „Zusammenfügung der Handlungen“ ()120()#* — oder )1)34)#* — 352 !+46&,352; De arte poetica 1450a, 5, 15).18 Und wie Aristoteles den Maßstab für die Mimesis nicht in der Ähnlichkeit mit einer außerliterarischen Wirklichkeit sieht, sondern den Wert der „Zusammenfügung der Handlungen“ danach bemisst, ob und in welchem Maße sie geeignet ist, die erstrebte Wirkung hervorzurufen, so ist !klovskijs Konzept des Sujets von der Wirkung her definiert. Ging es in der Tragödie, für Aristoteles die würdigste Form der Mimesis, darum, „über das Mitleid und die Furcht zu einer Reinigung von derartigen Affekten zu gelangen“ (Ars poetica 1449b, 27–28), so sieht !klovskij das Wirkziel der Kunst darin, die durch den Automatismus des Wiedererkennens bedrohte „Empfindung des Lebens“ wiederherzustellen (1917, 14).19

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In der Aristotelischen Unterscheidung von „Handlung(en)“ und „Mythos“ kann man einen Vorläufer der formalistischen Fabel-Sujet-Opposition sehen; vgl. Sternberg 1978, 307; García Landa 1998, 27 (dort weitere Literatur). In diesem Zusammenhang ist aufschlussreich, dass !klovskij in der russischen Wiedergabe der Stellen aus der Poetik mehrfach das Wort Sujet als Äquivalent für Mythos gebraucht, auch an Stellen, wo der griechische Begriff gar nicht explizit erscheint. Maggie Günsberg (1983) verweist auf eine „verblüffende Korrespondenz“ zwischen der aristotelisch inspirierten Unterscheidung von materia und favola in Torquato Tassos Discorsi dell’arte poetica (1564) und der formalistischen Fabel-Sujet-Dichotomie. An eine Beeinflussung !klovskijs durch Tasso ist kaum zu denken. Günsberg führt die Parallele auf den gemeinsamen rhetorischen Hintergrund zurück.

„Fabel“ und „Sujet“

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d. „Material“ vs „Verfahren“ Mit seiner Dichotomie Fabel vs. Sujet brachte !klovskij zwei Begriffe, die ursprünglich beide den erzählten Stoff, die erzählte Handlung bezeichneten, in eine Opposition.20 Und in dieser Opposition spielten sie die Rolle von „Material“ und „Verfahren“ (priem). In dem Paar übernahm das Verfahren den Part des „Helden“, das Material aber spielte eine untergeordnete Rolle, es diente lediglich der „Rechtfertigung“21, der „Motivierung“. Die klassische Definition des Verhältnisses von Fabel und Sujet, in der auch der nicht-substanzhafte, energetische Charakter des Sujets anklingt, gibt !klovskij wie beiläufig am Ende seines Essays zu Sternes Tristram Shandy: Den Begriff Sujet verwechselt man allzu häufig mit der Beschreibung der Geschehnisse, also mit dem, wofür ich den Begriff Fabel vorschlage. In Wirklichkeit ist die Fabel nur Material für die Formung durch das Sujet. Somit ist das Sujet von Eugen Onegin nicht die Liebesgeschichte des Helden mit Tat’jana, sondern die sujetmäßige Verarbeitung dieser Fabel, ausgeführt durch die Einschaltung von unterbrechenden Abschweifungen. (!klovskij 1921d, 296–298; Her22 vorhebung im Original)

Es ist kein Zufall, dass sich diese für !klovskijs Verhältnisse ausführliche und explizite Definition gerade in dem Essay über Sterne findet.23 !klovskij gibt in seinem Essay keine Analyse des Tristram Shandy, sondern illustriert an ihm „allgemeine Gesetze des Sujets“, insbesondere diverse Fälle der „Entfaltung des Sujets“ (razvertyvanie sju!eta)24: „Ich habe nicht den geringsten Wunsch, Sternes Roman erschöpfend zu erforschen, denn mich interessiert nicht der Roman, sondern die Theorie des Sujets“ (ebd., 294). In !klovskijs Wahrnehmung war für Sterne, einen Revolutionär der Form, das Verfahren der „Bloßlegung des Verfahrens“ (obna!enie priema; ebd., 245) typisch. Bloßlegung ist für die frühen Formalisten ein Modus der Verfremdung. Verfremdet wird in der Bloßlegung nicht thematisches Material, sondern das Verfahren der Präsenta_________ 20 21

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Vgl. Volek 1977, 142. Vgl. dazu Roman Jakobson (1921, 32 f.): „Wenn die Wissenschaft von der Literatur eine Wissenschaft werden will, muss sie das ‚Verfahren‘ als ihren einzigen ‚Helden‘ anerkennen. Dann stellt sich als Grundfrage die Frage nach der Anwendung, der Rechtfertigung des Verfahrens“. Eine ähnliche Formulierung finden wir in dem zwei Jahre später entstandenen Essay „Evgenij Onegin“ (Pu"kin und Sterne): „Das wahre Sujet des Evgenij Onegin ist nicht die Geschichte Onegins und Tat’janas, sondern das Spiel mit dieser Fabel. Der hauptsächliche Inhalt des Romans sind seine eigenen konstruktiven Formen“ (!klovskij 1923, 497). Zu !klovskijs Essay unter dem Aspekt der darin dargelegten Fabel-Sujet-Dichotomie vgl. West 2001. Zu diesem Begriff vgl. den Beitrag von Matthias Aumüller (2009b) „Konzepte der Sujetentfaltung“ in diesem Band.

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tion des Materials selbst. Worin besteht diese Bloßlegung als Verfremdung des Verfahrens? !klovskij definiert: „Die künstlerische Form wird ohne Motivierung, einfach als solche dargeboten“ (ebd.). Hinter dieser Definition verbirgt sich !klovskijs Auffassung, dass ein „Roman des üblichen Typus“ Verfahren benutzt, die künstlich und konventionell sind, ihre Künstlichkeit und Konventionalität aber durch eine „Motivierung“ (motivirovka), eine Rechtfertigung, verschleiert. Die Bloßlegung der traditionellen Erzählverfahren bedient sich in Sternes Roman jenes paradoxen Wechsels der narrativen Ebenen, den Gérard Genette (1972) „Metalepse“ nennt. Die Metalepse ist für !klovskij (der keinen spezifischen Namen für das Verfahren hat) nicht ein Mittel ontologischer Irritation, als das sie in der Literatur der Postmoderne oft fungiert, sondern dient vielmehr dazu, die Künstlichkeit der Verfahren bewusst zu machen, um die Verfahren selbst und die „Gemachtheit“ der Kunst aus Verfahren zum Gegenstand der Wahrnehmung zu erheben.25 !klovskij tendierte dazu, die übliche Hierarchie von Inhalt und Form umzukehren. Und so behauptete er mit der für ihn typischen provokativen Geste immer wieder, dass das Material die Sujetverfahren motiviere und nicht umgekehrt: Schiffbruch, Entführung durch Piraten usw. wurden [im Abenteuerroman] nicht aufgrund lebensweltlicher, sondern aufgrund künstlerisch-technischer Umstände für das Sujet ausgewählt. (!klovskij 1919, 84)

Die thematischen Einheiten oder die Handlung sind also nicht Endzweck, sondern dienen nur dazu, bestimmte Verfahren zu rechtfertigen. Fällt die Motivierung weg, so steht das Verfahren ohne schützende Kleidung nackt vor uns. Wenn die erzählte Geschichte nur Motivierung der Verfahren ist, dann kann sie nicht den eigentlichen Inhalt des Romans ausmachen. So kommt !klovskij konsequent zu dem epatistischen Schluss: Bei Sterne „besteht der Inhalt des Romans darin, dass man sich der Form mit Hilfe ihrer Verletzung bewusst wird“ (ebd., 250). Und so kann !klovskij das schöne Aperçu formulieren: Blut [krov’] ist in der Kunst nicht blutig, sondern reimt auf Liebe [ljubov’], es ist entweder Material für eine Lautkonstruktion oder Material für eine Bildkonstruktion. (Ebd. 274)

!klovskij suchte die Ästhetizität ausschließlich in den Akten der verfremdenden Formung und schätzte die ästhetische Relevanz des zu formenden Materials äußerst gering ein. Das Sujet als Formungsakt bedeutete für !klovskij vor allem „Deformation“ der Fabel. Kunst war, wie der programmatische Titel von !klovskijs bekanntem Essay (1917) postulierte, „Verfahren“, und die Verfahren des Sujetbaus bestanden vor al_________ 25

Zur Metalepse als Form der Bloßlegung des Verfahrens vgl. Schmid 2005b.

„Fabel“ und „Sujet“

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lem in jenen Techniken des Parallelismus, der Wiederholung, des „Stufenaufbaus“, der „Zerkleinerung“ oder der „Bremsung“, die eine „Verfremdung der Dinge“ und eine „erschwerte Form“ bewirkten (!klovskij 1917, 14). Gegenstand der Wahrnehmung, deren Schwierigkeit und Länge vergrößert werden sollten („denn der Wahrnehmungsprozess ist in der Kunst Selbstzweck und muss verlängert werden“; ebd.), waren die erschwerenden Formungsakte selbst26, das – wie !klovskij in einem schönen Bild formulierte – „Tanzen hinter dem Pflug“27 oder das „Machen einer Sache“28. Die in der Formung bearbeitete Substanz, etwa „die Welt der Emotionen, der seelischen Erlebnisse“ (Jakobson 1921, 32) oder Eugen Onegins „Liebesgeschichte mit Tat’jana“ (!klovskij 1921d, 299), wurde – in der für den frühen Formalismus charakteristischen Umkehrung der traditionellen Determinationsrichtung29 – zur bloßen „Motivierung“ der Verfahren, zum „Mittel der Rechtfertigung“ (Jakobson 1921, 32) degradiert und das aus der Formung hervorgehende Produkt, das „Gemachte“, „der gepflügte Acker“, lapidar als „unwichtig“ abgetan. !klovskij gab immer wieder zu verstehen, dass er das Sujet nicht als Substanz dachte, etwa als geformten Inhalt oder als das Produkt der Anwendung von Verfahren auf die Fabel, ja, er unterstrich sogar die Irrelevanz der Inhaltskategorie für das Sujet: Für den Begriff „Inhalt“ findet sich bei der Analyse eines Kunstwerks unter dem Aspekt der Sujethaftigkeit kein Bedarf. Die Form muss man hierbei als Konstruktionsgesetz des Gegenstands [zakon postroenija predmeta] begreifen. 30 (!klovskij 1919, 108)

Dieses „Konstruktionsgesetz des Gegenstands“ nimmt bei !klovskij den Charakter einer autonomen abstrakten Kraft an. Das Sujet bearbeitet nicht einfach ein bestehendes, fertiges, vorgegebenes Material, dessen Direktiven es folgt. „Auf der Grundlage besonderer, noch unbekannter Gesetze der Sujetkonstruktion“ (ebd., S. 43) sucht es sich vielmehr aktiv aus dem Repertoire der ewig bestehenden Motive einzelne aus und _________ 26

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Vgl. dazu auch !klovskijs Ausführungen zur Wirkung des Verfahrens der „Verlangsamung“ (zader!anie): „Das Ziel dieses Verfahrens ist es, ein spürbares, wahrnehmbares Werk zu konstruieren. Bei der prosaischen Wahrnehmung dieses Verfahrens wird der Leser ungeduldig und wünscht eine Unterbrechung“ (1919, 120). „Auch der Tanz ist ein Gehen, das als Gehen empfunden wird; genauer, ein Gehen, das so konstruiert ist [postroena], dass man es empfindet. Und so tanzen wir hinter dem Pflug; das tun wir, weil wir pflügen, aber den gepflügten Acker brauchen wir nicht“ (!klovskij 1919, 36). „Weil wir pflügen“ heißt hier: ‚weil wir das Empfinden des Pflügens genießen‘. „[…] die Kunst ist ein Mittel, das Machen einer Sache zu erleben; das Gemachte dagegen ist in der Kunst nicht wichtig“ (!klovskij 1917, 14). Zur frühformalistischen „Determination von unten“ vgl. Speck 1997. Den letzten Satz hat der Autor erst in jener Version hinzugefügt, die in der Theorie der Prosa (!klovskij 1925) abgedruckt wurde.

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verbindet sie.31 !klovskijs Vorstellung von der Eigentätigkeit des Sujets, die nirgends explizit formuliert ist, wird deutlich am Beispiel der Einführung von thematischem Material in der Volksdichtung aufgrund des künstlerischen Erfordernisses von Verfahren wie „Stufenbildung“ und „Bremsung“: Hier können wir eine in der Kunst übliche Erscheinung beobachten: eine bestimmte Form sucht sich eine Ausfüllung, ähnlich wie in lyrischen Gedichten Klangflecken durch Wörter ausgefüllt werden. (!klovskij 1919, 60)

In !klovskijs radikal-formalistischer Konzeption werden Handlungsmomente in ein Werk nicht aufgrund ihres lebensweltlichen, ethischen, philosophischen Gehalts eingeführt, sondern weil die Sujetkonstruktion sie erfordert: Bestimmte Fabelsituationen können nach Sujetprinzipien ausgewählt werden, d. h. in ihnen selbst kann eine bestimmte Sujetkonstruktion angelegt sein, ein Stufenaufbau, eine Inversion, eine Ringkonstruktion. So haben gewisse Steinsorten einen Schichtenaufbau und sind deshalb besonders geeignet für bestimmte Plattenmuster. Die Sujetkonstruktionen wählen zu ihnen passende Fabelsituationen aus und deformieren damit das Material. Deshalb kommen Schwierigkeiten auf der Reise, Abenteuer, unglückliche Ehen, verlorengegangene Kinder wesentlich häufiger in der Literatur vor als im Leben. (!klovskij 1928, 220)

An Cervantes’ Don Quijote versucht !klovskij zu zeigen, wie die Bedürfnisse der Sujetkonstruktion bestimmte Elemente der Fabel hervorbringen, wie der Sujetbau sich den zu erzählenden Stoff schafft.32 Den Abschnitt zu den Reden des Helden beschließt !klovskij mit einem Resümee, in dem er auf die Entstehung des Helden aus der Entfaltung des Sujets hinweist: Der Autor hatte ursprünglich nicht die Absicht, jenen Typus des Don Quijote zu schaffen, der von Heine so sehr gerühmt und von Turgenev breitgewalzt wurde. Dieser Typus ergab sich aus dem Aufbau des Romans, wie denn der

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Wie sehr die Bedürfnisse des Sujets sogar die Einführung von Figuren leiten können, illustriert !klovskij mit Hilfe eines Briefes von Lev Tolstoj (vom 3.5.1865) an eine Dame, die den Romancier gefragt hatte, wer Andrej Bolkonskij sei. Bolkonskij sei niemand, antwortete ihr Tolstoj. In der Schlacht bei Austerlitz habe er das Motiv gebraucht, dass ein glänzender junger Mann erschlagen wird; im weiteren Verlauf des Romans habe er nur den alten Bolkonskij und seine Tochter gebraucht. Da es aber ungeschickt sei, eine Figur zu beschreiben, die mit dem Roman überhaupt nicht verbunden ist, habe er beschlossen, den glänzenden jungen Mann zum Sohn des alten Bolkonskij zu machen. Dann habe diese Figur begonnen ihn zu interessieren, und es habe sich eine weitere Rolle für sie im Roman gefunden. Deshalb habe er sie begnadigt, indem er ihn, anstatt ihn sterben zu lassen, nur schwer verwundet habe (!klovskij 1919, 97–99). Vgl. auch die Ausführungen zu den zahllosen Hindernissen, die der Held des Abenteuerromans zu überwinden hat: „Natürlich sind diese gewundenen Wege durch spezifische Bedingungen hervorgerufen – durch die Forderung des Sujets [trebovaniem sju!eta]“ (!klovskij 1919, 86).

„Fabel“ und „Sujet“

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Mechanismus der Durchführung häufig neue Formen in der Dichtung hervorbringt. (!klovskij 1921b, 100 f.; dt. 1966b, 101 f.)

Die Gesetze der Sujetkonstruktion, auf die, wie !klovskij konstatiert, die Menschen üblicherweise nicht achten, da ihre Aufmerksamkeit ganz von der Suche nach „Lebenswelt, Seele und Philosophie“ (!klovskij 1919, 65) eingenommen wird, zielen auf die „Herstellung spürbarer Werke“ (ebd., 97). Die Spürbarkeit aber wird durch die „Neuheit“ der Form garantiert: Eine neue Form entsteht nicht, um einen neuen Inhalt auszudrücken, sondern um eine alte Form abzulösen, die ihren Charakter als künstlerische Form bereits verloren hat. (!klovskij 1919, 51)

e. Perspektiven der Konzeption !klovskijs Fabel-Sujet-Konzept hat einerseits einen deutlich reduktionistischen Charakter, anderseits enthält es Perspektiven, die in der Proliferation der Begriffe gar nicht wahrgenommen wurden oder verlorengegangen sind. Betrachten wir zunächst den ersten Aspekt. Insofern !klovskij dazu tendierte, den Begriff der Form mit dem Begriff des ästhetisch Wirksamen gleichzusetzen, vernachlässigte er nicht nur die Substanz der Fabel, sondern auch ihre eigene Geformtheit. Die Form der Fabel wurde als vorgegebene Eigenschaft des Materials betrachtet. Sie erschien nicht als Resultat künstlerischer Tätigkeit. Der radikale Antisubstantialismus seines Denkens verstellte !klovskij den Blick auf den künstlerischen Eigenwert, die „Gemachtheit“ und den semantischen Gehalt der zu transformierenden Fabel. Er hinderte ihn auch daran, Fabel und Sujet als unterschiedlich geformte Substanzen zu betrachten, deren Inkongruenz – verbunden mit der aus ihr resultierenden Spannung – über den bloßen Verfremdungseffekt hinaus sich in neuen thematischen Sinnpotentialen niederschlägt. Diese Reduktion aufzuheben war Anliegen sowohl der französischen Narratologen, die discours nicht form-, sondern substanzbezogen definierten, als auch der Theoretiker, die die narrative Konstitution mit mehr als zwei Ebenen modellierten und für die Bildung der untersten Ebene bereits künstlerische Akte voraussetzten. So ist in meinem Vier-Ebenen-Modell der narrativen Konstitution die unterste Ebene, das „Geschehen“ (Begriff nach Simmel 1916), nicht als ästhetisch indifferentes Material gedacht, sondern als bereits ästhetisch relevantes Resultat der Erfindung, jenes Aktes, den die antike Rhetorik inventio oder !"#!$%& nannte. Die Rekonstruktion von !klovskijs Fabel-Sujet-Konzept macht deutlich, warum sich seine Dichotomie in der Praxis der Werkanalyse als schwer anwendbar erweist: Der Grund ist nicht nur die Uneindeutigkeit der Begriffe, sondern auch der Antisubstantialismus des frühformalisti-

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schen Denkens. Wie „Fabel“ auch aufgefasst wurde, immer bedeutete der Begriff etwas Untergeordnetes, dessen raison d’être sich darin erschöpfte, einem verfremdenden Sujet als Grundlage zu dienen. Die Fabel war für !klovskij nur wichtig als das zu Überwindende, als eine Ordnung, die der deformierenden Neuordnung Widerstand entgegensetzte, letztlich eben nur die „Spürbarkeit“ der diesen Widerstand überwindenden Verfahren, d. h. des Sujets, steigerte, aber sie wurde nicht als eigene phänomenale Gegebenheit betrachtet. Sobald die Verfahren „gespürt“ werden, kann der Leser nach !klovskijs Konzeption jenes Material vergessen, das ihrer Motivierung diente.33 Der Nachteil von !klovskijs Konzept, die nicht substanzbezogene Betrachtung von Fabel und Sujet, ist eng verbunden mit seinem Vorteil, nämlich der Vorstellung vom Sujet als einer die Wahl der Fabelelemente determinierenden autonomen Kraft. Die in der Proliferation des Fabel-Sujet-Konzepts verlorengegangene Perspektive besteht also in der Betrachtung des Sujets nicht als Ergon, sondern als Energeia. Diesen Aspekt hat die Narratologie nicht weiter verfolgt – vielleicht weil ihn ihre eigenen Prämissen aus dem Gesichtsfeld rückten. Er scheint es freilich wert, aus !klovskijs Anregungen aufgenommen und weiterentwickelt zu werden. f. Korrekturen Seinen theoretischen Reduktionismus korrigierte !klovskij gelegentlich in den konkreteren Ausführungen zum Aufbau von Erzählungen. Schon in seinen frühen Essays begegnen nämlich Formulierungen, die darauf hinweisen, dass er die Fabel durchaus auch als Resultat künstlerischer Akte dachte. So finden wir im Essay über Pu"kin und Sterne die Opposition von „Grundsujet“ (osnovnoj sju!et) und „wahrem Sujet“ (istinnyj sju!et) (!klovskij 1923, 497).34 Die Ausführungen zum „Grundsujet“ von Evgenij Onegin machen deutlich, dass die Geschichte von Onegin _________ 33

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Unter den Formalisten im engeren Sinne hat Jurij Tynjanov (1927, 548–551) eine eigene Konzeption von Fabel und Sujet entworfen. Nachdem er verbreitete Definitionen der Fabel („statisches Schema der Beziehungen“, „Schema der Handlungen“) verworfen hat, schlägt er eine Dichotomie vor, die er in Analogie zum Verhältnis von Metrum und Rhythmus setzt: Die Fabel ist danach der „gesamte semantische (bedeutungsmäßige) Grundriss der Handlung“, das Sujet seine „Dynamik, wie sie aus der Wechselwirkung aller Verknüpfungen des Materials (unter anderm auch der Fabel als der Handlungsverknüpfung) resultiert – der stilistischen, der Handlungsverknüpfung usw.“ Diese Definition löst freilich die Zuordnung der beiden Begriffe auf. Die Fabel steht für die dargestellte Welt, das Sujet für die Struktur des Werks. Es handelt sich nicht mehr um eine Opposition, sondern um eine Inklusion: die Fabel wird zu einer Komponente des Sujets (vgl. auch Todorov 1971 [1973], 16 f.; Volek 1977, 145 f.). Den Hinweis auf diese Opposition verdanke ich Dr. Galina Potapova.

„Fabel“ und „Sujet“

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und Tat’jana durchaus schon bestimmten schematischen Ordnungen folgt, etwa der Figur der Inkongruenz der Liebe zweier Figuren: „Pu!kin erkannte klar das Grundsujet seines Romans und unterstrich seine Schematik durch eine Symmetrie“ ("klovskij 1923, 497). Im Essay zum Aufbau der Erzählung und des Romans bezeichnet "klovskij dieses Schema („A liebt B, B liebt A nicht; wenn B dann A zu lieben beginnt, hört A auf B zu lieben“; 1921c, 69; dt. 1966b, 63) als „Ring- oder Schleifenkonstruktion“ (postroenie tipa kol’ca ili petli). Aus seinen Ausführungen geht hervor, dass solche Konstruktionen bereits in der Fabel angelegt sind: „Zur Entstehung einer Novelle ist also nicht nur eine Handlung, sondern auch eine Gegenhandlung erforderlich, ein Widerspruch“ (ebd.). Auch die „Entfaltung“ (razvertyvanie) von Handlungen aus Tropen oder Wortspielen, die "klovskij in diesem Aufsatz vorführt, macht es erforderlich, die Fabel, bereits bevor sie zum „Material“ des Sujets wird, als Resultat künstlerischer Operationen zu denken. "klovskij formuliert hier mit Hilfe zahlloser Beispiele Baugesetze der Novelle: das Erfordernis einer Pointe, den Ersatz eines Schlusses durch einen „Pseudoschluss“ (lo!nyj konec) (den etwa eine Naturbeschreibung bilden kann), dann die Einführung eines „negativen Schlusses“ (otricatel’nyj konec), die Verdoppelung der Motive und schließlich die Bildung einer „Stufenform“ (stupen"ataja forma), einer „Rahmenstruktur“ (obramlenie) oder einer „Reihung“ (nanizyvanie). Alle diese Verfahren sind nicht Operationen, denen das Sujet ein vorgegebenes vorkünstlerisches Material unterwirft, sondern sie gehören zur Konstitution der Fabel. Letztlich bestehen sie aus der Wahl und Nicht-Wahl bestimmter Geschehensmomente aus einem Reservoir, das – idealgenetisch – als vor der Fabel liegend zu denken ist. In dieser Analyse und in andern Arbeiten zum „Sujetaufbau“ (sju!etoslo!enie) desavouiert "klovskij die einfache, analog zu Material vs. Verfahren gebildete Dichotomie von Fabel und Sujet und legt die Annahme einer weiteren, vor der Fabel anzusetzenden Ebene nahe, aus der sich die Fabel durch Auswahl von Elementen allererst bildet.

3. Michail Petrovskij Michail Petrovskij, der vor allem durch seine Arbeiten zur Komposition von Novellen hervorgetretene Theoretiker35, ist im Westen kaum be_________ 35

M. Petrovskij gehörte nicht zum inneren Kreis der russischen Formalisten, sondern – wie auch Boris Toma!evskij, Viktor #irmunskij und Aleksandr Reformatskij – zur Peripherie, zu einem Kreis von Theoretikern, den Hansen-Löve (1978a, 263–273) mit dem Begriff der „teleologischen Kompositionstheorie“ charakterisiert. Kritisch zu der Subsumierung

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kannt. Nur zwei seiner Aufsätze zur Kompositionstheorie oder – genauer – zur Kompositionsanalyse sind in westliche Sprachen übersetzt worden: ein Aufsatz zur Komposition der Novelle bei Maupassant (1921) und eine Abhandlung zur „Morphologie der Novelle“ (1927), die beide 1987 auf Englisch in der Zeitschrift des neoformalistischen Kreises Essays in Poetics abgedruckt wurden.36 Da die Übersetzungen spät und in einem spezifischen Kontext erschienen sind, beschränkt sich die Wirkung dieses Theoretikers im Wesentlichen auf die slavische bzw. slavistische Literaturtheorie.37 Petrovskij vertritt eine eigenwillige Variante von !klovskijs FabelSujet-Konzept. In seinen Arbeiten von 1925 und 1927 kehrt er die Bedeutung der über Boris "jchenbaum (1921) letztlich von !klovskij übernommenen Begriffe „Fabel“ und „Sujet“ um. Was "jchenbaum nach !klovskij „Fabel“ nennt, heißt bei Petrovskij „Sujet“, und was "jchenbaum als „Sujet“ bezeichnet, figuriert bei Petrovskij als „Fabel“38: Ich möchte das Wort Sujet im Sinne des Stoffs [materija] des Kunstwerks gebrauchen. Das Sujet ist gewissermaßen das System der Ereignisse, der Handlungen (oder ein einzelnes Ereignis, das einfach oder komplex sein kann), das dem Dichter in einer bestimmten Formung vorlag, die allerdings noch nicht das Resultat seiner eigenen individuellen schöpferischen Arbeit ist. Das poetisch bearbeitete Sujet möchte ich dagegen mit dem Terminus Fabel bezeichnen. (Petrovskij 1925, 197; Hervorhebung im Original)

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unter diesen Begriff und überhaupt zu der Einheit des Kreises vgl. den Beitrag von Matthias Aumüller (2009a) Die russische Kompositionstheorie in diesem Band. Drei Aufsätze Petrovskijs (1921, 1925, 1928) sind 1971 in einer tschechischen Anthologie zur Komposition der Prosa (V#eti$ka [Hg.] 1971) herausgekommen. Auf die russischen Kompositionstheoretiker haben einen gewissen Einfluss die Arbeiten deutscher Philologen zur Komposition literarischer Texte gehabt. In erster Linie sind hier zu nennen: Otmar Schissel von Fleschenberg (auf den sich Petrovskij 1921, 116 f. ausdrücklich mit dem Begriff der Disposition beruft), Bernhard Seuffert und Wilhelm Dibelius. In W. Dibelius’ (1910) Englischer Romankunst findet sich der Ansatz eines systematischen Modells der narrativen Struktur, der aus heutiger Warte ein frühes idealgenetisches Modell darstellt (Dole%el 1973a). Zu den Beziehungen zwischen der deutschen und der russischen Kompositionstheorie vgl. Dole%el 1973a; Hansen-Löve 1978, 264–267; Dole%el 1990, 124–146. In den zwanziger Jahren haben bereits Viktor &irmunskij (1927) und besonders Rozalija !or (1927) in ihrer Studie zur formalen Methode im Westen auf die deutsche Kompositionstheorie hingewiesen. Letztere, auf die sich Dole%el stark stützt, tendiert in ihrem Bericht über die „deutschen Formalisten“ freilich dazu, das Verdienst der sehr kritisch betrachteten russischen Formalen Schule zu schmälern. Vgl. dazu Aumüller (2009a), der den Einfluss der deutschen Theoretiker deutlich relativiert. Allgemein zum Verhältnis der russischen Formalisten und ihrer Sympathisanten zu den deutschen Geisteswissenschaften: Dewey 2004. Petrovskij begründet seine Inversion der Begriffsinhalte nicht und verweist nur auf die unklare Differenzierung der dichotomischen Begriffe bei "jchenbaum 1921. Er hätte sich darauf berufen können, dass seine Intensionen den ursprünglichen Bedeutungen der Begriffe entsprechen: fr. sujet von spätlat. subiectum bezeichnet ursprünglich den ‚Gegenstand‘, den ‚Stoff‘, den ‚Vorwurf‘ einer künstlerischen Darstellung; lat. fabula bezeichnete dagegen (in nachklassischer Zeit) die ‚Erzählung‘, die ‚Geschichte‘.

„Fabel“ und „Sujet“

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Wichtig ist hier freilich nicht so sehr, dass bei Petrovskij !klovskijs und "jchenbaums Begriffe „Fabel“ und „Sujet“ ihre Plätze tauschen. In Petrovskijs Definition hat auch eine auf den ersten Blick unscheinbare, in Wirklichkeit aber höchst charakteristische Verschiebung der Intensionen stattgefunden. Während !klovskij seinen Sujetbegriff meistens in Kategorien der Prozessualität, der Formung („Bearbeitung“, „Formgebung“) definiert, bezeichnet Petrovskij mit seinem äquivalenten Fabelbegriff ein Produkt, eine Substanz, den „poetisch bearbeiteten Stoff“. Hier finden wir bereits jene Akzentverschiebung von der Energeia zum Ergon, die für die ganze spätere Rezeption der Fabel-Sujet-Dichotomie leitend wurde. Und noch eine zweite Verschiebung der Begriffsinhalte ist zu registrieren: Das „Sujet“ (in Petrovskijs Begriffsverwendung) liegt, auch wenn es das Ausgangsmaterial für den individuellen kreativen Akt bildet, dem Dichter nicht als amorphes Material vor, sondern als etwas, das schon auf eine bestimmte Weise geformt ist, als „System der Geschehnisse“ (wie Petrovskij aristotelisch formuliert). Diese zweite Akzentverschiebung, die auf die Aufwertung des Materials hinausläuft, das bereits als Ergebnis künstlerischer Tätigkeit erscheint, wird dann in vielen Modellen vorgenommen, die den frühformalistischen Reduktionismus zu überwinden trachten. In seinem Aufsatz zur Morphologie der Novelle (1927) setzt Petrovskij die Fabel-Sujet-Dichotomie (mit der ihm eigenen Umkehrung der Inhalte) in Relation zu der aus der Rhetorik stammenden Differenzierung von „Disposition“ und „Komposition“. Im Erzählen ist, so fordert Petrovskij, die „Sequenz der Bewegung des Sujets und die Sequenz seiner Darbietung“ zu unterscheiden. Die erstere werde als „Disposition“, die letztere als „Komposition“ bezeichnet.39 Das Sujet könne aus seiner Darbietung abstrahiert werden, indem man die kausal-temporale Folge des Lebens wiederherstelle. Deshalb sei seine Struktur (die Disposition) nicht von besonderem Interesse: Es ist klar, dass die künstlerische Struktur der Novelle organisch mit ihrer Komposition verbunden ist, mit der Technik der Darbietung, d. h. mit der Entfaltung ihres Sujets. (Petrovskij 1927, 73)

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Mit der Dichotomie Disposition vs. Komposition arbeitete die deutsche Kompositionstheorie der zehner Jahre (vgl. Aumüller 2009a). Rozalija !or (1927) verweist auf eine Arbeit von Otmar Schissel von Fleschenberg (1910), in der der Analytiker die „Komposition“ als ästhetische Anordnung des Inhalts der „Disposition“ als der logischen Entwicklung der Ereignisse gegenüberstellt. In einer späteren Arbeit betrachtet Schissel als „Disposition“ auch die kanonisierte „Komposition“, die Merkmal einer bestimmten Gattung geworden ist (!or 1927, 133). Von hier ergibt sich eine Verbindung zum formalistischen Theorem, nach dem das automatisierte Sujet eines Werks oder einer Gattung zur Fabel eines neuen, verfremdenden Sujets werden kann. Petrovskij hat das Begriffspaar Disposition vs. Komposition bereits 1921 (116) mit dem Verweis auf Schissel von Fleschenberg (1910) eingeführt.

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Obwohl Petrovskij der Komposition künstlerische Priorität zuspricht, erkennt er, anders als !klovskij, dem Material der Darbietung (in seiner Begrifflichkeit: dem Sujet) immerhin eine eigene Strukturiertheit zu. Das „Sujet“ ist das „Leben“, aber nicht das Leben in seiner ganzen Fülle, sondern das „umgestaltete Leben“ (preobrazovannaja !izn’): Das Sujet ist immer eine Umgestaltung [preobrazovanie] des Lebens, das sein Rohmaterial bildet. […] Vor allen Dingen ist das Sujet eine Auswahl. (Petrovskij 1927, 72)

Diese Feststellung weist voraus auf Modelle, die der „Geschichte“ oder der „story“ eine Selektivität gegenüber dem zu erzählenden Geschehen zuweisen und ihr einen künstlerischen Status zuerkennen. Damit deutet sich bei Petrovskij bereits eine Triade der Ebenen an: „Leben“ – „Sujet“ (mit seiner „Disposition“) – „Fabel“ (mit ihrer „Komposition“).

4. Lev Vygotskij a. Vygotskijs Reduktion Der Reduktionismus, der der formalistischen Fabel-Sujet-Dichotomie – insbesondere ihrer antisubstantialistischen Formulierung durch !klovskij – inhärent ist, tritt besonders deutlich in den quasiformalistischen Werkanalysen zutage, in denen die Kategorien adaptiert werden, ohne von einem – alle Reduktionen letztlich kompensierenden – genuin formalistischen Erkenntnisinteresse geleitet zu sein. Ein aufschlussreicher Katalysator, der den Reduktionismus der formalistischen Fabel-Sujet-Dichotomie bloßlegt, ist die exemplarische Analyse von Ivan Bunins Novelle Leichter Atem (Legkoe dychanie), die der russische Psychologe und Psycholinguist Lev Vygotskij in seinem Buch Psychologie der Kunst vorgenommen hat (1925a; dt. 1976). In dem Buch geht der Psychologe der Frage nach, auf welche Weise Kunstwerke verschiedener Gattung bestimmte psychische Reaktionen auslösen. Die theoretischen Ausführungen, die der Analyse von Bunins Novelle vorausgehen (1965, 69–91), kritisieren und korrigieren die Prämissen des Formalismus.40 In unserem Zusammenhang ist besonders interessant, dass Vygotskij die Extension des Formbegriffs und der künstleri_________ 40

Das Verhältnis von Vygotskijs Psychologie der Kunst (deren Teile zwischen 1915 und 1924 entstanden sind) zum russischen Formalismus ist nicht ganz eindeutig. Trotz seiner expliziten Kritik des Formalismus modelliert Vygotskij die Psychologie der ästhetischen Reaktion ganz in der Nomenklatur des Formalismus. Inwieweit den gleichen Termini gleiche Konzepte zugrunde liegen, müsste im Einzelnen geprüft werden.

„Fabel“ und „Sujet“

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schen Tätigkeit auf die Konstitution der Fabel erweitert und den Eigenwert des Materials für die ästhetische Wirkung des Kunstwerks unterstreicht: […] das Thema oder Material der Konstruktion erweisen sich als keineswegs gleichgültig für die psychologische Wirkung des gesamten Kunstwerks. (Vygotskij 1965, 80)

Wie Petrovskij so betont auch Vygotskij, dass die Fabel oder Disposition nicht mit dem Leben zusammenfalle, sondern bereits Resultat einer künstlerischen Bearbeitung sei. Wie der Kompositionstheoretiker hebt auch der Psychologe das Moment der Auswahl hervor und unterstreicht die künstlerische Relevanz dieses Aktes: Der bequemen Gedankenführung halber sind wir davon ausgegangen, dass wir die Disposition als das natürliche Moment der Komposition als dem künstlichen Moment gegenübergestellt haben, wobei wir vergaßen, dass die Disposition selbst, das heißt die Auswahl der zu gestaltenden Fakten, bereits ein schöpferischer Akt ist. […] Genauso wie der Maler, der einen Baum malt, durchaus nicht jedes einzelne Blatt malt […], genauso bearbeitet auch der Schriftsteller, der nur das von den Ereignissen auswählt, was er benötigt, das aus dem Leben stammende Material sehr stark und stellt es um. (Vygotskij 1925a, 206; dt. 1976, 41 186 f.)

Gleichwohl bleibt Vygotskijs werkanalytischer Zugriff – offensichtlich im Bann des frühformalistischen Modells – auf charakteristische Weise insuffizient.42 Vygotskij führt die ästhetische Wirkung der Novelle auf den „dialektischen Widerspruch“, den „Kampf“ zwischen „Inhalt“ und „Form“ zurück43, auf die von Schiller als das Geheimnis der Kunst gepriesene „Vertilgung des Stoffes durch die Form“.44 Als „Inhalt“ oder „Material“ betrachtet Vygotskij die „Fabel“, d. i. das vorliterarische Geschehen, „alles das, was der Dichter fertig übernommen hat: die Alltagsverhältnisse, die Geschichten, die konkreten Fälle, die Lebensumstände, _________ 41 42

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Die Übersetzung der Zitate ist von mir stellenweise modifiziert worden. Vgl. die interessanten Arbeiten von Alexander Zholkovsky (1992; 1994), in denen Vygotskijs „glänzende“ Abhandlung als „Überinterpretation einer unvollständigen Strukturanalyse“ kritisiert wird. Schon in der vorausgehenden Abhandlung zu den Fabeln Ivan Krylovs gelangt Vygotskij (1925b, 186) zu dem „psychologischen Gesetz“, dass der „affektive Widerspruch und seine Lösung im Kurzschluß der widerstreitenden Gefühle die wahre Natur unserer psychologischen Reaktion auf die Fabel“ bilde. Im 22. Brief über die Ästhetische Erziehung des Menschen (hg. von W. Henckmann, München 1967, S. 156) schreibt Schiller: „Der Inhalt, wie erhaben und weitumfassend er auch sei, wirkt also jeder Zeit einschränkend auf den Geist, und nur von der Form ist wahre ästhetische Freiheit zu erwarten. Darin also besteht das eigentliche Kunstgeheimnis des Meisters, daß er den Stoff durch die Form vertilgt; und je imposanter, anmaßender, verführerischer der Stoff an sich selbst ist, je eigenmächtiger derselbe mit seiner Wirkung sich vordrängt, oder je mehr der Betrachter geneigt ist, sich unmittelbar mit dem Stoff einzulassen, desto triumphierender ist die Kunst, welche jenen zurückzwingt und über diesen die Herrschaft behauptet.“ (Kursive im Original)

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die Charaktere, also alles, was vor der Erzählung existierte“ (1925a, 187; dt. 1976, 168). „Form“ ist für Vygotskij das „Sujet“, d. i. die „Überarbeitung“ und „Überwindung“ des Materials durch seine „Anordnung nach den Gesetzen einer künstlerischen Konstruktion“ (ebd.). Die ästhetische Wirkung der Novelle Bunins beruht nach Vygotskij auf der Spannung zwischen den divergierenden „Strukturen“ des „Materials“ und der „Erzählung“. Während die „Struktur des Materials“ (die mit der „Disposition“, der „Anatomie“ und dem „statischen Schema der Konstruktion“ identifiziert wird) die Ereignisse in ihrer „natürlichen Anordnung“ (dem ordo naturalis der Rhetorik) enthält, bringt sie die „Struktur der Erzählung“ (oder die „Komposition“, die „Physiologie“, das „dynamische Schema der Komposition“) in eine „künstliche Ordnung“ (ordo artificialis). Die Umstellung der Teile des „Materials“ ändert – und das ist Vygotskijs Hauptthese – den „Sinn“ und die „emotionale Bedeutung“, die dem Material an sich zukommen. (Auch wenn Vygotskij noch auf weitere Verfahren verweist, insbesondere den Benennungsakt und die Perspektivierung, reduziert er die Leistungen des „Sujets“ praktisch auf die Umstellung.) In Bunins Novelle ruft das erzählte Geschehen nach Vygotskijs Auffassung an sich einen düsteren, äußerst abstoßenden Eindruck hervor; das „Material“ verkörpert für sich genommen den Sinn „Bodensatz des Lebens“, und diesen affektiven Grundton verstärkt der Autor in seiner Darbietung durch „grobe und harte Ausdrücke“, die „die ungeschminkte Wahrheit des Lebens bloßlegen“. (Vygotskij nennt mit diesen Qualitäten der erzählerischen Präsentation – methodisch inkonsequent – bereits Verfahren des Sujets!) Als ganze vermittelt die Erzählung in Vygotskijs Deutung indessen den genau entgegengesetzten Eindruck: „das Gefühl der Befreiung, der Leichtigkeit, der Unbeschwertheit und völligen Durchsichtigkeit des Lebens, das man ganz unmöglich aus den Ereignissen ableiten kann, die ihr zugrunde liegen“ (1925a, 199; dt. 1976, 180). Seine radikale Umtönung verdankt das Material, das substantiell dasselbe bleibt, in der Interpretation Vygotskijs ausschließlich der Permutation seiner Teile: Die Ereignisse sind so verbunden und verkettet, dass sie ihre Lebensschwere und undurchsichtige Trübe verlieren. (Vygotskij 1925a, 200; dt. 1976, 201)

Offensichtlich angeregt durch Jurij Tynjanovs (1924) Hinweis auf die semantische Funktion der poetischen Konstruktion, entwickelt Vygotskij in der ihm eigenen metaphernreichen Darlegungsweise den Ansatz zu einer Analyse jener semantischen „Doppelung“, die aus der simultanen Gegebenheit von Fabel und Sujet resultiert, einen Ansatz, den er im weiteren allerdings nicht konsequent verfolgt: Die Wörter der Erzählung […] tragen ihren eigenen einfachen Sinn, ihr Wasser; die Komposition schafft über diesen Wörtern einen neuen Sinn, situiert

„Fabel“ und „Sujet“

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dies alles auf einer ganz anderen Ebene und verwandelt es in Wein. So ist hier die Alltagsgeschichte von einer leichtsinnigen Gymnasiastin in den leichten Atem der Buninschen Novelle verwandelt. (1925a, 201; dt. 1976, 181)

b. Die überschätzte Komposition In Vygotskijs Analyse beobachten wir zwei gravierende Einseitigkeiten, die von !klovskijs Fabel-Sujet-Konzeption vorgegeben sind: 1. Die „Materialemotion“ wird funktional der „Formemotion“ untergeordnet. Die Qualitäten des Materials und ihre affektive Wirkung fungieren nur als mediales Substrat der sich auf ihnen aufbauenden finalen Formqualitäten. Damit führt Vygotskij sein theoretisches Bekenntnis zur Eigenwertigkeit des Materials in der Analyse ad absurdum. Der Finaleindruck der Novelle ist für ihn letztlich doch nur das statische Resultat der Formung des Materials, jene „Leichtigkeit“, auf die der Titel der Novelle anspielt, nicht aber – wie es die dialektischen Prämissen erwarten lassen – die simultane Präsenz von Fabel und Sujet, die Dissonanz von „Lebensschwere“ des „Inhalts“ und „Durchsichtigkeit“ der Form, die komplexe Einheit einander widerstreitender Wahrnehmungseindrücke. Vygotskij würdigt damit auch nicht das „Empfinden des Verlaufs […] der Wechselbeziehungen des unterordnenden, konstruktiven Faktors und der untergeordneten Faktoren“, das von ihm in einem späteren Teil des Buchs (1965, 279) im Rekurs auf Jurij Tynjanov (1924, 40) als Wahrnehmungsergebnis postuliert wird. 2. Vygotskij überschätzt eklatant die Sinnrelevanz der Komposition. Auch ohne Bunins Novelle hier im Einzelnen zu analysieren, können wir feststellen, dass die Dialektik von Tragik und Komik, von Schwere und Leichtigkeit bereits im „Material“ fundiert ist. Die Sujetformung, in die neben der Permutation der Teile auch die Verbalisierung eingeht, profiliert lediglich die in der Fabel angelegte Simultaneität entgegengesetzter Emotionen. Wie bei !klovskij geht bei Vygotskij die Unterschätzung der Sinnrelevanz der Fabel einher mit einer eklatanten Überschätzung der Leistungskraft des Sujets. Betrachten wir nun Bunins Novelle noch etwas näher: Ihre Komposition ist gekennzeichnet von einer starken Permutation der Episoden der Fabel im Sujet. So beginnt die Erzählung mit dem Ende der Geschichte, dem Besuch der Klassendame am Grab der jung verstorbenen Heldin, die Opfer eines Mords wurde. Durch den steten Wechsel zwischen den Zeitschichten der Fabel werden im Sujet die kontrastierenden Motive der Lebendigkeit (des „leichten Atems“) und des Todes in unmittelbare Nachbarschaft gebracht. Aber die Permutation kann nur zum Teil für

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die von Vygotskij konstatierte kathartische Befreiung von der niederdrückenden Wirkung der erzählten existentiellen Momente verantwortlich gemacht werden. Der Eindruck der Leichtigkeit resultiert in Bunins Novelle weniger aus der Umstellung der Teile im Sujet als aus der künstlerischen Organisation der Fabel selbst. Bereits die Fabel weist eine Organisation auf, die das existentiell „Entsetzliche“ (Verführung, Verworfenheit, Totschlag, Trauer usw.) aus seinem unmittelbaren Bezug zur Lebenspraxis des wahrnehmenden Subjekts herausreißt, die direkte Lebensrelevanz der Existentialia gleichsam einklammert und dem traurigen Geschehen eine leichtere Tönung gibt, freilich ohne dass der tragische Grundton aufgehoben würde. Zu den Verfahren der Fabelorganisation, die einen solchen Effekt bewirken, gehören in diesem Werk die komisch-zufällige Konstellation der Situationen, Figuren und Handlungen, vor allem die überraschenden Äquivalenzen zwischen den Protagonisten: 1. die thematischen Äquivalenzen, die von den verwandtschaftlichen Beziehungen der Personen, ihrer gleichen oder entgegengesetzten gesellschaftlichen Stellung und Sphäre, ihrer Ideologie und ihrem Verhalten gebildet werden, 2. die positionellen Äquivalenzen, die durch das Auftreten der Protagonisten an vergleichbarer Stelle in der Geschichte gegeben sind, 3. die verbalen Äquivalenzen, die auf Wiederholungen in und zwischen den Personenreden zurückgehen (die ja Teile der Fabel sind und nicht erst im Sujet hinzutreten). Das Sujet muss aber in seiner Leistungskraft überschätzt werden, wenn es nur einer (nicht weiter gegliederten) Fabel entgegengesetzt wird. Obwohl Vygotskij, wie wir oben festgestellt haben, der Fabel theoretisch durchaus einen gewissen kreativen Status zuerkennt, sucht er praktisch den Kunstcharakter der Novelle ausschließlich in ihrem Sujet. Die von Vygotskij nicht beachteten Verfahren sind letztlich darauf zurückzuführen, dass die Fabel bereits ein Artefakt ist, das sich durch den Akt der Auswahl bestimmter Momente und ihrer Eigenschaften aus dem in der Fabel implizierten Geschehen konstituiert. Ohne diese Auswahl kommt keine Fabel oder Geschichte zustande. Und diese Auswahl ist ein Akt, in dem simultan verschiedene Facetten der Perspektive (die perzeptive, ideologische, räumliche, zeitliche und sprachliche Facette) wirksam werden.45 Die Wirksamkeit der Auswahl als eines fundierenden narrativen Verfahrens weist aber darauf, dass mit einem binären Konzept die narra_________ 45

Zur Erzählperspektive und ihrem Ort in einem Modell der narrativen Konstitution vgl. Schmid 2005a, 245–272; 2008b, 255–284.

„Fabel“ und „Sujet“

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tive Konstitution nicht zu modellieren ist. Die „Fabel“, von der Vygotskij spricht, bedarf weiterer Zerlegung: in eine Ebene des Geschehens, auf der die im Werk erzählten Geschehnisse vor ihrer Auswahl situiert waren und die das Ergebnis der inventio ist, und eine Ebene der Geschichte, die durch die Auswahl bestimmter Geschehensmomente und ihrer Eigenschaften und die Nicht-Wahl anderer Momente und Eigenschaften zustandekommt.

5. Boris Toma!evskij a. Die Bedeutung für die Narratologie Boris Toma!evskij ist mit seiner Theorie der Literatur (1925; 1928a) der in der westlichen Literaturwissenschaft bei weitem am intensivsten rezipierte russische Theoretiker der Fabel-Sujet-Dichotomie. Sein Kompendium, das Theoreme und Konzepte des russischen Formalismus und seiner Peripherie zusammenfasst, nicht aber einen eigenen theoretischen Beitrag darstellt46, gibt im Kapitel Thematik die erste systematische und konsequent durchgeführte Definition von Fabel und Sujet. Es stellt sich freilich die Frage, ob Toma!evskijs Zusammenfassung, die Todorov (1971, 15) als „wesentlich kohärenter“ als "klovskijs vereinzelte Äußerungen qualifiziert, die Dole#el (1973b, 94) als „the best summary of this relationship“ lobt und die oft als das letzte, „kanonische“ (Volek 1977, 142) Wort des russischen Formalismus zum Fabel-Sujet-Problem betrachtet wird, tatsächlich noch genuin formalistisches Denken repräsentiert. Hansen-Löve (1978, 268) sieht Toma!evskijs Orientierung am Thema als dem vereinigenden Prinzip der Konstruktion „in scharfem Widerspruch“ sowohl zum Immanentismus des frühen „paradigmatischen“ Modells des Formalismus als auch zum Funktionalismus der späteren syntagmatischen und pragmatischen Phase stehend. Die Struktur der Fabel werde von Toma!evskij in eine Abhängigkeit von der pragmatischen Ordnung gebracht, die im frühen Formalismus durch „das transformierende, dekontextierende, neutralisierende Dazwischentreten der priem- und Sujetstruktur aufgehoben werden sollte“. Die Fabel als Ordnung thematischer Einheiten dominiere bei Toma!evskij die Sujetord_________ 46

In einem Brief an "klovskij aus dem Jahr 1925 schreibt Toma!evskij, seine Theorie sei kein eigener theoretischer Beitrag, sondern ein Lehrbuch, das praktische Zwecke verfolge. Es sei nicht an die Formalisten und ihre Schüler gerichtet, denn „unsere Sache ist es, Probleme aufzuwerfen, und nicht Fakten in bereitgestellte Kästchen zu verteilen“. Sein Briefpartner habe das Buch zu hoch, als neue Forschungsarbeit, eingeschätzt (zit. nach Flej!man 1978, 386).

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nung, die nichts anderes als die jeweilige, in einem bestimmten Werk realisierte Fabelordnung darstelle (ebd.). !klovskij aber scheint Toma"evskijs Variante der Fabel-Sujet-Dichotomie mit seiner eigenen Konzeption identifiziert zu haben. Immerhin attestiert er in seinem Buch Material und Stil in Tolstojs „Krieg und Frieden“ (1928, 220), dass Toma"evskij „ziemlich genau“ seine, !klovskijs, Definition des Unterschieds von Fabel und Sujet angeführt und nur wegen des Lehrbuchcharakters der Theorie der Literatur in beiden Auflagen nicht den Urheber der Definition genannt habe. Es ist schwer zu entscheiden, ob sich !klovskij hier nur als Urheber der Dichotomie in Erinnerung bringen wollte oder ob er tatsächlich Toma"evskijs Konzeption völlig beipflichtete. Toma"evskij jedenfalls sah sich selbst als Teil der formalistischen Bewegung, wie sein 1927 in Leningrad geschriebener und dann auf französisch erschienener Überblick über die „neue russische Schule der Literaturgeschichte“ (1928c) belegt.47 Mag Toma"evskijs Systematisierung formalistischer Ansätze das Denken dieser Schule auch nicht ganz repräsentieren, seine Fabel-SujetKonzeption ist als genuiner Beitrag der Formalen Schule aufgefasst worden und hat als solcher die stärkste Verbreitung erfahren. b. Zwei Ansätze der Definition Toma"evskij entwickelt seine Definition in zwei Ansätzen. Der erste Ansatz wird ab der vierten Auflage von 1928 (Toma"evskij 1928a; dt. 1985) etwas anders formuliert als in der ersten Auflage von 1925.48 Wir betrachten zunächst den ersten Ansatz. Die Fabel wird in der Ausgabe 1925 auf folgende Weise definiert: Fabel heißt die Gesamtheit der miteinander verknüpften Ereignisse, von denen im Werk berichtet wird. Die Fabel kann pragmatisch dargestellt werden, in der natürlichen chronologischen und logischen Ordnung der Ereignisse, unabhän-

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Für unsern Zusammenhang ist aufschlussreich, dass Toma!evskij in diesem Überblick !klovskijs Fabel-Sujet-Dichotomie ganz sympathetisch wiedergibt. Die Rezeption des für die Fabel-Sujet-Dichotomie einschlägigen Kapitels Tematika wird durch die Differenz der Ausgaben, die insbesondere in diesem Kapitel besteht, nicht unerheblich erschwert. Die englische und französische Übersetzung des Kapitels (Toma"evskij 1965a; 1965b) folgen der Auflage von 1925, die deutsche Übersetzung des gesamten Buchs (Toma"evskij 1985) folgt der revidierten Ausgabe 1928a. Die Theorie der Literatur erlebte in Russland bis 1931 sechs Auflagen mit einer für die Zeit beachtlichen Gesamtzahl von 75 Tausend Exemplaren, wurde in der sowjetischen Zeit aber nicht mehr aufgelegt. 1976 erschien in Tartu, wo Jurij Lotman wirkte, in der Auflage von 800 Exemplaren (in der Sowjetunion in dieser Zeit ein Tropfen auf dem heißen Stein) ein Wiederabdruck des Kapitels Tematika. Die erste Übersetzung, und zwar des ganzen Buchs, erschien 1935 in Polen, 1971 erschienen je eine tschechische und slovakische Übersetzung. Zum Schicksal des Buches und zu seiner Rezeption in Russland, insbesondere zum Verdikt der marxistischen Kritiker vgl. Seemann 1985.

„Fabel“ und „Sujet“

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gig davon, in welcher Ordnung und wie sie im Werk eingeführt worden sind. (Toma!evskij 1925, 137)

Das Sujet wird hier noch vage als eine Umorganisation von „Ordnung“ und „Verknüpfung“ definiert: Der Fabel steht das Sujet gegenüber: dieselben Ereignisse, aber in ihrer künstlerischen Darbietung, in jener Ordnung, in der sie im Werk mitgeteilt werden, in jener Verknüpfung, in der im Werk Mitteilungen über sie gemacht werden. (Toma!evskij 1925, 137; Hervorhebung im Original)

In der Auflage von 1928 wird für die Fabel der Aspekt der Reihenfolge durch den der Verknüpfung ersetzt: Das Thema eines Werks mit Fabel stellt ein mehr oder weniger einheitliches System von Ereignissen dar, die auseinander hervorgehen und miteinander verknüpft sind. Die Gesamtheit der Ereignisse in ihrer wechselseitigen inneren Verknüpfung nennen wir Fabel. (Toma!evskij 1928a, 134)

Die Fabel wird in dieser Auflage also nicht mit dem vor-literarischen Stoff identifiziert, sondern sie bildet bereits eine gewisse Abstraktion vom Kontinuum der Ereignisse mit dem Merkmal der Verknüpfung. Auch in dieser Auflage bleibt die Definition des Sujets zunächst noch recht unbestimmt: Es reicht nicht, eine unterhaltsame Kette von Ereignissen zu erfinden und sie durch Anfang und Ende zu begrenzen. Man muss diese Ereignisse verteilen, sie in eine bestimmte Ordnung bringen, sie darstellen, indem man aus dem Fabelmaterial eine literarische Kombination macht. Die künstlerisch organisierte Verteilung der Ereignisse in einem Werk heißt Sujet. (Toma!evskij 1928a, 136; Hervorhebung im Original)

Der zweite Ansatz zur Definition von Fabel und Sujet bedient sich in beiden Auflagen der Theorie der Literatur des Motivbegriffs. Motive werden als die Themen der kleinsten nicht weiter zerlegbaren Teile des thematischen Materials definiert (Toma!evskij 1925, 137). Als Beispiele für Motive werden angeführt: „Es brach der Abend an“, „Raskol’nikov erschlug die Alte“, „der Held starb“.49 Die motivbezogene Definition der Dichotomie lautet wie folgt: Die Motive bilden in ihrer Verknüpfung die thematische Kohärenz des Werks. Aus dieser Perspektive ist die Fabel die Gesamtheit der Motive in ihrer logischkausalen Verknüpfung, das Sujet die Gesamtheit derselben Motive in jener Reihenfolge und Verknüpfung, in der sie im Werk präsentiert werden. Für die Fabel ist es nicht wichtig, in welchem Teil des Werks der Leser von einem Ereignis erfährt und ob es ihm in unmittelbarer Mitteilung des Autors präsentiert wird oder in der Erzählung einer Person oder durch ein System von Anspielungen. Im Sujet dagegen spielt gerade die Einführung der Motive in das Wahrnehmungsfeld des Lesers eine Rolle. Als Fabel kann auch ein wirkliches Ereignis

_________ 49

Motive sind in Toma!evskijs Auffassung also Kondensate, Abstraktionen bestimmter Sequenzen des Textes, sie sind aber nicht äqui-extensional mit diesen Sequenzen.

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dienen. Das Sujet ist eine ganz und gar künstlerische Konstruktion. (Toma!evskij 1925, 138; dt. 1985, 218; Hervorhebung im Original)

Die bei Petrovskij zu beobachtende Tendenz, die Fabel als etwas bereits Gestaltetes zu betrachten, finden wir auch bei Toma!evskij. Das Herstellen einer logisch-kausalen Verknüpfung, die ja nicht in der Wirklichkeit selbst vorgefunden wird, ist bereits ein künstlerischer Akt. Die Grenze zwischen Vor-Literarizität und Literarizität wird bei Toma!evskij, wie schon bei Petrovskij, anders gezogen als bei "klovskij.50 Während letzterer die Fabel meistens mit dem ästhetisch indifferenten, vorliterarischen Geschehen gleichsetzt, erkennt Toma!evskij der Fabel, zumindest implizit, einen künstlerischen Charakter zu. Das Sujet wird von Toma!evskij in zweierlei Hinsicht der Fabel gegenübergestellt: Es ist einerseits das Resultat der Umstellung und der künstlerischen Verknüpfung der von der Fabel vorgegebenen Motive, anderseits aber präsentiert es die künstlerisch organisierte Folge der Motive aus einer bestimmten Perspektive. Im Kurzen Kurs der Poetik, einer weniger bekannten Abhandlung für den Schulgebrauch51, nennt Toma!evskij (1928b, 87) die Fabel „alle Ereignisse, die mit dem Grundgeschehen verbunden sind, das gesamte Verhalten und alle Handlungen der Personen, die an der Handlung teilhaben“. Damit geht er im Grunde wieder hinter die Definitionen aus der Theorie der Literatur zurück, in denen er mit der Verknüpfung der Motive argumentiert hat. Für das Sujet, das zunächst unter dem Aspekt der „Anordnung der Episoden“ definiert wird, stellt er, konkreter als in der Theorie, einen Katalog von 6 Operationen auf, die der Autor vorzunehmen habe. Der Autor habe zu entscheiden: 1.

welche Fabelereignisse ausführlicher, „in Szenen“, und welche „abstrakt“ dargestellt werden, 2. in welche Reihenfolge diese Szenen und Mitteilungen gebracht werden, 3. in welchem Maße die Hintergründe der Ereignisse aufgeklärt werden, 4. wie die Beschreibungen und alles, was keinen direkten Bezug zur Bewegung der Fabel hat, angeordnet werden, 5. welche Stellen herauszuheben sind und in welchem Ton die Erzählung gehalten werden soll, 6. wessen Perspektive die Erzählung zu folgen hat. _________ 50 51

Vgl. die Typologie der formalistischen Fabel-Sujet-Definitionen hinsichtlich der Dichotomie Literarizität vs. Vor-Literarizität bei Todorov 1971, 17. Der Kurs erlebte in Russland von 1928 bis 1931 immerhin sechs Auflagen. Später wurde er nicht mehr herausgegeben (vgl. Seemann 1985, 1).

„Fabel“ und „Sujet“

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Somit wird das Sujet zum „ausgearbeiteten Schema des Werks“, im Gegensatz zur Fabel, die das „Schema des Ereignisses“ (ebd., 89) bildet. Dieser Katalog ist die am stärksten ausdifferenzierte Aufzählung der Sujetverfahren, die die russische formalistische und quasiformalistische Theorie der zwanziger Jahre hervorgebracht hat. c. Die Ambivalenz der Begriffe Die handliche Fassung, die Toma!evskij dem Fabel-Sujet-Paar gegeben hat, kann nicht das grundsätzliche Problem verdecken, das der Dichotomie von Anfang an innewohnte, nämlich die latente Ambivalenz beider Begriffe. Der Fabelbegriff oszillierte zwischen zwei Bedeutungen: 1.) Material im Sinne des vorliterarischen Geschehens der Wirklichkeit, 2.) mit Anfang und Ende versehene und auch intern strukturierte Folge von Motiven in ihrem logischen, kausal-temporalen Zusammenhang. Der Sujetbegriff schwankte zwischen den Bedeutungen 1.) energetische Kraft der Formung, 2.) Resultat der Anwendung verschiedener Verfahren. In der zweiten Bedeutung blieb unklar, welche Verfahren beteiligt sind und in welcher Substanz das Sujet zu denken sei, ob es bereits als in der Sprache einer Kunst (der Literatur, des Films, der Musik usw.) formuliert oder als medial noch nicht substantiierte Struktur vorgestellt werden müsse. Die Aufhebung der Ambivalenzen beobachten wir erst in den Modellen mit mehr als zwei Ebenen. Bevor wir uns diesen zuwenden, betrachten wir noch das Schicksal der Fabel-Sujet-Dichotomie in sowjetischer Zeit.

6. Die sowjetische Nachgeschichte a. Der späte "klovskij In der Sowjetunion wurde die Diskussion um Fabel und Sujet nach der Machtübernahme der kommunistischen Kulturpolitik Anfang der dreißiger Jahre für lange Zeit unterbrochen. "klovskijs Verfremdungskonzept und die damit in Verbindung stehende Konzeption von Fabel und Sujet waren als provokanteste Manifestationen des missliebig geworde-

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nen Formalismus aus der offiziellen Literaturwissenschaft verbannt.52 Im Jahr 1966 machte !klovskij, der sich inzwischen andern Themen zugewandt hatte, einen vorsichtigen Versuch, den Verfremdungsbegriff zu ‚erneuern‘ (wie der Titel des Essays angab). !klovskij ‚erneuerte‘ den Begriff, indem er ihn unter einen doppelten, aber nicht ganz eindeutigen Vorbehalt stellte: Jetzt wisse er, dass der Terminus Verfremdung „erstens falsch und zweitens unoriginell sei“ (!klovskij 1966a, 305). Offensichtlich um das Konzept annehmbar zu machen, akzentuierte !klovskij an ihm nun eher die ethischen als die ästhetischen Aspekte und berief sich zudem auf Bertolt Brechts gesellschaftskritischen Verfremdungsbegriff, den er im russischen Wortlaut mit dem marxistischen Begriff der „Entfremdung“ (ot!u"denie) wiedergab.53 Damit machte er die Verfremdung unter dem Namen des „neuen Sehens“ (novoe vídenie) wieder diskursfähig. Ein Jahr vor seinem Tode gab !klovskij (1983a) unter dem Vorzeichen der beginnenden Liberalisierung ein neues Buch unter dem historischen Titel Theorie der Prosa heraus, das die beiden programmatischen Essays (1917, 1919) der Sammlung von 1929 und rezente Arbeiten vereinigte. In dem Essay Lungen sind zum Atmen erforderlich (!klovskij 1983b) lesen wir Ausführungen zum Sujet, die ursprüngliche Aspekte des verfremdenden Sujets aufgreifen (und in dem für !klovskij nach wie vor charakteristischen inkohärent-änigmatischen Stil formuliert sind): Die Kunst hat das Sujet hervorgebracht. Das Sujet ist eine Erschwerung [zatrudnenie], ein Rätsel. Eine […] Bremsung [tormo"enie] […] Das heißt: das Sujet ist ein Ereignis [prois#estvie], die Erschwerung dieses Ereignisses. […] Die Prosa muss man bremsen. Der Leser soll nicht wissen, was man ihm erzählt. Das Rätsel ist erforderlich als Bremsung der Erzählung. (!klovskij 1983b, 262)

b. „Fragen des Sujetbaus“ Boris Toma"evskijs Ausführungen zu Fabel und Sujet, die – wie oben dargestellt wurde – im Westen ein starkes Echo fanden, konnten in der Sowjetunion, nachdem bis 1931 sechs Auflagen der Theorie der Literatur erschienen waren, erst wieder 1976 abgedruckt werden. Bezeichnenderweise geschah das nicht in Russland, sondern, wie schon erwähnt wurde, im estnischen Tartu. Dort hatte der sowjetische Strukturalismus oder die Moskau-Tartu-Schule um Jurij Lotman das Zentrum. In seinem _________ 52 53

Vgl. dazu die historische Darstellung von Erlich 1955. Zu !klovskijs Neuformulierung des Verfremdungskonzepts vgl. Lachmann 1970, 243– 249. !klovskijs Argumentation beruht auf einem apologetischen Zirkel: Er verteidigt sein Konzept unter Berufung auf den in der Sowjetunion gut gelittenen Brecht, der es vermutlich auf seinen Russlandreisen 1932 und 1935 kennengelernt hat (vgl. Lachmann 1970, 246–248 und die dort unter Anm. 78 zitierte Literatur).

„Fabel“ und „Sujet“

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weithin bekannt gewordenen Schlüsselwerk, der Struktur des künstlerischen Textes, rekurrierte Lotman (1970, 280; dt. 1972, 330; 1973a, 348) bei der Behandlung des Sujets auf die Definition, die Toma!evskij in der Theorie der Literatur gegeben hatte.54 Die Erforschung des Verhältnisses von Fabel und Sujet wurde noch auf andere, konventionellere Weise aufgenommen. Am Pädagogischen Institut des lettischen Daugavpils wurde ab Ende der sechziger Jahre eine Reihe mit dem Titel Fragen des Sujetbaus (Voprosy sju"etoslo"enija) herausgegeben, die allerdings eher Anleitungen für schulische Werkanalysen geben als neue wissenschaftliche Konzepte entwickeln sollte.55 Bezeichnenderweise kam der erste Band ohne jegliche Bezugnahme auf die Formalisten aus. Statt dessen figurierte als maßgebende Quelle ein Aufsatz von Vadim Ko"inov (1964), in dem die Begriffe Fabel und Sujet recht schlicht und auch etwas unklar definiert wurden: Wir nennen Sujet die Handlung des Werks in ihrer Gänze, die reale Kette der dargestellten Bewegungen, und Fabel das System der Hauptereignisse, das nacherzählt werden kann. (Ko"inov 1964, 422)

Den zweiten Band leitete der programmatische Aufsatz von Leonid Cilevi# Die Dialektik von Fabel und Sujet ein, der einen Weg zwischen dem „orthodoxen Formalismus“ und dem „vulgären Soziologismus“ suchte. Die Formalisten, so wird hier argumentiert, hätten die Eigenart der Fabel vernachlässigt, nämlich die Widerspiegelung der Wirklichkeit, da sie die Fabel immer schon als altes Erzähltes aufgefasst hätten. Verworfen aber hätten den Fabelbegriff und damit die Korrelation von Fabel und Sujet die Soziologisten, die das Problem des Kunstcharakters von Erzählungen nicht interessiert habe. Cilevi#s eigener „dialektischer“ Ansatz ist, abgesehen von seiner sowjetischen Formulierung, nicht allzu weit von dem der Formalisten entfernt: Die Fabel wird mit dem nacherzählbaren „Lebensmaterial“ gleichgesetzt, das Sujet mit seiner künstlerischen Verarbeitung. Die zu rekonstruierende Fabel ist selbst nicht künstlerisch, sie führt uns „aus der Welt der Kunst in die Welt der Wirklichkeit“ (Cilevi# 1972, 11). Die Fabel ist wichtig als analytisches Instrument, sie bildet die Grundlage „für den Vergleich, den Hintergrund für die Wahrnehmung des Sujets“ (ebd., 12). Wenn Cilevi# im Weiteren _________ 54

55

Im Zusammenhang des Kapitels Das Problem des Sujets entwickelte Lotman die im Westen dann stark rezipierte Konzeption des literarischen Ereignisses als der „Versetzung einer Figur über die Grenze eines semantischen Feldes“ oder einer „bedeutsamen Abweichung von der Norm“ (Lotman 1970, 282 f.; 1972, 332 f. 1973a, 350 f.). Vgl. die Übersetzung, Kommentierung und Annotation des Kapitels in Schmid (Hg.) 2009, 271–289 und Christiane Hauschilds Aufsatz „Ju. M. Lotmans semiotischer Ereignisbegriff. Versuch einer Neubewertung“ (Hauschild 2009) in diesem Band. Davon sind 5 Bände erschienen: Bd. 1, 1969; Bd. 2, 1972; Bd. 3, 1974; Bd. 4, 1976; Bd. 5, 1978. Erscheinungsort ist jeweils Riga.

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ausführlich und durchaus zustimmend aus Toma!evskijs Theorie der Literatur zitiert, so folgt er einem spätsowjetischen Argumentationsverhalten: Ist der Formalismus erst einmal hinreichend für seine „Einseitigkeit“ und die Vernachlässigung der sozialen Relevanz der Kunst gerügt, kann man sich getrost seiner analytischen Instrumente bedienen. Im fünften und letzten Band der Fragen des Sujetbaus ist ein Grundsatzartikel von Angehörigen der Moskau-Tartu-Schule (Egorov u. a. 1978) mit dem Titel Sujet und Fabel abgedruckt, der über die literaturdidaktischen Zielsetzungen der Reihe deutlich hinausgeht. Die Definitionen des Verhältnisses der beiden Begriffe durch Toma!evskij (1925), Lotman (1973b) und Ko"inov (1964) werden als zu wenig umfassend kritisiert: Entweder seien in ihnen nur die Beziehung von Sujet und Text oder nur die Korrelation von Sujet und Fabel berücksichtigt.56 Erforderlich sei eine umfassende Definition, die beide Beziehungen verbinde. Als umfassende Definition wird vorgeschlagen: Das Sujet ist die künstlerisch durch raum-zeitliche Beziehungen organisierte und das System der Gestalten organisierende Folge von Handlungen im Werk. Das Sujet ist ein dynamischer Schnitt des Textes (mit diesem äqui-extensional), der die Bewegung des Gedankens des Autors und Schöpfers sowohl auf der Ebene der Helden als auch auf der Ebene des im Werk fixierten Autorbewusstseins ohne Vermittlung durch den Helden berücksichtigt. (Egorov u. a. 1978, 13)

Die entsprechende Definition der Fabel lautet: Wir wollen verabreden, unter Fabel die vektoriell-temporale und logisch determinierte Folge der Lebensfakten zu verstehen, die vom Künstler ausgewählt oder ausgedacht wurden, aber immer – kraft der zwischen Autor und Leser bestehenden Konvention – denkbar sind als sich außerhalb des Werks vollziehend. (Egorov u. a. 1978, 17 f.)

Entgegen der in den sowjetischen Definitionen allgemein verbreiteten Neigung, die Fabel mit ihrer Nacherzählbarkeit zu definieren, machen die Autoren im Weiteren geltend, dass die Fabel ein Konstrukt und als solches eine subjektivere Kategorie als das Sujet sei. Abhängig von der Weltsicht, den sozialen Normen und dem Wissen des Lesers stelle sich die von ihm aus dem Sujet rekonstruierte Fabel jeweils etwas anders dar. Bei der Rekonstruktion der Fabel aus dem Sujet hebe der Forscher die subjektive Vermittlung des Erzählens auf, begradige die Komposition in der Reihenfolge der Handlungen und akzentuiere die in seiner Perspektive zentralen Episoden. Die Betonung des Konstruktcharakters der Fabel und ihrer Abhängigkeit von der individuellen Sinngebung durch den Leser sind produktive Aspekte dieses Ansatzes. Gleichwohl fallen _________ 56

Toma!evskij und Lotman hätten, so wird ausgeführt, nicht die Kongruenz oder Inkongruenz der „Extension“ (protja!ennost’) von Text und Sujet behandelt.

„Fabel“ und „Sujet“

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die Autoren von der anklingenden ideal-genetischen Modellierung des Verhältnisses von Fabel und Sujet gelegentlich zurück auf eine real-genetische Position, wenn sie etwa ausführen, dass die Fabel die „Anfangsphase in der Bewegung der Autoridee von der Intention zur Verwirklichung“ (Egorov u. a. 1978, 18) bilde und dass sie den „Prozess der Umgestaltung der Lebenswirklichkeit in eine künstlerische Wirklichkeit“ nachvollziehen lasse (ebd., 19).57 Die narrative Konstitution, für die die Dichotomie Fabel vs. Sujet einen ersten Ansatz bildet, sollte nicht in den Kategorien temporaler Prozesse vorgestellt werden, so als ob der Autor zunächst in der Wirklichkeit oder in der Literatur eine Fabel vorfände oder ausdächte und sie dann in ein Sujet verwandelte. Jegliche real-zeitliche Folge, die man für Fabel und Sujet postuliert, beruht entweder auf biographischen Informationen, die schwer zu verifizieren sind, oder auf Spekulationen des Interpreten. Für die Analyse bestehen Fabel und Sujet simultan, und die Zerlegung in einzelne Ebenen geschieht nicht, um den Prozess der Entstehung nachzubilden, sondern nur, um die daran beteiligten Verfahren in eine quasi-temporale, in Wirklichkeit systematische Sequenz zu bringen. Jegliches Vorher oder Nachher in der Beschreibung der narrativen Transformationen ist lediglich in einem metaphorischen Sinne zu verstehen.

7. Die westliche Nachgeschichte a. „Histoire“ und „discours“ im französischen Strukturalismus Die Ersetzung von Fabel und Sujet durch die Dichotomie récit vs. narration (Barthes 1966) oder histoire vs. discours (Todorov 1966)58 löste die Probleme, die ein dyadisches Modell der narrativen Konstitution auf_________ 57

58

Ähnliche Auffassungen vertritt auch Nikolaj Rymar’, der in seiner Poetik des Romans (1990, 17) die Ebenen „Lebensmaterial“ – „Fabel“ – „Sujet“ – „Erzählung“ unterscheidet, wobei jede Ebene als „Material“ für die folgende fungiert (unter „Lebensmaterial“ versteht Rymar’ jedoch nicht das in der Fabel implizierte Geschehen, sondern die Wirklichkeit, wie sie sich dem Autor aufgrund seiner persönlichen Lebenserfahrung, seiner Weltanschauung und der für die Epoche charakteristischen Wahrnehmungsweise darbietet). Einen neuen Akzent setzt Rymar’, wenn er !klovskijs Definition der Fabel als Material für die Sujetformung die Auffassung entgegensetzt, dass auch das Sujet „Form“ für die Fabel sei, und wenn er im Anschluss daran in seiner metaphernreichen, zuweilen an Bachtin orientierten Darlegung von einem „Dialog zwischen Fabel und Sujet“ spricht (20–23). Diesen „Dialog“ sucht er an Michail Lermontovs Helden unserer Zeit (Geroj na"ego vremeni) zu demonstrieren, einem Roman, in dem, wie er ausführt, nicht nur das Sujet die Fabel verarbeitet, sondern auch die Fabel das Sujet „beleuchtet, vertieft, problematisiert“ (23– 26). Die Dichotomie histoire vs. discours hat Todorov bei Emile Benveniste (1959) entlehnt, wo die Begriffe allerdings eine andere Bedeutung hatten.

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wirft, nur zum Teil. Bei der Definition ihrer Kategorien rekurrierten die französischen Strukturalisten auf die didaktisch geglättete Konzeption Toma!evskijs und beriefen sich vorzugsweise auf seine bewusst vereinfachende Explikation in der berühmten Fußnote der ersten Auflage der Theorie der Literatur, eine Erklärung, auf die Toma!evskij in den späteren Auflagen verzichtet hat: Kurz gesagt, die Fabel ist das, „was tatsächlich gewesen ist“, das Sujet das, „wie der Leser davon erfahren hat“. (Toma!evskij 1925, 137)

In offensichtlicher Anlehnung an Toma!evskij formuliert Tzvetan Todorov: Au niveau le plus général, l’œuvre littéraire a deux aspects: elle est en même temps une histoire et un discours. Elle est histoire, dans ce sens qu’elle évoque une certaine réalité […]. Mais l’œuvre est en même temps discours […]. A ce niveau, ce ne sont pas les événements rapportés qui comptent, mais la façon dont le narrateur nous les a fait connaître. (Todorov 1966, 126)

Noch Seymour Chatman, der in seinem Buch Story and Discourse die prominentesten Ansätze der russischen Formalisten und französischen Strukturalisten zu „synthetisieren“ sucht, reformuliert in seiner Basisdefinition Toma!evskijs Fußnote: In simple terms, the story is the what in a narrative that is depicted, discourse 59 the how. (Chatman 1978, 19; Kursive im Original)

Trotz der Abhängigkeit vom formalistischen Archi-Konzept und trotz der scheinbaren Homologie mit Fabel vs. Sujet impliziert die Dichotomie histoire vs. discours drei wesentliche Akzentverschiebungen, die zu einer adäquateren und analysetauglicheren Modellierung der narrativen Konstitution beitragen: 1. Die histoire wird vom Makel, bloßes Material zu sein, befreit, und ihr wird ein eigener künstlerischer Wert zugestanden: „l’histoire et le discours sont tous deux également littéraires“ (Todorov 1966, 127).60 _________ 59

60

Ähnlich schon Meir Sternberg (1974, 8 f.): „To put it as simply as possible, the fabula involves what happens in the work as (re)arranged in the ‚objective‘ order of occurrence, while the sujet involves what happens in the order, angle, and patterns of presentation actually encountered by the reader“. Während aber Chatmans Dichotomie auf die Opposition von Inhalt und Form hinausläuft, werden in Sternbergs Interpretation von Fabel und Sujet zwei kookkurrente Ordnungen miteinander konfrontiert. In der Rehabilitierung der histoire tendieren einige Vertreter des französischen Strukturalismus freilich zu dem der einseitigen Favorisierung des Sujets entgegengesetzten Extrem: zum ausschließlichen Interesse für die Regeln, die die Konstitution der histoire leiten. Auch dafür gibt es ein Vorbild in der russischen Theorie der zwanziger Jahre: Vladimir Propps Modell der Aktanten und Funktionen (Propp 1928; dt. 1972; dt. Textauszüge, Kommentar und Annotationen: Propp 2009). Am augenfälligsten ist diese Tendenz in den Arbeiten zur „narrativen Grammatik“ (z. B. Bremond 1964; Greimas 1967; Todorov 1969).

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2. Während !klovskij besonders auf den Parallelismus und den Stufenbau hinwies, schrieben Petrovskij, Vygotskij und Toma"evskij der Permutation der Fabelelemente die stärkste Wirkung unter den Sujetverfahren zu. Demgegenüber betonen die französischen Theoretiker die Verfahren der Amplifikation, Perspektivierung und Verbalisierung.61 3. Während der Sujetbegriff bei den russischen Formalisten und den ihnen nahe stehenden Theoretikern in Kategorien der Form oder Formung gedacht wurde, ist der Terminus discours mit einer substanzbezogenen Betrachtungsweise verbunden. Der Begriff bezeichnet nicht die Summe der angewandten Verfahren (wie Sujet bei !klovskij), sondern das Resultat von künstlerischen Operationen. Dabei überschneiden sich im Begriff Diskurs zwei Aspekte: a. Der Diskurs enthält die Geschichte in transformierter Gestalt. b. Der Diskurs hat eine kategorial andere Substanz als die Geschichte: Die Geschichte (récit oder histoire) ist medial unspezifiziert und kann in unterschiedlichen Medien substantiiert werden. Der Diskurs ist Rede, Erzählung, Text, Film, Bild usw., die die Geschichte nicht einfach enthalten und sie auch nicht lediglich umformen, sondern sie allererst als ihr Signifikat bezeichnen, darstellen. Somit ist der Begriff des Diskurses mit zwei ganz unterschiedlichen Operationen verbunden: 1. der Transformation der Geschichte durch Umstellung der Teile, Amplifikation, Perspektivierung und andere Verfahren, 2. der Materialisierung der Geschichte in einem sie bezeichnenden Signifikanten. Die beiden Operationen werden im folgenden Schema dargestellt: ! Transformation Handlung (Signifikat) Text (Signifikant)

Geschichte

X Diskurs

" Materialisierung im Signifikanten

Das Schema ist wie folgt zu lesen: Die vorsprachliche Geschichte wird in ein vorsprachliches x transformiert, das bei den französischen Theoretikern unbezeichnet bleibt. Die transformierte Geschichte wird dann verbal (oder bildlich, filmisch usw.) materialisiert. Das Resultat der Materialisierung ist im Fall der Literatur der Diskurs. _________ 61

Zu den Punkten 1 und 2 vgl. auch Rimmon 1976, 36, Anm. 2.

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b. Drei- und Vier-Ebenen-Modelle In der textanalytischen Arbeit erweist sich, dass jede zweistufige Modellierung entweder mit doppeldeutigen Ebenenbegriffen operiert oder die narrative Konstitution um ganze Dimensionen verkürzt. So wurde mit Fabel und ihren Äquivalenten sowohl das gesamte im Erzählwerk implizierte Geschehensmaterial als auch die daraus ausgewählte Geschichte bezeichnet (selbst bei dem verhältnismäßig begriffsstrengen und konsequenten Toma!evskij scheint neben der dominierenden zweiten Bedeutung immer wieder auch die erste auf). Und im Sujet-Begriff fallen – wie dann auch im discours der Franzosen, wie wir gesehen haben – zwei verschiedenartige Operationen zusammen, Permutation und Verbalisierung. Wo aber die Ambivalenz der Begriffe beseitigt wird, wie etwa in Todorovs histoire-Begriff, der im Sinne der zweiten Bedeutung von Fabel definiert ist, verkürzt man die narrative Konstitution um die sie allererst begründende Operation, nämlich die Bildung der gestalthaften und sinnhaltigen Geschichte. Die mangelnde Eindeutigkeit und Erschließungskraft der dichotomischen Konzepte war Anlass zur Ausarbeitung von Modellen mit mehr als zwei Ebenen. Eines der am weitesten verbreiteten Drei-Ebenen-Modelle ist von Gérard Genette in seinem Discours du récit (1972) vorgeschlagen worden. Genette unterscheidet drei Bedeutungen von récit: 1. „l’énoncé narratif, le discours oral ou écrit qui assume la relation d’un événement ou d’une série d’événements“; 2. „la succesion d’événements, réels ou fictifs, qui font l’objet de ce discours“, 3. „l’acte de narrer pris en lui-même“ (1972, 71). Den drei Bedeutungen weist er drei Termini zu: 1. récit, 2. histoire, 3. narration (wobei récit als Signifikant und histoire als Signifikat figuriert).62 Mieke Bal (1977, 6) merkt zu Recht an, dass sich Genettes dritter Begriff auf einer andern Ebene als die ersten beiden befinde. Während narration den Prozess der Aussage bezeichne, bedeuteten récit und histoire das Produkt einer Aktivität. Narration gehöre in eine andere Reihe, nämlich die der „activités productrices des niveaux“: narration, disposition, invention. Damit unterscheide Genette im Grunde nur zwei Ebenen, nämlich die des russischen Formalismus. _________ 62

Shlomit Rimmon-Kenan (1983, 3) übernimmt diese Triade ins Englische: text – story – narration.

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Bal selbst schlägt eine etwas andere Triade vor: texte – récit – histoire (1977, 4) oder, in der englischen Version ihrer Narratologie: text – story – fabula (1985, 5–6). Der Text ist in in ihrem Verständnis der Signifikant der Erzählung (récit, story); die Erzählung ist ihrerseits der Signifikant der Geschichte (histoire, fabula). Auf ähnliche Weise unterscheidet José Ángel García Landa (1998, 19 f.) drei Ebenen für die Analyse des Erzähltextes: 1. den „narrativen Diskurs“ (discurso narrativo), 2. die „Geschichte“ (relato), 3. die „Handlung“ (acción). Unter „Handlung“ versteht er die „Folge der erzählten Ereignisse“. Die „Geschichte“ ist die „Darstellung [representación] der Handlung, sofern sie narrativ vermittelt wird“. Und der „Diskurs“ ist die Darstellung der Geschichte. Ein wichtiger Schritt in der Entwicklung der narrativen Konstitution war die von Karlheinz Stierle (1971; 1977) vorgeschlagene Triade Geschehen – Geschichte – Text der Geschichte, die in der internationalen Diskussion allerdings weitgehend unbemerkt blieb. In dieser Triade entsprechen die beiden ersten Ebenen dem formalistischen Fabelbegriff. Das „Geschehen“ (Begriff nach Simmel 1916) ist das in der „Geschichte“ implizierte narrative Material, das, indem es zu einer Geschichte transformiert wird, einen bestimmten Sinn ausdrückt. Durch die Unterscheidung von sinnhafter Geschichte und dem von ihr implizierten und interpretierten Geschehen weist Stierles Triade jene Ebene, die !klovskij als ästhetisch indifferentes, vorgegebenes Material erschien, nämlich die Fabel, als Resultat sinnbildender künstlerischer Operationen aus. Problematisch ist bei Stierle allerdings die Definition des „Textes der Geschichte“. Wie der präformierende Begriff des discours vereinigt „Text der Geschichte“ zwei heterogene Aspekte: 1. die Umstellung der Teile zu einer künstlerischen Gestalt, 2. die Manifestation der „Geschichte“ im Medium der Sprache. Stierle sieht selbst, dass die beiden Operationen auf unterschiedlichen Konstitutionsebenen liegen, und trägt dem Rechnung durch die „behelfsmäßige“ Differenzierung zwischen dem „translinguistischen“ „discours I (Tiefendiskurs)“ und dem „discours II (Oberflächendiskurs)“, der die „zweifache Intentionalität von Geschehen und ‚discours I‘ durch ihre Materialisierung nach den Möglichkeiten einer gegebenen Sprache einlöst“ (Stierle 1971, 54). An Stierles zweifacher Besetzung des „Textes der Geschichte“ hätte eine Korrektur anzusetzen, und sie müsste so verlaufen, dass sie die „behelfsmäßige“ Unterscheidung von „Tiefendiskurs“ und „Oberflächendiskurs“ in eine systematische Differenzierung von zwei Ebenen überführt.63 _________ 63

Ein solches vierstufiges Modell, das der je zweiwertigen Extension der Begriffe Fabel und Sujet oder histoire und discours Rechnung trägt, ist in verschiedenen Ansätzen entworfen: Schmid 1982; 2003, 158–185; 2005a, 241–272; 2007; 2008b, 230–284.

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Das folgende Schema gibt eine Übersicht über die besprochenen Zwei-, Drei- und Vier-Ebenen-Modelle. Die Spalten enthalten analoge, aber nicht notwendig in allen Hinsichten identische Begriffe. Toma!evskij 1925

Fabel

Sujet

Todorov 1966

histoire

discours

Genette 1972

histoire

récit

story

text

Rimmon-Kenan 1983 Bal 1977

histoire

récit

texte

Bal 1985

fabula

story

text

García Landa 1998

acción

relato

discurso

Stierle 1973

Geschehen

Geschichte

Schmid 1982

Geschehen

Geschichte

Text der Geschichte Erzählung

Präsentation der Erzählung

8. Der Formalismus und der Geist der Analyse Die Geschichte der Entstehung und Proliferation von Fabel und Sujet zeigt trotz der Ersetzung der Termini und der Ausdifferenzierung der Begriffe eine erstaunliche Lebensfähigkeit der formalistischen Ur-Dichotomie und ihre ungeminderte Aktualität für die Narratologie. Ursprünglich geprägt im Geiste einer Deviationsästhetik, in deren Mittelpunkt das Konzept der Verfremdung stand, avancierte die Dyade von Fabel und Sujet zu einem universalen Werkzeug der Analyse narrativer Repräsentationen. Ihre Universalität und die Zeiten überdauernde Aktualität verdankt die formalistische Dichotomie ihrer kunstphilosophischen Implikation. Sie ist erwachsen aus einem Denken, das die Kunst nicht mit Inspiration, sondern mit dem „Verfahren“ gleichsetzte und sie – wie "klovskij formulierte – als ein „Mittel“ betrachtete, „das Machen einer Sache zu erleben“. In scharfer Wendung gegen die symbolistische Apotheose des Dichters als vates feierte der akmeistische Postsymbolist den Künstler als

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den der Erde treuen, an die Realität des Materials glaubenden und die drei Dimensionen respektierenden Handwerker, den Baumeister, der Kathedralen baut, als den Steinmetz, der den schweren Stein in leichtes Spitzengewebe verwandelt.64 „Wir fliegen nicht. Wir erheben uns nur auf die Türme, die wir selbst erbaut haben“, so verkündete Osip Mandel’!tam im Morgen des Akmeismus (1919). Wenn die Futuristen in epatistischer Geste die Tradition verwarfen und die Rückkehr zum „Wort als solchem“ forderten, so zielten sie darauf, die im realistischen Inhaltismus des neunzehnten Jahrhunderts und im symbolistischen dualistischen Idealismus der Moderne vernachlässigte Materialität der Künste wieder wahrnehmbar, „spürbar“ (o!"utimy) zu machen. Der Formalismus, als „wissenschaftliche Theoretisierung der künstlerischen Modelle“ entstanden (Hansen-Löve 1978b), reagierte auf die futuristischen Losungen mit der „Auferweckung des Wortes“ ("klovskij 1914) und der Forderung an den Wissenschaftler, die „Verfahren“ aufzudecken. Und der akmeistischen Poetik des Bauens entsprach bei den Formalisten eine Analytik des „Machens“, die in Boris #jchenbaums Aufsatz Wie Gogol’s Mantel gemacht ist (1919) und in "klovskijs Titel Wie Don Quijote gemacht ist (1921b) programmatisch wurde. Der Russische Formalismus war ein Kind des Analytismus seiner Epoche. Von den bildenden Künsten (Kubismus, Futurismus, Kubofuturismus, Suprematismus) über die Poesie und Erzählprosa der Avantgarde bis hin zur Psychologie (Psychoanalyse) sind die ersten drei Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts geprägt vom Geist der Analyse. Die Analyse versprach den Zugang zur Wahrheit, zum Wesen, zur Bedeutung, zur Funktion zu gewähren. Im Bereich der Erzähltextanalyse fand der Analytismus seinen frühesten Ausdruck in der Fabel-Sujet-Dichotomie. Sie und ihre Ableitungen werden als Instrumente wohl so lange in Geltung bleiben, wie die Analyse in der Literaturwissenschaft in Ansehen steht.

_________ 64

Das sind Bilder, mit denen Osip Mandel’!tam in seinem frühen Zyklus Der Stein (Kamen’) und in seinen programmatischen Schriften die Tätigkeit des Künstlers beschreibt.

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Literatur Die Jahreszahl der Harvard-Zitierung bezieht sich in der Regel auf die erste Ausgabe. Zitiert wird nach der jüngsten angegebenen Ausgabe. Wo nach Übersetzungen zitiert oder auf sie verwiesen wird, ist der Originaltitel in eckigen Klammern angegeben. Abbot, H. Porter 2002 The Cambridge Introduction to Narrative, Cambridge/New York. Aumüller, Matthias 2009a Die russische Kompositionstheorie. In: W. Schmid (Hg.), Slavische Narratologie. Russische und tschechische Ansätze, Berlin/New York, S. 91–140. 2009b Konzepte der Sujetentfaltung. In: W. Schmid (Hg.), Slavische Narratologie. Russische und tschechische Ansätze, Berlin/New York, S. 47–90. Bako!, Mikulá! (Hg.) 1941 Teória literatúry. V!ber z „formálnej metódy“, Trnava 1941, Bratislava 1971. Bal, Mieke 1977 Narratologie. Les instances du récit. Essais sur la signification narrative dans quatre romans modernes, Paris. 1985 Narratology: Introduction to the Theory of Narrative, Toronto. Barthes, Roland 1966 Introduction à l’analyse structurale des récits. In: Communications, Nr. 8, S. 1–27. Beck, Rudolf; Küster, Hildegard; Küster, Martin 1998 Terminologie der Literaturwissenschaft. Ein Handbuch für das Anglistikstudium, Ismaning. Benveniste, Emile 1959 Les relations de temps dans le verbe français. In: E. B., Problèmes de linguistique générale, Paris 1966, S. 237–250. Biti, Vladimir 2001 Literatur- und Kulturtheorie. Ein Handbuch gegenwärtiger Begriffe, Reinbek. Bordwell, David 1985 Narration in the Fiction Film, London. Bremond, Claude 1964 Le message narratif. In: Communications, Nr. 4 (1964), S. 4–32. Brooks, Peter 2002 Narrative Desire. In: B. Richardson (Hg.), Narrative Dynamics. Essays on Time, Plot, Closure and Frames, Columbus (Ohio), S. 130–137. Brooks, Cleanth; Warren, Robert Pen 1943 Understanding Fiction, New York. Bruner, Jerome 1986 Actual Minds, Possible Worlds, Cambridge (MA). 1991 The Narrative Construction of Reality. In: Critical Inquiry 18, S. 1–21. Buchholz, Sabine 2003 Narrative Innovationen in der modernistischen britischen Short story, Trier. Chatman, Seymour 1978 Story and Discourse. Narrative Structure in Fiction and Film, Ithaca/London, 3. Aufl. 1986.

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MATTHIAS AUMÜLLER (Universität Wuppertal)

Konzepte der Sujetentfaltung 1. Der Begriff der Entfaltung Schon seit Jahrhunderten gibt es eine immer wieder auftauchende, aber selten explizierte Intuition über die Entstehung literarischer Werke. Sie besagt ungefähr, dass literarische Werke sich aus dem Keim einer Idee entwickeln. Im russischen Formalismus entstand demgegenüber die alternative Vorstellung, dass literarische Werke sich aus rhetorischen Figuren oder Redeklischees entfalten. Was unter beiden Vorstellungen genauer zu verstehen ist, bleibt meist im Dunkeln. Ihnen gemeinsam ist, dass sie sich der Metapher des Entfaltens bedienen, um die vagen Überlegungen und Intuitionen auf einen Begriff zu bringen. Zusätzlich wird in beiden Varianten behauptet, dass der Prozess des Entfaltens einer besonderen Eigengesetzlichkeit unterliege. Gemeint ist hier nicht eine produktionsästhetische oder psychologische Perspektive, sondern eine Betrachtungsweise, in der dieser Vorgang als eine Art semantische Genese aufgefasst wird. Und insofern folgt die literarische Werkentstehung nicht nur psychologischen Gesetzen, sondern besonderen „poetischen“ Gesetzen1 oder „Sujetgesetzen“ (!klovskij). Wenn diese Intuitionen ihren Ausdruck häufig im Begriff der Entfaltung finden, so sind sie sicherlich nicht an diesen Ausdruck gebunden, und es lässt sich daher vermuten, dass eine ähnliche Intuition auch Vladimir Nabokov bewegte, als er über Nikolaj Gogol’s Die toten Seelen schrieb: Die Randgestalten seines Romans tauchen aus den Nebensätzen seiner zahlreichen Metaphern, Vergleiche und lyrischen Ausbrüche auf. Wir werden Zeuge des bemerkenswerten Vorgangs, dass reine Redefiguren Lebewesen zeugen. (Nabokov 1944, 99)

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„Der Epiker und der Dramatiker sind beide den allgemeinen poetischen Gesetzen unterworfen, besonders dem Gesetze der Einheit und dem Gesetze der Entfaltung […]“ (Goethe 1797, 445). – In diesem Zusammenhang ist die morphologische Methode in der germanistischen Literaturwissenschaft zu erwähnen, die die Denkfigur der Entfaltung ebenfalls aufgegriffen hat. Vgl. Oppel 1947, 49 f.

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Wiederum nicht ausdrücklich, aber doch implizit greift eine Formulierung über die Struktur von J. R. R. Tolkiens Der Herr der Ringe die Denkfigur der Entfaltung auf: Es gibt Eigennamen, die Tolkien älteren germanischen und anderen Sprachen entnommen hat oder aus Teilen dieses Sprachbestands sprachregelgerecht zusammengesetzt hat. Um die Namen herum werden Sprachen (Teilsprachen) konstruiert und zu den Sprachen Sprachgeschichten. Die Sprachgeschichten brauchen Sprecher, die erfunden werden müssen. Die Sprecher haben mehr als nur eine Sprachgeschichte. Sie haben auch eine soziale und eine politische Geschichte. Schließlich entsteht eine Art Enzyklopädie der Tolkien-Welt, die aus sich selbst heraus fortexistieren kann. (Wimmer 1982, 565 f.)

Wie man sieht, ist der zugrunde liegende Gedanke so allgemein wie weit verbreitet. Im Folgenden soll jener Variante des Entfaltungsbegriffs nachgegangen werden, die sich im Kraftfeld des russischen Formalismus ausgeprägt hat. Auch hier ist er nur in dunklen Andeutungen auszumachen. Gleichwohl lässt er sich in diesem Rahmen bestimmten für den russischen Formalismus charakteristischen Auffassungen zuordnen und mit ihrer Hilfe besser verstehen. Dieser Rahmen besteht zum einen darin, dass für die Formalisten das Erleben der Prozessualität von Kunst zentral gewesen ist, dass m. a. W. das Machen im Mittelpunkt stand – und nicht so sehr das Resultat (W. Schmid).2 Eben für dieses generative Denken steht der Entfaltungsbegriff – so wie übrigens auch der viel berühmtere Begriff des Verfahrens (priem).3 Zum andern richteten die Formalisten ihre Aufmerksamkeit auf die sprachliche Seite der Kunst und nahmen somit (gerade auch in der Auseinandersetzung mit dem russischen Futurismus und seiner als asemantisch zu bezeichnenden sog. transmentalen Sprache) semantische Phänomene in den Blick.4 Der Begriff der Entfaltung wird entsprechend im Folgenden weniger vor dem Hintergrund der ontologischen Frage nach der Entstehung von fiktiven Welten untersucht, sondern vor allem im Hinblick auf die Sujetwerdung. In einer ersten Annäherung lässt sich der Entfaltungsbegriff im formalistischen Kontext etwa so erläutern: Eine literarische Entfaltung liegt _________ 2

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Schmid bezeichnet diesen Prozess als besondere Sujetmotivierung, die der Ebene der erzählten Welt, ihrer Personen und Ereignisse, gegenübergestellt ist (1988, 275). Nach dieser Konzeption vollzieht sich die Sujetentwicklung nicht nach Maßgabe einer Geschichte mit ihren lebensweltlichen, psychologischen Motivierungen, sondern als Entfaltung semantischen Potentials „über die Köpfe der Menschen hinweg“ (ebd.), d. h. unabhängig von den Figuren. Wenn noch Veselovskij Motive als thematische Invarianten auffasste, so war es !klovskij, der mit den Verfahren erstmals funktionale Invarianten annahm. Erinnert sei an die ursprünglich von Tynjanov vorgesehenen Titel seines Buches Problema stichotvornogo jazyka (Das Problem der Verssprache [1924]): Problema stichovoj semantiki (Das Problem der Verssemantik) bzw. Semantika po!ti"eskogo jazyka (Die Semantik der poetischen Sprache). Vgl. Tynjanov 1977, 501 f.

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dann vor, wenn ein z. B. in einer Metapher, einem Kalauer oder einer Redensart verdichtetes semantisches Potential auf eine größere literarische Einheit (einen Text) verteilt wird.5 Synonym für „Entfaltung“ in diesem Sinn wird oft der Ausdruck „Realisierung“ gebraucht, russ. realizacija oder osu!"estvlenie.6 Dieses Konzept geht zurück auf Roman Jakobsons Abhandlung Novej!aja russkaja po#zija (1921) und entspricht dort dem, was Jakobson allgemein unter Realisierung versteht. Entfaltung hingegen ist für ihn ein Spezialfall einer Realisierung. Da das Textmaterial, das Jakobson seiner Untersuchung vor allem zugrunde legt, fast ausschließlich zur Versdichtung zählt, scheint es prima facie nahe zu liegen, den Begriff auf diesen Bereich zu begrenzen. Allerdings lässt sich zeigen, dass Jakobson weder mit Realisierung noch mit Entfaltung ein Spezifikum der Versdichtung im Sinn hat, sondern ein Phänomen, das in allen Arten literarischer Kunst anzutreffen ist. Diesem Begriff von Entfaltung ist ein anderer Begriff gegenüberzustellen, ein Begriff, der interpretationstheoretisch bzw. terminologisch neutral ist und der häufig mit Bezug auf die Erzählliteratur anzutreffen ist. In prosatheoretischen Texten der russischen Formalisten und der russischen Literaturwissenschaft überhaupt bedeutet Entfaltung (razvertyvanie) nicht mehr als den allgemeinen Fortgang einer Geschichte bzw. Erzählung; der Begriff ist in diesen Fällen ein Synonym von „Entwicklung“ (razvitie). Noch in seiner Monographie Der russische Formalismus von 1978 übersetzt Aage Hansen-Löve razvertyvanie durchgängig mit „Entwicklung“. Dennoch ist bei ihm schon dort das Ansinnen erkennbar, den Begriff des razvertyvanie auch für die Erzählkunst konzeptionell fruchtbar zu machen (1978, 164–172). Zugleich kann man bei ihm aber auch die tendenziell neutrale Verwendungsweise entdecken, in der razvertyvanie metaphorisch den Fortgang einer Erzählung bedeutet (245). Dass der Begriff des razvertyvanie möglicherweise auch schon in der formalistischen Prosatheorie konzeptionelle Bedeutung hatte, könnte man aus dem Umstand erschließen, dass Viktor !klovskij zwei Aufsätze (die später auch in seine Theorie der Prosa [1925/29] aufgenommen wurden) in einer Broschüre gebündelt mit dem Titel Razvertyvanie sju!eta

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Auch das strukturale Denken kennt den Begriff: Vgl. Barthes 1966, 115, wo Katalysen, Indizien und Informanten als Expansionen der Kardinalfunktionen beschrieben werden. Vgl. ferner Michael Riffaterre: „The very way the descriptive sentence is generated, that is, the way a kernel statement is expanded into its semantic components, or homonyms or antonyms (a word being transformed, in the generative sense, into a phrase, a phrase into a sentence), this precisely enables the critic to interpret what the text is aiming at, to watch the description changing into the sign of something else“ (1972, 237). So Hansen-Löve (1982). Vgl. aber den 2. Abschnitt der vorliegenden Abhandlung.

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(Die Sujetentfaltung; !klovskij 1921a) herausbrachte.7 Zwingend ist dies jedoch nicht, wie schnell deutlich wird, wenn man !klovskijs tatsächliche Verwendungsweise des Ausdrucks „razvertyvanie“ untersucht. Jakobsons und !klovskijs Entwürfe weisen jeweils einen anderen Schwerpunkt auf. Während Jakobson den Begriff der Entfaltung vor allem als Anwendung eines speziellen poetischen Verfahrens auffasst, bezieht !klovskij den Ausdruck „Entfaltung“ überwiegend auf das Einbringen von „Material“ (also von Handlung) in einen Text und stellt ihn den eigentlichen Sujetverfahren gegenüber. !klovskijs Begriff der Entfaltung fällt dagegen mit seiner Verwendungsweise des Ausdrucks meist gar nicht zusammen. Sein Begriff der Entfaltung kommt eher indirekt zum Ausdruck und versteht sich gewissermaßen als Selbsttätigkeit des Sujets.8 Aber nicht nur !klovskij, auch Jakobson bringt Entfaltung mit Sujethaftigkeit in Verbindung. Worauf bezieht sich Entfaltung eigentlich? Ist Entfaltung ein lexikalisch-semantisches Phänomen? Oder ist es ein narratives Phänomen? An dieser Stelle ist eine Unterscheidung einzuführen, die für die Betrachtung der Frage nach der Entfaltung nutzbringend ist. Statt von Vers- und Prosadichtung wird im Folgenden von Erzählkunst und Wortkunst die Rede sein. Diese von Hansen-Löve im Rekurs auf die Formalisten geprägte Dichotomie hat den Vorteil, dass sie nicht ganz der alten Opposition von Poesie und Prosa entspricht, der gemäß Texte meistens danach unterschieden wurden, ob sie in Versform verfasst waren oder nicht. Demgegenüber hat Hansen-Löves Unterscheidung den Vorteil, der Intuition zu entsprechen, dass es sehr wohl prosaische Verstexte gibt (wie z. B. viele Epen in gebundener Rede) und poetische Prosatexte (z. B. Rilkes Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge). Dabei sind Wortkunst und Erzählkunst als Ebenen zu verstehen, auf denen ein gegebener Text jeweils entsprechend der Dominanz entweder von Erzählverfahren oder von lexikalisch-semantischen Verfahren situiert ist, die sich auch überlagern können, da viele Texte nicht eindeutig auf eine Ebene allein festlegbar sind.9 Zur Illustration des Gegensatzes sei zunächst auf Texte verwiesen, die eine eindeutige Zuordnung zulassen: Das berühmte Gedicht von Velimir Chlebni_________ 7

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Es handelt sich um die Titel Stroenie rasskaza i romana (Der Bau der Erzählung und des Romans) und Kak sdelan Don Kichot (Wie der Don Quijote gemacht ist). Eigentümlicherweise bezieht sich !klovskij im letzteren Aufsatz auf den ersten auch mit dem Ausdruck „Kapitel über die Sujetentfaltung“ („Ja u"e govoril v glave o razvertyvanii sju"eta […]“), so als wäre nur dieser erste Aufsatz diesem Thema gewidmet, nicht aber der zweite (1921a, 53). Vgl. Wolf Schmids Bemerkungen zu !klovskijs Antisubstantialismus im Aufsatz über „Fabel“ und „Sujet“, in diesem Bd., S. 1–45. Vgl. dazu jetzt Schmid 2008.

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kov Zakljatie smechom (Beschwörung durch Lachen) ist ein Beispiel für einen Text, in dem Erzählverfahren, wenn überhaupt, fast gar keine Rolle spielen und der folgerichtig pure Wortkunst darstellt.10 Im Gegensatz dazu sind es vor allem Romane, in denen die sprachliche Verfasstheit von untergeordneter Bedeutung ist und die aufgrund der Dominanz von temporalen, kausalen und intentionalen Strukturen primär der Erzählkunst zugerechnet werden müssen. Andrej Belyjs Peterburg wiederum ist ein Text, in dem sowohl Erzählverfahren als auch lexikalischsemantische Verfahren außerordentlich reiche Verwendung finden und der infolgedessen beiden Ebenen gleichermaßen zugeordnet werden kann. Im Zusammenhang mit der Frage nach der Entfaltung gilt es herauszufinden, ob Entfaltung charakteristisch für die Wortkunst ist, für die Erzählkunst oder ob sie quer zu dieser Unterscheidung steht. Denn einerseits lässt sich auch das oben erwähnte Zakljatie smechom als Entfaltung eines lexikalischen Morphems zu einem literarischen Text verstehen, der als paradigmatisch für die Wortkunst gelten kann und nichts Narratives an sich hat. Andererseits aber lassen sich gerade Erzähltexte als Entfaltungen einer thematischen Idee interpretieren, von der nach dem Prinzip der Folgerichtigkeit im kausalen Sinne die Entfaltung einer Geschichte ihren Ausgang nimmt. Darüber hinaus lassen sich Erzähltexte aber oft auch als Entfaltungen eines semantischen Kerns (einer Redefigur) interpretieren, wenn die diesem Kern innewohnende semantische Konstellation einen Ereignisverlauf generiert, dessen charakteristische Aspekte auf die Semantik der Redefigur bzw. des Kerns beziehbar sind. In den folgenden Abschnitten werden verschiedene Begriffsverwendungen vorgestellt. Im abschließenden Abschnitt soll anhand eines Beispiels versucht werden, die verschiedenen Vorstellungen in den Begriff der narrativen Explikation zu integrieren.

2. Entfaltung bei Roman Jakobson Der Begriff der Entfaltung bei den russischen Formalisten wurzelt in zwei verschiedenen Kontexten, die durch die beiden Autoren Viktor !klovskij und Roman Jakobson repräsentiert werden. Die Texte, in denen der Begriff jeweils auftaucht, sind im gleichen Jahr als selbständige _________ 10

„Ihr Lacherer, schlagt die Lache an! / Ihr Lacherer, schlagt an die Lacherei! / Die ihr vor Lachen lacht und lachhaftig lachen macht, / schlagt lacherlich eure Lache auf! / Lachen verlachender Lachmacher! Ungeschlachtes Gelachter! […]“. Zitiert in der Übersetzung von H. M. Enzensberger, in: Kay Borowsky, Ludolf Müller (Hgg.), Russische Lyrik, Stuttgart 1994 [1983], S. 307.

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Publikationen erschienen (1921), aber schon einige Jahre früher bekannt gewesen.11 Während bei !klovskij, wie später gezeigt wird, der Begriff razvertyvanie in verschiedenen Varianten vorkommt und auch schon im Titel des Werks einen prominenten Ort einnimmt, ist er bei Jakobson nur in einem eng umgrenzten Rahmen anzutreffen. Genauer gesagt, ist razvertyvanie bei ihm nur Teil der Beschreibung einer bestimmten Art von Realisierung, russ. realizacija. Erst Hansen-Löve bringt diese beiden bei Jakobson noch als Kategorie und Subkategorie vorkommenden Begriffe zusammen und gebraucht sie nahezu synonym (1982, 203).12 Dabei spricht er sogar von einer regelrechten „Realisierungstheorie“ (1978, 133), die er vor allem auf der Basis von Jakobsons Novej!aja russkaja po"zija (Die neueste russische Poesie) in drei Abstufungen rekonstruiert (1978, 133–146). Doch zunächst: Was heißt bei Jakobson „Realisierung“? Gegenstand einer Realisierung sind nach Jakobson Verfahren, russ. priemy, und das Ergebnis ist ein poetisches Faktum, also ein Text (1921, 18). Eine Reihe von synonym gebrauchten Wendungen kommt bei einer Deutung von Jakobsons Aussage zu Hilfe: Hier haben wir eine Realisierung derselben Trope, eine Projektion eines literarischen Verfahrens in die künstlerische Realität, eine Umwandlung einer poeti13 schen Trope in ein poetisches Faktum, eine Sujetkonstruktion. (1921, 36)

Eine Realisierung ist demnach so etwas wie ein Anwendungsbeispiel eines Verfahrens. Es lässt sich darauf zeigen, es kann vorgelesen werden – etwas, das für ein reines Verfahren nicht gilt: Dieses kann höchstens umschrieben und – anhand eines Beispiels – erläutert werden.14 _________ 11

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Jakobsons Text geht auf einen Vortrag vor dem Moskauer Linguistenkreis (MLK) zurück und ist 1919 entstanden. Vgl. Paulmann 1972, 419. Die Aufsätze, die in !klovskijs Die Sujetentfaltung zusammen publiziert wurden, waren früher bereits in der Zeitschrift #izn’ iskusstva erschienen, und zwar im Januar und Februar 1920. Bereits im November 1919 war ebd. unter dem Titel Paralleli u Tolstogo ein Text abgedruckt worden, der später als zweiter Abschnitt in den Aufsatz Der Bau der Erzählung und des Romans integriert wurde. Vgl. Sheldon 1977, 5 f. In seinem Beispiel besteht eine Entfaltung typischerweise aus zwei Realisierungsschritten, was nach einer bestimmten Lesart ein im Vergleich zu Jakobson umgekehrtes Verhältnis der beiden Begriffe suggeriert – demnach wäre Realisierung eine Subkategorie von Entfaltung. Vgl. ebd., 197–199. Es geht im vorhergehenden Beispiel um die Belebung von leblosen Gegenständen in der Dichtung. Hansen-Löve deutet Jakobsons Realisierungsbegriff explizit als semantische Verfremdung (1978, 134). Die Frage ist, für wie allgemein verbindlich man das Verfremdungsprinzip ansieht. Zwar spricht Jakobson häufig von deformacija (Deformation) und obna$enie (Entblößung), aber nicht von ostranenie (Verfremdung). Das sollte man nicht übersehen, auch wenn es gute Gründe für eine Verallgemeinerung gibt. Legt man indes allein diesen Text Jakobsons unabhängig von anderen formalistischen Schriften der Analyse zugrunde, scheint ein weiterer Skopus des Begriffs gefordert zu sein. Während Verfremdung auch

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Razvertyvanie, Entfaltung, ist nun für Jakobson ein Spezialfall einer Realisierung, wenn man von folgender Formulierung ausgeht: Wir haben oben die Metamorphose als Realisierung einer Wortkonstruktion charakterisiert; gewöhnlich ist diese Realisierung eine Entfaltung eines gewendeten Parallelismus in der Zeit (einer Antithese im Besonderen). (42 f.)

Es folgt zur Illustration eine Aufzählung, die eine kurze Typologie von verschiedenen Parallelismen enthält, die jeweils realisiert werden können und von denen ein möglicher Typ der gewendete oder umgekehrte Parallelismus ist.15 Um diesen ungewohnten Begriff etwas anschaulicher zu machen, sei hier Jakobsons Herleitung des umgekehrten Parallelismus wiedergegeben und interpretiert16: Wird ein Kopf in einem (poetischen) Text mit einem Bierkessel verglichen, handelt es sich nach dieser Typologie um einen „logisierten Parallelismus“. „Logisiert“ soll dabei heißen, dass in einem Satz wie „ein Kopf wie ein Bierkessel“ nicht zwei Gegenstände gleichgesetzt werden, sondern ein mit der Lebenswelt mehr oder weniger zu vereinbarender Vergleich angestellt wird. Vergleiche geben ein typisches Beispiel für Parallelismen, weil die Parallelsetzung explizit vorgenommen wird. Andere Beispiele für Parallelismen sind Reime oder auch pure grammatische Übereinstimmungen, z. B. kongruierende Kasus, die Jakobson „formale Parallelismen“ nennt (40). Ein „negativer Parallelismus“ nun wird z. B. durch einen Satz wie „Dies ist kein Bierkessel, sondern ein Kopf“ realisiert, und ein „umgekehrter Parallelismus“ durch dessen Umkehrung „Kein Kopf, sondern ein Bierkessel“. Und ein in der Zeit entfalteter umgekehrter Parallelismus ist für Jakobson schließlich folgende Wendung: „aus einem Kopf wurde ein Bierkessel“, also eine Metamorphose (44). Jakobson gibt mit dem Begriff der Metamorphose noch einen weiteren Hinweis, wie er das Konzept verstanden wissen will. Dies steht auch in Einklang mit seinen Textbeispielen, die für ihn allesamt die Metamorphose von unbelebten Dingen in Belebtes exemplifizieren. Wichtig ist, dass immer von einer Entfaltung in der Zeit die Rede ist. Entfaltung ist für Jakobson eindeutig temporal bestimmt, und dieser Umstand deutet darauf hin, dass er ihn nicht speziell auf rein semantische Operationen anwendet, sondern auf narrative Strukturen im weitesten Sinne. _________

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und gerade im Sinne der Formalisten eine wahrnehmungsästhetische Kategorie ist (so dass eine realisierte Trope zu der einen Zeit als verfremdet, zu einer anderen Zeit schon als gewöhnlich und vertraut rezipiert wird), ist Realisierung hier bei Jakobson eine objektive Kategorie, die vom Rezipienten unabhängig existiert und poetische Fakten im Sinne von textuell exemplifizierten Verfahren betrifft, unabhängig davon, ob diese als verfremdet wahrgenommen werden oder nicht. Der Begriff des Parallelismus geht in der russischen Tradition auf Veselovskij zurück. Vgl. z. B. Gorskij 1989, 27. Für das Folgende vgl. Jakobson 1921, 44.

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Nicht umsonst schreibt er in dem vorletzten Zitat mit Bezug auf Realisierungen auch von „Sujetkonstruktion“ und gibt auch Prosabeispiele für Realisierungen. Eben dies legt nahe, razvertyvanie auch in Jakobsons Sinne nicht allein im Kontext der „Wortkunst“ zu betrachten, sondern als Spezialfall einer Realisierung, die im allgemeinen Sinne eine temporale Struktur nach sich zieht und im besonderen (Jakobsonschen) Fall eine Metamorphose, d. h., noch spezifischer, eine Belebung von etwas lebensweltlich Unbelebtem.17 3. Und bei Viktor !klovskij Es wurde bereits gesagt, dass !klovskij nach seinem Aufsatz Der Zusammenhang zwischen den Verfahren der Sujetfügung und den allgemeinen Stilverfahren (1919) seine nächsten (1919/20 erstmals publizierten) Arbeiten zur Theorie der Prosa 1921 in einem eigenen Bändchen mit dem Titel Die Sujetentfaltung herausgebracht hat. In ihnen findet sich der Ausdruck razvertyvanie in verschiedenen Kontexten, was vermuten lässt, dass jeweils unterschiedliche Begriffe damit gemeint sind. Aber vielleicht lassen sich doch Gemeinsamkeiten feststellen. Zunächst soll der Frage nachgegangen werden, in welchem Kontext der Ausdruck razvertyvanie bei !klovskij Verwendung findet. Lässt sich aus dem Gang seiner Überlegungen etwas Konstantes gewinnen, das einen kohärenten Begriff charakterisiert? Festzuhalten ist, dass es !klovskij in Der Bau der Erzählung und des Romans (also dem ersten der Aufsätze in Die Sujetentfaltung) mehr oder weniger um klassische Erzählliteratur und einige ihrer charakteristischen Merkmale geht. Exemplarisch bezieht er sich zumeist auf die Novelle. Schon zu Beginn drückt !klovskij den Vorbehalt aus, dass er keine Bedingungen nennen kann, die ein Text erfüllen muss, um eine Novelle zu sein. Seine Formulierung ist dennoch von Interesse. Was will er mit dieser negativen Eröffnung sagen? Zunächst lässt sich feststellen, dass er in diesem ersten Absatz die Ausdrücke „Novelle“ (novella) und „Sujet“ (sju!et) überwiegend synonym gebraucht. Offenbar geht es ihm bei der Novelle um eine Gattung von Texten, die paradigmatisch für eine bestimmte Kategorie ist, die Kategorie von Erzähltexten überhaupt. Modern gesprochen, geht es ihm hier um die Frage nach der Narrativität, auf die er keine Antwort hat. Ein Bild, eine Parallele oder eine einfache Beschreibung eines Ereignisses reichen für ihn nicht aus, um den Ein_________ 17

Dass er mit seiner Verwendung von razvertyvanie (im Gegensatz zu !klovskij) eine recht präzise Vorstellung von diesem Begriff hat, geht daraus hervor, dass er viel später diese Formulierung aufgreift, ohne sie zu variieren (94).

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druck einer Novelle zu bewirken (1921a, 3).18 Trotzdem gibt er im weiteren Verlauf seiner Abhandlung Kriterien an, die Novellen seiner Meinung nach charakterisieren. Auf diese Weise ist für die Bildung einer Novelle nicht nur eine Handlung notwendig, sondern auch eine Gegenhandlung, irgendeine Inkongruenz [nesovpadenie]. (4) 19 Wenn wir keine Auflösung [razvjazka] haben, bekommen wir auch keine Empfindung für das Sujet. (6)

!klovskij bewegt sich mit diesen Kriterien in den gewohnten Bahnen der traditionellen Novellenpoetik. Doch bleiben dies vereinzelte Feststellungen. Was ihn im ersten Abschnitt eigentlich beschäftigt, ist die Frage, wann eine Novelle als „etwas Abgeschlossenes“ (!to-to zakon!ennoe) gelten kann (4). So führt er die Auflösung eines Kontrastes (also dem, was oben unter Inkongruenz verstanden wurde) als ein Beispiel für das Abschließen einer Novelle an. Diese Auflösung kann wiederum durch verschiedene untergeordnete Verfahren erreicht werden. !klovskij nennt z. B. das Lösen von Rätseln. Dies also ist der Hintergrund für das Auftreten des Entfaltungsbegriffs. Ausgehend von Kalauern und Tropen, aus denen sich Sujets entfalten lassen, bringt !klovskij den Begriff des Motivs damit in eine Reihe. Mit einem Verweis auf den früher entstandenen Aufsatz Kunst als Verfahren (1917) nennt er „die Sujets erotischer Märchen entfaltete Metaphern“.20 Und so, wie diese sich entfalten, können sich auch Motive zu einem Sujet entfalten. Was !klovskij in diesem Zusammenhang lediglich suggeriert, aber nicht ausdrücklich schreibt, ist, dass für die Entfaltung eines Motivs noch eine Gegenbewegung nötig ist, da er ja eine Inkongruenz für Novellensujets fordert. Es folgt ein Beispiel für die Entfaltung eines Kalauers. Kern dieser Beobachtung ist, dass zu einem Namen eine Geschichte entwickelt wird, die erklärt, wie es zu dem Namen gekommen ist.21 Zu den Formen, aus _________ 18 19 20

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Genauer gesagt, geht es hier wieder nicht um den Eindruck, sondern um die wahrnehmungsästhetische Kategorie des o"!u"!enie. Hier benutzt !klovskij einen Teil des klassischen Begriffspaars zavjazka/razvjazka, das dem Schürzen und Lösen eines Spannungsknotens in der deutschen Poetik entspricht. Dieser Verweis ist nicht eindeutig. In der späteren Ausgabe (Teorija prozy, 2. Auflage 1929) ganz weggelassen, findet sich hier nur ein tam #e („ebd.“), was im Rückgriff auf die vorhergehende Fußnote in Die Sujetentfaltung einen Verweis auf Der Zusammenhang… (!klovskij 1919) impliziert. Allerdings wurde Kunst als Verfahren in demselben dritten Band der Sborniki po teorii po$ti!eskogo jazyka (Po$tika) noch einmal abgedruckt, in dem Der Zusammenhang… erstmals erschien, so dass das tam #e nicht falsch ist. In jedem Fall ist das angesprochene Thema nur in Kunst als Verfahren abgehandelt, wenngleich dort der Ausdruck razvertyvanie keinen prominenten Ort hat bzw. gar nicht vorkommt. !klovskijs Beispiel ist das des Ortsnamens Ochta, zu dem es gekommen sein soll, als Peter der Große sich auf dem Gelände des späteren Sankt Petersburger Stadtteils befand und Och! Ta! („O! Die!“) ausrief. Vgl. ebd., 5.

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denen sich Sujets entfalten können, zählt !klovskij außer Kalauern auch Prophezeiungen von Orakeln, die sich doppelte oder versteckte Bedeutungen der Wörter zunutze machen, um auf den ersten Blick unsinnige Aussagen zu treffen, die aber im Lauf der Entfaltung ihren Sinn offenbaren (1921a, 5–6). Das Motiv wird von !klovskij allerdings nicht nur als Ausgangsfigur für eine Entfaltung gedacht, sondern auch als Resultat, wenn er schreibt, dass „ein Motiv bei weitem nicht immer die Entfaltung von Sprachmaterial ist“ (5). Zum Motiv können – und hier folgt mit „ausarbeiten“ ein Synonym für „entfalten“ – auch Widersprüche in Alltagssitten werden. Im Zusammenhang damit, was !klovskij zuvor über Novellen gesagt hat, scheint in dieser sehr kryptischen Passage das Motiv als treibendes Moment der Handlung angesehen zu werden; in ihm fallen Bewegung und Gegenbewegung, von denen oben die Rede war, zusammen. Im zweiten Abschnitt erörtert !klovskij die Parallele als weiteres Charakteristikum der Novelle; sie wird aber in allen Genres angewendet und wurde von den Formalisten auch entsprechend immer wieder breit thematisiert. Hier begegnet dem Leser eine andere Verwendungsweise des Ausdrucks razvertyvanie. Entfaltet wird nun keine Handlung, sondern ein Typus. !klovskij behauptet, dass die Geschwister Rostov in Tolstojs Krieg und Frieden einen besonderen Typus entfalteten und zugleich eine Stufenkonstruktion darstellten, weil die eine Figur eine Vorstufe für die andere sei. Ebenso sei in Anna Karenina Stiva Oblonskij eine Vorstufe zu seiner Schwester Anna (14). Im dritten Abschnitt folgt nun noch eine weitere (vierte) Gebrauchsweise von razvertyvanie. !klovskij beschreibt, wie sich das Sujet von Car’ Maksimilian, einem Volksdrama, entfaltet (18).22 Doch ist hier nicht, wie man erwarten könnte, die syntagmatische Richtung des Sujets gemeint. !klovskij richtet diesmal den für ihn ungewohnten Blick aus historisch-genetischer Perspektive auf das Werk und versteht „Entfaltung“ in dem Sinne, dass der mündlich tradierte Text im Laufe der Zeit bestimmte Entwicklungen durchgemacht hat, die zur Modifizierung des Sujets geführt haben. Genau diese Entwicklung des Textes entspricht dem vierten Verständnis von razvertyvanie. Dass !klovskij diese genetische Betrachtungsweise nicht fremd ist, geht auch aus einer späteren Passage hervor, in der er sich mit Apuleius’ Goldenem Esel auseinandersetzt, für den er feststellt, dass die Binnenerzählungen zunächst selbständig gewesen sein müssen, bevor sie Teil von Apuleius’ Roman wurden (20).23 _________ 22 23

Gemeint ist offenbar Car’ Maksimian in Onu"kov 1911. !klovskij geht nicht näher darauf ein und lässt somit die komplizierte Textgeschichte der Abenteuer des Lucius außer Acht.

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Zählt man die unterschiedlichen Gebrauchsweisen gebündelt auf, kommt man zu folgender Liste: 1. Entfaltung von Wortmaterial (Metaphern, Kalauer) und Motiven, 2. Entfaltung zu einem Motiv, 3. Entfaltung eines Typus (einer Figurenreihe), 4. Entfaltung eines Sujets im Verlauf mündlicher Tradierung. Obwohl der Band Die Sujetentfaltung heißt, ist eine systematisch kohärente oder spezifische Verwendungsweise des Entfaltungsbegriffs also nicht eindeutig auszumachen. Dass !klovskij darunter aber dennoch einen bestimmten Aspekt der Theorie der Prosa verstanden hat, wird in einem Aufsatz deutlicher, den er kurze Zeit später verfasst hat.24 In seiner Arbeit Der parodistische Roman. Sternes „Tristram Shandy“ widmet !klovskij explizit einige Seiten dem Thema des razvertyvanie und markiert diesen Abschnitt deutlich (1921b, 252–263), wobei er später auch weiterhin Gebrauch von dem Begriff macht. Außerdem stellt er seiner Erörterung des Themas eine Anspielung auf den früher entstandenen Aufsatz über den Don Quijote voran, was die thematische Einheit, die der Begriff in sich fassen soll, zusätzlich unterstreicht (250). Razvertyvanie geschieht für !klovskij im Tristram Shandy auf charakteristische Weise, und zwar geht es um das Einflechten oder Einbringen von „Material“, d. h. um das Einbetten von Sekundärgeschichten in die Haupthandlung, für das er in seinem Aufsatz über den Don Quijote einige Verfahren namhaft gemacht hat. Genau diese kanonisierten Verfahren geben nach !klovskij die Folie ab, vor deren Hintergrund Sterne geschrieben hat. Und sie bilden zugleich diejenige Tradition, die Sterne parodiert. Auffällig bei !klovskijs Verwendungsweise des Ausdrucks „razvertyvanie“ ist, dass er ihn einerseits im Zusammenhang mit material gebraucht und ihn damit auf die Fabelebene bezieht (1921b, 254). Andererseits macht er aber auch sju!et zum Gegenstand des razvertyvanie.25 Gerade in dieser nicht eindeutigen Beziehung des Entfaltungsbegriffs auf die beiden Ebenen von Fabel und Sujet besteht das Problem, den Begriff genauer zu bestimmen. Nimmt man aber alle Textstellen zusammen, kommt man rasch zu dem Schluss, dass der eigentliche Gegenstand einer Entfaltung das Fabelmaterial sein muss. Was entfaltet wird, ist für !klovskij immer Inhalt, ästhetisch neutrales „Material“, das in einen Text Eingang findet und dort „sich unter dem Druck des Sujets _________ 24

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Erstmals im vierten Band der Sborniki po teorii po"ti#eskogo jazyka (1921) mit dem ursprünglichen Titel „Tristram Shandy“ Sterna i teorija romana (Sternes „Tristram Shandy“ und die Theorie des Romans). Vgl. Sheldon 1977, 7. Vgl. allein den Titel Razvertyvanie sju!eta und die Formulierungen in Das Sujet bei Dostoevskij (1921c, 5).

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befindet“ (ebd.).26 Ergebnis einer Entfaltung ist dann freilich ein Sujet. Offen bleibt hingegen die Frage, in welchem Verhältnis das Sujet als Ergebnis einer Entfaltung zum Inhalt der Entfaltung eigentlich steht. Das zentrale Verfahren der Entfaltung im Tristram Shandy ist nach !klovskijs Interpretation das der Abschweifung (otstuplenie, otklonenie). Die Tatsache, dass im Tristram Shandy während einer Abschweifung immer wieder an die abgebrochene Szene erinnert wird, nennt !klovskij „Hyperbolisierung“ (giperboli!nost’, 254) bzw. auch „Überbetonung“ (utrirovanie, 256) der Entfaltung. Eben darin besteht die Entblößung des Verfahrens. Etwas später folgt eine Formulierung, in der !klovskij offenbar als synonyme Variante für razvertyvanie den Ausdruck osu"!estvlenie (Realisierung) benutzt (268). Es ist hier die Rede von Motiven, die im Verlauf des Romans von Zeit zu Zeit Erwähnung finden, ohne aber entfaltet bzw. realisiert zu werden. Im Umkehrschluss heißt dies, dass eine Entfaltung dann zustande kommt, wenn das Motiv selbst zum Gegenstand bzw. Anlass oder Thema einer Episode wird und – vermutlich – nicht isoliert erwähnt wird, sondern in mannigfacher Beziehung zu anderen Gegenständen steht. Im gegebenen Zusammenhang haben aber auch nicht entfaltete Motive für !klovskij eine Funktion: Sie verbinden Episoden miteinander. Später taucht die Parallelsetzung von Realisierung und Entfaltung noch einmal auf (286). Hier geht es um die Realisierung (diesmal realizacija) von Metaphern. !klovskij beobachtet bei Sterne, dass dieser den Ausdruck „Steckenpferd“ humoristisch verwendet, als sei damit ein richtiges Pferd gemeint. Im selben Absatz ist auch vom Entfalten (razvertyvanie) einer (anderen) Metapher die Rede, was zeigt, dass !klovskij die Ausdrücke als gegeneinander austauschbar ansieht.27 Deutlich ist auch der Zusammenhang zwischen dem Begriff der motivirovka und des razvertyvanie. Denn was nach !klovskij entfaltet wird, also das Ausgangsprodukt einer Entfaltung, ist häufig zugleich auch die Motivierung für das, was folgt, also das, was im Verlauf einer Entfaltung entsteht (280). Im gegebenen Fall gibt die Erwähnung von Bobby Shandys Tod den Anlass dafür, etwas zu entfalten, d. h. die Erwähnung des Todes motiviert die Einschaltung eines von der Haupthandlung _________ 26

27

So auch in Wie der Don Quijote gemacht ist: „Die Figurenrede ist ein Mittel der Sujetentfaltung, in ihr wird neues Material eingebracht. Das heißt, die Rede ist ursprünglich nur die Motivierung dieses Einbringens“ (1921a, 23). Hier benutzt !klovskij das Verb „entfalten“ ironisch auch für seine eigene Abhandlung. Er wolle seine eigene Arbeit nicht durch parallele Zitate entfalten. Daraus geht ebenfalls hervor, dass Entfaltung für ihn hauptsächlich das Einbringen von Material bedeutet – das Ausbreiten von Inhalt, sozusagen. !klovskijs Werk als Entfaltung beschreibt Hennig 2002.

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getrennten Textes (in diesem Fall eines Auszugs aus dem Trostbrief des Servius Sulpicius an Cicero). Erotische Verfremdung ist für !klovskij auch Material von Entfaltungen. Eine Entfaltung scheint in diesem Kontext die ausgedehnte Umschreibung selbst zu sein, die erforderlich ist, wenn man die Dinge nicht beim Namen nennen möchte (282). Somit lässt sich feststellen, dass !klovskij den Ausdruck razvertyvanie besonders in den frühesten der hier erörterten Texte noch vollkommen unspezifisch gebraucht. In dem zuerst publizierten Abschnitt von Der Bau der Erzählung und des Romans (über den Parallelismus im Werk Tolstojs) wird unter razvertyvanie die Darstellung eines Typus verstanden, den literarische Figuren im Sinne einer stufenförmigen Entwicklung konstituieren. Darüber hinaus gebraucht !klovskij diesen Ausdruck in dem Abschnitt in einem anderen, terminologisch neutralen Kontext. Und zwar entfalte Tolstoj ein Detail, genauer, das „Detail eines kauenden feuchten Mundes“ und lenke damit die Aufmerksamkeit des Lesers darauf (1921a, 11). Hier steht Entfaltung für eine besondere Art der Beschreibung oder Umschreibung, die einen Zusammenhang mit dem Prinzip der Verfremdung herstellt und sich auf derselben neutralen Ebene befindet wie die verfremdete Umschreibung von Geschlechtsteilen. Nicht auf die Beschreibung oder Entfaltung (= was?) kommt es an, sondern auf die Verfremdung (= wie?). Auch die anderen Textstellen in Der Bau der Erzählung und des Romans weisen nur isolierte Verwendungsweisen von razvertyvanie auf, die in der oben zusammengestellten Liste aufgeführt sind. Doch gerade weil jede Verwendungsweise nur einmal belegt ist, lässt sich dem Ausdruck kein spezifischer Begriff zuordnen. Erst in den daraufhin publizierten Texten !klovskijs zeichnet sich eine konstante Verwendungsweise ab, die zudem in einem bestimmten Kontext zu sehen ist. Dieser Kontext besteht in der Begriffsgruppe sju!et, fabula, motivirovka, vvod materiala und ist bereits in dem Aufsatz Wie der Don Quijote gemacht ist erkennbar, dem zweiten, in Die Sujetentfaltung wieder abgedruckten Essay. Am deutlichsten umrissen jedoch ist dieser Begriff in der Arbeit über Sternes Tristram Shandy, wo er im Grunde das Einbringen von Material (von dem „Was“ einer Geschichte) bezeichnet. In späteren Texten !klovskijs begegnet man dem Ausdruck ebenfalls, dort aber wiederum in einer sehr unspezifischen Gebrauchsweise, so in der Textsammlung Gamburgskij s"et (1928).28 Somit darf als Ergeb_________ 28

Vgl. !klovskij 1928 (auf die Seitenzahlen folgt in Parenthese der jeweilige Kontext): 27 (neue Verfahren an altem Material), 89 (schreibend ein Thema entfalten), 93 (Sujetentfaltung/Deformation), 110 (Entfaltung von Gattungen), 171 (Entfaltung im Film).

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nis dieses Abschnitts festgehalten werden, dass !klovskij das razvertyvanie als Phänomen der Fabelebene betrachtet. Es ist ein sekundäres Phänomen, das in der Konzeption !klovskijs fast nur die Funktion hat, Verfahren sichtbar zu machen. (Zugleich ist es ein notwendiges Phänomen, denn ohne es gäbe es ja auch keine Verfahren.) Am Beginn einer Entfaltung steht zumeist eine Motivierung, d. h. eine Begründung, warum jetzt in einer Geschichte etwas Bestimmtes passiert. So verstanden, markiert der Begriff der Entfaltung den Prozess des Entfaltens einer Geschichte. Dass !klovskij dennoch auch von Sujetentfaltung schreibt, hängt damit zusammen, dass nicht immer klar ist, ob er von dem Prozess oder dessen Ergebnis spricht. Letzten Endes ist nach !klovskij immer ein Sujet das Ergebnis. Eine Entfaltung wirkt lediglich mittelbar auf das Sujet ein. Das heißt, eine Entfaltung (im Sinne eines Ergebnisses) eines Sujets impliziert nach !klovskij die „Einfuhr“ von Fabelmaterial (Entfaltung im Sinne eines Prozesses).29 !klovskijs originelle Perspektive ist dabei, dass es bestimmte Sujetverfahren sind, die die Entfaltung von Fabelmaterial bedingen bzw. deformieren. Das heißt, dass nicht die Entfaltung das Sujet bestimmt, sondern das Sujet die Entfaltung. Doch stellt !klovskij dies nicht so pointiert einander gegenüber. Dieser Punkt wird vielmehr in einem anderen Kontext deutlich. Als Beispiel nennt er die Figur des Don Quijote, die zunächst von Cervantes als dümmlich charakterisiert werde, dann aber unter dem Druck des Sujets sich verändere (1921a, 24, 34). Im Verlauf des Werks werde zwar die ursprüngliche Charakterisierung beibehalten und jeweils aktualisiert. Doch würden der Figur immer häufiger weise Reden in den Mund gelegt, Material also, das unter dem Sujetdruck eine spezifische Entfaltung erfahre, indem Weisheit die Figurengestaltung ergänze. Es ist wohl gerade diese Idee, von der sich Aage Hansen-Löve bei seinem Rekonstruktionsversuch des Entfaltungsbegriffs leiten ließ. Doch vor der Erörterung dieser Variante sei noch ein alternatives Entfaltungskonzept vorgestellt, das ebenfalls aus den zwanziger Jahren stammt.

4. Entfaltung eines Gesamtwerks In einem lange unveröffentlichten Text hat Aleksandr Reformatskij eine eigene Art von Entfaltungstheorie entwickelt, ohne allerdings dem Ausdruck „razvertyvanie“ eine terminologische Funktion zuzuweisen. Wie in dem in diesem Band folgenden Beitrag über die Kompositionstheorie _________ 29

Darum nennt er „Beschreibungen und psychologische Analysen“ auch „das Sujet entfaltendes Material“, das „die Handlung bremst“ (1921c, 5).

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erörtert, hatte Reformatskij Gemeinsamkeiten sowohl mit den Petersburger Formalisten um Viktor !klovskij als auch mit der teilweise philosophisch inspirierten Literaturwissenschaft an der Staatlichen Akademie der Kunstwissenschaften in Moskau (GAChN). Dies zeigt sich beispielhaft in dem Text Struktura sju!eta u L. Tolstogo („Die Struktur des Sujets bei L. Tolstoj“) von 1928. Dort orientiert er einerseits seine Terminologie im Fabel-Sujet-Kontext nicht an Petrovskij, sondern benutzt !klovskijs Bezeichnungsweise. Andererseits führt Reformatskij für seine Überlegungen den Strukturbegriff ein, der vermutlich auf Gustav !pet zurückgeht, wie er überhaupt seinen Beitrag in einen ästhetischen Kontext eingliedert, der an !pet erinnert; auf ihn beruft er sich auch explizit. Der Umstand, dass Reformatskij hier viel mit den Tagebüchern Tolstojs arbeitet, erinnert zudem an Boris "jchenbaums Buch Der junge Tolstoj (Molodoj Tolstoj; 1922), auf das er sich ebenfalls bezieht (1928/87, 214). Interessant ist sein Ansatz, die Fabel-Sujet-Dichotomie zu einem Schichtenmodell zu erweitern. Ähnlich wie Petrovskij geht Reformatskij von einer außerpoetischen (-literarischen) Wirklichkeit aus, von der die Wirklichkeit des Kunstwerks prinzipiell zu trennen ist (180).30 Aus dieser außerliterarischen Wirklichkeit wird etwas ausgewählt, und es entsteht eine Fabel (fabula). Nach Reformatskij liegt auch diese Ebene noch außerhalb des Kunstwerks. Auch wenn mit dem Auswahlprozess schon ein Eingriff stattgefunden hat, gibt die Fabel für Reformatskij lediglich den Stoff ab, aus dem ein Kunstwerk entsteht. Erst durch die „Transponierung“ in eine andere Wirklichkeit erlangt die Fabel einen künstlerischen Status und wird Sujet. Doch ist Reformatskij damit noch nicht zu Ende. Er fragt nun, über !klovskij hinausgehend, was eigentlich ein Sujet vom literarischen Kunstwerk noch unterscheiden kann, und antwortet, dass auf ein und dasselbe Sujet mehrere literarische Kunstwerke kommen können. Als Beispiel verweist er auf Faust, das für ihn ein Sujet darstellt (ebd.). Das Sujet ist ihm zufolge nur eine Zwischenstufe auf dem Weg der Konkretisation (konkretizacija), an deren Ende sich die kompositionelle und stilistische Ausarbeitung befindet. Die eigentliche Pointe von Reformatskijs Modell besteht jedoch in der Aufspaltung des Strukturbegriffs. Als immanente Sujetstruktur bestimmt Reformatskij im Folgenden solche Strukturen, die sich nach der realen Welt richten. Ausdrücklich geht es ihm dabei nicht um Welten, die dem realistischen Paradigma unterliegen, sondern auch um phantas_________ 30

Vgl. Petrovskij 1925, 175. Petrovskij setzt einen etwas anderen Akzent. Für ihn ist die vorpoetische Materie trotzdem vorgeformt, und zwar raumzeitlich vorgeformt, und dies geht in das Kunstwerk ein. Reformatskij dagegen betont den anderen ontologischen Status der fiktiven Welt gegenüber der Realität.

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tische Welten (181). Die immanente Sujetstruktur ist dadurch bestimmt, dass die Thematik das Sujet implizit enthält. Die kompositionelle Ausarbeitung macht lediglich explizit, was im Sujet immanent angelegt ist, also in der Wahl des bereits vorstrukturierten Themas. Dagegen ist die transzendentale Sujetstruktur eine Struktur, die von der fiktiven Gegenstandsebene unabhängig ist und das Sujet durch „Gegenüberstellung, Analogie, Beweis, Klassifikation oder dialektische Vorannahme“ determiniert (182). Mit dieser Differenzierung hat Reformatskij nicht im Auge, dass die Präsentation einer Geschichte anderen Gesetzen folgt als die Begebenheit in der realen Welt. Die Frage der Struktur ist für ihn unabhängig von der Frage, ob die Präsentation exakt den Ereignissen folgt, wie sie sich in der realen Welt abspielen würden, oder ob sie durch Umstellungen manipuliert ist. Mit der transzendentalen Struktur ist dagegen eine Präsentationsweise gemeint, die anderen Gesetzen folgt. Das Gesamtsujet ergibt sich nicht aus der Folgerichtigkeit der Begebenheiten, sondern aus der Auswahl von Ereignissen, die nichts miteinander zu tun haben müssen – außer dass die Auswahl meist auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen ist, indem die ausgewählten, aber voneinander unabhängigen Ereignisse ein Element miteinander teilen. (Reformatskij scheint hier an den Parallelismusbegriff zu denken.) Als Beispiel erwähnt er Tolstojs Erzählung Drei Tode (1859), in der drei Ereignisse nebeneinander gestellt werden, ohne dass diese Zusammenstellung (in der fiktiven Welt) kausal motiviert wäre.31 Reformatskij sieht das Ziel seiner Arbeit in der Untersuchung dazu, wie sich in Tolstojs Werk immanente und transzendente Struktur zueinander verhalten. Ergebnis ist, dass auch in jenen als unvollendet geltenden Werken (unvollendet, weil die immanente Struktur offen geblieben ist) eine geschlossene transzendente Struktur zu finden ist. Für Tolstojs frühe Werke Kindheit, Knabenjahre und Jugend (1854– 57) stellt Reformatskij fest, dass sie weder Anfang noch Ende im Sinne eines biographischen Romans haben. Ihr einigendes Band bestehe in den wechselnden Perspektiven auf dieselben Gegenstände, sowohl auf die Personen, die den Helden umgeben, als auch auf Gefühle (183). Reformatskij stellt zudem klar, dass Nikolen’ka selbst gar nicht ein „Held“ genannt werden kann, da die biographischen Erlebnisse nicht im Vordergrund stehen (ebd.). Für Reformatskij gibt der Unterschied, den _________ 31

Reformatskijs Arbeit fußt auf dem doppelten Strukturbegriff. Nach Lektüre seines Aufsatzes kann man sagen, dass er damit die Fabel-Sujet-Dichotomie eigentlich nur wiederholt, anstatt sie zu erweitern. Dies kann als Beispiel dafür gelten, dass eine gewisse Ökonomie an Analysekategorien sich fast ganz von alleine einstellt, was man das „Prinzip der Selbstregulierung des literaturwissenschaftlichen Kategorienmarktes“ nennen könnte.

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die verschiedenen Betrachtungsweisen aus Sicht des Kindes, des Jungen und des Jugendlichen ausmachen, das „erste konstruktive Moment“ ab.32 Dieses konstruktive Moment findet Reformatskij bereits in einer frühen Tagebucheintragung Tolstojs vorgegeben (182). Und fast sein ganzes Werk gilt ihm als Entfaltung dessen, was in seinem ersten Roman Kindheit angelegt ist.33 Dieses Phänomen nennt Reformatskij im Folgenden auch – auf !klovskij anspielend und dessen Begriff der Verfremdung aufnehmend (185) – „den neuen Blick“ (novyj vzgljad), was er an einigen Beispielen aus der Trilogie (bzw. geplanten Tetralogie) erläutert (184–187). Statt besondere Ereignisse als die Sujetstruktur determinierende Faktoren zu bestimmen, macht Reformatskij folgende Invarianten ausfindig, die seiner Meinung nach Tolstojs Werk auszeichnen: den Wechsel von Glück und Unglück; eine Annahme, die sich als falsch herausstellt; die Gegenüberstellung von Negativem und Positivem; die Gegenüberstellung von Zukunft und Vergangenheit (187–189). Sie versucht er in seiner Untersuchung in allen Werken Tolstojs (mit Ausnahme der großen Romane) nachzuweisen. Zusammenfassend kann man sagen, dass es nicht die Ereignisse der Fabelebene sind, die nach Reformatskij die Besonderheit des Tolstojschen Werkes ausmachen, sondern die genannten auf einer abstrakteren Ebene gelegenen Punkte. Sie sind es, die seiner Meinung nach die spezielle Dynamik der Tolstojschen Prosa bestimmen.

5. Hansen-Löves allgemeine und spezielle Realisierungstheorie Aage Hansen-Löve hat versucht, eine in Jakobsons Text implizierte Realisierungstheorie unter Zuhilfenahme anderer formalistischer Schriften zu extrapolieren (1978, 133–146). Während man diesen ersten Versuch eine „allgemeine Realisierungstheorie“ nennen könnte, ließe sich jene Theorie, die von ihm in einer späteren, ganz dem Realisierungsbegriff gewidmeten Publikation (1982) vorgestellt wird, als „spezielle Realisierungstheorie“ bezeichnen. Charakteristisch für Hansen-Löves allgemeine Realisierungstheorie ist ihre Dreistufigkeit (während die spezielle aus zwei Realisierungsschritten besteht). Dies ist offenbar nicht so zu verstehen, dass jeder _________ 32 33

Hier spielt Reformatskij vermutlich auf Tynjanovs Begriff des konstruktiven Faktors an und wendet ihn auf Prosawerke an. Reformatskij benutzt hier nicht den Ausdruck razvertyvanie, gleichwohl handelt es sich um einen sehr ähnlichen Gedanken, denn ihm zufolge „enthält Detstvo fast alle für den künftigen Tolstoj möglichen strukturellen Sujetkombinationen“ (183). Vgl. auch 189.

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Realisierungsprozess notwendigerweise diese drei Stufen nehmen müsse, obwohl Hansen-Löve zu Beginn des Abschnitts postuliert, dass „der poetische Text [den Realisierungsprozess] auf all seinen konstruktiven Ebenen in jeweils spezifischer Weise verkörpert“ (1978, 133). Dennoch tauchen die von Hansen-Löve explizierten Realisierungsstufen auch in seinem Verständnis nicht notwendigerweise zusammen auf.34 Die erste Stufe besteht in der sog. poetischen Etymologie bzw. dem Gebrauch von Kalauern in poetischen Texten. Mit einem Kalauer werden bestimmte sprachliche Elemente wiederholt; es wird mit einem Kalauer Bezug genommen auf eine bestimmte sprachliche Erscheinung, deren Charakteristika beibehalten und zugleich in bestimmtem Umfang abgewandelt werden. Die Aufmerksamkeit des Rezipienten wird von der Dingebene auf die Sprachebene gezogen, von der Ebene des Ausgedrückten auf die Ebene des Ausdrucks.35 Nach Hansen-Löve determiniert auf der ersten Realisierungsstufe die lautliche Ebene die semantische Ebene (136). Auf der zweiten Stufe jedoch ist die Determination innerhalb des Semantischen zu suchen (ebd.). Beispielhaft hierfür sind nicht mehr Kalauer, sondern Metaphern, die als solche kenntlich gemacht sind, dadurch dass eine Metapher z. B. im Sinne der ursprünglichen Wortbedeutung verwendet wird. Die dritte Stufe betrifft die Realisierung „auf der Sujetebene“ (137). Hierunter fällt bei Hansen-Löve zunächst in etwa das, was bei Jakobson „Entfaltung in der Zeit“ hieß. Das Sujet wird in diesem Fall als temporale Struktur determiniert durch den Ausbau einer Metapher (eine Entfaltung eben). Entsprechend dem Jakobsonschen Entwurf nennt Hansen-Löve als beispielhaften Fall die Metamorphose, d. h. eine Metamorphose im engeren Sinn, nämlich wenn etwas Unbelebtes belebt wird. Hansen-Löve weitet dieses Spektrum noch aus, indem er die „Personifizierung“ und die „Realisierung der Sujet- und Zeitinversion“ als weitere Fälle beschreibt (143–146). Die spezielle Realisierungstheorie Hansen-Löves ist in ihren wesentlichen Zügen folgendermaßen beschaffen: Sie weist dem Realisierungsbegriff einen präziseren, aber auch engeren Skopus zu, wie HansenLöve an einem paradigmatischen Fall aufzeigt, und setzt ihn mit dem Begriff der Entfaltung letztlich gleich. In einem Majakovskij-Gedicht _________ 34

35

Dass Hansen-Löve dies selbst genauso sieht, geht aus der folgenden Formulierung hervor: „In Jakobsons Chlebnikov-Studie sind die Verfahren der II. Realisierungsstufe nicht klar von jenen der I. Stufe unterschieden, wohl deshalb, weil beide in der poetischen Praxis zumeist kombiniert auftreten […]“ (1978, 135). Diese Formulierung impliziert, dass es nach Hansen-Löve durchaus Fälle gibt, in denen die eine Stufe genommen wird, die andere aber nicht. Und dies steht im Gegensatz zu der im Haupttext angeführten Äußerung. In Hansen-Löves Worten: „[…] die Sprach-Fakten werden als Sach-Fakten behandelt und deformieren damit jene empirisch-logischen Kategorien, die in der praktischen Kommunikation die ‚semantische Ebene‘ dominieren“ (133).

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besteht die Entfaltung einer Redensart darin, dass sie wörtlich genommen wird („aus einer Fliege einen Elefanten machen“). Hansen-Löve nennt diesen ersten Realisierungsschritt „Reduktion“. Der zweite Schritt besteht sodann in der Einbettung in einen eigenen Kontext (1982, 197). Im gegebenen Fall besteht dieser darin, dass die Bourgeoisie aus einer Fliege einen Elefanten macht und danach das Elfenbein verkauft. In diesem Sinn liegt nach Hansen-Löve auch Gogol’s Roman Die toten Seelen eine Wendung zugrunde, deren semantisches Potential im Verlauf des Romans entfaltet wird (199). Wenn man Wortkunst mit Poesie und Erzählkunst mit Prosa cum grano salis identifiziert, dann erörtert Hansen-Löve die Kategorie der Entfaltung zunächst für die Sphäre der Poesie (1982, 203–218). Wesentlich für die Entfaltung eines semantischen Potentials in der Poesie ist für Hansen-Löve dabei, dass, vereinfacht gesagt, die Wörter die Dinge hervorrufen – und nicht umgekehrt die Dingvorstellungen die Wortvorstellungen, wie in der Erzählkunst, der Rhetorik und in der Alltagskommunikation (203). Es ist wiederum das Wörtlichnehmen von bestimmten Redensarten, Metaphern und dergleichen, das diesen Prozess bestimmt. Wie bestimmt Hansen-Löve den Entfaltungsbegriff für die Prosa? Bedeutet razvertyvanie im Bereich der Prosa dasselbe, und ist der Begriff als Verfahren nur untergeordnet? Oder bedeutet er etwas anderes, d. h. gibt es einen Begriff poetischer Entfaltung und einen anderen Begriff narrativer Entfaltung? Grundlage von Hansen-Löves Modellierung ist die Aufspaltung des Entfaltungsbegriffs in Entfaltung in der Wortkunst und Entfaltung in der Erzählkunst.36 In der Wortkunst sei dieses Verfahren „das zentrale textgenerative Prinzip“, das „alle anderen, ebenso vorhandenen Textverfahren konstruktiv unterordnet“ (1982, 218). Im Gegensatz dazu sei es in der Erzählkunst anderen Verfahren nachgeordnet (z. B. dem der Perspektivierung). Hansen-Löve geht schließlich sogar so weit, Entfaltung bzw. Realisierung der Narrativisierung gegenüberzustellen. Dabei besteht für ihn die Grenzziehung zwischen Wort- und Erzählkunst gerade in der Entscheidung darüber, ob in einem Text die Realisierungsverfahren dominieren oder eben „narrativisierende“ Verfahren (220).37 Und _________ 36

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Zu diesen Begriffen vgl. Hansen-Löve 1982, 231 f. (Anm. 24). Gehört ein Text zur Erzählkunst, so dominieren in ihm die Erzählverfahren, gehört ein anderer der Wortkunst an, sind diese (im Text) untergeordnet. Hinzufügen ließe sich, dass in der Erzählkunst die Verfahren auf die Gegenstandsebene (die Ebene der Referenz, fabula) ausgerichtet sind und sich tendenziell an dieser orientieren, während in der Wortkunst lexikalisch-semantische Verfahren dominieren. Vergleicht man nun diese Modellierung mit Jakobsons ursprünglicher Konzeption, so fällt zum einen auf, dass Hansen-Löve kurzerhand identifiziert, was bei Jakobson noch als unterschiedlich gedacht wurde, nämlich die Begriffe der Realisierung und Entfaltung. Zum

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hier lässt sich bereits eine Antwort auf die am Ende des letzten Absatzes gestellte Frage geben: Zunächst geht es Hansen-Löve um ein der Wortkunst eigenes Verfahren, das in Erzähltexten auch vorkommen kann, dann aber nur in nachgeordneter Weise. Hansen-Löve schlägt anschließend folgende Typologie von Realisierungen vor, von der nicht klar ist, ob sie allgemein in Bezug auf jegliche literarische Gattung zu verstehen ist oder ob sie nur für Prosa gelten soll. Er nennt zwei Grundtypen: die sog. Kalauerrealisierung, die aus einer „Transformation eines ‚formalen Parallelismus‘ zu einem ‚inhaltlichen‘, ‚psychologischen Parallelismus‘“ besteht sowie die „Realisierung einer semantischen Figur (Metapher, Metonymie, Oxymoron etc.)“ (1982, 222). Diese beiden Realisierungstypen sind nach Hansen-Löves Modellierung zugleich zwei Sujettypen, wobei er den ersten Typ (Kalauerrealisierung) der Wortkunst zurechnet, weil das Entfaltungsprinzip über das der „narrativ-perspektivischen ‚Entwicklung‘“ dominiere (ebd.). Entsprechend ist dieses Prinzip im anderen Sujettyp den narrativisierenden Verfahren untergeordnet. Zwar scheint er damit zwei Typen von Realisierung für die Erzählkunst vorzuschlagen; doch wiederholt er damit nur die bereits vorgestellte Dichotomie, die – entgegen der zitierten Formulierung – eigentlich nicht in zwei Realisierungstypen besteht, sondern in der unterschiedlichen Anwendung des genuin poetischen Realisierungsverfahrens als dominantes Verfahren (in den zur Wortkunst zählenden Texten, zu denen in diesem Falle eben auch bestimmte Texte kommen können, die herkömmlicherweise der Erzählkunst subsumiert werden) oder eben als nicht dominantes Verfahren (in der Erzählkunst). Die Konzeption des razvertyvanie als Verfahren, das in Erzähl- bzw. Wortkunst auf jeweils unterschiedlichen Ebenen zur Anwendung kommt, erlaubt Hansen-Löve, ein bestimmtes Phänomen theoretisch zu erfassen. Dieses Phänomen besteht im Wesentlichen darin, dass Wörter in der literarischen Kunst den Textaufbau beeinflussen können. Isoliert betrachtet, ist das Verfahren der Realisierung/Entfaltung in der Wortkunst so zu verstehen, dass durch das Entfaltungsprinzip – unabhängig von den von Hansen-Löve so genannten narrativisierenden Verfahren – Geschichten bzw. „Inhalt“ generiert wird (auch wenn wohl selten ein Text auf das Verfahren der Realisierung/Entfaltung allein festgelegt werden kann und jene „narrativisierenden“ Verfahren in unterschiedli_________ anderen entwickelt Hansen-Löve eine Opposition zwischen Realisierung und Narrativisierung, die dem Jakobsonschen Entfaltungsbegriff sogar widerspricht, da dieser sich gerade durch einen temporalen Effekt (auf welcher Ebene auch immer) auszeichnet und somit von Jakobson wenigstens ansatzweise als narrativ strukturiert gedacht wurde. Vgl. auch Hansen-Löve 1983, 1989 und 1996/99. Eine weitere Quelle ist Belyj 1934.

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chem Maße immer auch beteiligt sind). Nach Hansen-Löve wird in dem Sujettyp, in dem das Entfaltungsprinzip dominiert, „die psychologische (‚innere‘) ‚Motivation‘ der Motivverknüpfung (und -einfuhr) durch eine strukturelle (‚äußere‘) ‚Motivierung‘ der syntagmatischen Kombinatorik (positiver/negativer Parallelismus, ‚Gestuftheit‘, Reduplizierung etc.) [ersetzt bzw. deformiert]“ (223). Gemeint ist damit eben dies, dass in solchen Texten als Erzählverfahren bekannte Phänomene wie Perspektive, Handlungslogik etc. eine untergeordnete Rolle spielen. Auch Texte des anderen Sujettyps werden von Hansen-Löve als Resultate von Entfaltungen aufgefasst, obgleich sie ja nicht dem Typ der Wortkunst entsprechen: Der zweite Sujettyp (der, in dem die Verfahren der Erzählkunst dominieren) „entfaltet eine semantische Figur, in der ein Element (initial oder final) weggelassen ist und deshalb erraten werden muss […]. Diese Rätselfigur formuliert aber einen Widerspruch nicht auf der Horizontalen, als Opposition zweier antagonistischer Positionen, sondern als Verschiebung oder Substitution zweier heterogener Sememe bzw. Paradigmata selbst, die einander auf einer Vertikalen überoder untergeordnet sind; dabei gilt in der Ausgangsfigur (bzw. rhetorischen Ausgangshypothese) eines der Elemente als anwesend, das andere fehlt und ist daher zu substituieren“ (224, Hervorhebung im Orig.). Nach Hansen-Löve steht in diesem zweiten Sujettyp das, was im ersten Sujettyp durch die Wörter allererst generiert wird, bereits am Anfang der Entfaltung, nämlich ein narrativ strukturiertes Konstrukt, das ihm als „zu einer semantischen Figur ‚eingefaltete[r]‘, pragmatische[r] Widerspruch der außersprachlichen Wirklichkeit“ gilt (ebd., meine Hervorhebung). Gemeint sind damit wohl einfach solche Texte, die einem herkömmlichen, d. h. am realistischen Paradigma orientierten Erzählen verpflichtet sind. Sie betrachtet er gewissermaßen als Sekundärentfaltungen. Und in diesem Sinne macht er nun doch zwei Realisierungs/Entfaltungstypen auch für die Prosa namhaft, wobei dieser zweite gewissermaßen prosaische Typ innerhalb seiner Theorie ziemlich dunkel bleibt. Hansen-Löve setzt Realisierung/Entfaltung gegen Narrativisierung. In der diesen Beitrag abschließenden Modellierung soll gezeigt werden, wie bestimmte textuelle Vorentscheidungen – man könnte dies schlicht als Themenwahl bezeichnen – Syntagmen und damit Geschichten vorgeben. Das Phänomen der Entfaltung wird damit nicht als exklusives Mittel der Wortkunst interpretiert, sondern umgekehrt als narratives Phänomen. Entfaltet werden Syntagmen aufgrund der Semantik von als Thema gesetzten Schlüsselwörtern. Entfaltung ist somit – entgegen Hansen-Löve – ein genuin narratives Verfahren, das auch in der Wortkunst wirksam ist und in ihr gerade narrative Strukturen generiert, die

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freilich – nun ganz im Sinne Hansen-Löves – in ihr nicht dominant sind. Das Wörtlichnehmen von Kalauern zum Beispiel ist in dieser alternativen Modellierung nicht schon deswegen eine Entfaltung, weil etwas wörtlich genommen wird, sondern weil dieses Wörtlichnehmen eine kleine Geschichte generiert. (Dabei ist zu beachten, dass dies nicht intentionalistisch verstanden werden sollte: Es geht nicht darum, dass der Autor sich möglicherweise ein Thema gibt und zu schreiben anfängt.) Das Wörtlichnehmen, das Hansen-Löve als den Fall einer Realisierung/Entfaltung nennt, wäre somit nur ein Fall.

6. Die generative Poetik Jurij !"eglov und Aleksandr #olkovskij haben seit Ende der 60er Jahre in einer Unzahl von Arbeiten den Versuch unternommen, ein Modell zu entwickeln, das die Generierung von literarischen Kunstwerken beschreibt. Es kann als Unternehmen angesehen werden, das darauf abzielt, alles das auszubuchstabieren, was der Metapher der Entfaltung konzeptuell zugrunde liegt. Denn ihr Unternehmen basiert ebenfalls auf der Vorstellung, literarische Erzeugnisse als Entfaltungen aufzufassen, in diesem Falle als Entfaltungen von Themata zu Texten. In bewusster Anknüpfung an einige formalistische Überlegungen und deren strukturalistische Weiterentwicklung versucht das Autorenpaar, die Sujetwerdung von einem thematischen Kern zu einem entfalteten Sujet „unter Anwendung gewisser konstanter Regeln“ zu beschreiben (1967a, 252).38 Diese Regeln nennen die Autoren auch „Ausdrucksverfahren“ (253).39 Entfaltungs- und Themenbegriff hingegen sind deutlich an der musikwissenschaftlichen Verwendungsweise orientiert.40 Sicherlich darf dieses Modell auch als Versuch angesehen werden, eine strukturalistische Literaturbetrachtung um die so genannten inhaltlichen Aspekte des literari_________ 38

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Dass dabei auch die Idee des Sujetautomatismus aufgegriffen wird, erhellt aus folgender Formulierung: „Das Ziel der literaturwissenschaftlichen Forschungen muss also insbesondere darin bestehen, den Bau und die Arbeitsweise solcher Kunst-‚Maschinen‘ zu beschreiben, zu zeigen, wie sie ‚sich machen‘ [sobirajutsja], wobei man von der thematischen Aufgabe auszugehen hat“ (251). Daher auch die spätere Umbenennung des Modells der generativen Poetik in Po!tika vyrazitel’nosti (Poetik der Expressivität). Dem Geist der Zeit folgend, orientieren sich die Autoren an Chomskys generativer Transformationsgrammatik und deren in einigen Hinsichten analogen Dichotomie von Oberflächen- und Tiefenstruktur. Die generative Poetik beschreibt also die Derivation der Oberflächenstruktur des Sujets aus der thematischen Tiefenstruktur. Vgl. zur Aufnahme im Westen O’Toole 1975, 1978. Eine kritische Anwendung findet sich bei Smith 1978, 185–196, und Williams 1985. Vgl. die Verweise auf Lorin Maazels Arbeiten aus den 60er Jahren in #olkovskij/!"eglov 1967a, 251, sowie dies. 1993, 11.

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schen Kunstwerks in einer Weise zu erweitern, dass die methodologischen Maßstäbe des Strukturalismus gewahrt bleiben. Darin ist zugleich auch der bedeutendste Unterschied zur formalistischen Tradition zu sehen. Zwar schreibt !olkovskij (1980a, 7), dass das Thema „unausdrückbar“ sei, doch sieht er sich selbst gezwungen, dies in Anführungszeichen zu setzen. Einerseits ist darin das formalistische Bemühen um die Aufhebung der Form-Inhalt-Dichotomie wiederzuerkennen. Andererseits impliziert die Zweipoligkeit des Ausdrucksbegriffs, den !olkovskij und "#eglov zwischen Thema und Text schalten und den sie mit dem des Verfahrens verbinden, diese Dichotomie in dem Sinn, dass es etwas gibt, das vor dem Ausdruck existiert. Aber gerade der Übergang vom Unausgedrückten zum Ausgedrückten ist theoretisch kaum zu fassen. Vielleicht kann man diese Beobachtung noch weiter verallgemeinern und als generellen Unterschied zwischen russischem Formalismus und Strukturalismus ansehen: !olkovskij und "#eglov übernehmen die strukturalistische Konzeption von Sprache und übertragen sie auf die Literatur (1976, 207). Danach ist Sprache/Literatur ein Medium des Ausdrucks, das Information vermittelt. Sowohl der kreative Prozess als auch das, was Information eigentlich ist, wird irgendwo außerhalb der Sprache angesiedelt; die Sprache drückt lediglich etwas aus, was man prinzipiell auch über ein (beliebiges?) anderes Medium erreichen könnte. Diese Konzeption lässt jedoch die produktive Kraft der Sprache resp. Literatur außer Acht, die in der formalistischen Kunstbetrachtung im Gegensatz dazu noch eine erhebliche Rolle gespielt hat, gerade in dem Gedanken der Eigendynamik des Sujets. Nicht der Künstler ist es, der aus dem Reichtum seiner Seele schöpft, sondern das kreative Potential der Sujettradition, das sich immer neu variiert. Daher auch die ausdrückliche Berufung auf Skaftymov (1924), in dem in bewusster Absetzung vom formalistischen Ansatz die Genese von Dostoevskijs Roman Idiot aus der Themensetzung erklärt wird (vgl. "#eglov 1968/92, 96 [engl. Übers.: "#eglov 1975]). Einen weiteren Einfluss auf ihre eigene Konzeption erkennen !olkovskij und "#eglov in $jzen%tejns Kunst- und Filmtheorie, vor allem in der Idee, „Kunst als Ausdrucksmittel […] sowie als ‚Verstärkung der Emotionen‘“ zu begreifen (1967a, 245). Wichtig ist also auch der rezeptionstheoretische Aspekt, dem $jzen%tejn große Bedeutung zugemessen hat.41 Im systematischen Charakter macht sich zudem der Einfluss Propps geltend, wie die Autoren selbst unterstreichen (242–245).42 _________ 41

Vgl. ausführlich zu $jzen%tejns generativer Poetik !olkovskij 1970 sowie !olkovskij/ "#eglov 1967b. Einen Überblick, der auch die Entwicklung der „Poetik der Expressivität“ einschließt und diese mit Wolfgang Isers Rezeptionsästhetik vergleicht, bietet "#eglov 1989. Stärker noch als 1967 betonen die Autoren die rezeptionstheoretische Ausrichtung

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Anspruch des Modells ist, dass man mit einem vollständigen Apparat von Ausdrucksverfahren jeden beliebigen Text generieren kann. Entsprechend sind die Verfahren hierarchisiert angeordnet. Die Autoren sprechen von „Annäherungen“ (255–260), also verschiedenen Ebenen, auf denen man aufgrund der Anwendung der Ausdrucksverfahren auf das Thema dem finalen Text näher und näher kommt. In der Anwendung der fundamentalen Verfahren wird zunächst eine grobe Annäherung an den Text von der Themaseite erlangt.43 In weiteren Annäherungsschritten werden dann weitere, immer spezifischere Verfahren angewendet, die ein immer differenzierteres Bild ergeben – bis man schließlich beim fertigen Text des analysierten Werks anlangt (1967a, 261). Dies kann man so verstehen, als präsentierten die Autoren mit ihrem Modell ein System von Algorithmen, das einen ganz bestimmten Text so und nicht anders generiert; als würde behauptet, dass ein Verfahren ein anderes mit Notwendigkeit nach sich ziehe. Doch gehen die Autoren davon aus, dass jede Stufe eine Bandbreite von Varianten zulässt, von denen eine auszuwählen ist. Nach welchen Prinzipien diese Auswahl dann aber erfolgt, lassen sie im Dunkeln. Das Modell wird als Text-, genauer, als Sujetautomat angesehen, mit dessen Hilfe Imitate derjenigen Werke erzeugt werden können, aus denen die gegebenen Verfahren isoliert wurden (263). Das Modell der Poetik der Expressivität setzt sich aus mehreren Ebenen zusammen, die für eine kurze Einführung im Folgenden vorgestellt werden sollen. Auf der ersten Ebene befinden sich die Grundbe– griffe des Modells und seine allgemeine Zielsetzung. Dazu gehören in erster Linie jene Begriffe, die die Grundverankerung des Theoriegerüsts darstellen: Thema, Ausdrucksverfahren und Text. Diese kann man jeweils problematisieren, und die Autoren haben auch in einer Reihe von _________

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im Rückblick (!olkovskij/"#eglov 1993, 12). In diesem Zusammenhang berufen sie sich wie in vielen anderen Publikationen gerne auf Tolstojs Überzeugung, dass eine Aufgabe der Kunst darin bestehe, die Rezipienten mit „Gefühlen anzustecken“ (vgl. Lev Tolstojs Was ist Kunst? [1898]). Dies betrifft vor allem die systematische Ausarbeitung, wobei sie Propps „Deskriptivismus“ kritisch einschätzen und "klovskijs Wahrnehmungsästhetik lobend dagegen abheben (1967a, 245), letzterem aber zugleich das Verdienst zuschreiben, der eigentliche Begründer der funktionalen Betrachtungsweise zu sein. Vgl. ihren Verweis auf den Artikel Novella tajn (in: "klovskij 1925/29, 125–142), in dem "klovskij für die Sherlock-Holmes-Erzählungen invariante Momente annehme, die in jeder Geschichte nur unterschiedlich realisiert seien (242). Vgl. auch "#eglov 1989, 310 (Anm. 7). Thema kann nicht nur ein fiktiver oder realer Sachverhalt sein, sondern auch ein sprachliches Phänomen wie smech (Lachen) in Chlebnikovs Zakljatie smechom (s. auch oben, Anm. 10). Vgl. Gasparov 1996, 7. Vgl. auch die kurze Aufzählung von Thementypen in !olkovskij/"#eglov 1993, 18. Grundsätzlich aber geht das Autorenpaar von den zwei von Gasparov genannten Themenklassen (Referenten und Referenzobjekte) aus, die in literarischen Werken gewöhnlich gemischt vorkommen (!olkovskij/"#eglov 1976b, 292).

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Publikationen versucht, die theoretische Grundlage herauszuarbeiten. Für die Zwecke des vorliegenden Beitrags ist es nicht nötig, darauf im Einzelnen einzugehen. Das System der Ausdrucksverfahren bildet die umfangreichste Ebene und ist in sich unterteilt in einige wenige Elementarverfahren auf der einen Seite und ihre Subkategorien und Kombinationen auf der anderen. Um eine reine Auflistung zu vermeiden, wird ein einziges Verfahren betrachtet. Dies kann man abstrakt als Algorithmus formulieren. Man kann es aber auch in der Anwendung auf einen literarischen Text präsentieren. Diese Anwendung stellt auch die nächste Ebene des Modells dar. Sich gegen die Kritik der Vereinfachung und des Reduktionismus verwahrend, bestimmt !"eglov den Begriff des Themas in Abgrenzung zu einem Verständnis, wonach ein Thema identisch mit dem aus einem Text zu abstrahierenden Inhaltskonzentrat ist (1989, 29).44 Die generative Poetik betrifft nicht allein genuin narrative Texte. So hat #olkovskij mit diesem Modell z. B. auch ein bon mot von Bertrand Russell untersucht (#olkovskij 1980b). Zur Illustration der Poetik der Ausdruckskraft wird im Folgenden ein Ausdrucksverfahren betrachtet, das ein untergeordnetes Verfahren innerhalb des gesamten Systems darstellt. Die Autoren haben es predvestie genannt, das hier mit „Vorwegnahme“ übersetzt wird.45 Innerhalb der Hierarchie der Ausdrucksverfahren ist die Vorwegnahme eine Subkategorie der Vorbereitung (russ. poda!a, engl. preparation), die folgendermaßen definiert wird: […] the substitution for X of a pair (or a sequence) of elements so that a ‚reduced‘ version of X (or several such versions) precedes the appearance of X proper. (!olkovskij/!"eglov 1976, 226)

Neben diesem Ausdrucksverfahren haben die Autoren noch in den 70er Jahren neun weitere elementare Verfahren isoliert, die die Grundausstattung der Poetik der Expressivität darstellen. Dazu zählen des Weiteren u. a. Konkretisation, Wiederholung, Variation, Kontrast.46 Als Beispiel für eine Vorbereitung des Themas Reiter (X) geben #olkovskij/!"eglov die Textrealisierung „öder Weg (preX), dann Reiter auf dem Weg“ an (1980, 16). _________ 44 45 46

Vgl. dazu ferner #olkovskij/!"eglov 1971 (engl. Version 1975b), 1975a, 1976a, 208–16. In den englischen Publikationen wird dieses Verfahren presage genannt. Vgl. #olkovskij/!"eglov 1976a, 227. Vgl. die Liste mit Definitionen in 1976a, 225–227, und 1980, 13–17. Es wird hier darauf verzichtet, auf diese Definitionen weiter einzugehen. Erwähnt sei freilich, dass die Abgrenzung der einzelnen Ausdrucksverfahren voneinander nicht immer präzise genug ist, um zu verstehen, was das eine Verfahren vom anderen unterscheidet. Z. B. liegen die Verfahren der Variation und Wiederholung sehr nahe beieinander. Vgl. die Kritik bei Williams 1985, 69.

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Die Vorbereitung kann nun nach !olkovskij/"#eglov auf mehrere Arten und Weisen realisiert sein, und zwar in drei Subkategorien. Diese Subkategorien haben gemeinsam, dass das vorbereitende Element preX zeitlich vorgeordnet ist und dass es nicht identisch mit X ist, sondern ihm an Bedeutung untergeordnet. Vom Standpunkt der Rezeption lassen sich zwei Möglichkeiten in Bezug auf das Verhältnis von preX und X unterscheiden: die progressive und die regressive Verknüpfung von preX und X. Progressiv ist die Rezeption, wenn mit preX eine Erwartung von X aufgebaut wird, und regressiv, wenn erst mit dem Eintreten von X der vorbereitende Charakter des Elements preX erkennbar wird. Am unspezifischsten der drei Subkategorien der Vorbereitung ist das untergeordnete Verfahren der Präsentation (russ. prepodnesenie, engl. presentation). PreX wird als Abwesenheit von X bestimmt, als Nullposition. Typisch ist dieses Verfahren für Geschichten, in denen sich am Anfang einige Leute zu einer Gruppe konstituieren (1980, 18), sozusagen aus dem Nichts. Die nächste Subkategorie der Vorbereitung ist die Absage (russ. otkaz, engl. recoil). Als Beispiel dient hier eine Szene aus Shakespeares Henry IV., in der der König die Höflinge aus dem Saal schickt, um mit dem Prinzen unter vier Augen sprechen zu können. Der Position preX entspricht in der Absage die Position antiX, worin auch das Ausdrucksverfahren Kontrast involviert ist (Abwesenheit der Höflinge vs. Anwesenheit des Prinzen). Wesentlich für die Absage ist also die Vorbereitung eines Zustands X durch eine X kontrastierende Maßnahme („antiX“).47 Als dritten und typischsten Fall der Vorbereitung nennen !olkovskij/"#eglov eben das Verfahren der Vorwegnahme, die sie als Kompromiss zwischen Absage und Präsentation ansehen, da preX nicht gleich Null ist und auch nicht das Gegenteil von X (1980, 19). Dass preX dem X an Bedeutung untergeordnet erscheint, lässt sich in mehreren Hinsichten differenzieren. !olkovskij und "#eglov geben zunächst abstrakte Parameter an, die das Verhältnis von preX und X spezifizieren sollen. Genannt seien hier exemplarisch Ausmaß, Vollständigkeit/Unvollständigkeit, real/mental (20). Insgesamt kommen die Autoren auf zwölf Parameter, die sich jedoch z. T. sehr ähneln. So lautet der achte Parameter Realität/Figuralität (22). Gemeint ist damit der „Weg“, auf dem man vom Element preX zu X gelangt. Real ist das Verhältnis von preX und X, wenn sie durch eine Kausalkette innerhalb der Handlung miteinander verknüpft sind, figural, wenn preX außerhalb der Ereigniskette der dargestellten Welt X vorwegnimmt, z. B. in Form einer _________ 47

Hier ist die Notation der Autoren unscharf, da nicht die Position X an sich negiert wird, sondern nur ein Aspekt von X, in diesem Fall Anwesenheit gegenüber Abwesenheit. Es geht hier aber nicht einmal um Anwesenheit bzw. Abwesenheit eines und desselben Gegenstandes!

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Andeutung auf der Ebene der Darstellung. Dieser Parameter unterscheidet sich kaum von real/mental oder bewusst/unbewusst, die das Autorenpaar ganz ähnlich einführt. Als weiterer Parameter aufgenommen wird der schon vorgestellte Unterschied zwischen progressiver und regressiver Verknüpfung von preX und X. Die Bedingtheit dieser Unterscheidung in der Bindung an die Rezeptionstätigkeit des Lesers wird klar, wenn man sich vor Augen hält, dass vorbereitende oder vorwegnehmende Elemente in Detektivromanen zwar häufig regressiv gemeint sind: Es wird dem Leser erst hinterher klar, dass der tote Goldfisch im Gartenteich den Mord im Schwimmbad vorwegnimmt. Aber ein geübter Leser, der gerade die Tricks dieses Genres gut kennt, wird solche Elemente eher im progressiven Sinne wahrnehmen: Hat die auffällige Nennung des toten Goldfisches im Gartenteich nicht eine bestimmte Bedeutung für den Fortgang der Geschichte? Die Beispiele, die !olkovskij und "#eglov im Anschluss geben (23– 28), stammen nicht nur aus der Erzählprosa, sondern neben dem Film auch aus der Versliteratur, in der preX nicht selten als phonetische Vorwegnahme zu beobachten ist, d. h. ein als Schlüsselwort X zu qualifizierende Lautfolge wird durch gleiche Laute preX in anderen Wortzusammensetzungen vorweggenommen bzw. vorbereitet (24). In Anna Karenina (1. Buch, 18. Kapitel) ist die erste Begegnung von Vronskij und Anna auf dem Bahnhof eine Vorbereitung der tragischen Liebesgeschichte, der gleichzeitig stattfindende Unfall eine Vorwegnahme von Annas Freitod (28). Jeder Satz soll im Rahmen der Poetik der Expressivität mit Hilfe der Ausdrucksverfahren und ihrer vielfältigen Kombinationen als Entfaltung eines Themas zu einem Text beschrieben werden können. Dies erfordert eine Betrachtungsweise, in der nicht ein einziges Verfahren wie hier exemplarisch herausgegriffen und isoliert von anderen betrachtet wird. Zudem müssen die Verfahren, wenn man dem spezifischen Text nahe kommen will, so weit spezifiziert und differenziert werden, dass die Anwendbarkeit der Theorie mit dem Anwachsen an Komplexität um so geringer erscheint. Auch der Begriff der Entfaltung ist in der Anwendung auf das Modell nicht eindeutig. Gemeint ist einmal die Entfaltung eines Themas zu einem Text, gewissermaßen ein vertikales Verständnis über verschiedene Ebenen hinweg. Zum zweiten kann im konkreten Fall auch der Übergang von preX zu X als Entfaltung innerhalb der Textebene als Entfaltung verstanden werden – dies ist ein horizontales Verständnis des Begriffs.

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7. Entfaltung als Artikulationsbewegung Viel deutlicher als !olkovskij und "#eglov knüpft der Romanist Manfred Flügge an den formalistischen Entfaltungsbegriff an (1974, 1977).48 Was ihn darüber hinaus für den vorliegenden Zusammenhang interessant macht, ist der Umstand, dass er den Entfaltungsbegriff speziell für narrative Strukturen vorsieht und nicht für allgemein semantische. Dabei zielt Flügge auf eine Erzählsemiotik ab, die auf Greimas und anderen französischen Strukturalisten aufbaut. Wissenschaftstheoretisch ordnet er somit die Linguistik der Semiotik als Leitdisziplin für die Literaturwissenschaft unter, da für ihn sprachlich manifestierte Erzählungen nur einen, wenn auch „privilegierten“ Spezialfall von Erzähltexten darstellen (48).49 Die narrative Struktur versteht er als Invariante, die in verschiedenen Medien oder auch in einem einzigen Medium auf unterschiedliche Art und Weise realisiert sein kann (46). Sie ist für Flügge das idealtypische Substrat, das bei einer Transponierung von einem Medium in ein anderes (z. B. von einer Novelle in ein Hörspiel) erhalten bleibe. Ähnlich wie das russische Autorenteam trennt er die Ausdrucksebene eines Textes von der Ebene des Ausgedrückten; und ebenso wie !olkovskij und "#eglov strebt er eine Isolierung von Elementen der narrativen Strukturen an, die Vergleiche verschiedener Texte möglich machen und die sich formalisieren lassen. Den ersten Schritt einer Strukturanalyse sieht Flügge in der „Ermittlung des medienunabhängigen ordo naturalis der Erzählstrukturen“ (47). Letzteren fasst er ferner als „autonome Kommunikationsstrukturen“ auf, die in logischer Hinsicht jedem Ausdruck vorgeordnet seien und auf deren Ermittlung die erzählsemiotische Analyse abziele (48). Zugleich strebt er die „Überwindung der Antinomie von Textimmanenz und Textevidenz“ an (50). Diese versucht er über Transformationsregeln einer zu erstellenden „Allgemeinen Narrativen Grammatik“ zu erreichen, die die Artikulation bzw. Entfaltung von narrativen Strukturen zu Texten (im semiotischen und nicht allein linguistischen Sinne) beschreiben (49). Dies setzt zum einen die An_________ 48

49

Zugleich weiß er sich mit den genannten Autoren in der Zielsetzung einig, einen reinen Formalismus durch die Einbeziehung von Tiefenstrukturen zu überwinden (1977, 50). Formalistische Erzählanalyse ist dabei für ihn durch einseitige Bevorzugung der syntagmatischen Ebene gekennzeichnet; er plädiert hingegen für die Gleichwertigkeit von syntagmatischer und paradigmatischer Ebene im Erzählwerk (65). An anderer Stelle spricht er auch von „Textfetischismus“, der „in normativem Sinn überwunden werden“ könne (1974, 291). Und weiter heißt es ebd.: „Von der Adäquatheit des Ausdrucks her mögen bestimmte Romane ‚unersetzbar‘ sein. Die ihnen immanente narrative Realform ist übertragbar und abweichend realisierbar. Der individuelle Kunstmittelgebrauch ist stets auf ein formalisierbares System von Invarianten zurückzuführen“.

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nahme eines begrenzten Reservoirs von invarianten narrativen Strukturelementen voraus50, zum anderen die Möglichkeit einer regelbasierten Artikulation bzw. Entfaltung. Entfaltung ist für Flügge der Schlüsselbegriff, mit dem er die Generierung sowohl der Ablaufstruktur einer Erzählung, als auch ihrer statischen Seite (Thema, Situationen, Figuren) zu fassen versucht.51 Er versteht Entfaltung als Konstituens von Erzählungen mittels Informationen zu einem gewählten Themenbereich, deren Produkt ein Text ist. Die von Flügge postulierte „Allgemeine Narrative Grammatik“ soll diese Konstitution eines Erzähltextes als Entfaltung beschreiben können. Ausgangsbasis einer Entfaltung ist wie auch bei !olkovskij und "#eglov ein Thema. Was dieses enthält, ist in Flügges Worten eine „virtuelle Expansion“, die „in Aspekte aufgeteilt“ werden könne, „wobei die Zahl und die Relation der Aspekte von einem abstrakten Raster von Positionen (Positionswerten) bestimmt wird“ (51). Eine Entfaltung ist nach Flügge entweder „die logische Ausdifferenzierung einer abstrakten Problematik (System)“ oder die „orientierte Abfolge von Schritten (Prozess)“ (51). Etwas anschaulicher heißt es dann bei ihm: Die Funktion der Artikulation ist eindeutig: Eine zirkulare Ganzheit (z. B. das Thema des Untergangs der fränkischen Nachhut bei Ronceveaux durch Verrat und Hinterlist) wird zu kommunikativen Zwecken (Mitteilung auf Plätzen oder in Rittersälen; Niederschrift in einem Manuskript) in einer mitteilbaren linearen Ganzheit (manifester Text) organisiert. Diese Organisation (Textkonstitution) geschieht durch Hierarchisierung und weitere Parzellierung der komplexen Teil-Einheiten der Ganzheit (Seitenthemen, Motive, Etappen, Enklaven). Insofern dabei eine Hierarchie von gegliederten Ebenen mit je zunehmendem Umfang entsteht, bedeutet ‚Entfaltung‘ auch Einführung spezifizierender Details (Personen […]; Orte, Zeitangaben, Umstände, Mittel etc.). (51)

Das Prinzip der Entfaltung wendet Flügge auf beide Ebenen an, auf System und Prozess, m. a. W. auf die syntagmatische wie auch auf die paradigmatische Ebene (52). Und genau darin sieht Flügge zugleich – wie zu Anfang des Abschnitts erwähnt – den entscheidenden Schritt zur Weiterentwicklung der formalistischen Ansätze zu einer semiotischen Erzähltheorie, deren Grundbegriff der Entfaltungsbegriff ist, hier ausdifferenziert in dem Programm von Transformationsregeln, die aus einem Thema einen syntagmatisch und paradigmatisch sinnvollen Erzähltext generieren.52 _________ 50

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Damit sind offenbar keine Motive gemeint, die für das Ziel einer Allgemeinen Narrativen Grammatik schon zu sehr thematisch spezifiziert sind. Gemeint sind abstrakte Positionen, „deren kategorieller Wert vor jeder thematischen Investition geklärt werden muss“ (1974, 125). Er beruft sich hier explizit auf "klovskij 1919 (50). In seiner Dissertation nennt Flügge „Entfaltung“ gar ein „einheitliches Prinzip“, mit dem die „Antinomie von Form und Inhalt aufgehoben“ werde (1974, 296).

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8. Bilanz Nach diesen beiden Kapiteln, die alternativen Rezeptionen des Entfaltungsbegriffs gewidmet waren, soll noch einmal zum Beginn dieser Untersuchung zurückgekehrt werden. Im Eingangskapitel wurde Entfaltung folgendermaßen bestimmt: Eine literarische Entfaltung liegt dann vor, wenn ein z. B. in einer Metapher, einem Kalauer oder einer Redensart verdichtetes semantisches Potential sich in einer größeren literarischen Einheit (einem Text) aktualisiert.

Eine Entfaltung ist somit ein Prozess, dessen Ausgangszustand ebenso bestimmbar sein sollte wie sein Endzustand. Als Beispiele für den Ausgangszustand gelten rhetorische Figuren sowie Redensarten und Sprichwörter. Sie können im Text selbst vorkommen, sie können aber auch nur von dem, was geschieht, nahegelegt oder angedeutet werden, indem sich etwa eine Redensart finden lässt, die auf die Geschehnisse beziehbar ist.53 Endzustand einer Entfaltung ist entsprechend ein Text, der als Expansion der Ausgangsfigur beschrieben werden kann. Für eine Klärung sind es vor allem die Begriffe des semantischen Potentials und dessen Aktualisierung, die besondere Schwierigkeiten bereiten. Mit einer groben Anleihe bei der Linguistik lässt sich diese Aktualisierung vielleicht als im Text sukzessive realisierte Besetzung von (nicht syntaktisch verstandenen) Argumentstellen modellieren, die vom semantischen Potential der Ausgangsfigur eröffnet werden. Dieses semantische Potential speist sich nicht nur aus den normalsprachlichen Verwendungsweisen und Kontexten der betreffenden Redewendung, sondern ggf. auch aus Bedeutungsübertragungen und deren Umkehrungen (Wörtlichnehmen von Metaphern). Ein Beispiel: Die Redewendung „keiner Fliege etwas zu leide tun“ wird gewöhnlich auf sanfte, friedliebende, mitunter auch feige Menschen bezogen. Wird eine Figur in einer Erzählung dadurch charakterisiert, dass sie mit Vorliebe und großer Regelmäßigkeit Fliegen tötet, lässt sich dies mit der Redewendung in Verbindung bringen. Setzt man nun diese Redewendung als Ausgangspunkt für eine Entfaltung an, so kann man in der erzählten Welt Ausschau halten nach weiteren Vorkommnissen oder Gegenständen, die sich darauf beziehen lassen. Sil’vio in Pu!kins Der Schuss tötet Fliegen – _________ 53

Z. B. „Er tut keiner Fliege etwas zu leide“ mit Bezug auf Sil’vio, den Helden aus Pu!kins Vystrel (Der Schuss). Vgl. Schmid 1988, 271–273. Ausführlich dazu vgl. Schmid 1982. Zur Genese von Texten aus Sprichwörtern und Redensarten vgl. auch Permjakov 1970, 1978, 1979. Tzvetan Todorov (1973, 162–164) sieht in dem russisch-ukrainischen Philologen Aleksandr Potebnja einen Ausgangspunkt dieses generativen Denkens, das sich über die Formalisten bis zu Permjakov fortsetzt. In der 5. und 6. seiner Vorlesungen zur Literaturtheorie (1894) setzt sich Potebnja ausführlich mit den Beziehungen zwischen Fabeln, Sprichwörtern und Redensarten auseinander.

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und zwar mit dem Schießeisen. Wie schon aus dem Titel der Erzählung erhellt, spielt das Schießen darin eine tragende Rolle. Durch die Verknüpfung der Redensart mit diesem Motiv entsteht ein ganzes Geflecht aus Möglichkeiten, wie die Redensart in der Novelle aufgeht und in den einzelnen Geschehnissen mitklingt, d. h. eben wie sie entfaltet wird. Der Begriff der Entfaltung schließt nach einem solchen Modell, isoliert verstanden, eine semantische Autopoiesis ein: In der Semantik einer rhetorischen Figur scheinen Kräfte am Werk, die sich in der literarischen Sphäre Bahn brechen. Es fallen Seme aus der Figurenfrucht heraus, fangen nach dem Prinzip der Äquivalenz an, in unterschiedliche Richtungen zu sprießen, und ranken sich zu einem Sinngewinde zusammen, das einen Text ergibt. Die Sinnlinie der Ereignisse wird überwuchert von einem Gewinde aus Ähnlichkeiten, die sich aus den Semen der Ausgangsfigur herleiten lassen. Nicht mehr der Autor oder die Lebenswelt geben vor, wie ein Text und damit seine Geschichte verläuft. Nach der Vorstellung, die sich in diesem Entfaltungsbegriff verbirgt, sind es semantische Kräfte, die das Schicksal der Helden determinieren. Eine Ausgangsfigur bewirkt durch die Einbettung in einen neuen Kontext – in eine besondere Sujetlösung – eine semantische Kettenreaktion, an deren Gliedern sich die Ereignisse der erzählten Welt gewissermaßen als Epiphänomene aufreihen. Die erzählte Welt und die Welt der semantischen Ähnlichkeit existieren zunächst einmal nebeneinander. Dabei wirken sie nicht aufeinander ein, sondern konstituieren verschiedene Ebenen der Textbedeutung. Eine Entfaltung in dem hier vorgestellten Sinn einer Aktualisierung von semantischem Potential vollzieht sich demnach, wie eingangs gesagt wurde, „unabhängig vom Handlungsverlauf“. Dies besagt in einem harten Sinne, dass die Entstehung von Texten nicht durch die Entwicklung einer Handlung erfolgt, sondern durch die einem Textkern (Redefigur) innewohnende Energie, die den Text, entlang semantisch vorgezeichneter Entfaltungswege, eigenmächtig generiert.54 Doch bleibt auch eine so verstandene Entfaltung, zumal ihr vornehmlich thematische Äquivalenzen zugrunde liegen, auf die Handlung _________ 54

Was dabei bisher noch unberücksichtigt geblieben ist, lässt sich in die Frage fassen, wie in die Vorstellung einer Entfaltung einer rhetorischen Figur zu einem Text das narrative Moment integriert werden soll. Die Aktualisierung semantischen Potentials, verstanden als Semvermehrung, lässt sich wahrscheinlich auf jede Art von Text anwenden, nicht nur auf narrative Texte. Die Frage also ist, wie semantische Momente narrativ werden können. Ein Vorschlag: Die narrative Energie speist sich nicht mehr aus einem Konflikt, der in der erzählten Welt statthat, wie man sagen würde, wenn man die Textentstehung aus der konventionellen Perspektive der Handlungsführung betrachtet. Stattdessen müsste sich die narrative Energie im Rahmen der Entfaltungstheorie aus der speziellen Spannung speisen, die sich aus der rhetorischen Ausgangsfigur und ihren semantischen Möglichkeiten ergibt.

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bezogen. Die harte These von der Textentfaltung ist darum vielleicht weniger eine Vermutung über die „Entstehung“ literarischer Texte, wie es zu Anfang hieß, als eine These über die besondere semantische Faktur von Texten sowie darüber, wie man diese interpretieren kann. Die Welt der erzählten Handlung und die Welt der semantischen Faktur konstituieren, in einem solchermaßen gemäßigten Sinne, keine getrennten Ebenen, sondern unterschiedliche Perspektiven, Perspektiven der Textbetrachtung, die man in der Interpretation zusammenführen kann.55 Entsprechend kann man das, was von einigen hier vorgestellten Ansätzen unter den Begriff der Entfaltung gebracht wird, als Interpretationsansatz fassen. Was unter der semantischen Perspektive herausgefunden wird, erlaubt Rückschlüsse auf das bzw. für die Interpretation dessen, was in der Geschichte selbst vor sich geht. So lässt die Tatsache, dass Sil’vio ständig Fliegen erschießt, auf der Basis der Redewendung den Rückschluss zu, dass er entweder das Gegenteil von sanft und friedliebend ist, nämlich ein wirklich rauer Bursche, oder ein Mensch, der gerade mal in der Lage ist, Fliegen abzuknallen, aber ansonsten alles andere als ein rücksichtsloser Draufgänger. Nach diesem Muster lassen sich in einem zweiten Schritt im Text möglicherweise Indizien finden, die entweder die eine oder die andere Lesart begründen helfen. Es ist klar, dass die semantische Ebene kaum sinnvoll ist ohne die Anbindung an die Ebene der Geschichte selbst. Entfaltung ist demnach nicht die Entstehung eines Textes, sondern die Betrachtung desselben in der Perspektive einer Variante der Äquivalenztheorie. Angesichts dieser Bilanz stellen sich nun zwei Fragen: Wie lassen sich die zentralen Intuitionen konservieren, die dem Begriff der Entfaltung zugrunde liegen? Und lassen sie sich zu einer Theorie ausbauen? Bevor ich mit einem Vorschlag diese Untersuchung beschließe, seien (1) eine grundlegende Intuition hinter dem Begriff und (2) eine Anforderung an seine Theoretisierung noch einmal zusammengefasst: Erstens soll es sich um ein Sujetphänomen handeln; das Textkontinuum wird weder durch die Handlungen und Intentionen der Figuren noch durch das Verstreichen von fiktionaler Zeit erklärt (= Fabelphänomen), sondern durch Verbindungen auf der Sujetebene, die verschiedene Sujetelemente miteinander eingehen. Zweitens soll es ein narratives Phänomen sein, das den Gegenstand der Entfaltung – das Wortmaterial – zu einem zusammenhängenden Ganzen zusammenbindet.

_________ 55

Diese Möglichkeit wird auch von Hansen-Löve ins Auge gefasst (1982, 220), obwohl die allgemeine Stoßrichtung seiner Untersuchung in der harten These besteht.

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9. Narrative Explikation Wegen der in den vorangegangenen Abschnitten dargelegten Problematik diffuser Verwendungsweisen (aber eingedenk ihrer vielfältigen Anstöße) soll im Folgenden nicht mehr von Entfaltung die Rede sein, sondern von narrativer Explikation. Dieser neue Terminus könnte zwar den Nachteil haben, dass der Teilausdruck „Explikation“ eine etablierte andere Bedeutung hat, aber darüber kann man ohne Sorge hinwegsehen, da die Verwendungskontexte so verschieden sind, dass Verwechslungen nicht drohen. Statt eines Nachteils hat dieser neue Ausdruck vielmehr den Vorteil, dass er nicht nur die passende Übersetzung des deutschen und russischen Ausdrucks ist, sondern auch den Gegenbegriff der in der Theorie des Erzählens von alters her bekannten Komplikation bezeichnet.56 Zudem soll mit dieser terminologischen Entscheidung der Anspruch seinen angemessenen Ausdruck finden, dass etwas auf den Begriff gebracht wird, was bislang nur sehr unscharf formuliert wurde: ein spezifisches narratives Verfahren. Was das ist – davon handelt dieser letzter Abschnitt. Ich werde versuchen, den Begriff der narrativen Explikation zu erläutern. Bei diesem Unternehmen soll auf ein literarisches Beispiel zurückgegriffen werden, das das Verfahren nicht nur illustriert, sondern auch exemplifiziert. Denn man kann davon ausgehen, dass Evgenij Zamjatin in seiner Erzählung vom Allerwichtigsten („Rasskaz o samom glavnom“)57 aus dem Jahr 1923 ein Verfahren vorschwebte, das mit dem hier vorzustellenden Verfahren der narrativen Explikation einige Ähnlichkeit aufweist.58 Der Begriff der narrativen Explikation ist als Ergänzung zu dem Modell gedacht, das sich im Anschluss an den russischen Formalismus _________ 56

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Vgl. im Russischen das Gegensatzpaar: svertyvanie und razvertyvanie, dem im Deutschen Ein- und Ausfaltung entsprechen, deren Überzeugungskraft in terminologischer Hinsicht nicht gerade überwältigend ist. Zu beachten ist hier, dass Komplikation und Explikation nicht im Sinne des Schürzens und Lösens eines Spannungsknotens zu verstehen sind (russ. zavjazka und razvjazka), sondern als ein Gegensatzpaar, dessen erstes Element (Komplikation) sich auf die Fabelebene bezieht und die Handlungsführung meint und dessen anderer Teil (Explikation) sich auf die Sujetebene bezieht. Evgenij Zamjatin, Rasskaz o samom glavnom. In: E. Z., My: Roman, rasskazy, povest’. Hg. von O. Michajlov, Moskva 1990, S. 176–205. Deutsche Zitate nach: Jewgeni Samjatin, „Erzählung vom Allerwichtigsten“, übers. von Alfred Frank. In: J. Samjatin, Erzählungen 1917–1928, Leipzig/Weimar 1991, S. 142–184. Vgl. seine Ausführungen im Essay Hinter den Kulissen (Zakulisy) von 1930 über „visuelle Leitmotive“: „Wenn ich an eine Gestalt fest glaube, bringt sie unweigerlich ein ganzes System von ihr ausgehender Bilder hervor, und sie durchdringt mit ihren Wurzeln Absätze und Seiten. In einer kleineren Erzählung kann ein Bild integral sein und von Anfang bis Ende auf die ganze Arbeit ausstrahlen“. Zitiert nach Jewgeni Samjatin: „Hinter den Kulissen“, übersetzt v. Waltraut und Wolfram Schroeder. In: J. Samjatin, Aufsätze. Autobiographie. Brief an Stalin, Leipzig/Weimar 1991, S. 123–146, hier: S. 133.

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in der strukturalistischen Unterscheidung zwischen Fabel und Sujet, histoire und discours etc. herausgebildet hat. Gerade in neuerer Zeit wurde moniert, dass die so genannte klassische Narratologie nicht in der Lage sei, Werke nicht-realistischen Inhalts adäquat zu erfassen, also Werke, auf die jene Unterscheidung nicht ohne weiteres anwendbar zu sein scheint, weil manche modernen Erzählungen nicht die ontologischen Voraussetzungen teilen, die für die Unterscheidung gelten.59 Wie immer man dazu steht (man kann selbstbewusst behaupten, dass man die Unterscheidung immer anwenden kann, selbst wenn man konzediert, dass der Ertrag dieser Anwendung nicht immer gleich groß ist), das Konzept der narrativen Explikation könnte insofern als Ergänzung verstanden werden, als sie nicht die Zeitstruktur der Fabelebene zur Grundlage hat, wie es in der Narratologie der Fall ist, deren Produktivität ja gerade in solchen Arbeiten besteht, die das Zeitgerüst der Fabel in Gegenüberstellung mit dem des Sujets untersuchen und in denen die Anerkennung einer chronologischen Fabelzeit grundlegend ist. Eine Voraussetzung dieser klassischen narratologischen Betrachtungsweise ist ein an linearer, an der Zeitmessung in der Alltagswelt orientierter Zeitbegriff. Die narrative Explikation verzichtet demgegenüber auf den Faktor Zeit. Nicht zeitliche Ausdehnung ist für die narrative Explikation maßgeblich, sondern semantische Expansion. Eine Erzählung wie die Zamjatins ist besonders geeignet, dieses Verfahren vorzuführen, da sie zu jener Art moderner Prosa gehört (der in der russischen Literaturgeschichte so genannten ornamentalen Prosa) in der das realistische Erzählen realistischer Begebenheiten konterkariert wird.60 Zwar kann man auch hier nicht von der konventionellen Bedeutung der Wörter abstrahieren. Aber man kann eine weitere Ebene hinzunehmen, und es drängt sich bei Zamjatins Erzählung tatsächlich der Eindruck in besonderer Weise auf, dass hier weniger eine Fabel gesponnen als ein Sujet entfaltet wird. Die narrative Explikation ist ein Verfahren der Wortkunst und Erzählkunst zugleich.61

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Vgl. z. B. Fludernik 1996; Jahn 1996. In Zamjatins späterer Erzählung Überschwemmung sind beide Ebenen nahezu gleichgewichtig. Eine Interpretation, in der diese Doppelung der Motivierung herausgearbeitet wird, bietet Schmid 1987. Das Konzept ist auch verwandt mit dem, was Karlheinz Stierle „Ebene der Achronie“ nennt (1977, 220). Auf dieser Ebene geht es Stierle aber nicht um narrative Organisation, sondern um die Ordnung von Konzepten. Der Begriff der narrativen Explikation versucht jedoch, beide Ordnungen zu verbinden.

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Zamjatins Erzählung ist bislang vor allem thematisch interpretiert worden.62 Im Mittelpunkt des Interesses stand die Frage nach dem Wovon der Erzählung und dem Allerwichtigsten. Diese Fragen sind entsprechend dem beantwortet worden, was man über Zamjatins Ansichten weiß. Nur selten wurde auf die Erzählverfahren geblickt. Geht man zunächst von einer konventionellen Lesart aus, so handelt die Erzählung Vom Allerwichtigsten vom Bürgerkrieg im Anschluss an die Oktoberrevolution. Es stehen sich bolschewistische und nicht-bolschewistische Bauern gegenüber, wobei die beiden Helden, Kukoverov und Dorda, ehemalige Freunde bzw. politische Gefährten, jeweils einer der Gruppen angehören. Der Bolschewik Dorda nimmt Kukoverov gefangen und erlaubt ihm ein letztes Stelldichein mit seiner achtzehnjährigen Geliebten Talja, bevor er ihn – was aber schon außerhalb der Erzählung liegt – erschießen lässt. Diese Erzählung wird unterbrochen von Einlässen, die zum einen von einer Raupe (bzw. einem „Wurm“, !erv’) handeln, die kurz vor der Verpuppung steht, und zum andern von einem anderen Planeten (bzw. einem verlöschenden „Stern“, zvezda), der im All der Erde entgegenrast und auf dem die letzten Lebewesen, obgleich des nahen Endes gewärtig, einander teilweise umbringen. Um wie viele Welten handelt es sich? Die einhellige Antwort in der Sekundärliteratur lautet: um drei. Der erste Abschnitt scheint diesen Eindruck zu bestätigen, denn die ersten drei Absätze setzen jeweils mit der Nennung einer Welt ein: Mir […]. E"!e mir […]. I e"!e mir63. Die erste Welt besteht aus einem Fliederbusch, in dem die Raupe lebt, die zweite aus sich bekämpfenden Bauern, die dritte aus dem Planeten, dessen Atmosphäre verlischt und der auf die Erde zurast. Dennoch handelt es sich nicht um drei voneinander isolierte Welten, sondern um drei Bereiche einer einzigen Welt, denn die Gegenstände der drei Bereiche befinden sich offenkundig in einem gemeinsamen raumzeitlichen Kontinuum: Die Raupe fällt in die Bürgerkriegswelt und der fremde Planet rast auf die Erde zu. Dorda sieht den Stern kurze Zeit, bevor sich vor ihn eine Wolkenwand schiebt und ihn verdeckt (176). Der Fortgang der Erzählung ist zudem vom Wechsel zwischen dem bestimmt, was auf der Erde vor sich geht, und dem, was auf dem Planeten geschieht. Es sind also im Wesentlichen zwei Bereiche einer Welt, die Gegenstand von Zamjatins Erzählung sind. _________ 62

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Vgl. Shane 1968, 171–175; Collins 1973, 81 f.; Leech-Anspach 1976, 91 f.; Scheffler 1984, 241–247; Davydova 2000, 161–170. Am ergiebigsten ist Leonid Hellers (1986) Interpretation, die ausführlich auf Zamjatins Philosophie und Symbolik in dieser Erzählung eingeht. Vgl. aber die deutsche Übersetzung, die diese elliptischen Sätze so wiedergibt: „Die Welt […]. Die Welt auch das […]. Und auch das die Welt […]“ (142).

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Isoliert betrachtet, lässt die russische Formulierung – Mir […]. E!"e mir […]. I e!"e mir – offen, ob es sich um eine einzige oder mehrere Welten handelt. Schon die fundamentalen ontischen Verhältnisse dieser Geschichte sind fragwürdig und interpretationsbedürftig und können erst durch die Berücksichtigung weiterer fiktionaler Sachverhalte erschlossen werden. Der zweite Abschnitt beginnt mit der Feststellung: Miry pereseklis’ („Die Welten haben sich überschnitten“). Diese Wortwahl legt den Schluss auf mehrere Welten nahe; gleichwohl ist damit keine ontologische Festlegung verbunden. Gemeint sind offenbar die Bürgerkriegswelt und die Wurmwelt, da die Raupe in den Schoß der Heldin Talja fällt. Die Vergangenheitsform ist in dem präsentisch gehaltenen Text eine Ausnahme. Damit deutet sich eine neue Ausgangslage an: Es gibt nun nur noch zwei Welten oder Weltbereiche, von denen alternierend erzählt wird. Auffällig ist die präsentische deiktische Erzählweise, deren Gebrauch von „ich“, manchmal auch „wir“, sich auf mehrere Subjekte verteilt, so dass der Eindruck entsteht, dass das Ich in allem anwesend ist. Man kann dies für ein rhetorisches Mittel halten, und die Erzählinstanz ist daher als heterodiegetisch einzustufen. Es werden auch nichtdeiktische Angaben gemacht, die die Einschätzung der „Erzählstimme“ als heterodiegetisch zusätzlich stützen.64 So wird die Zeit genannt: Pfingstmontag (Duchov den’, 25. Mai). Die narrative Explikation setzt an bei einer Ausgangssituation, die im Falle von Zamjatins Erzählung am Anfang gegeben ist. Der erste der fünfzehn (nicht nummerierten) Abschnitte stellt die Seinsbereiche, „Welten“, vor, von denen die gesamte Erzählung handeln wird. Schon die erste enthält das Motiv, das „integrale Bild“, aus dem der Rest sich entfaltet. Der Ausgangspunkt der narrativen Explikation ist die Umgebung von „Rhopalocera“, der Raupe, die sich heute verpuppen wird. Ihre „Welt“ ist ein Fliederbusch, der „ewig“, „riesig“, „unfassbar“ (neob’’jatnyj) ist. Rhopalocera führt sich gewissermaßen selbst in die Erzählung ein, denn es wird mit „ich“ auf sie Bezug genommen. Sie ist gelbrosa und hat ein Horn auf dem Schwanz. Der Kern der narrativen Ex_________ 64

Dies ist ein weiteres Beispiel dafür, dass die Applikation narratologischer Kategorien auf nicht-realistische Texte zwar durchaus möglich ist, aber offenbar nicht sehr weit führt. Fasst man das Ich als etwas auf, das seine eigene Funktion expliziert, indem es in seiner Referenz expandiert (das Ich ist zugleich immer derselbe Erzähler, aber der Erzähler identifiziert sich durch seinen Gebrauch des Pronomens „ich“ zugleich mit verschiedenen Figuren), so erhält man eine für die Erschließung des Sinns der Erzählung weiterführende Aussage als mit der Bestimmung, ob der Erzähler in der erzählten Welt anwesend ist oder nicht.

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plikation ist jedoch ihre Haltung: Ihr Körper ist gekrümmt wie eine Brücke, fest angespannt und zuckend. Heute muss ich, zur Puppe werdend, sterben, der Körper von Schmerzen zer65 rissen, zur Brücke gebogen – straff, zuckend. (142)

Diese Situation wird in der nächsten Umgebung, der Welt der kämpfenden Bauern, zunächst gespiegelt. Dies wird nicht nur durch die spiegelnde Oberfläche eines Flusses signalisiert, sondern auch durch die Spiegelung der Träger der zentralen Metapher „krümmen“ (vygnut’), deren erster in der Rhopalocera-Welt belebt ist und mit der unbelebten Brücke verglichen wird und deren zweiter Träger umgekehrt in der Bürgerkriegswelt unbelebt ist (die Brücke) und mit etwas Lebendigem (Rücken) zusammengebracht wird. Die Welt auch das: der Spiegel eines Flusses, eine – aus Eisen und blauem Himmel – durchsichtige Brücke, den Rücken straff gebogen; Schüsse, Wolken. (ebd.)

Auch hier ist von einem Ich die Rede, von einem multiplen Ich gewissermaßen, denn mit „ich“ wird auf die einzelnen sich bekämpfenden Bauern Bezug genommen, sowohl auf die sowjetischen Männer in lehmfarbenen Hemden aus Orlovka als auch auf die „bunten“ Aufständischen aus Kelbuj. Das individuell-kollektive Grauen kulminiert in dem Satz: „Ich – schieße auf mich selbst“ (ebd.). Ebenso wird die dritte, die kosmische Umgebung mit einem multiplen Ich ausgestattet, indem drei erkaltete Leichen als „mein nackter Eiskörper“ bezeichnet und neue brennende Ichs angekündigt werden, die aus der Kollision des fremden Sterns mit der Erde hervorgehen sollen. Wie das Ich expandiert, so expandiert auch das Motiv der Krümmung. Der erste Abschnitt enthält den Keim für die gesamte Erzählung, die durch die narrative Explikation der einzelnen Motive idealgenetisch entsteht. Zentral sind hier Motive, die durch Ableitungen von gnut’ („biegen“, „krümmen“) und dro!at’ („zittern“) bzw. vzdragivat’ („zucken“) gebildet werden. Sie kommen mit Abstand am häufigsten vor und finden sich mehrmals auf jeder Seite. Die Feststellung von besonderen quantitativen Verhältnissen, hier der überdurchschnittlichen Häufigkeit, begründet die Expansion eines Motivs. Von der Expansion zur Explikation gelangt man, indem man qualitative Verhältnisse wie Spiegelung, Doppelung und Metaphorisierung usw. zwischen einzelnen Vorkommnissen eines Motivs erkennt. _________ 65

„Segodnja mne umeret’ v kukolku, telo izorvano bol’ju, vygnuto mostom – tugim, vzdragivaju!"im“ (176). Die deutsche Übersetzung folgt der in Anm. 57 angegebenen Ausgabe. Geringfügige Abweichungen werden nicht eigens vermerkt. Im Folgenden wird das russ. Original nicht mehr angeführt.

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Eine erste Etappe der narrativen Explikation besteht in der Entwicklung zu einer Antithese: Gestrecktheit und Erstarrung. Die bevorstehende Verpuppung der Raupe wird auf der Sujetebene als Ergebnis geometrischer Verhältnisse gedeutet – und nicht als Ergebnis eines biologischen Prozesses auf der Fabelebene. Noch zuckt die Raupe und krümmt sich, aber die Schmerzen kündigen die bevorstehende Verpuppung und Erstarrung an. Die Explikation nimmt ihren Ausgang aus weiteren Attributen der Raupe. Ihre Farbe ist gelb-rosa – gelb und rosa sind zugleich die Farben, die wiederholt Kukoverov und Talja zugeordnet werden. Gekrümmt wie ein Embryo wird die Raupe später vom Fliederstrauch in Taljas Schoß fallen (144). Seine weitere Explikation findet dieses Motiv dann in der Vereinigung von Talja und Kukoverov. Sie wünscht sich bei ihrem letzten von Dorda gewährten Stelldichein ein Kind von ihm: „Ich möchte, dass du dich in mir zurücklässt […]“ (182). Zu beachten ist, dass hier keine kausale Motivierung vorliegt, sondern dass der Zusammenhang durch die Explikation des ursprünglichen Motivs gestiftet wird. Dieser Zusammenhang ist noch dichter gewebt, denn Taljas tränengenetzte Wimpern sind eine weitere Explikation des Fliederzweigs, und es ist Kukoverov, der sich am Fliederzweig zu schaffen macht mit dem Resultat, dass die Raupe in Taljas Schoß herabfällt. Talja bewahrt sie auf und zeigt sie Kukoverov, als sie am Abend noch ein letztes Mal in Freiheit zusammentreffen (156). Auch hier begegnet man dem Motiv des Krümmens und Gebeugtseins: Beide beugen sich über die Raupe, wieder ist ein Fliederstrauch in der Nähe, dessen Zweige vor lauter schweren Blüten ebenfalls gebeugt sind. Dass das Motiv der Krümmung das gesamte Sujet durchdringt und expliziert, wird noch deutlicher, wenn man neben der Krümmung die Spannung berücksichtigt, die jene mit sich bringt. Als die Angreifer zwei Bauern zum Verhandeln abstellen, wird – wiederum weder kausal noch intentional – das Motiv zu folgendem Bild heruntergebogener Bäume expliziert, das die Spannung der Situation und die Grausamkeit des Volks darstellt: „Bei den Drewljanen gab es einen Brauch: zwei Bäume herunterbiegen, kopfüber mit den Beinen an die Wipfel binden – dann die Bäume loslassen […]“ (164). Gespannt sind auch die Nerven der Akteure: Dordas Augen sind geladen (wie Schusswaffen), Kukoverovs wie Zügel angezogen (165). Vor allem aber ist es Kukoverovs Zeitgefühl, das unter Spannung steht. Mehr noch: Seine innere Feder ist überdreht und zerspringt, so dass die Zeiger seiner inneren Uhr sich wie wild drehen (164, 175, 177). Auch hier liegt wieder eine Explikation vor. Sie ist die Schnittstelle zwischen Zeit und Raum der Erzählung. Zeit und Raum kondensieren in Kukoverovs Vorstellung zu einem Augenblick und heben sich dadurch auf, wie er selbst bereits zu Anfang Talja zu erklä-

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ren versucht (144). Immer wieder verfällt Kukoverov auf den Gedanken, die Zeit zu einem Augenblick zusammenzupressen: „Aber vielleicht hat Kukoverov recht, es ist ein und dasselbe: eine Minute und ein Jahr und manchmal eine Stunde – das ist das ganze Leben (179, vgl. auch 148, 153, 155). Gerade die relative Bedeutung der Zeit, die sie für das Individuum hat, ist es, was den eigentlichen Gegenstand dieser Erzählung ausmacht. Sie besteht aus zahlreichen, nicht weiter explizit gemachten Prolepsen und Analepsen, die ebenfalls den Eindruck erwecken, dass ihr kein linearer Ablauf zugrunde liegt (der gleichwohl rekonstruierbar ist), sondern Gleichzeitigkeit. Nicht die Zeit bzw. ihr Verlauf ist das Allerwichtigste, sondern das Gegenteil, der Zeitpunkt und Augenblick, in dem alles auf einmal zusammenkommt.66 Krümmung und Halbkreis sind äquivalent. Der Halbkreis, der von der Krümmung beschrieben wird, steht für das bevorstehende Ereignis – für die Verpuppung, den Kampf, die Hinrichtung – und dafür, dass es danach weitergeht: Am Ende, als Kukoverov den Halbkreis betrachtet, den der Türhaken im Laufe der Jahre in das Holz der Tür gefräst hat, stellt er fest, dass es keinen Tod gibt (183). Allein auf dem Stern ist der Kreis zu Ende gezogen, und die letzten Bewohner treten kurz vor ihrem Ende in seine Mitte (169, 174). In der Erzählung ist Zamjatins Vorgehensweise, ein „integrales Bild“ zu benutzen, das die ganze Geschichte durchzieht, mit großer Deutlichkeit realisiert. Dieses Verfahren stellt er im Essay „Hinter den Kulissen“ der ihm ebenso wichtigen Lautinstrumentierung gegenüber. Die Krümmung der Raupe setzt sich als narrative Explikation dieses Motivs fort in der Krümmung des Fliederzweigs und weiter in der des Embryos, der in Taljas Schoß heranwachsen wird – beides drückt aus, dass dem nahen Tod (Verpuppung der Raupe und Erschießung Kukoverovs) neues Leben nachfolgen wird. Die Kohärenz der Erzählung, die im Aufeinanderbezogensein von Raupen-, Stern- und Bürgerkriegswelt besteht, wird von der Explikation des Motivs der gespannten Krümmung gestiftet und nicht von der kausalen Abfolge der Ereignisse, die willkürlich und fragmentarisch ausgewählt erscheinen. Ihr Zusammenhang wird in der Hauptsache vom Sujet – von der Motivik – gesteuert, nicht von den Ereignissen der Fabelebene. In der Kontingenz und Fragmentarizität der Fabel wird das kosmische Desaster der Kollision von Erde und _________ 66

Vgl. Zamjatins Ausführungen im Essay „Hinter den Kulissen“ (s. Anm. 58 oben): „[…] nur das Wesen, der Extrakt, die Synthese, das, was für die hundertstel Sekunde die Augen öffnet, wenn sich alle Gefühle zugespitzt und komprimiert wie im Brennpunkt sammeln“ (137). Zu Zamjatins Kunstverständnis in Reaktion auf die moderne Physik vgl. besonders die Essays Vom Synthetismus und Über Literatur, Revolution, Entropie und anderes im selben Band und weiterführend mit zahlreichen Literaturangaben Goldt 1995.

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Stern vorweggenommen, im Sujet realisiert sich als narrative Explikation die darüber liegende Ordnung. Mit diesen Ausführungen wurde keine vollständige Interpretation von Zamjatins Erzählung angestrebt. Stattdessen ging es darum, das Verfahren der narrativen Explikation an einem Beispiel zu illustrieren. Es besteht darin, dass von der Linearität der Zeit, den Intentionen der Figuren und der Kausalität der Ereignisse, die Faktoren der Fabelentwicklung sind, abgesehen wird – und dafür das Sujet auf der Basis von motivischen Expansionen expliziert wird. Wenn man so will, generiert das Sujet auf diese Weise die Fabel. „Die Erzählung vom Allerwichtigsten“ wird nicht von der histoire her gedacht, für die der Erzähler etwa im Akt der narration einen discours entwickelt. Vielmehr entsteht aus der Explikation des integralen Bildes (also vermittels des discours) die histoire. Die Narrativität der Explikation besteht indes in ihrer Bezogenheit auf eine Ereigniskette, deren Kohärenz nur nicht von ihrer Kausalität, sondern von der Explikation eines oder mehrerer Motive determiniert wird. Was die Anwendung des Begriffs der narrativen Explikation angeht, so wird man in den meisten Fällen seiner Intuition vertrauen dürfen und zunächst die quantitative Expansion eines Motivs ohne Auszählen abschätzen können. In Zweifelsfällen ist dieser Schritt aber nachprüfbar, indem man die relative Häufigkeit eines Motivs in der Erzählung feststellt. Die eigentliche Arbeit fängt jedoch erst mit dem zweiten Schritt an, wenn man die qualitativen Beziehungen des expandierten Motivs bestimmt. Hier ist eine weitere Theoretisierung erforderlich, die mögliche Beziehungen systematisch in eine möglichst geschlossene Matrix bringt. Eine solche Matrix könnte z. B. auf Symmetrieverhältnissen oder auf Formen der Übertragung (Metapher, Metonymie) aufgebaut werden, wie hier nur angedeutet werden kann. Ziel dieses Kapitels war es, anhand von Zamjatins Erzählung eine mögliche Ausdeutung und Generalisierung des Begriffs der Entfaltung zu liefern und zur weiteren Beschäftigung mit dem Begriff anzuregen.

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MATTHIAS AUMÜLLER (Universität Wuppertal)

Die russische Kompositionstheorie 1. Einleitung Die große Bedeutung der russischen Literaturwissenschaft der zehner und zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts wird allgemein mit den Namen Viktor !klovskij, Boris "jchenbaum und Jurij Tynjanov verknüpft. Als russische Formalisten sind sie in die Geschichte eingegangen. Weniger bekannt ist eine andere Gruppe von russischen Wissenschaftlern, deren Arbeiten ebenfalls formal orientiert waren und von ihren Zeitgenossen auch als formalistisch wahrgenommen wurden. Sowohl biographisch-institutionelle als auch methodisch-theoretische Gründe sprechen jedoch dafür, die Ansätze dieser weniger prominenten Wissenschaftler unter dem Begriff der Kompositionstheorie zusammenzufassen und sie von den Formalisten zu trennen. Da längst nicht geklärt ist, welche Arbeiten mit Recht zur Kompositionstheorie gezählt werden können, wird dieser einleitende Abschnitt dazu dienen, einen Vorschlag zur Eingrenzung zu machen und auf die historiographische Problematik der Begriffsprägung einzugehen. Dem tschechischen Literaturwissenschaftler Lubomír Dole#el kommt das Verdienst zu, den Begriff der Kompositionstheorie (bzw. Kompositionsanalyse) als Bezeichnung einer Schule eingeführt zu haben.1 Er subsumiert darunter im Kern Arbeiten aus den zwanziger Jahren von Michail Petrovskij (1887–1940) und Aleksandr Reformatskij (1900–1978).2 Ihr Ansatz gilt, wie im zweiten Abschnitt eingehend dargelegt wird, der formal orientierten Analyse von Erzählstrukturen. Im deutschsprachigen Raum hat Aage Hansen-Löve die Bezeichnung aufgegriffen und auf weitere Autoren ausgedehnt (1978, 272–273, Fn. 466). _________ 1

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„The traditional and vague usage of ‚composition‘ was, however, challenged by a group of Russian scholars who – quite explicitly taking up the German stimuli – attempted to develop a more rigorous theory of narrative composition“ (Dole#el 1973, 80). Vgl. auch Dole#el 1990, S. 124–146. Reformatskij, der sein Interesse bald von der Poetik zur Linguistik verlagerte, hat nur einen einzigen Aufsatz zu diesem Thema veröffentlicht (1922).

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Er nennt hier als „Vertreter der Kompositionstheorie“ Autoren wie Leonid Grossman (1919, 1922), Aleksandr Slonimskij (1922b) oder Marija Rybnikova (1923), deren Arbeiten das Wort „kompozicija“ im Titel oder Untertitel haben. Doch gibt es keinen Grund, diese Arbeiten einer Kompositionstheorie im engeren Sinn zuzurechnen, da sie ihren Schwerpunkt entweder auf Spezifika des analysierten Werks legen (was dem Anspruch einer Theorie auf Allgemeinheit nicht gerecht wird) oder auf inhaltliche Deutungen, wie es z. B. Grossman (1925) tut, der die philosophische Dimension von Dostoevskijs Romanen für ein ihre Komposition bestimmendes Element hält. Unabhängig von der Frage, ob diese These zutrifft, haben Grossmans Überlegungen wenig gemein mit den Strukturanalysen von Erzähltexten, die für Petrovskij und Reformatskij charakteristisch sind. Der Begriff der Komposition war in den zwanziger Jahren in Russland (bzw. der Sowjetunion) sehr gebräuchlich.3 Exponenten der Kompositionstheorie sind jedoch nur jene Arbeiten, in denen so genannte Kompositionselemente erkennbar als formale (d. h. cum grano salis als vom Inhalt abstrahierte) Elemente behandelt werden und in denen es darum geht, allgemeine Erzählstrukturen herauszuarbeiten und zu systematisieren. In diesem spezifischen Sinne ist der Ausdruck „Komposition“ kein mehr oder weniger unscharfer und unsystematisch verwendeter Platzhalter für Begriffe wie Werkganzes, künstlerische Aufgabe (russ. zadanie) oder ähnliches. In der Kompositionstheorie, wie sie hier verstanden wird, ist der Begriff der Komposition vielmehr konzeptuelles Zentrum der Modellbildung und ist vor allem mit der Erfassung temporaler Strukturen in Erzählungen verbunden. Das Bemühen um eine theoretische Fundierung des Kompositionsbegriffs ist vor allem in den Aufsätzen Petrovskijs und Reformatskijs zu erkennen. Im Mittelpunkt dieser Untersuchung stehen die Arbeiten Petrovskijs, der die entscheidenden Anstöße gegeben hat.4 Da Petrovskij _________ 3

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Vgl. dazu auch Dole!el 1973, 80 und 84, Fn. 31, sowie 1990, 137, wo es heißt, dass die Formalisten als Hauptbegründer der russischen Poetik der Narration den Begriff der Komposition vermieden hätten und der Begriff ansonsten in unspezifischer Weise benutzt worden sei. Dole!el weist mit Recht auf die verbreitete unspezifische Gebrauchsweise hin. Allerdings ist die andere Behauptung nicht ganz richtig: Zumindest "jchenbaum benutzt den Ausdruck „kompozicija“ in einigen Werken durchgehend (1919a, b, 1921, 1922a, b), und gerade seine Verwendungsweise lässt Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Formalisten und Kompositionstheoretikern deutlich hervortreten. Dole!el (1973, 82) hat mehr Sympathien für Reformatskijs Arbeit und vertritt die Ansicht, dass es offen bleiben müsse, wem die innovativen Anstöße zu verdanken seien. Ich vermute, dass sich Reformatskij in den entscheidenden Passagen nicht nur aus Höflichkeit auf Petrovskij beruft, dessen erste Kompositionsanalyse ein Jahr vor Reformatskijs Arbeit erschienen ist und in dessen Maupassant-Seminar Reformatskij seine Arbeit (die sich in ihrem Anwendungsteil mit der Novelle Un coq chanta befasst) geschrieben hat.

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seinerzeit den Formalisten zugerechnet wurde5, bedarf es einer besonderen Rechtfertigung, seinen Ansatz von dem der Formalisten im heute üblichen Verständnis zu isolieren. Denn die damalige Einschätzung Petrovskijs als Formalist war gewiss nicht nur eine ideologische Diffamierung, sondern beruhte auch auf der formalen Ausrichtung seiner Arbeiten. In einer ersten Annäherung lässt sich aus systematischer Sicht durchaus sagen, dass Petrovskij wie !klovskij, "jchenbaum, Tynjanov u. a. einer im weiteren Sinne formalen Richtung der Literaturwissenschaft in Russland zugerechnet werden kann: Sie alle vereinigt eine nicht-marxistische, nicht-biographistische und dafür textorientierte Herangehensweise. Beide Ansätze gehören zur Vorgeschichte des literaturwissenschaftlichen Strukturalismus. Ja, man kann sogar sagen, dass die Kompositionstheorie mit ihrem Anspruch auf Systematisierung dem Strukturalismus in gewisser Weise näher steht als !klovskijs Ansatz. Noch ein weiterer Grund spricht dafür, die Kompositionstheorie in die Genealogie des Strukturalismus gesondert aufzunehmen. In historischer Perspektive erscheinen die russischen Formalisten um !klovskij als im OPOJAZ (Gesellschaft zur Untersuchung der poetischen Sprache) organisierte und zeitweise am GIII (Staatliches Institut der Geschichte der Künste) tätige Forschergruppe, die hauptsächlich in Petrograd/Leningrad zu lokalisieren ist, während Petrovskij dem MLK (Moskauer Linguistenkreis) nahestand und an der Moskauer GAChN (Staatliche Akademie der Kunstwissenschaften) arbeitete.6 Zwischen diesen Institutionen, vor allem den nicht-offiziellen wie dem MLK und dem OPOJAZ, gab es zwar Verbindungen, z. B. durch gemeinsame Diskussionsveranstaltungen und persönliche Beziehungen (Roman Jakobson, Vladimir Majakovskij, Osip und Lilja Brik). Aber die unterschiedliche institutionelle Verankerung der OPOJAZ-Formalisten einerseits und Petrovskijs andererseits legt neben den theoretischen Meinungsverschiedenheiten eine Trennung zwischen Kompositionstheorie und OPOJAZ-Formalismus nahe. Wie schwierig eine Abgrenzung der Kompositionstheorie Petrovskijs von anderen formalen Positionen jedoch in theoretischer Hinsicht ist, ergibt sich bereits daraus, dass der MLK – und mit diesem Jakobson – zumindest zeitweise für eine Unterordnung der Poetik unter die Linguistik plädierte, wogegen sich "jchenbaum (1922c) streng verwahrte. _________ 5 6

Vgl. Literaturnaja !nciklopedija 1930. Vgl. Dmitriev/Lev!enko 2001 und Literaturnaja !nciklopedija 1934. Zu den biographischen Beziehungen vgl. auch Steiner 1984, S. 16–18, der zudem die wechselseitigen Einflussnahmen durch die institutionelle Organisierung der Formalisten mit anderen Wissenschaftlern hervorhebt, und Hansen-Löve 1978, Fn. 340. Zur GAChN vgl. ChanMagomedov 1997, Strekopytov 1997, Barck 2002.

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Jakobson aber wird umstandslos dem russischen Formalismus zugerechnet, obwohl er theoretisch wie institutionell nicht zum engeren Kreis der sog. opojazovcy gehörte. Aus den zugänglichen Arbeiten Petrovskijs (sein Nachlass wurde bei seiner Verhaftung konfisziert) ist eine theoretische Nähe zum MLK in dieser Frage nicht abzuleiten. Dagegen hat er die Schriften der OPOJAZ-Formalisten zur Kenntnis genommen und sich gelegentlich kritisch zu ihnen geäußert.7 Reformatskij wiederum hatte zunächst Kontakt zum MLK gehabt und sich bereits mit den OPOJAZ-Schriften auseinandergesetzt, ehe er Petrovskijs Student wurde.8 Eine weitere Aufgabe dieses Beitrags besteht in einer Gegenüberstellung der Kompositionstheorie mit dem russischen Formalismus der opojazovcy um !klovskij, da beide Ansätze häufig in Verbindung miteinander thematisiert wurden, ohne dass die Gemeinsamkeiten und Unterschiede ausgeführt worden wären. Viel Beachtung haben die kompositionstheoretischen Arbeiten bisher aber kaum gefunden. Erst durch den britischen Neo-Formalist Circle an der Universität Keele, dem auch einige Übersetzungen ins Englische zu verdanken sind, und Dole"el wurde seit den 1970er Jahren verschiedentlich auf Texte von Petrovskij Bezug genommen.9 Während Michael O’Tooles Bezugnahme auf Petrovskij seinem eklektischen Ansatz10 entsprechend in einem viele heterogene Konzepte synthetisierenden Interpretationsmodell aufging, versuchte Dole"el zum einen (1971, 1972), in systematischer Hinsicht an Reformatskij anknüpfend, eine Motivtheorie zu entwickeln, und zum andern (1973, 1990), in historischer Hinsicht eine Brücke zu deutschen Vorläufern zu schlagen. Diese letztere These griff Hansen-Löve auf und brachte, ohne dies jedoch im Einzelnen genauer zu belegen, in seiner kurzen Darstellung der Kompositionstheorie zusätzlich gestaltpsychologische, phänomenologische und kunstwissenschaftliche Theoriefragmen_________ 7

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Vgl. Petrovskij 1925a, 196–203. Dieser Disput mit #jchenbaum um die allgemeine Bedeutung des Helden Sil’vio für Pu$kins Vystrel (Der Schuss) betrifft jedoch nur ein vergleichsweise unbedeutendes Detail. Auch Petrovskijs entgegengesetzte Gebrauchsweise der Ausdrücke „Fabel“ und „Sujet“ betont eher die weitgehende Übereinstimmung in der Sache, als dass sie fundamentale Differenzen ausdrückte. Vgl. dazu den Aufsatz von Wolf Schmid in diesem Band. Reformatskijs einschlägige Arbeit Opyt analiza novellisti!eskoj kompozicii (1922) wurde in einer vom Formalisten Osip Brik finanzierten Broschüre mit dem Aufdruck Moskovskij kru"ok Opojaza publiziert, ein Indiz dafür, dass es Bestrebungen gab, die formalen Ansätze in Russland zu bündeln. Vgl. Petrovskij 1987a, 1987b; O’Toole 1971, 1982; Shukman 1977; Andrews 1984; Dole"el 1971; 1972; 1973; 1990. In jüngster Zeit hat David S. Miall (2004) versucht, auf der Basis von Reformatskij 1922 den Episodenbegriff im Rahmen der reader response theory neu zu bestimmen. Vgl. Jefferson 1983.

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te aus der deutschen Wissenschaft um die Wende des 19./20. Jahrhunderts in die Diskussion ein (1978, 264–267). Diesen Vorschlägen zufolge wird die Kompositionstheorie vom OPOJAZ-Formalismus also durch die These abgegrenzt, dass sie mit bestimmten deutschen Ansätzen systematische Gemeinsamkeiten aufweise und in einer historischen Kontinuität mit diesen stehe. Wie sich zeigt, hat gerade die mutmaßliche Verbindung zu deutschen Ansätzen zur Identifizierung der Kompositionstheorie beigetragen. Im dritten Abschnitt soll indessen dargelegt werden, dass die These von der Verbindung zu deutschen Ansätzen problematisch ist und substantielle Unterschiede übergeht.11 Meine Auffassung ist, dass diese Unterschiede eine historiographische Verklammerung von russischen formal orientierten Ansätzen und deutschen Arbeiten ausschließen. Ich plädiere dafür, den Begriff der Kompositionstheorie für Petrovskijs und Reformatskijs Ansatz zu reservieren, da die in die Diskussion gebrachten deutschen Ansätze erstens selbst weder systematisch noch historisch eine Einheit bilden und zweitens gewichtige Unterschiede zur russischen Kompositionstheorie aufweisen. Die mögliche historisch-systematische Verbindung des russischen Formalismus zu formalen Ansätzen deutscher Provenienz wurde bereits von zeitgenössischen Autoren diskutiert.12 Zu beachten ist freilich, dass damals nicht die Kompositionstheoretiker Petrovskij und Reformatskij, sondern die OPOJAZ-Formalisten mit westlichen Ansätzen in Verbindung gebracht wurden. Dabei lässt sich insbesondere in der Darstellung von Rozalija !or (1927) die Tendenz erkennen, den OPOJAZ-Formalisten unter Aufweis ähnlicher Überlegungen in der westeuropäischen Literaturwissenschaft ihre Originalität abzusprechen. Eine OPOJAZkritische Einstellung beweist auch Pavel Medvedev (1928). Seine Strategie ist jedoch genau umgekehrt: Er gibt in seiner Abhandlung vor allem Unterschiede zwischen dem russischen und dem westeuropäischen Formalismus zu bedenken, mit dem Ziel, die russische Variante als einseitig zu diskreditieren. Aus diesen Befunden ergibt sich folgendes Programm für diesen Beitrag: eine Rekonstruktion von Petrovskijs Ansatz in Gegenüberstellung mit den Auffassungen der opojazovcy einerseits und den deutsch_________ 11

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Ausdrücklich sei auf Schulz (1997) hingewiesen. Diesen Aufsatz habe ich erst lange nach Fertigstellung des vorliegenden Textes zur Kenntnis genommen. Die Autorin kommt zu ähnlichen Einschätzungen, so dass die Ausführungen des 3. Abschnitts als unabhängige Bestätigung dienen können. Vgl. !or 1927, an der sich Dole"el weitgehend orientiert, #irmunskij 1927 und sehr ausführlich Medvedev 1928. Dole"els Konzeption ist insofern an !ors Darstellung orientiert, als er von ihr die Idee übernimmt, einige deutsche (bzw. österreichische) Entwürfe unter den Begriff der Kompositionstheorie zu bringen. Er weicht aber von ihr ab, indem er sie mit Petrovskijs und Reformatskijs Ansatz in einen systematischen Zusammenhang bringt.

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sprachigen Entwürfen andererseits. Das Ergebnis wird deutlich machen, dass Petrovskijs Kompositionstheorie eine eigenständige Konzeption zugrunde liegt, die mit den vermeintlichen Vorläufern zwar einige Ausdrücke teilt, aber in theoretischer Hinsicht entscheidende konzeptionelle Veränderungen aufweist.

2. Rekonstruktion der russischen Kompositionstheorie Wenn „Kompositionstheorie“ mehr sein soll als nur eine façon de parler, mit der man all das unter ein Schlagwort bringt, was nicht im engeren Sinn dem russischen Formalismus angehört, ihm aber doch irgendwie nahesteht, dann sollten Prinzipien namhaft gemacht werden, mit denen sich die Kompositionstheorie als Theorie oder Theorieansatz darstellen lässt. Eine Rekonstruktion der russischen Kompositionstheorie der Erzählprosa steht indes vor dem Problem, dass Petrovskij verallgemeinerbare narrative Strukturen nur ansatzweise herausarbeitet und dass damit der Theoriestatus insgesamt möglicherweise in Frage steht. Dennoch lassen seine Untersuchungen einige theoriefähige Schlussfolgerungen zu. Im Vordergrund stehen vor allem drei Analysen Petrovskijs (1921, 1925a, 1927a) und eine Arbeit Reformatskijs (1922). Darüber hinaus gibt es noch zwei Nachlassarbeiten Reformatskijs und vier Arbeiten Petrovskijs, die sich jedoch allenfalls am Rande für eine Theorie der Komposition fruchtbar machen lassen. Bei den drei zentralen Aufsätzen Petrovskijs handelt es sich um Werkanalysen von Novellen Maupassants, Pu!kins und "echovs. Das theoriefähige Material, das man aus diesen Analysen isolieren kann, lässt sich in drei Kategorien zusammenfassen, in die sich dieses Kapitel entsprechend gliedert. Der erste Gesichtspunkt (a) gilt der methodischen Nähe der Kompositionstheorie zum Formalismus und damit indirekt zur modernen Narratologie, sofern sie sich als Abkömmling des russischen Formalismus versteht. Im zweiten Abschnitt (b) soll unter dem Schlagwort „Funktionalismus“ ein kompositionstheoretischer Schwerpunkt thematisiert werden, der von Dole#el als bedeutendste Leistung Petrovskijs und Reformatskijs angesehen wird. Als drittes Charakteristikum (c) der Kompositionstheorie wird das Thema „narrative Dynamik“ erörtert, das bislang kaum Beachtung gefunden hat. a. „Formale“ und „morphologische“ Methode Wie der Name andeutet und wie schon in der Einleitung erwähnt, ist der Begriff der Komposition von entscheidender Bedeutung für Petrov-

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skijs Analyse von Erzählwerken. Es soll zunächst die allgemeine Bedeutung von „Kompositon“ im literarischen Kontext erläutert werden, um dann in diesem Abschnitt einige Gemeinsamkeiten der Kompositionstheorie mit dem russischen Formalismus herauszustellen, die eine theoretische Verortung der Kompositionstheorie ermöglichen sollen. Unter dem Begriff der Komposition verstehen die russischen Autoren im Allgemeinen zunächst die Makrostruktur eines Erzähltextes. Er wird in den meisten Abhandlungen explizit oder implizit dem Stil gegenübergestellt. Wenn man diese Dichotomie präzisiert, lassen sich die formalen Aspekte eines literarischen Werks einteilen in kompositionelle13 und stilistische. Zum Stil würden dann vor allem lexikalische und syntaktische Phänomene zählen und zur Komposition größere Wortgruppen, die man zu besonders abgegrenzten Textsegmenten bündelt (z. B. Episoden). In der Kompositionstheorie der Erzählprosa geht es nur um das Verhältnis von solchen Textsegmenten, und nicht um die lexikalische Stilebene. Damit ist das Feld der Untersuchungsgegenstände und -perspektiven sehr viel kleiner als das des russischen Formalismus, in dem beide Bereiche Beachtung finden.14 Die Einteilung in Stil und Komposition mag aufgrund von Überschneidungen fraglich sein, doch ist die skizzierte allgemeine Verwendungsweise von „Komposition“ sehr weit verbreitet zu jener Zeit und dokumentiert trotz des engen Fokus der Kompositionstheorie eine erste Gemeinsamkeit Petrovskijs mit den Formalisten. So schreibt Boris !jchenbaum in seiner Monographie über den jungen Tolstoj, dass im Mittelpunkt seiner Untersuchung neben den ästhetischen Traditionen im Frühwerk Tolstojs dessen „stilistische und kompositionelle Verfahren“ stünden. Es sei üblich geworden, eine solche Methode „formal“ zu nennen, doch ziehe er den Ausdruck „morphologisch“ vor (1922a, 34). Genau dieser Ausdruck ist auch ein Lieblingsausdruck Petrovskijs, der ihn gleich in zwei Aufsatztiteln verwendet (1925a und 1927a), ihn aber auch schon früher zur Bezeichnung seiner Analysemethode benutzt (1921, 106). Es handelt sich dabei nicht nur um ein bloßes Schlagwort. Petrovskij versucht es zu spezifizieren und schreibt, dass die morphologische Methode in „einer direkten, immanenten Analyse des Inhalts als eines poetischen Faktums“ bestehe (1925a, 174). Darunter ist der Anspruch zu verstehen, bei der Analyse nur von jenen Daten auszugehen, die der Text als solcher liefert. Impliziert wird damit die Ausklammerung jeglicher Autorintentionen und außerliterarischer Daten. Angestrebt wird eine Analyse des (literarischen) Ausdrucks _________ 13 14

Hier und im Folgenden wird als Adjektiv zu „Komposition“ ausschließlich „kompositionell“ benutzt. Das üblichere „kompositorisch“ bleibt so dem Musik-Kontext vorbehalten. Vgl. auch das Kapitel „Style and Composition“ in Erlich 1955, 230–250.

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im Gegensatz zu einer Untersuchung des ausgedrückten Gegenstandes, wie sie laut Petrovskij von der traditionellen, nicht formal arbeitenden Literaturwissenschaft vorgezogen wird (1927c, 58).15 Allerdings irritiert Petrovskijs Verwendung des Inhaltsbegriffs in dem Zitat: Gegenstand der morphologischen Analyse sei der Inhalt. Doch sieht er den Ausdruck „ästhetischer Inhalt“ als Synonym an, um das literarische Kunstwerk zu bezeichnen, und versteht darunter die Einheit von geformter Materie (1925a, 173). Ziel ist, den Form-InhaltDualismus zu überwinden, indem beide Elemente als Einheit betrachtet werden. Bekanntermaßen ging es den Formalisten ebenfalls um die Überwindung dieses Dualismus und um die Kritik an jener traditionellen Auffassung, wonach der Inhalt eines Kunstwerks der Kern (und damit das eigentlich Wichtige) sei, die Form aber bloß dessen Hülle (und darum zu vernachlässigen).16 Damit einher geht der neue wissenschaftliche Anspruch aller formal arbeitenden Wissenschaftler. Allein auf der Basis der Form (bzw. des Ausdrucks, vyra!enie) sei eine objektive Wissenschaft möglich, wohingegen die Erforschung dessen, was im Werk ausgedrückt werde (z. B. die Weltsicht des Autors), keiner Kontrolle durch das literarische Datum mehr unterliege. Die Erforschung des Inhalts münde in subjektive Willkür und drücke das im Kunstwerk Ausgedrückte nur noch einmal aus, jedoch auf andere Art und Weise, was einem sekundären Ausdruck gleichkomme, der vom Ausdruck des Kunstwerks abweiche und sich damit von ihm wegbewege, anstatt ihm nahezukommen und zu erklären (Petrovskij 1927c, 58). Den Formalisten und Kompositionstheoretikern gemeinsam ist also die Absicht, eine „strenge“ Wissenschaft zu etablieren. Allerdings gibt es Unterschiede darin, wie eine solche auszusehen habe. !jchenbaum (1926, 375) wehrt sich im Namen des OPOJAZ ausdrücklich gegen eine Festlegung auf eine bestimmte Methode bzw. eine starre Theorie mit unverrückbaren Definitionen und lässt nur Arbeitshypothesen gelten, die jederzeit wieder aufgegeben werden könnten, wenn ein guter Grund _________ 15

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Besonders in diesem Aufsatz (Petrovskij 1927c) zeigen sich einige Ähnlichkeiten mit Boris !ngel’gardts im selben Jahr publiziertem Systematisierungsversuch der formalen Literaturanalyse aus methodologischer Perspektive. Diese auch von Erlich (1955, 186) gesehene Sympathie des ebenfalls am Leningrader GIII beschäftigten !ngel’gardt mit seinen formalistischen Kollegen wurde von diesen anscheinend nicht beantwortet, da sie !ngel’gardts Versuch, die formalistische Literaturtheorie nicht nur zu rechtfertigen, sondern sie ansatzweise auch in einer alle ästhetischen Phänomene umfassenden wissenschaftlichen Ästhetik zu verorten, als unzulässigen Relativierungsversuch ansahen. Vgl. Dmitriev/Lev"enko 2001, 211. Zu Petrovskij und seinem ebenfalls an der GAChN in Moskau tätigen Kollegen Gustav #pet vgl. Hansen-Löve 1978, 181 f. und Fn. 340, sowie Steiner 1984, 18. Vgl. Tynjanov 1924, 9, !jchenbaum 1926, 388, sowie Hansen-Löve 1978, 189.

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gefunden werde, der gegen sie spreche.17 Demgegenüber ist den wenigen methodischen Reflexionen Petrovskijs zu entnehmen (1925a, 173– 175), dass er seine eigenen Ergebnisse nicht in diesem Maße relativieren würde. Petrovskij plädiert dafür, eine Methode für eine strenge Wissenschaft von der Literatur zu konzipieren, die er „Poetik“ nennt und als deren Aufgabe er die Untersuchung der Form als „Gegenstand des ästhetischen Wissens“ bestimmt (1925a, 174).18 Mit diesem Ziel verknüpft ist das explizit formulierte Anliegen, eine wissenschaftliche Terminologie zu etablieren, die literaturspezifische Phänomene ambivalenzfrei zu fassen in der Lage ist (1921, 106). Daher Petrovskijs Vorliebe für Fremdwörter, mit deren Hilfe er Äquivokationen und die semantische Streubreite, die die Verwendung russischer Ausdrücke in seinen Augen nach sich zieht, vermeiden möchte. Dies übernimmt Reformatskij (1922, 487), der in einem Interview auch auf den Einfluss von Husserls „Logischen Untersuchungen“ und „Philosophie als strenge Wissenschaft“ hinweist (Duvakin 1973, Kassette 364, 3. Band), worin dieser ein ähnliches Grundlegungsprojekt für die Philosophie verfolgt.19 Ein weiteres Kennzeichen, das den Willen zur Objektivität sowie einen prästrukturalistischen Habitus dokumentiert, ist der wiederkehrende Gebrauch von Schemata, die weniger der Veranschaulichung der Befunde dienen, als vielmehr ihren verallgemeinerungsfähigen Modellcharakter repräsentieren.20 Seinen Systematisierungswillen macht Petrovskij auch in seiner _________ 17

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Diese Ansicht erweckt den Eindruck methodischer Willkür, was dem zugleich vertretenen Anspruch auf Wissenschaftlichkeit – sofern man darunter die Suche nach generalisierbaren Aussagen versteht – widerspricht. Man sollte möglicherweise !jchenbaum nicht in jedem Detail folgen und diese Äußerungen nicht für den gesamten OPOJAZ verallgemeinern, zumal !jchenbaum selbst sich zu der Zeit, als er den Aufsatz verfasste, in einer Übergangsperiode befand. Im Unterschied dazu qualifiziert er den ästhetischen Inhalt als „Gegenstand der ästhetischen Wahrnehmung“ und „Materie als Gegenstand ästhetischen Schaffens“ (ebd.). – An dieser Stelle wird ein Widerspruch Petrovskijs offenbar: Während er hier Materie, künstlerischen Inhalt und Form als drei verschiedene Erkenntnisgegenstände definiert und nur die Form als Gegenstand der Poetik dem Wissen zuordnet, macht er wenige Zeilen später in der bereits zitierten Definition der morphologischen Methode den Inhalt, den er ja als Synthese von Form und Materie eingeführt hat, zum Analysegegenstand. – Ungeachtet dieses Widerspruchs ist hier auf Petrovskijs methodologischen Anspruch hinzuweisen, den Forschungsbereich der Poetik textorientiert auf formale Elemente einzugrenzen. Zu Husserl und seiner Verbindung zum Strukturalismus vgl. Holenstein 1975. Vgl. auch Reformatskij 1922, 488–492. Dort zählt Reformatskij jene Strukturelemente tabellarisch auf, die sich größtenteils aus Petrovskijs Analyse ergeben. Genau solche Systematisierungsversuche waren den Formalisten fremd. Vgl. !jchenbaum 1926, 395. Sie dokumentieren m. E. Glanz und Elend der Kompositionstheorie im Vergleich zum russischen Formalismus: Zum einen zeigen sie den Anspruch auf systematische Konsistenz und Vollständigkeit, wie er auch von der modernen Narratologie vertreten wird. Andererseits ist die daraus resultierende Nüchternheit nur mäßig attraktiv, weil diese Systematisierungen der formalistischen Verve vollkommen entraten. !jchenbaums Bedenken gegenüber Systematisierungen kommen sowohl in seinem Tagebuch mit Bezug auf Viktor

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Abhandlung über Oskar Walzel deutlich, wenn er die Kunst als System ausdrückender Zeichen begreift und damit explizit die später für den Strukturalismus typische Analogie zwischen Sprache und Kunst aufstellt (1927b, 121, 123 f.). Das Vorhaben, den Form-Inhalt-Dualismus aufzulösen und die Form oder den Ausdruck eines Werks zum Gegenstand einer wissenschaftlichen Poetik im Gegensatz zu seinem Inhalt zu machen, wirft das grundsätzliche Problem auf, welchen Status das hat, was man traditionellerweise unter „Inhalt“ versteht, und was es überhaupt ist. Mindestens zwei Möglichkeiten ergeben sich: Man kann den Inhalt ganz aus der Analyse als irrelevant herauszuhalten versuchen oder ihn als integralen Bestandteil der Form begreifen.21 Im Unterschied zu der in !klovskijs Œuvre immer wiederkehrenden Thematisierung des Primats der Form und auch im Unterschied zu der bei "irmunskij notorischen Distanzierung von dieser einseitigen Akzentuierung durch die Formalisten findet sich in Petrovskijs Schriften kein solcherart polemischer Zugang zu dem Problem.22 Durch die Ausklammerung der inhaltlich-ideellen Seite aus der Analyse praktiziert Petrovskij einfach die formale Methode, ohne sich ständig ihrer vergewissern zu müssen. Während !klovskij (1925) das Material insofern in seine Theorie integriert, als er es provokanterweise zu einem semantisch und ästhetisch irrelevanten Mittel degradiert, das lediglich dazu dient, eine bestimmte Form zu realisieren, fehlt diese explizite Dienstbarmachung des Inhalts bei Petrovskij, wenngleich seine Qualifizierung der Materie als passives Grundelement des Kunstwerks durchaus daran erinnert (1925a, 173).23 Eben diese Facette berücksichtigt _________

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"irmunskij zum Ausdruck, dessen lehrbuchhafte Untersuchungen er kritisch beurteilt (#jchenbaum 1987, 513), als auch in einem Brief an denselben "irmunskij (vom 19.10.1921), in dem er sich auf eine Meinungsverschiedenheit zwischen ihnen bezieht: Diese hatte sich an der unterschiedlichen Bewertung von (ausgerechnet) Petrovskijs Aufsatz über Maupassant entzündet, der "irmunskijs, nicht aber #jchenbaums Zustimmung gefunden hatte (#jchenbaum/"irmunskij 1988, 315). Nach Erlich (1955, 187) pendelt !klovskij genau zwischen diesen beiden Möglichkeiten. Vgl. auch Hansen-Löve 1978, 190. In seiner Haltung zu diesem Problem zeigt sich !klovskijs Nähe zum russischen Futurismus. Vgl. Erlich 1955, 45. In späteren Arbeiten Petrovskijs (1928, 1931) ist die Tendenz weg von einer Deskription der Struktur hin zu einer Deskription des Inhalts zu beobachten. Beibehalten wird aber die Scheu vor weitergehenden interpretierenden Eingriffen, die von biographischen Quellen ausgehen und auf die Ideologie des Autors zielen. Petrovskij wie #jchenbaum lassen andere Methoden zu. Das tut Petrovskij, wenn er schreibt, dass die Materie eines Kunstwerks der Untersuchung ebenfalls zugänglich sei (1925a, 175). Dabei denkt er an die Untersuchung dessen, wie aus „vorpoetischer Materie“ eine künstlerische Form wird. Diese Untersuchungsmethode nennt er „morphogenetisch“ (1925a, 174). Interessanterweise weist er aber der morphologischen Methode eine herausragende Stellung zu, da man nur mit ihrer Hilfe die Materie aus einem Kunstwerk abstrahieren könne (175). Ähnlich #jchenbaum (1926), der anderen Methoden bzw. Interessen ihre Berechtigung gibt, je-

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Hansen-Löve nicht, wenn er schreibt, dass der „Hauptunterschied zwischen Kompositionstheoretikern und Formalisten […] wohl in der völlig entgegengesetzten Auffassung der inhaltlich-thematischen Einheiten“ bestehe, und hervorhebt, dass diese Einheiten „aus formalistischer Sicht passives Objekt der Transformation durch die autonome Sujetstruktur“ seien, nicht aber aus kompositionstheoretischer Sicht (1978, 263) – und das, obwohl er genau diese Passage aus Petrovskij einige Seiten später selbst zitiert (270). Es ist zu vermuten, dass Hansen-Löve hier (263) mehr an den eben bereits erwähnten Viktor !irmunskij und dessen Bewertung thematischer Einheiten denkt als an Petrovskij, denn er rechnet den ursprünglich dem OPOJAZ gewogenen Petersburger Wissenschaftler !irmunskij (1919) ebenfalls der Kompositionstheorie zu24. !irmunskij distanzierte sich gerade deshalb wieder von den Formalisten, weil er die thematische Seite nicht der formalen unterordnen wollte. Zwar bekannte auch er sich zur formalen Methode, begriff sie allerdings als eine von vielen Methoden, mit denen man ein Kunstwerk analysieren kann. Der Alleinanspruch der Form sei nicht mehr formal, sondern formalistisch (1923, 157). Hinsichtlich der Bedeutung thematischer Anteile im Kunstwerk vertrat !irmunskij jedoch eine ganz andere Position, die so weit ging, in Werken realistischer Prosa, wie jenen Stendhals oder Tolstojs, allein die thematischen Einheiten als bedeutsam anzusehen (ebd., 172, und 1921/23, 48). !irmunskij erweist sich somit als jemand, der am FormInhalt-Dualismus prinzipiell festhält und die methodologische Tragweite der (in diesem Sinne auch für Petrovskijs Kompositionstheorie geltenden) formalistischen Haltung offensichtlich nicht anerkennen möchte. Ihn der Kompositionstheorie zuzurechnen erscheint damit ebenso zweifelhaft (und historisch-biographisch irreführend) wie die Ansicht, dass er den Formalisten zugehöre.25 _________

24

25

doch nur unter der Bedingung, dass es sich dann um andere Wissenschaften handele (z. B. um Psychologie). Zur Abgrenzung der Literaturwissenschaft vgl. auch Jakobson (1921, 31–33) und Jarcho (1925/26) sowie zu Letzterem Margolin (1979). Tynjanov (1924, 9) hat in seiner Kritik der Gebrauchsweise von „Komposition“ vermutlich auch nicht Petrovskij im Sinn; deshalb ist Hansen-Löves Ansicht (1978, 315), dass Tynjanov sich gegen die Kompositionstheorie stelle, so pauschal formuliert irreführend. In diesem Zusammenhang kann der Hinweis nicht schaden, dass sich !irmunskijs Interesse in dieser Zeit ausschließlich auf die Verskunst richtete (was für Tynjanov 1924 ebenfalls gilt). Die Kompositionstheorie der Prosa, wie sie von Petrovskij vertreten wurde, sollte nicht mit einer (aufgrund seiner breiten Verwendung dieses Ausdrucks) möglichen Kompositionstheorie der Verskunst im Sinne !irmunskijs (1921) konfundiert werden. Vgl. auch !irmunskijs Versuch (1922), an die Epochenbegriffe der deutschen Literaturwissenschaft anzuschließen, der nichts mit Petrovskijs Ansatz gemein hat. Vgl. dazu auch Erlich 1955, 96–98.

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Es gibt noch einen weiteren Aspekt des Form-Inhalt-Problems, der sich in einer Parallele zwischen Petrovskij und !jchenbaum zeigt. Für den hinsichtlich dieses Problems einen Monismus vertretenden Petrovskij gibt es konsequenterweise keine reine Form und keine reine Materie. Entsprechend ist für ihn jedes inhaltliche Thema, sogar schon jedes Wort vorgeformt. Und zwar bestehe diese „vorpoetische elementare Ausformung“ neben ihrer räumlichen und kausalen Strukturierung „vor allem in der zeitlichen Abfolge der Materie“ (1925a, 175). Ähnlich !jchenbaum: Er sieht in den frühen Tagebüchern Tolstojs, die ihn nicht in psychologisch-biographischer Hinsicht interessieren, die künstlerischen Verfahren von Tolstojs künstlerischer Prosa bereits angelegt (1922a, 36). Die Vorgeformtheit des Materials bestehe in der für Tolstoj spezifischen Methode der Selbstvergewisserung und Rechtfertigung, die sich sowohl in den Tagebüchern als auch in den Erzähltexten wiederfinde und beide inhaltsunabhängig strukturiere.26 Allerdings setzen beide jeweils unterschiedliche Akzente, was auch von den verschiedenen Untersuchungsgegenständen herrührt. Während !jchenbaum sein Interesse Tolstojs Tagebüchern zuwendet, um mit ihrer Hilfe Material von künstlerischem Verfahren zu unterscheiden, versucht Petrovskij, gewissermaßen von der anderen Seite kommend, Material (bzw. in seiner Terminologie „die Materie“) und Form aus dem Kunstwerk anhand der die Materie vorstrukturierenden Grundelemente Temporalität, Räumlichkeit und Kausalität voneinander zu scheiden (1925a, 181). Petrovskijs entscheidende Einsicht ist, dass die Form, in der eine Erzählung ihre Geschehnisse präsentiert, abweichen kann von jener Form der Geschehnisse, die wir Rezipienten aus der Erzählung rekonstruieren, wenn wir sie verstehen wollen. Dabei richtet er sein Hauptaugenmerk auf den zeitlichen Ablauf der Geschehnisse.

_________ 26

Vgl. in diesem Sinne auch Hansen-Löve 1978, 187 f. In Rücksicht darauf ist Steiner – der allerdings Petrovskij nicht !jchenbaum, sondern "klovskij gegenüberstellt – nicht zuzustimmen: „Petrovskij completely ignores the relation of the literary work to external circumstances. He is even more radical than "klovskij in purging extraliterary phenomena from literary studies. Though the relation of literature to byt in "klovskij’s system was secondary, it was at least implicitly present, since life was considered the material of literature. But Petrovskij cut even this link to extraliterary phenomena by declaring literary material pre-poetic, that is, structured according to the requirements of literature“ (1984, 90). – Dagegen lautet meine Interpretation, dass Petrovskij mit seiner Bestimmung der Materie als vorpoetisch nicht meint, sie sei gemäß den „Bedürfnissen“ der Literatur strukturiert. Stattdessen orientiert sich Petrovskij zufolge die vorpoetische Ausformung an bestimmten strukturellen Gegebenheiten der Materie. Das Verhältnis von Materie und vorpoetischer Ausformung stellt sich Petrovskij also genau umgekehrt dar: Die Materie ist für ihn nicht abhängig von den Bedürfnissen der Literatur, sondern bedingt umgekehrt durch ihre spezielle Ausformung ihrerseits literarische Phänomene.

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b. Funktionalismus Obgleich Lubomír Dole!el zu dem Schluss kommt, dass die Unterscheidung zwischen formaler und funktionaler Ebene durch Petrovskij und Reformatskij einen großen Fortschritt in der Kompositionsanalyse darstelle (1973, 81), und Hansen-Löve sie als „Fortschritt gegenüber der frühen formalistischen Sujettheorie“ bewertet (1978, 271, Fn. 465), relativieren beide ihre Wertschätzung anschließend wieder. Für Dole!el werden in Petrovskijs späteren Schriften theoretische Mängel offenkundig, und Hansen-Löve spricht von bloßen „Postulaten“ (ebd.), bei denen es geblieben sei.27 Wie ist der Funktionalismus der Kompositionstheorie zu bewerten, und worin besteht er überhaupt? Ein erster Aspekt der Kompositionstheorie, in dem sich ihr Funktionalismus manifestiert, ist die Forderung nach Geschlossenheit bzw. Ganzheit des literarischen Kunstwerks. Dieses wird metaphorisch als Organismus aufgefasst, ein Vergleich, der auf Platons Phaidros zurückgeht, in dem Sokrates die Konstruktion rhetorischer Werke mit Hilfe einer Körperanalogie zu veranschaulichen versucht (264c). Entsprechend ist unter der organischen Ganzheit eines Kunstwerks nicht nur die Bedeutsamkeit jedes einzelnen seiner Glieder zu verstehen, sondern auch die bedeutsame Relationierung dieser Glieder untereinander. Dieser Doppelschritt lässt sich bei Petrovskij verfolgen, der zunächst ein statisches Konstruktionsschema einzelner Komponenten aufstellt, um dann zu einem dynamischen Kompositionsschema fortzuschreiten, in dem idealerweise jeder Komponente eine Funktion zugeordnet wird. Das Kunstwerk als Gesamtheit von Komponenten und Funktionen nennt er im Anschluss daran auch einen „poetischen Organismus“ (1925a, 182).28 „Einheit“ und „Ganzheit“ scheinen sich als Schlagwörter verstreut noch in einer anderen Bedeutung wiederzufinden. So ist bei Petrovskij in Anspielung auf die deutsche Novellentheorie seit Goethe von der „Einheit eines Ereignisses“ die Rede, die er für das Grundprinzip der Novellenkomposition hält (1927a, 77). Anschließend weicht er diese Behauptung aber insofern auf, als ein einheitliches Ereignis aus einer einzigen Episode oder aber aus mehreren Episoden bestehen könne. So verstanden, bezieht sich die postulierte Einheit des (sehr allgemein, fast als synonym mit „Geschichte“ verstandenen) Ereignisses weniger auf das Ereignis selbst als auf die Geschichte, deren Episoden aufeinander bezogen sind – womit die Relationalität des Organismus-Prinzips erneut zu Tage tritt. _________ 27 28

Vgl. auch Dole!el 1990, 138 f., wo das Urteil noch harscher ausfällt. Vgl. auch Davydov/Steiner 1977 und Steiner 1984, 68–98, der die Bedeutungen dieser Metapher in den russischen Arbeiten der 20er Jahre untersucht.

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Während in der deutschen Poetik der Jahrhundertwende (siehe 3. Kapitel) der Begriff der Geschlossenheit bzw. Ganzheit vorwiegend als normatives Kriterium gebraucht wird, um ein Werk als gelungen oder nicht zu qualifizieren, stellt sich Petrovskij diese Frage erst gar nicht. Er differenziert insofern die beiden Begriffe, als seiner Ansicht nach das organische Ganze seine Geschlossenheit voraussetzt (1925a, 183). Geschlossenheit bedeutet für ihn schlicht das Vorhandensein von Anfang und Ende (ebd.), und der Begriff der Ganzheit bzw. Einheit könnte als ein Relikt aus der traditionellen Poetik betrachtet werden, der in Petrovskijs Ansatz seine besondere funktionalistische Ausgestaltung erfährt, ein Ansatz, der in Heyses Falkentheorie vorweggenommen wurde, auf die sich Petrovskij auch beruft (1927a, 76 u. 78). Sein Funktionalismus kann in wenigstens zwei Hinsichten interpretiert werden. Zunächst ist die Funktion als Funktion einer Komponente im Hinblick auf eine andere Komponente zu verstehen: Dies könnte man „textimmanenten Funktionsbegriff“ nennen. Zum andern kann die Funktion einer Komponente aber auch im Hinblick auf den Rezipienten aufgefasst werden: Dies ist der texttranszendierende Funktionsbegriff. Petrovskij operiert mit beiden Begriffen, ohne sie dezidiert voneinander abzugrenzen. Explizit führt Petrovskij seinen Funktionsbegriff als „Gerichtetheit“ (napravlennost’) oder „Zweckmäßigkeit“ (celesoobraznost’) oder „Teleologie eines Verfahrens“ ein (1925a, 182). In diesem Sinne ist für ihn jede Komponente nur im Hinblick auf andere Komponenten im selben Text bedeutsam, das heißt, jede Komponente ist mit mindestens einer anderen (temporal, kausal etc.) verbunden und ohne diese nicht hinreichend bestimmbar (1927a, 78). Dieser textimmanente Funktionalismus besteht also in der Annahme des Aufeinanderbezogenseins und des Zusammenwirkens der einzelnen Komponenten und repräsentiert die kompositionstheoretische Ansicht vom Systemcharakter eines literarischen Kunstwerks. Manifest wird das Zusammenwirken der einzelnen Komponenten beispielhaft in der temporalen und kausalen Struktur einer Erzählung, da ein narrativer Zusammenhang meistens an der temporalen oder kausalen Ordnung der Narration zu erkennen ist. Abgesehen davon könnte die Korrelation von Kompositionselementen noch weiter gefasst werden und alle Arten von semantischen Äquivalenzen bis hin zu phonischen umfassen. All diese weitergehenden Aspekte berücksichtigt Petrovskij jedoch nicht; ihn interessiert hauptsächlich die temporale Struktur des Erzählten in Gegenüberstellung mit dessen Präsentation. Dies betrifft vor allem die Funktion von Vorgriffen auf künftige Ereignisse und die Funktion von nachgeschobenen Vorge-

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schichten. Genau in dieser Hinsicht ist der textimmanente mit dem texttranszendierenden Funktionalismus verbunden, denn jeder die ursprüngliche chronologische Struktur des Erzählten verändernde narrative Eingriff hat auch Auswirkungen auf die Rezeption der fraglichen Episode. Konkret zeigt sich der kompositionstheoretische Funktionalismus in der Beschreibung der Erzähldynamik, die Thema des nächsten Abschnitts ist. Die angesprochene Umstellung des zeitlichen Ablaufs einer Erzählung versucht Petrovskij mit den Begriffen der Disposition und Komposition zu fassen. Auf die Beobachtung, dass nachgereichte Vorgeschichten eines Ereignisses, das den Hauptgegenstand einer gegebenen Novelle darstellt, eine Veränderung der temporalen Abfolge bedingen, folgt Petrovskijs kategoriale Einteilung der Novelle in Disposition und Komposition, womit er auf die Terminologie des österreichischen Altphilologen Otmar Schissel von Fleschenberg zurückgreift (s. 3. Kapitel). Entsprechend nennt er eine Anordnung „dispositional“, wenn die Darstellung der Ereignisse dem zeitlich-kausalen Schema folgt und die Vorgeschichte dem zentralen Ereignis der Chronologie gemäß vorangeht. In diesem Fall habe die Vorgeschichte eine „introduktiv-explikative“ Funktion (1921, 117). Würde nun die Vorgeschichte, auf das zentrale Ereignis folgend, nachgereicht werden, trüge sie „konklusiv-explikativen“ Charakter und wirke sich auf den Gesamteindruck aus. Eine nachträglich eingefügte Vorgeschichte, die das kausal-zeitliche Schema durchbricht, ist in der Terminologie Petrovskijs ein kompositionelles Element. Er stellt fest, dass eine Vorgeschichte ihrerseits kompositionelle Züge haben, also temporale Umstellungen enthalten kann, doch benutzt er diesen Ausdruck in der Regel für die Makrostruktur, d. h. für Umstellungen der kausaltemporalen Abfolge, die gewissermaßen offensichtlich sind (1921, 116). Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass „Disposition“ und „Komposition“ offenbar nicht als einander ausschließende Begriffe gesehen werden: Unter letzterer [der Disposition] ist die Anordnung von Handlungsmomenten in ihrer realen Abfolge, chronologisch und logisch, zu verstehen. Die Komposition dagegen besteht in der Gruppierung von Handlungsmomenten gemäß einem beliebigen dichterischen Ziel. Natürlich kann es Fälle geben, in denen Komposition und Disposition auch zusammenfallen. (1921, 116)

„Komposition“ wird hier folglich in einer zweiten Bedeutung verwendet und bezeichnet eine Textstruktur, die von der chronologischen Struktur des Erzählten abweicht. Die Unterscheidung entspricht in diesem Zusammenhang nicht jener zwischen fabula und sju!et der Formalisten, sondern spezifiziert einen Aspekt, der den Unterschied der beiden Ebe-

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nen markieren kann, aber nicht muss; darum Petrovskijs Hinweis, dass es Fälle gebe, in denen Disposition und Komposition zusammenfallen.29 Wie in Bezug auf Form und Materie akzeptiert Petrovskij auch die formalistische Differenzierung zwischen Fabel und Sujet. Generell lässt sich sagen, dass für Petrovskij, der die beiden Ausdrücke in einer den Formalisten entgegengesetzten Art und Weise gebraucht, der Unterschied zwischen Fabel und Sujet die ontologisch-ästhetische Differenz markiert, während Komposition und Disposition hauptsächlich die besondere temporale Differenz betreffen, also einen Aspekt der GeneralDichotomie „Fabel-Sujet“ spezifizieren (vgl. hierzu auch Petrovskij 1928). Petrovskij erweitert die Unterscheidung zwischen Komposition und Disposition allerdings, indem er die Wahl der Erzählperspektive zu einem weiteren Kriterium macht, das die Disposition von ihrer Komposition unterscheidet: „Hat der Erzähler einmal die Einheit der Perspektive eingeführt – oder nennen wir sie Einheit des Aspekts –, so muss sich eben dadurch die Disposition natürli30 cherweise in Komposition umgestalten“. (1927a, 87)

Es geht Petrovskij in seinen Erläuterungen zu diesem Punkt um die epistemische Begrenzung einer Figurenperspektive. Der Einheit des Standpunkts soll die Bindung der Erzählperspektive an den eingeschränkten Wissenshorizont einer an den Geschehnissen teilhabenden Figur entsprechen. Ausgebaut wird dieser Gedanke von Petrovskij jedoch nicht. Es wird nachfolgend vielmehr deutlich, dass er diesen besonderen Unterschied zwischen Disposition und Komposition als sekundär ansieht und seinerseits im Hinblick auf die kausal-temporalen Umstellungen versteht, die durch eine solche Perspektivierung einer Erzählung erforderlich würden (ebd.). Bevor im nächsten Abschnitt auf die texttranszendierende Funktion der Perspektivierung und anderer Verfahren eingegangen wird, soll noch ein Blick auf den Funktionalismus des russischen Formalismus geworfen werden.31 Eine Bestimmung Tynjanovs lautet folgendermaßen: _________ 29

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Vgl. auch Petrovskij 1925a, 181, und 1927a, 83/86, wo er die Disposition einer Erzählung nur durch die chronologische Anordnung des Erzählten spezifiziert. Die Ineinssetzung von Disposition und dem formalistischen Fabelbegriff deutet Hansen-Löve (1978, 270) m. E. zu Unrecht an. „Komposition“ benutzt Petrovskij manchmal auch in dem weiteren Sinne und fasst darunter mehr als nur temporale Umstellungen, so dass der Begriff dem formalistischen „sju!et“ und seiner eigenen „fabula“ nahekommt. Entsprechendes findet sich auch in Petrovskij 1925, 184. Vgl. die Modellierung Hansen-Löves, wonach es u. a. der Funktionalismus ist, der die zweite Phase des russischen Formalismus entscheidend charakterisiere (1978, 227–238). Die Einteilung des russischen Formalismus in Entwicklungsstadien ist bereits in "jchenbaum 1926 vorgezeichnet.

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Funktionen jedes literarischen Elementes sind dessen Korrelation mit anderen und mit dem konstruktiven Prinzip des Ganzen. (1926, 9)

In der folgenden kurzen Explikation wendet Tynjanov seinen Funktionsbegriff allerdings nicht im Sinne eines textimmanenten Funktionsbegriffes an, sondern versteht „Funktion“ eines Elementes als Variable, die sich nach dem Kontext richtet, in dem sie sich befindet. „Das, was in dem einen Genre die eine Funktion hat, wird in einem anderen eine andere [Funktion] haben“ (ebd.). Für Tynjanovs Funktionalismus fundamental ist die Annahme des konstruktiven Prinzips, das sich aus dem Dominantenbegriff entwickelt hat. Es reguliert und deformiert die anderen Faktoren in einem Werk oder einem Genre. Darauf liegt Tynjanovs Schwerpunkt, also auf der deformierenden Funktion des einen konstruktiven Faktors – weniger auf der Korrelation der einzelnen Elemente untereinander. Wesentlich für den frühen Formalismus war die Unterscheidung von poetischer und praktischer Sprache (Jakubinskij 1916). Hinter dieser Unterscheidung verbarg sich die Überlegung, dass der Sprachgebrauch sich nach unterschiedlichen Funktionen bestimme.32 An diese andere Art von Funktionalismus, den man „linguistischen Funktionalismus“ nennen könnte, knüpft auch !irmunskij an, der charakteristischerweise den Mitbegründer des OPOJAZ Lev Jakubinskij ignoriert und sich stattdessen auf Jakobson und den MLK beruft (1921, 98, Fn.2). Man sollte darum die Spielarten des formalistischen Funktionalismus vom kompositionstheoretischen Funktionalismus unterscheiden. Infolge seines Interesses an der temporalen Struktur des Erzählens basiert Petrovskijs Funktionalismus vorwiegend auf den Funktionen jener Komponenten, die er „Vorgeschichte“ bzw. „Nachgeschichte“ nennt. Seine grundsätzliche Vorstellung ist dabei, eine allgemeine Struktur zu finden, deren abzählbare Elemente in unendlich vielen Kombinationen variiert werden können (1927a, 100). Erreicht hat er dieses Ziel jedoch nicht, da sich sein Begriffsrepertoire im Wesentlichen auf das Paar Vor- und Nachgeschichte beschränkt, was für einen Katalog von kombinierbaren Erzählkomponenten zu wenig und zu unspezifisch ist. Im anschließenden Abschnitt sollen die Beobachtungen Petrovskijs hinsichtlich der texttranszendierenden Funktionen einiger Komponenten vorgestellt werden.

_________ 32

Die praktische Funktion betrifft danach das Mitteilen und den Gegenstandsbezug, die poetische Funktion den Selbstbezug der sprachlichen Äußerung und die Suspendierung der Mitteilung.

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c. Narrative Dynamik Der texttranszendierende Funktionalismus, so lässt sich ein dritter Zug der Kompositionstheorie nach Petrovskij zusammenfassen, besteht in der Annahme, dass bestimmte kompositionelle Entscheidungen – vornehmlich Umstellungen der chronologischen Struktur, aber auch andere wie kontrastive Zusammenstellungen – eine bestimmte Wirkung beim Rezipienten erzielen. Es geht hier in erster Linie um den Begriff der Spannung, den Petrovskij der deutschen Poetik (das deutsche Wort beibehaltend) entlehnt und dem man den textbezogenen Begriff der narrativen Dynamik gegenüberstellen kann. Der Begriff wird von Petrovskij nicht weiter analysiert, sondern als gegeben vorausgesetzt. Es wird aber unterschieden zwischen thematischer Spannung, die von einem bestimmten Stoff ohne narrative Finessen erzeugt wird, weil sie bestimmte rezeptive Dispositionen bedient (manche Themen sind an und für sich schon spannend), und speziell durch narrative Eingriffe erzeugter Spannung (z. B. 1927a, 76). Grundlegend für dieses Konzept ist die Unterscheidung zwischen deskriptiven und narrativen Passagen bzw. Komponenten. Charakteristisch für die deskriptiven Komponenten einer Erzählung sei ihre „statische Natur“ (1925a, 177). Darunter versteht Petrovskij die temporale Unterbestimmtheit dessen, was beschrieben wird, und fehlende zeitliche „Bewegung“. Sobald aber eine Bewegung von einem zeitlichen Moment zu einem anderen einsetze, beginne auch die Narration im eigentlichen Sinne, wobei Petrovskij eine gegebene zeitliche Bestimmung als Ausgangspunkt einer narrativen Komponente festsetzt (ebd.).33 Einheiten von narrativen Komponenten nennt Petrovskij „Episoden“, jedoch ohne Kriterien für eine solche Bündelung anzugeben. Eine Episode, wiewohl ein Konglomerat aus Komponenten, wird von Petrovskij pragmatischerweise ihrerseits wieder als eine einzige Komponente betrachtet. Petrovskij definiert in der angegebenen Textstelle die Unterscheidung zwischen narrativen und deskriptiven Komponenten allein auf temporaler Basis. Zum Kriterium für das Narrative wird damit die Anoder Abwesenheit von zeitlichen Bestimmungen im Text. Dieser frühe Versuch, Narrativität zu bestimmen, ist sicherlich nicht mehr als ein Ansatz, fußt aber auf denselben Intuitionen, die auch heute noch gelten. Vor allem aber dokumentiert dieser Versuch, wie weit fortgeschritten der textorientierte Ansatz in Russland zu dieser Zeit bereits war. _________ 33

In Petrovskij 1921, 115, ist dieser Unterschied in der narrativen Dynamik bereits angedeutet und wird mit dem Ausdruck „preryvistost’“ bezeichnet, den man in diesem Fall mit „Diskontinuität“ (W. Schmid) übersetzen kann.

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Entscheidend im gegenwärtigen Zusammenhang ist Petrovskijs implizite Annahme, dass jeder Erzähltext auch deskriptive Komponenten enthalte, die ihrerseits bestimmte Funktionen hätten, z. B. introduktive oder explikative (1925a, 185), oder auch eine relationale Funktion im Sinne eines Kontrasts, z. B. wenn der Erzähler von Pu!kins Der Schuss den Helden Sil’vio am Ende des ersten Teils anders einschätze als in der deskriptiven Anfangskomponente (186). Das Verfahren des Kontrastes, so lässt sich ergänzen, hat in dieser Perspektive seinerseits eine texttranszendierende Funktion hinsichtlich der narrativen Dynamik.34 Es entsteht durch die beiden Wertungen ein Widerspruch, der auf eine mögliche Auflösung zielt und „spannend“ wirkt. Zur Erläuterung dieses für Petrovskijs Kompositionstheorie wesentlichen Aspekts sei auf seine Untersuchung der Funktion von Vorgeschichten eingegangen. Es wurde bereits auf die verschiedenen Funktionen aufmerksam gemacht, die nach Petrovskij eine Vorgeschichte in Bezug auf ein zentrales Ereignis haben kann, je nachdem, ob sie ihm nachgeordnet ist (dann wäre ihre Funktion konklusiv) oder ob sie vorangestellt ist (dann introduktiv). Die texttranszendierende Funktion der Umstellung besteht, so lässt sich Petrovskijs Position zusammenfassen, in der Auswirkung auf den Rezipienten. Die Umstellung der Vorgeschichte, indem sie später nachgereicht wird, entspricht dem Vorenthalten ihres Informationsgehaltes in Bezug auf das zentrale Ereignis. Dies erzeugt eine Erwartungshaltung beim Rezipienten, die dem psychischen Zustand der Spannung bzw. des Gespanntseins entspricht.35 Mit anderen Worten: Das Phänomen der narrativen Dynamik entsteht unter anderem durch das Vorenthalten von Information. Petrovskij nennt folgende Verfahren, durch die narrative Dynamik erzeugt werde: Andeutung (nedogovorennost’), Rätsel (zagadka), Gradation (gradacija), Kontrast (kontrast), personale Perspektive (edinstvo aspekta) usw. Sie alle beruhen mehr oder weniger auf der Umstellung der chronologischen Abfolge – aber nicht notwendigerweise (denn sie können auch auf der Ebene der Materie angelegt sein). _________ 34

35

Diese Verfahren bzw. die durch sie „geformten“ Komponenten haben jeweils auch mindestens eine textimmanente Funktion, indem sie z. B. den Helden spezifizieren, in Petrovskijs Analyse die geheimnisvolle Aura des Helden Sil’vio. Vgl. Hansen-Löve 1978, 271, Fn. 464. Er verweist „zusammenfassend im Sinne der Kompositionstheorie“ auf Toma!evskijs Behandlung dieses Problemkomplexes. Diese Einschätzung ist zurückzuweisen, weil Toma!evskij in den von Hansen-Löve angegebenen Passagen Spannung und das Erzeugen von rezeptivem Interesse eindeutig primär an die thematische Ebene (Materialebene) bindet. Genau dieser Fall interessiert Petrovskij nicht (vgl. 1927a, 86) und ist für eine Kompositionsanalyse nicht relevant. Vgl. Toma!evskij 1925/28, 133 u. 136.

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Nedogovorennost’ heißt wörtlich „Nichtzuendegesprochenheit“ und kann wie die anderen genannten Verfahren dahin gehend verallgemeinert werden, dass darunter das Vorenthalten von Information verstanden wird. Durch Andeutungen wie durch Rätsel oder solche Kontraste wie z. B. auf den ersten Blick nicht zusammenpassende Charaktereigenschaften einer Figur wird ein semantisches Vakuum erzeugt (die Erwartungshaltung des Rezipienten), das nur darauf wartet, sich mit Bedeutung (bzw. fehlenden fiktiven Tatsachen) füllen zu können. Besondere Bedeutung erlangt dieses Verfahren der nedogovorennost’, wenn es im Sinne eines offenen Endes angewendet wird. Eine unvollendete Geschichte kann nach Petrovskij sehr wohl vom Standpunkt der Komposition vollendet sein, zumal, wenn sich – wie Petrovskij für Maupassants Erzählung Le retour behauptet – ein bestimmtes Ende aufgrund von Symptomen, die sich aus der Erzählung ergeben, extrapolieren lasse (1927a, 85). Das edinstvo aspekta, die „Einheit des Aspekts“ bzw. die Einhaltung einer personalen Perspektive, dient nach Petrovskij gleichfalls der Erzeugung einer narrativen Dynamik (1927a, 88). Die Bedeutung der eingeschränkten Figurenperspektive für die narrative Dynamik betont Petrovskij entschieden und stuft dies noch einmal ab: Ein Erzähler, der zugleich Held oder Nebenheld in der Geschichte und von den Ereignissen selbst betroffen sei, erhöhe die narrative Dynamik noch einmal im Vergleich mit einem Erzähler, der lediglich unbeteiligter Augenzeuge sei (1927a, 89). Diese psychologische Ausrichtung des (von mir als texttranszendierend charakterisierten) Funktionsbegriffs entstammt wie das Ganzheitskonzept vermutlich der deutschen Poetik. Dies betrifft als drittes Konzept auch das Bild vom Schürzen und Lösen eines Spannungsknotens (zavjazka/razvjazka), das in Petrovskijs Erörterungen der narrativen Dynamik immer wieder zur Anwendung kommt. Es könnte daher scheinen, dass Petrovskijs Kompositionstheorie durch die psychologische Ausrichtung viel stärker der traditionellen Poetik verhaftet sei als der russische Formalismus. Doch trügt dieser Eindruck aus zweierlei Gründen. Denn zum einen finden sich traditionelle Kategorien wie der Begriff vom Schürzen und Lösen eines Knotens auch bei !klovskij wieder; und zum andern hat die psychologische Ausrichtung der Kompositionstheorie keine allgemein-ästhetische Zielsetzung (wie so häufig in der deutschen Poetik und Ästhetik jener Zeit). Nicht die Kunst wird psychologisch erklärt, sondern einzelne erzähltechnische Verfahren werden mit möglichen Rezeptionswirkungen verbunden. Auch hier schlagen Petrovskij und Reformatskij einen Weg ein, der im Westen erst viel später beschritten wurde.

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Darüber hinaus findet gerade der texttranszendierende Funktionalismus der Kompositionstheorie ein Äquivalent im frühen Formalismus, nämlich im Begriff der Fühlbarkeit (o!"utimost’). Vor allem !klovskij sieht in der Fühlbarkeit der Form, die für ihn durch das Verfahren der Verfremdung erreicht wird, das Spezifische der Kunst (!klovskij 1917). Petrovskij enthält sich solcher allgemeiner Thesen, er untersucht lediglich ein bestimmtes Phänomen unabhängig von dessen möglicher normativ-ästhetischen Bedeutung. Fühlbarkeit wie Spannung sind beide rezeptionstheoretische Kategorien und stehen auf derselben Ebene, wenngleich sie eine entgegengesetzte Zielsetzung haben. Während es nach !klovskij vor allem Textpassagen sind, die durch das Verfahren der Verfremdung an sich selbst fühlbar und damit ästhetisch bedeutsam werden36, konzentriert sich Petrovskij auf solche Fälle, die erst im Zusammenwirken mit anderen Komponenten Spannung erzeugen.37 Die entgegengesetzte Zielsetzung nun besteht darin, dass es !klovskij explizit um Texte geht, deren Form die Aufmerksamkeit des Rezipienten auf sich zieht, und dass er diese für künstlerisch wertvoller hält; demgegenüber geht es Petrovskij vornehmlich um solche Texte, deren Form – dadurch, dass sie Spannung erzeugt – gerade nicht die primäre Aufmerksamkeit des Rezipienten auf sich zieht, und er verzichtet auch darauf, damit eine ästhetische Wertung zu verbinden. Der Unterschied zwischen den beiden Prosatheorien ist, dass für !klovskijs Theorie die ästhetische Prämisse unabdingbar scheint und dass !klovskij Texte auf der Basis einer Irritation untersucht (was der Poetik der damaligen künstlerischen Avantgarde entspricht), während Petrovskij ohne eine solche Normierung Texte auf der Basis einer Illusionserzeugung untersucht (was der Poetik der damaligen künstlerischen Tradition entspricht). Und da sich !klovskij nicht nur für Texte der Avantgarde interessierte, lässt sich diese These noch zuspitzen: Es ist zuallererst die Idee der Verfremdung, also eine allgemein-ästhetische These, die !klovskij zu seiner speziellen Prosatheorie führt sowie dazu, Kategorien wie Entblößung (obna#enie), Verzögerung (zader#anie) u. a. zu entwickeln, die die Verfremdungstheorie unterfüttern. Umgekehrt heißt dies, dass er bestimmte andere Aspekte gar nicht untersuchen konnte oder wollte, _________ 36

37

Später erfährt diese Idee freilich auch bei den Formalisten eine relationale Ausdeutung, wonach die Form als solche nur fühlbar werde vor dem Hintergrund anderer Formen. Vgl. "jchenbaum 1926, 390. Petrovskij anerkennt auch die ihn weniger interessierenden Fälle, die unabhängig von ihrer Präsentation auf der Materialebene spannend sind. Gerade in dieser Gegenüberstellung wird das Neue an Petrovskij deutlich: er weicht von der traditionellen, auf Goethe zurückgehenden Definition der Novelle als Darstellung eines exklusiven Ereignisses insofern ab, als er sein Hauptaugenmerk auf die exklusive Darstellungsweise richtet. Vgl. 1927a, 86.

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wie z. B. die narrative Dynamik, eben weil sie nicht in das Konzept der Verfremdung, also in den Rahmen einer Irritationsästhetik passen, ihr sogar entgegengesetzt sind. Noch deutlicher wird dieser Punkt, wenn man Petrovskijs Ansatz mit !jchenbaums Tolstoj-Analyse vergleicht. Es ist offensichtlich, dass !jchenbaum in diesem Kontext nur die statischen und nicht-kompositionellen Aspekte interessieren, und zwar aufgrund einer allgemeinen These über Tolstojs Werk, was ihn dazu bringt, die dynamischen Aspekte in Tolstojs Prosa auszublenden – die dynamischen Aspekte, die Tolstojs Prosa fraglos auch auszeichnen, wenngleich sie nicht so ausgeprägt sind wie z. B. bei Dostoevskij (oder anderer Art sind als bei diesem) und auch nicht überwiegen. Um es kurz auszuführen: Aus !jchenbaums Buch über den jungen Tolstoj (1922a) und aus der früheren Abhandlung über das Gesamtwerk Tolstojs (1919a) wird deutlich, dass !jchenbaum sogar mit denselben Kategorien operiert wie Petrovskij, sein Interesse jedoch entgegengesetzten Aspekten gilt (die er für Tolstojs Werk generalisiert). So hebt !jchenbaum hervor, dass für Tolstojs Detstvo (Kindheit) der Aspekt des Beschreibens (opisanie) und nicht der des Erzählens (povestvovanie) kennzeichnend sei, der Aspekt des Stils, weniger aber Kompositionsprobleme (1922a, 69). Es handele sich in Kindheit nicht um Verkettungen von Ereignissen wie etwa bei Dickens, sondern um Verkettungen von einzelnen Szenen und Eindrücken, und darum sei für Tolstoj auch kein Held im traditionellen Sinne nötig, der die Ereignisse miteinander verbinde (ebd.). Ähnlich äußert sich !jchenbaum auch in der früheren Abhandlung, wenn er den Werken Tolstojs als Charakteristikum ihre Statik zuschreibt (1919a, 38). In diesem Sinn interpretiert !jchenbaum auch die Beschreibung von Seelenzuständen in Anna Karenina, die insbesondere Zustände seelischen Zerfalls sind (1919a, 56).38 Daneben findet sich aber auch bei !jchenbaum die Analyse einer dynamischen Passage in Anna Karenina, nämlich des Beginns der Liebesgeschichte zwischen Anna und Vronskij, den er ansatzweise in kompositionstheoretischer Manier untersucht, indem er die Bedeutungen einiger Details analysiert, mit denen das Thema einsetzt: die zufällige Begegnung der beiden Figuren, die erneute Begegnung, bei der jedoch Annas Name nicht genannt werde und ein Gespräch Annas mit ihrem Bruder über Vronskij (1919a, 58–60). _________ 38

Hier könnte es scheinen, dass !jchenbaum seine These etwas überstrapaziert, denn – so lässt sich ihm entgegenhalten – gerade aus diesen Darstellungen beziehen Tolstojs Werke ihre spezifische Dynamik. Es kommt hier aber auf etwas anderes an: auf !jchenbaums These, dass Tolstojs Hauptverfahren nicht darin bestehe, seine Darstellung mit kompositionellen Finessen auszustatten.

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Wie schon bei der Gegenüberstellung mit !klovskij entsteht der Eindruck, dass der Unterschied zwischen russischem Formalismus und Kompositionstheorie sich primär im unterschiedlichen Charakter der Untersuchungsgegenstände bzw. der für die Formalisten speziellen ästhetischen Prämisse zeigt, was eine unterschiedliche Schwerpunktsetzung und verschiedene Ergebnisse allererst nach sich zieht. Insofern ist es kein Zufall, dass sich Reformatskij in seinem ersten Aufsatz mit der Erzähldynamik des Dostoevskij-Romans Igrok (Der Spieler) beschäftigt. Reformatskijs Ziel ist zu zeigen, dass jene für Dostoevskij typischen Phänomene, die von der traditionellen Kritik als unkünstlerisches Chaos oder nachlässige Schnitzer abgetan worden waren, spezielle künstlerische Verfahren zur Erzeugung von narrativer Dynamik darstellen. Reformatskij unterscheidet zwischen statischen und dynamischen Elementen, wobei die biographischen Daten der Figuren als exemplarisch für das statische Material gelten, während die Intrigen und Konflikte das dynamische Material darstellen. Besonders im Gegensatz zu Turgenevs Romanen, in denen das statische Material zumeist am Anfang in Form einer biographischen Skizze gegeben sei, werde es in Dostoevskijs Roman stückweise nachgereicht; und so sei es auch künstlerisch gerechtfertigt, dass bestimmte Informationen erst gegen Ende des Romans auftauchten (Reformatskij 1921, 6). Historisch gesehen, war !klovskijs revolutionäre Irritationsästhetik folgenreicher. Entsprechendes hat die Kompositionstheorie nicht zu bieten. Die typischen Untersuchungsgegenstände der Kompositionstheorie sind Novellen, und zwar vornehmlich aus methodologischen Gründen, da bestimmte Strukturen und narrative Charakteristika in Novellen einfacher zu erkennen sind (Petrovskij 1921, 106). Hier wird zugleich eine Limitation der Kompositionstheorie deutlich. Denn sie wird entwickelt anhand von klassischen Novellen mit einer ausgeprägten Handlung. Vielleicht wäre es darum angebrachter, die Kompositionstheorie vom Ansatz her als eine Gattungstheorie der klassischen Novelle anzusehen. Ihr Ertrag hingegen besteht in einigen erzähltheoretischen Erkenntnissen, die hauptsächlich in den von mir in diesem Kapitel dargestellten Aspekten bestehen. Diese Lesart wird auch durch Reformatskij – mit einem Hinweis auf Petrovskij – bestätigt, der die Ergebnisse der Kompositionstheorie nicht als charakteristisch für jede Novelle oder jedes Erzählwerk ansieht, sondern als charakteristisch für eine bestimmte Art des Erzählens, die wiederum vorwiegend in der klassischen Novelle anzutreffen sei (Reformatskij 1922, 494). Tatsächlich trete diese Erzählform vermischt mit anderen auf, und sie werde nur in der klassischen

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Novelle dominant.39 Petrovskij (1927a, 89–100) zeigt aber mit seiner Analyse der !echov-Erzählung !ampanskoe auch, dass das Instrumentarium zur Untersuchung der narrativen Dynamik ebenfalls auf Erzählungen anwendbar ist, die zunächst nicht dem klassischen Muster zu entsprechen scheinen, und stellt die Behauptung auf, dass auch solche Erzählungen aus einer Auswahl von Strukturkomponenten bestünden, deren begrenzte Anzahl auf immer neue Weise endlos kombiniert werden könne (1927a, 100). Das Interesse an der Novellengattung zieht nach dieser Auffassung das Interesse an einem in dieser Gattung vorherrschenden Merkmal nach sich, und zwar dem der narrativen Dynamik, die ihren rezeptionstheoretischen Gegenbegriff in dem der Spannung hat. Dies zusammen mit der funktional-formalen Ausrichtung macht im Wesentlichen das Phänomen der russischen Kompositionstheorie der Erzählprosa aus. Mit ihrem Systematisierungsanspruch und ihren Analysen der temporalen Strukturen ist sie einigen Ausarbeitungen der französischen Narratologie (z. B. Genettes) deutlich näher als die Prosatheorie "klovskijs mit ihren diese formalistische Konzeption stärker durchdringenden ästhetischen Annahmen. Die Frage nun lautet: Wie hängt die russische Kompositionstheorie mit etwaigen deutschen Vorläufern zusammen, die von Dole#el mit demselben Etikett versehen werden? Inwiefern ist es überhaupt etwas Neues, das die russische Kompositionstheorie auszeichnet (wenn sie doch angeblich an deutsche Konzepte anknüpft)?

3. Frühe deutschsprachige Ansätze Ziel dieses Kapitels ist, einen Überblick über jene deutschsprachigen Ansätze zu geben, die mit der russischen Kompositionstheorie in einen historisch-systematischen Zusammenhang gebracht werden. Es wird sich erweisen, dass die letztere verschiedene Begriffe aus deutschsprachigen Publikationen übernommen hat, dass aber der theoretische Anspruch und das methodologische Credo der russischen Kompositionstheorie über die deutschsprachigen Ansätze hinausgehen. Daneben sollen Dole#els Thesen präzisiert und überprüft werden, wobei es vor allem um den bereits erwähnten Otmar Schissel von Fleschenberg geht, der von

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Vgl. auch Dole#el 1990, 139, dem diese Verwendung eines formalistischen Begriffs ebenfalls nicht entgangen ist.

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Dole!el als ein Gewährsmann für eine deutschsprachige Kompositionstheorie herangezogen wird.40 a. Überblick In diesem Abschnitt soll der Hintergrund beleuchtet werden, wie er sich darstellt, wenn man einen Anstoß Dole!els aufnimmt und über die bei ihm im Zentrum stehenden Namen Schissel, Dibelius und Seuffert hinaus einen Blick auf die Theoriebildung in der deutschsprachigen Literaturwissenschaft um 1900 wirft. Geht man den von ihm und "or angegebenen Namen nach, so scheint es sich bei Schissel und Dibelius um zwei Wissenschaftler zu handeln, deren theoretische Ansätze keine weiteren Spuren hinterlassen haben (abgesehen davon, dass diese Ansätze in ihrer eigenen Arbeit m. E. nur von untergeordneter Bedeutung waren). Zumindest in der Geschichte der Germanistik konnten sie auch gar keine Rolle spielen, denn Otmar Schissel von Fleschenberg (1884–1943) war ein österreichischer Altphilologe, bekannt vor allem als Byzantinist und Rhetoriker41, und Wilhelm Dibelius (1876–1931) ein Anglist, Ordinarius in Bonn (seit 1918) und Berlin (seit 1925)42. Einen möglichen Anknüpfungspunkt stellt allerdings Bernhard Seuffert (1853–1938) dar, der, lange Jahre Professor in Graz, ein Schüler Wilhelm Scherers war, eines der berühmtesten und nach seinem frühen Tod über seine Schüler einflussreichsten Germanisten des 19. Jahrhunderts. Im Vordergrund stand vor allem die literaturgeschichtliche, philologische (textkritische) Arbeit. Eine Ausnahme ist die auf das Programm von Friedrich Spielhagen zurückgehende Debatte um die Bedeutung des Autors für das Werk, an deren Ende Oskar Walzels und Käte Friedemanns Unterscheidung zwischen Autor und Erzähler steht. Hier könnte am ehesten der Kern einer kompositionstheoretischen Schule im deutschsprachigen Raum vermutet werden, doch standen auch hier letztlich andere Interessen im Vordergrund. Wenngleich also Seuffert selbst in kompositionstheoretischer Hinsicht ebenso wenig ertragreich war wie der SchererSchüler Erich Schmidt oder Scherer selbst, so fällt doch auf, dass unter ihrer Ägide, wie auch unter der anderer Scherer-Schüler (bzw. Enkel) _________ 40 41

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Dole!el (1990, 130–134) räumt noch einem weiteren Wissenschaftler – Wilhelm Dibelius – einigen Platz ein. Vgl. Dibelius 1910 und 1916. Vgl. den Eintrag in Österreichisches Biographisches Lexikon 1815–1950, Band 10, Wien 1994. Schissel hat sich zwar für deutsche Sprache und Literatur habilitiert, doch ist sein Hoffmann-Buch in seiner Bibliographie ein Unikat geblieben, und der darin verfolgte Ansatz scheint über die frühen Publikationen hinaus von ihm auch nicht weitergeführt worden zu sein. Vgl. den Eintrag in Neue deutsche Biographie, Band 3, Berlin 1957. Studiert hat Dibelius in Berlin u. a. bei Erich Schmidt.

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wie Oskar Walzel (1864–1944) und Berthold Litzmann (1857–1926), jeweils Dissertationen entstanden sind, die zu der Kategorie von deutschsprachigen Schriften gehören, welche am ehesten kompositionstheoretische Ansätze (oder besser: Anwendungen, in denen theoretische Ansätze lediglich impliziert sind) enthalten bzw. der „Erzählungstechnik“ gewidmet sind.43 Neben diesen Arbeiten gibt es noch andere, in denen der Begriff der Komposition auftaucht, aber nie eingehend erörtert wird, vor allem Handbücher der Poetik und Abhandlungen von Dichtern.44 Für die angeführten Handbücher lässt sich allgemein sagen, dass sie nur wenig zu kompositionstheoretischen Fragestellungen beitragen. Rudolf Lehmann z. B. gibt zwar in der zweiten Auflage seiner Poetik an (1919, 21), dass die Schriften Hildebrands und Wölfflins vorbildlich für eine „rein technische Behandlungsart“ der Kunst seien, doch wird diese von ihm nicht übernommen oder angewendet.45 Er bleibt gänzlich einer psychologischen Betrachtungsweise verhaftet, die in genetischer Hinsicht das Kunstwerk auf sein Zustandekommen untersucht und in ästhetischer Hinsicht darauf ausgerichtet ist, den ganzheitlichen künstlerischen Blick nachzuempfinden (55). Es geht Lehmann hauptsächlich um die „psychologische Grundlage der organischen Bildungsgesetze poetischer Werke“ (112). Diese offenbare sich nirgendwo so gut wie auf dem Gebiet der Komposition, worunter nicht die äußerliche Einteilung eines Werks nach Kapiteln gemeint sei, sondern allgemeine Bauprinzipien, wie sie auch z. T. für andere Künste gelten, die jedoch sehr allgemein _________ 43

44 45

Es gibt in den ersten drei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts zumindest eine auffällige Häufung von Dissertationen, deren Titel die Beschäftigung mit Technik und Komposition von Erzählliteratur verraten. Das heißt aber nicht, dass dahinter eine einheitliche Theorie oder ein bestimmtes Programm stünde. Es wäre eine Aufgabe für die Geschichtsschreibung der Germanistik, das breite Interesse an diesem Thema nach der Jahrhundertwende zu erklären. Als Zeichen dieses Interesses mögen folgende Titel dienen (um nur einige zu nennen), die in Graz als Dissertationen veröffentlicht wurden: Leicht, Richard: Über die Komposition von Lucans Pharsalia. Graz 1907; Pucsko, Rudolf: Die historisch-chronologische Realität der literarischen und theatralisch-dramaturgischen Äußerungen in Goethes Roman "Wilhelm Meisters theatralische Sendung" mit Rücksicht auf seine Komposition. Graz 1920; Mühlbacher, Georg: Die Komposition der Roman-„Trilogie“ Wilhelm Raabes: Der Hungerpastor, Abu Telfan, Der Schüdderump. Graz 1921; Daimer, Emma: Über die Komposition der „Ahnen“ von Gustav Freytag. Graz 1921; Settig, Leopold: Wilhelm Raabes Erzählungstechnik und seine Abhängigkeit von literarischen Vorbildern. Graz 1921. In diesem Zusammenhang darf nicht der Hinweis auf die beiden von Berthold Litzmann bzw. Oskar Walzel herausgegebenen Reihen Bonner Forschungen und Untersuchungen zur neueren Sprach- und Literaturgeschichte fehlen, deren Abhandlungen dieses Interesse ebenso dokumentieren wie übrigens auch viele Aufsätze in den einschlägigen Zeitschriften. Einer der frühesten Titel, der eine Analyse der Erzähltechnik verspricht, ist Scherer 1879. 4 Z. B. die Poetiken von Meyer, R. M. 1906, Lehmann 1908, Keiter/Kellen 1912 (erstmals als Keiter 1876); die Bücher von Freytag 1863, Spielhagen 1891, Heyse 1900. Mit dem Verweis auf Wölfflin, ohne jedoch dessen Ideen umzusetzen, hat Lehmann in der Germanistik nicht alleine gestanden. Vgl. Müller 1991, 100.

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gehalten sind: Einheit (der Intention), bezogen auf einen Zustand (Lyrik) oder bezogen auf eine Entwicklung bzw. Handlung (Epik), sowie Kontrast, der nach allgemeinem psychologischem Gesetz eine stärkere Empfindung hervorrufe, und Steigerung (113 f.). Am fruchtbarsten in kompositionstheoretischer Hinsicht sind Abhandlungen (offenbar meist Dissertationen), die vor allem in den von Walzel bzw. Litzmann herausgegebenen beiden Reihen erschienen sind.46 Sie enthalten Einzeluntersuchungen, in denen der Aspekt der Komposition zumindest eine gewisse Rolle spielt. Es ist aber nachdrücklich darauf hinzuweisen, dass die Beobachtungen in diesen Abhandlungen nur äußerst selten, wenn überhaupt, über den konkreten Untersuchungsgegenstand hinaus verallgemeinert werden, wie es für eine Theorie nötig ist, die von den Einzelphänomenen abstrahiert, um zu allgemeinen Prinzipien, hier des Aufbaus von Erzählwerken zu gelangen. Wie schon Dole!el und "or feststellten, befasst sich eine Reihe von Abhandlungen mit dem Genre der Rahmenerzählung.47 In diesen Untersuchungen ist es üblich, Rahmen und Einlagen gesondert zu behandeln und anhand von bestimmten Aspekten, von denen einer der der Komposition sein kann, zu vergleichen. Vor allem stellt sich bei diesem Genre, für das ja die Verschiedenheit der Einlagen kennzeichnend ist, die Frage nach der Einheit des Ganzen, gewissermaßen die Leitfrage jeglicher Kompositionsanalyse.48 Wie beantworten die Autoren diese Frage? Dazu bedürfte es zunächst einer Erläuterung des Begriffs der Einheit, den die meisten einfach voraussetzen.49 Auch ohne eine explizite Klärung wird deutlich, dass nach allgemeiner Überzeugung die Einheit durch Bezüge sowohl zwischen Rahmen und Einlagen als auch zwischen den einzelnen Einlagen selbst gestiftet wird. Solche Bezüge können stofflicher sowie struktureller Art sein, wie gleiche Ereignisse, die sowohl im Rahmen als auch in einer Binnenerzählung vorkommen, Beziehungen zwischen Rahmenerzähler und Figuren der Binnenerzählungen oder für die jeweiligen Erzähler charakteristische Erzählweisen.50 _________ 46 47

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Eine Ausnahme ist Ewald 1907. Vgl. Dole!el 1973, Fn. 19, und 1990, Fn.11. "or meint, dass nur diese Arbeiten im Hinblick auf die Analyse der Komposition von Interesse seien, da deren Thema allein bereits eine solche Betrachtungsweise nahelege. Ansonsten aber geht sie davon aus, dass die übrige deutschsprachige Literatur zur Roman- oder Novellentheorie (im Gegensatz zur Dramentheorie) nicht sehr ergiebig für die Kompositionsanalyse sei. Vgl. "or, 131 f. Vgl. z. B. Goldstein 1906, 14, und Bracher 1909, 31. Agnes Waldhausen ist eine Ausnahme. Vgl. Waldhausen 1911, 5. Vgl. Goldstein 1906, 80, über Hoffmanns Serapionsbrüder. Auf den folgenden Seiten widmet er sich weiter dieser Frage nach den Bezügen.

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Eigentümlicherweise findet der Begriff der Komposition bei Goldstein und Bracher nicht in Bezug auf den jeweils gesamten Zyklus inklusive Rahmen Anwendung, sondern nur im Hinblick auf die Binnenerzählungen. Goldstein legt dabei in seiner historisch-vergleichend angelegten Untersuchung besonderes Gewicht auf die wachsende Komplizierung der einzelnen Erzählungen von Boccaccio bis Hoffmann, worunter er vor allem die Tendenz von einfachen, chronologisch erzählenden Werken zu einer durch zeitliche Umstellungen verwickelten Erzählweise versteht.51 Indem er andeutet, dass sich die Komposition um so deutlicher zeige, je mehr die Erzählung von der Chronologie der Ereignisse abweiche, antizipiert Goldstein eine für die Kompositionstheorie fundamentale Unterscheidung, ohne sie jedoch terminologisch zu fixieren. Er befindet sich damit am Anfang einer Entwicklung, in deren Verlauf sich das traditionelle Verständnis von Komposition vertieft. Wie ich im 2. Kapitel zu zeigen versucht habe, werden in den Kompositionsanalysen Petrovskijs kompositionelle Umstellungen nicht einfach nur diagnostiziert, wie das bei den hier thematisierten deutschen Arbeiten die Regel ist, sondern auf ihre Bedeutsamkeit für die involvierten Komponenten hin untersucht. Bracher setzt dagegen einen etwas anders gelagerten Schwerpunkt.52 Er unterscheidet zwei Kompositionstypen. Unter dem ersten, den er nur kurz erwähnt, versteht er offenbar eine Darstellungsweise, wie sie auch von den Poetik-Handbüchern als exemplarisch aufgefasst wird, die sich durch einen ungestörten Gang der Handlung auszeichne (Bracher 1909, 108). Diesem Typus stellt er den „Typus der Improvisation“ gegenüber, unter dem er Darstellungsweisen subsumiert, die vom gewohnten epischen Erzählen abweichen, indem sie z. B. Erinnerungen und Gedanken darstellen, die den Erzähler charakterisieren und nicht dem (für Bracher) gewohnten Schema folgen. Dabei gelangt Bracher zu Charakteristika, die ein wenig an die skaz-Theorie erinnern, darunter Spontaneität, Lokalität und Subjektivität des Erzählens.53 Eine Gemeinsamkeit fast aller dieser Arbeiten ist die Auffassung von Komposition als normativer Kategorie. Stets wird der jeweilige Untersuchungsgegenstand mit dem Hinweis auf seine entweder mangelhaf_________ 51 52 53

Vgl. Goldstein 1906, 71. Verwickelte Novellen finden sich allerdings auch schon bei Boccaccio selbst, wie Goldstein anmerkt, stellen aber eine Ausnahme dar. Vgl. ebd., 73. Wobei auch er das Thema der zeitlichen Umstellung berührt. Vgl. Bracher 1909, 69. Vgl. Bracher 1909, 108 ff. Diese Erzählweise wird von Bracher psychologisch interpretiert bzw. in einen schaffenspsychologischen Theorierahmen eingebettet. Dies trifft auch für Waldhausens Methode zu, wenn sie Kellers Vorliebe für Vergleiche mit dem Wesen seiner Phantasie erklärt, die sie für stark gegenständlich hält, oder die Abschweifungen im Grünen Heinrich mit Kellers assoziativem Denken erklärt. Vgl. Waldhausen 1911, 14 ff., 22. Zu Merkmalen des skaz vgl. Schmid 2005.

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te oder gelungene Komposition bewertet, und es scheint geradezu Ziel der Untersuchungen zu sein, zu solchen Bewertungen zu kommen. So gesehen, werden die Ansätze zu einer kompositionsanalytischen Betrachtung in den Dienst der Bewertung gestellt.54 Die Untersuchung der Erzähltechnik, die sich viele Autoren auf die Fahnen geschrieben haben, brachte es mit sich, dass sie die Aufmerksamkeit auf Verfahren des Erzählens lenkten, was sie in eine gewisse Nähe zu den russischen Formalisten und Kompositionstheoretikern zu rücken scheint. Zumindest verführt diese Beobachtung zu der These, dass die deutschsprachigen Erzählforscher bestimmte Erkenntnisse der Formalisten vorweggenommen hätten. Kompositionsverfahren werden explizit im Zusammenhang mit der bereits erwähnten Einbindung der Binnenerzählungen in den Rahmen benannt. Eines der Mittel, das eine solche Einbindung realisiert, kann im Auffinden eines Manuskripts bestehen, dessen Inhalt dann eine Binnenerzählung darstellt.55 Ein anderes Mittel besteht etwa in der direkten Bezugnahme eines Erzählers des Rahmenszenarios auf eine vorangegangene Erzählung nach dem Muster „was X gerade über Y erzählt hat, bringt mich auf das Schicksal von Z“.56 Und auch sonst gibt es einzelne Formulierungen, die eine entfernte Verwandtschaft mit einer formalen Herangehensweise erkennen lassen könnten.57 Es ist aber festzustellen und festzuhalten, dass alle diese Arbeiten keinerlei Ansätze zu einer theoretisch fundierten Kompositionsanalyse aufweisen. Prädikate wie „ästhetisch anspruchsvoll“ und dergleichen werden in einer unsystematischen Weise gebraucht, und obwohl verschiedene Exemplare von Rahmenerzählungen einander gegenüberge_________ 54 55

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Vgl. Waldhausen 1911, 5, Bracher 1909, 31, und Goldstein 1906 durchgehend. Vgl. Goldstein 1906, 22. Bracher widmet diesem Verfahren ein eigenes Kapitel, worin die Art, Einführung, Verfasser und die technische Aufgabe der Manuskripte beschrieben werden. Bracher zählt die verschiedenen Erscheinungsweisen jedoch nur auf (z. B. Zufallsfund, Nachlass, Held schreibt selbst), ohne weitere Schlüsse zu ziehen. – Waldhausen bezieht sich in ihrem Buch auf Bracher und erhebt gegen ihn den Einwand, dass er einen zu weit gefassten Begriff von Rahmenerzählungen habe. Sie setzt den Begriff einer unechten Rahmenerzählung dagegen, den sie auf Werke anwendet, in denen die Binnenerzählungen nicht selbständig sind, sondern Teile der Haupterzählungen, z. B. im Sinne einer nachgereichten Vorgeschichte. Vgl. Waldhausen 1911, 2. Hier ist also eine Tendenz zur Differenzierung zu beobachten, die die Funktion eines bestimmten Verfahrens im Werkzusammenhang beachtet. Vgl. Goldstein 1906, 62. Zusätzlich macht er auf den weiteren Effekt aufmerksam, dass ein solches Verfahren ebenso wie die Wendung an Zuhörer oder deren Unterbrechung des Erzählers „die Fiktion der lebendigen mündlichen Rede“ erhalte. Ebd., 65. Solche Beobachtungen dekliniert Goldstein regelmäßig an seinen Vorlagen durch, indem er einzelne Fälle aufzählt. Z. B. bei Bracher 1909, 60: „[Das Vorwegnehmen des Endes] richtet unsere Aufmerksamkeit vom Stofflichen ab mehr auf die künstlerische Darstellung“.

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stellt und miteinander verglichen werden, sind die Untersuchungen vorwiegend voller Paraphrasen und Enumerationen, die entweder psychologisierend interpretiert werden oder eine historische Entwicklungstendenz mit stark wertender Beigabe markieren. Wichtigstes Merkmal indes ist das vollständige Außerachtlassen der Syntagmatik. Erzählverfahren werden überwiegend anhand des Bezugs des Rahmens zu den Einlagen herausgestellt, selten aber, und dann nur beiläufig, im Kontext einer einzigen Erzählung. Komposition wird nur als statisches Verhältnis bestimmter Komponenten begriffen, die jedoch die spezifische Entwicklung einer Erzählung nicht erfassen. Da es Rahmenerzählungen sind, die in den hier zugrunde gelegten Arbeiten untersucht werden, mag es auch nicht weiter überraschen, dass in ihnen ein anderer Schwerpunkt gesetzt wird. Doch sind in anderen Arbeiten, die keine Rahmenerzählungen behandeln, erst recht keine kompositionsanalytischen Ansätze zu finden, weder im Hinblick auf das Voranschreiten einer Erzählung noch in irgendeiner anderen Hinsicht.58 Die Syntagmatik findet jedoch in einer anderen Kategorie von Schriften eine gewisse Berücksichtigung, nämlich in den Dichterpoetiken und den allgemeinen Ansichten über die Novellengattung, die an der Dramentheorie orientiert waren. Hier ist allen voran der Novellist und Dramatiker Paul Heyse mit seiner sog. Falkentheorie zu nennen.59 Allerdings ist sein systematischer Beitrag eher karg. Es ist vielmehr so, dass er eine besondere Vorliebe für das Phänomen der Handlung hat (das als konstitutiv für die syntagmatische Ebene angesehen werden kann) und eine organische Entwicklung aus einem Kern postuliert (1900, 349). Hier stößt man erneut auf das Organismus-Prinzip, und zwar explizit im Zusammenhang mit dem Begriff der Komposition, den Heyse in Analogie zum musikalischen Kompositionsbegriff verwendet. Konstitutiv für Heyses organologische Sichtweise sind das Prinzip der Folgerichtigkeit, also der kausalen Verknüpfung der Motiv-Elemente einer Geschichte, sowie die Forderung nach einer möglichst engen Verklammerung dieser Elemente, die in einer begrenzten Anzahl von Motiven besteht, welche aufeinander beziehbar sind.60 Diese beiden Varianten des Organismus-Prinzips sollten voneinander abgegrenzt werden. _________ 58 59

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Vgl. Geller 1917 und Lauschus 1913. In der Einleitung zu dem von ihm herausgegebenen Deutschen Novellenschatz (1871) weist Heyse auf die Falkengeschichte im Decamerone als in ihrer Einprägsamkeit beispielhafte Novelle hin. Zur Folgerichtigkeit vgl. Heyse 1900, 345 f. Die Forderung nach enger Verklammerung erhellt aus seiner Beschreibung der Genese einer seiner Novellen, wobei sich die beschriebene Entwicklung eben aus der immer enger werdenden Verzahnung der einzelnen Elemente erklärt. Vgl. ebd., 350 ff.

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Unter dem Aspekt der Geschlossenheit ist primär die Forderung nach enger Verzahnung relevant. b. Die Rolle der Kunstwissenschaft Während Geschlossenheit bei Heyse und seinen literaturwissenschaftlichen Erben zumeist inhaltlich aufgefasst wird, verdankt sich die grundsätzlich neue Perspektive auf das Kunstwerk als konstruktive Einheit gegenüber der außerkünstlerischen Welt hauptsächlich der deutschsprachigen Kunstwissenschaft, die der Literaturwissenschaft damit zeitlich und methodologisch einen großen Schritt voraus war. Die Bedeutung der Kunstwissenschaft hebt ganz besonders Medvedev hervor61, während Erlich sie später herunterspielt.62 Es soll darum noch dieser letzte Bereich des Hintergrunds kurz fokussiert werden, um das Bild weiter zu vervollständigen, in das die russische Kompositionstheorie wie der Formalismus gestellt werden. Wiederholt wurde auf die Verbindung eines Gedankens von Broder Christiansen mit dem russischen Formalismus hingewiesen.63 Wie diese Verbindung über die Begriffe der Differenzqualität und der Dominante keine speziell poetologische, sondern eine allgemein kunsttheoretische Gemeinsamkeit herausstellt, so ist auch die Bedeutung der wiederholt genannten Wilhelm Worringer und Heinrich Wölfflin für die Entwicklung der Literaturtheorie allgemeiner Art. Für die Kompositionstheorie ist dieser Anstoß nicht in erzähltheoretischer Hinsicht relevant, sondern in methodologischer Hinsicht. Neben anderen ist es hauptsächlich Oskar Walzel gewesen, der unter dem Schlagwort der wechselseitigen Erhellung für eine Übertragung kunstwissenschaftlicher Grundbegriffe auf die Literaturwissenschaft plädiert hat und damit für die formale Seite der Literaturtheorie in Deutschland namhaft gemacht wird.64 Während es _________ 61

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Er konzentriert sich im Teil seines Buches über die Geschichte der formalen Methode ganz auf die Entwicklung in der Kunstwissenschaft, während er der formalen Richtung in der Poetik nur wenige Zeilen widmet. Vgl. Erlich 1955, 59. Man muss hier differenzieren zwischen tatsächlich ausgeübtem Einfluss und der bloßen Feststellung konzeptueller Gemeinsamkeiten. Medvedev stellt selbst klar, dass eine direkte Verbindung der russischen Formalisten zu der westeuropäischen Kunstwissenschaften nicht herzustellen sei. Vgl. Medvedev 1928, 59. Andererseits kann man zugunsten Erlichs den Verdacht gegen Medvedev aussprechen, dass er ohne die Arbeiten der russischen Formalisten gar nicht in der Lage gewesen wäre, die Bedeutung der deutschsprachigen Kunstwissenschaft in dieser Weise zu erkennen, geschweige denn hervorzuheben. Vgl. Erlich 1955, 199 f., Striedter 1969, XXX, Lachmann 1970, 236; Stempel 1972, XVIII, Hansen-Löve 1978, 312–319, Steiner 1984, 104–106. Differenzierend dazu vgl. Aumüller 2005, 238. Dass eine Verbindung zwischen Christiansen und !klovskij hergestellt werden kann, heißt noch nicht, dass jener diesen beeinflusst habe. Vgl. auch Petrovskijs kritische Auseinandersetzung mit Walzels Thesen in 1927b.

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aber Wölfflin mit seinen Kategorien um „typologische Verallgemeinerungen einer formalen Entwicklung auf dem Gebiet der bildenden Kunst“ ging, begriff Walzel sie „als für die bildende Kunst spezifische Repräsentanten von Kategorien, die für alle Künste gelten“ (Müller 1991, 103). Walzel selbst (und mit ihm die Germanistik) hat den Begriff der Form immer nur im Hinblick auf den durch sie ausgedrückten Inhalt verstanden, so dass die Verbindung von deutschsprachiger Kunstwissenschaft und Germanistik zu Anfang des 20. Jahrhunderts eher biographisch und allenfalls programmatischer Art war, nicht aber faktisch-inhaltlicher Art.65 Gleichwohl wurden die kunstwissenschaftlichen Arbeiten Hildebrands (1893) und Wölfflins (1915) sowie Worringers (1907) in Russland schon kurz nach deren Erscheinen in Deutschland rezipiert und bald auch übersetzt.66 Hildebrands Buch enthält eine Reihe von Gedanken, die eine gewisse Gemeinsamkeit mit den formalen Überlegungen der russischen Literaturtheorie der 10er und 20er Jahre aufweisen. Hildebrand versucht die Bedeutung der Form für die ästhetische Wahrnehmung zu beschreiben. Dabei kommt auch dem Ganzheitsprinzip wieder eine tragende Rolle zu, diesmal aus rezeptionstheoretischer Sicht. So beschreibt er den (auf die Rezeption von bildender Kunst vornehmlich zu übertragenden) visuellen Gesamteindruck als „gemeinschaftliches Wirkungsresultat aller Erscheinungsfaktoren“, woraus folge, „dass seine einzelnen Erscheinungsfaktoren nur in der bestimmten Beziehung zueinander, welche diesen Gesamteindruck hervorruft, ihre Bedeutung haben, während sie an und für sich genommen, d. h. aus dem Zusammenhang gerissen, sie verlieren“ (17). Daneben kommt auch dem Funktionsbegriff entscheidende Bedeutung zu: Hildebrand löst das konstruktive Moment eines Phänomens ab von dem ihm zugrunde liegenden Gegenstand und weist darauf hin, dass Eindrücke von Gegenstandseigenschaften hervorgebracht werden, aber als Funktionsmerkmale eine besondere, von der Realität unabhängige Bedeutungszuweisung erfahren und einen Eigenwert erhalten. Was als Funktionsmerkmal solche Eindrücke hervorbringt (ästhetisch bedeutsam ist), sei bedeutsam auf_________ 65

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„Wölfflins ‚Formalismus‘ war auch Walzel im Grunde unbegreiflich. Denn auch für ihn war die Form ja nur die Form eines Inhalts, und der Punkt, in dem sich die von ihm und von Strich vertretene stiltypologische Richtung von der übrigen geistesgeschichtlich orientierten Literaturwissenschaft unterschied, war nur der, dass er meinte, die Literaturwissenschaft müsse ihren spezifischen Beitrag zur Geistesgeschichte von der Analyse des künstlerischen Ausdrucks herleiten, den der ‚Zeitgeist‘ im Spektrum der verschiedenen nationalen Identitäten in der Literatur gefunden hatte“ (Rosenberg 1991, 119). Hildebrands Buch erschien 1914 als Problema formy v izobrazitel’nom iskusstve in Moskau, ein Buch von Wölfflin unter dem Titel Istolkovanie iskusstva 1922 ebenfalls in Moskau. (Angaben nach Hansen-Löve 1978, 264, Fn. 456, und Medvedev 1928, 65.)

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grund dieser Funktion, nicht aufgrund der realen Bedeutung bzw. des realen Gegenstandes einer künstlerischen Darstellung.67 Dies hebt auch Medvedev immer wieder als besonderen Ertrag dieser Richtung hervor.68 Es ist also nach Hildebrand erstens das spezifische Zueinanderstehen der einzelnen Formelemente und zweitens das ästhetische Funktionieren bestimmter Phänomene als solcher, was ästhetische Bedeutsamkeit konstituiert.69 Damit schließe ich den Überblick über den allgemeinen Hintergrund und komme nun zu den vor allem von Dole!el ins Feld geführten Vertretern einer spezielleren deutschsprachigen Kompositionstheorie. c. Dole!els Thesen Dole!els konkretes Anliegen ist es, die Kompositionstheorie der Erzählprosa als vergessenen Zweig der formalen Schule in Russland vorzustellen und zugleich auf die Bekanntheit und den Einfluss der deutschen Poetik in Russland aufmerksam zu machen.70 Letzteres löst er erstens _________ 67

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Vgl. Hildebrand 1893, 78 ff. Der Begriff der Funktion wird mit der inneren Erfahrung in Verbindung gebracht; ästhetisch Bedeutsames wird mit der inneren Erfahrung und dem Körpergefühl korreliert und auf dieser Basis rezipiert – nicht auf der realen Basis. Historisch gesehen, ist diese Ansicht auch als Gegenposition zu Historismus und Positivismus zu sehen. Ein Beispiel: „Stark entwickelte Kinnladen machen den Eindruck von Kraft und Energie, weil wir bei starken Willensäußerungen die Kinnladen aufeinanderpressen und anspannen, so dass ihre Muskulatur hervortritt“ (ebd., 79). Solche Eindrücke sind jedoch, wie gesagt, von der Realität unabhängig, sprich, wenn das Kinn als Ausdruck von Stärke funktioniert, so nur aufgrund des damit verbundenen Körpergefühls und nicht aufgrund einer faktischen Korrespondenz von Stärke und markigen Kinnladen. – Damit wird allerdings zugleich deutlich, dass der Eigenwert der künstlerischen Form noch nicht in letzter Konsequenz anerkannt, sondern noch psychologisch gedeutet wird. „Der Primat der konstruktiven Funktion gegenüber der nachahmenden und reproduktiven […] führt notwendig zu einem neuen Begriff und einer Umwertung der Darstellungsund Ausdrucksmittel sowie der künstlerischen Technik“ (Medvedev 1928, 66). Der letzte Punkt gewinnt bei Worringer ein noch deutlicheres Profil, wenn er explizit die Kunsttheorie von der Ästhetik unter Rekurs auf Konrad Fiedler (auf den auch Medvedev wiederholt eingeht) ablöst und ihr ein eigenes Gebiet zuweist. Unabhängig von der stilpsychologischen Ausrichtung seiner Untersuchung und der daraus (für ihn) resultierenden Auffassung der künstlerischen Form als Kategorie des „allgemeinen seelischen Empfindens“ (Worringer 1907, 11) stellt er fest, dass die herkömmliche Ästhetik Kunst nur unter dem Aspekt eines idealen Könnens der Naturnachahmung betrachtet habe, wodurch künstlerische Objekte, die nicht unter dieser Maßgabe entstanden seien, eine unsachgemäße Beurteilung erführen. Eben darum müsse „die seit Aristoteles durch die Jahrhunderte fortwuchernde unberechtigte Identifikation von Kunstlehre und Aesthetik“ zurückgewiesen werden (ebd., 6). Vgl. Dole!el 1973, 74. In Dole!el 1990, 125 f., ist von den deutschen Arbeiten sogar als Quelle der russischen Narratologie die Rede: „First, a neglected feature in the genesis of Russian formalism, in connection with German poetics, will be revealed; the historical

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insofern ein, als er einige explizite Verweise auf deutsche Quellen in russischen Publikationen aufzählt.71 Diesen Verweisen ist gemeinsam, dass sie gehäuft erst in Veröffentlichungen seit 1923 auftauchen, was jedoch nicht impliziert, dass die deutschen Arbeiten nicht auch schon vorher rezipiert worden sind. In der Tat geht aus dem Briefwechsel zwischen !jchenbaum und "irmunskij (1988) hervor, dass !jchenbaum bereits vor seiner formalistischen Phase viele der in Frage kommenden Werke auf Deutsch gelesen hat. Für den Germanisten "irmunskij gilt dies umso mehr. Man sollte dabei aber in Betracht ziehen, dass die russischen Wissenschaftler erst nachträglich, also nachdem sich ihre Grundüberzeugungen schon gebildet hatten, mit der entsprechenden Literatur aus Deutschland in Kontakt gekommen sein können (#klovskij), oder – wie wohl in !jchenbaums Fall – sich bewusst davon abgesetzt haben. Die Einflussfrage muss also offen bleiben. Zweitens lenkt Dole$el die Aufmerksamkeit auf inhaltliche Gemeinsamkeiten72 und stellt einige deutsche Konzeptionen vor.73 Äußerlich auffälligstes und neugierig stimmendes Charakteristikum seiner Darstellung ist, dass er einen Kreis von Wissenschaftlern annimmt, die in Deutschland bzw. Österreich eine Schule oder Richtung gebildet hätten. Wiederholt ist bei Dole$el von „Seuffert’s group“ bzw. der „rhetorischen Schule“ die Rede, und er gibt zugleich an, dass sie in den einschlägigen Werken zur Geschichte der deutschen Philologie nicht vorkomme.74 Dole$el bemängelt in diesem Zusammenhang, dass die Beiträge seiner Helden in Deutschland nicht zur Kenntnis genom_________

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shift of theoretical poetics from the West to Russia will be captured in a concrete manifestation. Second, this inquiry will reveal ancient sources of Russian narrative poetics and thus provide twentieth-century narratology with a venerable ancestry“. Dole$el 1973, 78 f. und 1990, 135. Dole$el gibt zu, dass bei #klovskij keine Verweise auf deutsche Quellen zu finden sind, fügt aber suggestiv hinzu, dass er generell sehr geizig mit solcherlei Angaben gewesen sei. Dann aber muss auch die umgekehrte Annahme gelten, dass er genauso geizig mit der Lektüre theoretischer Texte gewesen sein könnte. Für diese letztere Auslegung spricht folgende Äußerung !jchenbaums über #klovskij: „Er hat viele beleidigt, die einen damit, dass er ohne Kenntnisse des Englischen und der deutschen Wissenschaft es schaffte, Sterne zu einem neuen Leben zu erwecken“ (!jchenbaum 1929, 445). Vgl. Dole$el 1973, 79 f. und 1990, 136. Vgl. Dole$el 1973, 74–78, mit Schwerpunkt auf Schissels Entwurf und 1990, 126–134. Vgl. Dole$el 1973, 78 u. 83 Fn. 22 u. 23, sowie Dole$el 1990. Die Annahme einer Seuffert-Schule bzw. einer durch Schissel repräsentierten „rhetorischen Richtung“ geht auf #or zurück (1927, 133). Mit dem leider nicht weiter begründeten Hinweis, dass „die Schule Seufferts“ für Petrovskij wichtig gewesen sei, übernimmt auch Hansen-Löve (1978, 264, Fn. 456) diese Bezeichnungen von #or, ohne auf deren Angemessenheit einzugehen, und spricht auch im Folgenden von einer Gruppe (269). Dass diese „Schule“ keine Schule gemacht hat (die genannten Arbeiten waren damals schon mindestens fünfzehn Jahre alt), war schon zu #ors Zeiten erkennbar. Die Ausrufung einer Schule erscheint daher willkürlich.

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men worden seien und niemand die sog. rhetorische Schule erwähne.75 Nach meinen Erkenntnissen ist dies nicht weiter erstaunlich, da es Rozalija !or war, die diese Bezeichnung erfunden hat. Schissels zwei Bücher, die in der von ihm mit herausgegebenen Reihe Rhetorische Forschungen erschienen waren, sind die einzigen Bände dieser Reihe geblieben und über die Altphilologie hinaus nicht bekannt geworden, da sie sich mit genuin altphilologischen Fragestellungen befassen.76 Darüber hinaus ist es sehr fraglich, ob es sinnvoll ist, in Bezug auf frühe erzähltheoretische Ansätze in Deutschland von einer „Seuffert-Schule“ zu sprechen. Für Dole"els bzw. !ors Einschätzung Seufferts als Schulhaupt sprechen höchstens zwei Indizien: Schissels Hoffmann-Buch ist seinem „hochverehrten Lehrer Bernhard Seuffert“ gewidmet und verdankt sich zumindest zu einem Teil dessen Ideen, wie vor allem aus dem Vorwort deutlich wird; zweitens schreibt Seuffert selbst in einem Artikel, dass ihn das Problem der Komposition schon seit vielen Jahren beschäftige, so in Gesprächen mit seinem Freund und Grazer Kollegen A. E. Schönbach und in Seminarübungen mit seinen Studenten, wovon sich nur „ein kleiner Teil“ in dem Aufsatz niedergeschlagen habe.77 Diese Hinweise scheinen mir jedoch etwas zu dürftig, um von einer „Schule“ zu sprechen. Wenngleich man somit zusammenfassend sagen kann, dass es keine schulmäßig betriebene Erzähl- oder Kompositionstheorie um Seuffert gegeben hat, so ist zugleich festzuhalten, dass sehr wohl eine Reihe von deutschen Publikationen nachweisbar ist, deren Autoren sich, zeitlich vor dem russischen Formalismus, in Ansätzen mit kompositionstheoretischen Fragestellungen befasst bzw. zumindest Texte aus einer kompositionstheoretischen Perspektive betrachtet haben. Wenn schon die Einflussfrage ungeklärt bleiben muss, so bleibt doch die andere Frage, welche Gemeinsamkeiten es zwischen der frühen russischen und der frühen deutschen Erzähltheorie gab, von erheblichem Interesse. Im folgenden Abschnitt sollen zwei Aspekte von Schissels Beitrag zur Kompositionstheorie exemplarisch erörtert und Dole"els Beobachtungen präzisiert und teilweise korrigiert werden.

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Dole"el 1990, 135. Vgl. auch Dole"el 1973, 78, wo er noch hoffnungsvoll prognostiziert, dass die deutsche Wissenschaft diese Lücke bald füllen werde. Schissel 1912 und Schissel 1913. Seuffert 1909, 599. Für eine gründliche Aufarbeitung der vermuteten Überlegungen Seufferts auf diesem Gebiet wäre eine Recherche in seinem in Graz und Würzburg verwahrten Nachlass erforderlich, denn Seufferts Buchpublikationen gehen nicht in diese Richtung.

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d. Zur Frage nach einer deutschsprachigen Kompositionstheorie 1.1. Komposition/Disposition. Otmar Schissel von Fleschenbergs frühe Arbeiten können am ehesten als Beispiel für eine deutschsprachige Kompositionstheorie herangezogen werden. Dole!el nennt vor allem sein Hoffmann-Buch (1910), aber auch das programmatische Vorwort zu der von Schissel mitbegründeten Reihe Rhetorische Forschungen. Daneben gibt es noch einen frühen Aufsatz, der sich einer technischen Problematik widmet (Schissel 1908). Schissel selbst verweist auf seinen Lehrer Seuffert und ein frühes Buch von Robert Riemann (1902), an denen er sich orientiert.78 Die für eine Kompositionstheorie relevanten Arbeiten Schissels stammen aus den Jahren 1908–1912. Ähnlich wie bei jener von Dole!el angenommenen, jedoch in der Form wohl nie da gewesenen Forschergruppe, stellt sich die Frage, ob es berechtigt ist, hier von einer Theorie zu sprechen, denn Schissels Konzeption ist nicht einheitlich. Dole!el übergeht die Inkonsistenzen. Die wohl in diesem Kontext bedeutendste Leistung Schissels besteht in der Einführung der Opposition von Komposition und Disposition, die von Petrovskij (1921, 116) später aufgenommen wird und die Ähnlichkeiten mit "klovskijs Dichotomie von Fabel und Sujet aufweist.79 Sieht man sich Schissels Verwendungsweise dieser Begriffe aber ein wenig genauer an, zeigt sich, dass diese Begriffe von Schissel in unterschiedlichen Kontexten und daher mit verschiedenen Bedeutungen gebraucht werden. Zunächst einmal ist für Schissel nicht Disposition der entscheidende Gegenbegriff zu dem der Komposition, sondern Technik. So definiert er Komposition als „die adäquate Gestaltung des Themas, d. i. des materiellen (Stoff) und ideellen (Problem) Inhaltes der Dichtung“ (1910, 1). Adäquat, fügt Schissel hinzu, sei eine Gestaltung dann, wenn das Thema den „gattungsbestimmenden ästhetischen Normen“ gemäß gestaltet wer_________ 78

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Vgl. Schissel 1910, 1, Dole!el 1973, 74. In Dole!el 1990, 202, Fn. 7, wird zusätzlich darauf hingewiesen, dass es sich bei Riemanns Buch um eine „traditionelle, rein deskriptive Studie“ handele, der die theoretische und systematische Orientierung fehle, die Dole!el zufolge Schissels Arbeiten auszeichnet. Es finden sich bei Riemann meiner Meinung nach aber im selben Maße Ähnlichkeiten mit Schissel, wie sich bei Schissel Ähnlichkeiten mit Petrovskij finden. Überhaupt scheint „Goethes Romantechnik“ eine der ersten größeren Arbeiten zu sein, die den Anspruch haben, sich ausschließlich mit der Darstellungstechnik von Prosa zu beschäftigen, wobei die Komposition einer der Aspekte ist, unter denen die Werke untersucht werden. Vereinzelt finden sich darin solche Überlegungen wie die, Formeln zu finden, die man „inventarisieren“ könne (Riemann 1902, 4), oder die, dass bestimmte Komponenten in einem Werk auf andere bezogen seien und keine isolierte Bedeutung hätten (28). Für einen kurzen Überblick über die klassische Bedeutung der Begriffe „Komposition“ und „Disposition“ sowie „ordo naturalis“ und „ordo artificialis“ vgl. Dole!el 1990, 128 f. und 202, besonders Fn. 9 und 10. Vgl. auch Wolf Schmids Beitrag in diesem Band.

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de (ebd.). Somit ist ein erster Schluss erlaubt: Schissels Kompositionsbegriff ist abhängig von ästhetischen Normen, die für die jeweiligen Gattungen gelten. Woher diese gattungsbestimmenden Normen kommen und welche dies sind, bleibt indes ungeklärt. Dafür stellt Schissel nun den Begriff der Komposition dem der Disposition gegenüber, und zwar wird von ihm die den ästhetischen Normen unterliegende Komposition des Themas von „dessen logischer Entwicklung und Einteilung, seiner Disposition unterschieden“ (2). Im Anschluss daran postuliert Schissel ein an den Gattungsnormen orientiertes Harmonieideal, dem eine jede Komposition zustrebe und das er in einer kurzen Typologie näher zu charakterisieren versucht. Demnach sind z. B. „Symmetrie des Aufbaus, konzentrischer Bau, analytischer Bau“ Exemplifikationen einer harmonischen Komposition (ebd.).80 Die Komposition eines Themas geschieht Schissel zufolge, wie gesagt, unter der Maßgabe ästhetischer Normen; danach ist sie ein ästhetisches Ergebnis eines bestimmten Prozesses. Die entsprechenden Verfahren nun, die formalen Mittel, um zu einer intendierten Komposition zu gelangen, bezeichnet Schissel als „technisch“ (3). In einem Beispiel nennt Schissel die Einschnitte, die in Xenophons ephesischen Geschichten durch die Darstellung von Liebesnächten erreicht werden, „kompositionell“, die Form, in der diese präsentiert werden („Zwiegespräch“) hingegen „technisch“ (ebd.). Technisch in Schissels Sinne ist mithin all das, was als Motivierung einer bestimmten kompositionellen Entscheidung dient. Die Komposition eines Werks bei Schissel ist ein grobkörniges Raster im Sinne einer ästhetisch wirksamen Makrostruktur unter dem Gesichtspunkt der Symmetrie oder Gradation von Werksegmenten. Technisch hingegen ist bei Schissel das, was zu einer solchen Makrostruktur führt. Dass Schissel jedoch Technik von Komposition gar nicht so klar unterscheidet, ersieht man aus seiner Formulierung, dass „Technisches in die Komposition übertreten“ kann, und zwar dann, „wenn es Inhaltsmotiv wird“ (5).81 Er nimmt damit die „scharfe begriffliche Schei_________ 80

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Dole!el nennt das „classificatory scheme of the compositional principles“ (1973, 76) bzw. „taxonomy of compositional patterns“ (1990, 128). Bei Lichte betrachtet, handelt es sich um sehr aussageschwache Kompositionsmuster resp. -prinzipien, denn konzentrischer und analytischer Bau z. B. unterscheiden sich nach Schissel nur dadurch, dass der Höhepunkt entweder in der Mitte oder am Ende einer Geschichte liegt. Der Begriff des analytischen Baus geht auf Ewald (1907, 28) zurück, der es als charakteristisch für eine „analytische Entwicklung“ einer Geschichte ansieht, dass diese in den Anfangsszenen „keimartig“ enthalten sei. (Vgl. zu dieser Metapher auch Seuffert 1909, 617.) In diesem Zusammenhang geht Ewald auch auf die Umstellung der chronologischen Reihe ein, die eine analytische Entwicklung nach sich zieht (1907, 29). Schissel bezieht sich hier auf Seufferts Motivbegriff, den dieser dem Thema gegenüberstellt. Ein Motiv nach Seuffert hat demnach immer eine Funktion, und zwar die, das Thema zu motivieren. Ein Motiv steht somit nie für sich selbst, sondern stets im Zusam-

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dung“ dieser beiden Begriffe wieder zurück, ohne jedoch weiter darauf einzugehen. Es ergibt sich folgende erste Bilanz: Schissel benennt zwar das Begriffspaar „Komposition/Disposition“ in dem mittlerweile bekannten Sinne, doch kommt der Differenz in der nachfolgenden Untersuchung einer Episode aus den Elixieren des Teufels keine herausragende Bedeutung zu. Im Vergleich mit anderen Arbeiten aus dieser Zeit (Riemann 1902, Ewald 1907), auf die sich Schissel selbst beruft, hebt sich seine Untersuchung der Elixiere nur insofern ab, als sie der Faktur bzw. Komposition eines einzigen Werkes gilt und somit detaillierter ist; es liegt aber keineswegs auf der Hand, dass sie theoretisch fundierter oder ertragreicher wäre als die genannten Arbeiten. 1.2. Komposition und Kunstwissenschaft. Zwei Jahre später erfährt der Begriff der Komposition bei Schissel eine Veränderung. Komposition und Disposition werden zusammen mit der Topik als „höhere Formelemente“ klassifiziert und befinden sich nunmehr auf einer Ebene (1912, VIII); Schissel verzichtet damit auf einen Begriff, der dem des Materials bzw. der Fabel bei den Formalisten entspricht. Es fällt auf, dass Schissel sowohl einer am Schönheitsbegriff orientierten normativen als auch einer an Rezeption und Produktion orientierten psychologischen Methodik explizit eine Absage erteilt.82 Unter Berufung auf den Grazer Philosophen Hugo Spitzer (1903) scheint Schissel nun im Gegensatz zu früher eine Loslösung von ästhetischen Normen und dagegen (ganz im Sinne der russischen Formalisten) den Primat der künstlerischen Verfahren zu postulieren (1912, V). Wie jedoch aus späteren Formulierungen hervorgeht, behält Schissel die Fragen der traditionellen Ästhetik durchaus im Blick.83 Ja, mehr als das: Jetzt erst wird deutlich, dass Schissels Ausführungen auf die Rhetorik im Unterschied zur Poetik gemünzt sind. Dies berücksichtigt Dole!el offenkundig nicht, wenn er mit Bezug auf Schis_________

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menhang mit dem (eigentlichen) Thema. Vgl. Seuffert 1909, 600. Zwar ist nach Seuffert die Figur des Fink in Soll und Haben auch Teil des Themas („das Volk bei der Arbeit“), doch sei diese Figur aus technischer Perspektive lediglich Motiv, weil immer auf den Helden Anton bezogen. Vgl. ebd., 604. In Dole!el 1973, 75, heißt es, dass er normative und psychologische Ästhetik zurückweise: „He rejected both normative […] and psychological aesthetics“. Vgl. auch Dole!el 1990, 126. Dole!el übergeht den Unterschied in Schissels Publikationen, der sich aus der jeweiligen Stellung der ästhetischen Normen in Schissels Theorie ergibt. So haben die Formelemente bzw. „Komponenten“ der rhetorischen Kunstform für Schissel durchaus ästhetische Relevanz: „Aus diesen 5 komponenten setzt sich die kunstform der rhetorik, d. i. der hauptfaktor ihrer ästhetischen wirksamkeit, zusammen“ (Schissel 1912, VII). Vgl. auch ebd., X, wo Schissel behauptet, dass „in der rhetorik die formschönheit die grundlage des ästhetischen eindruckes bildet“. – Zu betonen ist, dass „Formschönheit“ nach Schissel nur rhetorischen Produkten, nicht jedoch genuin literarischen (poetischen) Erzeugnissen zukommt.

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sel schreibt, dass Komposition in lyrischer Poesie keine Anwendung finde, wohl aber in der narrativen Gattung.84 Dole!el missversteht hier Schissel in verhängnisvoller Weise, was zu einer außerordentlichen Überbewertung von Schissels Methodik führt. Es ist darauf hinzuweisen, dass die Untersuchungsgegenstände der ersten und einzigen beiden erschienenen Bände der Rhetorischen Forschungen gar keine rhetorischen Texte darstellen.85 Demgegenüber ist das Vorwort, das die gesamte Sammlung einleitet, verwirrenderweise auf die Untersuchungsmethode gerade von rhetorischen Kunstwerken (in Abgrenzung von poetischen, worunter er sowohl Romane als auch Gedichte versteht) ausgerichtet, und es ergeben sich nur aus Schissels Gegenüberstellung der Aufgaben von Rhetorik und Poetik Prinzipien, die Schissel zufolge für die Poetik zu gelten haben. Aber genau diese Prinzipien widersprechen der Auslegung Dole!els: Demnach wäre es verfehlt, auf ein dichterisch so unwesentliches formelement, wie die komposition, z. b. eine wissenschaftliche poetik gründen zu wollen. Eine solche hat vielmehr systematische erforschung der stoffqualitäten stimmung und spannung zur hauptsächlichen voraussetzung. (Schissel 1912, IX f.)

Die ganze vorhergehende Erörterung des Kompositionsbegriffes ist somit auf die Beschreibung von Reden bezogen. Andererseits bleibt das auf die Rhetorik anzuwendende und vermutlich auf Hugo Spitzer zurückgehende Programm der Rhetorischen Forschungen einer „morphologischen“ Analyse von Texten (wenn auch eben nicht fiktionalen, poetischen oder nicht bloß rhetorischen) bestehen. Schissel zeigt sich damit deutlich an jenen Prinzipien orientiert, die von der deutschen Kunstwissenschaft aufgestellt wurden und mit deren partiellen Übertragung auf die Literaturwissenschaft Walzel bekannt geworden ist.86 Für die Begriffe der Komposition und Disposition ergibt sich folgendes modifiziertes Bild, wenn man sie mit Schissel auf rhetorische Texte anwendet: Während Schissels Erläuterungen zum Kompositions-

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„Composition as one of the ‚higher formal elements’ of thematic organization has no general application in lyric poetry but plays an essential role in the narrative genre […]. For this reason, patterns of composition are of prime interest for narrative poetics. Composition is a universal organizing principle of narratives“ (Dole!el 1990, 127). – Hier legt Dole!el unpassenderweise Schissel seine eigenen Überzeugungen in den Mund, denn bei Schissel ist nicht von narrativen, sondern von rhetorischen Texten die Rede, z. B. von der griechischen Gerichtsrede. Vgl. Schissel 1912, VII. Schissel 1912 und 1913. In diesem Sinne hatte sich zuvor auch Seuffert bereits geäußert (1909, 599). Es ist darum nicht einzusehen, warum Dole!el (1990, 126) in dieser Hinsicht einen Gegensatz zwischen Seuffert und Schissel vermutet.

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begriff, für sich allein genommen, nicht sehr aussagekräftig sind87, erlangt man die entscheidende Einsicht über die Modifikation der Begriffe aus seinen Ausführungen zum Dispositionsbegriff. Disposition ist jetzt für Schissel ein Gattungsschema, d. h. eine generalisierte Darstellungsweise, der er die Komposition als individuelle künstlerische Faktur gegenüberstellt. Disposition ist danach gattungsbestimmend, aber nicht unbedingt als unkünstlerische Schablone zu denken, die im günstigen Fall durch Komposition ästhetisiert würde, denn Schissel erblickt die „künstlerische leistung auf dem gebiete der disposition in der einpassung des einzelfalles in ein gattungsschema“ (1912, VII). Disposition als „logische gliederung“ (VI) ist zusammen mit den anderen Formelementen Komposition und Topik sowie den von Schissel eher vernachlässigten Komponenten Stil und Rhythmik integriert in einen Katalog von Kriterien, denen gemäß ein rhetorischer Text im Rahmen der von Schissel propagierten Rhetorischen Forschungen beschrieben werden soll. Zwar nennt Schissel diese fünf Elemente auch „kunstmittel“, doch wird zugleich deutlich, dass er sie im Rahmen der Rhetorik für Mittel der Formschönheit hält, sie also doch für ästhetisch bedeutsam hält – im Unterschied allerdings zur nicht-rhetorischen Literatur, für die Formschönheit keinerlei Bedeutung habe (VIII). Somit ist nochmals festzuhalten: Auf Schissel gehen die auch von Petrovskij verwendeten Ausdrücke „Komposition“ und „Disposition“ zurück. Was er darunter versteht, ist jedoch keineswegs eindeutig. Besonders in der zuletzt beschriebenen späteren Verwendungsweise gibt er die zuvor noch angedeutete Unterscheidung, die sich durchaus im Sinne der Kompositionstheorie deuten lässt, wieder auf. Dafür plädiert er für eine theoretisch fundierte Formanalyse, was jedoch allein noch keine Kompositionstheorie begründen kann, denn für Schissel gilt im Grunde dasselbe wie für Walzel.88 Merkwürdig ist, dass Schissel ein Jahr später im Rahmen der Begriffsbestimmung von fabula in den Metamorphosen des Apuleius auf den Unterschied zwischen Stoff und Erzählung aufmerksam macht und damit deutlich macht, dass er diesen Unterschied nach wie vor anerkennt.89 _________ 87

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Vgl. Schissel 1912, VI. Dort wird Komposition selbst als „rhetorische[s] kunstmittel“ bezeichnet. Ansonsten ist die Darstellung aber an der schon aus dem Hoffmann-Buch bekannten Typologie orientiert. Vgl. oben Fn. 64. Vgl. Schissel 1913, 60, besonders 62, wo lat. fabula der historia gegenübergestellt wird, allerdings einen mittleren Platz einnimmt, weil sie andererseits noch mit den libri (der literarischen Fixierung) kontrastiert wird. (Somit ist Petrovskijs Umkehrung von Fabel und Sujet näher am Original, weil bei ihm fabula wie bei Apuleius das Gemachte bezeichnet.)

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2.0. Kompositionsprinzipien als narrative Invarianten. Einen zweiten Schissel zugeschriebenen innovativen Punkt nach Komposition/Disposition formuliert Dole!el so: Schissel von Fleschenberg focused his attention on the distribution of action components, such as scene, episode, novella as a whole. […] Schissel uncovered the compositional principles which are at work in the transformation of a loose sequence of novellas, ‚strung‘ on the motif of the hero’s travels, into the more rigid structure of a novel. (Dole!el 1973, 77)

Es ist gerade Schissels Interesse an der Makrostruktur des Textes, das ihm vermutlich den Ruf eines Kompositionstheoretikers eingetragen hat. Sein eigentliches Anliegen dabei ist, mit Hilfe von makrostrukturellen Untersuchungen (gegenüber den damals teilweise üblichen Stiluntersuchungen) Erkenntnisse über die Entstehungsgeschichte oder die Gattungs- sowie Epochenzugehörigkeit eines Werks zu gewinnen. Bereits in dem Aufsatz Technik der Romanschlüsse im griechischen Liebesroman von 1908 versucht Schissel, den älteren griechischen Liebesroman, als dessen Vertreter er u. a. Chariton und Xenophon Ephesios nennt, von den jüngeren Romanen des Heliodoros und des Longos aufgrund der Technik der Romanschlüsse zu unterscheiden. Vor ihm sei der Unterschied lediglich auf sprachlich-stilistischer Ebene markiert worden (231). Das Ergebnis ist, dass im älteren Roman ein doppelter Abschluss erfolge, in dem innere Handlung (Helden) und äußere Handlung (Nebenpersonen) getrennt behandelt werden, während im jüngeren Roman eine Schlussszene beide Ebenen in sich vereinige und miteinander verbinde (241 f.). Dies erfordere fortgeschrittene Kunstgriffe, z. B. jenen, den Ausblick auf das weitere Schicksal der Liebenden vorzuziehen wie das bei Longos geschieht (240, 242). Aber dieses textkritische Ziel abzulösen und die Kompositionsanalyse zum Selbstzweck zu machen, um den Kunstwerkcharakter des Textes zu beschreiben – genau diesen Schritt geht Schissel nicht. Denn literarische Kunsthaftigkeit besteht (wie ich schon dargelegt habe) für ihn gerade nicht in der Konstruktion, sondern darin, Stimmungen zu erzeugen. Bleibt also nur die vom Zweck befreite Methode der Kompositionsanalyse, für die Schissel im Namen der Kompositionstheorie in Anschlag gebracht werden kann. Ist diese tatsächlich so wegweisend, wie Dole!el sagt? Isoliert Schissel wirklich Kompositionsprinzipien im Sinne von narrativen Invarianten? Auch in dem von Dole!el gerühmten Hoffmann-Buch findet sich bis auf die bereits erwähnten Kompositionsmuster (s. o. Fn. 79) nichts, was als Invariante angesehen werden könnte. Schissel operiert auch kei_________ Schissel antizipiert in diesem Zusammenhang zudem die Bedeutung des Erzählers für die fabula, „weil ihn auffassung und wiedergabe der fabula charakterisiert“ (ebd., 63).

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neswegs mit diesen Mustern als invarianten Bausteinen, die in unterschiedlichen Anordnungen verschiedene Funktionen haben, wie dies Petrovskij mit seinen Komponenten Vor- und Nachgeschichte tut. Dole!el (1990, 129) bezieht sich auch nur auf Schissels Prinzip des symmetrischen Kontrastes, um seine These zu belegen, dass Schissel Kompositionsprinzipien entdeckt habe. Im Vergleich zu Petrovskijs Vorgehen halte ich jedoch die Unterschiede für gewichtiger als die Gemeinsamkeiten. Gemeinsam ist ihnen die Untersuchung des Textaufbaus eines gegebenen Werks; aber dies teilen sie mit vielen Arbeiten aus dieser Zeit. Charakteristisch für Petrovskij im Unterschied dazu ist jedoch die Untersuchung dessen, wie sich bestimmte Textkomponenten in unterschiedlichen Kontexten verhalten. Diese funktionalistische Herangehensweise zusammen mit dem Systematisierungsansatz der narrativen Dynamik und der formalen Methodik zeichnen die von Petrovskij repräsentierte russische Kompositionstheorie aus und heben sie zugleich von den deutschsprachigen Ansätzen ab.

4. Schlussfolgerung Charakteristisch für Dole!el (1990) ist, dass die deutschsprachige Kompositionstheorie zusammen mit der russischen in einem Kapitel unter der Überschrift Formalist Poetics: From Germany to Russia abgehandelt wird, der Prager Strukturalismus aber davon getrennt in einem eigenen Kapitel. Ich habe dagegen zu zeigen versucht, dass die These, die deutschsprachige Kompositionstheorie unter das Etikett „Formalistische Poetik“ zu bringen, fundamentale Unterschiede verwischt. Die Untersuchung von Petrovskijs kompositionstheoretischen Schriften hat ergeben, dass vor allem ihr methodischer Ansatz dem der Formalisten sehr ähnlich ist, dass aber die ästhetische Zielsetzung der Formalisten von Petrovskij nicht in dieser Ausschließlichkeit befürwortet wird. Somit ist ein Ergebnis dieses Beitrags die These, dass die russische Kompositionstheorie zumindest partiell der formalen Richtung zugerechnet werden kann. Außerdem markiert die Kompositionstheorie durch ihre herausragende Berücksichtigung der Zeitstruktur in Erzählungen den Übergang von der Prosatheorie zur Erzähltheorie und kommt sowohl damit als auch mit ihrem Systematisierungsanspruch narratologischen Anforderungen näher als z. B. "klovskijs Prosatheorie. Demgegenüber wurde in wissenschaftshistorischer Perspektive Dole!els Ahnentafel der formalen Richtung kritisiert. Es ist aus den dargelegten Gründen höchst zweifelhaft, ob Schissels Untersuchungen im gleichen Sinne wie Petrovskijs Analysen als kompositionstheoretisch an-

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gesehen werden dürfen, wenn sie weder methodisch noch in ihrer Zielsetzung der Kompositionstheorie Petrovskijs ähneln. Und da Dole!els Ahnentafel bereits in sog. kodifizierende Schriften Eingang gefunden hat90, ist eine kritische Auseinandersetzung damit nicht unangebracht. Hieran schließen sich weitere wissenschaftsgeschichtliche Überlegungen an. Zum einen stellt sich die Frage, ob Autoren, damit sie als Vertreter ein und derselben Theorie gelten können, nur dieselben (bzw. wie viele und welche) Annahmen teilen müssen oder ob sie zusätzliche Anforderungen erfüllen müssen. Dies lässt sich z. B. angesichts einer Arbeit von Vasilij Gippius (1919) fragen, die zwar auch eine formale Herangehensweise auszeichnet, aber in dieser Hinsicht in seinem Werk ein Unikat darstellt.91 Man rechnet ihn weder dem OPOJAZ-Formalismus noch der Kompositionstheorie zu, führt dafür aber weniger theoretische, sondern eher historische Gründe an, weil er keiner der erwähnten Gruppen angehörte. Zum andern gibt es eine Reihe weiterer Autoren, deren Stellung und Beiträge noch nicht erforscht sind.92 Offen ist außerdem, wie die frühen Arbeiten Viktor Vinogradovs (1922, 1923) zu bewerten und historisch einzuordnen sind. Aus ihnen kann eine alternative Kompositionstheorie rekonstruiert werden, die mit Petrovskij nur das Ziel gemein hat, die Anordnung von Textkomponenten zu untersuchen. Vinogradov stand zu dieser Zeit noch dem OPOJAZ nahe, von dem er sich später distanzierte (vgl. Vinogradov 1967/75). Festzuhalten ist jedenfalls, dass historisch gemeinte Klassifizierungen („x ist ein Vertreter der russischen Kompositionstheorie“) sich nicht allein auf theoretische Gründe („weil x die Annahmen a, b, c vertritt“) stützen dürfen, sondern auch biographisch-historische Daten zugrunde legen müssen („und weil x in einem bestimmten Forschungszusammenhang mit y steht“). Welche Lehre lässt sich aus dieser Sachlage darüber hinaus mit Blick auf die Entwicklung der Narratologie gewinnen? Außer den in der Einleitung erwähnten Wissenschaftlern, die Petrovskij und Reformatskij im Zuge des wieder erwachten Interesses am russischen Formalismus rezipiert haben, hat niemand direkt an die russische Kompositionstheorie angeknüpft. So fortschrittlich Petrovskij zu seiner Zeit auch gewesen sein mag – sein Werk ist zu schmal und steht, wirkungsgeschichtlich gesehen, zu isoliert da, als dass man ihm viel mehr als eine historische Bedeutung attestieren könnte. Seine Bedeutung für Dole!els eigene Theorie und die des Neo-Formalist Circle ist, _________ 90 91 92

Vgl. Biti (2001, 457–459) und Grübel (1996, 388). Zu Gippius vgl. auch Dole!el (1990, 141–143). Vgl. V. Fi"er (1920) und Maksim Kenigsberg (1923).

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gemessen an der Bedeutung bekannterer strukturalistischer und anderer Theorien für diese Wissenschaftler, eher gering. Dieser Befund soll allerdings das Potential der Kompositionstheorie nicht schmälern. Mag es auch zutreffen, dass andere in der Zwischenzeit dieses Potential, ohne von Petrovskij zu wissen, ausgeschöpft haben, so muss man anerkennen, dass Petrovskijs Analysen nicht nur in methodischer Hinsicht (was ihre Präzision und Nüchternheit angeht), sondern auch in theoretischer Hinsicht (Systematisierungsanspruch und Untersuchung der Zeitstruktur) ihrer Zeit voraus waren. Erst viel später kam es im Westen zu einer Entwicklung, die den von Petrovskij eingeschlagenen Weg weiterführte: Auf Ähnlichkeiten mit Genette wurde bereits hingewiesen (Gebrauch von Fremdwörtern zur Etablierung einer wissenschaftlichen Terminologie, die kein Selbstzweck ist, sondern zur Desambiguisierung und Vereinheitlichung beiträgt; sowie Untersuchung der Zeitstruktur). Durch die Thematisierung der „Spannung“, die Petrovskij im Hinblick auf ihre Verbindung mit der Informationsverteilung in Erzählungen vornimmt, zeigen sich auch Parallelen mit Meir Sternberg (1978), in dessen Konzeption narratives Interesse ebenfalls auf Anordnungs- und Verteilungsmuster von Information bezogen wird. Petrovskijs Unterscheidung zwischen Deskription und Narration lässt sich an prominenter Stelle z. B. bei Seymour Chatman (1990) wiederfinden. Diese Parallelen haben jedoch keine rezeptionsgeschichtliche Basis. Sie sollen lediglich zeigen, dass die Kompositionstheorie einen zukunftsweisenden Ansatz darstellte, der aus historisch-politischen Gründen nicht weiter entwickelt wurde. Offenbar hatte Petrovskij auch keine Schülerschar wie die OPOJAZ-Formalisten in Leningrad. Das gewaltsame Ende der GAChN hat ein Übriges dazu beigetragen, dass er – wie viele seiner Kollegen an der Akademie – über Anfänge nicht hinausgekommen ist. Diese Weiterentwicklung haben dann andere übernommen. Aber auch der Abbruch von Traditionen gehört zur Geschichte einer Disziplin und verdient eine entsprechende Würdigung.

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CHRISTIANE H AUSCHILD (Universität Hamburg)

Jurij Lotmans semiotischer Ereignisbegriff.

Versuch einer Neubewertung 1. Zur Aktualität Lotmans für die Narratologie Der russische Strukturalist Jurij Lotman (1922–1993) gilt als die zentrale Figur der so genannten Moskau-Tartuer Kultursemiotik. In seiner Monographie Die Struktur des künstlerischen Textes (1970) hat er im Abschnitt Das Problem des Sujets1 eine Definition von Ereignis gegeben, die im Umkreis der Erzähltheorie intensiv rezipiert worden ist. Diese Definition ist komplex und schließt vier Aspekte ein, die im Folgenden summarisch benannt werden: Erstens definiert Lotman ein erzähltes Ereignis als die Überschreitung der Grenze eines „semantischen Feldes“ durch eine Figur im Text. Das Vorhandensein oder NichtVorhandensein eines Ereignisses qualifiziert einen Text als „sujethaft“ oder „sujetlos“. Zweitens bestimmt Lotman Sujethaftigkeit im graduierbaren Sinn: Das Ereignis stellt sich als Übertretung eines Verbots, als Enttäuschung einer Erwartung, als Abweichung von einer Norm dar. Drittens hat der Begriff „sujethaft“ eine wertende Komponente: Er ist im Gegensatzpaar sujethaft vs. sujetlos eindeutig positiv besetzt, was in der Lotmanschen Formulierung vom Ereignis als „Revolution in Relation zum Weltbild“ deutlich wird. Viertens steht der Sujetbegriff im Kontext der Kultursemiotik und weist deshalb weitergehende kulturtheoretische Implikationen auf, die aus der systematischen Definition in der Struktura nur ansatzweise zu ersehen sind. Lotmans Ereignisdefinition wurde in die hermeneutisch orientierte literarische Praxis der Textinterpretation übernommen, in der Narratologie jedoch nur partiell rezipiert, wobei die vier Aspekte unterschiedlich gewichtet worden sind2. Insgesamt gesehen ist Lotman weitgehend _________ 1 2

Eine kommentierte Übersetzung von Auszügen aus diesem Abschnitt findet sich in Schmid (Hg.) 2009, 270–289. Zum einen wurde Lotmans Konzept im Rahmen der deutschsprachigen Literatursemiotik weiterentwickelt, hier besonders von Michael Titzmann (2003), der es seiner Definition von „narrativer Struktur“ zugrundelegt, und von Karl Nikolaus Renner (1983; 2004), der

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außerhalb derjenigen narratologischen Diskussion geblieben, die um das Ereignis als definitorisches Merkmal von Narrativität geführt worden ist und noch geführt wird. Dies erscheint zunächst plausibel, impliziert er doch Kriterien der Graduierbarkeit und benennt darüber hinaus mit dem „Normbruch“, der „Übertretung eines Verbots“ und der „Enttäuschung einer Erwartung“ interpretationsabhängige Aspekte. Lotman scheint sich an die „unerhörte ereignete Begebenheit“ im Sinne Goethes anzuschließen. Damit wäre Ereignishaftigkeit aber weniger ein analytischer als ein kritischer, letztlich im ästhetischen Originalitätspostulat des ausgehenden 18. und des 19. Jahrhunderts verwurzelter Begriff.3 Demgegenüber soll in der vorliegenden Untersuchung geltend gemacht werden, dass Lotman mit dem Begriff „sujethafter Text“ (sju!etnyj tekst) im Grunde eine Bestimmung von Narrativität gibt. Sie erscheint nur deshalb nicht kompatibel mit der narratologischen Diskussion, weil sie innerhalb einer anderen Disziplin konzipiert wurde: der Kultursemiotik. Lotmans Ereignisbegriff ist ein semiotischer.4 Weiterhin bezieht die Lotmansche Ereignisdefinition im Unterschied zu den am verbalen Text orientierten Ereignisbegriffen der Narratologie auch die topologisch-semiotische Dimension von Textualität (den piktoralen Text) mit ein. Darüber hinaus hat der Begriff ‚Sujet‘ im Kontext der Kulturtheorie Lotmans eine diachrone Dimension, die Lotman u. a. in dem Aufsatz Die Entstehung des Sujets typologisch gesehen (Lotman 1973a) entwickelt, in dem er die Genese des Erzählens aus der Abweichung vom mythischen Sprechen behandelt. Der diachrone Aspekt des Sujetbegriffs ist insofern interessant, als er auf die Vorgeschichte der Narratologie aufmerksam macht: auf die volkskundliche, heute kulturanthropologische Erzählforschung, deren Tradition die Kultursemiotik in sich aufgenommen hat. Nur wenn man diesen Kontext mitberücksichtigt, _________

3 4

Lotman für die Filmanalyse formalisiert hat. Vgl. auch Krah 1999; Frank/Lukas (Hgg.) 2004. In jüngster Zeit findet Lotmans Ereignisbegriff Berücksichtigung in mentalitätsund kulturgeschichtlichen Forschungen, die Formen der Ereignishaftigkeit und der literarischen Ereignisskepsis als kultur- und epochenspezifische Phänomene in den Blick nehmen; vgl. das von Peter Hühn und Wolf Schmid geleitete Teilprojekt „Ereignis und Ereignishaftigkeit in der russischen und englischen Literatur aus kulturhistorischer Perspektive“ im Rahmen der Forschergruppe Narratologie an der Universität Hamburg. Zu den Konzepten von Ereignishaftigkeit vgl. Schmid (2003a, 11–21; 2003b; 2008, 11–22) Hühn 2004. Vgl. in diesem Sinn z. B. auch Meister (2003, 91–95) und Martinez/Scheffel (1999, 140– 145). Lotmans Kultursemiotik korrespondiert mit den französischen Semiologie- bzw. SemiotikProjekten und auch z. T. mit poststrukturalistischen Ansätzen (bes. Kristeva, Foucault, Barthes). Auch die Narratologie hat sich zunächst unter dem gemeinsamen Dachprojekt einer „Semeologie“ verortet. Die ersten Bände der Communications und die in Tartu herausgegebene Reihe Semeiotike. Trudy po znakovym sistemam (Forschungen zu Zeichensystemen) verweisen noch auf diesen gemeinsamen Ausgangspunkt; vgl. dazu Kristeva 2002.

Lotmans semiotischer Ereignisbegriff

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wird das innovative Potential der Lotmanschen Definition von Narrativität deutlich: Es sind die Aspekte der semiotischen Relativität und der Präsenz von Zeitlichkeit und Wertigkeit im Begriff des Erzählens, die das in der Narratologie vorherrschende, ahistorisch-universale Verständnis von Erzählen in Frage stellen und die Narratologie zu einem besseren Verständnis ihres Grundbegriffs führen können. Zielsetzung der vorliegenden Untersuchung ist daher die Rekonstruktion der vollständigen Definition des ‚Sujets‘ anhand des Abschnitts Das Problem des Sujets und des genannten Artikels zur Entstehung des Sujets, sowie ihre Rekontextualisierung innerhalb der volkskundlichen Erzählforschung. Dabei bleibt das Beispielmaterial, das Lotman analysiert, weitgehend unberücksichtigt. Das Augenmerk liegt vielmehr auf der inneren Logik und Schlüssigkeit der Ereignisdefinition in all ihren Komponenten. Davon ausgehend soll das kritische Potential bestimmt werden, das der Sujetbegriff im Kontext der narratologischen Diskussion hat.

2. Ereignis und Narrativität in der Narratologie Im Anschluss an das von Todorov (1969, 10) formulierte Programm der Erforschung des Narrativen hat sich eine Diskussion entwickelt, in der unterschiedliche Ereignisbegriffe formuliert wurden, die wechselnde Konstellationen mit den Begriffen Narrativität, story/histoire/Geschichte usw. bilden. Diese Diversifikation geht Hand in Hand mit der Expansion des Wissensfeldes um den Begriff des Narrativen. Nimmt man Jörg Schönerts (2004) Skizze der Geschichte der Narratologie zum Ausgangspunkt, dann folgte auf die Anfangsphase der ‚klassischen‘ strukturalistischen Narratologie und deren Pragmatisierung etwa von 1980–1995 die Aufdeckung des Narrativen in nicht-literarischen Bereichen (Historiographie, Heilige Schriften, Rechtspraxis). In der Zeit nach 1995 erweitert sich der Gegenstandsbereich der Narratologie um Texte anderer Medien, um faktuale Texte, das Erzählen des Alltags sowie um narrative Konstellationen in der Kulturpraxis. Der Begriff des Narrativen bzw. der Narrativität als Grundbegriff, auf den sich die narratologische Wissenschaftspraxis bezieht, wird daher gegenwärtig noch kontrovers diskutiert, z. B. in Bezug auf die Frage, ob Narrativität primär an das Konstrukt einer Geschichte gebunden ist oder an eine spezifische Form von Vermittlung, ob eine Geschichte medienunabhängig sein kann oder verbale Vermittlung voraussetzt, und ob die Begrifflichkeit textueller Phänomene zur Definition von Narrativität überhaupt ausreicht oder man darauf angewiesen ist, sie auf die Begrifflichkeit

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einer anderen Disziplin zurückzuführen. Diese Diskontinuitäten müssen zwangsläufig gerade am Ereignisbegriff zu Tage treten, da er als Grundbegriff die Voraussetzungen enthält, die in den unterschiedlichen Auffassungen vom Narrativen angelegt sind. In jeder Theorie, die einen Begriff des Narrativen zu explizieren sucht, ist der Ereignisbegriff darüber hinaus in doppelter Form unumgänglich: zum einen als Begriff, der sich auf den Objektbereich bezieht, zum anderen als Arbeitsinstrument der wissenschaftlichen Praxis: Jeder Begriff des Narrativen konstruiert selbst eine Klasse von Ereignissen. Diese Immanenz des Ereignisbegriffs bringt es mit sich, dass seine Explikation immer zugleich Selbstreflexion des entsprechenden narratologischen Ansatzes ist. Insgesamt betrachtet lassen sich in der narratologischen Diskussion um den Ereignisbegriff bisher zwei Richtungen unterscheiden: erstens eine hermeneutisch interessierte, das Ereignis als emphatischen Begriff, als den Gesamttext betreffende Einheit definierende Richtung und zweitens eine die Mikrostruktur des Erzählten in den Vordergrund stellende, die den Ereignisbegriff als elementare Grundeinheit auffasst und minimale Aussageschemata konstruiert, ohne auf hermeneutische Operationen zu rekurrieren. Darüber hinaus kann man zwischen dem Ereignis auf den Ebenen der histoire und des discours (Diskursereignis) unterscheiden. Ereignishaftigkeit dieser Form bezieht sich auf die Darbietungsprinzipien und -schemata eines Textes. Wenn man sich auf narratologische Ansätze im eigentlichen Sinn bezieht – und als solche sollen im Folgenden ausschließlich diejenigen betrachtet werden, die für Narrativität die Möglichkeit einer allgemein gültigen expliziten Definition postulieren5 –, dann lassen sich drei Richtungen unterscheiden, je nachdem, wie sich Ereignisbegriff und Narrativität zueinander verhalten: (a) Der Ereignisbegriff wird terminologisiert und ist definitorisch: Narrativität wird auf das Ereignis als elementare Einheit zurückgeführt. (b) Der Ereignisbegriff wird terminologisiert, ist aber nicht definitorisch: Narrativität wird nicht auf Ereignis als elementare Einheit zurückgeführt, sondern auf einen Begriff höherer Ordnung (Geschichte, story, histoire) oder ein anderes erzähllogisches Kriterium. _________ 5

Vgl. dazu in Kindt/Müller (Hgg.) 2003 die Beiträge von Gerald Prince, Fotis Jannidis, Jan Christoph Meister und Wolf Schmid. Kindt/Müller selbst (2003, v–vii) fassen unter Narratologie nur diejenigen Ansätze, die den Begriff des Narrativs oder des Narrativen explizit definieren und grenzen davon funktionale Zugangsweisen ab, die unter bestimmten Aufgabenstellungen narratologische Begriffe auf Zweige der Humanwissenschaften (Geschichte, Wissenschaftstheorie) übertragen.

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(c) Der Ereignisbegriff bleibt vorterminologisch, wird aber intuitiv für die Scheidung von ‚narrativer Form‘ und ‚narrativem Inhalt‘ erzählender Texte vorausgesetzt. Der mainstream der narratologischen Forschung arbeitet mit einem terminologisierten, definitorischen Ereignisbegriff: Eine bestimmte, auf Sequentialität in der Zeit bezogene Form der Ereignisrepräsentation gilt als Minimalbedingung für Narrativität, wobei strittig bleibt, ob sie allein hinreichend ist und welche Merkmale (z. B. Perspektivität, Kausalität als Relationen des Ereignisses) außerdem noch relevant sind. Als ein Beispiel kann man die von der Forschergruppe Narratologie Hamburg formulierte Arbeitsdefinition von „Narration“ anführen: Narration wird – in einem vorläufigen Verständnis – definiert als das notwendig perspektivierte Darstellen bzw. Gestalten von Ereignissen. Unter „Ereignis“ wird eine in der jeweiligen Welt als wesentlich betrachtete Veränderung der inneren oder äußeren Situation einer als Agent oder Patient fungierenden Figur verstanden.6

Diese Definition ist bereits recht komplex und synthetisiert mehrere Kriterien. Sie impliziert z. B. die Vorstellung einer erzählten Welt und enthält ein Kriterium der Relevanz, das auf die Perspektivität einer Figur der erzählten Welt bezogen sein muss. Der Begriff der Veränderung wird jedoch intuitiv gebraucht. Formal genauer ist in dieser Hinsicht die strukturalistische Erzählgrammatik von Gerald Prince (1973), die als Ausgangspunkt der neostrukturalistischen Richtung innerhalb der Narratologie gelten kann. Prince’ Aussageschema einer minimal story korrespondiert mit anderen, an der formalen Logik orientierten Formalisierungen von Ereignisrepräsentationen, z. B. mit der Artur Dantos (1968, 1985), der sprachanalytisch vorgeht. So sind bei Danto geschichtliches Faktum und narratologisches Ereignis – verstanden als kleinstes Element – äquivalent. Danto spricht von „atomar narratives“ und „molecular narratives“ für Sequenzen von Ereignissen. Dantos Formalisierung des Ereignisbegriffs bezieht sich auf eine triadische Konstruktion, die er explizit an den Modus Ponens der Aristotelischen Syllogistik bindet. Allen Ansätzen, die sich an Prince anschließen, ist gemeinsam, dass sie die Veränderung möglichst genau über einen logischen Minimalgegensatz verorten, der entweder in den natürlichsprachlichen Formulierungen des Textes aufgesucht wird, oder in den vom jeweiligen Text repräsentierten narrativen Sätzen. Als Beispiel für einen Ansatz mit nicht definitorischem Ereignisbegriff, der Narrativität und Ereignis terminologisch expliziert, Narrativität _________ 6

Vgl. die Selbstdarstellung der FGN von 11.2001 [http: //www.narrport.uni-hamburg.de/ePort/NarrPort/FGN03.nsf/ContentByKey/MKEE-4WYJFE-DE-p – 11/2001]

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jedoch nicht auf Ereignis zurückführt, sei Wolf Schmids in den Elementen der Narratologie entwickelte Theorie angeführt. „Narrativität im weiteren Sinne“ wird zurückgeführt auf einen intuitiven Ereignisbegriff, der eine „Zustandsveränderung“ enthält; „Narrativität im engeren Sinne“ auf den spezifischen Modus der Vermittlung durch einen Erzähler. Darüber hinaus definiert Schmid ein Ereignis im engeren Sinn als „eine Zustandsveränderung, die besondere Bedingungen erfüllt“ und gibt fünf Parameter an, die dessen graduierbaren Aspekte erfassen sollen.7 Dem so definierten Ereignis kommt in Schmids vierstufigem „idealgenetischen Modell“ der narrativen Transformationen kein Status als Definiens von Narrativität mehr zu. Es handelt sich um einen kontextsensitiven, makrostrukturell relevanten Ereignisbegriff (Schmid 2005, 21; 2008, 12 f.). Als Beispiel für einen nichtterminologisierten, intuitiven Ereignisbegriff kann Gérard Genettes Discours du récit (1972) gelten, dessen Definition von ‚Geschichte‘ (histoire) als notwendiges Merkmal eine in einem Satz zu fassende Minimalveränderung impliziert. Genette differenziert zwischen ‚Geschichte‘ (histoire), ‚Erzählung‘ (récit) und ‚Narration‘ (narration). Das Ereignis figuriert eher beiläufig auf der Seite des narrativen Inhalts. Narrativ ist das Ereignis erst in seiner Funktion innerhalb der Beziehung zur histoire und innerhalb des récit. Genette setzt die intuitive Vorstellung von einer Minimalerzählung voraus, die nach dem Modell eines Satzes gebildet ist, der mindestens ein Verb und einen logisch anzusetzenden Agenten enthält (Genette 1972; dt. 1998, 16–20). Genettes Begriff von Ereignis geht von der weit verbreiteten common sense-Vorstellung aus, ein Ereignis sei etwas, das in einem Satz mitgeteilt werden könne. Genette unterbietet damit die einschlägige Definition von Plot als temporale und kausale Relation von Ereignissen durch E. M. Forster (1927), der als Beispiel die folgende Minimalgeschichte gibt: „The king died and then the queen died of grief“. Anhand dieser kurzen Übersicht wird deutlich, dass Lotmans Sujetbegriff keiner der drei Gruppen eindeutig zuzuordnen ist. Er korrespondiert mit den unter b) genannten Ansätzen, insofern er graduierbare Aspekte enthält, erscheint jedoch auch den unter a) genannten Ansätzen ähnlich, insofern der Ereignisbegriff terminologisiert und definitorisch verwendet wird: Auch bei Lotman dient das Ereignis funktional dazu, _________ 7

Ist Ereignishaftigkeit im nichtgraduierbaren Sinn gegeben, dann ist sie hinsichtlich folgender Merkmale graduierbar: der Bedeutsamkeit in der erzählten Welt (Relevanz); der mangelnden Vorhersehbarkeit (Imprädiktabilität); aufgrund der Konsequenzen, die sich in der erzählten Welt real manifestieren müssen (Konsekutivität); der Unmöglichkeit, es zu revidieren (Irreversibilität); seine Einmaligkeit, die es von regelmäßig wiederholten Vorgängen abhebt (Non-Iterativität) (Schmid 2005, 18–27; 2008, 11–18).

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Texte als sujethaft zu qualifizieren. Das Konzept des sujethaften Textes setzt als minimales, notwendiges wie hinreichendes Merkmal mindestens ein Ereignis in einem Text voraus. Bereits ohne ein einziges inhaltliches Kriterium zu berücksichtigen, das Lotman dem Ereignis gegeben hat, kann man also sagen, dass der Begriff Sujethaftigkeit im Grunde eine definitorische Bedingung für Narrativität formuliert, da Ereignis und sujethaft ein strukturell homologes Verhältnis zu der Opposition Ereignis und narrativ bilden: Sujethaftigkeit ist in Lotmans Texttheorie funktional äquivalent zu Narrativität.

3. Lotmans Ereignisdefinition Im zweiten Teil seiner Struktura entwickelt Lotman eine Theorie, die durchaus als Theorie der Narrativität bezeichnet werden kann. Die Überschrift Die Komposition des Wortkunstwerks suggeriert eine Einführung in die traditionelle Prosaanalyse – als Pendant zum ersten, der Lyrik gewidmeten Teil8, doch lassen die Themen der Unterkapitel („künstlerischer Raum“, „Sujet“, „Figur“, „künstlerische Welt“, „Einstellung“ [als filmästhetischer Begriff] und „Perspektive“) auf den ersten Blick die allgemeine narratologische Relevanz der Ausführungen erkennen. Die Definition des Sujets erfolgt im dritten Abschnitt des zweiten Teils, Das Problem des Sujets. Um den Sujetbegriff von seinen Voraussetzungen her transparent zu machen, ist es nötig, zunächst den von Lotman in der Einleitung der Struktura explizierten semiotischen Textbegriff („sekundär modellbildendes System“) näher zu erläutern (Punkt 3.0.1). Daran anschließend soll der Begriff des semiotischen Raums („Raum“ bzw. „semantisches Feld“) geklärt werden (Punkte 3.1 und 3.2), dann erst folgt die Darstellung der Ereignisdefinition in der Reihenfolge der oben benannten vier Aspekte (Punkte 3.3, 3.4, und 4). 3.0.1. Zum Begriff des „sekundär modellbildenden Systems“ Lotman argumentiert im zweiten Teil der Struktura anhand des Gesamtbereichs semiotischer Textualität und geht auch über den ‚künstle_________ 8

Interessanterweise hat sich der erste, die Lyrikanalyse behandelnde Teil des Buches gegenüber den Lekcii (Lotman 1964) in den Grundzügen nicht verändert, während der zweite zum großen Teil neu verfasst wurde. Die eigentliche Theorie der Narrativität nimmt erst in der Struktura Form an. Ihre Herausbildung ist abzulesen an den von Lotman zwischen 1964 und 1969 in Zusammenarbeit mit den Moskauern Informatikern und Sprachwissenschaftlern verfassten Arbeiten.

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rischen Text‘ insofern hinaus, als der Begriff des erzählenden Textes (des sujethaften Textes) von der Unterscheidung künstlerisch vs. unkünstlerisch logisch unabhängig ist: Der künstlerische Text kann sujetlos sein, z. B. wie ein lyrisches sujetloses Gedicht9; nichtkünstlerische Texte können sujetlos oder sujethaft sein. Dementsprechend entstammt das in diesem Teil von Lotman analysierte Beispielmaterial nicht nur der Literatur, der bildenden Kunst, Bildhauerei, Dramaturgie und dem Film (der nach Lotman als das narrative Genre par excellence gilt), sondern auch der Folklore, der Historiographie und anderen pragmatischen Bereichen (Zeitungsmeldungen, historische Dokumente, Urteile der Rechtssprechung usw.). Entsprechend weit ist der im Einleitungsteil der Struktura theoretisch explizierte Textbegriff, für den Lotman den Begriff „sekundär modellierendes System“ (vtori!naja modeliruju"!aja sistema) verwendet. Für die folgenden Ausführungen ist insbesondere relevant, dass Lotman synonym zu diesem Begriff auch „Text“ (tekst), „Sprache“ (jazyk) und „System“ (sistema) gebraucht und dass sich seine Sprachauffassung sowohl an de Saussure und Hjelmslev als auch an dem kybernetischen Modell eines formalisierbaren Sprachkalküls orientiert. Dem entspricht eine kognitionspsychologische Auffassung, derzufolge Textverstehen mit Dekodieren gleichgesetzt wird. Im Gegensatz zur natürlichen Sprache sind die Zeichen der Sprache der Kunst – wie die der sekundär semiotischen Systeme überhaupt – nicht arbiträr sondern motiviert und ikonisch in einem an Prince angelehnten Sinn. Das bedingt ihre vollständige Transparenz und rationale Erkennbarkeit. Das materiell realisierte Kunstwerk erscheint so als ein kybernetisches Analogmodell zur vorausgesetzten noetischen Struktur. Lotman antizipiert hier bereits die von der Kognitionspsychologie beeinflusste Richtung der Narratologie. Lotman bezieht sich nun insofern auf Hjelmslev, als der Begriff Text bei ihm sowohl einen konkret materiell vorliegenden Text als auch den nur möglichen Text bezeichnet. Text ist im Sinne Hjelmslevs „texte infini“ – die Totalität der in einer konkreten Einzelsprache möglichen oder bereits vollzogenen „Reden“. Dieser Textbegriff umfasst gleichermaßen den Aspekt des ergon wie den der energeia. Als energeia ist eine semiotische Sekundärsprache nach Lotmans Verständnis immer offen für Transformation, es findet ständig eine „Übersetzung“ von NichtSystemhaftem in Systemhaftes statt.

_________ 9

Vgl. aber abweichend davon die Lekcii, wo der Begriff bessju#etnyj (sujetlos) die Bedeutung ‚gegenstandslos‘ im Sinne gegenstandsloser bildender Kunst hat, vgl. den Abschnitt Problemy po$ti!eskogo sju#eta (Probleme des poetischen Sujets) (Lotman 1964, 197–200).

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Eine weitere Korrespondenz zu Hjelmslev besteht in Lotmans Annahme, dass sich die Sekundärsprachlichkeit hierarchisch zu einem Gesamtsystem ordnet und sich alle semiotischen Systeme, der Gestik, des Brauchtums etc. zu einer „Sprache“ höherer Ebene zusammenfassen lassen wie im Stufenaufbau der Hjelmslevschen Semiotiken.10 So expliziert ein Text die Sprache einer Gruppe von Texten, die ihm auf der jeweils untergeordneten Ebene als Varianten zuzuordnen sind. Paradigmatisches Modell ist für Lotman Vladimir Propps in der Morphologie des Märchens (Propp 1928a) entwickelte morphologische Formbeschreibung des Zaubermärchens, die er im Sinne einer strukturalen Formulierung der „Sprache“ einer gegebenen Gruppe von Texten interpretiert: Nehmen wir eine große Gruppe funktional homogener Texte und bewerten wir sie als Varianten ein und desselben invarianten Textes, wobei wir alles von diesem Standpunkt aus „Systemexterne“ zuvor eliminiert haben, so erhalten wir eine strukturale Beschreibung der Sprache der betreffenden Gruppe von Texten. So ist beispielsweise die schon klassische Morphologie des Zaubermärchens von Vladimir Propp aufgebaut, die ein Modell dieser Gattung der Folklore vorlegt. (Lotman 1970, 23; dt. 1973, 31)

Lotman interpretiert die Proppsche Formel als materiellen Text und gleichzeitig als einen Satz, aus dem sich eine Menge syntagmatischer Regeln zur Bildung weiterer Sätze ableiten lassen, die aufgrund der Formel zur Sprache der Märchen gehören und normgerecht gebildet werden können. Propps Begriffe der Funktion und des Handlungskreises definieren, auf den Lotmanschen Textbegriff übertragen, die Opposition systemintern vs. systemextern. Weiterhin spricht Lotman bereits in der Struktura von der „Sprache der Kultur“ als – im Hjelmslevschen Sinne – höchster Ebene der semiotischen Sekundärsprachlichkeit, über die eine gegebene Kultur verfügt, und entwickelt ansatzweise eine schematische Kulturtypologie, die er dann in den 80er Jahren weiter ausarbeitet. In den späteren Arbeiten Lotmans wird semiotische Sekundärsprachigkeit schließlich zum Synonym für Kultur überhaupt. Textualität erscheint als zentraler, die zeichengebende Tätigkeit des Menschen organisierender Faktor. Teilhabe an einer Textualität bedeutet Teilhabe an Kultur.11 1984 reformuliert Lotman den Terminus „Sprache der Kultur“ in seinem systematisierenden Entwurf O semiosfere (1984) und ersetzt ihn durch „Semiosphäre“. Auch Lotmans Theorie der Narrativität in der Struktura ist bereits in diesem Rahmen zu sehen. Sie diente von Beginn an der Zielsetzung, zum Verständnis der Funktion des Erzählens in der menschlichen Kultur insgesamt beizutragen. _________ 10 11

Vgl. dazu Grzybek 1989, 128–151; Fleischer 1989, 26–35. Vgl. zu Textualität als Definiens von Kultur bei Lotman: Sonesson 1998.

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3.1. Der Zeichenkörper Im ersten Abschnitt des zweiten Teils der Struktura, „Ramka“ (Der Rahmen), geht es um die materielle Räumlichkeit des künstlerischen Textes. Lotman macht zwei grundlegende Annahmen: Erstens stellt ein konkreter künstlerischer Text die „Abbildung“ (otobra!enie) einer Realität auf eine andere, eine „Übersetzung“ (perevod) dar. Dabei wird die „Idee“, der „komplexe Gedanke“ des Kunstwerks in die „materielle Realität des Zeichenkörpers“, in der Realität der „Struktur“ des Kunstzeichens abgebildet. Der Begriff der Abbildung bezieht sich folglich nicht auf das Denotat, die Realität, die Welt12. Nicht die Welt wird abgebildet, sondern die noetische Struktur, als immaterielle Realität, als auf die Welt als Referenten gerichtetes Zeichen, wird sie in die Struktur der materiellen Zeichenrealität übertragen. Der Begriff der „Abbildung einer Realität in die andere“ impliziert die vollkommene Analogie zwischen dem „komplexen Gedanken“, der „Idee“ und der Form des künstlerischen Zeichens. Lotman reformuliert im Grunde genommen die traditionelle Form-Inhalt-Dichotomie: Der Dualismus Form – Inhalt muss ersetzt werden durch den Begriff der sich in einer adäquaten Struktur realisierenden und außerhalb dieser Struktur nicht existenten Idee. (Lotman 1970, 19; dt. 1973, 27)

Die zweite Annahme steht im Kontext der Übertragung informationstheoretischer Auffassungen auf die Ästhetik. Ein Signal ist für die Kybernetik ein „Zeichenereignis“. Es besteht seinerseits aus einem Muster von Zeichen, das als geordnet erkennbar sein muss, womit die Einheit des Zeichens betont wird, denn ein Signal ist nicht eine Zeichenmenge, sondern ein Ganzes (Flechtner 1966, 61–66). Das Signal kann eine Nachricht bzw. relevante Information für einen Rezipienten enthalten13, wenn seine Abgeschlossenheit signalisiert ist. Die konkrete Abgrenzung des künstlerischen Textes vom Außertextuellen und von anderen Texten ist selbst wichtiger Bestandteil der Nachricht. Die Abgrenzung des Kunstwerks, seine „Rahmung“, ist semiotisch daher von zentraler Bedeutung. Lotman gibt folgende Beispiele: Im Falle einer Theateraufführung muss der Zuschauer einen speziell für diese Inszenierung bemalten Vorhang als zum Kunstwerk zugehörig identifizieren und vom allge_________ 12

13

Lotmans Begriff der „Abbildung“ wird in der Rezeption unberechtigterweise häufig mit der Doktrin des Sozialistischen Realismus in Zusammenhang gebracht, vgl. dazu Speck 1997, 67–73. Diese Ansicht ist auch in Nachschlagwerken kodifiziert, z. B bei Plumpe 1998: „sein [d. i. Lotmans, C. H.] Begriff von Literatur [...] als Modell von Realität [...] darf als Kompromiss mit der doktrinären Ästhetik des Marxismus-Leninismus verstanden werden". Vgl. bes. Pjatigorskij 1962 und den daran anschließenden, mit Lotman gemeinsam verfassten Artikel (Lotman/Pjatigorskij 1968).

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meinen Fall unterscheiden können. Der Rahmen eines Bildes gehört i. d. R. nicht zum Bild, während im Bildprogramm der Ikonostase die vertikale und horizontale Anordnung der Einzelbilder innerhalb des Tableaus etwas bedeutet, weil man die Rahmung als Ortszuweisung lesen kann. Bezogen auf einen verbalen Text rückt die kodierende Funktion von Textanfang und Textende in den Blickpunkt, im Falle eines Werks der bildenden Kunst die konkrete materielle oder semiotische Begrenzung des Raums, der ihm zukommt.14 „Das Kunstwerk stellt ein endliches Modell der unendlichen Welt dar“ (Lotman 1970, 256; dt. 1973, 316–317). „Der Rahmen des Gemäldes, die Rampe der Bühne, die Ränder der Filmleinwand bilden die Grenzen der in ihrer Universalität abgeschlossenen künstlerischen Welt“ (Lotman 1970, 256; dt. 1973, 316). Das Kunstwerk referiert auf die Welt, wobei die konkrete Referenz immer partikular bleiben muss. Das Kunstwerk bedeutet die Welt als Ganzes, weil im Rahmen der Sprache der Kunst alles Partikulare ein Zeichen für das Ganze (das Weltmodell) ist. Jedes Segment des Kunstwerkes hat eine doppelte, auf das Allgemeine wie das Besondere gerichtete Bedeutung. Figuren in Romanen repräsentieren nicht nur eine Person, gemäß der Logik des Eigennamens, sondern potentiell jeden Menschen. Diese zwei Bedeutungsweisen fasst Lotman hinsichtlich der Erzählung (povestvovanie) unter zwei Aspekte – den „mythologischen“ und den der „Fabel“: Demnach sind im Sujet [sju!et] (oder, weiter gefasst: in jedem Erzählen [povestvovanie]) zwei Aspekte zu unterscheiden. Den einen von ihnen, bei dem der Text das ganze Universum modelliert, kann man den der Mythologie [mifologi"eskij aspekt] nennen, den zweiten, der irgendeine Episode der Wirklichkeit abbildet, den der Fabel [fabul’nyj aspekt]. (Lotman 1970, 258; dt. 1973, 319)

Der Begriff Sujet bleibt an dieser Stelle noch unerläutert, steht aber offensichtlich in einem inklusiven Verhältnis zu Erzählung. Nicht alle Erzählungen haben ein Sujet. Darüber hinaus können wohl Texte existieren, die nur den mythologischen Aspekt repräsentieren, die „alles nicht vermittels einzelner Episoden“ abbilden, sondern „in Form reiner Wesenheiten“, z. B. Mythen, wohingegen Lotman künstlerische Texte, die „nur nach dem Fabelprinzip aufgebaut sind“ explizit ausschließt: Jeder noch so unbearbeitete Brocken der Wirklichkeit weist, wenn er als Kunstwerk präsentiert wird, stets einen Bezug zum Allgemeinen auf. Der Dokumentarfilm in der Tagesschau mythologisiert die Wirklichkeit _________ 14

Ausführlichere Reflexionen über die semiotische Bedeutung der „Rahmung“ im Zusammenhang eines systematischen Vergleichs der Literatur mit der bildenden Kunst finden sich in Boris A. Uspenskijs Monographie Poetik der Komposition (Uspenskij 1970). Die von Lotman in der Struktura angeführten Beispiele aus dem Bereich der bildenden Kunst entstammen zum großen Teil dieser Arbeit, deren Entstehung Lotman unmittelbar mitverfolgen konnte.

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nicht, wohl hingegen im Rahmen des cinema vérite.15 Im modernen künstlerischen Text treten die genannten zwei Aspekte in Wechselwirkung zueinander: Der moderne künstlerische Text wird in der Regel auf dem Konflikt dieser Tendenzen, auf der strukturellen Spannung zwischen ihnen aufgebaut. (Lotman 1970, 259; dt. 1973, 319)

Der Begriff des „künstlerischen Textes“ erscheint an dieser Stelle deutlich zeitlich indiziert, ohne dass diese Indizierung analytisch aufgelöst würde, da sich Lotman in der Struktura auf den systematischen Aspekt seiner Definition beschränkt. Der Mythosbegriff bleibt dementsprechend noch unterdeterminiert16, doch stellt Lotman die Mythos-FabelDichotomie abschließend in den Zusammenhang einer Typologisierung von Kulturen, auf die er später bei der genetischen Herleitung des Sujetbegriffs zurückgreift: Lotman korreliert den Fabel-Aspekt mit der Tendenz zur Zerstörung des Rahmens, den Mythos mit der Stärkung desselben (vgl. Lotman 1970, 259; dt. 1973, 319). Mit dem Textanfang verbindet er Geburt [des Menschen]/Schöpfung der Welt/Erklärung durch Rückführung auf eine Ursache/Legitimation durch Rückführung auf den Anfang – mit dem Textende dementsprechend Telos/Tod/Weltende, Eschatologie, Apokalypse und Utopie. Lotman konnotiert im Grunde genommen die Begriffe Mythos und Fabel mit eingängigen paradigmatischen Entsprechungen – z. B. zwischen dem Leben des Einzelnen und der Gemeinschaft, zwischen Familie und Staat, Körper und Kosmos – und metonymischen Tropen – der Legitimation vom Anfang her bzw. der Erklärung durch Rückführung auf den Ursprung, die als diskursive Figuren elementare Texttraditionen des Abendlands geprägt haben (z. B. die Kosmologie, den Schöpfungsbericht und seine Kommentare, die Chroniken, ursprungsgeschichtliche Argumentationen usw.). Die Bedeutung von Textanfang und Textende unterliegt nun in verschiedenen Kulturtypen einer unterschiedlichen Gewichtung, was für erzählende Texte grundsätzlich von Bedeutung ist. Lotman differenziert in „Modelle von Kultur mit hoher Markiertheit des Anfangs“ (z. B. das Mittelalter), die „in bestimmter Weise mit dem Erscheinen von Texten verbunden [sind], die nur von einem Standpunkt aus, dem des Anfangs, begrenzt sind“ (wie z. B. die Chronik) und in Kulturen, in denen „bei _________ 15 16

Vgl. dazu kritisch Speck 1997, 67–73. Der Mythosbegriff bezeichnet weder die Handlungsstruktur im Sinne des Aristoteles noch diejenigen schriftlich aufgezeichneten mythischen Erzählungen, die man gewöhnlich als Mythen bezeichnet, denn diese haben Lotman zufolge bereits ein episodisches Element gewonnen: sie sind gleichsam „in die Sprache linear-semiotischer Systeme übersetzt worden“, vgl. dazu unten Abschnitt 4.

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erheblich verminderter modellierender Funktion des Anfangs das Ende markiert ist“ (1970, 262; dt. 1973, 323), was sich z. B. in eschatologischen Legenden oder utopischen Lehrgebäuden manifestiert. Der „heutige erzählende Text“ realisiert die Bedeutung von Anfang und Ende entsprechend den oben ausgewiesenen Oppositionen. Lotmans Kulturtypologie verkürzt sich bei näherem Hinsehen auf nur zwei Kulturtypen, und ist durchaus nicht wertneutral, da sie suggestiv die folgenden Begriffspaare nahelegt: Mythos vs. Fabel, Tod vs. Leben, Rahmen vs. Sprengung des Rahmens. In dieses binäre Schema wird sich auch die Opposition sujetlos vs. sujethaft einreihen. Narrativität wird sich später an das Element der Fabel binden. Die generell pejorative Bedeutung des Mythosbegriffs bei Lotman deutet sich hier schon an. 3.2. Der semiotische Minimalraum Der an die Überlegungen zur Rahmung und zur Bedeutung der Grenze des Zeichenkörpers anschließende Abschnitt der Struktura ist Das Problem des künstlerischen Raumes betitelt und behandelt die Sprache der räumlichen Modellierung als semiotisches System. Ausgangspunkt der dem Abschnitt unterliegenden Argumentation ist die Annahme, dass es eine Sprache der räumlichen Modellierung (als eine Ebene der Sprache der Kultur/als Text der Kultur) gibt, die sich in Elementen und Regeln ihrer Kombination beschreiben lassen kann (entsprechend der Transparenz und Formalisierbarkeit, die Lotman für jedes sekundär-modellbildende System voraussetzt). Sie erfasst zwei Ebenen der Räumlichkeit zugleich – die der dargestellten Welt und die des materiellen Kunstzeichens. Der minimale semiotische Raum (ein Raum, der zum Zeichen werden kann) muss zusätzlich zu seiner äußeren Begrenzung eine innere Segmentierung in mindestens zwei Untereinheiten aufweisen. Ausgehend von der weltmodellierenden Funktion des künstlerischen Textes soll der semiotische Minimalraum zugleich alles mittels seines Ganzen und seiner Teile bedeuten können, d. h. er soll der beiden grundlegenden sprachlichen Bedeutungsweisen der Metapher und der Metonymie fähig sein. Er muss mindestens eine syntagmatische Relation ausbilden können und mindestens eine paradigmatische (wobei die Teilräume den übergeordneten Raum repräsentieren); die Untereinheiten müssen diskret sein (das Erfordernis der Grenze). Die Struktur dieses von Lotman angesetzten semiotischen Minimalraums ergibt sich aus seiner Voraussetzung, dass sekundär-modellbildende Systeme sprachanalog sind. Die Minimalstruktur bedeutet selbst aber noch nichts. Damit sie etwas bedeutet, muss erstens jedes Element mit einem Sinnelement zu einem

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Zeichen verbunden sein. Dazu bedarf die Minimalstruktur als Zeichen eines Kontextes, der „Sprache der räumlichen Modellierung einer gegebenen Kultur“ (oder eines Kulturtypus). Die Abbildung des komplexen Gedankens in die materielle Realität des Kunstzeichens geschieht nach Regeln, die selbst Teil der Sprache der räumlichen Modellbildung einer Kultur sind. Lotman führt Beispiele aus der bildenden Kunst an: So ist das realistische Ölgemälde nach Regeln der Übersetzung dreidimensionaler Realität in die Zweidimensionalität gefertigt. Diese Regeln sind selbst Teil der Sprache der räumlichen Modellierung im Text und stehen in einer gegebenen Kultur wiederum im Zusammenhang mit den Vorstellungen über Räumlichkeit überhaupt sowie mit den gerade geltenden ästhetischen Normen räumlicher Abbildung in der Kunst. Die Raumaufteilung auf der russischen Ikone folgt z. B. ganz anderen Regeln als das realistische Ölgemälde. Sie verzichtet aus bestimmten, mit dem Kulturtyp verbundenen Gründen auf die Modellierung des Zeichenraumes analog zur Perspektivität des natürlichen Erfahrungsraums. In jedem Fall aber gilt: […] die Raumstruktur des Textes [wird] zum Modell für die Raumstruktur der Welt, und die interne Syntagmatik der Elemente innerhalb des Textes zur Sprache des räumlichen Modellierens. (Lotman 1970, 266; dt. 1973, 328)

Lotman macht die zusätzliche Annahme, dass bei der Abbildung in der Sprache der räumlichen Modellbildung Nichträumliches verräumlicht und durch Räumlichkeit ausgedrückt werden kann, ja dass Raummodelle zwangsläufig Werte und Vorstellungen bedeuten müssen. Dadurch rückt die Räumlichkeit ins semiotische Zentrum eines jeden (künstlerischen) Textes. Das semiotische Primat des Raumes vor der Sequenz erscheint bei Lotman als Korrelat kognitionspsychologischer universalistischer Hypothesen: Der dem Menschen eigene Charakter der visuellen Wahrnehmung bringe es mit sich, dass viele Denotate allgemeine Vorstellungen seien: So sei z. B. das Unendliche, Grenzenlose den meisten Menschen als unendlicher Raum vorstellbar.17 Lotman macht die Annahme, dass insbesondere werthafte Oppositionen in jedem Weltbild auf neue Weise verräumlicht würden und dass sich dieser Vorgang mit einer sprachanalogen gesetzmäßigen Notwendigkeit vollziehe, die unmittelbar auf menschlichen Wahrnehmungsmodalitäten beruhe. Die Verräumlichung sei als universale Gesetzmäßigkeit in Form des ikonischen Prinzips gegeben. Wie und warum wird aber der Raum zum Zeichen für Nichträumliches? Lotman prägt in expliziter Berufung auf den Raumbegriff der _________ 17

Diese Begründung erscheint wie eine Umkehrung einer Aussage aus der Kritik der reinen Venunft, vgl. Kant (1787, V, I § 2, 4): Der Raum wird als unendliche gegebene Größe vorgestellt.

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Mathematik den Begriff des „semantischen Feldes“ (auch: sekundäres semantisches Feld). Semiotischer Raum und semantisches Feld sind Synonyma. Lotman (1970, 266; dt. 1973, 328 f.) beruft sich auf die folgende mathematische Definition von Aleksandrov (1956, 151): Der Raum ist „die Gesamtheit homogener Objekte (Erscheinungen, Zustände, Funktionen, Figuren, Werte von Variablen u. ä.), zwischen denen Relationen bestehen, die den gewöhnlichen räumlichen Relationen ähnlich sind (Kontinuität, Abstand u. ä.). Betrachtet man dabei eine gegebene Gesamtheit von Objekten als Raum, so abstrahiert man von allen Eigenschaften dieser Objekte außer denjenigen, die durch diese in Betracht gezogenen raumähnlichen Relationen 18 definiert werden.“

Der zitierten Definition nach bezeichnet der Begriff Raum als Strukturform eine Äquivalenzklasse von gleichförmigen Mengen (Mengen von jeweils Erscheinungen, Zuständen, Funktionswerten usw.)19, die diskrete Elemente enthalten, zwischen denen raumanaloge Beziehungen gelten. Im Gegensatz dazu besteht ein Raum bzw. ein Feld nach Lotman aus einem semantischen Bereich, dessen lexikalische (begriffliche) Oppositionen mit Oppositionen räumlicher Anordnung verbunden sind. Und zwar handelt es sich bei letzteren um Oppositionen des auf eine Perspektive hin geordneten Raumes – etwa des absoluten Raumes nach Kant20 – (nah vs. fern von mir, oben vs. unten von mir, rechts vs. links von mir, vorn vs. hinten von mir) unter Hinzuziehung weiterer Attribute, die Räumlichkeit betreffen (offen vs. geschlossen, begrenzt vs. unbegrenzt, zugänglich vs. unzugänglich, innen vs. außen). Die Oppositionen bilden eine Paarrelation mit semantischen, unräumlichen Oppositionen, die dem Bereich der Wertung entstammen (gut vs. schlecht, wichtig vs. unwichtig) oder anderen Begriffspaaren mit wertender Konnotation. Die mathematische Definition unterliegt also bei Lotman einer grundlegenden Abwandlung. Alle Teilsprachen der räumlichen Modellbildung einer gegebenen Kultur müssen sich mit Hjelmslev zu einer Sprache auf höchster Ebene einer gegebenen Kultur fügen. Für diese Sprache führt Lotman den _________ 18 Diese Definition steht im Kontext des mathematischen Strukturalismus. Sie gibt unter unterschiedlichen Raumbegriffen nicht einen bestimmten an, sondern expliziert deren strukturelle Homologie. Zu mathematischen Räumen vgl. Meschkowski 1971, 144–167. Anliegen des mathematischen Strukturalismus (Bezeichnung für die Gruppe um N. Bourbaki seit den 40-er Jahren) ist es, ausgehend von der Entwicklung der Gruppentheorie sogenannte fundamentale Strukturarten zu beschreiben, auf die spezifischere Theorien rückführbar wären. Bourbaki spricht von sogenannten „Mutterstrukturen“, die „im Mittelpunkt unseres gemeinsamen mathematischen Kosmos liegen“; vgl. dazu Steiner 1998. In diesem Reduktionismus und in der Ausrichtung auf die Einheit liegt eine Korrespondenz zum Strukturalismus Lotmans, die einer weiteren Untersuchung wert wäre. 19 Eine Menge ist eine Zusammenfassung von bestimmten wohlunterschiedenen Objekten unserer Anschauung oder unseres Denkens zu einem Ganzen, vgl. Meschkowski 1971, 23. 20 Vgl. dazu Kaulbach 1969, 127–131.

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Begriff Weltbild einer Kultur ein, den er der Humboldtschen Tradition und der an sie anschließenden Wortschatzforschung (Leo Weisgerber) entlehnt und reformuliert. Das zeigt sich daran, dass er sich auf das Prinzip der Verräumlichung von Werten beruft, das in „Redensarten“ und „konventionalisierten Metaphern“ der natürlichen Sprachen sowie in den „Weltbildern des Mythos, der Religion“ usw. wirksam ist: Die allgemeinsten sozialen, religiösen, politischen und moralischen Modelle der Welt, mit Hilfe derer der Mensch in den verschiedenen Etappen seiner Geistesgeschichte das ihn umgebende Leben begreift, sind stets mit räumlichen Charakteristika versehen […]. (1970, 267; dt. 329) […] all dies wird zu Modellen der Welt zusammengefügt, die mit eindeutig räumlichen Merkmalen versehen sind. Die historischen und nationalsprachlichen Modelle des Raumes werden zur organisierenden Grundlage für den Aufbau eines „Bildes der Welt“ [kartina mira] – eines einheitlichen ideologischen Modells, das dem jeweiligen Kulturtyp eignet. Vor dem Hintergrund dieser Konstruktionen werden auch die besonderen, von dem einen oder anderen Text oder einer Gruppe von Texten geschaffenen räumlichen Modelle bedeutungshaltig. (1970, 267; dt. 1973, 329–330)

Aus dem bisher Gesagten geht hervor, dass schon bezüglich der Raumauffassung die Lotmanrezeption einen anderen Weg eingeschlagen hat, als von Lotman vorgegeben wurde. Der semiotische Raum Lotmans ist nicht gleichzusetzen mit dem Raum auf der Ebene der dargestellten Welt. Er ist kein bloßes Element der histoire. Der abgebildete Raum eines literarischen Textes (der dargestellten Welt) ist nur als eine Funktion im Hinblick auf den Gesamttext und im Kontext der Sprache der räumlichen Modellbildung zu verstehen. Es geht Lotman sozusagen um die Phonologie des Raums, nicht um die phonische Materie. Auch für die Grenze gilt, dass konkrete räumliche Grenzen auf der Ebene der dargestellten Welt keine Bedeutung haben, sofern sie nicht in ein sekundäres semantisches Feld einbezogen sind. Umgekehrt brauchen semiotisch-räumliche Grenzziehungen nicht die Form materiell existierender Grenzen anzunehmen.21 Andererseits besteht Lotman auf der expliziten/manifesten Verräumlichung im Text. Eine semantische Opposition an sich, die eine Menge von Elementen in zwei Teilmengen _________ 21

Aus dieser Sicht relativiert sich die Kritik Renners (2004, 358, 361), die Grenzüberschreitungstheorie Lotmans leiste keine Beschreibung nicht-topographischer Grenzüberschreitungen als Ereignisse. Renner illustriert dies am Beispiel eines Werbespots für Bier, in dem ein Mann infolge seiner Bestellung am Tresen versehentlich das Bierglas eines Gastes umwirft, an dessen Tisch ‚hängenbleibt‘ und so den Werbeslogan Man kommt sich näher bei einem Glas Bier der Marke XY anschaulich realisiert. Renner konstatiert: „Es gibt in diesem Spot nichts, was eine topographische Grenze nahelegen könnte“ (2004, 363). Der Mann hat jedoch durchaus eine unsichtbare Grenze (Nähe vs. Ferne, korelliert mit Einsamkeit vs. Geselligkeit) überschritten, indem er den körperlichen Nahbereich des am Tresen Stehenden verletzt hat, was durch den Akt der Gewalt – das Umstoßen des Bierglases – gerade unterstrichen wird.

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abbildet, konstituiert noch keinen Raum. Daher ist eine rein mengentheoretische Auffassung des Raumes als Menge von Merkmalen oder Propositionen, in der der Raum nur noch eine abstrakte Größe ist, nicht in Lotmans Sinn.22 Die Lotmansche Anwendung der mathematischen Raumdefinition ist problematisch. Seine Analogie zum Feldbegriff der Physik täuscht. Sie ist ein grundlegendes Problem, das auch den Ereignisbegriff tangiert. Erstens gilt der mathematische Raumbegriff für Mengen homogener Objekte, zwischen denen an sich bereits räumlich analoge Beziehungen gelten, die von der Perspektive eines Betrachters unabhängig sind. So ist z. B. eine Punktmenge ein topologischer Raum. Sie ist dies hinsichtlich des Begriffs der „Umgebung“ (der keinerlei andere als räumliche Bedeutung hat), und zwar allein aufgrund der Eigenschaften, die eine Punktmenge qua se aufweist. Die Beziehungen zwischen den Elementen einer Menge, die diese im mathematischen Sinn zu einem Raum machen, bestehen nicht hinsichtlich irgendwelcher anderen Entitäten. Die Oppositionen des semantischen Feldes nach Lotman werden aber erst in der Relation zueinander raumähnlich. Die semantischen Beziehungen, die Lotman unter dem Begriff Raum abhandelt, haben die Struktur einer Relation, in der jeweils eine räumliche Opposition mit einer oder mehreren unräumlichen verbunden ist, d. h. zwei verschiedene Mengen auf eine Menge abgebildet werden. Diese Relation beinhaltet als Möglichkeit ihrer Existenz den Bezug zu einer Subjektposition. Ein Satz wie „a ist mir nah“ im Sinn von „a geht mir nah“/„a ist mir wichtig“ etc. verbindet drei Dinge: Orientierungsraum, Wert und Perspektive, sei es die des Lesers oder die einer Figur. Der räumliche Bezugspunkt ist der sinnlich erfahrbare, auf eine Perspektive bezogene Orientierungsraum, d. h. der Raum, dessen Mitte ich bin, dessen Zentrum ich bilde, und der sich in Hinsicht auf meine Wahrnehmung in oben-von-mir, unterhalb-von-mir, rechts-von-mir, links-von-mir usw. ordnet. Der mathematische Raumbegriff abstrahiert aber gerade von der Konkretheit der deiktischen Perspektive des Erzähltextes. Die Prädikate zugänglich, innen, nah, gut, wichtig sind im Erzähltext durch ihren Bezug zu einem konkreten Subjekt, den sie voraussetzen, zeitlich indexiert und perspektivbezogen. Lotmans Raumbegriff täuscht quasi naturwissenschaftliche Objektivierbarkeit vor, wo keine gegeben ist. Auch ist das Weltbild, das dem einzelnen eine _________ 22

Auch Titzmann (2003, 3075–3085), der wie Renner eine mengentheoretische Rekonstruktion des Lotmanschen Ansatzes unternimmt, definiert einen semantischen Raum als „semantisch-ideologisches Teilsystem einer dargestellten Welt“ (3077). Die dargestellte Welt ist „die Gesamtheit der aus dem Text ableitbaren Propositionen und jede nach bestimmten Kriterien zu ihr in einem Abbildungsverhältnis stehende Propositionsmenge“ (3071). Nun ist jede Menge (auch eine Menge von Aussagen) zwar ein topologischer Raum, aber nicht notwendig ein Raum im Sinne Lotmans.

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Isomorphie zu seinem eigenen perspektivischen Raum anbietet, Objektivation im kulturanthropologischen Sinn und als solche Verhandlungstatsache.23 Dass Lotman die Abhängigkeit des semiotischen Raumes von einer Subjektposition andererseits durchaus zur Kenntnis nimmt, geht aus seinen Ausführungen zu Taras Bulba hervor. In diesem Werk sei den Figuren der erzählten Welt eine unterschiedliche Aufteilung der Welt in Räume zuzuordnen. Der Text sei „logisch heterogen“ hinsichtlich seiner Raumstruktur. Ausschließlich für den Helden Taras Bulba, und nur für ihn, gelte eine den übrigen Figuren diametral entgegengesetzte Semantisierung des Raums (hinsichtlich der Oppositionen Innen vs. Außen; Freiheit vs. Gefahrlosigkeit). Diese Heterogenität bezeichnet Lotman – wohl in beabsichtigtem Anklang an Bachtins Begriff der „Polyphonie“ für Vielstimmigkeit – als „Polyphonie der Räume“. Die mangelnde Berücksichtigung der Perspektivität ist die Achillesferse der Lotmanschen Deduktion in der Struktura insgesamt. So muss Lotman in der Beispielanalyse von Taras Bulba eine Hierarchisierung der Figuren hinsichtlich ihres Verhältnisses zum Raum vornehmen, um den Widerspruch der gegensätzlichen Semantisierung des Raumes auf höherer Ebene analytisch auflösen zu können. 3.3. Das Ereignis als Grenzüberschreitung Dem anschließenden Abschnitt Das Problem des Sujets unterliegt folgende implizite Argumentation: Zunächst wird die erste, nichtgraduierbare Bestimmung des Ereignisses als Grenzüberschreitung aus der Konstruktion des semiotischen Minimalraums abgeleitet und so ein ‚Minimalsujet‘ definiert, das als seinen Kern mindestens ein Ereignis enthält. Auf dem Begriff des Minimalsujets bauen dann die graduierbaren Bestimmungen des Ereignisses (Verbot, Erwartungsbruch) und Lotmans weitere Hypothesen über die Beziehung des Ereignisses zum Weltbild auf. Die einleitende These des Abschnitts lautet, das räumliche Kontinuum des Textes sei ein „Topos“, ein Ensemble irgendwie ausgefüllter Räumlichkeit. Dieses Ensemble sei „strukturiert“, Lotmans Auffassung nach folglich eine „Sprache“, um die herum sich die „anderen, nichträumlichen Beziehungen des Textes“ gruppieren. Dieser Topos muss den semiotischen Minimalraum enthalten, zu dem Lotman hier eine „Figur“ ergänzt. Die Figur befindet sich zu jedem Zeitpunkt immer in _________ 23

Lotman teilt mit der linguistischen Weltbildforschung seiner Zeit die Hypostasierung von gesellschaftlichen Verhandlungstatsachen zu sprachgesetzlichen Tatsachen, die analog zu Naturgesetzen gedacht werden.

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zwei der drei Räume (in einem Teilraum und einem Gesamtraum) des semiotischen Minimalraums. Wollte man die Position der Figur im semiotischen Minimalraum charakterisieren und hätte als Satzmodell nur eine einfache zeitgebundene, auf die Figur bezogene Prädikation zur Verfügung24, so stünden zwei Prädikate zur Auswahl: ist in Teilraum 1 oder ist in Teilraum 2. Eine Veränderungstatsache kann in diesem System nur in einer Veränderung (Kontradiktion) einer der Prädikate dieser Sprache bestehen. Eine Veränderung muss daher notwendig als Bewegung der Figuren in den Räumen anschaulich werden. Theoretisch kann nun entweder die Figur sich bewegen oder die Grenze sich verschieben. Aber nur diejenige Bewegung, als deren Resultat sich die Figur später in dem anderen Raum befindet, bringt eine Veränderung als in der Zeit ausgefaltete Kontradiktion mit sich. Durch Bewegungen der Figur innerhalb des Raumes, der ihr im Topos zugewiesen ist, entsteht keine Kontradiktion, da keines der räumlichen Prädikate sich ändert. Daraus folgt notwendig die erste definitorische Aussage über das Ereignis in der Struktura: „Ein Ereignis in einem Text ist die Versetzung einer Figur über die Grenze des semantischen Feldes“ (1970, 282; dt. 1973, 350, Hervorhebung im Original). Wenn man die sprachliche Darstellung der Grenzüberschreitung in eine Sequenz von Sätzen fasst, dann gilt folgende Implikation: WENN [(A ist in Raum1 zu t1) UND (A ist in Raum2 zu t2)] UND (t1 < t2) DANN gilt (Es gibt einen Zeitpunkt t1+ mit (A überquert G [Raum1/Raum 2] zu t1+) UND (t1 < 1+ < t2)25. Dieser Zusammenhang bietet sich in zeitlicher Reihenfolge als ein dreigliedriges Aussageschema dar, das Anfangszustandsbild, Veränderung, und Endzustandsbild enthält und die Schlüssigkeit eines Quasisyllogismus annimmt. Die implizite Argumentation Lotmans ist also formal isomorph zu denjenigen Ereignisbegriffen, die mit einer Triade narrativer Sätze arbeiten (s. o.): A ist in R1 (t1) A überschreitet die Grenze R1/R2 (t1+) A ist in R2 (t2)

Im Unterschied zu allen mikrokontextuellen Ereignisdefinitionen, die die Zeitlichkeit des Aussagezusammenhangs betreffen, bezieht Lotmans _________ 24

25

Es kann sich nicht um Sätze im Sinne der klassischen Prädikatenlogik oder Aussagelogik handeln, da die Prädikate narrativer Sätze zeitlich indiziert sein müssen. Die Logik zeitlich indizierter Prädikationen ist noch im Anfangsstadium ihrer Entwicklung, vgl. dazu Galton 2003. Ein weiteres in der Narratologie bisher unbewältigtes Problem besteht in der zeitlichen Gebundenheit modaler Prädikate in narrativen Sätzen. Wenn der semiotische Minimalraum als Fläche veranschaulicht wird, die verstreichende Zeit dagegen als ins Unendliche reichende, gerichtete Gerade auf dieser Fläche, dann muss es aufgrund der Stetigkeit in diesem Punktraum immer ein t1+ geben, gleichgültig, wie klein das Intervall (t1 – t2) wird.

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Definition jedoch Raum und Zeit gleichermaßen ein. Die Herleitung des Ereignisbegriffs klingt deutlich an die in Kants Transzendentaler Ästhetik getroffene Überleitung vom Raum als reiner Anschauungsform zum Erfahrungsraum an: „Zeit erschließt erst den Raum als Raum der Erfahrung. Jede Veränderung (als in die Zeit ausgefaltete Antinomie) und Bewegung (in dem Sinne, dass zwei verschiedene Körper an einem Ort, oder zwei Körper an einem Ort sind) ist erst durch Zeit und Raum zusammen möglich“.26 Auch Lotman geht von der Räumlichkeit zur zeitlichen Sequenzialität über und definiert Veränderung als Bewegung im Raum. Aus dem semiotischen Raum als gedankliches Konstrukt wird der Erfahrungsraum. Daraus folgt, dass der Ereignisbegriff Lotmans einen neuzeitlichen bias hat: Er setzt den empirischen Raumbegriff der Neuzeit voraus, demzufolge eine Figur nicht zugleich an zwei Orten sein kann. In einem grundsätzlich anderen Raum-/Zeitsystem, wie dem von Sergej Nekljudov anhand russischer Folklore beschriebenen archaisch-magischen Dualismus, wäre aus der Anwesenheit einer Figur in zwei Räumen kein Widerspruch entstanden.27 Der Ereignisbegriff Lotmans an sich ist folglich nicht zeitlos, er beruht auf dem Zeit/Raumbegriff einer bestimmten Epoche.28 Nun bezieht sich Lotman im Gegensatz zu Kant aber auf den Raum im erzählten Text, d. h. nicht den empirischen Raum, wie er an sich gedacht werden kann, sondern den semiotischen Raum, der im Text bedeutet. Im Unterschied zu allen atomaren Ereignisdefinitionen sprachanalytischer Provenienz setzt seine Definition den semiotischen Raum und den Begriff der Grenze – und damit relative Termini – voraus. Daraus ergibt sich unmittelbar die semiotische Relativität des Ereignisses: Daraus folgt, dass keine einzige Beschreibung irgendeiner Tatsache oder Handlung in ihrer Beziehung zu einem realen Denotat oder dem semantischen Sys-

_________ 26 27

28

Vgl. auch Kant (1787, 96): „Veränderung“ ist „Verbindung kontradiktorisch entgegengesetzter Prädikate“. Vgl. zur davon abweichenden Modellierung von Raum im magischen Weltmodell z. B. Nekljudov 1979: Im magisch-archaischen Raummodell ist die gleichzeitige Anwesenheit eines Körpers an zwei Orten möglich. Raum ist heterogen. Es existieren zwei Räumlichkeiten. Die Dimension der irdischen Zeit, der Phänomene, kann jederzeit umschlagen in die Ewigkeit, die sich in der Hypostase eines jenseitigen Wesens (z. B. des Teufels) manifestiert, das dann in zwei Zeitdimensionen/Räumen gleichzeitig ist. Die Logik des semiotischen Minimalraums setzt dagegen Disjunktivität voraus. Hier besteht eine Korrespondenz zu Foucault, der, von anderen Voraussetzungen ausgehend, auf die Abhängigkeit des Ereignisbegriffs der Geschichtswissenschaft von ihrer Wissenschaftssprache hingewiesen hat (1996, 16): „Das Wichtigste aber ist, dass die Geschichtsschreibung kein Ereignis betrachtet, ohne die Serie zu definieren, der es angehört, ohne die Analyse zu spezifizieren, durch welche die Serie konstituiert ist, ohne die Regelhaftigkeit der Phänomene und die Wahrscheinlichkeitswerte ihres Auftretens zu erkennen zu suchen, ohne sich über die Variationen, die Wendungen und den Verlauf der Kurve zu fragen, ohne die Bedingungen bestimmen zu wollen, von denen sie abhängen.“

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tem der natürlichen Sprache als Ereignis oder Nichtereignis bestimmt werden kann, solange nicht die Frage danach beantwortet ist, welche Stelle in dem durch den Kulturtyp definierten sekundären semantischen Strukturfeld sie einnimmt. (1970, 282; dt. 1973, 350)

Da in der Rezeption die semiotische Relativität des Ereignisses fälschlicherweise als Interpretationsabhängigkeit oder als rein empirisch zu beobachtende Kulturrelativität aufgefasst worden ist, lohnt sich eine genauere Betrachtung dieses Begriffs. Es sind im Grunde mehrere Arten von semiotischer Relativität, die hier zur Sprache kommen und zwischen denen nicht immer genau getrennt wird. Die erste, auf die die obige Formulierung zielt, ist die strukturelle semiotische Relativität. Davon zu unterscheiden ist die semiotische Relativität des Ereignisses, die mit der Offenheit der semiotischen Sekundärsprache zusammenhängt, ihrem Wandel, dem sie in der Zeit ausgesetzt ist. Die strukturelle semiotische Relativität besagt zunächst nur, dass die natürlichsprachliche Formulierung einer Tatsache oder die Beschreibung einer Handlung im Text noch kein Ereignis sind. Sie sind ein Ereignis oder nicht relativ zu ihrem Ort in der komplexen Hierarchie sekundärer semiotischer Systeme. Hier sei zum Verständnis Lotmans eine Parallele zu Propp gezogen: So wie in der Morphologie des Märchens eine im Text beschriebene Handlung an sich mehrere Funktionen repräsentieren kann und deshalb mehrdeutig ist (ein Mord kann Schädigung des Gegenspielers oder Sieg des Helden oder aber Attribut einer bösen Person sein), so sind Tatsachen an sich keine Ereignisse. In Entsprechung zu Propp setzt Lotman als Funktion die Tatsache-als-Grenzüberschreitung an. Da aber Lotman eine wesentlich komplexere Hierarchie der Sekundärsprachlichkeit zu seinem Gegenstand macht, muss seine Formulierung wesentlich komplexer ausfallen. Ist das Modell Propps zweidimensional, so denkt Lotman dreidimensional: Es gibt drei Relationen, in die das Ereignis eingebunden ist: Es ist relativ zum Ort in der Struktur des jeweiligen Textes, zum Ort in der jeweils übergeordneten Sprache, die den Kontext des konkreten Textes darstellt, und zum Ort innerhalb der Sprache der Kultur (bei Lotman hier das „sekundäre semantische Feld“, das der Kulturtyp festlegt). Innerhalb ein und desselben Kulturschemas kann die gleiche Episode, wird sie auf verschiedenen Kulturebenen lokalisiert, Ereignis werden oder auch nicht. (1970, 282; dt. 1973, 350) [Ein Ereignis] kann als Hierarchie von Ereignissen speziellerer Ebenen realisiert werden, als Kette von Ereignissen, als Sujet. In diesem Sinn kann das, was auf der Ebene des Kulturtextes ein Ereignis darstellt, in dem einen oder anderen realen Text zum Sujet entfaltet sein. (1970, 282; dt. 1973, 350 f.; Hervorhebung im Original)

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Implizit ist hierin eine Vorstellung von Ausfaltbarkeit und reziprok von Einfaltbarkeit enthalten. Die strukturelle semiotische Relativität ergibt sich aus den Eigenschaften sekundär modellbildender Systeme an sich, wie auch aus der im vorangehenden Abschnitt von Lotman gezeigten Abhängigkeit des „Topos“ eines Textes von der Sprache der räumlichen Modellbildung der jeweiligen Kultur. Die semiotische Relativität des erzählten Ereignis als Zeichen geht weit über die strukturelle hinaus: Lotman führt im Weiteren aus, worin sie besteht, wobei er sich von Positionen !klovskijs, Toma"evskijs und Propps abgrenzt, die für die Narratologie entscheidende Beiträge geleistet haben. Seine Argumentation lässt sich in den drei folgenden Thesen zusammenfassen: (1) Das erzählte Ereignis ist nicht definitorisch rückführbar auf eine außersprachliche Realität. Lotman wendet sich gegen eine naive Abbildtheorie, die das erzählte Ereignis, entsprechend dem Begriff des Motivs, auf die „elementare unauflösbare Einheit des Erzählens, die mit einem typisierten, in sich abgeschlossenen Ereignis der außerhalb gelegenen Schicht (der des Lebens) korreliert ist“, reduziert (1970, 280 dt. 1973, 348). In diesem Sinn zitiert Lotman die einschlägig gewordene Formulierung der Fabel-Sujet Dichotomie aus Toma"evskijs Theorie der Literatur: Fabel heißt die Gesamtheit der miteinander verknüpften Ereignisse, von denen im Werk berichtet wird. […] Der Fabel steht das Sujet gegenüber: dieselben Ereignisse, aber in ihrer künstlerischen Darbietung, in jener Ordnung, in der sie im Werk mitgeteilt werden, in jener Verknüpfung, in der im Werk Mitteilungen über sie gemacht werden. (Toma"evskij 1925, 137; Hervorhebung im Original)

Lotman zufolge gibt es kein Ereignis an sich – nur ein Ereignis-imText29. (2) Das erzählte Ereignis ist nicht definierbar über die formalen Eigenschaften von Sätzen, mit denen die Tatsache mitgeteilt wird. Wenn ein und dieselbe sprachliche Formulierung einer Tatsache relativ zu ihrem Kontext Ereignis oder nicht Ereignis werden kann, dann können die formalen Eigenschaften der narrativen Sätze allein keine notwendigen und hinreichenden Indizien für Ereignishaftigkeit liefern. In dieser Hinsicht sind die mikrokontextuellen Ereignisdefinitionen (s. o) nicht hinreichend. Jedes in eine Triade von Sätzen gefasstes Ereignis, jede Minimalgeschichte, z. B. The king died – um die minimale, von Genette vorgeschlagene Lösung zu wählen –, lässt sich in unendliche Men_________ 29

Man muss hier allerdings zur Rechtfertigung Toma"evskijs anmerken, dass er den Begriff Ereignis nicht streng terminologisch gebraucht hat, vgl. dazu Schmid, „Fabel“ und „Sujet“, in diesem Band.

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Menge von Sätzen ausfalten, die zu diesem Ereignis gehören, z. B.: Der König wurde krank, er wurde blass, er verlor an Gewicht... All diese untergeordneten Ereignisse sind in dem Satz The King died zusammengefasst, beinhalten aber wohl jedes für sich genommen eine Negation eines vorausgegangenen Zustandes. Jedes Ereignis erscheint aus dieser Sicht als komplexer frame, in dem wieder untergeordnete Ereignisse enthalten sind. Die Rahmung solcher Ereignisse, ihre Unterordnung unter einen Satz, die Wahl des frame kann in der Präsenz der logischen Negation allein keine Begründung finden. (3) Das erzählte Ereignis ist nicht definitorisch rückführbar auf kognitive Sachverhalte, auf vorsprachliche, universale mentale Repräsentationen, die die Ereignisstrukturen bereits in sich enthalten und in einer neutralen Sprache beschrieben werden können. Hier richtet sich Lotmans Kritik gegen den psychologischen Reduktionismus der Historischen Poetik Aleksandr Veselovskijs (1940). Sie lässt sich aus heutiger Sicht aber auch auf die kognitivistische Narratologie beziehen. Veselovskij hatte in dem Fragment Die Poetik des Sujets30 das Motiv definiert als „eine zweigliedrige Formel, die auf ein ursprüngliches menschliches Bedürfnis [...] antwortet“.31 Veselovskijs Annahme einer Korrespondenz zwischen verbalem Ausdruck (Motiv-Formel) und einer elementaren Bedeutungsstruktur, die sich entweder in einem bildhaften Ausdruck oder dem Handlungselement eines Textes manifestiert, ist vor dem Hintergrund völkerpsychologischer Konzepte zu verstehen, wie sie zu dieser Zeit von Moritz Lazarus und Hermann Steinthal entwickelt wurden. Veselovskijs Motivdefinition steht darüber hinaus im Kontext der damaligen historisch-vergleichenden Erzählforschung, in der man versuchte, durch Schematisierungen von Märchensujets ein Instrumentarium zur Analyse des Sujetbaus zu erarbeiten. Veselovskij unterschied zwischen dem psychologischen Parallelismus als Verfahren der Lyrik und der Prägung von Motivformeln als Verfahren des epischen Sujetaufbaus und band diese beiden Prinzipien (die bei Jakobson dann Metapher und Metonymie entsprechen) an elementare Denkverfahren der Menschheit. Weil die Prägung von Motiven aus der psychisch gesetzmäßigen Verarbeitung der Wirklichkeit zu erklären sei, hielt Veselovskij einen Thesaurus universaler Motivformeln der Menschheit für möglich. Lotmans Kritik betrifft hier weniger Vese_________ 30 31

Vgl. Auszüge des Textes, übersetzt und kommentiert von Matthias Aumüller, in Schmid (Hg.) 2009, 1–13. Lotman setzt vereinfachend den Motivbegriff Toma!evskijs mit dem Veselovskijs gleich. Bei Toma!evskij (1928) kann z. B. ein Wort oder ein Satz ein Motiv bilden. Das Motiv ist bei ihm die kleinste, unteilbare Einheit. Veselovskijs Motivbegriff ist ein in der Paraphrase generalisiertes Handlungselement und durchaus weiter aufspaltbar.

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lovskij im Besonderen, dessen Konzeption zu dieser Zeit kaum mehr diskussionsfähig war und von dem er hinsichtlich der semiotischen Relativität des Ereignisses wesentlich mehr profitieren konnte, als es den Anschein hat32, sondern das Prinzip eines kognitionspsychologischen Reduktionismus überhaupt. Lotman gibt eine Fülle von Beispielen, um die semiotische Relativität des Ereignisses zu illustrieren, die sowohl literarische Texte als auch die Ereignisfähigkeit von Tatsachen in Teilbereichen des Alltags betreffen. „Ein und dieselbe typische Lebensrealität [kann] in verschiedenen Texten den Charakter eines Ereignisses annehmen oder auch nicht annehmen“ (1970, 281; dt. 1973, 348). Ein Streit zwischen Eheleuten über ein im Museum ausgestelltes Bild ist kein Straftatbestand im Sinne des Gesetzbuches und damit für die Polizei kein Ereignis. Der Tod spielt in einer mittelalterlichen Chronik keine Rolle, entscheidend ist, ob es sich um einen Heldentod handelt; in Bezug auf Nebenfiguren derselben Chronik ist es wiederum unwichtig, dass sie starben, es ist kein Ereignis, sondern nur der Umstand eines Ereignisses.33 Ein anderes Beispiel: Ein Arzt und ein Pater sprechen über einen verstorbenen Patienten. Der Arzt spricht von der Leiche und möchte gern die Netzhaut entnehmen, der Pater vom Toten und dessen Willen, der über den Tod hinaus zu respektieren sei, von der Unversehrtheit des Körpers, die zu achten sei etc. Für den Pater ist der geplante Eingriff eine Verletzung der Rechte des Toten, für die der Chirurg in seiner Funktion als Chirurg keinen Begriff hat. Die semiotische Relativität des Ereignisses zielt nicht auf ‚noteworthiness‘ im Sinne des individuellen Geschmacks. Informationstheoretisch gesprochen, existieren unterschiedliche mit den pragmatischen Bereichen des Lebens verbundene Ereignisprotokolle, wie sie in der Informatik in der Datenverarbeitung eingesetzt werden. Was in diesen Protokollen besprochen ist, geschieht oder geschieht nicht, der Rest wird unter „Störung“ verhandelt und existiert vom Standpunkt des Er_________ 32

33

Vgl. z. B. Veselovskijs Überlegungen zum historischen Substrat der Epik, Veselovskij [1940] 2004, 470–475. Veselovskij kommt anhand des epischen Zyklus über die Schlacht auf dem Amselfeld zu dem Schluß, es sei sinnlos, nach dessen realem historischen Substrat zu fragen, weil die Ereignisse der Epik und die Figuren keine faktische Entsprechung zur Realität besäßen. Er spricht stattdessen von der „Aufschichtung von Fakten“ und ihrer Synthetisierung zu typischen Figuren und Situationen der Epik nach zeittypischen Vorstellungen. Seine Analyse antizipiert die postmoderne Auffassung von der notwendigen Präsenz von Fiktionalität in faktualen Texten. Dieses Beispiel verdeutlicht die Nähe Lotmans zur Diskursanalyse Foucaults (Diskurse als Bereiche, in denen das Göttliche, das Wahre, das Recht usw. verhandelt werden). Auch Foucaults Konzept von „Aussagen“, die „im Wahren einer Wissenschaft“ sind, berührt den von Lotman hier adressierten Aspekt der Abhängigkeit der Ereigniskonstitution von der jeweiligen Sphäre der Sekundärsprachlichkeit.

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eignisprotokolls nicht. In ähnlicher Weise verhält es sich mit dem Weltbild, das eine Orientierung in der Totalität der Welt vermittelt. In diesem Sinn ist ein wesentliches Kennzeichen für einen Text das, was von seinem Standpunkt aus nicht existiert. Die von der Abbildung ausgenommene Welt ist eines der fundamentalen typologischen Kennzeichen eines Textes als Modell des Universums. So existiert aus der Sicht der Literatur bestimmter Perioden die niedere Wirklichkeit (für die Romantik) oder die erhöhte, poetische Wirklichkeit nicht (für den Futurismus). (1970, 286; dt. 1973, 355; Hervorhebung im Original)

Die von dem Text ausgeschlossene Welt ist diejenige, die im Veränderungsprozess der Sprache aus dem Undiskreten, Amorphen in die Welt der diskreten Zeichen übertragen (d. h. als Tatsache oder Begriff in der entsprechenden Sprache überhaupt formulierbar) wird, und diejenige, die aus ihr wieder ausscheidet. Der Bewegung der Übersetzung entspricht umgekehrt die des kulturellen Vergessens. Lotman spricht an anderer Stelle äsopisch von dem „von der Gesellschaft vernichteten Text“ und hat dabei die totalitäre Gesellschaft vor Augen, in der er schrieb. Doch ist die „Vernichtung von Ereigniswelten“ eine Begleiterscheinung des Wandels der Sprache(n) einer Kultur an sich. In analoger Weise findet auf jeder Ebene der semiotischen Sekundärsprachlichkeit eine ‚Übersetzung‘ in den Bereich der Ereignishaftigkeit statt. Über die strukturelle Relativität und die semiotische Relativität hinaus stellt sich die Frage nach der perspektivischen semiotischen Relativität von Ereignishaftigkeit: Was geschieht, wenn Differenzen hinsichtlich der Bewertung von Ereignishaftigkeit nicht mehr durch die Wahl einer Hauptperson aufzulösen sind, wie in der oben schon erwähnten Analyse Lotmans zu Gogol’s Taras Bulba. Normen von Ereignishaftigkeit im Sinne Lotmans sind als Teil der Sprache der Kultur offensichtlich nur dann wissenschaftlich zu beschreiben, wenn sie ein konzentrisches, auf einen immanenten point of view bezogenes System darstellen und wenn alle Heterodoxien und konträren Bewertungen von Situationen und Handlungen sich auf höchster Ebene auflösen lassen. Die Tragweite der Reflexion Lotmans über die semiotische Relativität des Ereignisses für die Narratologie ist nicht zu unterschätzen. In der Struktura ist das Konzept der semiotischen Relativität jedoch begrenzt, zum einen durch die monolithische Strukturauffassung, die die perspektivische Relativität des Ereignisses ausblenden muss, zum anderen durch den von Lotman in Korrespondenz zu Hjelmslev postulierten Hierarchiecharakter von Textualität, in der Ereignishaftigkeit auf das „Weltbild/Text der Kultur“ als Referenzrahmen bezogen bleibt. Da Lotman annimmt, dass in konkreten Texten nichts zum Ereignis wird, was im „Text der Kultur“ nicht Ereignis werden kann, schließt dieser Begriff die anderen quasi in sich ein und mit sich ab.

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3.4. Das Ereignis als Revolution An die erste Definition von Ereignis als Grenzüberschreitung schließen sich in der Struktura weitere Bestimmungen graduierbarer Aspekte an, die auch den werthaften Aspekt des Ereignisbegriffs sichtbar werden lassen. Zunächst definiert Lotman aufgrund des nichtgraduierbaren Ereignisbegriffs das Sujet: Liegt Ereignishaftigkeit im nicht graduierbaren Sinne vor, dann ist ein Text sujethaft. Sujetlose Texte sind solche, die „einen deutlich klassifikatorischen Charakter“ haben und „eine bestimmte Welt und ihren Aufbau [bestätigen]“ (1970, 286; dt. 1973, 355). Da das Weltmodell eine Ordnung verkörpert, ergibt sich, dass der sujetlose Text diese Ordnung bestätigt. „Der sujethaltige Text wird auf der Grundlage des sujetlosen als dessen Negation aufgebaut“ (1970, 287; dt. 1973, 356). Das Sujet steht in organisatorischem Zusammenhang mit dem Weltbild, das die Maßstäbe dafür abgibt, was ein Ereignis und was eine Variante davon ist, die uns nichts Neues mitteilt. (1970, 283; dt. 1973, 351)

Hinter der Unterscheidung von etwas Neuem und einer Variante des Alten steht bei Lotman der kybernetische Informationsbegriff: Ob eine Nachricht für einen Empfänger Information enthält, hängt von der Kommunikationssituation insgesamt ab und insbesondere davon, ob der Empfänger die Nachricht dekodieren kann und sie darüber hinaus für ihn informationshaltig ist. Information ist immer etwas Unerwartetes für den Empfänger der Nachricht, setzt eine Wahlmöglichkeit voraus. Ohne Wahlmöglichkeit keine Information, denn das Erwartete enthält keine Information, weder im alltäglichen, noch im wissenschaftlichen Sinn.34 Da nun das Weltbild nach Lotman nicht nur ein deskriptives Abbild der Welt ist, sondern immer auch ein Weltmodell mit normativen und modalen Anteilen, ergeben sich daraus die in der Struktura folgenden Bestimmungen des Ereignisses als „Übertretung eines Verbots“ oder „Täuschung einer Erwartung“. Denn das Neue kann auch in der Verneinung modaler Aussagen bestehen, und nur diese Verneinung verbindet etwas Neues, das Informationswert hat, mit der Idee der Überschreitung eines Verbots. Das Neue wird gedacht als etwas, „was geschehen ist, obwohl möglich war, dass es nicht geschah“ (1970, 285; dt. 1973, 354), und zugleich als „Übertretung eines Verbots, ein Faktum, das stattfand, obwohl es nicht stattfinden durfte“ (1970, 286; dt. 1973, 355). In Analogie zur Quantifizierbarkeit des Begriffs der Information in der Kybernetik _________ 34

Vgl. dazu Flechtner 1966, 74. Der Begriff der Information in der Kybernetik ist sehr komplex. Es hängt u. a. vom Kontext einer Nachricht ab, ob sie informativ ist oder nicht. Die Information muss bei dem Empfänger der Nachricht auf eine Wissenslücke oder einen Informationsbedarf treffen.

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spricht Lotman von einer „Skala der Sujethaftigkeit“. Sujethaftigkeit erscheint skalierbar hinsichtlich der Diskrepanz zu dem Erwarteten, Verbotenen, Gewohnten, Gesetzmäßigen.35 Das sujetlose System ist demnach primär und kann durch einen selbständigen Text konkretisiert sein. Das sujethaltige aber ist sekundär und stellt immer eine auf die sujetlose Grundstruktur aufgelegte Schicht dar. Das Verhältnis zwischen beiden Schichten enthält dabei stets einen Konflikt: Gerade dasjenige, dessen Unmöglichkeit von der sujetlosen Struktur bestätigt wird, macht den Inhalt des Sujets aus. Das Sujet ist im Verhältnis zum „Weltbild“ ein „revolutionäres Element“. (Lotman 1970, 288; dt. 1973, 357)

An der hier zitierten Formulierung sind zwei Punkte bemerkenswert: Erstens können sujetlose Texte existieren, ausschließlich sujethafte jedoch nicht. Der Gegensatz, der dem Sujet zugrunde liegt, manifestiert sich als dialektische Spannung innerhalb des Textes. Die Aspekte der Sujethaftigkeit und Sujetlosigkeit verhalten sich darüber hinaus hinsichtlich ihrer Manifestation in konkreten Texten analog zu den bereits im Abschnitt über die Rahmung eingeführten Aspekten des Mythos und der Fabel36. Der zweite Punkt betrifft die vielzitierte Hypothese Lotmans, derzufolge ein sujethafter Text immer ein Hauptereignis haben muss. Sujetbewegung, Ereignis, ist das Überqueren jener Verbotsgrenze, die von der sujetlosen Struktur bestätigt wird. Die Versetzung des Helden innerhalb des ihm zugewiesenen Raumes ist kein Ereignis. Daraus erhellt die Abhängigkeit des Begriffs Ereignis von der im Text geltenden Struktur des Raumes, von seinem klassifikatorischen Teil. Das Sujet kann deshalb immer zu einer Grundepisode kontrahiert werden – dem Überqueren der grundlegenden topologischen Grenze in seiner räumlichen Struktur. (1970, 288; dt. 1973, 357; Hervorhebungen im Original)

Es hat den Anschein, als würde Lotman dem Leser hier eine quasiempirische Regel an die Hand geben, auf welche Weise man zum (Haupt-)Ereignis eines Textes gelangen könne, doch folgt die Annahme eines Hauptereignisses einzig und allein aus der von Lotman in der Einleitung der Struktura postulierten inneren Hierarchie der Sekundärsprachen, die er analog zu Hjelmslevs Begriffen der Konnotationssprachen bzw. Metasprachen denkt. Wenn ein Text mehrere Ereignisse hat, dann müssen sie in einer Hierarchie zueinander gedacht werden. Ent_________ 35

36

In Bezug auf diese Annahme besteht eine Korrespondenz zu Schmid (2003a, 2003b). Lotman spricht von der „Skala der Sujethaftigkeit“, auf der ein Ereignis um so höher rangiert, desto geringer die Wahrscheinlichkeit ist, dass es eintritt. Lotman terminologisiert jedoch Ereignishaftigkeit selbst nicht, nur die Opposition sujethaft vs. nicht sujethaft bzw. sujetlos (vgl. dagegen Schmid 2003a: sobytijnost’; 2003b: eventfulness). Vgl. dazu oben. Das Sujet ist gegenüber der Erzählung offensichtlich durch die Anwesenheit einer menschlichen Figur qualifiziert. Vgl. zum umfassenderen Begriff des erzählenden Textes Lotman (1973c, 382–386; engl. 1977, 193–197).

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sprechend gilt: Wenn es auf derselben Ebene gleichwertige Ereignisse gibt, müssen sie auf der höheren Ebene zu einem Element einfaltbar sein. Lotman generalisiert weiter: „Für ein bestimmtes Weltbild und eine bestimmte Strukturebene existiert ein einziges Sujet“ (1970, 289; dt. 1973, 358). Auch diese These ist ein Korrelat der Eigenschaften semiotischer Sekundärsprachlichkeit. Das epochentypische Ereignis ist eben nicht mehr als das Korrelat der Singularität der „Sprache der Ereignishaftigkeit“ der gewählten Einheit (Epoche, Werk, Autor), die dann wiederum als Variante innerhalb der nächsten höheren textuellen Ebene funktioniert. Es bleibt die Frage, woher die emphatische Formulierung des Ereignisses als Revolution eigentlich ihr Pathos bezieht. Vergegenwärtigt man sich, dass der Begriff sujethaft mit dem Element der Fabel korrespondiert, dann wird evident, dass sich im Bild des Ereignisses als Revolution eine Mythenkritik artikuliert. Die graduierbaren Formulierungen des Ereignisses bestimmen den Begriff des Mythos ex negativo. Mythos wäre demnach jede Beschreibung oder Erzählung von sich wiederholenden Vorgängen, also Erzählungen, die Regeln, Gesetze enthalten: die 10 Gebote, der Satz „Panta rhei“, Texte oder materielle Artefakte der Kunst oder des alltäglichen Lebens, die bezeugen, das die Welt unveränderlich ist und sein soll. Auch Bereiche der Wissenschaft erscheinen aus dieser Perspektive potentiell mythisch. Es ist anzumerken, dass in der Argumentationsweise Lotmans hier ein Übergang von einer textphänomenologischen zu einer externfunktionalistischen Definition von Mythos stattfindet. Mythos erscheint als eine Funktionsweise von Texten in einer konkreten Gesellschaft. Mythos ist diejenige Textualität, die in einer bestimmten Kommunikationssituation den Adressaten der Nachricht nur Varianten bietet. Als Mythos kann jeder Text funktionieren, der unter einem gewissen Aspekt betrachtet nur Varianten bringt. Als Beispiel führt Lotman den Bereich der zensierten öffentlichen Kommunikation eines autoritären Regimes an. Unter dem Zaren Nikolaj I. sind scheinbare Kleinigkeiten in den Privatbriefen Pu!kins ein Ereignis, der Eingriff in die Rechte seiner Persönlichkeit ist es dagegen nicht. Hinter dem historischen Beispiel scheint die öffentliche doxa der damaligen Sowjetunion auf – als offiziell verordnete Form von Ereignislosigkeit (oder verordnete Pseudoereignishaftigkeit): „Weil nur vorhergesehene Ereignisse stattfinden, verschwindet die Sujethaftigkeit aus den Zeitungsnachrichten“ (1970, 283; dt. 1973, 352). Die Doxa der Sowjetunion wird Lotman zum Exempel für eine Kultur, in deren öffentlichen Medien die „aus der Abbildung der doxa ausgeschlossene Welt“ gleichsam nicht existiert. Der kritische Mythos-

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begriff Lotmans lässt sich durchaus vergleichen mit dem Roland Barthes’ (1957) in Mythologien (Mythos als parasitäre, ‚falsche‘ Sprache) oder Blumenbergs (Mythos als ‚Höhle‘, als irreführende Teilerkenntnis der Wirklichkeit, das Andere der Aufklärung). Lotman steht in einer Tradition der Mythenkritik des 20. Jahrhunderts, die sich über die „Dialektik der Aufklärung“ bis in die Gegenwart fortsetzt.

4. Die Genese des Sujets aus dem Mythos Im Artikel Die Entstehung des Sju!ets typologisch gesehen versucht Lotman (1973a) nicht nur, eine entwicklungsgeschichtliche Definition des Sujets (und damit des Erzählens) zu geben, sondern zugleich den historischen Aspekt seiner Mythenkritik zu entwickeln. Die Erfindung der „Sprache des Sujets“ stellt sich aus seiner Sicht als eine Art kognitive Revolution der Menschheitsgeschichte dar. Nur in Folge der Entstehung von erzählerischen Formen der Kunst lernte der Mensch den sujethaften Aspekt der Realität zu erkennen, d. h. den nicht diskreten Strom der Ereignisse in gewisse diskrete Einheiten zu gliedern, sie mit irgendwelchen Bedeutungen zu vereinen (d. h. semantisch zu erklären) und sie zu geordneten Verkettungen zu organisieren (d. h. syntagmatisch zu erklären). […] Je mehr das Verhalten des Menschen den Charakter der Freiheit gegenüber dem Automatismus genetischer Programme gewinnt, desto wichtiger wird es für ihn, Sujets von Ereignissen und Verhaltensweisen zu bilden. (Lotman 1973a, 40; dt. 1974, 61)

Die Entwicklung von Erzählkompetenz erscheint hier als Akt der Emanzipation von der Natur. Die „Sprache des Sujets“ ist ein kognitives Instrument der Ordnung von Wirklichkeitserkenntnis, das eine Freiheit vermittelt, die der Mythos als Erkenntnisinstrument nicht geben kann. Lotmans grundlegende These, das Erzählen sei irgendwann aus dem mythischen Sprechen entstanden, ist nun alles andere als neu. Die historisch-vergleichende volkskundliche Erzählforschung, die mit ihr assoziierte Mythenforschung, die vergleichende Religionswissenschaft und die Ethnologie haben seit den Brüdern Grimm die Frage nach dem Verhältnis von Mythos und Religion zum Erzählen gestellt und sie auf unterschiedliche Weise beantwortet. Lotman partizipiert im Kontext der Kultursemiotik unmittelbar an diesen Forschungstraditionen. Seine Argumentationsweise korrespondiert insbesondere mit dem von Aleksander Veselovskij in der Historischen Poetik konzipierten Projekt einer Paläontologie erzählender Formen. Ein weiterer wichtiger Bezug besteht zu Propps Historischen Wurzeln des Zaubermärchens (1946). Auch Propp leitet die Entstehung des Zaubermärchens als künstlerischer Form be-

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kanntlich aus dem Mythos ab.37 Die Ursprungsthese selbst soll im Folgenden deshalb gar nicht erörtert werden. Relevant für die Narratologie ist allein die Art und Weise, wie Lotman den formalen Ereignisbegriff der Struktura an die typologisch-genetische Herleitung anbindet und wie er im mythischen Text implizit ein Kriterium für Vor-Narrativität und Nicht-Narrativität formuliert. Zunächst ist zur Zielsetzung Lotmans zu sagen, dass er einen Beitrag zur Erklärung der Herkunft des Sujets für die „Geschichte der menschlichen Zivilisation überhaupt“ leisten möchte. Dementsprechend bezieht er sich auf Beispielmaterial aus einem maximalen Phänomenbereich, der von den frühesten Zeugnissen der Menschheit über Folklore, das Zaubermärchen, religiöses Schrifttum, eschatologische Legenden, Hagiographie, Chroniken bis hin zur neuzeitlichen Prosa reicht. Weder entwirft Lotman nun eine reine Typologie erzählender Texte noch eine reine Ursprungsgeschichte. Seiner Argumentation liegt jedoch erkennbar das Schema der Parallelität der Phylogenese zur Ontogenese zugrunde: Der erzählende Text bewahrt in seiner sujetlosen Schicht den phylogenetischen früheren Zustand des Mythos auf. Der Mythos ist dem Erzählen einerseits logisch, anderseits zeitlich vorgängig. Dadurch entsteht eine zeitliche Unbestimmtheit: Einerseits entschwindet das Reich des Mythos in urgeschichtliche Ferne, andererseits kann sich der Übergang vom Mythos zum Erzählen potentiell jederzeit ereignen. An einer Stelle heißt es, wir könnten „die vorkünstlerische Periode der Existenz von Texten von der künstlerischen Periode allein logisch abtrennen […], in keiner Weise aber historisch“ (Lotman 1973a, 28–29; dt. 1974, 49). Dann wieder spricht Lotman dem Prozess der Übersetzung der Sprache des Mythos in die Sprache linear-semiotischer Systeme gewaltige zeitliche Ausdehnung zu und situiert ihn in der Vorzeit der in Stammesverbänden lebenden Menschheit, jedenfalls noch weit vor der Antike, deren überlieferte mythische Erzählungen nur noch Reflexe des Mythos sind bzw. Paraphrasierungen des mythischen Textes in der [sekundären] Sprache linear-semiotischer Systeme (1973a, 13 f.; dt. 1974, 35). Dieses Schwanken zwischen zeitlicher und logischer Vorgängigkeit ist typisch für stadiale Theorien über Erzähltraditionen und findet sich auch bei Veselovskij und Propp.38 _________ 37

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In der russischen Tradition der Philologie, Mythenforschung und volkskundlichen Erzählforschung hat sich seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine eigenständige Reflexion über den Mythos als sprachliche Form und Denkform herausgebildet, die auch heute noch narrativen Forschungen innerhalb der Philologie und Kulturanthropologie zugrunde liegt und in deren Tradition auch Lotman als Kultursemiotiker steht, vgl. dazu grundlegend Toporkov 1993. Vgl. Propp (1946; dt. 1987, 461): „Eine Abgrenzung aber, wo die heilige Erzählung endet und das Märchen anfängt, ist nicht möglich.“

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Lotman postuliert die universal vorgegebene Dichotomie zweier kultureller Mechanismen der Textgenerierung: des mythenhervorbringenden Mechanismus und seines Antagonisten, der zunächst unbenannt bleibt (1973a, 9–11; dt. 1974, 30–32). Der erstgenannte befindet sich im „Zentrum des kulturellen Massivs“. Sein hauptsächliches Merkmal ist die Unterordnung unter die zyklische Zeit. Die mit ihm assoziierten Texte werden von der kulturellen Gemeinschaft, die sie hervorbringt, als synchron zu den Zyklen der Natur vorgestellt. Ein weiteres Merkmal ist die Nichtdiskretheit des von ihnen modellierten topologischen Raums (ebd.). Der Lotman zufolge „logisch notwendige“ Antagonist des mythenproduzierenden Mechanismus ist in Entsprechung zur linearen Zeit organisiert. Dem mythischen Text ist in Entstehung die zentrale Sphäre der Kultur, ihr Gesetz, das Ritual, die Ordnung, dem antagonistischen Prinzip die periphere Sphäre, der Zufall, die Anomalie zugeordnet. Auf der textuell manifesten Stufe entsprechen dem zweiten Mechanismus die mündlichen Erzählungen über „Ereignisse“, „Neuigkeiten“: Entwickelten sich historisch aus dem ersten Mechanismus gesetzgeberische und normierende Texte sakralen und wissenschaftlichen Charakters, so entwickelten sich aus dem zweiten Mechanismus historische Texte, Chroniken und Annalen. (1973a, 12; dt. 1974, 33)

Lotman bindet das Element der Zerstörung einer Ordnung an den letzteren Texttyp und sieht in der Fixierung einmaliger und zufälliger Ereignisse, Verbrechen, Katastrophen – in all dem, was als „Überschreitung einer gewissen althergebrachten Ordnung aufgefasst wurde“ – den historischen Kern der Sujeterzählung (1973a, 12; dt. 1974, 33). Aus dieser Sicht erscheinen auch die in der Struktura gegebenen Bestimmungen des Ereignisses als Überschreitung eines Verbots bzw. Enttäuschung der Erwartung unmittelbar plausibel. Dem mythengenerierenden Prinzip ist eine topologische und ganzheitliche Organisationsweise eigen, dem antagonistischen eine lineare und kumulative: „Der zentrale mythenbildende Mechanismus der Kultur ist wie ein topologischer Raum organisiert“ (1973a, 26 f; dt. 1974, 47). Der erste Mechanismus ist mit dem piktoralen Text assoziiert, da dieser auch nicht-diskrete Zeichen verwendet, der zweite Mechanismus mit der Zeichenkette und damit dem verbalen Text. Der piktorale Text erscheint bei Lotman phylogenetisch primär, der linear-semiotische sekundär. Dem logischen Primat des Raums vor der Sequenz, das sich in der Ereignisdefinition der Struktura zeigt, entspricht in der Theorie Lotmans folglich ein typologisch-genetischer Primat. Der Primat des Raumes findet seine Begründung in der Auffassung, dass die Menschheit zuerst über das Bild als Zeichen verfügte, das nicht-diskrete Zeichen verwendet und in einer zeitlosen Abbildrelation für etwas eintritt.

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Mit dem Aufkommen linearer Texte wurde die Bedeutungsgebung, der die Räumlichkeit in früherem Stadium unterlag, in diese Textualität übertragen. Der mythische Text wird nun im Verlauf der Erosion des mythenproduzierenden kulturellen Mechanismus dergestalt in die Sprache linear-semiotischer Systeme übersetzt, dass der neuzeitliche sujethafte Text als Ergebnis der Interferenz dieser beiden lang bestehenden Typen von Texten erscheint. Die Zerstörung des zyklisch-zeitlichen Mechanismus der Texte (oder zumindest die starke Einengung der Sphäre seines Funktionierens) führte zur massenhaften Übersetzung mythologischer Texte in die Sprache diskret-linearer Systeme [...] und zur Entstehung jener novellistischen Pseudomythen, die uns in erster Linie einfallen, wenn die Mythologie erwähnt wird. (1973a, 13; dt. 1974, 35)

An anderer Stelle charakterisiert Lotman das mythische Erzählen wie folgt: Dem Erscheinen sujethafter Texte geht das vorsujethafte Erzählen des mythologischen Typs voraus, in dem – da die Zeit nicht als Linie vorgestellt wird, sondern als abgeschlossen sich wiederholend – eine beliebige Episode des Zyklus als sich vielfach in der Vergangenheit wiederholend und in der Zukunft unendlicher Wiederholbarkeit fähig aufgefasst wird. In diesem Sinne bilden die Episoden des mythischen Textes selbst keine Ereignisse ab, sondern der Mythos selbst fixiert nur die zyklischen Gesetzmäßigkeiten, und nicht die herausgehobenen Abweichungen von ihnen. (Lotman 1973b, 670)

Führt man sich vor Augen, dass der sujetlose Text auf den mythischen Text zurückgeht, der ontogenetisch wie phylogenetisch primär ist und mit Normgebung, zyklischer Zeit, Gesetz, Zentrum, Einheit, NichtDiskretheit und der ewigen rituellen Bestätigung der Urbild-AbbildRelation assoziiert wird, dann wird das „Revolutionäre“ des Ereignisses unmittelbar evident: Die Geburt des Sujets aus dem mythischen Text ist gleichzusetzen mit der Lösung, d. i. der Befreiung von dem einen, zentralen Sinn, der Lösung aus der zyklischen Zeitvorstellung, der Überwindung eines mythischen Weltbildes. Suggestiv verbindet sich mit dieser Revolution die Idee der Aufsprengung eines Kreises, des Übergangs von einem begrenzten in den unbegrenzten Raum als Sinnbild der Befreiung. Sieht man die systematische Sujetdefinition der Struktura vor dem Hintergrund der hier ausgefalteten Argumentation, dann finden sowohl der graduierbare Aspekt wie auch der wertende Aspekt von Ereignishaftigkeit eine ursprungsgeschichtliche Begründung. Es bleibt die Frage, wie es sich mit der grundlegenden Definition des Ereignisses als Grenzüberschreitung verhält. Zum Ausgangspunkt der Evolution, die vom Mythos zum erzählenden Text führt, macht Lotman wiederum einen semiotischen Minimal-

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raum: Drei Räume, eine Grenze, eine Figur, eine Grenzüberschreitung. Allerdings nimmt er eine signifikante Erweiterung des Minimalraums gegenüber dem der Struktura vor: Die Grenzüberschreitung unterliegt nun einer Umkehrung. Der Raum, der solchermaßen betreten und wieder verlassen wird, ist „begrenzt“. Die hinsichtlich des Raumes metasprachliche Opposition begrenzt vs. unbegrenzt ist Element des Minimalraums. Lotman fasst das Minimalsujet wie folgt zusammen: „Eintritt in einen geschlossenen Raum und Austritt aus ihm“ (1973a, 20; dt. 1974, 40). Diese Konstruktion des semiotischen Minimalraums mit der charakteristischen Modifikation der Rückkehr bindet Lotman explizit an die im Rahmen der Initiation dokumentierten Riten. Lotman gibt dem Minimalsujet eine Urszene, genau so wie Propp dem Zaubermärchen mit dem Initiationsritus ein Ursujet gegeben hat, indem er den Initiationsritus als semantisches Korrelat seiner Märchenformel voraussetzte. Nun ist der Begriff Initiationsritus sehr weit gefasst. Er kann eine Reihe unterschiedlicher Praktiken bezeichnen, die bei der Aufnahme eines jungen Mannes oder einer Frau in eine Gemeinschaft praktiziert werden. Lotman bezieht sich, streng gesprochen, nur auf einen speziellen Handlungstyp, der im Rahmen der Initiation in ethnographischen Schriften seit Ende des 19. Jahrhunderts aus verschiedensten Kulturen belegt ist und das allgemeine Bild von der Initiation prägt.39. Diese Handlung bestand darin, dass man den in der Regel männlichen Initianden isolierte, einschloss und in einer bestimmten Umgebung einer todesähnlichen Erfahrung, einer Vergiftung, einer Trance oder einer realen Überlebensprobe aussetzte. Es ist dieses schon bei Propp aus verschiedenen Quellen synkretistisch schematisierte Bild, das Lotman zur Urszene erzählender Texte macht. Eine weitere synkretistische Verschmelzung, die Lotmans Konzept eignet und schon bei Propp vorgegeben ist, ist die von Initiationsritus, ritueller Defloration der Frau und Hochzeitsnacht. Lotman kontaminiert die Grenzüberschreitung mit der rituellen Defloration, wenn er den „geschlossenen“ Raum nun als „Höhle, Grab, Haus, Frau“ kennzeichnet. Der Innenraum habe die Merkmale des „Dunklen, Warmen, Feuchten“ (1973a, 20; dt. 1974, 40–41).40 Das Aus-/Eingehen in den Raum wird zum Bild für Tod/Auferstehung Zeugung/Geburt. So erhält Lotman ein Schema, das mit suggestiver Bedeutung aufgeladen ist und gleichzeitig _________ 39

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Auf den Initiationsritus konzentrierte sich die Forschung der angelsächsischen anthropologischen Schule, die in Russland von Dmitrij Zelenin u. a. vertreten wird, auf deren Material Propp (1946) zurückgreift. Der Ausdruck feucht (syroj) ist im russischen Zaubermärchen ein stehendes Epithet der Erde und begegnet in formelhaften Wendungen der magischen Verwandlung (und er warf sich auf die feuchte Erde und verwandelte sich in …).

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ubiquitär genug ist, um eschatologischer Legende, der Jenseitsreise, der Initiation des jungen Mannes in die Gemeinschaft der Erwachsenen und der Initiation in den Ehestand gerecht zu werden. So gibt Lotman z. B. die folgende Paraphrase des Sujets des „eschatologischen Zyklus“, die sich wie eine selektive Zusammenfassung der seit dem 19. Jahrhundert diskutierten hero-patterns und Märchenschemata der kulturanthropologischen Erzählforschung liest: Leben des Helden (in der Regel beginnt es nicht mit der Geburt), sein Altern, sein Verderben (er verfällt in die Sünde eines falschen Verhaltens) oder ein althergebrachter Defekt (z. B. ist der Held hässlich, dumm oder krank), sein Tod, Wiedergeburt und neue, schon ideale Existenz (die in der Regel nicht mit dem Tod, sondern der Apotheose endet). (1973a, 36; dt. 1974, 57)

Von der Urszene als Minimalsujet ausgehend, skizziert Lotman die Transformation des mythischen Textes in sujethaften Text und die weitere lineare Entfaltung zu immer größerer Komplexität und Variabilität: den Zerfall der Einheit der ursprünglich einen Figur, die Vervielfachung der Räume. So wird die Einheldigkeit des Zaubermärchens primär gegenüber der Mehrheldigkeit von Epen und Romanen gedacht. Die nächste Stufe wäre der männliche Zwilling (implizites Vorbild ist hier das in der volkskundlichen Erzählforschung vieldiskutierte ägyptische Brüdermärchen), dann folgt das Paar Don Quijote und Sancho Pansa, das Quartett aus zwei Paaren (das ernste und das leichte Liebespaar der Komödie) usw. Auch die Elemente des Minimalraums, die Grenze, wird anthropomorphisiert, hier liegt Lotman zufolge der Ursprung des „Schädlings“ des Zaubermärchens. Das Konzept der Ein-/Ausfaltung geht genealogisch nicht nur auf den Gedanken der Korrespondenz von Phylo-/Ontogenese zurück, sondern auch auf das Konzept der Transformation, wie Propp (1928b) es in den Transformationen des Zaubermärchens skizziert und den Historischen Wurzeln des Zaubermärchens (Propp 1946) ausgearbeitet hat. Propp seinerseits knüpft wiederum an den Transformationsgedanken bei Veselovskij an. Veselovskij hat in der Historischen Poetik eine stadiale Schematisierung entworfen, die von der Differenzierung von Epik, Dramatik und Lyrik bis hin zum modernen Roman reichen sollte. Eine weitere ‚archäologische‘ Korrespondenz (im Sinne Foucaults) besteht zwischen dem Ansatz Lotmans und dem Transmissionsbegriff der finnischen Schule der Märchenforschung. Diese unterschied zwischen der Transmission von Märchentypen innerhalb eines Kulturkreises und der zwischen verschiedenen Kulturkreisen, bei denen das Märchensujet einer prinzipiell andersartigen Transformation ausgesetzt war. Das Konzept der Transformation schloss auch den so genannten Funktionswandel göttlicher Gestalten ein, der als Phänomen bereits im 19. Jahrhundert

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die Aufmerksamkeit von Religionswissenschaftlern und Erzählforschern auf sich gezogen hatte: Namen und Gestalt des betreffenden Gottes ändern sich, seine Handlungsweise ändert sich nicht. Auch der Gedanke der Ausfaltung einer göttlichen Gestalt zu einem ganzen Pantheon (die Anthropomorphisierung verschiedener Funktionen zu eigenständigen Gestalten) existiert bereits in der Grimmschen Mythologie (Grimm 1875/78, I, xvii). Aus dem bisher Gesagten wird deutlich, wie weitgehend Lotman hier an die Fachtradition der kulturanthropologischen Erzählforschung anknüpft und welche Konzeption hinter der Definition von Sujet steht, die Lotman in der Struktura entwickelt und in der an der Kybernetik geschulten Sprache des Strukturalismus reformuliert: Modell für das Gegensatzpaar sujethaft vs. sujetlos ist die Differenz zwischen der Grenzüberschreitung als Element des Mythos und der am Initianden vollzogenen Handlung – als gesetzmäßiges Geschehen, außerhalb des Erzählens – und der erzählten Grenzüberschreitung außerhalb des Mythos. Diese Differenz, die Propp am Beispiel des Zaubermärchens modellhaft entwickelt hat, bildet den impliziten Hintergrund für Lotmans Theorie der Narrativität insgesamt.41 Lotman kommt das Verdienst zu, Narrativität in entwicklungsgeschichtlicher wie systematischer Hinsicht definiert zu haben. Insgesamt gesehen birgt seine Definition jedoch einen inneren Widerspruch, der in den Ausführungen zur Genese des Sujets zutage tritt und auch für die Bewertung seines Konzepts aus Sicht der Narratologie relevant ist. Lotman kann die Opposition mythisch vs. nachmythisch offensichtlich nicht zufriedenstellend beschreiben: Er gibt selbst zu, mythische Texte _________ 41

Im Rahmen der hier analysierten Arbeit verfolgt Lotman ein weitergehendes Erkenntnisinteresse, das sich erst in den Beispielanaysen moderner Romane zeigt und das im gegebenen Rahmen außerhalb unserer Betrachtung bleiben muss. Es geht Lotman um das mythische Substrat erzählender Texte der Gegenwart: „Wir haben bereits erwähnt, dass die archaischen Denkstrukturen im Bewusstsein des modernen Menschen ihre Inhaltlichkeit verloren haben und in diesem Sinne ganz und gar mit den grammatischen Kategorien einer Sprache verglichen werden können, die die syntaktischen Grundlagen großer Erzählblöcke eines Textes bilden. [...] Bekanntlich geht jedoch in einem künstlerischen Text ein ständiger Wechsel vor: dasjenige, was in der Sprache schon seine selbstständige semantische Bedeutung verloren hat, wird einer abermaligen Semantisierung unterworfen und umgekehrt. Im Zusammenhang damit erfolgt auch eine abermalige Belebung der mythologischen Abfolgen des Erzählens, die […] mit neuen Bedeutungen ausgestattet werden, die uns häufig […] zum Mythos zurückführen“ (1973a, 25; dt. 1974, 46). Ein Konstrukt wie die Initiation gibt Lotman die Möglichkeit, unter dem Deckmantel der Typologie die „Archaik des Denkens“ im literarischen Text zu verfolgen und dabei Gedankengänge zu entwickeln, die letzlich der psychoanalytischen Literaturanalyse nahekommen. (Die Psychoanalyse war in Russland zu sowjetischer Zeit bekanntlich offiziell verpönt). Zum Zusammenhang von mythischem Denken, Tiefenpsychologie und so genannter „ornamentaler“ Prosa in der russischen Literatur der 1920er Jahre vgl. Schmid 1992.

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seien nur mit großer Mühe in den heute üblichen Kategorien von Textualität zu beschreiben, sie seien „in unserem Sinne nicht sujethaft“ (1973a, 10; dt. 1974, 30). Entweder wird nun mythischer Text im Zuge der „Uebersetzung“ in die Sprache linear-semiotischer Systeme anders aufgefasst. Dann wäre aber die Bestimmung von Narrativität in der Struktura auf externer Funktionalität begründet. Die Sprache des mythischen Textes und die Sprache des linear-semiotischen Systems wären dann Sekundärsprachen, die über beliebigen Texten, Bildfolgen, funktionieren könnten. Es gäbe das ursprünglich Mythische, aus dem dann die Sphäre des Erzählens entstanden wäre. Doch bleibt die sekundäre Mythisierung eines Sujets auch in der Gegenwart immer möglich. Dadurch wird aber die Sujethaftigkeit zu einer kontextabhängigen Größe. Oder aber die Differenz zwischen Mythos und Erzählen ist textphänomenologisch zu fassen. Dann führt aber die Annahme zweier textproduzierender Mechanismen in den Widerspruch zu Grundannahmen Lotmans über Textualität, wie im Folgenden gezeigt werden soll. Erstens ist in Entstehung die Sprache des Sujets mit der Semiotik linearer Systeme verbunden, der Mythos mit dem piktoralen Text. Lotman kann nun keinen einzigen konkreten Text als Beispiel für einen Mythos anführen, da die unter dieser Bezeichnung geführten Texte bereits in die Sprache linear semiotischer Systeme übersetzt sind. Wenn die allerersten Mythen, über die wir verfügen, bereits novellistische Nacherzählungen, Paraphrasierungen sind, dann stellt sich die Frage, aus welchem Medium sie übersetzt werden sollen. Der Mythos scheint in diesem Sinn überhaupt vorsprachlich zu sein. Der Gegensatz Erzählen vs. Mythos stellt sich letztlich nicht als Gegensatz von linearsemiotischen zu piktoral- semiotischen Systemen dar, sondern viel grundlegender als der Gegensatz Sprechen vs. Schweigen (= Tod). In einen ähnlichen Widerspruch führt auch die Korrelation des Mythos mit der Ganzheit, des linear-semiotischen Textes mit dem Partikularen, Kumulativen (s. o.): Die Ganzheit allein kann semiotisch jedoch nichts bedeuten. Wie in der Struktura dargelegt, bedarf der semiotische Minimalraum mindestens zweier Untereinheiten. Wie also ohne diskrete Räumlichkeit zeichenhaft Information vermittelt werden soll, ist unklar. Der Mythos ist offensichtlich eine Projektion aus dem Bereich der Gegenwart in die Vergangenheit, aus dem Bereich binärer Oppositionen in den Bereich der Ambivalenz, des Vorbewussten, eine Art Fluchtpunkt, dessen Rolle sich darin erschöpft, Fluchtpunkt zu sein. Zweitens spricht Lotman dem mythischen Text die Semiotizität von Anfang und Ende ab. Anfang und Ende des Zeichenkörpers würden innerhalb der mythischen Sinnsphäre nicht als solche aufgefasst. Die mythische Mitteilung wäre also eine Nachricht, deren Anfang und Ende

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nicht als solche wahrgenommen würden. Dann könnte aber der Adressat die Nachricht nicht erkennen, denn wie in der Struktura ausgeführt, ist die Begrenzung des Zeichenkörpers selbst Bedingung seiner Wahrnehmbarkeit als Zeichen. Da in den rituellen Praktiken zweifellos kommuniziert wurde und der Inhalt der Kommunikation die Information für den Initianden und den gesamten Personenkreis von einschneidender Wichtigkeit war und ihr Leben unwiederbringlich veränderte, stellt sich mythisches Sprechen, informationstheoretisch gesprochen, als Rätsel dar. Um zu verdeutlichen, wo das Problem liegt, sei auf die entsprechende Darstellung bei Propp nochmals zurückgegriffen. In den Historischen Wurzeln des Zaubermärchens formuliert Propp eine Theorie über „den Ursprung des Zaubermärchens als künstlerischer Erzählung“ – das Freiwerden der Sujets (hier Sujet im Sinne von Erzähltyp der Zaubermärchen) aus der Sphäre des Ritus: Die späteren Märchenstoffe werden genau dann im künstlerischen Sinne frei erzählbar (und damit der Transformation, die nach bestimmten Gesetzen verläuft, zugänglich), wenn sie den Zusammenhang mit der ursprünglichen Religion und ihren Ort im Ritus verloren haben oder aber wenn sie außerhalb der rituellen Handlung kommuniziert werden (z. B. um noch nicht Initiierten zu erklären, was mit dem Initianden gerade geschieht oder zu geschehen hat). Propp beschreibt hier die Entstehung des Zaubermärchens als „Profanisierung heiliger Sujets, als Verwandlung einer heiligen Erzählung in eine nicht geistliche, nicht esoterische, sondern künstlerische Erzählung“. Über die Initiationspraxis schreibt er: „Dem Initianden enthüllte sich hier der Sinn derjenigen Handlungen, die an ihm vollzogen wurden. Die Erzählungen setzten ihn mit dem gleich, wovon erzählt wurde“ (Propp 1946; dt. 1987, 454 f.). Die Erzählungen innerhalb der rituellen Sphäre waren in diesem Sinn wie Gleichnisse, und jenen, die die Erfahrung der Initiation nicht gemacht hatten, waren sie nicht voll zugänglich. Das vollständige Wissen um die Initiation als den Zusammenhang zwischen körperlicher Erfahrung und verbalem Text war Arkanwissen und zirkulierte nur in abgegrenzten Gemeinschaften. Das rituelle Sprechen (und mit ihm die von Lotman vorausgesetzte mythische Textualität) ist ein informationstheoretisches Paradoxon. Wenn der Initiand den Sinn der Worte des mythischen Textes erst mit der Handlung verstand, weil „er eins wurde mit dem, was man ihm erzählte“ (Propp), dann stellt sich die Frage, wo die entsprechende ihm übermittelte Information kodiert war. Im Wortlaut ist sie nicht kodiert. Das Initiationserlebnis ist andererseits weder ein rein sinnlich-emotionaler, noch ein rein subjektiver Vorgang. Dann gibt es aber eine Art von Information, die weder einmaliges Dekodieren des Wortsinns ist noch rein

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sinnliche Textwahrnehmung. Die informationstheoretische Auffassung vom Verstehen der sprachlichen Kommunikation, die Lotman in der Einleitung der Struktura formuliert, scheint diesem Vorgang nicht angemessen zu sein. Nimmt man hingegen an, die Differenz zwischen mythischem Sprechen und Erzählen liege allein in der externen Funktion, dann kommt man der Darstellung bei Propp wesentlich näher. Für Propp war der Übergang aus der Sphäre des Ritus in die künstlerische Freiheit ein vorrangig funktionaler, durch den Übergang in eine neue diskursive Sphäre wurde das gesamte Sujet einer veränderten Sinngebung ausgesetzt. Es stellt sich folglich die Frage, ob Lotmans eingangs konstruierte Texttypen nicht externe Funktionsweisen, also funktionale Textualitäten hypostasieren. Der Begriff Übersetzung (perevod) für den Übergang aus der einen in die andere Sphäre ist jedenfalls problematisch, weil er die gesamte Sinndifferenz zwischen mythisch und nachmythisch auf die Ebene der „Umkodierung“ reduziert. Lotman spricht die Funktionsbereiche, die den beiden Mechanismen zuzuordnen sind, durchaus an: Der mythische Text habe die Funktion, Ordnung zu schaffen, die Welt in Ordnung zu überführen. Deshalb sei sie der zentralen Sphäre der Kultur zuzuordnen (offizielle Sprache, Gesetz, Religion), die Sprache des Sujets sei mit der Peripherie, mit der Anomalie korreliert. Die „Übersetzung mythischer Texte in die Sprache linear-semiotischer Systeme“ erscheint bei Lotman als Folge der „Austrocknung der mythischen Sphäre ihres Funktionierens“, was im Grunde genommen Propps Vorstellung von einer Erosion der Glaubensgrundlage des Mythos entspricht, doch verklärt er sie zu „kulturellen Mechanismen“ und damit zu quasinaturgesetzlichen Erscheinungen. Nimmt man Mythos und Erzählen als zwei funktionale Sphären von Texten an, dann gibt es Texte, die in dem einen wie in dem anderen Sinne sujethaft sind oder sein können. Und es gibt zwei Grenzüberschreitungen, eine mythisch gesprochene und eine frei erzählte. Für die Deutung der Grenzüberschreitung ergibt sich damit das Problem einer grundsätzlichen Ambivalenz. Innerhalb der mythischen Sinnsphäre bzw. der Funktionalität mythischen Sprechens wäre die erzählte Grenzüberschreitung des Initiationsritus Lotman zufolge kein Konflikt mit der Ordnung, sie schafft keinen Konflikt, sondern sichert die immer wiederkehrende Identität. Grenzüberschreitung hat im mythischen Text die Funktion der Bestätigung der Identität (der Initiand tritt an die Stelle des Totems). Innerhalb der erzählenden Funktionalität wäre sie ein Element der Negation. Aus Identität wird Differenz, wobei der „künstlerische Text“ in seiner hybriden Existenzweise der Sphäre des Mythischen dennoch teilhaftig bleiben soll. Dieser Widerspruch bleibt inner-

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halb des Lotmanschen Systems letztlich ungelöst und wirkt auch auf die systematische Definition von Ereignis in der Struktura zurück. Wenn sich letztlich doch durch die Teilhabe an einer funktionalen Sphäre entscheidet, ob eine identische Formulierung ein Ereignis mitteilt oder nicht, dann bleibt die Grenzüberschreitung im konkreten Text auf unentscheidbare Weise ambivalent.

5. Schlussbetrachtung Abschließend soll die Sujetdefinition Lotmans nochmals in ihren zentralen Punkten rekapituliert und in den Kontext der narratologischen Diskussion um das Ereignis gestellt werden. Es hat sich gezeigt, dass Lotman mit dem Sujetbegriff ein genuin narratologisches Kriterium für Narrativität formuliert hat. Die vollständige Definition, wie sie sich in der obigen Rekonstruktion darstellt, umfasst zwei Aspekte, den systematischen und den diachronen Aspekt. Die systematische Ereignisdefinition der Struktura lässt sich, wie gezeigt wurde, logisch aus den Voraussetzungen ableiten, die Lotman über sekundär-semiotische Systeme macht. Sie ist in ihren Komponenten allerdings erst dann vollständig motiviert und verständlich, wenn man sie im Zusammenhang mit der typologisch-genetischen Herleitung sieht. Diese Herleitung offenbart die Quellen der Narrativitätstheorie Lotmans, der sich einer in der kulturanthropologischen Erzählforschung weit verbreiteten Auffassung anschließt, das Erzählen sei aus dem mythischen Sprechen entstanden. Unmittelbares Vorbild ist hier die Lösung des Märchens aus dem Mythos, wie Propp sie beschrieben hat. Allerdings ist Lotmans Mythosbegriff ganz anders geartet als der Propps, hochgradig idiosynkratisch und pejorativ. Der Mythos stellt das Andere der Sprache Lotmans dar, verkörpert alles, was außerhalb seiner Sprache der distinkten Oppositionen liegt, die Ambivalenz, Zeitlosigkeit, Nichtdiskretheit des Raumes und der Zeit, Subjekt und Objekt. Dadurch entsteht aber ein Bruch in der Argumentation, denn die Differenz zwischen mythischem Sprechen und Erzählen kann textphänomenologisch nicht genau genug beschrieben werden. Insbesondere schwankt Lotmans Argumentation zwischen der textphänomenologischen und einer extern funktionalistischen Betrachtungsweise, derzufolge Textualität dann mythisch ist, wenn sie, unter einem gewissen Aspekt betrachtet, nur Varianten erzeugt. Dieser kritische Mythosbegriff – als Gegenbegriff zum Erzählen – steht in der Tradition der rationalistischen Mythenkritik des 20. Jahrhunderts.

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Im Lichte der obigen Rekonstruktion kann man die Einschätzung Lotmans, wie sie in der Rezeption vorgenommen worden ist, in einzelnen Punkten korrigieren. Der Sujetbegriff ist bisher kaum als Narrativitätskriterium gewertet worden, sondern vielmehr als Ereignis im zweiten Sinn aufgefasst worden, als interpretationsabhängiger, kulturrelativer Begriff. Lotmans Ereignisdefinition ist jedoch nicht im eigentlich individuellen Sinn interpretationsabhängig. Diese Einschätzung beruht auf einem Missverständnis der semiotischen Relativität des Ereignisses. Die Bedeutung der Grenzüberschreitung als Veränderung in der erzählten Welt ist nicht subjektiv, also z. B. von einer Figur der erzählten Welt oder vom Rezipienten abhängig, sondern ergibt sich Lotman zufolge aus der von der jeweiligen Kultur vorgegebenen, systematischen Beziehung der Sprache der räumlichen Modellierung im Text zum Weltbild. Auch sind die emphatischen Kennzeichnungen des graduierbaren Aspekts des Ereignisses als das „Neue“, der „Tabubruch“, die „Enttäuschung einer Erwartung“ oder die „Verletzung einer Norm“ nur variable Formulierungen für die Arten, in denen eine Nachricht, die in Gegensatz zum Weltbild steht, Information tragen kann. Weiterhin hat die Rezeption bis auf wenige besprochene Ausnahmen (Titzmann, Renner, Schmid) Lotmans Ereignisbegriff als ausschließlich global aufgefasst. Die Annahme der Globalität speist sich aus seiner These, jeder Text habe ein Hauptereignis. Bei näherem Hinsehen erweist sich jedoch der oft konstatierte Gegensatz zu den mikrokontextuellen Ereignisdefinitionen als Täuschung. Es zeigt sich, dass die nichtgraduierbare Definition des Ereignisses als Grenzüberschreitung zu den mikrokontextuellen Aussageschemata der minimal stories isomorph ist. Aus dem Hierarchiecharakter des Hjelmslevschen Stufenaufbaus, den Lotman als Eigenschaft seiner semiotischen Sekundärsprachlichkeit voraussetzt, folgt aber, dass das Ereignisschema der Grenzüberschreitung für das kleinste wie das größte Ereignis eines Textes gelten muss. Der Sujetbegriff ist also genau genommen ebenso mikro- wie makrotextuell. Der Sujetbegriff ist nicht unmittelbar in die Diskussion der Narratologie übertragbar. Wohl aber ist er dazu geeignet, die Narratologie mit ungelösten Problemen ihres Paradigmas zu konfrontieren, die gerade in der Diskussion um den Ereignisbegriff als Grundbegriff manifest werden. Insbesondere sind in der Sujetdefinition zwei Aspekte angesprochen, die im Sinne einer konstruktiven Kritik in die narratologische Diskussion einbezogen werden können. Das sind die semiotische Relativität und der kulturtheoretische Aspekt der Zeitlichkeit und Werthaftigkeit des Ereignisbegriffs. Die Sujetdefinition Lotmans setzt im Sinne der russischen Kultursemiotik einen weitgefassten, semiotischen Textbegriff voraus. Es bleibt

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seine Innovation, dass er die Kategorie des Raumes im Sujet mitgedacht hat, indem er in der Definition von Ereignis zwei Dinge verbindet: die minimale semiotische Raumkonstellation und die Ereignisdefinition als Minimalsequenz metasprachlicher Sätze, die einen Text zum sujethaften qualifiziert. Darin liegt ein Differenzmerkmal gegenüber den bisherigen Ereignisbegriffen der Narratologie, die die Kategorie der Zeitlichkeit privilegiert hat, ein Vorgehen, das mit der vorherrschenden Orientierung am verbalen Text zusammenhängt. Die semiotische Relativität des Ereignisses, die als Kulturrelativität missverstanden worden ist, erscheint bei Lotman als vorrangig strukturelle semiotische Relativität des Ereignisses. Aus der notwendigen Semiotizität des erzählten Ereignisses als Zeichen folgt, dass es keine kontextfreien, vorsprachlichen – d. i. vor der sekundären Sprache existierenden – Ereignisdefinitionen geben kann. Die bisherigen Formalisierungen des atomaren Ereignisses (die Minimaltriade, um einen minimalen Gegensatz gruppiert, und auch das logische Quadrat als Möglichkeitsstruktur von Triaden) strukturalistischer und neostrukturalistischer Provenienz legen in Wahrheit Normen fest, wie man sich Veränderungstatsachen vorzustellen hat. Sie konstruieren eine sekundäre Sprache, eine scheinbar objektive Beschreibungssprache, die wir eine „Sprache des Berichts“ nennen können. Das Vorbild für die Sprache des Berichts wäre etwa eine Protokollsprache, wie sie im Wiener Kreis konzipiert worden ist. Löst man den Gedanken der semiotischen Relativität des Ereignisses aus dem strukturalistischen Prokrustesbett der Hjelmslevschen Hierarchie, dann ist es einleuchtend anzunehmen, dass sich die „Übersetzung aus dem Amorphen, Undiskreten“, die Überführung von etwas in den Bereich der sprachlich formulierbaren Tatsachen, aber auch das Gegenteil, die Vernichtung von Ereigniswelten, das Ausscheiden, die Ausstoßung aus der Menge positiv formulierbarer Tatsachen immer von Neuem innerhalb jeder sekundären Ebene der Textualität vollzieht und sich nicht auf einer elementaren Ebene für alle weiteren Ebenen festlegen lässt. Es könnte sein, dass Veränderung sich in der Zukunft als nur ein Aspekt von Ereignishaftigkeit herausstellt, und nicht einmal als der wichtigste. Das Ereignis ist immer Ereignis-im-Text. Der zweite Aspekt ist der der Zeitlichkeit und Werthaftigkeit des Begriffs des Erzählens an sich. Beide Problempunkte verweisen die Narratologie, die ja bisher versucht, Erzählen rein taxonomisch – etwa im Gegensatz zum Beschreiben – zu definieren, auf ihre eigene Vorgeschichte in der historisch vergleichenden Erzählforschung und damit auf andere Formen von Textualität wie den Mythos, den Fluch, die Liturgie. Die mangelnde Auseinandersetzung mit dieser Forschungstradition fällt

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umso mehr ins Gewicht, als der Gegenstand, das Erzählen, schon in der frühen Programmatik der Narratologie, wie sie aus den Arbeiten Barthes, Todorovs und Bremonds abzulesen ist, zur Gänze aus der Erzählforschung übernommen wurde. Zur Veranschaulichung der Präsenz der zeitlichen Dimension sei aus der „Vision“ zitiert, die Roland Barthes in der Introduction à l’analyse structurale des récits (1966, 1) gegeben hat: [Le récit] est présent dans le mythe, la légende, la fable, le conte, la nouvelle, l’épopée, l’histoire, la tragédie, le drame, la comédie, la pantomime, le tableau peint […], le vitrail, le cinéma, les comics, le fait divers, la conversation. […] le récit se moque de la bonne et de la mauvaise littérature: international, transhistorique, transculturel, le récit est là, comme la vie.

Bei Barthes ist der ‚LE récit‘ außerhalb der Geschichte und über die Grenzen der Kulturen hinweg gegeben. Es ist dasselbe Erzählen, das im Mythos und im Alltagserzählen gegenwärtig ist. Es ist „Erzählen“ als ubiquitärer, universaler mit sich selbst identischer Gegenstand einer wie immer gearteten Disziplin, der hier imaginiert wird. ‚LE récit‘ ist von Beginn der menschlichen Geschichte als quasi anthropologische Universalie gegeben. Barthes beginnt seine Aufzählung nicht zufällig mit Mythen, Legenden, also mit den frühesten Zeugnissen des ‚Erzählens‘. Zum Abschluss seiner Ausführungen über ‚la langue du récit’ kommt Barthes auf die historische Perspektivierung seines Gegenstands zurück: Er macht die Annahme, dass es sowohl eine Phylogenese wie auch eine Ontogenese des Erzählens gibt. Barthes verbindet die (Er-)Findung des Erzählens mit weit reichenden Hypothesen über den Subjektstatus und parallelisiert seine Hypothesen mit der psychoanalytischen Vorstellung der Subjektgenese, indem er den Oedipusmythos quasi als Schlüsselerzählung der Menschheit nennt. Ordnung des ‚Satzes‘; Ordnung des ‚Erzählens‘ und Ordnung der ‚Identität‘ sind eins. Bien qu’on n’en sache guère plus sur l’origine du récit que sur celle du langage, on peut raisonnablement avancer que le récit est contemporain du monologue, création, semble-t-il, postérieure à celle du dialogue; en tout cas, sans vouloir forcer l’hypothèse phylogénetique, il peut être significatif que soit au même moment (vers l’âge de trois ans) que le petit de l’homme „invente“ à la fois la phrase, le récit et l’Oedipe. (Barthes 1966, 27)

Es ist kein Zufall, dass die ersten Schritte der Erweiterung des Semeologischen Programms sich auf das Märchen und den Mythos beziehen (Greimas, Lévi-Strauss). Zu nennen ist Claude Bremond, der nicht nur über Propp und seine Rezeption, sondern auch auf dem Gebiet der Folkloristik gearbeitet hat. All diese Äußerungen sind ein Indiz für die Präsenz der zeitlichen, wie auch einer gewissen wertenden Dimension in der Theoriebildung einer Narratologie von ihrer Entstehungszeit an. Diese Erweiterungen restituieren die von Barthes mit „le récit“ umrissene Einheit. Die modellbildende Rolle der Folklore in der narratologi-

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schen Diskussion bis heute lässt sich nur vor der impliziten Voraussetzung verstehen, dass in der Einheit eine größere Prototypizität der ‚einfachen Formen‘ mitgedacht wird (vgl. z. B. Wolf 2002). Die Programmatik der frühen Phase der Narratologie lässt noch den gemeinsamen Ausgangspunkt erkennen, den Semeologie und Kultursemiotik gehabt haben. Die bei Lotman explizit verhandelten Fragen der Genese und der Funktion des Erzählens bilden unausgesprochene Anteile der narratologischen Paradigmen, die der narratologischen Forschung unterliegen. Die Narratologie wird sich, wenn sie die Frage der Definition von Narrativität verbindlich lösen mochte, mit ihrer Vorgeschichte innerhalb der kulturanthropologischen Erzählforschung gründlicher auseinandersetzen müssen.

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CHRISTINE GÖLZ (Freie Universität Berlin)

Autortheorien des slavischen Funktionalismus Im Jahre 1960 entbrannte anlässlich von Viktor Vinogradovs Monographie Über die Sprache der Literatur (1959) unter Wissenschaftlern der Sowjetunion eine Debatte, die nach langen Jahren der wissenschaftlichen Stagnation auch einen Neubeginn der Theoriebildung um den Autor zu markieren schien. Allerdings lässt ihr Ausgang, der das gerade erst wieder ins Zentrum des Interesses gerückte Problem erneut marginalisierte, den Streit letztlich eher als einen Höhe- und zugleich vorläufigen Endpunkt einer funktionalen Betrachtung des Autors erscheinen.1 Zwei Lager traten sich in dieser Auseinandersetzung gegenüber, wobei die Front quer durch die sowjetische Literatur- und Sprachwissenschaft verlief. Auf der einen Seite – das damalige Establishment (u. a. Dmitrij Blagoj, Leonid Timofeev, Vladimir !"erbina), das Vinogradovs Auffassung von der (relativen) Autonomie des sprachlichen Kunstwerks und einer aus seiner spezifischen Sprachlichkeit heraus zu entwickelnden Methodologie verdammte, auf der anderen – Vinogradovs Verteidiger, unter ihnen Dmitrij Licha"ev, Viktor Levin und andere. Als besonders heftig umstritten erwies sich die zentrale Kategorie in Vinogradovs textimmanenten Stilanalysen, das Autorbild. In ihm sahen die Kritiker ein Verschleierungsmanöver, das zur Maskierung der ideologischen Position eines Autors diene, einen inakzeptablen Freibrief – sowohl für den Schriftsteller als auch für den nicht zuletzt mit ideologischer ,Entlarvung‘ beauftragten Wissenschaftler.2 Die kompromittierende Metapher der „Maske“ bzw. der „Maskierung“, die in diesem Streit als Waffe gegen Vinogradov eingesetzt wurde, entstammte ironischerweise dem Diskurs einer sich zu Beginn der _________ 1

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Auszüge der in der allgemeinen Presse und in Fachaussprachen geführten Diskussion sind in mehreren Artikeln von 1959 bis 1960 in der Zeitschrift Fragen der Literatur (Voprosy literatury) dokumentiert, vgl. die Zusammenfassung Slovo, obraz, stil’ (1960). Vgl. z. B. Dmitrij Blagoj: „Indem Vinogradov das ,Autorbild‘ als zentrales Problem der Stilistik extrapoliert, lässt er den Entstehungsprozess des Kunstwerks einer literarischen ,Maskerade‘ gleichkommen, in der die verschiedenen ,Antlitze‘ der literarischen Verkörperung des Autors unter unterschiedlichen ,Masken‘ verdeckt werden.“ (Slovo, obraz, stil’ 1960, 54). Zur Polemik siehe auch Gogoti#vili (2002, 547).

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zwanziger Jahre herausbildenden formalistischen Erzähltheorie, in der sie – positiv konnotiert – ausgerechnet die kategoriale Differenz zwischen dem Autor als Verfasser und dem ,Autor‘ als Erzähler einer Geschichte hatte markieren sollen. Die Anfänge des funktionalistischen Autor-Begriffs, den die Vinogradov-Anhänger in diesem Streit verteidigten, sind in den Arbeiten der Formalen Schule zu suchen. Diese Tradition galt es allerdings gerade für diejenigen, die selbst einer vorrangig textimmanenten Modellierung der in Vinogradovs Arbeit aufgeworfenen Probleme anhingen, zu verschweigen und sich allenthalben von den Vorläufern abzugrenzen. Denn der Formalismus-Vorwurf war auch um 1960, rund dreißig Jahre nach dem Ende der Schule, ungeachtet der verhältnismäßig ,liberalen‘ Tauwetter-Epoche noch immer ein gängiges Argument zur Diskreditierung des Gegners.3 Außer den beiden Parteien ,pro‘ und ,contra‘ Vinogradov gab es noch eine dritte Stimme in diesem Streit, auch wenn sie damals noch nicht laut zu vernehmen war. Sie gehörte dem akademischen Außenseiter Michail Bachtin, Vinogradovs Antipoden, und ist u. a. in seinen Notizbüchern überliefert.4 Damit ist diese Auseinandersetzung auch ein typisches Beispiel für den sowjetischen Wissenschaftsdiskurs, der von politischen Richtungskämpfen, ritualisierter Rhetorik und unfreiwilliger Diskontinuität geprägt war: Nicht nur galt es mit Hilfe eines stereotypen Kodes die jeweils aktuellen ideologischen Präferenzen zu bedienen sowie unliebsame Positionen totzuschweigen oder in eine unverfängliche Sprache zu kleiden, es existierte zudem auch auf dem Gebiet der Theoriebildung ein Schreiben ,für die Schublade‘. Aus heutiger Perspektive lässt die ideologisch hoch aufgeladene Diskussion von 1960 neben einer biographisch-intentionalistisch argumentierenden Position gleich drei, zeitlich unterschiedlich situierte Ansätze einer funktionalistischen Autorkonzeptualisierung im sowjetischen Theoriefeld zu Tage treten.5 Sie macht gleichzeitig auch die politisch _________ 3

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Victor Erlichs Arbeit zum Russischen Formalismus war 1955 erschienen und in der Sowjetunion kritisch rezipiert worden. Entsprechend verlangte man in der Polemik von 1960 nicht zuletzt von Vinogradov, sich noch viel deutlicher von seinen auch bei Erlich verzeichneten angeblichen „formalistischen Jugendsünden“ zu distanzieren (Slovo, obraz, stil’ 1960, 57). Vgl. u.a. Rabo!ie zapisi 60-ch – na!ala 70-ch godov: Tetrad’ 1 (Bachtin 2002). Unter „funktionalistischen“ Konzepten sind hier und im Folgenden Ansätze zusammengefasst, bei denen die Teilaspekte des Untersuchungsobjekts ,literarischer Text‘ auf Funktionen hin befragt werden, die diese für das Textsystem und letztlich für die Generierung einer Gesamtbedeutung haben – Ansätze also, die sich auf ein „Basisideologem“ der formalistischen Literaturtheorie zurückführen lassen, auf die funktionalistische Einstellung. Entsprechend sind mit „Autorfunktionalismus“ mit Christoph Veldhues (2003) all diejenigen Ansätze im literaturwissenschaftlichen Theoriefeld gemeint, die mit Kategorien arbeiten, die sich unter die text- oder systempoetischen Begriffe „Autor-im-Text“ bzw. „Autor-als-System“ subsumieren lassen, wohingegen kulturelle bzw. erkenntnistheoretische

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motivierte Marginalisierung dieser Theoriebildung deutlich. Der erste, formalistische Ansatz, der von einem Erzählermodell als Autormaske bis hin zur Vorstellung einer literatursoziologischen Autorrolle reicht, ist in der Diskussion nur via negationis bzw. als implizites Fundament der textpoetisch argumentierenden Einlassungen präsent. Das zweite Modell hingegen, Vinogradovs Autorbild, wird zwar explizit diskutiert, verschwindet aber im Anschluss – da ideologisch nicht genehm – bis auf weiteres aus der aktiven Theoriediskussion; und Bachtins facettenreiche Autorvorstellung, als dritter hier zu nennender Ansatz, ist lediglich retrospektiv als in der Diskussion unhörbare Stimme rekonstruierbar. Obgleich Bachtins konzeptionelle Äußerungen zum Autor im literarischen Werk kein geschlossenes Theoriemodell darstellen – und schwerlich funktionalistisch zu nennen sind, gehören sie dennoch zur Geschichte der literaturwissenschaftlichen Theoriebildung in der Sowjetunion und heute in Russland. Seine „Metaphysik einer Autortheorie“ (Palmieri 1998) lieferte nach 1960 wiederholt den Anstoß für systematische narratologische Modellbildungen (zum Beispiel Boris Kormans konzipierter Autor), die sich im Rahmen funktionalistischen Denkens bewegen. Die in der Debatte von 1960 deutlich zu Tage tretende, unüberwindbare Kluft zwischen den Lagern und die unterschiedliche Kräfteverteilung sind für das weitere Schicksal des theoretischen Problems in der Sowjetunion verantwortlich: Es verschwindet erneut aus dem Fokus des Interesses oder muss verschwinden. Während spätestens seit den späten dreißiger Jahren zuerst in der Tschechoslowakei, dann in Polen und in der westeuropäischen Slavistik an formalistische und später strukturalistische Konzepte angeknüpft wurde6 und – nicht zuletzt auf dem Hintergrund einer produktiven Bachtin-Lektüre – Autor-/TextKonzepte und Modelle für die spezifische Kommunikationssituation im literarischen Werk entstanden, während die westliche Literaturtheorie ausgehend von Wayne C. Booth (1961) die Vorstellung eines implied author diskutierte und alsbald überhaupt den ,Tod des Autors‘ verkün_________

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Konzepte der „Funktion Autor“ (z. B. Foucault) ausgegrenzt bleiben. – In seiner rekonstruktiven Studie zum formalistischen Autor-Funktionalismus setzt Veldhues diese „funktionalistischen“ Ansätze allen unter dem Überbegriff „personalistisch“ zusammengefassten Ansätzen entgegen, die auf die Autor-Person bezogen und damit „welt-referentiell“ argumentieren. Diese ein stark divergierendes Theoriefeld verkürzende Verallgemeinerung und die mehrdeutige Benennung sollen hier nicht übernommen werden. Zu einer kritischen Würdigung des Veldhues’schen Unterfangens siehe Aumüller 2006. Ab Mitte der fünfziger Jahre beginnt die Übersetzung der in der eigenen Wissenschaftskultur verpönten Arbeiten der Formalen Schule in westliche Sprachen, und es setzt eine folgenreiche, wenn auch lückenhafte Rezeption ein (vgl. Flaker 1973, 115).

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dete7, stagnierte in der Sowjetunion die Diskussion um den Autor ab den Sechzigern mehr oder weniger ganz. Vinogradov wandte sich erst wieder Ende der 1960er Jahre, also knapp ein Jahrzehnt später, dem Problem zu, ohne jedoch seine dem Autorbild gewidmete Arbeit noch zu Lebzeiten zu veröffentlichen und auch ohne das Problem seiner Meinung nach erschöpfend behandelt zu haben. Lediglich an der Peripherie der sowjetischen Wissenschaftslandschaft, in Borisoglebsk und später in I!evsk, unterhielt Boris Korman ab 1967 eine Schule, die sich in Anknüpfung an Bachtinsche und Vinogradovsche Konzepte ausdrücklich der Entwicklung einer anti-biographischen und anti-intentionalistischen Autortheorie verschrieb. Rückblickend wirken diese wenigen, nach 1960 entstandenen theoretischen Auseinandersetzungen mit dem Autor als Textfunktion vor dem Hintergrund der entsprechenden Theoriebildung andernorts allerdings anachronistisch. Sie konnten sich zudem im eigenen, noch konservativeren Wissenschaftsbetrieb nicht etablieren. In den letzten Jahren, im Zuge einer Entideologisierung und Aufarbeitung der „russischen Theorie“8 und eines (Re-)Imports von westlichen Theoriemodellen, lassen sich auf dem Hintergrund ,postmodernen‘ Erzählens erste Versuche eines neuen literaturwissenschaftlichen Zugangs zur Problematik ausmachen. Proklamiertes Ziel ist hier u. a. die Versöhnung der eigenen (über Jahrzehnte verdrängten) akademischen Tradition mit Theorieansätzen, die in erster Linie dem Poststrukturalismus entstammen. Diese Kontaminierung soll letztlich zu einem heuristischen Analyseapparat führen, mit dem sich auch die zeitgenössischen, ,metadiskursiven‘ Erzähltexte narratologisch beschreiben lassen.9 Die Geschichte der funktionalistischen ,Autortheorie‘ im hier fokussierten ,slavistischen‘ Segment des Wissenschaftsfeldes spielte sich also weder als eindeutige Erfolgsgeschichte noch linear ab. Sie fand vielmehr – und dies gilt vor allem für die Literaturwissenschaft auf dem Gebiet der _________ 7

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Einen Überblick über „personalistische“ (Veldhues), d. h. entstehungsgeschichtlich oder intentionalistisch argumentierende Ansätze der Zeit, die mit den dominanten funktionalistischen Modellierungen u. a. des new criticism und des Poststrukturalismus polemisierten, gibt Veldhues (2003, 77–118). Eine ausführlichere Diskussion einzelner Aspekte dieser Ansätze findet sich im Sammelband Rückkehr des Autors. Zur Erneuerung eines umstrittenen Begriffs (Jannidis/Lauer/Martinez/Winko [Hgg.] 1999); siehe auch Kindt/Müller (2002) zum „Biographismus“. Sergej Zenkin (2004, 7) schlägt vor, von einer „russkaja teorija“ in Analogie zur „French Theory“ zu sprechen. Er meint damit die „stürmische Erneuerung der Geisteswissenschaften, die in den zwanziger bis dreißiger Jahren stattfand und in bedeutendem Maße die spätere Entwicklung der ,französischen‘ Theorie prädestinierte“. Siehe z. B. die Arbeiten von Samorukova 2001 und 2002 (hier insb. Kap. II.1 zum Problem des Autors).

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Sowjetunion – häufig auf Nebenschauplätzen, an der territorialen Peripherie und in marginalen Texten (in zweitrangigen Artikeln, Briefen, Notizen, Arbeitsentwürfen, peripheren Publikationen) und manchmal lediglich in den im Zuge eines Theorieexports transformierten Weiterentwicklungen statt. Und doch lieferte sie bereits in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Ansätze und Modelle, die entweder heute gängige Basiskategorien der Narratologie vorwegnahmen oder Anregung lieferten für Fortentwicklungen und fruchtbare Kontaminierungen – zumindest in der Erzählforschung in Mittelosteuropa und in der westlichen Slavistik. Diese aktive Theoriebildung einer russischen bzw. slavistischen Proto-Narratologie rechtfertigt es, in einem ersten Schritt einen Blick zurück zu den Ursprüngen dieser Geschichte zu werfen und ihre Filiationen in historischer Folge darzustellen. In einem zweiten Schritt soll dann über die sowjetische Wissenschaftslandschaft hinaus in wenigen Zügen der tschechische und der polnische Strang einer Theoretisierung des Autors im Erzählwerk vorgestellt werden.

1. Das Problem mit dem Autor im Russischen Formalismus Auf den ersten Blick stellt der Autor für das funktionalistische literaturtheoretische Denken in Russland zu Beginn der 1920er Jahre gar kein Problem dar. Fällt er doch als außertextuelle Größe für den ausdrücklich nicht an produktionsästhetischen und kreationspsychologischen Fragestellungen orientierten formalistischen Ansatz überhaupt nicht in das klar abgesteckte Untersuchungsfeld. Was wir brauchen, ist die Sache selbst. Zudem ist das Verhältnis von Sache und Schöpfer kein funktionales. Hinsichtlich des Schriftstellers hat die Kunst drei Freiheiten: 1) die Freiheit, die Persönlichkeit unberücksichtigt zu lassen, 2) die Freiheit, aus der Schriftsteller-Persönlichkeit etwas auszuwählen, 3) die Freiheit, aus jedem anderen Material auszuwählen. Nicht das problematische Verhältnis sollten wir untersuchen, sondern die Fakten. (!klovskij 1925, 303) Wir lassen in unseren Arbeiten Fragen der Biographie und Psychologie unberücksichtigt, denn obgleich dies wichtige und komplexe Fragen sind, haben sie ihren Ort in anderen Wissenschaften. ("jchenbaum 1927c, 405)

Das angebliche Desinteresse der russischen Formalisten am Autor, ihr expliziter Anti-Biographismus, ist daher auch längst zum Allgemeinplatz geworden.10 Und doch haben sich im Umfeld des OPOJAZ schon früh leisere Stimmen zum Autor geäußert. _________ 10

Schon die Zeitgenossen unterstrichen den ,Anti-Biographismus‘ der Formalen Schule, in dem sie eine Parallele zu Wölfflins Kunst ohne Namen sahen (Striedter 1969, XIX). In seiner umfangreichen Monographie Formalistischer Autor-Funktionalismus weist Veldhues (2003) allerdings nach, dass sich der Formalismus durchaus als „autorbezogene Literatur-

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Noch bevor ab Mitte der zwanziger Jahre der Autor als imaginäre Bezugsperson eines Werkkorpus und dann im Zuge einer literatursoziologischen Neuorientierung der Formalisten auch als Produkt der Literaturpragmatik zunehmend ins Zentrum eines dann nicht mehr nur textimmanent ausgerichteten Interesses rückt, lassen sich bereits um 1920 bei den Vertretern der formalistischen Theorie erste Überlegungen zum Autor finden. Während die ,großen‘ Formalisten in ihren frühen erzähltheoretischen Untersuchungen das Phänomen des skaz beschrieben, ohne den Autor ausdrücklich zu fokussieren, nehmen sich in kurzen Artikeln Schüler und Epigonen in einem ersten Anlauf auch des Autors als Textfunktion an.11 Ihre Vorschläge bleiben in der weiteren Theorierezeption zwar eher marginal, bilden aber die Diskussionen ab, die um die Publikationen des OPOJAZ herum in den Lehrveranstaltungen, Vorträgen und Diskussionsrunden der literarischen Salons der späten zehner und zu Beginn der zwanziger Jahre geführt wurden. Mit ihren Versuchen, das Verhältnis von Autor, Erzähler und Figur zu systematisieren, gehören diese Beiträge zu den Studien, in denen sich Popularisatoren um Kodifizierung des ,neuen literaturtheoretischen Denkens‘ bemühten. Dass gerade in diesen randständigen Arbeiten der Versuch unternommen wurde, die formalistischen Theoreme zu systematisieren, die Definitionen festzuschreiben und ein geschlossenes methodisches Lehrgebäude zu erstellen, wurde von den Formalisten selbst mehr oder weniger billigend reflektiert. In seiner bilanzierenden Selbstbeschreibung Theorie der „formalen Methode“ weist Boris !jchenbaum (1927c) nach zehn Jahren OPOJAZ explizit darauf hin, dass der russische Formalismus kein geschlossenes System darstelle (375) und auch im Sinne einer sich in Auseinandersetzung mit dem Gegenstand dynamisch entwickelnden Theorie an einer solchen „formalen Methodologie“ nicht interessiert sei. Allerdings sei im Anschluss an die Arbeiten der frühen Phase (1916–1919), in denen die Funktion des Lautmaterials in der Verssprache, der Unterschied zwischen poetischer und praktischer Sprache, das literarische Verfahren (priem), Fragen der Komposition (sju!et) und der skaz verhandelt worden seien, auch noch eine ganze Reihe von _________

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wissenschaft“ auffassen lässt. Um die auf Biographien fokussierte literarische und literaturhistorische Praxis der angeblich „anti-biographistischen“ Formalisten zu erklären, rekonstruiert Veldhues überzeugend aus ihren Arbeiten eine text- bzw. systemsemantisch fundierte, funktionale Biographie-Theorie, die er „systempoetischen Autor-Funktionalismus“ nennt. Neben Il’ja Gruzdev, um dessen Masken-Modell es im Folgenden genauer gehen wird, streift auch Aleksandra Veksler in ihren Literaturrezensionen (z. B. 1919a; 1919b; 1925) explizit die Problematik des Autors. Vgl. außerdem die Beiträge der Buslaev-Schülerin Marija Rybnikova, die zwar nicht als Anhängerin der Formalen Schule zu bezeichnen ist, sich aber in ihren Arbeiten zu Fragen der Komposition (1923; 1924), besonders in ihrer Untersuchung zu Evgenij Onegin, im Diskussionsfeld formalistischer Ansätze bewegt.

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Untersuchungen im weiteren Umfeld des Formalismus entstanden (393). Diese Arbeiten hätten die von den Theoretikern des OPOJAZ angestellten Überlegungen aufgegriffen, seien dabei aber bemüht, die neuen Begrifflichkeiten in eine (mehr oder weniger) eindeutig definierte Terminologie und die formale Methode in ein besonders auf dem Gebiet der Literaturkritik einsetzbares Analyseinstrumentarium zu verwandeln (375 f.).12 Exemplarisch soll diese Systematisierung an Il’ja Gruzdevs13 skazKonzept, das mit einem sprachlich maskierten Autor arbeitet, vorgeführt werden. Denn bei Gruzdev zeigen sich bereits erste Spezifika des slavischen Autor-Funktionalismus: Anders als später bei Genette wird in diesen Modellierungen die textimmanente Sprechsituation nicht auditiv (als Stimme), sondern als perzeptives Moment profiliert: als Maske oder (Ab-)Bild des textuellen Autors14 – eine Begrifflichkeit, die bereits auf die späteren, stärker literatursoziologischen Ansätze vorausweist, bei denen die Konstruktionsmechanismen aus Rezipientensicht unter funktionalen Gesichtspunkten fokussiert werden. Konsequenter als in spätformalistischen Modellierungen sowie den Modellen Vinogradovs und mancher Korman-Schüler, ja selbst in den strukturalistischen Erweiterungen wird von Gruzdev ein textpoetischer Ansatz verfolgt, der den Autor als konstruktiven Faktor fasst und darauf insistiert, dass ein kategorialer Unterschied zwischen der lebensweltlichen Autor-Person außerhalb des Textes und den auktorialen Stellvertretern im Text besteht – seien diese nun explizite „Rede-Masken“ oder implizite, durch den Text evozierte Vorstellungen einer Autor-„Person“.

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!jchenbaum nimmt in seinem Resümee eine Zweiteilung des Formalismus in eine frühe Phase von 1916–1919 und eine spätere (Fragen der Evolution gewidmete) Phase von 1919–1925 vor. In der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre lässt sich eine dritte Phase ausmachen, die vor allem von !jchenbaums literatursoziologischen Arbeiten und Tynjanovs Fortentwicklung der Evolutionstheorie charakterisiert wird. Dieser zeitlichen Selbstperiodisierung korrespondiert die von Hansen-Löve (1978) vorgenommene, vorrangig typologische Einteilung in Formalismus I, II und III. Il’ja Gruzdev (*1892 †1960), Literaturkritiker und -theoretiker und später anerkannter Gor’kij-Biograf, ist in seinen frühen, literaturkritischen Arbeiten deutlich vom Einfluss "klovskijs, !jchenbaums und Tynjanovs geprägt, deren Seminare er Ende der zehner Jahre besuchte. Gemeinsam mit Lev Lunc und Viktor "klovskij entwickelte er die Programmatik der literarischen Gruppe Serapionsbrüder zu Beginn der zwanziger Jahre (vgl. "klovskij 1923, 193). Das terminologische Metaphernfeld berührt sich augenfällig mit literarischen und religionsphilosophischen Diskursen der Jahrhundertwende, die um Ver- und Enthüllung, um Verbergen und Offenbaren, um maska (Maske), lico (Gesicht/Person), li!ina (Maske, Larve), lik (Antlitz), oblik (Gesicht/Gestalt), obraz (Bild/Gestalt, Abbild, Ikone) kreisen. Zur Masken-Debatte im Silbernen Zeitalter siehe Goldt (2007).

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a. Il’ja Gruzdevs ,maskierter Autor‘ In mehreren zu Beginn der 1920er Jahre erschienenen Artikeln15 führt Il’ja Gruzdev den Begriff der Maske zur Bezeichnung illusionärer Effekte literarischer Texte ein, die den Rezipienten veranlassen, Verfasser und Erzähler einer Geschichte als miteinander identisch anzunehmen. Apodiktisch lässt Gruzdev die ausgearbeitete Fassung seiner Arbeit, die in ihrer Berliner Redaktion Gesicht und Maske (Lico i maska, 1922a) heißt, mit der Behauptung beginnen: „Der Künstler ist immer eine Maske“ (207). „Maske“ meint hier nicht etwa die literaturpragmatische Rolle des „Schriftstellers“, sondern den vom Leser oder Wissenschaftler auf einen Autor (rück-)projizierten literarischen Text oder, genauer, die Summe der den Text generierenden Verfahren in ihrer Kunstfertigkeit und Künstlichkeit: Die Seele des Künstlers in ihrer Ursprünglichkeit erkennen zu wollen ist aussichtslos. Seine Seele ist im Aufbau, in der Organisation verkörpert und als solche bietet sie sich uns dar. Nicht als Wahrheit, sondern als Lüge, nicht als Gesicht, sondern als Maske. Sie spricht nur mittelbar von ihrem Urbild, entweder durch deutliche Unähnlichkeit oder durch gezielte Ähnlichkeit. (Gruzdev 1922b, 2, Sp. 1)

Den Grund für den hier so vehement deklarierten Unterschied zwischen Autor als Textfunktion und Autor als Urheber des Textes sieht Gruzdev allerdings nicht in ihrer ontologischen Differenz. Er leitet ihn vielmehr vom künstlerischen Wert des Textes ab, begründet ihn also axiologisch. Ein Autor als Textfunktion lässt sich nur dort finden, wo wir es nicht mit „tendenziösen“ Texten zu tun haben. In „unmaskierter“, „ehrlicher“ Tendenzliteratur tut sich auch für Gruzdev der Urheber ungebrochen kund und ist die Redeinstanz mit dem außertextuellen Autor in eins zu setzen.16 Hingegen ist in künstlerisch überformten bzw. im _________ 15

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Der erste Artikel von 1921 Über die Maske als literarisches Verfahren. Gogol’ und Dostoevskij, ein knapper Diskussionsbeitrag in Form einer Buchbesprechung, präsentiert in besonders prägnanter Weise Gruzdevs Kategorisierungsvorschlag für unterschiedliche Erzählertypen, die aufgrund ihrer Explizitheit eine Identifizierung mit dem Autor als Verfasser des literarischen Textes nahe legen. (Dieser Artikel liegt in meiner Übersetzung und mit Kommentaren versehen vor in: Schmid [Hg.] 2009, 179–193.) Seine Überlegungen verfolgt der Verfasser in einem umfassenderen Aufsatz und an zusätzlichem Belegmaterial in einer späteren Publikation weiter, die unter abweichenden Titeln beinahe zeitgleich in Sowjetrussland und in Berlin erschien (Gruzdev 1922a und 1922b). Während in dieser Langfassung das Pathos auf der Nicht-Identität von Autor und Erzähler liegt (Kap. 1 bis 4), wird die Erzählertypologie nur noch verkürzt (ein Teil von Kurzkapitel 5 des in acht Kapiteln gegliederten Aufsatzes) und durch eine leicht veränderte Terminologie auch unklarer dargelegt. Ähnlich und ebenfalls unter Verwendung der Masken-Metapher argumentiert Andrej Belyj 1922 in Aufzeichnungen eines Sonderlings (Zapiski !udaka), um den Unterschied zwischen dem Textsubjekt eines fiktionalen, sujethaften Textes und dem durch sujetlose Anhäufung von „Material“ repräsentierten Subjekt seines ,Textexperiments‘ zu markieren. Er

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formalistischen Sinne „deformierten“ literarischen Texten die Differenz der beiden Größen gegeben, wobei der ästhetische Wert und damit der künstlerische Anspruch für Gruzdev umso höher steigt, je „lebendiger“ die Maske des Autors gestaltet ist. Stellt der literarische Text seine Gemachtheit in der Betonung der Verfahren zur Schau, ist er zwar künstlerisch, jedoch vergleichbar einer „toten Maske“, hinter der der Verfasser unsichtbar bleibt. In besonders kunstvollen Texten hingegen kann es durch gekonnte Illusionserzeugung und mit Hilfe von auf den Verfasser verweisendem „Material“ gelingen, die „Maske“ geradezu belebt erscheinen zu lassen. Sie bleibt zwar auch dann weiterhin textuelle Maske, vermag jedoch, den Eindruck eines wahren „Gesichts“ des Autors zu erzeugen. Die Verfahren generieren in diesem Falle die Vorstellung einer Autor-„Person“ (lico). Die Kunst beseelt sich gerade durch die Verschleierung des Verfahrens, durch die Maskierung ihrer Schemata mit Hilfe der Einführung von unendlich vielgestaltigem lebensweltlichem, ideologischem und psychologischem Material, das die Illusion einer nicht etwa künstlichen, sondern aufs äußerste „realistischen“ Welt erzeugt. […] Und nur durch diese „unendlich kleinen“ [Elemente], die sich funktional in die gesamte künstlerische Organisation einfügen, führt der Weg zu Rückschlüssen auf den Künstler, auf seine künstlerischen Spezifika, seine Form der Weltwahrnehmung, auf Größe und Beschaffenheit seines Brechungswinkels. Hier findet sich das wahre „Gesicht“ des Künstlers, seine schöpferische „Seele“. (Gruzdev 1922b, 3, Sp.1 u. 2)

Beide von Gruzdev eingeführten Begriffe – Maske (maska) und Gesicht/ Person (lico) – meinen somit auktoriale Textfunktionen bzw. jeweils spezifische Verfahren und nicht etwa, wie die Opposition suggeriert, den innertextuellen Autor („Maske“) und den von der „Autor-Maske“ bzw. dem Erzähler verdeckten außertextuellen Autor („Gesicht“).

_________ nennt den Textautor „Schriftsteller“, den es zu „entlarven“ gilt und dem in der autobiographischen Collage der „Mensch“ entgegensteht: „sich die Maske herunterreißen, den Schriftsteller entblößen und von sich als von einem auf ewig erschütterten Menschen erzählen“ (Belyj 1922, 63f.). Vgl. hierzu die !klovskij-Schülerin Aleksandra Veksler, die in ihrer Rezension Maski konsequent ,formalistisch‘ argumentiert: „dafür [um zum Menschen hinter der Maske des Schriftstellers zu gelangen; C. G.] verzichtet er [Belyj] auf das Verfahren, auf den Form gebenden Prozess, der die psychologischen Elemente des Bewusstseins in ästhetische umwandelt – in Bilder und Sujets, er will, indem er innerhalb der Kunst verbleibt, das Grundgesetz der Kunst widerlegen, demzufolge der Künstler als seelisches Phänomen sich in Kompositionselemente verwandelt und sich dem Kompositionsplan unterordnet“. Veksler (1919b, Teil 2, 148) kommt in ihrer Rezension zu dem Schluss, dass Belyjs Versuch, sich von den Verfahren zu befreien, missglücken muss, da sich ohne Verfahren kein Material präsentieren lasse. Und auch bei Belyj führe das Vorhaben, „die Phrase zu zerfetzen“ dort, wo das Material nicht auseinander falle, zu der für ihn typischen gerade auf die Einheit der Phrase aufbauenden „rhythmischen Prosa“ und damit zu einer künstlerischen Verfremdung des Gesichts hinter der Maske.

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Ich doppele die Begriffe ,Gesicht‘ und ,Maske‘ nicht des Wortspiels wegen, vielmehr spiegeln diese zwei literarischen Verfahren Phänomene wider, von denen im ersten Teil des Artikels die Rede ist. (Gruzdev 1922a, 219)

Im hier erwähnten ersten Teil des Artikels verweist Gruzdev auf das wie ein Prisma wirkende Material, das in seiner jeweils verschiedenartigen, künstlerischen Bearbeitung eine gebrochene Widerspiegelung des Autors liefert und unterschiedliche Rezeptionseffekte erzeugt. Während in diesen einleitenden, allgemeinen Ausführungen bereits die Anfänge eines struktursemantischen Autor-Modells zu erkennen sind, das unter den Begriff Maske den gesamten Aufbau des literarischen Textes samt Material und Verfahren fasst, fokussiert Gruzdev im Folgenden den Sonderfall – die durch narrative Verfremdung besonders profilierte Erzählinstanz, die durch ihre Explizitheit oder durch ,autobiographisches‘ Material ein Angebot zur Identifizierung mit dem Verfasser darstellt. Die beiden Begriffe Maske und Gesicht/Person erlauben es Gruzdev, für unterschiedliche Ausformungen der Kommunikationsstruktur im Erzählwerk eine Erzählersystematik zu entwickeln, die vom Skaz-Erzähler als „Redemaske“ des Autors bis hin zur „Autorfigur“, einem Spiel mit der illusionären Identität von Autor und Erzähler, reicht. Der aus Jurij Tynjanovs Arbeit Dostoevskij und Gogol’. Zu einer Theorie der Parodie (1921) übernommene „Masken“-Begriff bezeichnet bei Gruzdev nicht mehr eine besonders typisierte Figurengestaltung, sondern eine spezifische Erzählform – den Skaz als Rede-Maske. Wie schon Boris !jchenbaum sieht auch Gruzdev den Effekt des Skaz im Rahmen seiner Autor-Poetik nicht ausschließlich in der verfremdeten Erzähler- oder Figurenrede, vielmehr „[wird] die Maske im Prozess des Erzählens aufgedeckt“ (Gruzdev 1921, 6; dt. in Schmid [Hg.] 2009, 181). Dies geschieht durch die für den Rezipienten zunehmend wahrnehmbare Differenz von expliziter Erzähler-Maske und impliziter auktorialer Textintention. In !jchenbaums Skaz-Konzeption war von der zur Statue erstarrten theatralischen Pose des Erzählers die Rede gewesen, die dem Regie führenden Textautor gegenübergestellt wird: „Seine [Gogol’s] handelnden Personen sind zu Stein gewordene Posen. Über sie herrscht als Regisseur und eigentlicher Held der belustigende und spielerische Geist des Künstlers“ (!jchenbaum 1919, 131). Gruzdevs Hauptaugenmerk liegt auf einer unter den Begriff AutorMaske gefassten Erzählertypologie, mit der er an der formalistischen Theorie des „Autor-skaz“ (Hansen-Löve) teilhat. Für seinen Beitrag gilt, was Veldhues für die gesamte frühformalistische Autor-Poetik festhält: Diesem Projekt verdanken sich wesentliche Erkenntnisse der formalistischen Narrativik zumal im Bereich der erzählsituationalen Bedeutungsanalyse (Erzählform, -stimme, -perspektive), angefangen bei der definitiven Differenzfeststel-

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lung zwischen Autor und Erzähler, so autobiographisch sich dieser auch geben mag […]. (Veldhues 2003, 279)

Die zweite, von Gruzdev herausgestellte auktoriale Funktion (AutorPerson oder Gesicht), die als Effekt einer Reihe von Verfahren wie Einführung von autobiographischem Material oder Parekbase auftritt und im Rezipientenbewusstsein eine Vorstellung von einer diegetischen „Autorfigur“ entstehen lässt, wird in den Arbeiten von 1921 und 1922 nicht weiter ausgeführt. Diesem Problem widmen sich ab Mitte der 1920er Jahre die Formalisten der ersten Generation in Arbeiten zur Autobiographizität; vorrangig am Beispiel der Lyrik entwickeln sie weiter reichende Aspekte einer funktionalen Autorpoetik.

b. Das Konzept der literarischen Persönlichkeit im Spätformalismus In den Studien des Spätformalismus, die sich mit dem Problem des Autors im literarischen Leben (literaturnyj byt) und mit dem Verhältnis von biographischem Material und textuellen Autorrepräsentationen befassen, werden erneut beide terminologischen Metaphern – Maske und Gesicht/Person – eingesetzt.17 Der von Gruzdev vorrangig für den „Autorskaz“ vorgeschlagene Maskenbegriff eignet sich aufgrund der Theaterkonnotationen augenscheinlich auch für die Modellierungen der Illusionserzeugung in „pseudo-autobiographischen“ (lyrischen) Texten: der maskierte Autor, der ,scheinbar‘ eine Figur des Werks ist, seine ,gespielte Identität‘ mit dem Urheber des Textes, die trügerische ,Authentizität‘ des lyrischen Ich durch die Ähnlichkeit der Maske mit den Vorstellungen vom empirischen Autor, die lyrische persona als Rolle.18 Die Maskierung, die die kategoriale Unterscheidung zwischen dem Autor als Urheber eines Textes und dem Autor als Thema bildlich als ,Textinszenierung‘ kennzeichnet, zielt in ihren formalistischen Verwendungszusammenhängen allerdings nie auf eine De-Maskierung und damit Ergründung des ,wahren‘ Gesichts hinter dem textuellen Repräsentanten. Die „Maske“ hebt vielmehr den Aspekt der wahrnehmbaren Differenz hervor – im Gegensatz zur raffinierteren „Schminke“ (grim), die Ähnlichkeit herzustellen vermag. _________ 17

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Vgl. z. B. !jchenbaum (1923, 132): „In der Dichtung ist das Gesicht des Dichters eine Maske. Je weniger Schminke aufgetragen ist, umso wahrnehmbarer ist der Kontrast. Es ergibt sich ein besonderes, ein wenig unheimliches Verfahren, das der Zerstörung der theatralischen Illusion ähnelt. Für den echten Zuschauer wird das Theatralische dadurch jedoch nicht aufgehoben, im Gegenteil – es wird verstärkt“; hierzu auch Hansen-Löve (1978, 314, Fn. 527). Vgl. zu dem vor allem in der anglistischen Lyrikanalyse seit den 1960er Jahren verbreiteten funktionalistischen persona-Konzept, das sich auf die antike Maske des Schauspielers bezieht, Charpa 1985.

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Mit Recht hat man gesagt, dass, wenn der Schauspieler die Maske fallen lässt, die Schminke zum Vorschein komme. […] Der Künstler treibt gleichermaßen ein Spiel, wenn er verkündet, dass es diesmal nicht um Dichtung, sondern um die nackte Wahrheit gehe […]. (Jakobson 1933/34, dt. 70, kursiv im Original)

Verbreiteter allerdings ist zur Beschreibung der Verfahren, die diesen illusionären Effekt hervorrufen, der Rückgriff auf Gruzdevs zweiten Begriff Gesicht/Person bzw. die Verwendung ähnlich ambivalenter Bezeichnungen (lico – Gesicht/Person; oblik – Antlitz/Gestalt, geroj – Held/Figur, obraz – Bild/Gestalt).19 Mit ihnen konzeptionalisiert vor allem Jurij Tynjanov das stilisierte Subjekt lyrischer Texte. Aus Gruzdevs Autor-Gesicht/Autor-Person (avtorskoe lico) wird bei Tynjanov über die Zwischenstufe des lyrischen Helden (liri!eskij geroj) die literarische Persönlichkeit (literaturnaja li!nost‘). Dieses Konzept meint die Autorvorstellung im Rezipientenbewusstsein, die sich, obgleich die personale Bezeichnung anderes suggeriert, ausschließlich aus text- und werkimmanenten Funktionen speist. It is true that Tynjanov included the subject (especially the author) among his theoretical topics, but by ,de-psychologizing‘ and ,de-subjectivizing‘ him. Tynjanov ended by fusing the subject with the literary system. (Steiner 1984, 129)

Die literarische Persönlichkeit übersteigt den abgeleiteten textuellen Autor eines (lyrischen) Einzeltextes und meint eine systemsemantische Größe, mit der sich die im gesamten Werk eines Verfassers stattfindende Konstruktion eines Werkautors beschreiben lässt.20 In Tynjanovs Modellierung lässt sich darüber hinaus bereits eine die strenge Textimmanenz überschreitende Kontextualisierung erkennen, die die literarische Persönlichkeit zu einer historisch dynamischen Größe werden lässt. Die Vorstellung des Dichters Aleksandr Blok im Bewusstsein seiner Leser, so kann man den Andeutungen Tynjanovs entnehmen, rekurriert nicht nur auf das literarische Werk, sondern auch auf ein bereits vor den Texten im kulturellen Bewusstsein existierendes Bild vom Dichter als solchem.21 _________ 19 20

21

Vgl. zur Ambivalenz der Begriffe auch Veldhues 2003, 279, Fn. 196. Vgl. ausführlich zu Tynjanovs Konzept einer „,gemachte[n]‘ auktoriale[n] Persönlichkeit als Funktion der um einen Autor-Namen gruppierten Bedeutungen“ (264) die Studie von Veldhues 2003. In diesem Aspekt der literarischen Persönlichkeit nimmt Tynjanov Überlegungen des tschechischen und vor allem des polnischen Strukturalismus vorweg, die die Beziehung des Kontextes zur Sinnintention des literarischen Textes und die Rolle des eine Autorvorstellung konstruierenden Rezipienten funktional zu erklären suchten. Ähnliches findet sich auch später in Lotmans kultursemiotischen Untersuchungen, unter anderem in seiner Pu"kin-Biografie und in seinem Kommentar zur Evgenij Onegin. Aktuell ist die pragmatische Narratologie mit diesem Problemkreis befasst, wenn sie die Sinngenerierung eines Textes durch die Aktivierung von scripts im Rezipientenbewusstsein gesteuert sieht.

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Im Kontext der literatursoziologischen Untersuchungen des Spätformalismus zum literarischen Leben und u. a. zur Schriftstellerbiographie verliert das Konzept der Autor-Person (avtorskoe lico) – insbesondere bei !jchenbaum – endgültig seine rein textfunktionale Ausrichtung. Das avtorskoe lico des Schriftstellers ist auch ein Produkt des literaturnyj byt seiner Epoche und der ,Selbststilisierung‘ der eigenen byt-Position. Hier erhält der frühe formalistische Begriff der (stilistischen) Maske (maska) […] den soziokommunikativen Charakter des „image“, das jeder Künstler unweigerlich aufbaut bzw. aufgedrängt erhält. (Hansen-Löve 1978, 416)

Obgleich hier das Modell eines Autors zur „kulturwissenschaftlichen“ Kategorie wird (Veldhues 2003, 185)22, bleibt auch in den spätformalistischen Arbeiten die prinzipielle Differenz zwischen der biographischen Persönlichkeit im Leben einerseits und ihrer Repräsentation in den Texten und im über Texte rekonstruierbaren Literaturbetrieb andererseits bestehen.23 Der Autor wird auch hier als konstruktive Größe aufgefasst, die das „Produkt“ einer Reihe von ,Material‘-Bedingungen ist. Der Schriftsteller, seine Biographie, seine Autor-Person (sein Autor-Gesicht) wird von den modernen Wissenschaftlern also nicht als Voraussetzung des literarischen Schaffens angesehen, sondern als Produkt unterschiedlicher Bedingungen. (Aronson 1928, 16)

Die in den Arbeiten der Formalisten begonnene Theoretisierung eines funktional aufgefassten Autors bricht Ende der 1920er Jahre mit der Verdammung der Formalen Schule ab. Deren Prämissen haben allerdings auch dreißig Jahre später noch keineswegs an Sprengkraft verlo_________ 22

23

Diese spätformalistische Tendenz, den Gegenstandsbereich Literatur zu überschreiten, setzt sich in der Wiederaufnahme des Masken-Begriffs bei Jurij Lotman fort. In seinen kultursemiotischen Arbeiten taucht die „Maske“ als Terminus für gesellschaftlich kodierte Rollen auf. Die als Text betrachtete Alltagskultur hält diese Rollen (oder in Lotmans Terminologie „Masken“) bereit (z.B. Lotman 1976, 295 f. oder Lotman 1981, 160). – In neueren russischen Textanalysen wird der Begriff – trotz des Rückgriffs auf Gruzdev – eher mit Bezug auf den empirischen Autor eingesetzt: Das Erzählen in einer „Maske“ wird als Verschleierungsmanöver identifiziert und durch Aufdeckung des vermeintlich autobiographischen Gehalts das Spiel des Verfassers mit seinem Leser „entlarvt“ (Ljutikova 1996, Os’muchina 1997; 2002, mit Einschränkung auch Grishakova 2006). – Vgl. hingegen Drozda (1990), der in konsequenter Anwendung des formalistischen Maskenkonzepts russische Erzähltexte untersucht, die gezielt mit der illusionären Authentizität ihres auktorialen Erzählers spielen. – Im internationalen Theoriediskurs ist der Begriff der Maske u. a. bei Paul de Man (1979) anzutreffen, der die Autobiographie als Trope, als Prosopopöie, auffasst, als rhetorisches Spiel der Maskierung und Demaskierung des sich erzählend konstituierenden Subjekts. – In die Analyse postmoderner Erzähltexte führt Malmgren (1985) den Begriff der Autormaske (author’s mask) ein zur Beschreibung metatextueller Phänomene wie z. B. der Metalepse. Zum Verhältnis von Biographie und literarischem Werk vgl. auch Toma"evskij 1923, außerdem die in den eigenen Reihen heftig umstrittene Einschränkung einer rein funktionalistischen Position bei !jchenbaum, u.a. in seiner Tolstoj-Biographie (1927a, 1927b, 1928); vgl. des weiteren Jakobson (1937) und alternativ zu den formalistischen Ansätzen der Zeit Vinokur (1927).

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ren: Gerade der Verdacht einer formalistischen Kontaminierung ist es, der das Autorbild von Viktor Vinogradov, eine alternative Autorkonzeptualisierung aus dieser Zeit, in der ideologischen Auseinandersetzung um die werkimmanente Methode im Jahre 1960 zum Stein des Anstoßes werden lässt.

2. Vinogradovs Autorbild – Frühe Ansätze eines implied author Etwa zeitgleich mit Il’ja Gruzdevs auf einen spezifischen Typus von Erzähltexten fokussiertem Konzept der Autor-Maske begann Anfang der zwanziger Jahre der damals der Formalen Schule nahe stehende Viktor Vinogradov24 eine umfassende Theorie der poetischen Sprache zu entwickeln. Eine ihrer Basiskategorien stellte ein Konzept vom Autor im literarischen Text dar, das in der Folge unter dem Etikett Autorbild (obraz avtora) bekannt wurde.25 Der Begriff fand allerdings erst um 1960 Eingang in die russischsprachige Literaturwissenschaft26, wurde dann aber bald zu einer auch heute noch gängigen terminologischen Größe. Bei genauerer Betrachtung allerdings erweist er sich als vieldeutiges und unscharfes begriffliches Passepartout. Vergleicht man die Definitionen des Autorbilds in einschlägigen kodifizierenden Werken unterschiedlicher Zeiten, stößt man auf auffällige Widersprüchlichkeiten. Sie sind nicht nur den Verfassern der Einträge, sondern auch dem Urheber _________ 24

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Viktor Vinogradov (*1894/1895 †1969) gehört noch heute mit seinen vielseitigen Untersuchungen zu den auch international hoch angesehenen russischen Sprach- und Literaturwissenschaftlern. Seine glänzende Universitätskarriere begann er in inhaltlicher Nähe zur formalen Schule. Im Unterschied zu seinen formalistischen Altersgenossen und zu Michail Bachtin gelang es ihm bald, sich im offiziellen akademischen Betrieb zu etablieren. Dennoch verlief auch seine Laufbahn nicht unberührt von den Zeitumständen. 1934 wurde er im „Fall der russischen Faschisten“ zu drei Jahren Verbannung verurteilt. Ihm und einer Reihe weiterer Wissenschaftler (darunter auch Michail Petrovskij) wurde die Mitgliedschaft in einer Organisation vorgeworfen, die in der Sowjetunion herausgegebene deutsche Wörterbücher gezielt „faschisiert“ habe (Gus’kova 1995, 184). Ab 1959 leitete Vinogradov das heute nach ihm benannte Institut für russische Sprache an der Akademie der Wissenschaften der UdSSR. Grübel (1999, 1263) sieht in den beiden linguistisch (Individualstil) bzw. literaturwissenschaftlich (Autorbild) motivierten Modellierungen des Untersuchungsgegenstands Vinogradovs Schwanken zwischen einer linguistischen und ästhetischen Poetik. Auf dem Internationalen Slavistenkongress 1959 hatte Vinogradov in diesem Sinne eine „neue Wissenschaft der poetischen Sprache“ gefordert, die zur dritten Disziplin der Philologien hätte werden sollen (Vinogradov 1960a). Vgl. z. B. Kratkij slovar’ literaturoved!eskich terminov von 1958, in dem Autorbild noch ohne eigenes Lemma unter Autorrede als Synonym zum auktorialen Erzähler abgehandelt wird. Siehe auch die Versuche von Dmitrij Licha!ev (1960, 57–58), Vladimir B. Kataev (1966) und Aleksandr N. Sokolov (1968) nach der Diskussion von 1960 das Vinogradovsche Konzept weiterzuentwickeln – und Vinogradovs kritische Reaktion auf diese Bemühungen (1971, 107–116).

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des Begriffs zur Last zu legen, denn die Begriffsentwicklung zieht sich, ohne an Eindeutigkeit zu gewinnen, durch Vinogradovs gesamtes literaturwissenschaftliches Schaffen. Selbst in der 1971 postum veröffentlichten Schrift mit dem programmatischen Titel Das Problem des Autorbildes in der Literatur findet die Konzeption keinen Abschluss, im Gegenteil, sie wird auch hier in der ihr eigenen, widersprüchlichen Vielgestaltigkeit präsentiert. In einem marginalen Text dieser Zeit allerdings, in einem Arbeitsplan aus dem Nachlass, der eine weitere ,endgültige‘ theoretische Abhandlung zum Autorbild vermerkt, bietet Vinogradov eine letzte, (beinahe) umfassende Definition seines Konzepts: Meinem Verständnis nach ist das Autorbild das Zentrum, der Fokus, in dem sich alle Verfahren der Wortkunst kreuzen, vereinen und synthetisieren. Das Autorbild ist eine Struktur von Sprache und Rede, die den ganzen Bau des Kunstwerks durchdringt und die durch die Verbindung und gegenseitige Einwirkung aller seiner Elemente bestimmt ist. (Zit. nach Licha!ev 1971, 231)

Autorbild meint also die summierende Strukturgröße eines literarischen Werks, das Zentrum aller Verfahren und damit aller Werkelemente. Gleichzeitig ist das Autorbild für Vinogradov ein historischen Wandlungen unterliegendes Stilphänomen, das in „individualisierter“ Form erst in einem spezifischen kulturgeschichtlichen Kontext auftritt.27 Das Autorbild als neue und spezifische Kategorie der Literatur in ihren individuellen Ausprägungen löst in der russischen Literaturgeschichte erst in den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts die allgemeinen, für die Genres jeweils typischen Autorschemata ab. In gewissem Grade ist das Problem des Autorbilds verbunden mit der Herausbildung eines Persönlichkeits-Begriffs in der Geistesgeschichte. (Zit. nach Licha!ev 1971, 231)

Vinogradov sieht sein Autorbild nun allerdings nicht nur durch objektivierbare Textgegebenheiten determiniert, die ab einer bestimmten literaturhistorischen Epoche als Individualstil in Texten nachzuweisen sind, sondern auch durch den konstruktiven Akt der jeweiligen Rezeption und damit zusätzlich durch die Brechung in einem historisch sich wandelnden Leserbewusstsein. Das [Autor-] Bild ist gleichzeitig Abdruck des schöpferischen Bewusstseins seines Analytikers oder Anhängers und außerdem Widerspiegelung objektiver künstlerischer Stileigenheiten und Eigenheiten der Persönlichkeit, die Gegenstand der Untersuchung ist. (Vinogradov 1971, 156)

_________ 27

Die historische Bedingtheit von Autorschaft und damit die Frage nach dem Autor innerhalb und außerhalb des Textes, die vor allem in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts im Kontext der Theoretisierung eines problematisch gewordenen Subjekts immer wieder behandelt wird (z. B. Foucault, Barthes), findet sich nicht nur bereits bei Vinogradov, sondern auch in formalistischen Arbeiten der Zeit, z. B. in Toma"evskijs Untersuchung Literatur und Biographie (1923).

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In diesem letzten Definitionsversuch wird das Autorbild als struktursemantische und generative Größe gefasst, die dem literarischen Einzeltext implizit ist. Darüber hinaus meint das Autorbild aber auch ein Rezeptionsphänomen, eine von individuellen und kulturhistorischen Subjektivitätsauffassungen geprägte Abduktion der personalisierten Vorstellung vom Autor. In der langjährigen Entstehungsgeschichte der ,Autortheorie‘ Vinogradovs sind diesen Bestimmungen zusätzliche Begriffsextensionen an die Seite getreten, die das Konzept letztlich zu einem inkonsistenten Konglomerat von sehr unterschiedlichen Modellierungsansätzen machen.28 Andererseits ermöglichte eben dieser Facettenreichtum eine Reihe produktiver Weiterentwicklungen im Zuge einer sich entwickelnden Narratologie – etwa bei Boris Korman, Nikolaj Rymar’/Vladislav Skobelev, bei den polnischen Strukturalisten um Janusz S!awi"ski und für die westliche Narratologie bei Wolf Schmid.

a. Die Entwicklung des Begriffs Autorbild Das Autorbild hat seine Wurzeln in Vinogradovs frühen Untersuchungen zur Stilistik, in denen noch mehrere Bezeichnungen nebeneinander auftreten29 und auch die Verortung – als immanentes Textphänomen oder als kreationspsychologische, außertextuelle Bezugsgröße noch nicht entschieden ist. Einerseits bezieht Vinogradov den Begriff auf den biographischen Autor und sein „Bewusstsein“, auf das der Individualstil verweist. Im Unterschied zu den Formalisten will er „das schöpferische, aktive individuelle Moment der Auswahl und Organisierung hinsichtlich eines ästhetischen Ziels, das vom Produzenten bestimmt ist“ (Lachmann 1974, 107 f.) untersuchen. Andererseits fasst er darunter auch eine funktionale Größe des literarischen Texts, die sich aus der Summe der Darstellungsverfahren als Vorstellung vom Autor ergibt. Diese Ambivalenz wird Vinogradovs Konzept nie gänzlich ablegen, Rainer Grübel bezeichnet das Autorbild daher auch als „Schwundstufe des künstlerischen Subjekts“ (Grübel 1999, 1264). _________ 28

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Vgl. dazu auch die von mir u. d. T. „Zum Autorbild“ ausgewählten, übersetzten, kommentierten und annotierten Auszüge aus verschiedenen Texten Vinogradovs in Schmid (Hg.) (2009, 195–225). Neben der damals noch nicht dominanten Bezeichnung „Autorbild“ (obraz avtora) findet sich vor allem das „sprachliche Bewusstsein des Künstlers“ (jazykovoe soznanie chudo#nika), das „Bild des Autor-Ich“ (obraz avtorskogo „ja“), das „Bild des Schriftstellers“ (obraz pisatelja), das „Bild der sprechenden oder schreibenden Person“ (obraz govorja$%ego ili pi$u$%ego lica), das „künstlerische Antlitz des Autors“ (chudo#estvennyj lik avtora), das „Antlitz des Schriftstellers“ (lik pisatelja); zur Suche nach der passenden Benennung einer sich in Vinogradovs literaturwissenschaftlichem Denken erst herausbildenden Kategorie vgl. Ivan%ikova (1985, 124).

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Die den Text und seine Sprachlichkeit überschreitende Anwendung des Begriffs findet sich in Arbeiten, in denen Vinogradov seinen diachronen Zugang zur Beschreibung des Individualstils am Werk einzelner Autoren exemplifiziert und dabei das explizite Ziel verfolgt, sich in das „sprachliche Bewusstsein“ des Schriftstellers oder der Schriftstellerin einzufühlen (Vinogradov 1922, 236; vgl. auch Vinogradov 1925a). Die auf dem Hintergrund der zeitgleichen Theoretisierung des autonomen Kunstwerks konservativ erscheinende Kategorie eines außertextuellen sprachlichen Bewusstseins und die in diesen Studien zur Anwendung kommende teleologische Methode riefen augenblicklich scharfe Reaktionen hervor. Sowohl von formalistischer Seite30, als auch aus dem Kreis um Bachtin31 wurde Vinogradovs dergestalt modelliertes Autorkonzept des verpönten Psychologismus bezichtigt. Obgleich Vinogradov darauf reagierte, indem er Ende der 1920er Jahre im Rahmen seiner resümierenden Arbeit Über die künstlerische Prosa (O chudo!estvennoj proze) das „sprachliche Bewusstsein“ in ein „Bild der im literarischen Werk sprechenden oder schreibenden Person“ korrigierte und als Produkt einer durch Textverfahren initiierten Konstruktion auswies (Vinogradov 1930, 76), sollte sich der Begriff in der Folge nie mehr ganz von seinem ,Biographismus-Verdacht‘ befreien32, zumal gerade die funktionalistische Komponente der Konzeption Jahrzehnte lang ideologisch suspekt war. In den terminologischen Wörterbüchern wird das Autorbild bis heute ungeachtet zahlreicher gegenteiliger Verwendungen bei Vinogradov diesem zwar zugeschrieben, doch in der Regel als textueller Stellvertreter des biographischen Autors, als auktorialer Erzähler (so auch bei Vinogradov) oder als Bezeichnung für die Autorintention definiert. _________ 30

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32

Vgl. z. B. "jchenbaum (1923, 145) und besonders scharf Tynjanov (1923, 253): „Verfolgt man die psychologischen Assoziationen, die Verknüpfungen von Wortgruppen bei diesem oder jenem Dichter und gibt dies dann als Untersuchung der poetischen Semantik aus, kann es sich offensichtlich nur um eine Verwechslung von Dichtung und Dichter handeln und um die Annahme, es existiere ein gewisses festes, zusammenhängendes individuelles sprachliches Bewusstsein des Dichters, unabhängig von der Konstruktion, in der sich dieses bewegt.“ Valentin Volo#inov nimmt Vinogradov in gewisser Weise gegen sich selbst in Schutz: „In einer solchen Konzeption [Literatur als System stilistischer Beziehungen; C. G.] bleibt natürlich kein Platz für eine ,sich verwandelnde Persönlichkeit‘, für ein schöpferisches Bewusstsein usw., auch wenn Vinogradov eben dieses Moment ständig hervorhebt“ (Volo#inov 1930, zit. nach $udakov 1976, 497). Dies mag auch an der von Vinogradov gewählten Terminologie liegen. Das russische Wort obraz konnotiert das Abbildverhältnis von Schöpfer und Geschöpf und die Ähnlichkeit der Reproduktion. Obraz bezeichnet das Bild, nach dem Gott den Menschen geschaffen hat (Arutjunova 1999, 314), und somit schwingt in Vinogradovs Begrifflichkeit das Abbild-Verhältnis zwischen dem Autor als Verfasser und seinen textuellen Manifestationen in den Redesubjekten immer mit.

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Und dies, obgleich von Beginn an die Mehrzahl der literaturwissenschaftlichen Arbeiten Vinogradovs einer damals Projektionsmethode33 genannten Richtung zuzurechnen sind: Sie forderte, den literarischen Text als Untersuchungsobjekt vom Autor als Verfasser zu isolieren und als immanent zu analysierendes Artefakt aufzufassen. Im Rahmen dieser Untersuchungen treten bei Vinogradov Begriffsverwendungen auf, in denen Autorbild bzw. seine Synonyme eine textimmanente Strukturgröße bezeichnen. Die theoretische Fundierung einer solchen Verwendung und eine zusammenhängende Definition des Begriffs sucht man in diesen Studien allerdings vergebens. Hierfür hatte der Wissenschaftler Ende der zwanziger, Anfang der dreißiger Jahre eine eigene Monographie unter dem Titel Das Autorbild im Kunstwerk vorgesehen, die sich ausschließlich dem Problem des Autors widmen sollte (!udakov 1980, 236). Im Zusammenhang mit diesem zwar geplanten, allerdings erst vierzig Jahre später realisierten Projekt ist wohl auch eine briefliche Mitteilung von 1927 zu sehen, die Vinogradovs Suche nach einer funktionalistischen Konzeptualisierung des Autors deutlich werden lässt. Ich bin ganz erfüllt von den Gedanken an das Bild des Schriftstellers. […] Es scheint durch alles im Kunstwerk hindurch. Im Wortgewebe, in den Darstellungsverfahren erfühlt man seine Gestalt. Gemeint ist nicht die Person des „realen“, lebensweltlichen Tolstoj, Dostoevskij oder Gogol’. Gemeint ist die eigentümliche, „schauspielerische“ Gestalt des Schriftstellers. Bei jeder ausgeprägten Individualität nimmt das Bild des Schriftstellers individuelle Züge an, und doch ist seine Struktur nicht durch die psychologische Eigenart des jeweiligen Schriftstellers bestimmt, sondern durch dessen ästhetisch-metaphysische Ansichten. Sie können durchaus unbewusst sein (wenn es dem Schriftsteller an intellektueller oder künstlerischer Kultur mangelt), aber sie sind auf jeden Fall vorhanden (d.h. sie existieren): Die ganze Frage besteht darin, wie sich dieses Bild des Schriftstellers auf der Grundlage seiner Werke rekonstruieren lässt. Biographische Informationen lehne ich hierfür entschieden ab. (Vinogradov, Brief vom 2. März 1927, zit. nach !udakov 1980, 239)

Während Vinogradov in dieser informellen Beschreibung das Autorbild als strukturabhängige Rekonstruktion eines Sinnzentrums fasst, das sich auch aus mehr als nur einem Einzeltext ergibt, findet sich in seinen textanalytischen Anwendungen häufig eine andere, engere Begriffsextension. Sie ist zwar ebenfalls funktionalistisch modelliert, verliert allerdings an Trennschärfe zum Erzähler eines Textes: Das Autorbild bezeichnet in Vinogradovs Schriften nämlich auch und vor allem das „Er_________ 33

Die „Projektionsmethode“ vertraten zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Anhänger von Aleksandr Veselovskijs spätem Konzept einer ,historischen Poetik‘. Sie forderten, das Kunstwerk zur wissenschaftlichen Untersuchung aus dem Schriftstellerbewusstsein in eine objektive Wirklichkeit hinauszu-„projizieren“. Die Bezeichnung wurde von Boris "ngel’gart (1924) geprägt. Zu den deutlichen Parallelen dieses Ansatzes zur Formalen Schule siehe Hansen-Löve (1978, 370–372).

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zählsubjekt“. Das Autorbild kann zum einen struktursemantisch im Sinne eines der Erzählrede übergeordneten Subjekts verstanden werden, als „Form komplexer und widersprüchlicher Beziehungen zwischen der Autorintention, der phantasierten Persönlichkeit des Schriftstellers und den Erscheinungsformen der Figuren“ (Vinogradov 1936, 203), ein andermal aber fungiert es lediglich als Bezeichnung für einen sprachlich neutralen, auktorialen Erzähler (z. B. Vinogradov 1930, 77; ders. 1936, 205; ders. 1960a, 25). Eine solche, auf den Erzähler eingeschränkte Verwendung tritt auch in Vinogradovs Skaz-Studien auf, in denen die sprachlich markierten Skaz-Erzähler gegen das neutrale Sprechen eines mit dem Autorbild identifizierten Redesubjekts profiliert werden und somit mit diesem auf einer Ebene im Erzählwerk zu verorten sind. Andererseits beschreibt Vinogradov den Skaz-Erzähler aber auch gerade als fingiertes Sprachrohr des textuellen Autors (z. B. Vinogradov 1959, 123; ders. 1971, 125). In diesem Zusammenhang bedient er sich wiederholt der von Gruzdev vorgeschlagenen terminologischen Metaphorik – der Maske. Der SkazErzähler ist auch für ihn ein maskierter Autor, die Skaz-Rede seine „ideologisch-stilistische Schminke“ (Vinogradov 1960a, 35). Die stilistisch unterschiedlich ausgestalteten Erzähler eines Gesamtwerks inszenieren eine „literarische Maskerade“, ein Spiel, das der außertextuelle Autor mit seinem Leser bewusst treibt. Der Schriftsteller verdoppelt, verdreifacht usw. sein Autor-Angesicht/seine Autor-Gestalt im Spiel der Larven, der ,Masken‘, oder er zieht eine Reihe fremder Sprachbewusstseine an, Erzähler, die neue Skaz-Systeme aus schriftsprachlichen oder archaischen Elementen kombinieren […]. (Vinogradov 1971, 127)

Damit fügt Vinogradov seinem ohnehin inkonsistenten Autorbild noch eine weitere Facette hinzu.34 Es bezeichnet in seiner letzten Schrift nicht nur eine text- oder werkimmanente struktursemantische Funktion, die sich in der Rezeption zu einem kulturgeschichtlich determinierten Bild vom Autor verdichtet, sondern auch ein produktionsästhetisches Moment: das vom Verfasser bewusst konstruierte Textsubjekt.

_________ 34

In den frühen Skaz-Studien ist Vinogradov in seiner Autor-Modellierung klarer und mit seinem Konzept des Erzählers als eines ausschließlich textimmanenten Phänomens auch nahe an den Formalisten und deren Beharren auf einer kategorialen Differenz zwischen außertextuellem Autor als Verfasser und den innertextuellen Sprechersubjekten: „Der skaz indessen, der vom Autor-,Ich‘ geführt wird, ist frei. Das ,Ich‘ des Schriftstellers ist kein Name, sondern ein Pronomen. Folglich kann man darunter verbergen, was man will. […] Dem Künstler wurde immer das umfassende Recht zugestanden, die Gestalten zu wechseln. In der literarischen Maskerade kann der Schriftsteller innerhalb eines künstlerischen Werks die stilistischen Masken wechseln“ (Vinogradov 1925b, dt. 203).

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Vinogradovs Versuch, im Konzept des Autorbilds die „Kreuzung von individuellem schöpferischem Bewusstsein und Werk“ theoretisch zu fassen und dabei den Funktionsgedanken zu personalisieren (Lachmann 1974, 123 f.), scheint nicht nur nachfolgende Wissenschaftler35, sondern auch den Verfasser selbst nicht endgültig überzeugt zu haben: Seine letzte Studie schließt mit der Ankündigung, die nächste Untersuchung der „eigentlichen Struktur des literarischen Kunstwerks“ zu widmen (Vinogradov 1971, 211). Doch dies sollten erst Narratologen der nächsten Generation realisieren, die die textimmanenten Aspekte seines Ansatzes, seinen aus der Linguistik entstammenden terminologischen Apparat und die Konzentration auf die sprachliche Realisierung der Äußerungs-Subjekte weiterentwickelten. Allerdings taten sie dies unter Einbeziehung von Überlegungen eines weiteren Zeitgenossen, von Michail Bachtins philologisch-philosophischen Ausführungen zum Autor im literarischen Werk.36

3. Bachtins primärer oder Schöpfer-Autor In seiner 1963 in überarbeiteter Neuauflage erschienenen Studie Probleme der Poetik Dostoevskijs, der ersten Publikation nach mehr als dreißigjährigem Schweigen, äußerte sich auch Michail Bachtin37 öffentlich zu Vinogradovs Autor-Konzeption. Er meinte nämlich im Autorbild, dort wo es sich im Sinne einer „maximal objektiven Konstruktion“ im literarischen Text verstehen lässt, eine gewisse Parallele zu seiner eigenen Dialogizitäts-These bzw. seiner Idee des polyphonen Romans zu erkennen: Die von Vinogradov u. a. am Beispiel eines Romans von !erny"evskij beschriebene „neue ,objektive‘ Autorposition“ erlaube es „den Figurenperspektiven, sich in ihrer Gänze und in völliger Unabhängigkeit zu _________ 35 36 37

Vgl. Lachmann (1974, 124), Schmid (zuletzt 2005, 47), Veldhues (2003, 293), Tamar#enko/Tjupa/Brojtman (2004, 244). Zu den jeweiligen Aspekten bei Vinogradov und Bachtin, von denen die strukturalistische Erzähltheorie der sechziger Jahre profitierte, vgl. S$awi%ski 1967. Michail M. Bachtin (*1895 †1975), Philosoph, Literatur- und Sprachtheoretiker. In den zwanziger Jahren erarbeitet er gemeinsam mit seinem Kreis die Grundpositionen seiner Konzepte zum dialogischen Prosawort, zu Alterität, Autorschaft und Verantwortung. 1929 erscheint seine erste große Studie Probleme des Schaffens Dostoevskijs (Problemy tvor#estva Dostoevskogo). Ab Ende der 1920er Jahre unterbanden staatliche Repressionen seine wissenschaftliche Tätigkeit auf viele Jahre. Nach der Verhaftung lebte er an verschiedenen Verbannungsorten. Ende der vierziger Jahre erkämpfte er unter Schwierigkeiten mit der Arbeit Tvor!estvo Fransua Rable i narodnaja kul’tura srednevokov’ja i Renessansa (übersetzt als Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur) die Promotion. Mit seiner Anfang der sechziger Jahre einsetzenden Rehabilitierung begannen seine Arbeiten im Druck zu erscheinen und bald auch auf die internationale Literaturtheorie Einfluss auszuüben.

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öffnen“ (Bachtin 1963, 79), ohne dass dabei die Standpunkte der Figuren von einer übergeordneten, auktorialen Warte aus bewertet und damit „abgeschlossen“ werden. Für Bachtin drückte sich in einer dergestalt polyphon organisierten Romanstruktur allerdings nicht etwa die vollständige Abwesenheit des Autors aus, sondern eine „radikale Veränderung der Autorposition“: In seiner Auslegung war mit Autorbild eine Stimme unter anderen gemeint, mit Autorprinzip hingegen das Konzert der Stimmen, der im Leser durch ästhetische Einstellung aktivierte ,dialogische‘ Austausch. In der textuellen Manifestation eines „objektiven“ Autorbilds anstelle der üblichen subjektiven Rückbindung auf den Schriftsteller, die vom „Schriftsteller“ höchste künstlerische Meisterschaft forderte (Bachtin 1963, 24, 80 u. a.) und in der Weiterentwicklung des neuzeitlichen Romans eine „kopernikanische Wende“ darstellte (ibid., 58), sah Bachtin den Berührungspunkt zwischen Vinogradovs auf stilistischen Relationen begründeter Autortheorie und seinen Reflexionen zum Autor und zur Autorschaft sowie zu deren ästhetischem Sinn im Kunstwerk.38 Ein etwas anderes Bild ergeben Bachtins nicht publizierte, aus den Jahren um die Debatte von 1960 stammende Notizen und Konspekte, die Vorarbeiten einer nicht mehr realisierten großen philologisch-philosophischen Synthese seines Denkens darstellen (Averincev/Bo!arov 1986, 421). Sie belegen nicht nur seine rege Anteilnahme an den um Autor, Autorschaft und Selbstausdruck des Autors kreisenden philologischen Diskussionen der etablierten Kollegen, sondern demonstrieren auch ein sehr viel kritischeres Verhältnis zum Konzept des Autorbilds, als dies die affirmativen Rekurse auf Vinogradovs umstrittene Arbeit Über die Sprache der Literatur von 1959 in Bachtins Probleme der Poetik Dostoevskijs vermuten lassen. Die scheinbare Annäherung der beiden Antipoden erweist sich aus theoriegeschichtlicher Perspektive als ein „dialogischer terminologischer Kompromiss“ (Gogoti"vili 1997, 629f.), den Bachtin offenbar eine kurze Zeit mit der sowjetischen Philologie einzugehen bereit war.39 In seiner Notizsammlung Das Problem des Textes (publ. 1976) aus den Jahren 1959 bis 1961 konstatierte der Wissenschaftler dann auch in kritischer Wendung sowohl gegen Vinogradov als auch gegen dessen _________ 38 39

Zum philosophiegeschichtlichen Hintergrund von Bachtins Konzept siehe Groys 1989. Gerade Vinogradov war es gewesen, der Bachtin vorsichtig zurück in die öffentliche Wahrnehmung brachte. Im Zusammenhang mit der Debatte um das umstrittene Autorbild nennt er in seinem Resümee der Auseinandersetzung in Voprosy literatury (Vinogradov 1960b, 73) nach vielen Jahren des allgemeinen Verschweigens zum ersten Mal Bachtins Namen wieder öffentlich und verweist auf dessen frühe Arbeiten (Popova 2002, 524). Dies ist das allererste Anzeichen der Rückkehr des bald zu einem der auch international einflussreichsten sowjetischen Theoretiker avancierenden Bachtin.

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,intentionalistisch‘ argumentierende Kritiker die prinzipielle Unmöglichkeit einer konkreten Identifizierung des Autors im Text und erst recht eines textuell ableitbaren Bildes vom ,Autor als Verfasser‘. Den Autor finden wir […] in jedem Kunstwerk. […] Aber wir sehen ihn niemals so, wie wir die von ihm dargestellten Gestalten sehen. Wir fühlen ihn in allem als reines Darstellungsprinzip (darstellendes Subjekt), aber nicht als dargestellte (sichtbare) Gestalt. […] Streng genommen ist das Autorbild eine contradictio in adjecto. Das so genannte Autorbild ist wirklich ein Bild besonderer Art, das sich von den anderen Bildern/Gestalten unterscheidet, doch es ist ein Bild und es hat seinen Autor, der es geschaffen hat […], den Träger des reinen Darstellungsprinzips. Daher können wir vom reinen Autor sprechen im Unterschied zum teilweise dargestellten, gezeigten, als Bestandteil zum Werk gehörenden Autor. (Bachtin 1976, 313)

Der literarische Text kann zwar unter Umständen Autorbilder enthalten, das aber, was Bachtin reinen oder primären Autor nennt, stellt eine Größe dar, die – als „Träger des reinen Darstellungsprinzips“ – nicht mehr auf der kommunikativen Ebene, sondern auf der ästhetischen angesiedelt ist und sich zum Text „transzendental“ verhält. Steht nicht der Autor immer außerhalb der Sprache, verstanden als Material für das künstlerische Werk? Ist nicht jeder Schriftsteller […] immer ein „Dramaturg“ in dem Sinne, dass er alle Worte fremden Stimmen zuteilt, darunter auch dem „Autorbild“ (und den anderen Autormasken)? Vielleicht ist jegliches nichtobjekthafte, einstimmige Wort naiv und taugt nicht für wahres Schöpfertum. (Bachtin 1976, 314; Hervorhebungen im Original)

Der primäre Autor steht jenseits der Welt des Textes, da er selbst kein Produkt ist („natura non creata“; Bachtin 1979, 412). Daher lässt er sich auch nicht aus dem Text rekonstruieren: „Wenn wir uns bemühen, uns den primären Autor bildlich vorzustellen, werden wir selbst zum primären Autor dieses Bildes“ (ibid.). Dennoch ist er als produzierende Größe mit seinem Werk verbunden („natura […] qua creat“, ibid.).40 Allerdings denkt Bachtin den Autor als Subjekt der ästhetischen Aktivität in seiner ,Außerhalbbefindlichkeit‘ (vnenachodimost’) keineswegs als eine mit dem Schriftsteller als Autor-Verfasser identische Größe, im Gegenteil: Aus der Position des Schriftstellers heraus kann nicht gesprochen werden (dann wird der Schriftsteller zum Publizisten, Moralisten, Gelehrten u. ä.). Daher hüllt sich der Autor in Schweigen. Aber dieses Schweigen kann unterschiedliche Aussageformen annehmen, unterschiedliche Formen reduzierten Lachens (Ironie), mittelbaren Sprechens etc. (Bachtin 1979, 412)

Anders als für Vinogradov, dessen als Stilphänomen verstandenes Autorbild die auktoriale ,Stimme‘ des Schriftstellers meinen kann, die sich direkt durch die ,Maske‘ der Erzählinstanz kundgibt, beharrt Bachtin auf _________ 40

Zur Spezifik der künstlerischen Semiose bei Bachtin, die ihre Intersubjektivität über die besondere „außerhalbbefindliche“ Position ihres Autors/Interpreten herleitet, siehe Grübel 1979, 67.

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dem Standpunkt, der Autor sei ein abstraktes Kreationsprinzip und habe in letzter Konsequenz keine eigene subjektive Stimme, vielmehr könne er sich nur vermittelt kundtun in unterschiedlichen Formen von Autorschaft, die sich aus der jeweilig gewählten Gattung ableiten (Goto!vili 2002, 548). Der Autor eines literarischen Werks (Romans) schafft ein einheitliches und ganzes sprachliches Werk (Aussage). Aber er schafft es aus unterschiedlichen, in gewisser Weise fremden Aussagen. Und sogar die direkte Autorrede ist voll von bewusst erkannten fremden Wörtern. Indirektes Sprechen, das Verhältnis zur eigenen Sprache als zu einer potentiell anderen (und nicht als der einzig möglichen und unbedingten Sprache). (Bachtin 1976, 322)

Dabei stellt der Roman als neuzeitliche ästhetische Form eines individuellen Selbstausdrucks die Sphäre dar, in der der primäre Autor oder – in einer späteren Terminologie – der Schöpfer-Autor (avtor-tvorec) nicht nur eine in sich geschlossene und von seinen subjektiven Werturteilen geprägte Welt erschaffen kann, sondern in der er sich selbst zu einer Stimme unter anderen zu „objektivieren“ vermag, um in einen Dialog mit den Figurenstandpunkten einzutreten – und somit nicht nur sich selbst, sondern auch den Anderen in dessen Subjektivität zu ,befreien‘.41 Bachtin, der sein Autor-Konzept als ,funktionalistisch‘ bezeichnete, geht mit seinem Ansatz weit über ein narratologisches Modell bzw. eine „linguistische“, werkimmanente Analyse hinaus.42 Im Rahmen seiner philosophischen Ästhetik stellt der Schöpfer-Autor zwar „ein konstitutives Moment der künstlerischen Form“ dar (Bachtin 1924, dt. 141), doch nicht im Sinne einer „leere[n] formale[n] Instanz“, die lediglich „der Gesamtheit der ästhetischen Aspekte des Textes vorangestellt ist“ (Freise 1993, 183). Da die Form „Ausdruck einer aktiven Wertbeziehung des Schöpfer-Autors und des (die Form mit-schaffenden) Rezipienten zum Inhalt“ ist (Bachtin 1924, dt. 142), meint der Bachtinsche Autor mehr als die personalisierte Vorstellung der Werkintention oder des Gesamtsinns eines Kunstwerks: „Der Autor ist als konstitutives Moment der Form die organisierte, von innen ausgehende Aktivität des ganzen Menschen“ (Bachtin 1924, dt. 151). _________ 41

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Siehe Schmid (1984, 1999) zu einer Kritik des Begriffs Dialogizität und der dazugehörigen Theorie, zum „latenten ,Monologismus‘“ des Konzepts sowie zur ,Überdehnung‘ der terminologischen Metaphorik in Bachtins Schriften und in noch größerem Maße in der Bachtin-Rezeption. Vgl. „Die rein linguistische (und dabei rein deskriptive) Beschreibung und Bestimmung unterschiedlicher Stile innerhalb eines Werkes vermag ihre Sinnverbindungen (darunter auch die künstlerischen) nicht zu erschließen. Dafür ist es wichtig, den totalen Sinn dieses Dialogs der Stile vom Standpunkt des Autors (nicht als Bild, sondern als Funktion) aus zu verstehen“ (Bachtin 1976, 319).

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Schließt man sich Matthias Freises Rekonstruktion der Bachtinschen Theorie im Rahmen einer philosophischen Ästhetik an, dann ist dieses Autorkonzept nicht ohne „die menschliche Trägerschaft und das menschliche Zentrum von Architektonik“ (Freise 1993, 179) zu denken. Das Autorprinzip des künstlerischen Textes fällt mit ,Menschsein in ästhetischer Einstellung‘ (184) zusammen. Bachtin zielt allerdings auch in einer solchen Lektüre mit seiner spezifischen „Rehabilitierung des Personalen“ weder auf den biographischen Autor im Sinne der intentionalistischen Ansätze ab („Eine substantialistische Vorstellung des Autors ist unzulässig“; Bachtin zit. nach Gogoto!vili 1997, 392) noch auf die Autorrolle im literarischen Leben, die literarische Persönlichkeit, wie sie die spätformalistischen Ansätze des literatursoziologisch ausgerichteten Autor-Funktionalismus entwerfen. Vielmehr meint er „ein Verhältnis des Menschen zu sich selbst, das für ästhetische Autorschaft charakteristisch ist“ (Freise 1993, 184, Fn. 117) und das im Rezeptionsakt den Leser zum Autor werden lässt. Menschsein geht als Ganzes in Autorschaft ein, doch wenn es in sie eintritt, steht es insgesamt unter ästhetischer Rechtsprechung. Allen anthropologischen Parametern kommt in der neuen Ordnung, in die sie vermöge der ästhetischen Einstellung eintreten, ein spezifischer Ort zu als nur ästhetisch erfahrbare sinnliche Dimensionen von Menschsein. (Freise 1993, 184)

Das Konzept eines primären oder Schöpfer-Autors findet in Bachtins Schriften keine schlüssige, ,abgeschlossene‘ Systematisierung.43 Für sein ,noetisches Korrelat des ästhetischen Objekts‘ (Freise 1993, 191) lässt sich dennoch rekonstruierend festhalten: Er [Bachtin] unterscheidet zwischen dem nicht mehr hinterfragbaren Sehen ästhetischer Autorschaft und dem immer sicht- oder zumindest spürbaren Redeund Blick-Subjekt des künstlerischen Texts. Autorschaft konstituiert sich monadisch, in ihr werden Autor und Leser, spezifisch ästhetisch gesehen, identisch. Sie ist kein definierbares Sein, sondern ein Ideal, und sie ist weder explizit – als verkörperte Haltung – noch implizit – als in Sprache eingelegte lebensweltliche Haltung – sichtbar. (Freise 1993, 208)

In Bachtins komplexem Autorkonzept überschneiden sich die verschiedenen Disziplinen der von ihm in den fünfziger und sechziger Jahren entworfenen „Textologie“. In ihm trifft das intentionale Subjekt seiner „Metalinguistik“, das den intendierten Sinn der Äußerung entwirft und mit dem „Autorschaft“ und „Verantwortlichkeit“ verbunden sind, auf das stilistische Phänomen eines Textsubjekts44, das „sich in dem nicht_________ 43 44

Zur Selbstcharakterisierung seines Denkens als „innerlich nicht abgeschlossen“ (vnutrennjaja nezaver!ennost’) und damit in seinem Sinne dialogisch vgl. Bachtin 2002, 431. Siehe hierzu auch Hansen-Löve/H. Schmid 1990, 438 f., die allerdings den Bachtinschen Autor auch auf eine konkrete, biographische Schriftstellerpersönlichkeit zurückführen. Dies steht im Widerspruch zu Bachtins nicht-substantialistischem Ansatz.

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isolierbaren Moment [des Werks] befindet, an dem Inhalt und Form untrennbar miteinander verschmelzen“ (Bachtin 1974, 362). Waren in der Diskussion um Autor und Autorschaft im literarischen Werk die Vertreter der offiziellen Philologie der Meinung, Vinogradov greife zu weit mit seinem Versuch, den Verfasser eines Textes und eine durch den künstlerischen Text generierte Vorstellung vom Autor, das Autorbild, voneinander zu unterscheiden, ging in Bachtins Augen Vinogradov mit seinem Konzept nicht weit genug. Seine eigenen, im Laufe der nächsten Jahre publizierten Arbeiten und insbesondere „das Herzstück seiner allgemeinen literaturwissenschaftlichen Konzeption“ – die „Lösung des Autorproblems“ (Gogoti!vili 2002, 628), wurde daher in allen Lagern der Fachdisziplin mit Zurückhaltung aufgenommen, ungeachtet der auch in der Sowjetunion spürbaren ,Bachtin-Mode‘ der siebziger und achtziger Jahre.45 Für die internationale Narratologie hielten Bachtins konzeptionelle Überlegungen zum Autor vor allem dort Anschlussmöglichkeiten bereit, wo sie losgelöst von ihrer ästhetischethischen Motivierung vorrangig ,strukturalistisch‘ rezipiert wurden. 46 Eine erste Fortentwicklung, die Bachtins Konzeptionen in ein auf Vinogradov fußendes funktionales System integriert, findet sich in Boris Kormans Autor-Theorie.

4. Boris Kormans Autor-Theorie Boris Korman47 entwickelte in den auf die Debatte um Autor und Autorschaft folgenden zwei Jahrzehnten an der Peripherie der sowjetischen _________ 45

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Vgl. Gogoti!vili (2002, 628–639) zur zeitgenössischen Aufnahme von Bachtins Thesen in der sowjetischen Wissenschaftslandschaft, in der sich vier Gegenpositionen zum Problem der Autorposition – vom konservativen Lager bis hin zu den Strukturalisten um Jurij Lotman – identifizieren lassen. Darauf weist vor allem in Bezug auf die frühen Schriften auch Freise hin: „[…] dass es die innertextuelle Untersuchungsebene bei Bachtin immer auch gibt und man diese nur von den sie fundierenden ästhetischen Begründungszusammenhängen abzuschneiden braucht, um einen strukturalistisch argumentierenden Bachtin zu erhalten“ (Freise 1993, 178, Fn. 114). Neben philologischen Lektüren provozierten Bachtins Schriften auch ästhetische und religionsphilosophische Rezeptionen. Zur Möglichkeit, in Bachtins literaturwissenschaftlichen Schriften die Bearbeitung der religionsphilosophischen Frage nach prinzipiellem Personalismus zu sehen, siehe Gogoti!vili (1997, 392). In der postsowjetischen Rezeption wird Bachtin inzwischen häufig als religiöser Denker aufgefasst. Boris Korman (*1922 †1983), begann seine wissenschaftliche Laufbahn in Leninabadsk, von 1950 bis 1971 lehrte er an der Pädagogischen Hochschule in Borisoglebsk und war später bis zu seinem Tod Lehrstuhlinhaber für russische und sowjetische Literatur der Udmurtischen Staatsuniversität in I"evsk (von 1984-1987 Ustinov). Wiederholt hatte er unter staatlichen Repressalien zu leiden (u. a. sah er sich wiederholt dem Vorwurf des ,Kosmopolitismus‘ und ,Formalismus‘ ausgesetzt). Dies erklärt die geringe Anzahl vorlie-

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Wissenschaftslandschaft und ohne dabei allzu große Aufmerksamkeit zu erregen eine Autor-Theorie, die sich explizit als solche bezeichnete und mit einem differenzierten Begriffsapparat eine auch terminologisch ausgearbeitete, in sich schlüssige Systematisierung der Problematik anstrebte. Er gilt daher als der Erste in der sowjetischen Literaturwissenschaft, der einen werkimmanenten Ansatz verfolgte, der ausschließlich den künstlerischen Text als Analyseobjekt vorsah und der konsequent eine begriffliche Trennung von Figur, Erzähler, struktur- bzw. systemsemantischem Autorkonstrukt und biographischem Autor in seinen Arbeiten vertrat. Die ursprünglich in Anwendungen auf die Lyrik entwickelte Theorie übertrug Korman in der Folge auch auf narrative Texte und erweiterte sie entsprechend um Phänomene der Prosa – wie Erzählertypologie, narrative Sujet- und Kompositionstheorie, Perspektivekategorien u. ä. Ziel der Bemühungen war ein vom Konstrukt eines werkimmanenten Autors ausgehendes umfassendes Theoriegebäude, mit dem sich nicht nur der Einzeltext analytisch beschreiben ließ48, sondern in dem auch die Literatur als System sowohl gattungstypologisch als auch in der jeweiligen Epochenspezifik widerspruchsfrei kategorisierbar sein sollte. Dabei griff er sowohl auf Konzepte Vinogradovs als auch Bachtins zur Kategorie des Autors zurück.49 Ausgehend von Vinogradov und dessen Unterscheidung in den Erzähler als Träger der Rede einerseits und das sich dieses Erzählers wie einer Maske bedienende Autorbild andererseits bestimmte auch Korman den Autor in einem ersten Schritt als eine dem Text implizite Größe. Diesem „Autorbewusstsein“ ordnete er die „subjektgebundenen Ausdrucksformen“ – also Erzähler- und Figurenrede – zu, wobei er seinen Autor kategorial sowohl vom außertextuellen Schriftsteller als auch von den expliziten Redesubjekten im Text unterschied. Dabei entwickelte Korman allerdings Vinogradovs Bezeichnung Autorbild nicht etwa weiter, vielmehr ,missverstand‘ er den Begriff und legte ihn auf eine spezifische Erscheinungsform des Redesubjekts in der Lyrik fest (Korman _________

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gender Arbeiten, ihre schwere Zugänglichkeit und damit auch den wenig nachhaltigen direkten Einfluss der in der Bedeutung mit der Moskau-Tartu-Schule konkurrierenden „Korman-Schule“. Andererseits sind heute Kormans ehemalige Schüler führende Philologen in Russland mit zum Teil eigenen ,Schulen‘, unter ihnen Vladimir Svitel’skij (Vorone!), Nikolaj Rymar’, Vladislav Skobelev, Vladislav Krivonos (Samara), Michail Gir"man (Doneck), Natalija Lejtes (Perm’), Natan Tamar#enko, Valerij Tjupa (Moskau) und Leonid Cilevi# (Daugavpils). In der Anwendung seiner Theorie entwickelte Korman eine Analysemethode, die er „systemhaft-subjektbezogen“ nannte und mit der er und seine Schüler die literarischen Texte auf ihre „Subjektstruktur“ hin untersuchten. Vgl. zu Kormans Ansatz die von mir u. d. T. „Zur Autor-Theorie“ ausgewählten, übersetzten, kommentierten und annotierten Auszüge aus verschiedenen Texten Kormans in Schmid (Hg.) 2009, 227–259.

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1981). An den so freigewordenen Platz setzte er sein Autor-Modell.50 Er fasste, klarer als dies Vinogradov mit seinem Autorbild vermocht hatte, den Autor als de-personale Werkintention, als strukturellen „Träger der Konzeption des gesamten Werks“ (Korman 1971, 200), und wies ihm eine ausschließlich übergeordnete, vermittelte Funktion für den literarischen Text oder für das gesamte Werk eines Schriftstellers zu.51 AUTOR – das Bewusstseinssubjekt (der Träger des Bewusstseins), dessen Ausdruck das ganze Einzelwerk oder die Gesamtheit der Einzelwerke darstellt. Der Autor, versteht man ihn in diesem Sinne, grenzt sich vor allem vom biographischen Autor ab, von dem Menschen, der real existiert oder existiert hat. Die Wechselbeziehung des biographischen Autors zum Autor, dessen Ausdruck das Werk oder die Gesamtmenge von Werken darstellt, entspricht im Prinzip der Wechselbeziehung zwischen Lebensmaterial und künstlerischem Werk überhaupt: Der reale, biographische Autor (Schriftsteller), der sich nach einer gewissen Konzeption der Wirklichkeit richtet und von bestimmten normativen und epistemologischen Einstellungen ausgeht, schafft mit Hilfe der Vorstellungskraft, der Auswahl und Bearbeitung des Lebensmaterials den künstlerischen (konzipierten) Autor. Die andersartige Daseinsform eines solchen Autors, seine Vermitteltheit, wird durch das Kunstphänomen als ganzes geleistet, durch das literarische Werk. (Korman 1981, 41; dt. in Schmid [Hg.] 2009, 239)

Während Vinogradov den Autor (bzw. das Autorbild) als Stilphänomen untersuchte und ihn mittels einer Analyse der unterschiedlichen Sprachschichten als ein sich im literarischen Werk zum Ausdruck bringendes sprachliches Bewusstsein modellierte, fokussiert Korman in einem zweiten Schritt die systemhaften Beziehungen der unterschiedlichen Redesubjekte, die so genannte „Subjektorganisation“ des literarischen Werks. Die „Summe der subjektgebundenen und nicht-subjektgebundenen Textorganisation“ nennt er konzipierten Autor (Korman 1977, 120). Gemeint ist damit das Beziehungsgefüge der durch vermittelnde Sprechersubjekte oder Bewusstseinssubjekte perspektivierten Textabschnitte und die Korrelation dieser „subjektgebundenen Textorganisation“ mit Textsegmenten, die nicht extrapolierbaren Sprechersubjekten, sondern direkt der Autorposition bzw. dem Autorbewusstsein zuzuordnen sind. Ein philologisch gelesener Bachtin und dessen Dialogizitäts-These liefern Korman _________ 50

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Den Anschluss an Vinogradov sah Korman eher prinzipiell in der kategorialen Unterscheidung von außertextuellem Verfasser des Textes („Schriftsteller“) und werkimmanentem Autor. Die in dieser Bestimmung durchscheinende Bezugnahme auf Bachtins Charakterisierung des Autors als zum Text „transzendental“ wird in der Korman-Rezeption deutlich herausgestellt. Mit direktem Bezug auf Kormans konzipierten Autor bringt Natan Tamar!enko für seine Fortschreibung der Autor-Theorie, in der der Autor bereits wieder mit Bachtin Autor-Schöpfer genannt wird, neben der „Außerhalbbefindlichkeit“ (vnenachodimost’) zusätzlich die für den Autor bestimmende „ästhetische Tätigkeit“ und „Verantwortlichkeit“ ins Spiel – und verschiebt den rein textpoetischen Ansatz Kormans in ein ethisch-ästhetisches Theoriefeld (z. B. Tamar!enko 1999, 5 f.).

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Folie und Terminologie zur Beschreibung dieser komplexen „Subjektorganisation“ des literarischen Textes. Seiner Auffassung des literarischen Textes als Kommunikat zwischen Schriftsteller und Leser entsprechend entwickelten Korman und seine Schüler weitere Begriffe zur Beschreibung von gattungsspezifischen Kommunikationsstrukturen. Dem konzipierten Autor steht der konzipierte Leser als „idealer Adressat eines literarischen Werks“ gegenüber, den es vom „realen Leser“ und vom „im Text genannten Leser“ zu unterscheiden gilt. Für die „primären“, also nicht durch ein explizites Redesubjekt eingeführten „subjektgebundenen Ausdrucksformen des Autorbewusstseins“, schlicht: den Erzähler, stellte Korman eine Typologie auf, die sich ungeachtet des großen terminologischen Aufwands nicht von den Erzählertypologien der funktionalistisch argumentierenden Arbeiten zu Beginn des Jahrhunderts unterschied: Analytisch zu ermitteln sind in Erzähltexten für Korman ein neutraler Erzähler (povestvovatel’), ein sprachlich markierter Erzähler (rasskaz!ik) und ein IchErzähler. Und wie bereits in den Skaz-Konzepten Gruzdevs und Vinogradovs hält auch Korman ein graduelles Verhältnis des mittelbaren Autorbewusstseins zur Autorposition fest, das vom Grad der Markiertheit der „subjektgebundenen Ausdrucksform“, also von ihrem Objektcharakter im literarischen Text abhängt (dies entspricht der groben, wahrnehmbaren Maske und ihrer ,Autor-Ferne‘ bei Gruzdev und Vinogradov – im Gegensatz zu der eine Ähnlichkeit mit dem Autor vortäuschenden Schminke). Allerdings – und darin geht Korman über seine ebenfalls funktionalistisch argumentierenden Vorläufer hinaus, setzt er seinen konzipierten Autor als ein „Bewusstsein höherer Ordnung“ an, das nicht auf die Autorposition beschränkt ist, sondern das Geflecht der Korrelationen zwischen den Redesubjekten und deren „Subjektsphären“, ihren zeitlichen, räumlichen, sprachlichen und ideologischen Werkschichten, meint. Ausgehend von Bachtins Konzept des „zweistimmigen Worts“ modellierte Korman seine subjektgebundenen Ausdrucksformen auf zweifache Weise – als Ausdruck eines Bewusstseinssubjekts und/oder eines Redesubjekts. Divergieren die beiden, so stellen sich Interferenzphänomene wie z. B. die erlebte Rede im Erzähltext ein. Korman erwähnt in diesem Zusammenhang zwar Boris Uspenskijs zur selben Zeit entwickelte Perspektivtheorie, kritisiert sie jedoch wegen ihrer terminologischen Unschärfe in Bezug auf Autor und Erzähler. Seine eigenen Ausführungen bleiben dabei allerdings im Vergleich zu Uspenskijs relativ ausdifferenzierter Systematik, die zudem auf eine mit der Formalen

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Schule beginnende reiche Forschungstradition zurückgreift, inkonsistent und lediglich angedeutet.52 Obgleich es Korman gelang, auch jenseits der Zentren Moskau und Leningrad eine sich um das ,Problem des Autors‘ gruppierende Schule zu bilden, aus der noch bis in die neunziger Jahre Publikationen hervorgingen53, und obwohl er 1967 in Borisoglebsk eine „der interessantesten“ Konferenzen zu jener Zeit organisierte, die u. a. von den inoffiziellen Koryphäen der sowjetischen Literaturwissenschaft Lidija Ginzburg und Isaak Jampol’skij besucht wurde (Egorov 1993, 5), konnte sich weder seine Autor-Theorie als System noch die von ihm vorgeschlagene Terminologie durchsetzen – zu unpopulär war seinerzeit im eigenen Wissenschaftsfeld die ausschließlich textpoetische Perspektive des Ansatzes, zu isoliert von der eigenen Tradition und erst recht von den Entwicklungen der Narratologie in der internationalen Philologie (die nicht einmal in Ansätzen von der Korman-Schule rezipiert wurden), aber auch zu eng und anachronistisch im Vergleich zum szientifischen Niveau und breiten Untersuchungsfeld der sowjetischen Strukturalisten um Jurij Lotman. Nicht zuletzt mögen die sperrige Terminologie und der bei hohem Analyseaufwand verhältnismäßig geringe Erkenntnisgewinn dazu beigetragen haben, dass die Kormansche Autor-Theorie retrospektiv marginaler für die Fortentwicklung des slavischen Autorfunktionalismus erscheint, als sie es zu ihrem Entstehungszeitpunkt tatsächlich war. In der ,Theoriewüste‘ der sowjetischen Literaturwissenschaft erschien sie zumindest damals als kleine Oase konzeptionellen Denkens. Der eigentliche Schauplatz der theoretischen Auseinandersetzungen um den Autor hatte sich damals schon lange gen Westen verschoben. In der Tschechoslowakei und in Polen diskutierte die Literaturwissenschaft in Auseinandersetzung mit internationalen erzähltheoretischen Ansätzen und im Rückgriff auf die Anfänge des Autorfunktionalismus in der Formalen Schule komplexe Modelle zur literarischen Kommunikationssituation, was sich wiederum als anregend für die vor allem am Leser orientierten Theoriebildungen, z. B. der Rezeptionsästhetik, erwies.

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Zur theoriegeschichtlichen Einordnung von Uspenskijs Beitrag zur ,Perspektivologie‘ und einer eigenen Weiterentwicklung des Ebenenmodells siehe Schmid (zuletzt 2008). U. a. die zwischen 1967 bis 1998 unregelmäßig erscheinenden elf Sammelbände der Reihe Das Problem des Autors in der Literatur (Problema avtora v chudo!estvennoj literature).

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5. Persönlichkeit und Werksubjekt im tschechischen Strukturalismus In den 1960er Jahren entwarf Miroslav !ervenka54, ein Vertreter des literaturwissenschaftlichen tschechischen Strukturalismus der zweiten Generation, eine Autortheorie im Rahmen seines semiotischen Modells für den Bedeutungsaufbau literarischer Texte. In Bezug auf den Autor erklärte er das künstlerische Werk zum „Indiz, das in sich selbst das trägt, was durch es indiziert wird“ (!ervenka 1967, dt. 174). Den Urheber des als Zeichen aufgefassten literarischen Textes fasste er als ein „in die Struktur der Bedeutung“ übertragenes „dynamisches Bedeutungsfeld“ (ibid.). Mit diesem Ansatz, der das Werksubjekt (subjekt díla) auf der Senderseite als dynamische, „hypostasierte Urheber-Funktion“ und auf der Empfängerseite als „Komplex erforderlicher Verständigungsfähigkeiten“ modelliert, systematisierte !ervenka Überlegungen, die Jan Muka"ovsk#55 in den späten dreißiger und zu Beginn der vierziger Jahre zur „Persönlichkeit in der Kunst“ angestellt und in Teilaspekten im Prager Linguistischen Kreis vorgetragen hatte.56

a. Jan Muka"ovsk#s anthropologischer Funktionalismus Noch bevor Roman Jakobson 1920 aus Moskau nach Prag wechselte und als Mittler die Diskussionen der russischen Formalen Schule um eine werkimmanente Literaturbetrachtung in einen neuen Kontext brachte, hatten Vertreter des tschechischen Herbartismus ästhetiktheoretische Positionen vertreten, die mit ihrer Ausrichtung am inneren Aufbau von Kunstwerken Muka"ovsk# den Ausgangspunkt seiner Theoriebildung – nicht zuletzt zum Kunstwerk als semiologisches Faktum und zum struk_________ 54

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Miroslav !ervenka (*1932 †2005), Dichter, Übersetzer und Literaturwissenschaftler, gehörte der zweiten Generation der tschechischen Strukturalisten an. Seine um das Jahr 1966 verfasste und 1967 an der Karlsuniversität in Prag eingereichte Dissertation Der Bedeutungsaufbau des literarischen Werks konnte erst 1978 und in deutscher Übersetzung gedruckt werden, da die politischen Umstände nach 1968 für !ervenka Publikationsverbot zur Folge hatten. Jan Muka"ovsk# (*1891 †1975), Linguist, Ästhetiker, Literatur- und Kunsttheoretiker, war einer der Mitbegründer des Prager Linguistischen Kreises, aus dem heraus sich der tschechische literaturwissenschaftliche Strukturalismus entwickelte. Er gilt als dessen herausragender Vertreter. Ab 1951 distanzierte er sich von seinen strukturalistischen Auffassungen und vertrat im Weiteren die offizielle literaturwissenschaftliche Doktrin, was ihm eine entsprechend erfolgreiche akademische Karriere ermöglichte. Eine erste publizierte Skizze (Muka"ovsk# 1937) geht auf den Vortrag L’individu dans l’art auf dem II. Kongress für Ästhetik in Paris zurück, die weiteren Vorträge, soweit erhalten, wurden erst 1966 bzw. 1971 von den Schülern Muka"ovsk#s veröffentlicht. Zusammenfassend zum Konzept: Die Persönlichkeit in der Kunst (Osobnost v um$ní; 1944), Das Individuum und die literarische Entwicklung (Individuum a literární v#voj; 1943–1945), Probleme des Individuums in der Kunst (Problémy individua v um$ní; 1947).

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turellen Verhältnis von Werk, Autor und Kontext – lieferten. In Absetzung zu seinen tschechischen Vorläufern und in Anknüpfung an Husserls Phänomenologie und später an Roman Ingarden vertrat er dabei eine explizit antipsychologische Position, die im Unterschied zu den russischen Formalisten jedoch nicht zu einer ausschließlich textimmanenten Literaturbetrachtung führte. Muka!ovsk"s in den dreißiger Jahren zur Analyse der Sinnkonstitution im künstlerischen Werk entwickelter „Kernbegriff“ des tschechischen Strukturalismus, die semantische Geste (sémantické gesto), berührt auch den funktionalen Zusammenhang von Autor – Werk – Rezipient. Sie hat „im Hinblick auf das ,schöpfende Subjekt‘ […] Symptomcharakter. Im Hinblick auf das ,aufnehmende Subjekt‘ meint sie das im Text angelegte Steuerungsverfahren zur Sinnkonstitution beim Leser/Zuschauer“ (Schwarz 1997, 200; Hervorhebungen im Original). Die semantische Geste weist allerdings bereits dort, wo mit ihr über den Zusammenhang von literarischem Kommunikat und gesellschaftlichem Kontext spekuliert wird, über den Bereich der Textanalyse hinaus in den nur der Interpretation zugänglichen Bereich der Kreationstheorie (Schwarz 1997, 201 f.).57 Mit der semantischen Geste habe sich Muka!ovsk" noch „gesträubt“, so #ervenka (1972, 161), im Werk den „Angelpunkt seines Bedeutungsaufbaus […] einfach namhaft zu machen“. Und doch tauche diese scheinbar entpersonalisierte Bezeichnung für die semantische Intention von Autor/Werk immer dort auf, „wo er sich die Aufgabe stellte, die konkrete dichterische Individualität zu fassen: etwas, was nicht vor dem Werk und unabhängig von ihm gegeben ist, sondern sich erst im Schaffen verwirklicht, was aus dem Werk bei seiner aktiven und differenzierten Wahrnehmung allmählich entsteht“ (ibid.). Dieser Werkintention und ihrem Verhältnis zur Schöpferpersönlichkeit ging Muka!ovsk", wenn auch nicht systematisch, in den oben erwähnten Vorträgen nach und setzte zur Klärung die nicht endgültig definitorisch geschiedenen Begriffe Persönlichkeit (osobnost), Subjekt (subjekt) und Individuum (individuum/jedinec) ein. Obgleich es sich hierbei um „Grenzbegriffe zu nicht-literaturwissenschaftlichen Disziplinen“ handelt (H. Schmid 1997, 265), sind sie im Kontext von Muka!ovsk"s um gesellschaftliche Bezüge erweiterter, semiotischer Kunstauffassung als funktionale Größen zu sehen. Ausgehend von der Annahme, die ästhetische Funktion sei eine unter vielen menschlichen Grundfunktionen und das Kunstwerk die „Stelle“ innerhalb dieses Funktionssystems, an der sich _________ 57

Ausführlich zur semantischen Geste siehe u. a. H. Schmid 1982, Schwarz 1997. Zu den Überschneidungen und Unterschieden der Begriffe semantische Geste und Roland Barthes’ écriture siehe Ka$er 1973. Muka!ovsk"s semantische Geste dient Wolf Schmid u. a. als Ausgangspunkt seiner Studie über den ,ästhetischen Inhalt‘ (Schmid 1977).

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der Mensch der Wirklichkeit gegenüber in seinem „Schönheitsbedürfnis“ „selbstverwirklicht“ (H. Schmid 1997, 266–272), ist es für Muka!ovsk" erst die „Wechselbeziehung zwischen dem Werk und seinem Autor“, die „den Sinn des dichterischen Werkes vollendet und vervollständigt“ (Muka!ovsk" Mitte 1940er; dt. 196). Trotz der Annahme einer „anthropologische[n] Konstante als Quelle und Ziel des künstlerischen Sinns“ (Chvatík 1989, 47) argumentierte Muka!ovsk" in den meisten seiner Ausführungen im Bewusstsein einer klaren Differenz zwischen empirischem Autor und textimplizitem Subjekt. [D]ie Entstehung des Individuums des Autors interessiert sie [die strukturale Ästhetik] weit weniger als die Frage nach der Funktion, die der Faktor der Individualität im künstlerischen Geschehen und in der Entwicklung der künstlerischen Struktur überhaupt hat. […] das Verhältnis zwischen dem Schöpferindividuum und der überpersönlichen Entwicklung der Kunst […] ist seinem Wesen nach funktional. (Muka!ovsk" 1940; dt. 16, 18)

Als Zeichen vermittelt das Kunstwerk zwischen Urheber-Autor und (Autor-)Rezipient, die jeweils in ihrer Funktion als Sender bzw. Empfänger in Bezug auf das Artefakt von Interesse sind. In gewisser Weise sind beide ,Autorfunktion‘, denn auf den Rezipienten hin konzipiert der Autor-Urheber das Werk, berücksichtigt seinen sprachlichen und kulturellen Kontext – und erfüllt damit bereits während der Werkgenese nicht nur die Funktion des Zeichenproduzenten, sondern auch die des Empfängers und Dechiffrierers. Auf den ersten Blick scheinen sich, obgleich untrennbar miteinander verbunden, diese Funktionen gegenseitig auszuschließen, weil die erstere eine aktive Haltung voraussetzt, die zweite eine passive […] ebenso wie eine sprachliche Mitteilung zwischen zwei Individuen vermittelt, von denen das eine spricht, das andere zuhört, ist das künstlerische Werk durch seinen Autor dazu bestimmt, dass es dem Verstehen durch das rezipierende Individuum dient. (Muka!ovsk" 1937, 255)

Während Muka!ovsk" also mit dem Begriff Individuum hier sowohl eine die Semiose in Gang setzende als auch das Zeichen dechiffrierende, dem eigentlichen Text vor- oder nachzuordnende strukturelle Funktion versteht, die somit über den Text hinausweist, fasst er an anderer Stelle mit Subjekt den „gedachte[n] Punkt der Bedeutungsvereinigung eines jeden Werks, eine untrennbare Komponente seiner inneren Struktur“, die zudem „im Werk konkret verkörpert sein kann“ (Chvatík 1989, 43, Hervorhebung C. G.). Die in der Rezeption vorausgesetzte Intentionalität eines Kunstwerks führt zur Wahrnehmung eines Subjekts als rein text- bzw. systemsemantische Größe, die als Garant der Werkeinheit dient. Und die Absichtlichkeit braucht das Subjekt, von dem sie ausgeht, das ihre Quelle ist; sie setzt also den Menschen voraus. Das Subjekt ist also keineswegs außerhalb des Kunstwerkes gegeben, sondern in ihm selbst. […] Die Gegenwart, ja die Allgegenwart des Subjekts im Werk der bildenden Kunst ist augenschein-

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lich: Die Wahl des Themas, seine Auffassung, Wahl und Auftragen der Farben […]. Ähnlich auch in den übrigen Künsten; das Subjekt ist das eigentliche Prinzip der künstlerischen Einheit des Werkes. (Muka!ovsk" 1944; dt. 1977, 78)

Neben dem zeichentheoretisch ableitbaren Autor-Urheber, dem Individuum, und dem textimmanenten Subjekt als Werkganzem stellt Muka!ovsk" in seinen theoretischen Überlegungen noch einen weiteren Aspekt des Autors heraus: Die Ausdrucksfunktion des Kunstwerks als Zeichen verweist zwar auf den Zeichengeber. Da es sich beim literarischen Werk aber um ein Zeichen in ästhetischer Funktion und daher mit eingeklammerter Referenz handelt, verweist es keineswegs (nur) zurück auf den empirischen Autor, sondern setzt im Rezipienten die Abduktion eines „konkreten Schöpfersubjekts“ als hypostasierte Autorpersönlichkeit in Gang. Im Unterschied zu den anderen Arten von Zeichen, wo vor allem die Beziehung zwischen dem Zeichen und der von ihm vertretenen Sache (der reale Bezug) zur Geltung kommt, tritt beim Kunstwerk, einem autonomen Zeichen mit abgeschwächtem realen Bezug, jedoch vor allem der Zusammenhang zwischen dem Zeichen und dem Subjekt in den Vordergrund. Und das wahrnehmende Subjekt empfindet deshalb hinter dem Kunstwerk intensiv das zeichengebende Subjekt (den Künstler) als verantwortlich für den seelischen Zustand, den das Werk im Rezipienten hervorgerufen hat. Von hier ist es nur noch ein kleiner Schritt zur unwillkürlichen Hypostasierung eines konkreten Schöpfersubjekts, das allein auf der Grundlage der durch das Werk gegebenen Voraussetzungen aufgebaut wird. Es ist klar, dass diese hypostasierte Persönlichkeit, die wir als Autorpersönlichkeit bezeichnen werden, sich keineswegs mit der wirklichen psychophysischen Persönlichkeit des Künstlers decken muss. (Muka!ovsk" 1943/45; dt. 1989, 215 f.)

Den Begriff der Persönlichkeit, verstanden als personalisiertes Integral überindividueller kultureller und ästhetischer Erfahrungen, setzte Muka!ovsk" auch ein, um die literarische Evolution zu erklären.58 In Der Dichter und das Werk (Mitte 1940er Jahre) z. B. modellierte er die Autorfunktion als „historisches und dynamisches Faktum“, denn die (Dichter-)Persönlichkeit stellte für ihn den eigentlichen Entwicklungsfaktor der Kunst- bzw. Literaturgeschichte dar, die Schnittstelle von ,suprapersonaler Entwicklungsgesetzmäßigkeit‘ und ,individuellem Talent‘ (Muka!ovsk" Mitte 1940er Jahre; dt. 1989, 211). Er siedelte diese Persönlichkeit auf der Grenze zwischen Text und dem als Material verstandenen Kontext an. Sie ist das Prinzip, durch das Material auf innovative Weise in das Kunstwerk eingeführt wird. Mittels individueller Überschreitungen von historisch gegebenen literatursystematischen Normen treibt sie die Evolution der literarischen bzw. künstlerischen Reihe voran (Muka!ovsk" 1943/45). _________ 58

Siehe hierzu auch Felix Vodi#kas Arbeiten, insbesondere Vodi#ka 1969.

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Wir wollen nun diese Bestimmung dahingehend ergänzen, dass die dichterische Persönlichkeit eine Struktur ist, das heißt ein labiles, ständig in Bewegung befindliches Zusammenspiel von Kräften […]. Es ist wohl nicht erforderlich, besonders hervorzuheben, dass die Struktur, die wir als dichterische Persönlichkeit bezeichnen, nicht identisch ist mit der psychischen Struktur des Dichters als Mensch. Wir verlegen jedoch die dichterische Persönlichkeit, die im Hinblick auf die Literatur und ihre Entwicklung konzipiert wurde, nicht in das dichterische Werk, wie das beispielsweise die ursprünglichen Formalisten getan haben und wie das Roman Ingarden tut. Die dichterische Persönlichkeit sehen wir zwischen der Literatur und alldem, was die Literatur von außen umgibt, also auch zwischen der Literatur und der konkreten, als „Dichter“ bezeichneten Persönlichkeit. (Muka!ovsk" Mitte 1940er; dt. 1989, 211f.)

Neu ist an Muka!ovsk"s semiotischer Konzeption der Entwurf zweier für die Kommunikation verantwortlicher Rollensubjekte, die beide – als schaffender Autor und als rezipierender Leser – mit dem Werk funktional verbunden sind. Damit einher geht nicht nur die Modellierung des Autors als vermittelnder Urheber, durch den das kollektive Bewusstsein mit seinen Normen in individueller Weise in das Werk eingeht, sondern vor allem die radikale Öffnung des Modells hin zu einer starken Beteiligung des Rezipienten.59 Erst die ,Lektüre‘ lässt aus dem Artefakt ein ästhetisches Objekt werden, sie hypostasiert die Bedeutungsstruktur des literarischen Textes und ihre Intentionalität in der Persönlichkeit: „Die Autorpersönlichkeit ist ein bloßer Schatten, ein bloßer Widerschein der Struktur des Werks im Gemüt des Wahrnehmenden“ (Muka!ovsk" 1943/45; dt. 1989, 216). Neu ist dadurch auch die dynamische Komponente des Konzepts, denn gemäß der Vielzahl von Lektüren sind viele sich wandelnde Hypostasierungen von autorfunktionalen Persönlichkeiten in Abhängigkeit vom sich historisch verändernden Rezipientenkontext denkbar.60 _________ 59

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Vgl. H. Schmid (1997, 287): „Vielmehr stattet er [Muka!ovsk"] den Rezipienten mit der Macht aus, die gestische Spurung des Artefakts, mit der sich die einheitliche Sinnintention des Autors verbindet, auszulöschen und zu ersetzen durch eine neue Spurung mit eigener Sinnintention. In ihrem Lichte manifestiert sich die Autorintention als Nicht-Intention oder ,Unabsichtlichkeit‘ […]“. – Dieser Aspekt der „Empfänger-Beteiligung“ war es dann auch, der für Wolfgang Isers und Hans R. Jauß’ Rezeptionsästhetik Anschlussmöglichkeiten bot. Wolf Schmids Konzept des abstrakten Autors, mit dem er u. a. explizit an Muka!ovsk" und an #ervenkas Modell anknüpft, greift in seinem Aspekt einer historischen Dynamik auf diese Überlegungen zurück: „Der konkrete Autor ist eine einmalige, historische Persönlichkeit und kann deshalb keiner Veränderung durch die Geschichte unterliegen. Ebenso bleibt das Werk als ,äußeres Symbol‘ im Verlauf seiner geschichtlichen Existenz mit sich selbst identisch. Dennoch verändern sich mit der Wandlung des Leserpublikums (Pa … Px) und der damit verbundenen Umgestaltung des Dechiffrierungskodes Autor und Werk in der Sicht dieses Publikums. So entspricht jeder neuen Rezeption eine andere Vorstellung von der Dichterpersönlichkeit und ein anderes ästhetisches Objekt“ (Schmid 1973, 21).

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b. Miroslav !ervenkas Werksubjekt Muka"ovsk#s autortheoretische Überlegungen greift !ervenka (1967) in seiner semiotischen Analyse des Bedeutungsaufbaus im literarischen Werk auf und entwickelt sie systematisch weiter.61 Ausgehend von Ingardens Schichtenmodell des literarischen Kunstwerks stellt !ervenka eine Typologie von Bedeutungskomplexen auf, die durch ,fortschreitende Akkumulation „nebeneinander“ stehender Elemente‘ entstehen und sich zu Bedeutungsganzheiten auf der jeweils höher gelegenen Ebene formieren (!ervenka 1967; dt. 1978, 93).62 Das literarische Werk wird letztlich gebildet von einem „Komplex strukturierter, hierarchisierter Bedeutungen, aufgegliedert in mehrere Teilkomplexe, die relativ begrenzt sind, wenn sie sich auch zugleich gegenseitig durchdringen“ (1967; 1978, dt. 163). Je nach Ausrichtung des gewählten Ordnungsprinzips – nach Thema (den Bestandteilen der fiktiven Welt), Gattung und Komposition, oder dem sich zum Ausdruck bringenden Textsubjekt – lassen sich in einem literarischen Werk unterschiedliche Bedeutungskomplexe isolieren, von denen unter dem Gesichtspunkt der hier erörterten Autortheorie die Komplexe fiktiver Erzähler und lyrisches Subjekt von besonderem Interesse sind.63 Beide siedelt !ervenka auf der obersten Ebene der fiktiven Textwelt an, wobei das Subjekt in der Lyrik als „Achse des thematischen Aufbaus“ funktioniert64, im Erzähltext als Erzähler, der alle Elemente der dargestellten Welt in sich verbindet (!ervenka 1967; dt. 1978, 129). Dabei betont er sowohl den fiktionalen als auch den Konstruktionscharakter dieses Ausdruckssubjekts, das im Falle des Erzählers gebildet wird durch die „faktische Funktion des Erzählens“ und durch „stilistische Indizialzeichen“ (1967; dt. 1978, 130).65 Von diesen Textsubjekten unterscheidet !ervenka im Anschluss an Muka"ovsk# einen weiteren „semantischen Komplex“, das Werksubjekt, _________ 61 62 63

64 65

Zu den zeichentheoretischen Implikationen bei Muka"ovsk# und bei !ervenka, die auch Schmid teilt, siehe ders. (1973, 18–24). Hier sieht !ervenka Parallelen seines semiotischen Ansatzes zu Roland Barthes, u.a. zu dessen Mythosbegriff in den Mythologies (1957). Dem lyrischen Subjekt und seiner Fiktionalität widmete !ervenka (2003) unlängst eine eigene Studie, in der er sein Konzept auch zu subjekttheoretischen Positionen des Poststrukturalismus in Beziehung setzt. Zu einer Diskussion des lyrischen Subjekts, das im tschechischen Spätstrukturalismus nicht unumstritten war und zu dem !ervenka wiederholt zurückkehrte, siehe Bílek (2006). !ervenka (1967; dt. 1978, 131) schlägt hier eine Typologie vor, die den Erzähler nach dem Grad seiner Beteiligung am Geschehen der dargestellten Welt charakterisiert, ähnlich der an Genette anschließenden, noch differenzierteren Typologie von Susan S. Lanser (1981), vgl. zu letzterer auch Schmid 2005, 95. !ervenkas (1967; dt. 1978, 135) Beschreibung der Differenz zwischen Erzähler und dem zu diesem in einer potentiell wertenden Beziehung stehenden impliziten Werksubjekt lässt Ansätze einer Theorie des unzuverlässigen Erzählens erkennen.

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das sich auf der hierarchisch höchsten Ebene und über der fiktiven Welt als deren „Bestimmungskomplex“ rekonstruieren lässt und somit den „Schlussstein“ des Bedeutungsaufbaus, die Verkörperung der Werkintention, bildet (1967; dt. 1978, 129). Der Autor […] wird somit bei !ervenka zum eigentlichen Bedeutungskorrelat, zum signifié des Werks als eines einheitlichen Zeichens, mit anderen Worten: zu dessen ästhetischem Objekt, das entstanden ist aus dem projektiven Vollzug des Artefakts, der seinerseits als Ergebnis einer Selbstprojektion des Autors begriffen wird. (Stempel 1978, XLIX)

An anderer Stelle bezeichnet !ervenka dieses „Korrelat der individuellen Struktur des Werkes“ (1967; dt. 1978, 135) als Persönlichkeit und definiert diese als „rein semiotische[s] Konstrukt, das dem Text als sein ,hypothetischer Urheber‘ zugeordnet ist, als mögliches Subjekt der Wahlakte, aufgrund derer das Werk entstanden ist“ (!ervenka 1971, 145). Bei der Konstruktion dieser Persönlichkeit werden die Zeichen auf der hypothetischen, höchsten Werkebene, die von der komplexen Struktur aller am Werk beteiligten Zeichen gebildet wird, als Indices aufgefasst (!ervenka 1967; dt. 1978, 170). Damit greift !ervenka auf Muka"ovsk#s „Spur“ zurück, mit der schon die semantische Geste auf ihren – in !ervenkas Auslegung allerdings ausdrücklich werkimmanenten (1967; dt. 1978, 171 f.) – Urheber verwies. Der Autor wird somit, als Urheber des Werks, zu dessen semiotischem Konstrukt, das offen ist für die Angliederung von „Spuren des Machens“, die im Werk enthalten sein können und als Thematisierungen des literarischen Schaffensprozesses direkt, d. h. ohne Vermittelung über die Hierarchie des Bedeutungsaufbaus in den höchsten Bedeutungskomplex eingehen. (Stempel 1978, L)

Erst in seiner letzten Arbeit zum Thema wird !ervenka endgültig festlegen, dass mit Werksubjekt die textsemantische Hypostasierung der Werkintention gemeint ist, die ausgehend von einem literarischen Einzeltext als Subjektvorstellung im Leserbewusstsein entsteht. Mit literarischer Persönlichkeit hingegen will er einen werksemantischen, „übergeordneten Komplex“ bezeichnet wissen, der eine eigene „literarische Biographie“ haben kann (!ervenka 2003, 41–43). Für Muka"ovsk# bedeutete das Artefakt nicht nur die auf den Urheber verweisende „Spur“, er sah in ihm auch die semiotische Funktion eines „Signals“, mit dem der Empfänger des ästhetischen Kommunikats bei der Realisierung des ästhetischen Objekts in die gewünschte Bewusstseinshaltung gebracht werden sollte.66 Dementsprechend entwirft !ervenka die Persönlichkeit des Adressaten oder Angeredeten als Rezipienten par excellence, er ist „Projekt“, „Postulat“ und „Aufruf, mit dem sich _________ 66

Zu „Spur“ und „Signal“ bei Muka"ovsk# und deren Bezug zur Bühlerschen Sprachtheorie vgl. H. Schmid 1997, 281–283.

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das Werk an das gesellschaftliche Kollektiv und an die Zukunft wendet“ (!ervenka 1967; dt. 174, 175). Wenn das Subjekt des Werkes Korrelat des Komplexes von Akten schöpferischer Wahl war, so ist die Bedeutungsganzheit des Angeredeten ein Komplex von erforderlichen Verständigungsfähigkeiten; von Fähigkeiten, dieselben Codes zu verwenden und ihren Vorrat analog zum Schaffen des Sprechers zu entwickeln, von Fähigkeiten, die Potentialität des Werkes zum ästhetischen Objekt zu formen. (!ervenka 1967; dt. 1978, 174 f.)

Auch hier betont !ervenka die Textimmanenz der Konstruktion, sie ist dem „Werk inhärente Norm und Ideal“ (ibid.) und weist Parallelen zu ähnlichen narratologischen Konzeptualisierungen wie dem idealen oder impliziten Leser auf.67 In der Tschechoslowakei war durch Okkupation, Krieg und die sich anschließenden politischen Restriktionen das strukturalistische Denken in den vierziger Jahren zu einem ersten Ende gekommen. Daher erschienen auch Muka"ovsk#s autortheoretische Schriften mit zwanzigjähriger Verspätung erst in den 1960er und 1970er Jahren im Druck. Seine Arbeiten wurden ab dieser Zeit nach und nach auch in westliche Sprachen übersetzt und mehr oder weniger intensiv von der strukturalistisch orientierten Erzählforschung in den siebziger Jahren zur Kenntnis genommen. !ervenkas systematisierender Erneuerung der zeichentheoretischen und autorfunktionalen Anteile von Muka"ovsk#s Ansatz war hingegen aufgrund der politischen Folgen von 1968 selbst innerhalb der Tschechoslowakei keine angemessene Rezeption beschieden. Dennoch fügt sich die strukturalistische Erzähltheorie tschechischer Provenienz – und darin unterscheidet sie sich von den russischen erzähltheoretischen Modellen im Anschluss an die Formalisten – trotz ihrer problematischen Publikationsgeschichte in den literaturtheoretischen Diskurs der Zeit. Sie entsteht in produktiver Auseinandersetzung mit der internationalen Tradition und mit aktuellen Ansätzen anderer Wissenschaftskulturen – und sie findet in der europäischen Theoriebildung auch über die Slavistik hinaus Beachtung. Zu allererst aber wird sie von den polnischen Nachbarn rezipiert, bei denen günstigere Bedingungen für den Strukturalismus vorherrschten.

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Booth entwirft als Gegenbegriff zum implied author den implied reader, Wolfgang Iser fasst den impliziten Leser als „Vororientierungen, die ein fiktionaler Text seinen möglichen Lesern als Rezeptionsbedingungen anbietet“ (Iser 1976, 60), vgl. auch Erwin Wolffs intendierten Leser (1971) oder Umberto Ecos Modell-Leser (1979).

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6. Autor- und Leserrollen: der polnische Theoriebeitrag Die sich in Polen bereits vor dem zweiten Weltkrieg etablierende strukturalistische Ausrichtung der Literaturwissenschaft nahm einerseits für sich eine bis an den Beginn des Jahrhunderts zurückreichende Tradition funktionalistischen und systempoetischen Denkens in Anspruch (z. B. bei Kazimierz Wóycicki), andererseits verstand sie sich als Fortführung der früh zur Kenntnis genommenen russischen Formalen Schule, der Arbeiten !irmunskijs, Vinogradovs, Bachtins und seines Kreises sowie des Prager Strukturalismus, dessen Vertreter mit den polnischen Kollegen in einem produktiven Austausch standen.68 Schon in den dreißiger Jahren verband der in Wilna tätige Manfred Kridl in seinen Arbeiten Ingardens Ansätze mit den Konzeptionen des russischen Formalismus und untersuchte mit seiner ,integralen Methode‘ die „innere Beschaffenheit“ des literarischen Werks. Aus seinem Schülerkreis und einer Gruppe junger Polonisten an der Universität Warschau um Kazimierz Budzyk ging nach 1945 eine strukturalistisch arbeitende Forschungsrichtung hervor. Für die polnische Literaturwissenschaft bedeutete dies eine informations- und kommunikationstheoretische Neuorientierung, die in den sechziger Jahren neben einer marxistisch fundierten Richtung zum „klassischen“ (Fieguth) Forschungsparadigma in Polen wurde (Kroll 1974, 19).69 In Auseinandersetzung mit dem französischen Strukturalismus sowie der Moskau-Tartu-Schule um Jurij Lotman entwickelte diese Gruppe von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, ähnlich wie die tschechischen Kollegen, einen „dynamischen Strukturalismus“ (Günther), der mit seinem Interesse an Fragen der literarischen Evolution auf eine „methodologische Überwindung der Barriere zwischen Werkimmanenz und werkexterner Betrachtung“ (Fieguth 1975, 21) zielte. Zum einen wurden von dieser Gruppe kommunikationssoziologische Aspekte literarischer Werke untersucht, zum anderen wurde ein differenziertes Modell der literarischen Kommunikation entwickelt, wobei besonders _________ 68

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Einen Überblick über die Geschichte der polnischen Literaturwissenschaft bietet Markiewicz 1982; zur ,integralen Methode‘ siehe Bojtar 1970 – Zum regen tschechischpolnischen Wissenschaftsaustausch – besonders der Strukturalisten der Nachkriegsgeneration, siehe G"owi#ski (2006). So kann S"awi#ski (1975, 162) für das international „allgemein gängige Repertoire von methodologischen Orientierungen“ konstatieren: „Eine Polemik gegen den mißbräuchlichen Biographismus in der Literaturgeschichte nähme heute alle Züge eines Kampfes gegen Windmühlen an. Vergeblich ist derzeit die Suche nach Anhängern desjenigen Biographismus, gegen den seit einem halben Jahrhundert die Vertreter der egozentrischen Strömung im literaturwissenschaftlichen Denken – die russischen Formalisten, die Phänomenologen und die New Critics – angekämpft haben. […] Vom Biographismus ist heute nichts mehr zu spüren, weder als Bedrohung noch als Chance.“ – Diese Situation mag sich heute allerdings bereits wieder geändert haben, vgl. Winko 2002.

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auf die bisher vernachlässigte Empfängerseite abgehoben wurde – mit dem Ergebnis, dass den ,textinternen‘ und den ,außertextlichen‘ Sendeinstanzen gleichberechtigte Positionen auf der Empfängerseite gegenübergestellt wurden (Fieguth 1973, 186).70 Mit ihrem Interesse an der strukturalistischen Konzeption des sozialen Charakters von Literatur, das literatursoziologische und -historische Fragestellungen miteinschloss, dynamisierten die Vertreter dieser Gruppe – weiterreichend und systematischer als es die Vorläufer getan hatten – das auch aus dem tschechischen Strukturalismus bekannte Ebenenmodell der Erzähltextkommunikation. Das in den einzelnen Beiträgen der polnischen Erzähltheoretiker relativ kohärente Modell zeichnet sich aus: •





durch die konsequente Einbeziehung der außertextlichen Produzenten- und Rezipientenseite in die Erzähltextkommunikation unter funktionalen Gesichtspunkten, was zu einer zusätzlichen Differenzierung der außertextuellen Instanzen führte (u. a. Okopie!S"awi!ska 1971); durch eine doppelte Perspektive auf die einzelnen Instanzen – entweder von der den Adressaten entwerfenden Senderseite (,produktionsästhetisch‘) oder von der das sendende Subjekt konstruierenden Empfängerseite (,rezeptionsästhetisch‘) aus. Dies lässt – literatursoziologisch gesehen – je nach Blickrichtung die Instanzen entweder eine in die narrative Sender-Empfänger-Situation eingeschriebene Rolle einnehmen, oder sie entstehen als kulturell kodierte Stereotypen in der Rezipientenwahrnehmung (Bartoszy!ski 1971);71 und durch die Auffassung des textimmanenten Autors (des Subjekts der kreativen Tätigkeit) als Zone, die dialektisch aus der funktionalen Relation zwischen Autor in seiner Rolle als Textproduzent und Werk entsteht. Das Subjekt der kreativen Tätigkeiten ist gleichsam eine Zone, die die literarische Äußerung von dem biographisch determinierten Individuum abgrenzt, dem Individuum, welches der Schriftsteller ist. Diese Zone repräsentiert die In-

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Kroll (1974, 20) verweist auf die deutliche Differenz dieses in erster Linie textimmanent argumentierenden Ansatzes zur phänomenologischen Rezeptionsästhetik in der Tradition Ingardens, bei der dem Leser die Funktion eines „Mitschöpfers“ zukomme, aber auch zu anderen Ansätzen der Rezeptionstheorie, die in ihrer Theoriebildung ausschließlich den Leser fokussierten. Den polnischen Erzähl- und Dichtungstheoretikern kam es vorrangig um die Ausfüllung eines bisher vernachlässigten Aspekts – der Empfängerseite – im als Kommunikat aufgefassten literarischen Kunstwerk an. Auch in Modellierungen der westlichen Erzählforschung sind entsprechende Differenzierungen der werkimmanenten Instanz zwischen Erzähler und dem außertextuellen Autor anzutreffen, vgl. z. B. Mieke Bal (1978) und Wolf Schmids kritische Stellungnahme zum Versuch der ,Aufspaltung des abstrakten Autors‘ (2005, 58–61).

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teressen des Werks, obwohl es andererseits nicht unangemessen wäre zu sagen, dass diese Zone gegenüber dem Werk auch die Einstellungen (Neigungen, Überzeugungen u. dgl.) dieses Individuums repräsentiere. Sie ist eine Art ,Produkt‘ aus der Lebenssituation des Schriftstellers und der fiktionalen Welt des Werks […]. (S!awi"ski 1966; dt. 1985, 313)

Ausgehend von der Annahme, das literarische Werk sei „das kristallisierte Zentrum eines […] zweipoligen sozialen Raums“ (S!awi"ski 1966; dt. 1985, 313), entwerfen die polnischen Theoretiker den Autor und den Leser bzw. den Sender und den Empfänger als „Individualsysteme von Rollen“. Im literarischen Kommunikationsprozess realisieren sich spezifische Rollen aus dem ,Rollenset‘ des jeweiligen Individualsystems, mit dem die Einzelrollen korreliert bleiben. Dass sich damit ein interpretatorischer ,Spielraum‘ ergibt, wird in diesem Ansatz mitreflektiert.72 Geht man von Okopie"-S!awi"skas (1971) kompilierender Fassung des Modells aus, so ergeben sich für die außertextuelle Kommunikationssituation eines literarischen Textes73 zwei Ebenen, von denen die zweite der ersten untergeordnet ist: Auf der textfernsten Ebene meint Autor den Menschen mit allen seinen Lebensrollen bzw. den allgemein gängigen Stereotypen eines konkreten Schriftstellers als empirische Person im Bewusstsein seines Lesers, dem der konkrete Leser mit seinem über die Leserrolle hinausgehenden Lebensrollen bzw. die allgemeine Vorstellung des Schriftstellers von seiner Leserschaft gegenüber steht. Von diesen Instanzen unterscheidet das Modell das konkrete „Individualsystem“ Autor in seiner „Sonderrolle“ als Verfasser eines bestimmten literarischen Textes, für den er als Disponent der literarischen Regeln (dysponent regu! literackich) durch bestimmte Auswahl für die Semantik des literarischen Kommunikats bedeutsam ist. Der Autor spielt viele Rollen in seinem Leben; schreibt er einen Roman, spielt er eine Spezialrolle, die in spezifischer Weise auch andere seiner Lebensrollen gefiltert enthält. Diese Filterung bedeute aber gleichzeitig eine literarische „Sozialisierung“ seiner Individualität, denn diese Spezialrolle ist auf die „literarische Öffentlichkeit“ und die in ihr wirksamen literarischen Kommunikationsnormen bezogen. In ihr führt der Autor einen Dialog mit bestimmten literarischen Lesernormen und Konventionen, einen Dialog, der in die kommunikative Dimension des von ihm geschaffenen Werks eingeht und zugleich den Bezug des Werks zum literarhistorischen Prozeß mitkonstituiert. (Fieguth 1975, 21)

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Zur Kritik an entsprechenden Modellen und dem Argument, als semantische Größe gehöre die textimplizite ,Autor-Instanz‘ nicht in eine analytische Narratologie – siehe Schmid (2005, 61–65). Die Studien stellen einen universalen Anspruch für ihr Modell auf, obgleich sie vorrangig am Beispiel der Lyrik entworfen wurden. Für die Anwendung des Modells auf das Drama und die notwendigen Modifikationen siehe Fieguth 1973. Eine Weiterentwicklung des polnischen Modells in Bezug auf den lyrischen Text unter Berücksichtigung westlicher Beiträge schlägt Kraan (1991) vor.

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Auf der Empfängerseite steht dem Autor in der Rolle des Produzenten der Leser als Disponent der literarischen Empfangskonventionen gegenüber. Dieser Leser wird vom Urheber-Autor in seiner Rolle eines typischen Lesers vorgeformt, wobei der Leser wiederum im Gegenzug den Produzenten des konkreten Textes als Verfasserstereotyp aus dem Text und den literatursoziologischen Konventionen ableitet. Innertextlich differenziert das Modell die Senderrolle erstens in ein implizites Subjekt der Schaffensakte (podmiot czynno!ci twórczych, S"awi#ski et al. [Hgg.] 1976) oder Subjekt des Werks (podmiot utworu, Okopie#-S"awi#ska 1971)74, das von der Empfängerseite aus als verantwortlich für die Regeln des konkreten Werks konstruiert wird. In dieser personalisierten Hypostasierung als ,Subjekt‘ sehen die polnischen Erzähltheoretiker eine Entsprechung zu Vinogradovs Autorbild (S"awi#ski 1976). Zweitens wird innerhalb der Textstruktur ein untergeordnetes literarisches Subjekt (podmiot literacki; ibid.) unterschieden, das in Form des Erzählers in narrativen Texten bzw. des lyrischen Subjekts in Gedichten dargestellt ist und als Integral für die Einheit des Textes dient. Auf der Ebene der erzählten Welt können Figuren als vom literarischen Subjekt zitierte Senderinstanzen auftreten. Für die Seite des Empfängers entwirft das Modell auf dieser erzählten Textweltebene entsprechend zitierte Zuhörer, auf der Ebene des literarischen Subjekts die dargestellten Rezipienten der Erzählung; und dem impliziten Subjekt des Werkganzen steht ein virtueller Empfänger (G"owi#ski 1967) bzw. ein idealer Leser der Regeln dieses Textes gegenüber. Die Vertreter der polnischen semiotisch-strukturalistischen Richtung (insbesondere Janusz S"awi#ski, Micha" G"owi#ski, Aleksandra Okopie#S"awi#ska, Teresa Kostkiewiczowa und der Ingardenschüler Kazimierz Bartoszy#ski) konnten sich bereits in den sechziger Jahren in der polnischen Akademie der Wissenschaften etablieren und sicherten durch die Initiierung oder die Beteiligung an wissenschaftlichen Reihen und wichtigen kodifizierenden Werken ihrem Ansatz eine im Vergleich mit anderen anderen sozialistischen Wissenschaftskulturen ungewöhnliche Breitenwirkung.75 _________ 74

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In den Arbeiten der Warschauer Gruppe finden sich auch andere Benennungen, z. B. für das Analogon des implied author (Booth) oder des abstrakten Autors (Schmid) u. a. Subjekt des Werkganzen, Subjekt der kreativen Tätigkeit, Urheber der Sprechregeln. Zur Präferenz einer ,weichen‘ Terminologie gegen eine normative Metasprache siehe S"awi#ski 1970. – Zu einer Kritik an der uneindeutigen Terminologie, vor allem der homonymen Mehrfachbelegung von Subjekt, siehe Veldhues (2003, 289 Fn. 211). Vgl. z. B. das mehrfach erweiterte Handbuch Zarys teorii literatury (Abriss der Literaturtheorie) von J. S"awi#ski, M. G"owi#ski und A. Okopie#-S"awi#ska, erste Auflage 1956; sowie vielfach aufgelegte terminologische Wörterbücher, u. a. S!ownik terminów literackich

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7. Vom Maskenspiel des Autors zum Rollenspiel des Lesers Eingesetzt hatte die autorfunktionalistische Theoriebildung zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit der Einsicht in die Differenz zwischen Autor und Erzähler, die mit der terminologischen Metapher der Maske beschrieben wurde. Der Autor trat hier als derjenige auf, der den Leser mit einem Authentizitätsspiel narrt und dabei, verdeckt durch die Literarizität des fiktionalen Textes, hinter der Sprachmaske unsichtbar bleibt. Mit Vinogradovs Konzept des Autorbilds, das ein Ergebnis der stilistischen Untersuchung der Äußerungssubjekte des literarischen Textes war, wurde der Versuch unternommen, die individualstilistische Spezifik eines Textes sowohl mit dem schöpferischen Bewusstsein des Autors in Verbindung zu bringen als auch mit der Vorstellung, die im Bewusstsein des Lesers aufgrund der strukturabhängigen Konstruktion eines verbildlichten Sinnzentrums entsteht, wobei die linguistisch motivierte Sprachanalyse immer im Vordergrund stand. Im tschechischen Strukturalismus führte die semiotische Auffassung des Kunstwerks zur Modellierung eines Werksubjekts als Funktion des Textes. Einerseits markiert es als Persönlichkeit die Schnittstelle, an der ästhetische und gesellschaftliche Kodes durch den Autor individualisiert in den Text eingehen, andererseits bedarf es in diesem Modell des Lesers, der aus der indizialen Zeichenhaftigkeit des Textes das Werksubjekt auf dem Hintergrund seiner Kodes rekonstruiert. In der polnischen Forschung zur Kommunikationsstruktur literarischer Werke schließlich lässt der Leser die unterschiedlichen Sendeinstanzen Rollen durchspielen, von denen das Subjekt des Werkganzen (Fieguth 1973) eine ist, die in der Lektüre durch Interpretation der Gesamtkonzeption eines Textes entsteht. Dass die Literaturwissenschaft auf ihrem Weg vom Autor zum Leser, der ein gutes Stück durch ,slavische‘ Wissenschaftsterrains führte, dennoch an kein Ende gekommen ist, zeigt das neuerliche Interesse am Problem des Autors76, das von einer Verteidigung seines ,Ablebens‘ über das Beharren auf der Sinnhaftigkeit seiner funktionalistischen Modellierung bis hin zur Reklamierung seiner Rückkehr in die Theorie vom Erzählen reicht.

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(Wörterbuch literarischer Begriffe) von J. S!awi"ski, M. G!owi"ski, T. Kostkiewiczowa und A. Okopie"-S!awi"ska (1976); schließlich das von J. S!awi"ski herausgegebene Podr!czny s"ownik terminów literackich (1994, Handwörterbuch literarischer Begriffe). Nünning 1993, Markovi#/$mid (Hgg.) 1996, Freise 1996, Jannidis/Lauer/Martinez/Winko (Hgg.) 1999, Kindt/Müller 1999, Jannidis/Lauer/Martinez/Winko (Hgg.) 2000, Schmid 2001, Detering 2002, Jannidis 2002, Veldhues 2003, Ibler 2004, Schmid 2005, Kindt/ Müller 2006.

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YANA MEERZON (University of Ottawa)

Russian Formalists’ Views of Film and Theater Interdependence The 1927 collection Po!tika kino, the cornerstone of the Russian Formalists’ studies of film and its language, aimed to devise a methodological apparatus to study film as an independent media that originates at the crossroads of literature, theater, and fine arts. Using the fundamental formalist methodology to study a work of art independently without a larger cultural and theoretical context, i. e. “considering an art form in terms of its ‘immanent’ properties, its particular systems and structures which are ‘not directly dependent on other orders of culture’” (!jxenbaum 1927a, qtd. in Eagle 1981, 2), the project’s participants (Viktor "klovskij, Boris !jxenbaum, Jurij Tynjanov, to name a few) described and defined the uniqueness of film’s aesthetics. The authors, therefore, not only “objected to the reduction of the object of […] study to factors of the author’s biography, socio-historical determinants, or philosophical ideas”, they now set to find out and agree on those “structural factors which were transforming ‘moving photographic images’ into an independent art from” (Eagle 1981, 2). They proposed to identify and study the major properties of a cinematic paradigm: its distinct language, the idiosyncratic ways of storytelling, the uniqueness of cinematic plot, space, time, genre and style, acting methods and choices, as well as audience reception of it. This pioneering but contradictory theory of film remains not only an engaging historical artifact (an example of a silent film theory) but also valuable to the study of today’s cinema. In particular, the book introduced the semiotic interdependence between film and theater aesthetics. It provided the insights on semiotic theories of acting in theater and film, which later became the subject of Czech structuralist (Prague Linguistic Circle) and Tartu Semiotic School’s studies of drama and cinema. Nonetheless, in its attempts to distinguish film from other audiovisual arts (theater, photography, sculpture, and book illustration), the collection demonstrated a number of theoretical flaws. Although the book recognized the interconnections between theater and film, it pre-

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sented a theater play as archaic, static, and verbally overwhelming instance of Aristotelian linearity, dominated by the continuity of cause and effect relationships. In their assessment of differences between the innovative poetics of film and the old-fashioned aesthetics of theater, Russian Formalists relied upon the 19th century melodrama and theatrical naturalism. They curiously ignored the most evident connections between the newly established art form (film) and theater practice of the time, both of which owed in their aesthetics to symbolist and futurist poetry and drama. Thus, theorizing montage as an example of a cinematic metaphor – the core of film’s dramaturgy, style and composition – the volume took no notice of Vsevolod Mejerxol’d’s concurrent experiments in theater (his invention of montage of attractions, the point of departure for Sergej !jzen"tejn’s theory of montage in film) and did not pay enough attention to erupting theater experiments with fragmented dramaturgy, foreground mise-en-scène, and alienated acting, all of which would later constitute the fundamentals of Brecht’s epic theater theory and practice.1 Thus in theoretically defining film aesthetics, the collection simply denied other visual arts, theater in particular, the dynamism and the power of symbolic expression. The subsequent cinema and theater studies of Czech Structuralists (the works of Roman Jakobson, Petr Bogatyrev, Jan Muka#ovsk$ and Ji#í Veltrusk$, among others) and Tartu Semiotic School (the works of Jurij Lotman and Vja%eslav Ivanov) brought the view of dynamism and the importance of the use of metaphor back to theater studies, putting the analysis of drama and performance into a larger structural and semiotic context. Specifically, Muka#ovsk$’s studies of acting in film and Veltrusk$’s concept of stage figure used in application to theater and film acting modified the Russian Formalists’ views of the stage-audience (actor-spectator) interdependence. These discoveries influenced the succeeding semiotic reformulations of drama, performance, film and visual arts aesthetics developed in the late 20th century European and American theater studies (Quinn 1995, 136–141). This article, however, does not aim at a coherent description of the ideas presented by Po!tika kino or their historical evolution. Herbert Eagle published this sort of study in his collection Russian Formalist Film Theory (1981), introducing a number of newly translated major articles from the book for the English speaking audience. The current study _________ 1

In their remarks, Formalists did not foresee the dynamics of montage as metaphor used in Brecht’s anti-Aristotelian drama. Based on the fragmented plot structure, epic drama escapes the linearity of Aristotelian cause/effect relationships, linear development of the conflict. It similarly to film relies upon the employment of flashbacks and flash-forwards, dream-inserts and various meta-theatrical devices.

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aims at the analysis of the Russian Formalists’ ideas on interrelationships between film and theater as they were presented in Po!tika kino. It specifically examines the semiotic interdependence between film and theater aesthetics as it emerges in the works of Muka!ovsk", Veltrusk" and Lotman. This paper argues that in the late 1920s due to the ideological changes in Soviet Russia and because of the advances in the cinematic technology (i. e., introduction of sound in film), the Russian Formalists had begun to experience a major shift in their analytical methods. The volume Po!tika kino presented a methodological transition from purely formalist to structural, semiotic and even sociological approaches.2 More specifically, since most of the contributors to the volume came to the field of film studies from literature and poetics, the authors rendered film as a type of narrative: a narrative that combines in its expressive language the techniques of verbal and non-verbal storytelling. The Russian Formalists had suggested in Po!tika kino analyzing verbal and nonverbal narrative as a representation of the change(s) of state and thus as something unfolding within particular temporal dimensions (Toma#evskij 1925).3 Accordingly, this view of film as a mixed media narrative (a combination of verbal and non-verbal types of storytelling) is applicable to theater performance, in and of itself a mixture of verbal and nonverbal elements of communication. Yet, the contributors to Po!tika kino were not concerned with analyzing a theater performance as a dynamic narrative; it is only in the works of their later followers (from Czech Structuralists to French and Soviet semioticians) that these ideas were fully developed. According to Wolf Schmid, “the classical concept [of narrative] restricts narrativity to the domain of verbal communication”, whereas the structuralist approach can recognize narrative and narratology in application to “any medium but excludes representations which referents do not have a temporal structure and consequently do not contain any changes of state” (Schmid 2003, 18). Consequently, this article proposes to look at film and theater acting as two different types of non-verbal narrative, in the way this phenomenon was first theorized by Russian Formalists. It then moves to examine the concepts of stage figure and film figure introduced and defined by the leading scholars of Czech structuralism. The article concludes with the _________ 2

3

Not only introduction of sound to silent film but also commercialization and politicization of the industry significantly alternated its expressive language: thus no analysis of the pure artistic forms taken out of their historical, cultural and social contexts was able to present reader with a coherent critical narrative of audio-visual arts of the time and their evolution. These ideas were later developed in structuralist (Todorov 1966) and semiotic studies of literature (Schmid 2003).

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analysis of Jurij Lotman’s reformulations of the role and functions of actor on stage and actor on screen as the major component of the audiovisual (theatrical or cinematic) narratology. In its three sections, this study looks at: 1. Cinematic referentiality: From Russian Formalists’ studies of cinematic language to Jurij Lotman’s secondary modeling systems; 2. Russian Formalists’ views on theater and its archaisms; 3. Theater-Film Interdependence: Stage Figure versus Film Figure. This study eventually focuses on the concepts of stage figure and film figure as they appear in the works of Russian Formalists, Czech structuralists, and Jurij Lotman.4

1. Cinematic Referentiality: From Russian Formalists’ Studies of Cinematic Language to Jurij Lotman’s Secondary Modeling Systems This section introduces the major points of Russian Formalists’ film aesthetics as it was conceived in Po!tika kino. Specifically, it presents the Formalists’ views on uniqueness of cinematic material and its expressive language. It discusses montage as the device of cinematic storytelling and dramatic composition, and montage as metaphor in film. Secondly, this section traces the evolution of the aforementioned ideas, developed by the structuralist thinkers and later in Tartu. It underlines the continuity of formalist ideas synthesized by the representatives of neoformalist aesthetics.5 _________ 4

5

Taking into consideration the scope of the problem and the length restrictions of this publication, I discuss the Russian Formalists’ film theory legacy only with regards to its Prague and Tartu followers. The description and analysis of the French film and theater structuralist theories as a possible dialogue with the contributors to Po!tika kino is a subject of a separate study. David Bordwell calls the 1960s wave of renewed interest in Formalists’ ideas and doctrine neoformalism. As he writes, this trend “derives principally from Slavic poetics, particular the Russian and Czech thinkers, but it is also influenced by the more or less oblique ‘return to Slavic theory’ one finds in Todorov, Genette, the 1966–1970 Barthes, and contemporary Israeli poeticians like Meir Sternberg. It draws heavily upon the writings of Bazin, the Soviet filmmakers, and Burch, without being committed to a ‘phenomenological’ or ‘materialist’ or ‘serialist’ theory of film. In fact, neoformalism is not a theory of film at all, if we take that to consist of a set of propositions explaining the fundamental nature and function of all cinematic phenomena. […] Neoformalism presumes that one cannot discover factual answers to questions about films’ construction without carefully devising analytical concepts appropriate to these questions. But it also assumes that not all concepts are equally precise, coherent, or pertinent, and so we may evaluate competing conceptual schemes; it also assumes that not all concepts explain the data with equal clarity, richness, and economy; and, crucially, it assumes that we are not complete prisoners of our conceptual schemes, that we may so construct them that anomalous and exceptional phenomena

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1.1. Cinematic Material and its Expressive Language The aim of 1927 Po!tika kino was to describe cinema, an emerging type of a popular entertainment of the time, as an independent form of art – to determine and examine its unique artistic language and aesthetic system. Methodologically, the book extended the Russian Formalists’ expertise in theory of language and literature into their study of visual arts, and cinema in particular. In his 1923 article “Literaturnyj fakt”, Jurij Tynjanov formulated structural and aesthetic specificity of an artistic language (the language of a literary work). He analyzed the processes of transformation of everyday language into the material of a literary artifact as the processes of deforming of the material, i. e. transforming and translating the language of quotidian into the language of an artifact. In his 1972 book Analiz po!ti"eskogo teksta, the revival of the formalist ideas on the tension between the artifact’s form and content, Jurij Lotman, the founder of the Tartu Semiotic School, introduced a distinction between the two by naming the language of everyday the primary modeling system and the language of an artifact the secondary modeling system. Following the Formalists’ ideas, Lotman proposed to recognize all natural languages – the languages of peoples’ everyday communication – as primary modeling systems, and all other languages constructed by humans – the languages of literature and art, cultural significations, religion and so on – as secondary modeling systems. These languages present “semiotic systems based on the language of the quotidian, but with a more complex structure” (Lotman 1972, 21).6 In application to film, it was Viktor !klovskij who similarly to Tynjanov used the concept of cine-language in film by analogy with language in literature as its material. In his 1925 article “Semantika kino” !klovskij stressed film’s unique mode of communication: “Cinematography is an art of semantic motion. The core material of cinematography is the special cine-word, a piece of filmed material with a particular significance” (!klovskij 1925, 32). In the opening contribution to Po!tika kino, “Problems of Cinema Stylistics” (1927b), Boris "jxenbaum continued !klovskij’s argument, summarized the particularities of a cine-language, and mapped out a direction for further development of film aesthetics. He extended the application of the term photogenie7 to cinematic art – the art _________ 6 7

are not invisible but actually leap to our notice. In sum, neoformalist poetics makes theoretically-defined, open-ended, corrigible, and falsifiable claims” (Bordwell 1989, 390). Unless otherwise specified, the translations from Russian into English are mine [Y. M.]. The term photogenie was invented by Louis Delluc in the book of the same title, published in Paris in 1920.

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and the language of motions (!jxenbaum 1927b, 23; tr. 1981, 65). !jxenbaum insisted that in film “the deformation of nature” (!jxenbaum 1927b, 25; tr. 1981, 67), or deformation of the material, in Tynjanov’s words, is the basis of artistic expressivity. In the hands of cinematographer the movie camera already functions in a manner analogous to pigments in the hands of a painter. The very same ‘nature’ taken from various viewpoints, at various distances, and with various lightings, produces stylistic effects. (!jxenbaum 1927b, 25; tr. 1981, 67)

In addition, !jxenbaum suggested that the cinematic style and its dramatic composition are determined by montage: Directors concern themselves not only with the composition of the film (montage), but also with the composition of the individual shots, already guided by pure principles of painting: symmetry, proportion, general relationship between lines, distribution of light etc. (!jxenbaum 1927b, 25; tr. 1981, 67)

Finally, !jxenbaum declared that the major cinematic function – to record reality and represent it on screen in as much a realistic manner as possible – is not necessarily the nature of film; it is only its one possible style (among many) of artistic expression. Cinematic naturalism, !jxenbaum stated, is no less conventional than literary or theatrical naturalism. It is true that cinema can bring actual nature into the film, which theater, for example, cannot do, the film director can have a kind of ‘notebook’ in which he stores shots of everyday life which have been filmed in passing – to be used later in the montage of some film […] but he can do this only as a writer would, i. e. only by subordinating this material to the general stylistic sign of the film and to its generic conception. (!jxenbaum 1927b, 25; tr. 1981, 67).

Speaking of stylistic demands of film, !jxenbaum saw cinematic composition, the structure of film’s narrative and montage, instrumental in creating cine-language, the artistic language of cinematic expression, the language dominated by its poetic function (Jakobson) or aesthetic function (Muka"ovsk#). Jakobson’s poetic function (the sixth in his six-function communicative model) plays the dominant role in the artistic utterance and therefore sets standard language apart from poetic language (Jakobson 1987a, 69–71). Similarly, poetic function of a cinematic utterance defines a cinematic shot as an artistic statement: it characterizes cinematic language as poetic not standard. In his seminal study Aesthetic Function, Norm and Value as Social Facts, Jan Muka"ovsk# (1936a) developed this argument and introduced the concept of aesthetic function as the dominant in art making, thus focusing his communicative model on the message, or artifact, itself. Muka"ovsk#’s communicative model was based on the three-partite function structure of Karl Bühler’s organon model, which he broadened by adding the fourth – aesthetic – function in order to set apart communication in

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munication in life and in art. Muka!ovsk"’s semiotic model relied on social context and required looking at any given work of art within this context. This statement implied a phenomenological viewpoint assuming that the collective perception of a work of art may vary from one individual receiver to another only within a particular aesthetic code known to a particular community. This code becomes an aesthetic norm, which consists of collective and individual experience evoked by the same art product. Muka!ovsk" claimed that “the changeability of the norm and its force cannot be equally grasped and justified either from the standpoint of mankind as a type or of men as individuals, but only considering man as a social product” (1936a, 24). Jurij Lotman elaborated this idea stating that language and communication in everyday life are so interdependent that an artist must make an effort to differentiate between the two in order to make the everyday language both material and system of the artifact. He pointed out that film unlike other visual arts, unlike theater in particular, uses the resemblance between the photograph and its object similarly to the way poetry and literature use word (1972, 22): Cinematography in film acquires the qualities of the word. […] The use of picture as a poetic trope – metaphor, metonymy, […] reproduction of puns and wordplay in visual images – all this is a typical indication that image in cinema acquires the unlikely features of verbal language. (Lotman 1973, 319)

This statement was Lotman’s elaboration on Tynjanov’s idea on the similarity between film and poetry, between a cinematic shot and a poetic synecdoche, found in his 1927 article. Tynjanov argued: Art forms differ not only in their subject matter, but also in their treatment of it – especially in the later. Otherwise a simple conversation – speech – would be verbal art. Speech after all, has the same ‘hero’ as verse: the word. The fact of the matter is, however, that there is no such thing as ‘a word’ in general. (Tynjanov 1927, 43; tr. 1981, 85)

By 1927 Tynjanov’s views had deviated from purely formal to structural and semiotic. Introducing film as a semiotic construct, he stated: The visible world is presented in cinema not as such, but in its semantic correlativity; otherwise cinema would be nothing more than live (or still) photography. The visible man and the visible thing constitute an element of cinematic art only when they serve as a semantic sign. (Tynjanov 1927, 43, tr. 1981, 85)

Theorizing the difference between photography and cinema, Tynjanov pointed at the static nature of a photo-representation conditioned by “the isolation of the material in a photograph [that] leads to the unity of every photograph, to a special dynamic interrelationship of all the objects – or of all the elements of a single object – within the photograph” (1927, 48–49; tr. 1981, 90–91). Accordingly, if a photograph, a twodimensional record and a representation of objects and figures in the

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single space, is a static form of visual arts, then cinema, a twodimensional moving representation of figures and objects in multiple spaces, is dynamic. A photograph, as Tynjanov suggests, “records a unique situation; in cinema, the situation becomes a unit of measure” (1927, 49; tr. 1981, 91). In this statement, Tynjanov comes closest to semiotic rendering of film as a non-verbal narrative. For Tynjanov, unlike a photograph film is defined by a variety of changes of state (1927, 48– 49; tr. 1981, 90–91): this narrative is dependent upon the unfolding of events in time, events that are not-necessary communicated verbally to the audience, but are presented (as in the early silent film) as a nonverbal chain of black and white shadows projected on a screen for the gaze of the audience.8

1.2. Montage – a Principle of Cinematic Storytelling Tynjanov’s writings were fundamental in turning Formalists’ ideas into semiotic reformulations of cinematic aesthetics, which “entailed understanding of the various kinds of semantic signs being created in cinema, the means for their articulation and differentiation and the devices for combining signs into larger units of meaning” (Eagle 1981, 5). As !jxenbaum and Tynjanov believed, the relationship between a work of art and an imitated object is a semiotic one. In film and theater these relationships operate through manifestation of natural and artistic signs. The aesthetic representation is characterized by the distance between a real object of imitation and its ideal image, between the material and the mode of its expression, and, as an artefact, between a signified and a signifier. This dichotomy manifests the indexical relationships between the copy and its original in art. A spectacle (theatrical or cinematic) is consequently defined by the processes of representation. Moreover, as Petr Bogatyrev wrote in 1938 in theater everything seen on stage is “a sign of a sign and not a sign of a material thing” (1938, 33). According to Bogatyrev, every object and every sign on stage acquires “a representational function” (1938, 34); and thus theater performance makes it possi_________ 8

This tendency to render theater and film performance as text or a narrative will be developed in the works of French film and theater semioticians from Roland Barthes to Anne Ubersfeld, Christian Metz, and Patrice Pavis. Their international contemporaries and followers (from Erika Fischer-Lichte to Eli Rozik, from Umberto Eco to Marco de Marinis, from Keir Elam to Fernando de Toro, to name a few) widely acknowledged and accepted this view of performance as a multilingual (verbal and non-verbal) narrative. The idea has gained such wide circulation in the 1980s and 1990s that it brought theater and film semith otics to the current crisis of its methodology and vocabulary. The 168 volume of Semiotica (edited by Yana Meerzon, January 2008) and the special issue of Journal for Dramatic Theory and Criticism, co-edited by Yana Meerzon and Eli Rozik (Volume XXII, Number 2, Spring 2008) address this problem.

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ble to simultaneously render its signs as a representation of material reality (a sign of a material object) and as a representation of fictional universe (a sign of sign phenomenon) (Bogatyrev 1938, 34). On the stage are used not only costumes and scenery, not only theatrical props, which are only one sign or the sum of several signs and not a material object as such, but also real material objects. The spectators behold these real objects, however, not as real material objects, but only as a sign of signs, or a sign of ma9 terial objects. (Bogatyrev 1938, 34)

The films of Charlie Chaplin became the major “laboratory” material for Russian Formalists and Czech structuralists alike. Petr Bogatyrev used Chaplin’s example of film acting, creating his own theory of theater performance. In order to illustrate that theater is characterized by the processes of transformation as its major aesthetic principle, Bogatyrev (very convincingly) used Chaplin’s acting in film as his example: Things in theater just as the actor himself, are transformable. As an actor no stage may change into another person (a young person into an old one, a woman into a man, and so forth), so also any thing, with which the actor performs, may acquire a new, hitherto foreign function. The famous shoes of Charlie Chaplin are changed by his acting into food, the laces becoming spaghetti (Cold Rush); in the same film two rolls dance like a pair of lovers. (Bogatyrev 1938, 36)

Bogatyrev’s erroneous rendering of Chaplin’s film acting and mise-enscène as theatrical indicates not only Formalists’ and later Structuralists’ view of film as the art of presentation (not as a simple photograph or a blind representation of life), but also assumes as given the theatrical roots of cinema and the semiotic complexity of cine-people. In consequence, looking at cinema as an independent form of art, Formalists stressed: The people and objects displayed on the screen could not be considered a simple reference to, or reflection of, reality. Rather, these moving images of people and objects constituted cinema’s material, but material which was already being constructed through various devices, into a signifying system. (Eagle 1981, 3)

In other words, to Formalists, film, an artificially constructed system of referential relationships of the materials involved, constitutes a cinematographic verisimilitude, the co-relation of reality and its representation on screen. Space, objects and human figures are photographed on film in shots, which when juxtaposed to each other (either on the principles of continuous editing or those of montage) present a coherent visual narrative based on cause and effect relationships – the dramatic continuity.10 _________ 9 10

The quoted article Semiotics in the Folk Theater was originally published as Znaky divadelni in Slovo a slovesnost, n. 4, 1938, i. e. ten years after the volume Po!tika kino appeared. The cause and effect relationships are not necessary conditions for any narrative to unfold, as Schmid states (2003, 21). The cause and effect relationships are important only in mi-

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The introduction of semiotic categories to the study of film, which brought film closer to symbolism and to poetry, caused Russian Formalists to acknowledge film’s referentiality constructed on the principles of zigzag. As !jxenbaum stated, nothing in film is directly referential to the reality, everything we see on screen – people, objects, and sets – constitutes a cinematic signification system (1927b, 25; tr. 1981, 67). Film refers to reality either metonymically or metaphorically. So Tynjanov suggested: [In film], a detail showing moving legs instead of a shot of people walking focuses attention on the associative detail, much as a synecdoche does in poetry. The critical factor in both cases is that instead of being given the thing toward which our attention is directed, we are given another thing, closely related to the first by association (in cinema, movement or a pose serves as the associative link). This substitution of a detail for a thing reorients the attention: different subjects (the whole and the detail) are given, both having the same point of reference. The displacement, as it were, fragments the visible thing, transforming it into a series of things with the same semantic sign – into the semantic thing of cinema. (Tynjanov 1927, 44; tr. 1981, 86)

This idea leads to the formalists’ theory of cinematic metaphor, analogous to Jakobson’s later view of linguistic metaphor: Linguistic metaphor is based on the development of a discourse [which] may take place along two different semantic lines: one topic may lead to another either through their similarity or through their contiguity. The metaphoric way would be the most appropriate term for the first case and the metonymic way for the second; since they find their most condensed expression in metaphor and metonymy respectively. (1971, 90)

To !jxenbaum, cinematic metaphor is visually embodied on screen: it exists only in relationships with verbal metaphor that must be known to a filmgoer prior to his/her watching film: The film metaphor is a kind of visual realization of a verbal metaphor. […] only current verbal metaphors can serve as a basis for film metaphor: the viewer quickly understands them precisely because they are well-known and therefore easily decodable as metaphors. (!jxenbaum 1927b, 37; tr. 1981, 79)

Curiously enough, !jxenbaum recognized cinematic metaphor only as a comedic device, a type of diegetic directorial comment on the scene. This limitation is due, in !jxenbaum’s opinion, to the fact that a cinematic narrative is closely linked to the verbal narrative a filmgoer builds in her head in order to decode a set of moving pictures (this in fact remains true to the reception of talkies), and to the discrepancy between the cinematic image and its verbal equivalent found in the receptors’ consciousness (!jxenbaum 1927b, 38; tr. 1981, 80). _________ metic (non-presentational) realistic types of verbal and non-verbal narratives, those that strive to represent reality in the most truthful manner, appropriate for this particular type of art.

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Taking this argument onto a different theoretical level, Tynjanov and after him Jakobson (1976; 1987b) theorized semiotic interrelationships of meanings occurring in a cinematic metaphor. Both theoreticians saw the role of the close-up and montage as the primary devices for creating the instances of visual meta-narratives: A given action is transferred from a principal to his counterpart: instead of people kissing, we see a pair of turtledoves. Here too the visible thing is fragmented: different performers, different things are presented as semantic equivalents; but at the same time the action itself is split in two; the second part of the equation (turtledoves) giving its specific semantic coloration. (Tynjanov 1927, 45; tr. 1981, 87)

This process leads to abstraction of reality, which makes cinematic image unlike reality, and in Tynjanov’s view is “the result of composition within the frame”, the central element of the semiotic nature of cinematic image. Tynjanov claimed that “within the frame of a single shot, objects and people are not merely represented but are defined and correlated with respect to one another – they become semantic signs” (Eagle 1981, 6). One of such devices is the close-up: it “abstracts a detail from its surrounding spatial and temporal relationships and emphasizes its function as an abstract semantic sign, a term in a simile or metaphor” (Eagle 1981, 7). Jakobson extended the argument and identified similar principles of visual metaphor’s creation in painting. However, similarly to the rest of the group he denied theater the power of a metaphorical expression. Ever since the productions of D. W. Griffith, the art of the cinema, with its highly developed capacity for changing the angle, perspective, and focus of ‘shots’, has broken with the tradition of the theater and ranged an unprecedented variety of synecdochic ‘close-ups’ and metonymic ‘set-ups’ in general. In such motion pictures as those of Charlie Chaplin and !jzen"tejn, these devices in turn were overlaid by a novel, metaphoric “montage” with its “lap dissolves” – the filmic similes. (Jakobson 1971, 92)

Hence, as Formalists maintained, montage in film functions as a device of visual metaphor. It serves cinematic narrative by either juxtaposing (protivopostavlenie) or bringing together (soedinenie) of various cinematic materials such as filmed objects, filmed mise-en-scènes, camera angles, lights and sounds, and the shots themselves. Montage becomes a metaphorical expression of the director’s ideological, philosophical and artistic statement (as it happens in the films of !jzen"tejn, Kubrick, Hitchcock, or Lars von Trier); it becomes visually constructed metaphorical expression of the spectators’ universe in the films with continuing editing, namely in Hollywood.11 _________ 11

The role of metaphor in film and theater, the function of spectator as a referent for constructing film or theater metaphor is analyzed in Rozik 2004, 277–283.

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Semantically, montage embraces three variations: 1. a juxtaposition of two or more close-ups put together; 2. a conjunction of two or more shots: a juxtaposition of two or more identically framed shots presenting a subject (a man) and its predicate (another man, or an object, or an animal which by association characterizes this subject); 3. grouping of various techniques and elements not as devices of film narrative (such as linking shots or building sequels) but as their differential replacement, when “each shot should be related in some way to the preceding shots (either in terms of ‘plot’ or ‘stylistically’); but in other respects should be contrastive and differential” (Eagle 1981, 8). This way, montage becomes both a device of film narrative and a poetic device of contrast, the basis of verbal or here visual metaphor. This view of montage as a device of metaphorical expression compelled Russian Formalists to recognize and analyze the complex nature of film’s referentiality. They proposed the view of cinema as highly indexical art, stating that film can never render cinematic reality (its space, time, objects and human figures) as iconic. It is perfectly clear that in this process [the process of semantization of cinematic things and figures – Y.M.] of stylistic (and therefore semantic) transformation the ‘hero’ of cinema is not the ‘visible man’ or the ‘visible thing’, but the ‘new’ man and the ‘new’ thing, i. e. people and things transformed on the artistic plane – the ‘man’ and the ‘thing’ of cinema. The observable interrelationships of visible people are disrupted and displaced – constantly, unconsciously, almost naively – by the interrelationships of cinematic ‘people’. (Tynjanov 1927, 44; tr. 1981, 86)

Cinematic illusion, therefore, is always indexical and symbolic, even if we’re presented with the most realistic attempt to record and communicate reality onto screen. As current film studies maintain, the relationships between an artifact and a represented by it reality can be analyzed with the help of resemblance theory that describes the art of imitation or mimesis, or illusion theory that describes the art of representation in film (Carroll 1988, 121). The difference between the two is constituted in how a film maintains its relationships to the original – its referent. If the naturalistic (mimetic) film maintains its relationships with the referent by its direct or semi-direct imitation, the art of representation avoids any iconic presentation of the original. Using the principles of indexicality, the art of representation creates a fictional world as a counterpoint to one it refers to. The art of resemblance operates with the mode of symmetrical presentation:

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[…] for a painting X, and its subject Y, X represents Y if and only if X appreciably resembles Y. That is, a painting of Attila represents Attila if and only if it (the painting) resembles Attila. This kind of theory appears under many labels, including mimesis, imitation, and verisimilitude. (Carroll 1988, 122–23)

Moreover, the art of resemblance strives towards the equality between the art product and the original. This principle secures the sense of authenticity in realist cinema and acting. The art of representation is the opposite: it practices relationships between the art product and its original as asymmetrical, indexical and symbolic. The non-mimetic, representational relationships are denoted by “representation” [of] that of something (x) “standing for” something else (y). […] and if this is the case, X can stand for Y without resembling Y. An engraving of fasces on a coin can stand for the power-through-unity of the state but not resembles the state or its power. (Carroll 1988, 125)

2. The Death of Theater: Russian Formalists’ Views on Theater and its Archaisms In “Problems of Cinema Stylistics”, his opening article from Po!tika kino, !jxenbaum summarized the Russian Formalists’ views on the relationships between film and theater as rivalry and competition, in which the young (film) takes over the old (theater): Cinema can be defined as a ‘photogenic’ art which makes use of the language of motions (facial expressions, gestures, poses, etc.). On this ground it has come into competition with theater – and has been victorious. A significant role in this victory was played by the following circumstance: the film viewer has the possibility of seeing details (facial expressions, objects, etc.), of being transported from place to place with a facility which matches the imagination, of seeing before him people and objects at various distances, from various camera angels, with various lighting, etc. The dynamics of cinema unfolding on the screen defeated the theater, moving it to the position of some sort of ‘tender relic’. (!jxenbaum 1927b, 23; tr. 1981, 65)

As this quote demonstrates, the contributors to Po!tika kino embraced the linguistic paucity of the new media, seeing in the silence of film the potential for the expressivity of its spectacle, free from the dominance of text. In their eagerness to set film and theater apart, to define the language of film anew, Formalists rendered theater as an archaic, naïve and static medium, predominantly a verbal art form, whose sole function is to tell stories and preserve the fundamentals of the Aristotelian cause/effect poetics. Theater to Formalists was a “syncretic art” defined by the “immobility of the proscenium and the concomitant invariability of point of view and distances” (!jxenbaum 1927b, 23; tr. 1981, 65). Moreover, as Formalists argued, in its experiments with the elements of

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spectacle theater mimics film poorly and loses to the latter in the dynamics of the visual expressivity. The visual effects of a theatrical presentation (mime, gestures, set decoration, objects) inevitably run into the problem of the distance between the immobile stage and the viewer. The play of visual details is almost impossible in the theater; likewise, mimicry and gesture are fettered in their development and the actor who possesses great gifts of mimicry cannot express them in the theater. The immobility of the stage also leads to the fact that the actor plays against a set which remains in a single fixed position: this restrains the dramatists and introduces into the verbal dynamics of theatrical art something which is alien, superfluous, static. The object in theater plays a completely passive role, witnessing or spying on the actor in a superfluous manner and boring the viewer by its presence. The subdivision of theatrical space (by lighting effects), the use of revolving stage, etc., do not change the essence and are only perceived as a sad imitation of cinematography. That which constitutes the very essence and nature of cinema looks vulgar, heavy like vain attempts ay witticisms made by a person who is not witty. (!jxenbaum 1927b, 23; tr. 1981, 65)

Curiously enough, in their attempts to formulate the aesthetics of film by diminishing the artistic potentials of theater, and in their rivalry with theater studies and theater scholars of the time (Gurevi" 1998, 93–95), Russian Formalists choose to disregard the discoveries of the symbolist, futurist and expressionist drama and performance that were preceding the appearance of film and consequently influenced its aesthetics. Although unwillingly, they referred to Mejerxol’d’s experiments with theatrical space and time, and to Vaxtangov’s exercises in fragmented dramaturgy. Moreover, even in such retrospective books as Viktor #klovskij’s biography of Sergei !jzen$tejn (published in 1976), Formalists (in the voice of #klovskij) still argued that even if the Russian theater practice of the early 1920s contained elements of experimentation, it was under the radical influence of film. In his 1976 text, still distinctively Formalist, #klovskij emphasized the dominance of language in a theatrical event. He juxtaposed the verbality of theater to the silence of film. In his opinion, theater resembles a book with “moving pictures”: it is a set of moving tableaux unfolding in the audience’s real time and in the space of a theater stage. In reality, the rivalry between film theory and theater practice produced resounding results. The 1920s films of Sergei !jzen$tejn, Dziga Vertov, and Lev Kule$ov changed the status of Russian cinematography, making it a unique form of art. !jzen$tejn, a theater student of Mejerxol’d, brought the ideas of his mentor into film. !jzen$tejn used Mejerxol’d’s experiments with simultaneous stage (in order to make his spectacle more dynamic, Mejerxol’d broke a single theater space into several sections indicating different fictional locales; he made action move from one locale to another in nonlinear fashion that pointed at the same time

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at the fictional time passing); and his ideas on montage of attractions as his major cinematic principles. Using his theatrical experience, !jzen"tejn not only created his particular cinematic language but also generated the optimal principles for cinematic narration and cinematic text.12 !jzen"tejn’s theory of montage, according to #klovskij, was not “a technique of changing one close-up with another; of camera’s moves: it was the method of creating literary, theatrical or cinematic, or any other system of speech, with its own semantics” (1976, 73). Remarkably, reflecting upon his experience as a theater-maker, in the article “Srednjaja iz trex, 1924–1929”13, !jzen"tejn described how his experiments with theater aesthetics influenced and defined his later film practice. Working in theater gave !jzen"tejn an opportunity to play with the audience’s reception, predetermined in theater by the illusory nature of performance and in film by the supposedly anti-illusory, direct, presentation of objects and events on screen. !jzen"tejn directed Aleksandr Ostrovskij’s play Enough Simplicity in Every Sage at the Proletcult Theater, Moscow, in March of 1923.14 There every action that was to take place in the imaginary action space (beyond the horizons of the audience’s gaze), and everything that the spectators were to imagine, now was to be staged directly in front of their eyes, in the centre of the auditorium.15 While the other scenes influenced the audience through intonation, gestures, and mimicry, our scene [the fighting at the ring – Y.M.] employed realistic, even textual means – real fighting, bodies crashing to the ring floor, panting, the shine of sweat on torsos, and finally, the unforgettable smacking of gloves against taut skin and strained muscles. (!jzen"tejn 1977, 7)

This process was directed to expose and explore “an actual-materialistic element in theater” (!jzen"tejn 1977, 7), to search for more immediate

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!jzen"tejn also took notice of the theoretical findings of the formal school of theater studies, specifically the works of Aleksej Gvozdev and Adrijan Piotrovskij, who researched the fragmentary nature of commedia dell’arte and the simultaneous staging in Medieval and Ukrainian puppet theater. The article was first published by Sovetskoe kino, November–December 1934, and later translated by Paya Haskelson under the title Through Theatre to Cinema and published in Theatre Arts Monthly, New York, September 1936. Here it is quoted from its reprint, published in !jzen"tejn 1977, 3–18. His dramaturge and co-director was Sergej Tret’jakov, who introduced the expressionistic style and its dramatic techniques to Russian theater. Since film derives from photography, the medium based on reality recording as it presents itself to the machine – the camera – it acquires to !jzen"tejn the power of direct juxtaposition between the real world of the filmgoers and the screen world of the characters and fictional events presented (!jzen"tejn 1977, 3).

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stage/audience relationships, more direct forms of theater’s emotional manipulation of the spectators.16 Staging The Sage, !jzen"tejn included a short (120 metres) comic film under the title The Glumov’s Diary into the production. Employed as one of the play’s attractions, the short translated theatrical aesthetics into the language of another media and introduced the potential of filmic utterance in alternating the aesthetics of a theatrical play, its structure and the audience reception of it. Here !jzen"tejn not only revealed a singular directorial device but also exposed theatricality as such, the intermedial potential of a theater performance.17 At the same time, !jzen"tejn in The Sage meant for the specific attractions to have impact on spectator’s emotions. The parody-like plot – perelicovka – is just a pretext for introducing an attraction. We are talking here about the montage of surprises. Here montage does not function as a device of creating a construction of meaning which would have us constantly rethinking both individual parts and a work of art in its entirety. No, here montage connects the unconnectable, highlights the oddity of the alternation of the attractions. […] This was a denial of the cause and effect of the plot, a denial of the static reflection of a particular event prompted by the theme. This was joining things outside of the general composition, but with the usual motivation for a “particular final thematic effect – the montage of attractions. 18 (#klovskij 1976, 84–85)

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18

This phenomenon served as a springboard for the later theatrical experiments in docudrama, verbatium and other forms of theatrical Überrealism: such as taking place in the people’s real time testing of the actors’ and the spectators’ bodies and emotions on stage (Grotowski’s Poor Theatre, the Living Theatre happenings). In his later study Between Literature and Visual Arts (1941) [this essay was originally published as “Mezi poesií a v$tvarnictvím” in Slovo a slovesnost, 7 (1941)], Jan Muka%ovsk$ examines the intermedial potentialities of visual and verbal arts, taking as his point of departure Lessing’s statement on the natural delimitation of the arts “according to the nature of [their] material” (Muka%ovsk$ 1941 [1977, 207]). As Muka%ovsk$ suggests, for Lessing it is the material that encourages the artist and at the same time dictates her creative choices, whereas the history of art demonstrates that every art form “strives to overstep its boundaries by assimilating itself to another art” (Muka%ovsk$ 1941 [1977, 207]). Therefore, any theatrical performance (even if it is based on improvisation or set in theater as a round or as a site-specific event with the audience’s interactive involvement) still offers the intermedial possibilities. Theater, by the nature of its material is already intermedial and interdisciplinary: in its expressivity it mixes various materials from linguistic codes to light, color, sound, human body, rhythm and energy (to name a few). Thus, as a multilingual text, a theater performance openly embraces and draws upon other art forms (film or painting, for instance) and manifests its meta-intermedial potential as well as genre’s flexibility. As #klovskij writes, “Mejerxol’d later had approached Gogol’s The Inspector General: he had broken the play down into several pieces accompanied with subtitles, as it was done in cine-dramas, and changed the number of the dramatis personae and their relationships. The silent film had entered the territory of the theater with laying bare the alternation and independence of separate pieces, and with its dominance over the muted word” (1976, 84–85). Here #klovskij makes several historical and theoretical errors pertinent to the Formalists’ viewpoints on the relationships between theater and film. When citing Eisenstein’s experiment, he forgets that yet in 1917 Mejerxol’d experimented with the

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Thus, it was !jzen"tejn, the young film-reformist-to-be, who took lessons with theatrical avant-garde and transplanted its scenic discoveries to the screen. Later !jzen"tejn’s focus on the technical aspects of filmmaking resulted in the reduction of the function of an actor on screen to that of the puppet. In his legendary The Battleship Potemkin (1925), !jzen"tejn reduced the function of the actor even further, to “a zero degree” (Veltrusk# 1990), to the function of object or sign: The manner of acting in Strike is so ‘off-beat’ as to awake our curiosity about the ‘circus style’ in his theater work preceding Strike [here Leyda speaks of The Sage – Y.M.]. This grotesquerie of acting is accompanied by a grotesquerie of casting […] that point ahead to !jzen"tejn’s typage theory. (Leyda 1973, 183)

Among the contributors of Po!tika kino, it was Adrian Piotrovskij, who came closest to acknowledge theater and film interrelationships. In his definition of film poetics, Piotrovskij named montage and photogeny as the major cinematic devices differentiating one art form from another. He proposed to study dramatic and theatrical categories of space, time, objects and people as the major formatting elements of film’s poetics. Piotrovskij’s theatrical experience (both as a scholar of Classical theater and as the practitioner and an ideologue of the Leningrad Theater of Young Workers [TRAM – Leningradskij Teatr Rabo$ej Molode%i) heavily influenced his film theory. As Piotrovskij observed, film very much like theater is meant to tell stories if not verbally then visually. Similarly to a theater play, film builds suspense within the audience’s real time; like literature, it is flexible enough not to follow the temporal and spatial continuity of storytelling. The concepts of cine-genre, the dramatic, cine-drama, and time and space are the central elements of Piotrovskij’s film aesthetics. He claimed that “the ‘dramatic genre’, which developed in the theater – its natural and original element – is characterized by a particular treatment of time and space, and, […] by a specific psychological saturation of the action” (Pi_________ fragmentary possibilities of stage presentation, staging Lermontov’s Maskarad. There Mejerxol’d not only used the architectural principle of mise-en-scène (the stage was broken into levels by a number of vertically and diagonally to proscenium hanging curtains) but also illuminated the fragmentary though still continuous arrangement of dramatic scenes. In 1919 and 1921, he staged Majakovskij’s futurist play Mystery Bouffe again based on the fragmentary almost montage like dramatic layout. As the history of theatrical avant-garde th (from early 1920s to postdramatic theater) demonstrates, the 20 century theater artists, from Craig to Artaud, from Grotowski to Living Theater (to name a few), focused on finding the balance between various elements of theater production and eventually reducing the use of its verbal component. Neither of them, however, opted to get rid of the conflict on stage (the core of drama, according to Aristotle): the conflict that is possible to express through the actors’ psycho-physical presence, their movements, directorial miseen-scène as a temporal/spatial arrangement of objects and human figures on stage; and scenic and sound décor as its audio-visual expression. One of the latest plays by Castelucci, his 2007 production Hey girl, is an example of this phenomenon.

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otrovskij 1927, 94; Eagle 1981, 132). Typically to the rest of the contributors of Po!tika kino, Piotrovskij stated: In theater, the fictional time of a play is a subject only to a progressive, linear movement. Theater does not allow for flash-backs or for chronological disruptions, i. e. for the sequential presentation of two simultaneous actions. In fact, [in theater – Y.M.] such chronological distortions are always perceived either as a technical flaw […] or as deliberate virtuosity (examples are to be found in Romantic and Expressionist drama, both in the West and in Russia). (Piotrovskij 1927, 94; tr. 1981, 132)

Film takes care of the fragmentary nature of its story-telling with the help of montage, which can easily transport the characters and the viewers from one temporal point to another. Montage allows not only different actions to take place simultaneously but also helps to escape continuity and linearity of story-telling. Secondly, Piotrovskij defined theatrical space as “the constant reality of the stage, which can be modified by the set designers only with the difficulty and on a small scale” (1927, 95; tr. 1981, 133). Even though Piotrovskij was deeply involved in creating collective drama, his theatrical model remained one of melodrama and well-made play. [In theater] the characters are brought to the stage by the author and the action itself is bound into a number of basic “bundles”; into five, or ten, or fifteen acts, scenes, or episodes. Hence, we have a canonical structure of dramatic action, with the exposition and complication in the first/second acts, the climax or turning point in the third, the falling peripetia and the denouement in the last acts. (Piotrovskij 1927, 95; tr. 1981, 133)

Thus, as Piotrovskij concluded, in theater, space is “the fundamental compositional factor, while in cinema, […] space does not play that role at all. In cinema, space is not something constant or given in reality. It is dynamized, exploded, set in motion” (1927, 95; tr. 1981, 133). Adding to this juxtaposition between theater and film, Roland Barthes argued later, that film is defined by its framing devices: camera is the frame into which a film director inscribes his story and through which he narrates it for the audience (Barthes 1977, 70–71). So, in film an artistic representation is not defined directly by imitation: even if one gets rid of motions of the “real”, of the “vraisemblable”, of the “copy”, there will still be representation for so long as a subject (author, reader, spectator or voyeur) casts his gaze towards a horizon on which he cuts out the base of a triangle, his eye (or his mind) forming the apex. (Barthes 1977, 69)

Barthes extended his analogy to theater (the proscenium stage), stating that in theater the stage functions as the line of the spectator’s gaze, it is a frame into which the fictional actions and events are inscribed. It is the geometrical shape of screen or proscenium ark in theater that frames the gaze of the spectator:

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The scene, the picture, the shot, the cut-out rectangle, here we have the very condition that allows us to conceive theater, painting, cinema, literature, all those arts, [as] dioptric arts. (Barthes 1977, 70)

Artist’s awareness of the audience’s knowledge of both geometrical and temporal frames affects not only the final scenic layout of the fictional world in theater and film but primarily the relationships between an actor and a character she represents. In his argument Barthes continued the Formalists’ tradition to compare theater and film and thus denied theater performance its dynamics. Even in such important for theater semiotics study as 1972 Anne Ubersfeld’s Lire le théâtre, in her discussion of theater space and figures, the theatrical mise-en-scène is presented rather as a picturesque tableau not as a dynamic interaction of actors in theatrical space and time, the space and time coinciding with their own, personal space and time. In this study, Ubersfeld looks at a theater performance as a series of single mise-en-scènes or tableaux vivants, each of which she discusses as if it were a still photograph or a cinematographic shot cut out from the continuity of the film’s narrative (Ubersfeld 1977 [1999, 109–111]).

3. Theater-Film Interdependence: Stage Figure versus Film Figure In proposing a theory of indexical, not iconic transformation in film, and its representational, not mimetic technique of storytelling, Russian Formalists brought forward the significance of actor and acting as the major elements differentiating theater aesthetics from that of film. They proposed to cure theatrical archaism by bringing actor to the foreplay of the theatrical event. In this, Russian Formalists echoed Aristotle’s ideas on mimesis in theater – an aesthetic action of anthropomorphic beings in action, not a direct imitation of real things, objects, or people by means of recitation.19 As !jxenbaum insisted, theater “should proceed along another road”, it has to secure “the transformation of the proscenium into an arena for _________ 19

The essence of Aristotle’s ideas on the origins of art lies in his distinction between natural imitation, the organizing principle of the development of a human being “implanted in man from childhood”, and artistic imitation, the need of humans for “harmony and rhythm” (Aristotle 1927, 15). These two modes of imitation are inseparable; both of them constitute artistic creativity. Natural imitation creates natural signs organized on the principles of similarity whereas artistic imitation creates arbitrary signs organized on the principles of convention. Consequently, a work of art is a product of the aesthetic imitation of an “ideal image” or “imaginary substance”, which does not necessarily correspond directly to what is being imitated. It is an imitation of “one of three objects, – things as they were or are, things as they are said or thought to be, or things as they ought to be” (Aristotle 1927, 97).

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the exclusive activity of the actor by means of destruction of theatrical space as a defined place of action – i. e. by returning to the principles of Shakespearean theater” (!jxenbaum 1927b, 24; tr. 1981, 66); therefore, theater “must realize itself anew – no longer as a syncretic form, but as an individuated art in which the word and the body of the actor should be freed from other elements” (!jxenbaum 1927b, 23; tr. 1981, 65). As Piotrovskij followed, the actor’s presence and his personal time coinciding with the time of the spectators during a play is the advantage and at the same time the “intrinsic limitation” to theatrical art (Piotrovskij 1927, 94; tr. 1981, 132). As a four-dimensional art-form, theater is conditioned by “the presence of living actors, ‘living on stage’, moving only towards the ‘future’; it is also conditioned by the keen feeling of temporal reality which the theater itself inevitably generates” (Piotrovskij 1927, 94; tr. 1981, 132). The combination of the actors’ energy and spectators’ involvement in the act of making a theatrical event provides the dynamism of theatrical communication. Stage in theater presents a battlefield of human passions and drives which have been artificially isolated from the material worlds and from nature. [...] The human being is the basic and most important material of the drama and the foundation of the dramatic action. (Piotrovskij 1927, 96; tr. 1981, 134)

In this respect, theater remains a stronger, more able than cinema form of art. It can act directly upon its audiences and can better control and manipulate spectators’ reactions. In cinema, as Piotrovskij acknowledges, this priority of the human being is by no means so evident and unquestionable. Photogeny puts the human being on the same perceptual plane with the object or nature. The isolated “drama of human beings” and their “human drives” is not characteristic for cinema: such “drama” is not intrinsic for cinema’s nature and impoverishes its expressive potential. (Piotrovskij 1927, 96; tr. 1981, 134)

Overall, cinema remains the technological art of mise-en-scène and montage that, in Formalists’ opinion, needs to reestablish and redefine its laws of dramatic composition and expressive powers (cinematography, lighting and sound effects).

3.1. Natur"#ik in Film Although most of the contributors to Po!tika kino acknowledge the privileged position of the human being on screen, Boris Kazanskij, the author of The Nature of Cinema, comes closest to the semiotic reformulation of the actor’s presence and functions on screen. He denies film actor professional skills, seeing an actor in front of a cine-camera equal

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equal to a natur!"ik/model standing in front of a painter. Moreover, he describes acting in film as a type of modeling used in fine arts. This way Kazanskij contributes to the debate on the difference of artistic skills and talents required for theater and film acting. Kazanskij maps out the basic theoretical points for semiotic reformulation of theater and film acting, later developed by Petr Bogatyrev, Jan Muka!ovsk" and Ji!í Veltrusk". In application to theater, those Prague scholars proposed to render an acting sign as a tripartite structure in comparison to a cinematic acting sign seen as dual phenomenon. It was Kazanskij who in Po#tika kino already pointed at the materiality of theatrical signs (including objects and people on stage representing the sign of sign phenomenon), in contrast to the pure semiotic quality of cinematic signs (including landscapes, objects and even people on screen). Tracing film’s direct dependency on the art of photography, Kazanskij states that since photography “cannot tolerate any falseness”, film, the photography’s next of kin, “demands only nature as its filmed object” (Kazanskij 1927, 74; tr. 1981, 114), and thus can reproduce only shadows of objects and people, not these objects or people themselves. Moreover, Kazanskij recognized the discrepancy between constructed stage and film people in their dependence on the previously existed dramatic text: The stage actor is presented with the following difficult task: the image created by him is dictated by a drama (usually known beforehand) and therefore controlled by the viewer; the image must withstand comparison with the image already formed in the imagination of the viewer. In film, this dualism of the drama and the stage image is absent, since the scenario, as a rule, remains unknown to the public. Thus, the performer in cinema is free from any control on the part of the viewer and from the dangers of competing with the viewer’s imagination. (Kazanskij 1927, 71; tr. 1981, 112)

This discrepancy will become the major point of differentiation between stage figure and film figure theorized by the Prague scholars first, Jurij Lotman later, and Michael Quinn, the late American theater scholar, a follower of the trend. In his 1990 analysis of celebrity phenomenon, Quinn operates with the ideas of resemblance and correlation between the nature, the material (or the model, in Kazanskij’s words, of cinematic representation), and the representation itself. Quinn argues that celebrity represents the public persona of an actor playing a role. Celebrity in its usual variety, though, is not composed of acting technique but of personal information. […] In the context of this public identity there then comes to exist a link between performer and audience, quite apart from the dramatic character. (Quinn 1990, 156)

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In fact, the dominance of the actor’s subjectivity over his/her stage figure that is typical for theater (Quinn 1995, 76) is dismissed both in the practice of silent film and in today’s Hollywood. Film audience, similar to a folk audience, “expects the actor to execute the code precisely, erasing his inventive impulses while focusing his subjectivity in gestures that conform expertly to coded expectations” (Quinn 1995, 76). Although Kazanskij’s terminology was far from semiotic discourse, his idea on discrepancy between stage and film figures was far-sighted. Kazanskij did not elaborate enough on the structural and aesthetic mechanisms involved in actor’s constructing film images, but brought into discussion the controlling function of the audience, actively but differently participating in constructing theatrical and cinematic artifacts. As Eagle writes, Kazanskij suggested that stage art is in essence a syncretic phenomenon based on the personal performance of the actor, interacting directly with the audience – no “object of art” existing independently of the event is produced, whereas cinema is a mediated art form – film, like a sculpture or a painting, is an object for the viewer’s contemplation, an object which gives rise to certain aesthetic processes within the viewer. Thus, the silent film […] could not hope to achieve in direct intensity, depth, or complexity the psychological, intellectual and emotional aspects of character which could be conveyed during the continuous and unified performance of a live actor on stage – for the actor of the silent cinema is not only deprived of speech, but the unity of the role is broken into many short segments. (Eagle 1981, 19)

In addition, Kazanskij noted more similarities between film and visual arts, such as painting or sculpture. Even in the use of a human being as only its model to reproduce mechanically, to photograph it and project its movements onto screen, Kazanskij recognized the influence of painting on film: even if we accept the perfect craft of Hollywood stars such as Chaplin or Keaton, we cannot forget the fact that on screen we see first of all a human being – Charlie Chaplin, only after that do we notice his film image (for example, Chaplin as the Tramp). This way, in film, the actor – the person – always “serves as ‘nature’ for reproduction”, and to that extent he exists for the viewer only in the sense of “a natural type”, “a model”. The fact that he is an actor has no significance in principle. He might simply be the sort of type that he is representing. That he possesses expressive abilities is also in the final analysis only the artist’s good fortune. Like an attractive face or a well-built body. To call the performer of a “role” in a film an actor is just an incorrect as calling a film “theater”. If cinema is a shadow painting, i. e. a graphic art, then the actor reproduced as a representation on the screen must in principle be only a model. (Kazanskij 1927, 72; tr. 1981, 113)

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3.2. Stage Figure Historically, it was Czech Structuralists who focused on the development of semiotic theory of theatrical and film acting, in order to elaborate on the discoveries of Russian Formalists on one the hand, and in order to better understand and explain contemporary avant-garde theater practice on the other (Ambros 2008). Founded in 1926 by Roman Jakobson and Jan Muka!ovsk", the Prague Linguistic Circle extended the study of poetics into the study of aesthetics, and looked at the work of art as a semiotic construct, a sign and a socio-cultural fact. The circle proposed to analyze theatrical performance as a combination of anthropological and aesthetic signs, which makes possible constant communication between the stage and the audience. They acknowledged the dynamics of the theatrical sign, which simultaneously represents a thing (a phenomenon of material reality) and its semantic signification (an ideological phenomenon). Acting, a dialectic phenomenon consisting of the actor’s activity and the product of its activity, became the central issue for Prague theorists in mid 1930s, when Veltrusk" stated that the stage action consists of the juxtaposition of human beings and their actions (Veltrusk" 1983, 70), and when he acknowledged that drama (verbal text) is only one of the expressive tools available in a theatrical performance (Veltrusk" 1977, 69). In “Semiotics of the Folk Theater” (1938), Petr Bogatyrev describes the central subject of theater, the actor, as a “sign of a sign”, standing for both a living human being and a system of signs. The actor acquires the double function of the originator of action and its product, since he/she functions both as the material and as the subject of a production: In the theater, […] all theatrical phenomena are signs of signs, or signs of material objects. The only live subject in the theater is the actor. Despite the fact that an actor expresses regal dignity by his costume, […] we see in him not only a system of signs but also a living person. (Bogatyrev 1938, 48)

According to Muka!ovsk", an acting sign, like any other artistic sign, is an autonomous sign: simultaneously “an artifact functioning as perceivable signifier”, an aesthetic object or signification “registered in the collective consciousness”, and “a relationship to a thing signified” in the “total context of social phenomena” (Muka!ovsk" 1941; tr. 1977, 9). Thereby, an acting sign is a vehicle generating an aesthetic object as a dynamic image in the minds of the perceiving audience. In the tripartite structure of the acting sign (actor – stage figure – dramatic character), actor signifies the actor’s physical appearance and identity, stage figure signifies the viewer’s image of the actor’s onstage creativity, and dramatic character signifies a construction both on the part of the actor and the spectator.

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Otakar Zich formulated the concept of stage figure as the actor’s physical representation of dramatis persona in The Aesthetics of Dramatic Art (1931). In Zich’s understanding, the stage figure is one of the constant elements of the performance text: it represents the actor’s activity on stage; it is also opposite to the dramatic character, a product of the spectator’s activity. The distinction between Stage Figure and Dramatic Character consequently makes possible the expression: the figure is what the actor makes, the character what the audience sees and hears. The special fact allows the one to be observed from the wings, the other from the auditorium. Psychologically speaking: the figure is the product of the actor, the character the product of the observers. […] The stage figure is the formation of the physiological kind, the dramatic character a formation of the psychological kind. (Zich 1931, 56; qtd. in Quinn 1989, 77)

If Zich treats the stage figure mostly as a product of the actor’s activity, Muka!ovsk" believes that it is more feasible to treat it as both the actor’s stage activity itself and the product of this activity, i. e. as a sign. In An Attempt at a Structural Analysis of an Acting Phenomenon, Muka!ovsk" (1931), analyzing Charlie Chaplin’s acting, uses the term “dramatic figure”, which he views as a structure within a bigger artistic system – performance or film. This article was Muka!ovsk"’s response to #klovskij’s earlier study of acting in film, to his view on film acting as the instance of cine-language, the actor’s putting a mask of his character on. #klovskij defined Chaplin's acting as a cine-language using the categories of gesture, movement, rhythm, and facial expressions as its primary elements: Chaplin never says anything in his films and there are no explanatory remarks between the scenes. […] Chaplin does not speak, he moves. He operates with cinematic material rather than translating himself from the theatrical language to that of the screen. The humour of Chaplin’s movement is […] in its mechanization. Chaplin’s acting consists of a number of passages, each one ending in a period – a pose. (#klovskij 1925; 1985, 21)

The cornerstone of Chaplin’s cine-language is clowning. His film figure resembles Harlequin from Commedia dell’Arte, constructed on duality or compulsive doubleness. Chaplin’s fool functions in melodramatic situations and those of the adventure novel used in film either for the development of the story line or for its interruption. Chaplin creates a tragicomic character that embraces opposites. Stylistically, it is built on the dual relationships between melodrama and slapstick; psychologically, it represents the heroism of a little man, always pitiful and laughable. But Chaplin’s character is always the creation of a mask of the Other. Chaplin’s persona is indeed recognizable under such a mask, but the mask is as important as the persona itself.

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Muka!ovsk"’s dramatic figure was, however, more flexible than #klovskij’s mask: it signified the objective or ideal stage image of a dramatic character (e. g. the ideal Hamlet) that is unattainable, because every performer brings to the stage his/her own psycho-physiological individuality. This individuality each time concretizes the ideal stage image. In contrast to Zich, Muka!ovsk" characterized the dramatis persona first of all by the dramatic text, by “drama as literature”. Thus, stage figure appears in theater “in multiple relations, for example, the actor and the stage space, the actor and the dramatic text, the actor and the other actors” (Muka!ovsk" 1931, 172). As Muka!ovsk" noted, this actor/dramatic text connection is of a dialectical nature, since it is the text that introduces and predetermines what the actor depicts in his/her stage figure, but it is the actor who chooses how he/she does that. As the representation of a dramatis persona, stage figure matches Muka!ovsk"’s distinction between autonomous and informational signs characterizing theater as a pictorial and presentational art. The stage figure becomes an informational sign when it includes the “subject – theme and content – and author’s utterance” (Muka!ovsk" 1936a, 6). Thus, the stage figure is a concept expressing the dynamic dialectics of performativity as simultaneously a process (imitation) and a result (representation): The tripartite structure of the acting sign: actor, stage figure, and character – is related to the three functional terms of Karl Bühler’s semantic organon-model: expressive – relating to actor him/herself, conative – relating to the audience’s perception constituting “the mental aesthetic object”, and referential – relating to producing Stage Figure. (Quinn 1989, 80)

Veltrusk", unlike Muka!ovsk", understood acting as the only unique art embedded in the structure of a theatrical performance. Acting consists mostly of other, “borrowed” arts: it is synthesis rather than unity. According to Veltrusk", the dramatis persona (he calls it dramatic character), the point of departure for an actor constructing a stage figure, is the component of a literary text that in performance becomes only one of the elements comprising the complex structure of a theatrical utterance. In his article Man and Object in Theater (1940), Veltrusk" defined his stage figure as a complicated structure of both linguistic and extralinguistic signs. It appeared as a part of the tripartite structure of an acting sign (actor – stage figure – dramatic character), where the actor signifies the “I” of an actor; the stage figure signifies the function of an actor as both an originator of the action and its product; and the dramatic character signifies “the vehicle that generates the aesthetic object as a dynamic image in the minds of the perceiving audience” (Quinn

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1989, 76). As a cross between the ideal stage image and the actor’s individuality, the stage figure is a complicated structure of signs which includes all the components, whether linguistic or extralinguistic, whether constant or variable. […] As a structure of signs, the stage figure is not only a structure of structures but also an integral part of that broader structure of signs, the whole performance. (Veltrusk! 1983, 108–109)

Moreover, Veltrusk!’s stage figure, by analogy with Tynjanov's concept of literary work as a system of systems and a structure of structures, enters another structure of signs – performance: As a rule, the Stage Figure confronts and combines with other stage figures. The figures form a structure within which each has a specific place of its own and is connected by all sorts of relations to all the others as well as to each of them separately. Naturally, the respective relations between the figure A and the figures B, C, D, etc., differ from each other a) in quality […] b) in intensity. […] All the figures of the same play both differ from and are concerted with each other. If they didn't differ enough, they would turn into a sort of chorus. But if they were not concerted, not only the performance as a whole but also individual stage figures would tend to disintegrate. (Veltrusk! 1976, 557)

Secondly, an acting sign involves not only the actor’s activity but also that of the spectators. Veltrusk!, in Contribution to the Semiotics of Acting (1976), considers the processes of constructing the stage figure and perceiving the dramatic character to be the result of actor-spectator communication and creative activity, the consequence of which is the construction of the audience’s image, “the primary addressee of the ‘acting event’” (1976, 588). Therefore, the image is substituted by the sign, which conveys a code and is converted into meaning by the receiver’s consciousness.

3.3. Film Figure As Jakobson maintains, the aesthetics of film is different from that of theater, since the language of the former is composed exclusively of signs. If in theater objects function both as things and as signs, on screen objects function as follows: It is precisely things (visual and auditory), transformed into signs that are the specific material of cinematic art. […] Film works with manifold fragments of objects, which differ in magnitude, and also with fragments of time and space likewise varied. It changes their proportions and juxtaposes them in terms of continuity, or similarity and contrast; that takes the path of metonymy and metaphor. (Jakobson 1976, 146)

Unlike theater, film is a technical construct, it is “merely patterns of light and dark on a screen” (Bordwell 1986, 24), which cue a spectator to perform a certain activity. This activity is the spectator’s perception,

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forming the semantic meaning out of the film form. Thus cinema assumes a conventional verisimilitude or correspondence between peoples’ behaviors in life and on screen: The screen image of a human being approximates life and consciously aims towards eliminating theatricality and artificiality. And at the same time it is – more so than on stage or in fine arts – maximally semiotic, filled with secondary connotations. […] An actor in film functions as a dual entity: as the creator of a particular role and as a cine-myth. The meaning of a cinematic image consists of the interrelationship (identity, conflict, struggle, and shift) of these two different semantic structures. (Lotman 1973, 356–360)

One of the categories of film aesthetics is “the epistemology of film space” and the actor’s function in it (Muka!ovsk" 1936b; 1978, 180). The difference between theater space and film space dictates the discrepancy in the actor’s position, which changes from the dominant position in theater to a subordinate one in film: The theatrical actor is a living and integral personality clearly distinguished from the inanimate surroundings (the stage and its contents), whereas the consecutive images of the actor (in some cases only partial ones) on the screen are mere components of the total projected picture, just as in painting. (Muka!ovsk" 1936b; 1978, 180)

It is the actor’s gestures, movements, facial expressions and their rhythmical relationships, the sub-structures of a film figure, through which the actor’s relationship to fictional space and screen space is articulated. Muka!ovsk" underlines the dominance of the actor’s gestures that convey the social, psychological, and semiotic meaning of a character and a scene. He proposes to portray the scope of human relationships through the continuity of adequate gestures for both theater and film actors. The gesture, writes Muka!ovsk", may be “immediate and individual; yet it can also acquire supra-individual validity. In such a case the gesture becomes a conventional sign, universally comprehensible” (1931, 174). #klovskij called these types of rhythmical gestures kinoieroglif/cine-hieroglyph, asserting they were meant to be decoded or transformed from the cine-language into a verbal one, the conventionality of a space solution, the conventionality of silence, the conventionality of the lack of colour – all that has parallels in language. There is a cinematic rule: it is impossible to show how a person sits at a table, starts eating, and finishes eating; in other words, there is a rule of singling out a part of the whole action, that is, a semantization of action. This rule is the transformation of a cine-image into a cine-hieroglyph. (#klovskij 1926; 1985, 34)

In other words, gesture is another version of the gestural metonymy used in film; it is a sign standing for the character’s hidden feelings. According to #klovskij, gesture and movement are the dominant acting devices in film:

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The cine-people and cine-action we see on screen are perceived as long as they are comprehended. Cinema very much resembles Chinese painting. Chinese painting is situated between the drawing and the word. People moving on the screen are a kind of hieroglyph. […] These are not cine-images but cine-words, cine-concepts. Montage is the syntax and etymology of the cine-language. (!klovskij 1926; 1985, 34)

In consequence, film figure, analogously to Veltrusk"’s stage figure, is a construct both on the part of an actor and on the part of a spectator, which signifies the viewer’s image of the actor’s creativity on screen. Film figure represents “a structure that is a system of components aesthetically deautomatized and organized into a complex hierarchy, which is unified by the prevalence of one component over the others” (Muka#ovsk" 1931; 1978, 170). Similar to stage figure, film figure acquires a number of sub-structures meant to express the character’s emotions. All of them carry the dynamics of a character “by the interference […] of two types of gestures: gesture-signs and gesture-expressions” (Muka#ovsk" 1931, 174). The film figure is in its functions equivalent to the lighting, sound, time, and space. In fact, it constitutes the film’s mise-en-scène as any other object does (furniture, make-up, costumes and props), the significance of which is to express the artistic will of a narrator/film director staging the event for the camera. As an aesthetic object, film figure corresponds to character, which is an artifact or a construct, an agent of cause and effect in a continuous narration, and a collection of traits: “Character traits can involve attitudes, skills, preferences, psychological drives, details of dress and appearance, and any other specific quality” (Bordwell 1986, 86), which determine the structure of a film figure and the audience’s reception of the film narrative. The nature of cinema explains its method of constructing a film figure not only with an actor’s means of characterization but also with those of a director, who controls “what appears in the film frame” (Bordwell 1986, 119). Lotman finds three semiotic codes used in the creation of a film figure: “1) directorial; 2) everyday behavior; 3) acting as such” (1973, 355), thus recognizing in film figure a mixture of documentary and artistic representation. This mixture equalizes actors and objects on screen, making directing, shooting and editing compete for the dominant position in the hierarchy of the film aesthetics. The mode of film mise-en-scène, a figure’s position in a film setting within specific relationships to other figures, objects, lights, and the point of narration contribute to the directorial functions, forming a film’s aesthetic entity. The directorial point of view corresponds to that of the audience, it manipulates the spectators’ knowledge of the fictional events and influences their perception. Although directing and editing cannot

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fully substitute acting and the live actor on screen, they can change the inner hierarchy of a film figure. The actor’s body language – gestures, movements and facial expressions – becomes dominant over the vocal components. Acting is a film figure’s expression and movements. A film figure, therefore, consists of “visual elements (appearance, gestures, facial expressions) and sound (voice, effects)” (Bordwell 1986, 131). Still, in film the individuality of an actor – his/her physique or type of voice – is either equal or superior to that of a character. Character types determine the acting style of a performer and influence the viewer’s evaluation of it. “If the actor looks and behaves in a manner appropriate to his or her character’s function in the context of the film, the actor has given a good performance – whether or not he or she behaved as a real person” (Bordwell 1986, 132). An actor standing in front of a camera and a spectator in the audience are able to collaborate in the creation of an artifact. The audience’s perception is guided by its collective and individual expectations toward the artifact; it is up to the audience to bring order and semantic meaning into “the overall pattern that is perceived […] both [in] subject matter and abstract ideas” (Bordwell 1986, 25). The audience’s expectations embrace conventions, “a tradition, a dominant style, a popular form – some such elements will be common to several different artworks” and experience “derived from everyday life and from other experiences” (Bordwell 1986, 28). The audience’s expectations toward a particular genre, type and style form its perception too.

3.4. Film Figure as Text and as Narrative This section takes the concluding look at the theory of film as a complex verbal and non-verbal narrative, in its evolution from Russian Formalists to Jurij Lotman. In his seminal study Semiotika kino i problemy kino!stetiki (1973), Lotman returned to the major ideas of Po!tika kino and as he stated, proposed a new theory of film language and film aesthetics, now applicable not only to the silent film but also to the sound film as we know it. Lotman proposed his own version of film aesthetics based on the discrepancy between reality and its cinematic representation, always framed by the size and the shape of a screen (1973, 306). Speaking about the structure of a cinematic shot, Lotman picks up the Formalists’ proposition to apply the logic of literary narrative to film’s story-telling. In the central chapter, “On the Nature of a Filmic Narrative”, Lotman allies his ideas with Formalists and Structuralist (Czech and French, specifically the work of Christian Metz [1968]) rendering of film as narrative, using Jakobson’s six-function model of com-

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munication as his point of departure. He also differentiates between the closed but dynamic nature of a single shot and montage as a technique of narratological continuity used in film: Each shot is separated in time a preceding one and a following one, and their juxtaposition forms a unique montage effect endemic to cinema only. […] A shot is a dynamic entity; within its limits it sometimes allows quite significant movement. (Lotman 1973, 308–309)

In the chapter “The Actor’s Problem” dedicated to the analysis of a human being on screen, as a major artistic element of a cinematic narrative, Lotman states that on screen it is the chain of visual images that characterizes any film figure as a text, in its own turn composed by a fusion of the actor’s presence and craft, and directorial mise-en-scène.20 And specifically, in the talkies, it is the sound structure of an actor’s speech that contributes to the formation of the visual characterization of a particular film figure (Lotman 1973, 354–362). Lotman agrees with formalists rendering film figure as a more complex semiotic construct than stage figure, since in film both the material object (the actor’s persona: his/her everyday physical, psychological and social existence) and the cinematic representation of it (a fictional figure the actor portrays on screen) become the sign of sign phenomenon. Film, unlike stage, mythologizes the actor’s everyday persona, it makes the myth of the actor’s everyday a part of the fictional reality – film figure – that actor is about to present on the screen for the filmgoers. An actor on stage tries to fully transform himself into a character; an actor in film appears on two levels: both as the creator of a particular role and as a certain cine-myth. The significance of a cine-image is comprised of the relationships (coincidence, conflict, struggle, shift) between these two different semantic organizations. (Lotman 1973, 360)

The creation of a film figure is objectified, therefore, by cinematic miseen-scène, actor’s everyday behavior; and her craft embracing a mixture of documentary and artistic representation. In this way, film figure enters the art of cinema as a world full of complex cultural signs. On one end is the symbolism of the human body present in different cultures […]; on the other end is the actor’s work as a means of communicating with the audience and as a certain semiotic communication. (Lotman 1973, 324)

*** _________ 20

Film editing contributes to the visual characterization of a film figure. !jzen"tejn’s montage is an example of “a cinema directed towards an exclusive cine-language” (Lotman 1973, 319). Historically, “this conscious construction of a cine-language was directly influenced by the laws of human language and the Futurists’ experiments in poetic language” (Lotman 1973, 319).

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As this article demonstrates, Po!tika kino, a pioneering but controversial collection, remains today not only an engaging historical artifact (an example of silent film theory), but is also beneficial for theater and cinema studies. It introduces the semiotic interdependency between film and theater aesthetics, specifically acting theory, the subject of Prague and Tartu’s cinema studies. A brief description of Lotman’s view of film’s poetics demonstrates that in 50 years time, the time that separated the appearance of Po!tika kino and Lotman’s volume on cinema, the view of film as a narrative or the film scholars’ understanding of theater as a less complex and thus archaic form of art had not drastically evolved. Perhaps, it is the Iron Curtain that is to blame for making Lotman’s view of film aesthetics as a superior in its complexity over that of stage sound archaic even for his own time. Again, very much as his predecessors writing for Po!tika kino, Lotman does not grant contemporary theater practice the same dynamics and mobility as he does film. Specifically, in stating that film mythologizes the actor’s everyday persona while theater does not, Lotman demonstrates his lack of knowledge or lack of theoretical consideration of the theatrical experiment of his time, the experiment that did put forward actor with her unique physicality and psychology as the major object of theatricalization and dramatic investigation. The experiments of Grotowski’s Poor theater, Peter Brook’s work with the actors of various linguistic and ethnic backgrounds, and Eugenio Barba’s ideas on audience dramaturgy (all emerging around the time of Lotman’s writing about film) foreground and mythologized the actor’s quotidian being in as complex a manner as film does. Lotman’s view of film as a narrative (verbal and non-verbal), as a continuum of changes of state, indirectly adds and can be used in today’s theater scholarship recognizing the new forms of contemporary performance as postdramatic – a-verbal, rejecting the Aristotelian cause and effect relationships but still relying on building the dialogue with audience on the principles of deep and surface changes of state as well as employing various degrees of events and narratological eventfulness.

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TOMÁ! KUBÍ"EK (Akademie der Wissenschaften der Tschechischen Republik, Brno)

Der semantische Aufbau von Erzählwerken in der Konzeption des Prager Strukturalismus I. Die theoretischen Ansätze des Prager Strukturalismus in der Erzählforschung Der Prager Strukturalismus der dreißiger und vierziger Jahre stellt einen Komplex theoretischer Entwürfe dar, die darauf abzielen, die Poetik und Ästhetik eines literarischen Werks zu erfassen. Nicht nur das Kunstwerk und sein Verhältnis zu anderen Kunstwerken wurden erforscht, sondern vor allem auch seine strukturelle Organisation und die Relationen zwischen seinen Teilen. Der Strukturalismus der Prager Schule ist in erster Linie als Methode der literarischen Analyse zu verstehen, bei der das Werk als semantische Einheit betrachtet wird. Um nun diese semantische Einheit (als semantischen Gestus) zu begreifen, ist es notwendig, die einzelnen Textelemente, ihr „Aufeinander-Einwirken“, ihre dynamische Spannung und ihre koproduktive Aktivität zu analysieren. In der Prager Schule wird nicht nur das literarische Werk selbst als dynamische Einheit (seiner einzelnen Teile) betrachtet, sondern auch die Bedeutung als etwas Dynamisches begriffen, als Geschehen, das niemals endgültig und in jeder Hinsicht erfassbar ist. Die Frage nach der Entstehung dieses Geschehens wird somit für die Prager Strukturalisten zur zentralen Frage, und im Mittelpunkt stehen diejenigen sprachlichen Verfahren, die im literarischen Text Bedeutung generieren. Das Interesse des Prager Strukturalismus an der narrativen Struktur hängt mit seinem Interesse an den Komponenten des Bedeutungsgeschehens zusammen und lässt seinen grundlegenden noetischen Zugang zum literarischen Werk erkennen. Dieser macht es erforderlich, sich auf die Texteinheiten und Relationen zu konzentrieren und nicht auf die kausalen Verbindungen in seiner Handlung oder auf die äußere Realität, als deren struktureller Bestandteil das Werk zu begreifen ist. Das Interesse am semantischen Aufbau eines Werks führte auch zu den ersten gedanklichen Entwürfen, die sich vor dem Hintergrund einer im Ent-

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stehen begriffenen Erzähltheorie (vor allem im deutschsprachigen Raum, vgl. Käte Friedemann, Robert Petsch, Oskar Walzel u. a.) abzeichneten. Man muss sich jedoch vor Augen halten, dass der Prager Strukturalismus niemals im Sinn hatte, ein komplexes theoretisches System zu erstellen, das zugleich als allgemeines Modell einer strukturellen Grammatik der Erzählung und einer semantischen Gestaltung des literarischen Werks dienen sollte.1 Gleichwohl war ein solches in sich geschlossenes System der strukturellen Organisation Grundlage aller Analysen konkreter literarischer Erzählungen, was sich besonders deutlich bei Felix Vodi!ka zeigen lässt. Die Notwendigkeit, die strukturale Theorie abzuschließen, um sich ihrer systemischen Verankerung zuzuwenden, wurde lange Zeit nicht als solche erkannt, unter anderem aufgrund der semiotischen Orientierung Muka"ovsk#s und Vodi!kas, die sich nicht nur den Problemen der Semantik, sondern auch der Pragmatik eines literarischen Textes widmeten. In der Folge überwog, vor allem bei Muka"ovsk#, das Interesse an einem abstrakteren Entwurf einer allgemeinen Ästhetik bzw., im Falle Vodi!kas, an den Prinzipien der historischen Entwicklung literarischer Reihen und an dem Problem ihrer Rezeption. Der Kristallisationspunkt in der eigentlichen Arbeit der Prager Strukturalisten, die sich auf eine für die Erzähltheorie zentrale Problematik bezieht, ist daher in Arbeiten zu suchen, die narrativen Texten und ihren Strukturprinzipien gewidmet sind. Dieser analytischen Arbeit widmete sich Jan Muka"ovsk# besonders in den dreißiger und zu Beginn der vierziger Jahre des 20. Jahrhunderts. Zugleich regte er seinen Schüler Felix Vodi!ka an, sich nicht nur mit der systematischen Analyse narrativer Werke zu beschäftigen, sondern auch eine in sich geschlossene methodologische und terminologische Grundlage für die sich entfaltende Literaturwissenschaft zu schaffen. Dank der gründlichen theoretischen Arbeit Vodi!kas wurden in der Folge auch die Grundlagen für eine tschechische Erzählforschung geschaffen; etliche spätere Forscher, die sich in der Narratologie und in verwandten Disziplinen etablierten, sind von Vodi!kas analytischen und theoretischen Arbeiten beeinflusst. Beispielsweise bekennen sich Lubomír Dole$el, David Herman, Wolf Schmid sowie Wolfgang Iser u. a. dazu, von der Prager Schule inspiriert worden zu sein. Deren Methode der narrativen Analyse zeichnete sich durch eine ständige Überprüfung der allgemeinen theoretischen Postulate am Beispiel des konkreten narrativen Materials aus. Besonders im Falle von Felix Vodi!kas Arbeiten spricht man in diesem Zusammenhang von einer „Theorie des Einzigar_________ 1

Auch in der zeitgenössischen internationalen Literaturtheorie haben derartige Unterfangen Ausnahmecharakter, siehe z.B. Propps Grammatik des russischen Märchens.

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tigen“. Das abstrakte theoretische Denken wurde ständig mit der Praxis des literarischen Erzählens verknüpft. Auf der Grundlage dieser Methode analysierte Vodi!ka zum Beispiel die von Josef Jungmann stammende Übersetzung von Chateaubriands Atala, und so entwarf er nicht nur eine Grundcharakteristik der narrativen Prosa, sondern formulierte zugleich allgemeine Regeln des semantischen Aufbaus eines Textes sowie Ansätze einer strukturellen Systematisierung. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass es dem tschechischen Strukturalismus hauptsächlich um die Frage geht, wie die Bedeutung eines literarischen Werkes generiert wird.

II. Das Programm des Prager Strukturalismus und seine allgemeine Begründung in der Kommunikationssituation eines Werks Jan Muka"ovsk# formuliert das Programm des Prager Strukturalismus in Bezug auf die Sprache des dichterischen Werks, die als zentrales Moment des Werkganzen im Mittelpunkt seiner Betrachtung steht. Das Werk ist für ihn eine Struktur, für deren Verständnis der Kontext eine wichtige Rolle spielt: Das dichterische Werk bildet eine Struktur, d. h. eine Ganzheit, deren einzelne Komponenten erst im Zusammenhang mit den anderen eindeutig werden, eine praktisch unzerlegbare und dabei dynamische Ganzheit in dem Sinne, dass die Komponenten in ihr keineswegs als totes Baumaterial fungieren, sondern als aufeinander einwirkende, oftmals gegensätzliche Kräfte. (Muka"ovsk# 1935, 11)

Von Anfang an begreift der Prager Strukturalismus das literarische Werk als Teil eines kommunikativen Aktes, als Teil der Kommunikationssituation zwischen Künstler und Empfänger. Das Werk als sprachliches Zeichen und als Komplex von Zeichen bestimmt sodann seinen vermittelnden Charakter. Infolgedessen gibt es für Muka"ovsk# sechs grundlegende Aufgaben des Strukturalismus: 1. die Analyse der dichterischen Struktur und der Beziehung zwischen der sprachlichen und thematischen Gestaltung; 2. die Untersuchung der immanenten Entwicklung der dichterischen Struktur und ihrer Gesetzmäßigkeiten; 3. die Untersuchung der inneren Differenzierung der Dichtkunst in Gattungen und Bereiche; 4. die Untersuchung der Beziehung der dichterischen Sprache zu linguistischen Fragen und Problemen im Hinblick auf die innere Struktur des sprachlichen Zeichens; 5. die Betrachtung der semantischen Seite der Dichtkunst; 6. die Untersuchung noetischer Grundfragen der Poesie, wie etwa die Frage der Zeit, des Raumes, des Subjekts, der Funktionen, Werte und Normen (siehe Muka"ovsk# 1937).

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Auf der Grundlage des Bühlerschen Organonmodells des sprachlichen Zeichens (Bühler 1934) formulierte Muka!ovsk" seinen Begriff von der Funktion des literarischen Werkes als Mittel der Kommunikation. Den drei Bühlerschen Funktionen, der abbildenden, expressiven und appellativen Funktion, stellt er die ästhetische Funktion gegenüber. Während die ersten drei Funktionen praktischer Natur sind, geht die ästhetische Funktion darüber hinaus, sie subsumiert die drei anderen Funktionen und begründet zugleich die Autonomie des Kunstwerks.2 Diese Autonomie schwächt die Beziehung des Kunstwerks zur äußeren Wirklichkeit ab, ohne sie jedoch ganz aufzuheben. In Bezug auf die ästhetische Funktion (bei deren Bestimmung das Subjekt – der Dichter ebenso wie der Empfänger – eine wesentliche Rolle spielt) legt Muka!ovsk" eine ästhetische Norm fest (als eine „Kraft“, die die ästhetische Haltung des Menschen zu den Dingen reguliert). Die ästhetische Funktion stellt das unnormierte Ästhetische und die ästhetische Norm das normierte Ästhetische dar. Die ästhetische Funktion und die ästhetische Norm stehen in Kontrast zueinander, und aus der Spannung dieser beiden Pole ergibt sich der ästhetische Wert: Mit dem unnormierten Ästhetischen hat er die Zielrichtung auf Einzigartigkeit gemein, mit dem normierten Ästhetischen die Forderung nach überindividueller Ausrichtung und Stabilität. (Muka!ovsk" 1940a, 62; dt. 1974, 101)

Ein weiterer wichtiger Bereich, dem sich der Prager Strukturalismus widmet, ist das Subjekt und der Kontext der Kommunikation. Er entwirft einen Begriff des Subjekts (als textorientierter intentionaler Kategorie, in der sich die Intentionen des Autors, des Werks sowie seines Empfängers spiegeln) und des Kontexts, der ebenfalls im Rahmen eines weit gefassten Werkbegriffs herausgestellt wird. Von hier führt der Weg _________ 2

Diese Funktionen bezieht Muka!ovsk" auf die äußere Wirklichkeit und auf die Haltung des Individuums zu dieser Wirklichkeit. Er nennt drei verschiedene Haltungen: die praktische, die theoretische und die ästhetische Haltung. Die Grundhaltung ist dabei die praktische (es handelt sich um die praktische Funktion der Sprache, zu der auch jene drei erwähnten Bühlerschen Funktionen gehören), die die Beziehung des Menschen zu den Dingen ausdrückt: Das Individuum projiziert seinen Willen auf die gegenständliche Welt in Form von Handlungszielen; dies ist eine Haltung, die die Wirklichkeit vereinfacht. Ähnlich vereinfachend ist auch die theoretische Haltung; sie bedeutet den Ausschluss des Subjekts und konzentriert sich auf die Beziehungen der Dinge untereinander. Das Bestreben richtet sich hier darauf, einen allgemeinen Zusammenhang der Phänomene zu erfassen. Die ästhetische Haltung hingegen ist eine, die das Ding aus der Wirklichkeit heraustrennt. Es ist gewissermaßen ein „Luxus“, wie Muka!ovsk" (1940a, 63; dt. 1974, 102) schreibt, „der nicht mit den grundlegenden Lebensinteressen des Menschen zusammenhängt“. – „Im Verhältnis zum Menschen verwandelt sich diese Verneinung in eine Bejahung, die darauf beruht, dass das Ästhetische immer aufs Neue dem Menschen die Vielseitigkeit und Vielgestaltigkeit der Realität zu Bewusstsein bringt, indem es jedes Ding, dessen es sich bemächtigt, zum Mittelpunkt selbstzweckmäßiger Aufmerksamkeit macht“. Zugleich jedoch ist dieser „Luxus“, diese Haltung, nach der Überzeugung der Prager Strukturalisten, bei jedem menschlichen Wahrnehmungs- oder Schaffensakt präsent.

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sodann nicht nur in Richtung Rezeptionsästhetik (Jauss, Iser), die speziell an Vodi!kas Arbeiten und Entwürfen anknüpft, sondern auch in Richtung einer modernen Narratologie, die sich dieser Problematik über die kognitive Semantik nähert (David Herman). Wir haben bislang die grundlegende theoretische Verankerung des Prager Strukturalismus skizziert, um aufzuzeigen, welche wesentlichen Fragen die Strukturalisten in den dreißiger und vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts an die literarische Erzählung stellen. Das Verstehen der literarischen Kommunikation (als „überdachende“ Problematik) und der an ihr „Beteiligten“, die funktionelle Verankerung des Textes und schließlich die Problematik von Subjekt und Kontext sind ebenfalls wichtige Beiträge der Prager Schule zur theoretischen und methodologischen Diskussion des literarischen Werks. Eben darauf basieren die theoretischen Ansätze der strukturalistischen Prager Schule, die wir als „pränarratologische Forschung“ bezeichnen können. Im Folgenden sollen einige Entwürfe des Prager Strukturalismus näher betrachtet werden, wobei das Hauptaugenmerk auf Felix Vodi!kas Beitrag liegt, bei dem ein stärker ausgeprägtes und konkreteres Interesse an der Problematik der narrativen Prosa und ihrer Systemverankerung erkennbar wird.

III. Jan Muka"ovsk# und die narrative Situation Dass Muka"ovsk# wesentlich zum wachsenden Interesse des Prager Strukturalismus an den narrativen Verfahren beigetragen hat, wird vor allem in seinen Arbeiten deutlich, die sich der Analyse bestimmter Erzählwerke von Bo$ena N%mcová, Karel Hynek Mácha, Vladislav Van!ura und Karel &apek widmen, in denen Muka"ovsk# die sprachlichen Mittel, den Satzbau und die Motivstruktur ausführlich behandelt. Eine wichtige Rolle kommt auch seiner Arbeit Dialog und Monolog (1940b) zu. In dieser Arbeit knüpft Muka"ovsk# an vorangehende Arbeiten Tardes (1922) und Jakubinskijs (1923) an, die er mit einer funktionellen Auffassung von Sprache und Kunstwerk als Mittel der Kommunikation und in Bezug auf die semantische Intention des Werkes betrachtet. Ihre Dialogbegriffe stellt er einander gegenüber und formuliert auf der Grundlage dieser Gegenüberstellung seine eigene Theorie, nach der die Beziehung zwischen Dialog und Monolog die einer dynamischen Polarität ist, die aus dem wechselseitigen Aufeinandereinwirken von drei Aspekten des Dialoges resultiert: 1) der Beziehung zwischen den beiden Kommunikationsbeteiligten als einer Beziehung zwischen „Ich“ und „Du“ (Muka"ovsk# behauptet dabei, dass auch der Monolog

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diese Opposition realisiere, sie aber abschwäche); 2) der Beziehung zwischen den Kommunikationsbeteiligten einerseits und der „objektiven Situation, die die Beteiligten im Moment des Gespräches umgibt“ andererseits; 3) des spezifischen Charakters des semantischen Dialogaufbaus. Die ersten beiden Aspekte stellen äußere Seiten des Dialogs dar, der dritte Aspekt hingegen betrifft sein inneres Wesen, wobei davon ausgegangen wird, dass in seinem semantischen Aufbau beständig „mehrere, mindestens jedoch zwei Kontexte einander durchdringen“. All diese Aspekte manifestieren sich über sprachliche Mittel (z. B. Personalpronomina, räumliche und zeitliche Deiktika, Demonstrativpronomina, Lokal- und Temporaladverbien und Verbaltempora, Intonation, Tempo), und besonders wesentlich sind dabei jene Mittel, die eine Wertung zum Ausdruck bringen. Vor dem Hintergrund des Dialogs definiert Muka!ovsk" sodann den Subjektbegriff als eine Konzentrizität, eine Projektion seiner beiden Seiten – des Sprechenden und des Adressaten. Das Subjekt ist für ihn nicht ein „konkretes psychophysisches Individuum“, sondern eine Funktion der sprachlichen Äußerung. Durch ein so definiertes Subjekt der Kommunikation erfahren zwangsläufig auch Begriffe wie ‚Monolog‘ und ‚innerer Monolog‘ eine Umbewertung, wobei letzterer z. B. dialogische Züge annimmt. Muka!ovsk"s Betrachtungen müssen im Zusammenhang mit vergleichbaren Arbeiten gesehen werden, wie etwa denjenigen Michail Bachtins und Julia Kristevas. Muka!ovsk"s Arbeiten zu den narrativen Verfahren, die überwiegend auf der Materialgrundlage des tschechischen Romans der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts entstanden, konzentrierten sich auf Überlegungen über die Beziehung der einzelnen Komponenten der Erzählung zum Werkganzen, also zur überdachenden Bedeutungsdominante, zur semantischen Geste, und bewegen sich im Bereich einer von ihm entworfenen Mereologie. Nach Muka!ovsk" lässt sich die Struktur nicht nur als bloße Summe ihrer einzelnen Teile begreifen, vielmehr müssen diese in ihrer beständigen dynamischen Spannung zueinander betrachtet werden. Jeder Teil des Ganzen verweist dabei auf eben dieses Ganze. Zum Verstehen des Ganzen ist es notwendig, die Beziehungen seiner einzelnen Teile und den Charakter eines jeden einzelnen Teils zu begreifen. Aus diesen Beziehungen entsteht die ‚semantische Geste‘ als einheitsstiftende Aktivität des semantischen Geschehens. Den Begriff führt Muka!ovsk" in die Diskussion ein. Muka!ovsk" definiert ihn auch als Teil der Kommunikationssituation, und aus seinen Überlegungen ergibt sich Folgendes: Für die semantische Geste, die der Aufnehmende im Werk empfindet, ist jedoch nicht nur der Dichter und die Qualitäten, die der Dichter ins Werk hin-

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einlegte, verantwortlich: ein bedeutender Anteil fällt auch dem Aufnehmenden zu, und es wäre nicht schwierig, in einer detaillierten Analyse […] zu zeigen, dass der Aufnehmende häufig die semantische Geste eines Werks gegen die ursprüngliche Absicht des Dichters spürbar abändert. (Muka!ovsk" 1943, 373; dt. 1974, 49)

Bei der Frage nach der Generierung des semantischen Gehalts konzentriert sich Muka!ovsk" vor allem drauf, die Eigenschaften und Distributionsbeziehungen der einzelnen narrativen Elemente zu beschreiben. Deshalb widmet er sich der Stilanalyse, der Funktion und Beschaffenheit von Motiven und dem thematischen Aufbau einer Erzählung. Es geht ihm darum nachzuweisen, dass jeder, auch der elementarste Bestandteil des narrativen Materials Bedeutungsträger ist. Muka!ovsk" befasst sich mit der Beziehung zwischen Sprache und Thema, zwischen Beschreibung/Rede und Erzählung/Geschichte, er untersucht den Charakter der Zeit im Erzählen und formuliert eine erste Definition, laut der das Erzählen ein Prozess ist, in dessen Verlauf den einzelnen Geschehnissen, Handlungen, Personen und Dingen bestimmte Werte zuerkannt werden, aufgrund derer sie ins Werkganze eingeordnet werden. Für Muka!ovsk" ist es also notwendig, nicht nur die Frage der temporalen und kausalen Perspektivierung in Betracht zu ziehen, sondern auch das einheitsstiftende Prinzip, das allerdings nicht ausschließlich zweckbestimmt ist. Jede Benennung ist nach Muka!ovsk" Bewertungsträger und verweist als solcher auf das Wesen der pragmatischen Situation, deren Bestandteil sie ist. In seinen Entwürfen zu einer Typologie des Erzählens befasst sich Muka!ovsk" daher nicht nur mit der zeitlichen Abfolge der Fakten und ihrer Motivierung (jedes Faktum außer dem anfänglichen, muss durch ein vorangegangenes Faktum motiviert sein [Muka!ovsk" 2001, 261]), sondern auch mit der Frage nach dem Wert, die er mit der Perspektivierung der semantischen Geste verknüpft. Im Zusammenhang mit dem Erzählen führt er auch den Begriff der „Begebenheit“ ein, die für ihn ein Synonym für „Vorfall“ ist. Die Begebenheit definiert er als einen Komplex von Fakten, die mit der semantischen Einheit verbunden sind: Das Erzählen eines Ereignisses [událost] setzt eine Auswahl von Fakten voraus – nicht alles, was man zu einer gegebenen Zeit an einem gegebenen Ort sehen und hören konnte, ist Teil des Ereignisses. Die Einheit des Ereignisses ist dadurch gegeben, dass ein bestimmtes Faktum in einer Reihe gegenüber anderen Fakten überwiegt: es entsteht der Eindruck, dass alles, was vor ihm geschehen ist, nur eine Vorbereitung auf es sei, und alles, was nach ihm geschehen ist, seine notwendige Folge. (Muka!ovsk" 2001, 539)

Muka!ovsk" beschäftigt sich mit der Frage, welche Erwartungen im Leser durch bestimmte Begebenheiten und ihre Auswahl geweckt werden, und in Bezug auf diese Erwartungshaltung werden dann die einzelnen

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Fakten bewertet. In diesem Zusammenhang spricht Muka!ovsk" von einer regressiven Motivation, die erst nachträglich, in dem Augenblick, wo das entscheidende Faktum bekannt ist, „den Sinn der ganzen Äußerung“ fixiert, und von einer progressiven Motivation, wenn das entscheidende Faktum im Voraus bekannt ist. Auf der Grundlage dieser Definition nennt Muka!ovsk" drei Typen des Erzählens, die durch eine wechselseitige Beziehung der Motivationen bestimmt werden: Erzählen ohne Motivation mit einer bloßen zeitlichen Abfolge der Fakten (als Beispiel führt Muka!ovsk", deutlich von Karel Hynek Máchas Tagebüchern inspiriert, das Erzählen von Reisebegebenheiten an, die nur eine Zusammenstellung knapper Fakten beinhalten, wie etwa: „#ekali. $li pomalu. Lidé z pouti. #tli. Brána na pomezí“ („Sie warteten. Sie gingen langsam. Leute von der Kirmes. Sie lasen. Das Tor an der Grenzlinie“; Muka!ovsk" 2001, 538). Diesem Typ des Erzählens ordnet er auch Chroniken zu, das Erzählen mit progressiver Motivation (die einzelnen Fakten reihen sich aneinander, ohne dass es im Erzählen eine semantische Wende gäbe, die nachträglich den Sinn des Erzählten änderte) und Erzählen mit regressiver Motivation (ein Grundtyp ist der Krimi). Diese drei Typen stellen für Muka!ovsk" theoretische Konstrukte dar, die allesamt innerhalb eines Erzählkomplexes vorkommen können. Muka!ovsk" verweist dabei auf die Bedeutung, die der Verletzung eines der angeführten Prinzipien zukommt, wenn etwa die Erwartung des Lesers konterkariert wird. Dies ist etwa der Fall, wenn ein Erzählen mit detektivischer Motivation nicht zur Auflösung des Rätsels führt und somit folglich darauf verweist, dass sein Sinn und Zweck nicht in der Lösung des Konflikts bestanden hat. Auch mit dem Problem des Kontexts (des inneren Kontexts, also der Beziehungen innerhalb der Einheit des Textes) befasst sich Muka!ovsk", besonders in seinen Arbeiten zu Van%ura und #elakovsk". Er denkt den Kontext als einen Komplex von Beziehungen, die die semantische Dominante des literarischen Textes bilden. Als elementarste, relativ geschlossene Formation des Kontexts bezeichnet er den Satz, allerdings den Satz im Sinne einer semantischen Einheit und nicht nur im Sinne einer grammatischen Konstruktion. Träger des potentiellen Kontexts ist bereits das Wort als dynamische Einheit, Kontext eines einzigen Wortes wiederum ist der gesamte Wortschatz. In den Arbeiten Jan Muka!ovsk"s zur tschechischen Prosa zeichnete sich also bereits die Richtung ab, die der Prager Strukturalismus später einschlagen sollte. Diese Arbeiten inspirierten vor allem seinen Schüler Felix Vodi%ka, der Muka!ovsk"s Ansätze zu einem einheitlichen System des semantischen Aufbaus von Erzählungen weiterentwickelte.

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IV. Felix Vodi!ka und die systematische Methodologie der Analyse des semantischen Aufbaus narrativer Werke 1. Festlegung des Forschungsbereiches Felix Vodi!kas Beitrag zum strukturalistischen Konzept des literarischen Werks bezieht sich auf zwei grundlegende Bereiche. Diese können jedoch nicht getrennt voneinander betrachtet werden, vielmehr durchdringen und beeinflussen sie sich gegenseitig. Der erste Bereich ist die Theorie der Konkretisierung. Vodi!ka baut dieses Konzept vor dem Hintergrund von Roman Ingardens Begriff der Konkretisierung auf. Er geht allerdings über Ingardens Konzept hinaus, indem er die aktive Rolle des Rezipienten sowohl bei der Konkretisierung als auch beim Erkennen des semantischen Geschehens betont. Dieses semantische Geschehen wird zudem in einen Kontext gesetzt, der weiter gefasst ist, als es Ingardens Ontologie des Kunstwerks vorsieht. In der Folge wurde Vodi!kas Theorie der Konkretisierung dann auch Theorie der Aufgaben genannt. Der zweite Bereich, in dem Vodi!kas Begriff der Konkretisierung sich bereits profiliert hat, ist die Theorie der literarischen Entwicklung. Der Literaturhistoriker Vodi!ka folgt hier nicht nur dem Hinweis Roman Jakobsons, wonach die Literatur im Rahmen eines Diskurses zu erforschen ist, den sie selbst hervorbringt, also in Jakobsons Terminologie im Rahmen der Literarizität. In weit stärkerem Maße bezieht sich Vodi!ka auf die methodologischen Hinweise Jan Muka"ovsk#s in den Arbeiten, in denen Fragen der ästhetischen Norm, des ästhetischen Wertes und des ästhetischen Objekts sowie deren Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gesellschaft und zur Geschichte behandelt werden. Auf der Grundlage seiner Arbeiten zu einer historischen Poetik entwirft Vodi!ka eine Theorie der literarischen Evolution und spricht von der entscheidenden Bedeutung der schöpferischen Persönlichkeit. Diese integriert er in den Bereich, in dem die immanente Entwicklung die Bedingungen für den schöpferischen Gestus des Autors schafft. Hier soll es nun nicht darum gehen, die beiden genannten Bereiche zu beschreiben. Dies leistet Jurij Striedters (1976) ausführliche Einleitung zu den Übersetzungen der theoretischen Studien Felix Vodi!kas Die Struktur der literarischen Entwicklung. Striedter ist es nicht nur gelungen, sehr genau und detailliert Vodi!kas strukturale Herangehensweise in der Theorie der literarischen Evolution zu skizzieren, er ordnet diese darüber hinaus (ganz im Geiste von Vodi!kas Methodologie) überzeu-

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gend in die damalige Strömungen der Literaturtheorie und der zeitgenössischen Philosophie ein.3 Striedters Untersuchung gibt den Anstoß zu einer tieferen Auseinandersetzung mit Vodi!kas Denken, bei der es auch darum gehen soll, jene Aspekte herauszustellen, die von Striedter vernachlässigt worden sind. Im Zentrum soll dabei die Frage nach Felix Vodi!kas Beitrag zur gerade aufkeimenden Erzähltheorie stehen. 1948 erschien in Prag Vodi!kas umfangreiche Arbeit Die Anfänge der neutschechischen literarischen Prosa. Diese Arbeit, die im Juli 1945 beendet wurde, gibt nicht nur einen ersten Überblick über den Stand der tschechischen Literatur in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, sondern trägt durch ihre methodologische Klarheit auch zum Verständnis der strukturalen Analyse der literarischen Erzählung bei. Sie behandelt Josef Jungmanns Übersetzung von Chateaubriands Atala sowie die erste tschechische historische Novelle Zá!e nad pohanstvem (Leuchten über der Heidenwelt) von Josef Linda und erörtert die Frage, welche Rolle die damalige Literaturproduktion sowie die gesellschaftliche Situation für die Übersetzung gespielt hat und inwiefern Jungmanns Übersetzung zeitgenössische Normen verletzt und das literarische Werk auf der immanenten Entwicklungsachse verschiebt. Da es sich bei den untersuchten Texten um literarische Erzählungen handelt und Vodi!ka in seiner Untersuchung gründliche Analysen liefert, können wir uns bei unseren Betrachtungen ganz an dieser fast vierhundertseitigen Arbeit orientieren. Ein weiteres wichtiges Moment in Vodi!kas wissenschaftlicher Tätigkeit war, dass diese ganz wesentlich zur inhaltlichen Prägung und Perfektionierung der Terminologie des Prager Strukturalismus beigetragen hat, dadurch dass Vodi!ka zum einen die Bedeutungen einzelner Begriffe zu Ende gedacht hat, zum anderen Begriffsreihen und das Begriffssystem selbst vollendet hat. Trotzdem wäre es irreführend, bei Vodi!ka von einem klar strukturierten terminologischen System zu sprechen, denn bei ihm stand immer das literarische Werk in seiner Textualität an erster Stelle. Der Analyse des literarischen Werkes war der Begriffsapparat, dessen Vodi!ka sich bediente, immer untergeordnet. Das Ergebnis ist eine Art Theorie des Einzigartigen, die, wie sogleich deutlich wird, für eine allgemeine Methodologie der Systemanalyse literarischer Erzählungen und der Schaffung eines einheitlichen Systems des semantischen Aufbaus der Erzählung von großer Aussagekraft ist. _________ 3

Lediglich bestimmte Impulse der modernen Kunst und Architektur, die (vor allem in der Gestalt des Funktionalismus) Muka"ovsk#s und dann auch Vodi!kas Arbeiten nachhaltig beeinflusst haben, sind nicht erwähnt worden.

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Für Vodi!kas Vorgehensweise, für sein Modell der Strukturanalyse wird häufig der Terminus „Zickzackmethode“ verwendet. Zunächst wird ein bestimmtes Phänomen in einem literarischen Text beobachtet, dann wird dieses in die abstrakten Koordinaten des theoretischen Systems übertragen, vergleichbaren Phänomenen zugeordnet und weiter führenden theoretischen Untersuchungen unterzogen, um am Ende wieder in seinen ursprünglichen, einzigartigen Kontext zurückgeführt zu werden, nun aber mit dem Wissen um die größeren Zusammenhänge, in die es gestellt worden ist. Die systematische Analyse eines bestimmten Phänomens, eines Textes oder eines Werks hat somit bei Vodi!ka immer Vorrang vor dem insgesamt abstrakten theoretischen System, in das das literarische Werk eingeordnet werden kann. Die Theorie dient hier dem Text und nicht der Text der Theorie. Dieses Verfahren hat weit reichende Konsequenzen für den Forscher, der beabsichtigt, allen erwähnten Schwierigkeiten zum Trotz, die Existenz eines komplexen theoretischen Systems der strukturalen Analyse bei Vodi!ka nachzuweisen und dieses näher zu bestimmen.4 Hierfür müsste man sich zum einen Vodi!kas gesamtes Werk vornehmen, um aus den einzelnen Arbeiten das theoretische System herauszudestillieren, zum anderen wäre es zu aktualisieren, und es müssten Leerstellen in ihm gefüllt werden. Vodi!ka aktualisiert nämlich bei der Analyse eines literarischen Textes die Phänomene und den dazugehörigen terminologischen Apparat, der in dem Text gegenwärtig ist. Weit weniger nimmt er nicht-gegenwärtige Phänomene zur Kenntnis. Doch lassen sich auf der Grundlage seines Begriffsapparats einige Erscheinungen als latent gegenwärtig und in ihrem oppositionellen Charakter zu den untersuchten Phänomenen wahrnehmen. Im Folgenden soll deshalb Vodi!kas Theorie der narrativen Analyse so dargeboten werden, dass die Vorstellung von einem komplexen System entsteht, in der Hoffnung, dass dies den Intentionen Vodi!kas entspricht. Dieses „Ausfüllen“ wird dadurch erleichtert, dass Vodi!kas System oft zur Bipolarität neigt: Vor dem Hintergrund eines aktualisierten literarischen Phänomens können wir seinen Gegenpol wahrnehmen.

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Oftmals wird die These geäußert, Vodi!ka habe kein systematisches Modell des semantischen Aufbaus ausgearbeitet. Dieser Beitrag will aufzeigen, dass das Gegenteil der Fall ist, dass Vodi!ka dieses Modell jedoch nicht als ein solches ausgegeben, sondern es in die Grundlagen seiner Methode integriert hat; diese wiederum zielt vor allem auf die Analyse des literarischen Textes ab.

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2. Die Ursprünge der Terminologie Die Terminologie, derer sich Felix Vodi!ka für die Textanalyse bedient, hat zum einen ihren Ursprung im russischen Formalismus (von diesem übernimmt Vodi!ka sowohl die Grundtermini für die Bestimmung der Reihenfolge von Ereignissen in einem literarischen Text, Fabel und Sujet, als auch die von Toma"evskij (1925) geprägten Termini Motiv, Thema und Handlung), zum anderen wird der Einfluss von Ingardens (1931) Unterscheidung der vier Schichten des literarischen Werkes5 und der zeitgenössischen strukturellen Linguistik deutlich, die von vier Ebenen der Sprache spricht, der phonetischen, morphologischen, lexikalischen und syntaktischen Ebene. Vor dem Hintergrund dieses Schichten- und Ebenenbegriffes entwickelt Vodi!ka seine eigene Theorie, die auch von Muka#ovsk$s Idee der zwei Schichten (Schicht der materiellen Elemente und Schicht der formalen Mittel6) stark beeinflusst ist. In der Terminologie, die Vodi!ka gebraucht, findet auch seine Kenntnis der deutschen Literaturtheorie Eingang: Von Robert Petsch (1942) borgt er sich den Terminus Umwelt der Figuren und wandelt ihn in äußere Welt ab; von der französischen Literaturgeschichte lässt er sich bei der Suche eines Begriffs für die Übergangsepoche der tschechischen Literatur zwischen Klassizismus und Romantik inspirieren und nennt sie Präromantismus.7 Die zwei wichtigsten Impulse für die Erstellung eines terminologischen Lexikons der narrativen Analyse kamen jedoch von der theoretischen Arbeit Josef Jungmanns8, und zwar vor allem im Bereich der lautlichen Struktur eines literarischen Textes. Einige Termini Jungmanns „übersetzte“ Vodi!ka in Begriffe, in denen der Formalismus oder Strukturalismus „sprach“, so wandelt er etwa Jungmanns tvar (Form) in forma ab, behält aber obsah (Inhalt) sowie látka (Stoff) bei, weil sie terminologisch und inhaltlich mit der strukturalistischen Terminologie übereinstimmen, die in diesem Falle wiederum vom russischen Formalismus inspiriert ist. Einige Begriffe zur Genreunterscheidung entnimmt er %klovskijs Prosatheorie (z.B. Novelle mit Geheimnis und ohne Geheimnis), _________ 5

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Im Unterschied zu Ingarden hält Vodi!ka die einzelnen Schichten für Träger eines Konkretisierungsimpulses. Ingarden spricht zunächst von den zwei höheren Schichten, in denen es dann zur Konkretisierung kommt, d.h. von der Schicht der dargestellten Gegenständlichkeiten und der Schicht der schematischen Aspekte. Lubomír Dole&el (1982) hat gezeigt, wie sich im Falle Muka#ovsk$s diese beiden Schichten im System in Sprache und Thema (bei der Schicht der materiellen Elemente) und in Verfahren der Deformierung und Organisierung (bei der Schicht der formalen Elemente) spalten. Vodi!ka wird hier von der Arbeit des französischen Historikers Paul van Tieghem (1924) inspiriert. Diese haben auch im deutschen Fachwortschatz ihre Spuren hinterlassen, vor allem bei K. H. L. Pölitz in seiner Aesthetik für gebildete Leser (Leipzig 1807).

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und von !klovskij gehen auch Vodi"kas Überlegungen zur Rolle des Konflikts und seinen Erscheinungsformen in der Erzählung aus.9 Dort, wo sich Vodi"ka mit der Satzperiode in der Literatur der tschechischen Literatur der Wiedergeburt befasst, beruft er sich auf die Arbeiten Sergej Karcevskijs und übernimmt er von ihm die sich auf die Satzintonation beziehende Terminologie.10 Die zweite wichtige Quelle für Vodi"kas Begriffsapparat sind der Prager Strukturalismus und besonders die Arbeiten Muka#ovsk$s. Diese stützen sich begrifflich nicht nur auf die formalistische Tradition, an deren Spätphase die Prager Schule zum Teil – oft auch kritisch – anknüpfte, sondern ebenso auf den Bereich der tschechischen Ästhetik und Linguistik.11 Auch zeitgenössische Stiluntersuchungen, aus denen sich die Narratologie im Grunde entwickelt hat, hatten einen gewissen Einfluss. Vodi"ka verwendet zeitgenössische Begriffe der Stilanalyse wie Beschreibung, Charakteristik, Erzählen, Monolog, Dialog, direkte Rede usw. Bei den Begriffen Struktureinheit, ästhetische Funktion, ästhetischer Wert, ästhetische Haltung und semantische Geste12 beruft er sich dann ganz deutlich auf die Arbeiten Muka#ovsk$s. In seinen Analysen bestimmter Werke der tschechischen Präromantik werden diese Begriffe mit konkretem Inhalt gefüllt. Da Vodi"ka ebenfalls an Fragen der Rezeption interessiert war, übernahm er von der zeitgenössischen Literaturkritik einige Kategorien (vor allem den Begriff der schöpferischen Persönlichkeit, der schöpferischen Tat und der sozialen Bedingtheit eines Werkes).13 Es muss jedoch betont werden, dass für Vodi"ka von großer Wichtigkeit bei der Entwicklung eines Begriffsapparates zur Analyse narrativer Texte die Verständlichkeit und terminologische Deutlichkeit war. Aus diesem Grunde hat bei seiner Terminologie keineswegs die begriffliche Innovation Vorrang, im Gegenteil – er bemühte sich, Termini zu _________ 9 10 11

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Die Übersetzung von !klovskijs Theorie der Prosa (1925) ins Tschechische besorgte Vilém Mathesius 1933. Vodi"ka beruft sich auf Karcevskijs Studie Sur la phonologie de la phrase, Travaux 5. Hier sind die Arbeiten der Sprachwissenschaftler Vilém Mathesius, Bohuslav Havránek, die ästhetischen Arbeiten des von Herbart beeinflussten Otakar Hostinsk$ und seines Schülers Otakar Zich zu nennen. Letzterer befasste sich mit der Frage der semantischen Struktur des musikalischen Werks und interessierte sich in diesem Zusammenhang für die Rolle des Rezipienten bei der Entstehung der Bedeutung eines Werks. In das Modell des semantischen Aufbaus, das in den Anfängen der neutschechischen literarischen Prosa entwickelt wird, geht dieser von Muka#ovsk$ geprägte Terminus jedoch nicht ein. In Vodi"kas Begriffsapparat erscheint er offensichtlich erst in der Arbeit (1966), die in der Festschrift zu Muka#ovsk$s 75. Geburtstag publiziert wurde. Vodi"ka macht hier deutlich, dass Muka#ovsk$s Entwürfe eines Prozesses der historischen Entwicklung sein eigenes Verständnis beeinflusst haben. Hier sind vor allem zu erwähnen: F. X. !alda, Otakar Fischer und der kritisch rezipierte Arne Novák.

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verwenden, die bereits Eingang in die literaturtheoretische Kommunikation gefunden haben. Vodi!ka suchte diese Begriffe aus dem zeitgenössischen literarischen Diskurs zu abstrahieren, sie mit einem klar umrissenen Inhalt zu füllen und ihnen im System seiner Strukturanalyse einen Ort zuzuweisen. 3. Vodi!kas Auffassung vom semantischen Aufbau des narrativen Textes 3.1. Die Ebenen des literarischen Werkes Ähnlich wie Roman Ingarden fasst Felix Vodi!ka das literarische Werk als System hierarchisch angeordneter Ebenen auf. Träger einer konkretisierbaren Bedeutung finden sich bereits auf der untersten Ebene. 3.1.1. Die Ebene der lautlichen Mittel und elementaren sprachlichen Organismen Dass Vodi!ka das literarische Werk als Struktureinheit hierarchisch angeordneter Ebenen begreift, wird besonders in seinen Analysen von Erzähltexten deutlich. Er beginnt dabei auf der Ebene der lautlichen Mittel und elementaren sprachlichen „Organismen“.14 Bei seiner Satzanalyse geht es ihm jedoch hauptsächlich um die Frage nach der ästhetischen Struktur des Satzes. In seiner Terminologie lassen sich deshalb sowohl Begriffe aus der Linguistik (Wort, Wortschatz, Phonem, Lexem), als auch aus der Musikwissenschaft (Rhythmus, Ton, Melodie, Intonation usw.) finden. 3.1.2. Die Ebene höherer semantischer Einheiten Als übergeordnete Ebene versteht Vodi!ka die Ebene höherer semantischer Einheiten. Auf dieser Ebene beginnt seine Beschäftigung mit Motiven (als kontextuellen Elementen), die in ihren Eigenschaften beschrieben werden. Teil dieser Ebene ist auch eine Art Satzsyntax, jene Regeln, auf deren Grundlage sich die einzelnen sprachlichen Elemente zu höheren Einheiten organisieren. Hierzu gehört ebenfalls der Komplex von Regeln der phonetischen und metrischen Struktur oder des Intonationsaufbaus bzw. ihrer Kombinationen. Diese Regeln werden _________ 14

Die Bezeichnung „Organismus“ wurde hier gewählt, um Vodi!kas Auffassung zu verdeutlichen, dass diese elementaren Einheiten fähig sind, Bedeutung zu transformieren und weiterzugeben, und damit voll und ganz am semantischen Geschehen beteiligt sind.

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nicht nur dann zu Bedeutungsträgern, wenn sie eingehalten werden, sondern auch und besonders dann, wenn gegen sie verstoßen wird. Zu den Regeln, die den Platz und die Einbindung der sprachlichen Elemente in größere Einheiten bestimmen, gehören nicht nur Hinweise grammatischer oder syntaktischer Art, sondern auch Fragen der Intonation. Die Intonation wird in ihrer kognitiven Rhythmisierung des Satzes oder einer über den Satz hinausgehenden Einheit als Mitteilungsträgerin erkannt. Um eine Terminologie zu gebrauchen, derer sich Vodi!ka selbst nicht bedient, könnte man sagen, dass mit der Intonation der kognitive Erwartungsrahmen aktualisiert wird. Anhand der Intonation zeigt Vodi!ka außerdem, dass im Text höhere semantische Einheiten entstehen, die die Grenzen von Satzeinheiten überschreiten und deren Dominante die Intonation bildet.15 Auf dieser Ebene wird auch etwas, das wir hier ahistorisch als ‚Minimalerzählung‘ bezeichnen wollen, in Vodi!kas Denken zur primären Verbindung kleinster Einheiten der Erzählstruktur. Bei seiner Untersuchung der „nationalen Wiedergeburt“ erklärt Vodi!ka ihre Bedeutungskohärenz anhand der Aristotelischen Definition von Handlung als einer Einheit, die Anfang, Ende und eine überschaubare Länge hat. Als deren wesentliche Merkmale nennt er Finalität und Kausalität sowie die Existenz einer Dominante, der sich die übrigen Bestandteile dieser Minimaleinheit unterordnen.16 Die Dominante können wir als zentrale semantische Mitteilung begreifen. Die strukturell tieferen Einheiten der Erzählung organisieren sich um die durch diese Konstruktion hervorgebrachte semantische Mitteilung herum und garantieren so ihr Funktionieren. Dieses Bedeutungsganze wird zum Grundbaustein des Erzählens. In Beziehung zu den tieferen Elementen (aus denen es besteht), ist es ein höheres Bedeutungsganzes, zugleich tritt es aber in Beziehung zu Einheiten, die ihm ähnlich sind, und bildet mit ihnen eine höhere Bedeutungsdominante, der es sich selbst unterordnet. Diese höhere Bedeutungsdominante ist der Ausdruck einer neuen Bedeutungshierarchie der Struktur. Doch ist hier keine Stabilität gegeben, denn potentielle Strukturbeziehungen können aktiviert werden, die die Organisation des se_________ 15

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Vodi!ka zeigt hier, dass er sich der Grenzen einer rein linguistischen Textanalyse durchaus bewusst ist. Denn auch Kategorien, die sich bei einer linguistischen Analyse als neutral erweisen könnten, sind in der Erzählung Bedeutungsträger. Wichtig ist die aktivierende Rolle des Kontextes, in dem dieses oder jenes „grammatische Phänomen“ auftritt. Der Kontext ist aber für Vodi!ka nicht nur die unmittelbare Umgebung des gegebenen Phänomens, sondern eine breit angelegte Potentialität, die weit über den untersuchten Text hinausgeht, in einen Bereich, den Vodi!ka ‚das Werk‘ nennt. Zu den Konsequenzen der Auffassung der Periode als Bedeutungsdominante in der Literatur der nationalen Wiedergeburt für die Periodisierung der literarischen Entwicklung und Aktivierung der breiten Kontextbeziehungen siehe: Kubí!ek 2004.

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mantischen Aufbaus zugunsten einer neu aktualisierten Dominante umgruppieren. Das Wissen um die Dynamisierung des Bedeutungsgeschehens trägt zur Flexibilität von Vodi!kas Begriffsystem bei; es ermöglicht ihm nicht nur, ein literarisches Phänomen in seiner Singularität und seiner potentiellen Veränderbarkeit im System eines literarischen Werkes zu beschreiben, sondern sein Modell nimmt dadurch auch Formen einer allgemeinen Methodologie der Strukturanalyse an. Eine weitere wichtige Feststellung ergibt sich für Vodi!ka aus dem Prinzip der syntaktischen Organisation der Erzählung. Diese ist dadurch gegeben, „dass sie nicht für die optische, sondern vor allem für die akustische Wahrnehmung bestimmt ist“. Auch der Periode – als Intonationsund Bedeutungsstruktur – werde die Aufmerksamkeit des Zuhörers zuteil. Die Erzählung nimmt somit Formen einer Anrede an. Sie wird zum Medium einer (funktionellen) Kommunikation, die der semantischen Struktur übergeordnet ist, wodurch wiederum Momente der Intention und Rezeption aktiviert werden. Wie wichtig diese Erkenntnis für die Erforschung der Struktur eines Erzählwerks ist, wird vor dem Hintergrund der späteren Arbeiten Franz Stanzels zur Erzählsituation oder von Gérard Genettes focalisation deutlich. Vodi!ka kann zum Beispiel den Erzähler der Ebene der thematischen Pläne zuordnen, wodurch er im Grunde zu einem Element unter vielen wird. Für Stanzel und Genette ist der Erzähler ebenfalls nur Teil der Erzählsituation bzw. der Fokalisierung. Diese Aktivität ist dem Erzähler semantisch übergeordnet, der wiederum Teil ihrer Strategie ist. 3.1.3. Die Ebene der thematischen Pläne Die Ebene der thematischen Pläne besteht aus motivischen Bündeln und zum Teil auch aus größeren Einheiten. Es sind dies solche motivischen Reihen, die das ganze Werk durchlaufen und zu zusammenhängenden Kontexten gruppiert sind, die Pläne des thematischen Aufbaus des Werkes bilden und deshalb den Charakter struktureller Bestandteile haben. (Vodi!ka 1948, 115)

Als einen solchen zusammenhängenden Kontext bezeichnet Vodi!ka die Handlung – eine Reihe von Motiven, die in zeitlicher Chronologie ablaufen, durch eine kausale Beziehung aneinander gebunden sind und „in sich Elemente einer dynamischen Spannung tragen“.17 Ein weiterer zusammenhängender Kontext ist die Figur – als Handlungsträger und an der Handlung Beteiligter, aber auch als Figur, die über den Handlungscharakter des Werkes hinauswächst. Vodi!ka unter_________ 17

Ebd. Es handelt sich hier um Muka"ovsk#s Paraphrase (1928, 118) der von Toma$evskij (1925) gegebenen Sujet-Definition.

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scheidet dabei Haupt- und Nebenfiguren, Figuren, die sich im Laufe der Handlung entwickeln, und Figuren, die unverändert bleiben. Der dritte und letzte von Vodi!ka angeführte zusammenhängende Kontext ist die äußere Welt (die Bezeichnung „zusammenhängender Kontext“ verweist auf Vodi!kas Vorstellung von einer dynamischen Spannung und einem Prozesscharakter bei der Bildung dieser Kontexte). Die äußere Welt ist das Umfeld, in dem sich das Erzählte abspielt und das im Erzählen dauerhaft gegenwärtig ist, auch wenn es scheinbar von Motiven anderer thematischer Pläne des Werkes überdeckt wird. Zu dieser äußeren Welt gehören nicht nur das materielle Umfeld, sondern auch die soziale, psychische und ideelle Atmosphäre sowie die Nebenfiguren. Diese einzelnen Kontexte lassen sich dabei nicht isoliert und statisch betrachten, vielmehr gilt es, ihre wechselseitigen Beziehungen und ihre dynamische Spannung zu untersuchen. Einzelne Motive bestimmter Pläne können nämlich in andere überwechseln und dort aktualisiert werden. Das Motiv hat also nicht zwangsläufig nur eine einzige Bedeutung, sondern es kann mehrere Bedeutungen zugleich haben. Dabei durchdringen sich die einzelnen Pläne und sind daher nicht leicht voneinander abzugrenzen. Gerade dieses gegenseitige Sich-Durchdringen und die damit verbundene Dynamik führen dazu, „dass [die Pläne] sich in gegenseitiger Konkurrenz für ihre Bedeutungsstruktur auch diejenigen Motive aneignen, die ihrem Wesen nach einem anderen Plan zugehören“ (Vodi!ka 1948, 116). Zu Momenten der semantischen Spannung oder des semantischen Geschehens werden also vor allem auch die wechselseitigen Durchdringungen der Kontexte. Dies führt uns zu jenem Bereich, der für Vodi!kas Auseinandersetzung mit der Erzählung entscheidend ist. Da Vodi!ka immer den Rezipienten des literarischen Textes im Sinne hat, stellt er die Frage, wo die Bedeutung des Textes, der dem Leser (als Aufgabe) vorliegt, niedergeschrieben ist und wie sie gebildet wird. Diese Frage zielt nicht nur auf den Existenzmodus des literarischen Werkes, sondern auch darauf, inwieweit die Erzählung als Träger des semantischen Geschehens betrachtet werden kann. (Der Begriff Geschehen ist dabei wesentlich, denn Vodi!ka begreift die Bedeutung niemals als etwas Abgeschlossenes, sondern immer als etwas, das von einer dynamischen Spannung zeugt.) Starke Auswirkungen auf das semantische Geschehen haben folglich die Figur des Erzählers, der Wechsel der sprechenden Subjekte und die Beschaffenheit der sprachlichen (monologischen oder dialogischen) Äußerungen der Figuren. Weitere Beobachtungen, die für die gegenwärtige Diskussion in der Erzähltheorie eine gewisse Relevanz haben, beziehen sich auf die Struk-

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tur der thematischen Pläne. Vodi!ka nennt im Zusammenhang mit dieser Struktur drei mögliche Ausdrucksmittel. Für die Handlung ist das eigentliche Mittel das Erzählen, für die Figur die Charakteristik und für die äußere Welt die Beschreibung. Diese sind jedoch nicht immer strikt von einander getrennt, so dass die äußere Welt z. B. über die Erzählung und die Handlung über die Beschreibung dargestellt werden können. Vodi!ka untersucht die wechselseitige Durchdringung von Beschreibung und Handlung18, die durch die Aktivität des Erzählers ermöglicht wird, und konstatiert, dass bei der Entfaltung des Erzählens die so genannte epische Breite nicht nur auf der Ebene eines Planes entsteht (z. B. auf der Ebene der Handlung, wie dies gewöhnlich bei Abenteuerliteratur der Fall ist). Sie wird keineswegs nur durch Handlungsepisoden erzeugt, sondern auch durch formale Mittel wie Dehnung der Handlung durch Beschreibung, repetitives Erzählen oder multiperspektivisches Erzählen. Vodi!ka spricht in diesem Zusammenhang von Verlängerung, Wiederholung und Erzählerwechsel. Obige Begriffe sind einem späteren terminologischen Lexikon der Erzähltheorie entnommen, um zu zeigen, dass es möglich ist, Vodi!kas terminologisches System in aktualisierter Formulierung weiterzudenken. Vodi!ka befasst sich indessen mit Jungmanns Atala-Übersetzung und bedient sich dabei Begrifflichkeiten, die er für eine Strukturanalyse braucht. Es ist aber offensichtlich, dass in seinem Begriffssystem auch die gegenpoligen Begriffe wie Raffung, lineares und monoperspektivisches Erzählen impliziert sind. Letztere Verfahren werden von Vodi!ka als merkmallos erachtet, wohingegen jegliche Abweichung von ihnen als eine semantische Aufladung des Erzählens bewertet wird.19 Das Verwobensein von Deskription und Handlung bringt Vodi!ka zu der Annahme, dass deskriptive Motive Attribute der Handlungsdynamik sein können, was wiederum die Grenze zwischen Deskription und Handlung nivelliert. Vodi!kas Beschreibung des Handlungspotentials von Deskriptionen lässt sich auch vor dem Hintergrund gegenwärtiger Diskussionen darstellen, die diese beiden Grundbausteine des Erzählens und ihren Beitrag zur Entstehung und zum Verlauf der Handlung betreffen. So etwa Seymour Chatman (1990) oder Philippe Hamon (1993), die das Verhältnis von Deskription und Aktion untersuchen. Die Deskription wird dabei als statisches Element des Erzählens _________ 18 19

Die Methode des Durchdringens gehört, ebenso wie das Erzählen, in dem sich Ereignisse wiederholen, der Erzähler wechselt oder sich der Erzählerstandpunkt vervielfacht, zur Methode der Komposition. In Vodi!kas Verständnis der historischen Entwicklung des Erzählens kann es jedoch zu einer Umbewertung dieser Definition kommen, und die semantisch neutralen Elemente können zu Bedeutungsträgern werden.

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bezeichnet, im Unterschied zur Begebenheit und dem Konflikt der Begebenheiten, die die Dynamisierung des Erzählens darstellen. Vodi!ka zeigt indes, dass auch die Deskription ein Moment der Dynamisierung sein kann, und zwar auf der Ebene des semantischen Konflikts. Der semantische Konflikt ist somit als Konflikt zweier unterschiedlicher semantischer Potentialitäten auch bei Deskriptionen ein Mittel zur Dynamisierung des Erzählens. Ein Mittel des Durchdringens der einzelnen Kontexte ist z. B. der Dialog, der die Kontexte der Figuren in den Vordergrund rückt und zugleich die Spannung der Handlung erhöht. Im Zusammenhang mit der Distribution von Dialog und Monolog konstatiert Vodi!ka eine Subjektivierung des Erzählens, die mit dem Wechsel der Erzählerperspektive (durch das Einfügen eines Monologs, eines Figurendialogs, oder eines – in Stanzels Begrifflichkeit – Reflektors) verbunden ist, und beschreibt die Folgen dieser narrativen Verfahren für die semantische Struktur eines Werks. 3.1.3.1. Der Erzähler Den Erzähler begreift Vodi!ka als Teil des thematischen Plans eines literarischen Werks, und zwar im Rahmen des Figurenplans und in der vermittelnden Funktion zwischen dem Figurenplan und dem, was er äußere Welt (also eine vom Erzählen evozierte Welt) nennt. Außerdem betrachtet er den Erzähler in seiner vermittelnden Funktion zwischen Geschichte und Rezipient. Wesentlich seltener bezeichnet er den Erzähler als Distribuenten von Bedeutungseinheiten, als der er in der traditionellen Literaturtheorie begriffen wird, die ihn dann in dieser Aktivität mit der gesamten semantischen Intention des Werkes gleichsetzt. Für Vodi!ka ist der Erzähler nur eine von mehreren semantischen Einheiten. Indem Vodi!ka die Werkintention aus dem Bereich des Erzählers bannt, gelingt ihm die semantische Öffnung des literarischen Werks. Ein Teil der semantischen Aktivität ist jedoch von Vodi!ka unberücksichtigt geblieben. Vodi!ka erstellt keinen Katalog der Erzählformen und untersucht somit nicht die dynamische Spannung, die sich aus deren Beziehung zueinander ergibt. Dieses Manko erklärt sich dadurch, dass Vodi!ka das Wesen des Erzählers am Material der „klassischen“ Erzählung untersucht, also an einem Material, dessen innerer Zusammenhalt auf der Geschichte beruht. In der Erforschung der im weitesten Sinne als Erzähler aufgefassten narrativen Strategie hat das Verschwinden des Erzählers aus der literarischen Produktion einen Wendepunkt markiert, jenen Moment, in dem sich „das Werk sozusagen selbst erzählt“ oder aber – im Gegenteil – der

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Erzähler seine Aktivität konsequent thematisiert.20 In diesem Sinne lässt sich sagen, dass Vodi!ka an die Grenzen gestoßen ist, die ihm durch die Erzähltext-Analyse mit den klassischen narrativen Masken gesetzt worden sind. Vodi!ka untersucht auch die Beziehung des Erzählers zur Zeit, vor allem im Hinblick darauf, dass diese die äußere Welt und die Handlung der Geschichte zu evozieren vermag. Er gelangt zur selben Erkenntnis wie vor ihm bereits Käte Friedemann21, dass nämlich der Erzähler im Werk beständig präsent ist. Beide erkennen die Bedeutung des Erzählers für den Aufbau einer zweifachen Zeitperspektive. Diese erweitert Vodi!ka dann um die semantische Strukturdimension (dynamische Spannung), die zur selben Zeit auch von Günther Müller (1947) erkannt wird. Vodi!ka konstatiert die Relevanz des Erzählers vor dem zeitlichen Horizont und schreibt: Das Geschehen in einem epischen Werk spielt sich in einer Zeit ab, die ihre innere Selbständigkeit besitzt, die wiederum ganz deutlich von der durch den Leser aktuell erlebten Zeit verschieden ist. (Vodi!ka 1948, 182)

Die Zeit (als Gegenstand) begreift Vodi!ka als Kategorie, die mit der Aktivität des Erzählers verbunden ist; dieser evoziert vergangene Ereignisse, vermittelt sie aber zugleich mit dem zeitlichen Horizont des Rezipienten. Die Aktivität des Erzählers ermöglicht es, den Abgrund zwischen der Vergangenheit der Geschichte und der Gegenwart ihres semantischen Geschehens zu überbrücken. Vodi!ka betrachtet im Weiteren die Konsequenz der Aktualisierung (der Sichtbarmachung) oder – im Gegenteil – des Verschwindens des Erzählers (der Schwächung des Signals seiner Präsenz im Erzählten) im Zusammenhang mit der Fähigkeit dieser Strategie, die epische Illusionswelt als wirkliche Welt erscheinen zu lassen. Zu diesem Zweck nutzt der Erzähler die narrativen Mittel der direkten Rede und der Beschreibung. Beschreibung und direkte Rede sind nach Vodi!ka Mittel, den bloßen Handlungscharakter (als kausale und temporale, sich aus ihrer eigenen Logik ergebende Aneinanderreihung von Ereignissen) in den Hintergrund zu rücken und die Verantwortung für den Zusammenhalt der Motive auf den Erzähler zu übertragen. Im Strukturmodell des Bedeutungsaufbaus eines literarischen Werks nimmt der Erzähler somit einen zentralen Platz ein. Zu den Mitteln der erzählerischen Strategie gehören des weiteren sprachliche Mittel, durch die der Erzähler mit dem Rezi_________ 20

21

Eine initiierende Funktion hatten hierbei Friedrich Spielhagens Gedanken (1883) zur normativen Gestalt des Erzählers, wie Käte Friedemann (1910) dokumentiert. Friedemann verweist auf die grundlegende semantische Funktion des Erzählers vor allem in Bezug auf die Zeit und die Figuren(-Charakterisierung). Ungewiss ist, ob Vodi!ka die Arbeiten Friedemanns gekannt hat.

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pienten und den Figuren der Geschichte in „Kontakt“ tritt (d. h. Autothematisierung des Erzählers durch Apostrophierung der Figuren oder des Lesers), Charakterisierung der Figuren unmittelbar vor der direkten Rede mit bewertenden Attributen (der ernste Ratibor, der ungeduldige Ratibor, der freundliche Václav) oder eine semantische Bestimmung der Redeweise der Figuren (mit feinen Worten, mit einer schönen Stimme, mit gewaltigen Worten), die somit auf sein Geheiß und unter seiner Kuratel das Wort ergreifen. Der Erzähler nimmt eine bewertende Position gegenüber der Figur bzw. der evozierten Welt ein und legt dadurch die Bedingungen der Rezeption fest. Vodi!ka kennt durchaus den tschechischen Begriff für Erzähler (vyprav"!), verwendet in seinen Ausführungen aber fast ausschließlich den Terminus vypravovatel (Erzählender), wahrscheinlich um damit auf die fehlende Abgeschlossenheit und den Prozesscharakter des von ihm geschaffenen semantischen Geschehens zu verweisen. Vodi!ka behauptet nun, das Erzählen spreche nicht die visuelle, sondern die auditive Wahrnehmung des Rezipienten an, woraus er Entscheidendes für den semantischen Aufbau der über den Satz hinausreichenden Bedeutungseinheiten ableitet. Diese sind durch eine einheitliche Intonation gegeben. Da die Intonation auf dem Prinzip des Erwartungsrahmens beruht, wird hinter dieser Strategie abermals die Aktivität des Erzählers (als „Stimme“) sichtbar. Hieraus ergibt sich die zentrale Stellung des Erzählers innerhalb des Erzählvorgangs. Vom Standpunkt des Bedeutungsaufbaus handelt es sich um eine Kategorie des thematischen Plans, eine Kategorie also, die der Handlung, den Figuren und der äußeren Welt übergeordnet ist, da sie mit ihnen verwoben ist und ihren Zusammenhalt garantiert. Vodi!kas historische Herangehensweise bringt uns zu der Erkenntnis, dass auch die jeweilige Erzählkonvention Folgen für die Gestalt des Erzählers hat: Sowohl die Verletzung als auch die Wahrung der Konvention sind Bedeutungsträger. 3.1.3.2. Die direkte Rede Im Zusammenhang mit der Aktivität des Erzählers steht für Vodi!ka die Bedeutung, die der direkten Rede in der Erzählung zukommt. Als direkte Rede bezeichnet er den Monolog oder den Dialog. Durch sie ändert sich das Subjekt der Erzählung. Der Erzähler tritt vorübergehend in den Hintergrund (bleibt aber anwesend!), die Äußerung konzentriert sich auf den Bereich der Figur. Infolgedessen beobachtet Vodi!ka, dass sich die Zeitbestimmung der Äußerung ändert. Das epische Präteritum (Vodi!kas Terminus lautet „allgemeine Vergangenheit des Erzählens“)

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wird vorübergehend zum aktuellen Präsens. Doch selbst dann schwindet (ähnlich wie beim Erzähler) das epische Präteritum, d. h. die Vorstellung der Vergangenheit nicht gänzlich aus der Erzählung. Auf diese Weise wird eine bestimmte Szene, eine Handlungssequenz der Erzählung evoziert. Der Rezipient beteiligt sich unmittelbar am Geschehen, wird eventuell sogar in die psychische Situation der Figur involviert. Dadurch ist er in der Lage, die Beziehung zwischen der Figur und ihrer sprachlichen Äußerung zu begreifen. Die Figur wird durch ihre Rede plastischer, und die sprachliche Äußerung trägt so zu ihrer Charakteristik bei, wodurch die Wahrnehmung der Figur mit der des Erzählers konfrontiert wird. Der Gebrauch der direkten Rede und des Dialogs verändert darüber hinaus das Tempo der Intonation. 3.1.3.3. Die Beschreibung Die Definition der Beschreibung ist für Vodi!ka deshalb von Bedeutung, weil die von ihm untersuchte Übersetzung der Atala sowie Lindas historische Novelle sich von der zeitgenössischen Literatur gerade durch ihre Tendenz zur Deskription unterscheiden und den Beginn der literarischen Romantik in der tschechischen Kultur anzeigen, für die eine dynamische und stark suggestive Deskription charakteristisch ist. Die Beschreibung hat für Vodi!ka zwei Funktionen: 1) die Hinführung des Lesers an die äußere Welt, 2) das Entfalten der dichterischen Wirkung des Textes in seinen typischen lautlichen und semantischen Qualitäten. Dies bedeutet, dass die Beschreibung aufgrund des thematischen und stilistischen Aufbaus des Werks Teil der Komposition wird. Wichtig ist Vodi!kas Hinweis auf eine gewisse „Instabilität“ der Beschreibung. Die Deskription muss nämlich nicht zwingend statischer Natur sein, sie kann auch Elemente der Handlung und der Zeitlichkeit in sich tragen.22 Neben der Tatsache, dass sie stark am motivischen Aufbau der Erzählung beteiligt ist, wird ihre Fähigkeit der Dynamisierung hervorgehoben. Dass bei Linda die Deskription (die hier in der Bedeutungshierarchie vor der eigentlichen Handlung steht) diese Eigenschaft hat, ist für Vodi!ka der Hauptgrund dafür, dass der narrative Charakter _________ 22

Ein konkreter Beleg ist für Vodi!ka die Deskription bei Linda, der „mit seiner Vorstellung von einer agierenden Landschaft seinen Beschreibungen einen epischen Charakter verlieh […], indem er einen Sinn für Licht- und Farbeffekte entwickelte und Ausdrucksmittel verwendete, die eine Veränderung implizierten, mochten sie nun zur lautlichen und semantischen Intensivierung beitragen (hell und heller, grün und grüner…) oder auf eine charakteristische Wortwahl hinweisen. Es handelt sich dabei sowohl um Epitheta der ‚Halbtöne‘ (errötet, verdunkelt, weißgrau…) als auch um Verben der Veränderung und der Prozesshaftigkeit (die Höhen erhoben sich, die Wälder grünten aus dem Schwarzen hervor, die Dunkel wichen)“ (Vodi!ka 1948, 230).

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der Erzählung gewahrt werden konnte. Mit diesen Beobachtungen kann Vodi!ka in die Diskussion um die Beziehung zwischen dem Erzählen (der Handlung) und der Beschreibung gewissermaßen „atemporal“ eingeordnet werden. Darüber hinaus konstatiert Vodi!ka am Beispiel von Lindas Novelle, dass bestimmte Motive von symbolisierender und zugleich kompositorischer Tragweite sind. Sie können Spannungsträger sowohl der Handlung als auch der Bedeutung sein. Die Deskription ist also nicht etwas, was man im Text genau abgrenzen kann, sie ist vielmehr vor allem im Hinblick auf ihre Rolle als Mittel des Bedeutungsaufbaus zu verstehen. 3.1.3.4. Die äußere Welt Die äußere Welt begreift Vodi!ka als Umwelt, in der sich das Erzählen abspielt. Ihre Grundcharakteristik übernimmt er aus Petschs Definition der Umwelt der Figuren. Er verwendet nicht den Begriff prost!edí, ‚Umwelt‘, weil, wie er betont, die äußere Welt sich nicht auf materielle Gegenstände beschränkt, sondern auch soziale Beziehungen und psychologische Situationen sowie die historische, geistige und ideelle Atmosphäre einschließt. Im Rahmen seiner Konkretisierungstheorie untersucht er die semantische Gestalt dieser äußeren Welt als Voraussetzung für die Rezeption und konstatiert, dass an der Gestalt der äußeren Welt nicht nur der eigentliche literarische Text beteiligt ist, sondern auch zeitgenössischen Konventionen teilhaben, an die die Thematik des Werkes anknüpft. Das Mittel für die Darstellung der äußeren Welt ist vor allem die Deskription. Verschiedene Typen der Benennung begegnen hier: die begriffliche Benennung, die beschreibende Benennung und die beschreibende Handlungsbenennung. Innerhalb dieser lassen sich wiederum Zeit- und Ortsangaben und Personenbenennungen (nicht durch Eigennamen, sondern metaphorisch durch Periphrase, z. B. „Tochter der Palmenlandschaft“) unterscheiden. Auch die äußere Welt ist Vodi!kas Auffassung nach eine dynamische Struktur. Das, was in einer bestimmten Phase der Erzählung als sekundäres Element der äußeren Welt erscheinen mag, kann zu einem anderen Zeitpunkt in den Vordergrund treten, was sich wiederum auf seine ursprüngliche Stellung im Kontext der äußeren Welt auswirkt. Eine dynamische Spannung herrscht auch unter den einzelnen Kontexten. Eine Figur, die wir nur als Teil der äußeren Welt wahrnehmen, kann zur zentralen Gestalt werden, also zu einer selbständigen thematischen Einheit in einer anderen Phase der Erzählung, mit anderen Worten, sie geht aus einem thematischen Plan in einen anderen über – aus dem Plan der äußeren Welt in den Plan der Figuren (als Handlungsträger).

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Aus Vodi!kas Charakterisierung der äußeren Welt folgt ihre semantische Subordination unter die Figuren und die Handlung, was nun aber mit der Vorstellung von einer dynamischen Beziehung zwischen den einzelnen Plänen, durch die es zu semantischen Umgruppierungen kommen kann, nicht kompatibel wäre. Um den Eindruck dieser Subordination zu vermeiden, fügt er hinzu, dass in einem Werk (im Prozess der Rezeption) ein selbständiger Kontext der äußeren Welt existiert, und zwar als ständige Raumperspektive, die allgemeiner Art ist und sich durch das ganze Werk zieht. An ihrer Konstruktion ist auch eine kollektive Konvention, also eine Art Lesererwartung und Leservorstellung beteiligt. Eine solche Vorstellung rückt bereits in die Nähe von Lubomír Dole"els fiktiven Welten. Nach Vodi!ka kommen in der Wirklichkeitsabbildung durch das literarische Werk die Normen der Zeit zum Ausdruck. Die Wirklichkeit ist Bestandteil des narrativen Raums. Zugleich belegt Vodi!ka, dass vom Gesichtspunkt der Evolution aus eine der Bedingungen für den Wandel der Literatur die Veränderung dieser Wirklichkeit gewesen ist. Statt der „idealen Wirklichkeit“ der präromantischen Literatur musste eine „aktuelle Wirklichkeit“ entdeckt werden, die Vodi!ka als „nationale und soziale Situation der Gesellschaft“ und als „das Individuum oder allgemein den Menschen mit seinem ewigen Schicksal“ begreift (Vodi!ka 1948, 346). Vodi!ka weist hier darauf hin, dass auch die in einem literarischen Werk realisierte Welt sich nicht im Vakuum abspielt, sondern zum Teil von den gegenwärtigen Bedingungen determiniert ist – jenen Bedingungen, die auch auf die Bedeutungsstruktur und die Gestalt der Pläne der thematischen Ebene einen erheblichen Einfluss haben. In Vodi!kas Vorstellung lassen sich die einzelnen thematischen Pläne nicht genau abgrenzen. Sie durchdringen sich wechselseitig und übernehmen voneinander Motive für ihren semantischen Aufbau. Die Beobachtung, dass das Verhältnis der einzelnen Pläne zueinander und ihre Zuordnung zu den Ausdrucksmitteln sich ständig verändern, eröffnet dem Literarhistoriker neue Perspektiven zur Untersuchung der historischen Entwicklung der Literatur. Aus literarhistorischer Sicht bestimmen die Konventionen und Normen der Zeit das Verhältnis der thematischen Pläne untereinander. Ihre Umgruppierung ist Ausdruck einer Veränderung, im Sinne einer Entwicklung. Die Beschäftigung mit dem thematischen Plan führt Vodi!ka zu den Begriffen, mit denen er die Beziehung des literarischen Werkes zur außerliterarischen Wirklichkeit beschreibt. Das Thema selbst verbindet das Werk am stärksten mit der Wirklichkeit der außerliterarischen Welt. In dieser Schicht spiegeln sich am deutlichsten die Lebensinteressen und zeitgenössischen Probleme

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einer bestimmten Gemeinschaft, ebenso wie sich in ihr die immanente Entwicklung der Literatur zeigt.23 Zur thematischen Ebene gehören bei Vodi!ka auch der Titel und seine Beziehung zur Bedeutungsstruktur eines literarischen Werks. Das bisher Dargelegte lässt Lücken in Vodi!kas System sichtbar werden. Während dem Plan der äußeren Welt, der Beschreibung und dem Erzähler relativ viel Beachtung zuteil wird, rücken der Figurenplan und der Handlungsplan ganz in den Hintergrund. Dies lässt Vodi!kas Vorstellung von der Geschichte und der Erzählung als Komponenten der narrativen Struktur etwas unklar erscheinen. Festzuhalten ist, dass Vodi!ka mit Handlung (als einem thematischen Plan des Werks) die Geschichte bezeichnet, also eine temporal und kausal verknüpfte Folge von Ereignissen. 3.2. Die Komposition des literarischen Werks Der bisher dargestellte Teil von Vodi!kas Begriffsystem bezieht sich auf Elemente der Struktur eines literarischen Werkes, deren Korrelationen sich vor allem innerhalb ihrer eigenen Ebenen untersuchen lassen. Nun wollen wir uns Vodi!kas Analyse der hierarchisch übergeordneten Prinzipien der Bedeutungsbildung, also Fragen der Komposition zuwenden. Den Begriff der Komposition leiht Vodi!ka sich wiederum vom russischen Formalismus, wo er mit der Untersuchung des Sujetbaus und mit der Kategorie der Verfremdung zusammenhängt. Bei Toma"evskij spielt bei der Verknüpfung der einzelnen Komponenten der Komposition das Thema die Hauptrolle, wohingegen z. B. bei Sergej Bern"tejn (1927) der „allgemeine Betrachtungspunkt“ diese Rolle übernimmt. Vodi!ka favorisiert, genau genommen, keine der beiden Möglichkeiten: Die Komposition wird in seiner Vorstellung von einer semantischen Dominante bestimmt. Ebenso lehnt er es ab, die Komposition schlechtweg der Intention des Autors zuzuschreiben. Der Autor hat nach Vodi!ka einen bedeutenden Anteil an der Realisierung der Komposition, doch zum semantischen Geschehen, für das die Komposition des literarischen Werkes und die interaktiven Beziehungen zwischen den einzelnen Elementen grundlegend sind, tragen auch „unbeabsichtigte“ Bedeutungen bei. Diese ergeben sich aus dem Zeichencharakter des Werks (als Einheit) und aus seinen einzelnen Elementen, aus der aktiven Beteiligung des Rezipienten und der zentralen Rolle des Kontextes. _________ 23

Vodi!ka unterscheidet zwei Varianten dieses Einflusses der Gesellschaft auf die thematische Schicht eines Werkes: eine progressive – die Gesellschaft gibt den Impuls für einen Themawechsel; und eine regressive – der häufigere Fall der Stabilisierung des thematischen Registers eines literarischen Werkes.

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In der zuvor erwähnten Unterscheidung der drei thematischen Grundpläne des Werks hat Vodi!ka den Handlungsplan, den Figurenplan und den Plan der äußeren Welt unterschieden, und erst ihre wechselseitige Organisation bezeichnet er als Kompositionsaufbau des Erzählens. Das semantische Geschehen ist das Ergebnis von Korrelationen zwischen den Elementen der Komposition – dies macht er sich vor dem Hintergrund der formalistischen Unterscheidung von Fabel und Sujet bewusst. Die Komposition ist also die Technik des Aufbaus der Erzählung und ihr Ergebnis das eigentliche Erzählen. In diesem Zusammenhang spricht Vodi!ka von Konflikten als höheren Organisationseinheiten, die im Konflikt der Ereignisse entstehen. Vor dem Hintergrund des untersuchten Materials unterscheidet er den Konflikt mit Geheimnis – das im Verlauf der Handlung gelüftet wird, den abenteuerhaften Konflikt – der Held eilt einem Hindernis nach dem anderen entgegen, den erotischen Konflikt und den Konflikt als Gegensatz von absolutem Gut und Böse.24 Zu einem wichtigen Mittel des Konfliktaufbaus werden die Motive. Vodi!kas Charakterisierung und Gliederung der Motive geht wiederum von Toma"evskijs Beobachtungen aus. Vodi!ka unterscheidet statische und dynamische Motive. Die dynamischen Motive sind ein wichtiges Kompositionselement zum einen für die Bedeutung, die sie in ihrem unmittelbaren Kontext annehmen, zum anderen, weil sie zu Trägern der semantischen und kompositorischen Konstruktion des Gesamtwerkes werden. Vodi!ka konstatiert, dass die Motive alle thematischen Pläne durchlaufen (d. h. den Handlungs-, den Figurenplan und den Plan der äußeren Welt) und durch verschiedene Verfahren (Narration, Deskription, Reflexion, Erzähler und Figuren, Monolog und Dialog) realisiert werden. In diesem Zusammenhang ist es notwendig, beständig den aktuellen und potentiellen, d. h. den nahen und den fernen Kontext zu berücksichtigen, in den die Motive eintreten und durch den sie eine semantische und funktionelle Veränderung erfahren. Vodi!ka weist darauf hin, dass neben der Anhäufung von Motiven auch ihre Reduktion eine wichtige semantische Rolle spielt. Die semantische Spannung der Motive wird besonders dort deutlich, wo sie zueinander in Beziehung treten, entweder in Form einer Identität (Bestätigung einer motivischen bzw. thematischen Reihe durch die andere) oder in Form eines Kontrastes (z.B. in einer Novelle Lindas das Motiv des Leuchtens und der Finsternis, des Christentums und des Heidentums). Die Motive können Be_________ 24

Auch hier ist offensichtlich, dass es Vodi!ka nicht um Vollständigkeit geht. Das Register der von ihm benannten Konflikte soll der Beschreibung gegenwärtiger literarischer Konventionen dienen, die Lindas Novelle durch Abweichung vom schematischen Charakter der oben genannten Motive verletzt.

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standteil eines einzigen Kontexts (des Kontexts einer bestimmten Figur) sein, sie können in mehrere Kontexte eintreten, und sie können die gesamte Handlungskonstruktion des Werkes dominieren, immer aber tragen sie ihren ursprünglichen Kontext mit sich mit. Weitere Begriffe im Zusammenhang mit dem kompositorischen Aufbau sind die Episode, die Nebenhandlung und die Szene. Diese Momente lassen sich, entsprechend ihrer Beteiligung am Bedeutungsaufbau, hierarchisch einander zuordnen. Während die Episode und die Nebenhandlung lediglich der Wiedergabe des äußeren Umfelds oder der Verstärkung der Handlungsmotivation der Figuren dienen, ist die Szene eine Figurenanordnung die über die gegebene Handlungszone hinauswächst und übergeordnete Bedeutung erlangt. Vodi!ka beschäftigt sich mit der Sukzessivität des Erzählens und aktualisiert die bedeutungsschaffende Funktion der Reihenfolge im Erzählen. Ähnlich wie im Fall der Motive unterscheidet er die statische Komposition (zwei gleich gerichtete Motive treffen aufeinander, ohne einander zu beeinflussen) und die dynamische Komposition (das Aufeinandertreffen zweier gegensätzlicher Motive mündet in einer Bedeutungsumgruppierung, wobei ein Motiv „das andere besiegt“) (Vodi!ka 1948, 244). Vodi!ka kommt zu der These, dass „die semantische Ganzheitlichkeit nicht durch den fließenden Zusammenhalt der einzelnen Glieder der Geschichte gegeben ist, sondern durch die Art und Weise, wie die bedeutenden Motive der Handlungssituation gestaltet und gereiht sind“ (Vodi!ka 1948, 252). Er zeigt, dass man bei einer funktionellen Komposition ganz auf den traditionellen temporalen und kausalen Grundplan einer Geschichte verzichten kann und dass es möglich ist, durch die Organisation der markanten Motive oder Situationen, durch ihre Wiederholung, durch Rahmenbildung die semantische Wirksamkeit des Ganzen zu stärken und seinen semantischen Grundplan zu betonen. Einige Kompositionsverfahren, die die Erzählung semantisch beeinflussen, macht Vodi!ka jedoch bereits auf der Ebene der Satzorganisation und der Organisation über den Satz hinausgehender Einheiten aus (hier spielen Intonationseinheiten und die Erschütterung klassizistischer Regeln des Periodenaufbaus eine Rolle). 4. Vodi!kas Methode der Analyse des semantischen Geschehens in der Praxis Wir wollen Vodi!kas Theorie von der Dominante und ihrer Stellung in der Struktur der literarischen Erzählung am Beispiel seiner Analyse von Jungmanns Atala-Übersetzung veranschaulichen. Vodi!kas Systemden-

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ken soll damit in den Kontext zurückgeführt werden, von dem es ausgeht. Auf der niedrigsten Ebene erkennt Vodi!ka die Bedeutung des dichterischen Vergleichs und des Epithetons für Jungmanns Atala und veranschaulicht das Außergewöhnliche dieses sprachlichen Mittels vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Literaturproduktion der „nationalen Wiedergeburt“. Er untersucht das Jungmannsche Epitheton als Dominante auf der Ebene der sprachlichen Mittel und überführt es in eine höhere Strukturebene, um seine Bedeutung für die Satzstruktur in Jungmanns Übersetzung zu erforschen. Dabei geht es vor allem um die Beziehung zwischen der Position des Epithetons und des Verbs im Satz. Die zeitgenössische Sprachkonvention schrieb vor, das Verb am Ende des Satzes zu platzieren, Jungmann jedoch besetzte diesen Platz oft mit Epitheta, aber auch mit Nominalformen oder Adjektiven, und verletzte so die traditionelle Form des Satzrahmens. In einem nächsten Schritt untersucht Vodi!ka höhere Ebenen in Gestalt von Satzgrenzen, über den Satz hinausgehenden Einheiten sowie Intonationseinheiten und -perioden, die eine höhere semantische Einheit darstellen, und kommt zu dem Schluss, dass Jungmanns Stil und Satzbau ganz wesentlich von der zeitgenössischen Konvention abweicht, wodurch der Satz von den klassizistischen Normen befreit und der beginnenden Romantik sprachlich und stilistisch der Weg geebnet wird. Im Zusammenhang mit Fragen des Satzbaus kommt der Periode, als signifikantes stilistisches Mittel der Zeit, besondere Bedeutung zu. Sie ist vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Konvention die Dominante im semantischen Aufbau des Werks. Vodi!ka untersucht, wie gerade die Periode bei Jungmann zur Deskriptivität des Stils beiträgt. Neben der Beschreibung aktiviert er weitere zusammenhängende Kontexte des thematischen Plans. Er unterscheidet den Handlungskontext, den Figurenkontext und den Kontext der äußeren Welt. Als eine Art Vermittler zwischen ihnen bezeichnet er den Erzähler, der sich in allen Kontexten bewegen kann. Seine Aktivität besteht darin, zu aktualisieren, umzugruppieren und bedeutungsmäßig hervorzuheben. Diese Kontexte identifiziert Vodi!ka als Bestandteile des thematischen Plans. Nicht nur führt er eine thematische Analyse der Atala durch, sondern setzt sie auch in den Kontext der zeitgenössischen Thematik. Er spricht über die Stellung, die der übersetzten Atala in der Literatur der nationalen Wiedergeburt zukommt, bezeichnet sie als Werk, das in markanter Weise die Aufgabe der Wiedergeburt umformuliert hat. Diese besteht nicht allein darin, die Grundlagen für eine tschechische Literaturproduktion zu schaffen, sondern auch das Fundament für eine neue, gehobene Literatur zu legen und einen Katalog von Verfahren des semantischen Aufbaus zu erstellen.

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Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Vodi!ka es für notwendig erachtet, bei der Strukturanalyse die Dominante zu erkennen und sie innerhalb der nächsten semantischen Ebene, die sie hervorgebracht hat, zu erfassen, um sich sodann der hierarchisch übergeordneten Ebene zuzuwenden, deren struktureller Bestandteil die Dominante ist; hier muss wiederum die Dominante identifiziert werden usw. Die Aktivität des Rezipienten geht jedoch nicht gleichmäßig und hierarchisch von der niedrigsten Ebene des Werkes bis zur höchsten vor, sondern kann auf jeder der Ebenen beginnen. Ein solches Vorgehen ermöglicht es, die identifizierte Dominante im Kontext anderer Dominanten wahrzunehmen und die hierarchisch übergeordnete Dominante zu erfassen. Die Dominante existiert aber nur in der Spannung zu den übrigen Elementen des literarischen Werks, und die historische Entwicklung (die bereits durch das wiederholte Lesen gegeben sein kann) vermag das Verhältnis der Elemente zueinander so zu verändern, dass aus der Sicht des Rezipienten ein anderes Element dominant werden kann. Hier sieht der Literaturhistoriker Vodi!ka deutlich, dass die Identität des literarischen Werks gefährdet ist; so kommt er zu der Behauptung, dass es zum Erfassen des semantischen Aufbaus notwendig ist, den Kontext zu aktivieren, in dem das Werk entstanden ist, einen Kontext, auf den es sich durch seine Existenz als Text beruft. Wichtig ist, dass in diesem Sinne das Werk für Vodi!ka primär ist, wohingegen der Kontext vor seinem Hintergrund aktualisiert werden muss. 4.1. Die Definition zweier Grundbegriffe Im Folgenden geht es um zwei zentrale Begriffe, deren Grundbedeutung Vodi!ka vom Prager Strukturalismus übernimmt. Durch die Analyse konkreter literarischer Texte verleiht er indes den Begriffen inhaltliche Konturen. Text: Die Struktureinheit einzelner Elemente und Schichten, die sich in einer dynamischen Spannung befinden. Aus dieser Spannung folgt die Bildung einer einenden Strukturdominante. Der Text ist eine durch sprachliche Zeichen fixierte Einheit. Werk: Ein semantisch übergeordneter Begriff. Teil des Werks ist nicht nur der Text, sondern ein ganzer Strukturkomplex von Beziehungen, die an seiner Entstehung und Rezeption beteiligt sind. In diese Zusammenhänge tritt der literarische Text ein und gestaltet sie mit (der Text als intentional verstandene Rede und als Resultat eines Zusammenspiels immanenter Kräfte, die sich an seiner Entstehung beteiligen). Der Text wird in diesem Zusammenhang zu dem, was die Identität des literarischen Werkes herstellt.

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Ein wichtiger Beitrag Vodi!kas zur strukturalen Methode der literarischen Analyse besteht (neben seiner Theorie der Konkretisierung und seiner Untersuchung der literarischen Entwicklung) in der Erarbeitung einer systematischen Terminologie. Die Terminologie ist bei Vodi!ka immer durch die Empirie seiner Methode abgesichert, deshalb treten die Begriffe bei ihm niemals zufällig oder als Teil einer abstrakten Metasprache auf, sondern werden stets durch das primäre Material der literarischen Texte konkretisiert und präzisiert. Unter dem Aspekt der literarischen Evolution betrachtet, war Vodi!kas Rolle für die Entwicklung der Prosasprache in der tschechischen Literatur mit der Rolle der von ihm untersuchten Jungmann-Übersetzung vergleichbar. Wenn Jungmanns Übersetzung in sprachlicher Hinsicht den Beginn der Romantik möglich machte, so waren Vodi!kas Anfänge ähnlich bedeutend für eine fundierte, systematische und umfassende Analyse des literarischen Werkes aus strukturalistischer Perspektive. Wenn Vodi!ka die einzelnen Begriffe erläutert und inhaltlich füllt, wird er dabei von der Frage der Funktionalität geleitet (dies ist der pragmatische Aspekt seiner Theorie), also von der Frage, wie die gegebene Erscheinung als Träger des semantischen Aufbaus in der Struktureinheit eines literarischen Werks funktioniert. Aus diesem Grund ist es oftmals schwierig, für die von Vodi!ka gebrauchten Begriffe eindeutige Definitionen zu finden, denn diese sind das Resultat eines interaktiven Wirkens der beobachteten Erscheinung in einem literarischen Text und in einem verwandten, durch den Text aktualisierten Kontext. Der Inhalt der einzelnen Begriffe wird so fortschreitend durch die Bewegung in Vodi!kas analytischer Arbeit präzisiert und erweitert. Der dynamische Charakter seines Systems des semantischen Aufbaus entspricht der Vorstellung vom Bedeutungsgeschehen als einer ständigen Bewegung, bei der es zu einem permanenten Wandel der Bedeutungshierarchie, zu einem gegenseitigen Sich-Durchdringen der einzelnen thematischen Pläne, zu einem Zusammenspiel ihrer Dominanten, zu einer interaktiven Verflechtung der Motive kommt, so wie dieses Geschehen als semantische Potentialität des Textes im Prozess des Rezeptionsaktes realisiert wird. 5. Die Aktivität des Kontextes 5.1. Der innere Kontext Alle Erscheinungen in einem literarischen Text stehen in Beziehungen zueinander und bilden innere Zusammenhänge. Zwar ist es möglich, sich in der Textanalyse mit einem einzelnen Aspekt/Element zu befas-

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sen, doch muss dem unbedingt ein Hinweis auf die Zusammenhänge mit anderen Textelementen folgen. Erst so ist es möglich, die Wirkung dieses oder jenes Elements zu begreifen. Die semantische Gültigkeit ist erst durch den Kontext gegeben. Damit ist jedoch nicht nur der nächstgelegene Kontext gemeint, sondern der Kontext des gesamten Textes, in dem sich die gegebene Erscheinung befindet. 5.2. Der äußere Kontext Vodi!ka war als Literaturhistoriker um die Rekonstruktion der literarischen Entwicklung bemüht und hat in seinen Untersuchungen ein weites Kontextverständnis entwickelt. So verweist er auf die zeitgenössische Erzählkonvention, die den Darstellungsmodus insgesamt, aber auch den Wortschatz und die Intonation beeinflusst. Auch hier kann jegliche Erscheinung einer beliebigen Ebene zum Träger einer weit reichenden Bedeutung werden. Die Bedeutung ist erfassbar, indem der Kontext des Werks aktiviert wird. Gemeint ist bei Vodi!ka jedoch immer der Kontext, der durch die innere Aktivität des Textes aufgerufen wird. Vodi!ka legt so Kriterien fest, mit denen die Identität des literarischen Werks gewahrt werden soll, da Konkretisierungen, die auf eine Interpretation des Werks außerhalb des ihm inhärenten Kontexts abzielen, ausgeschlossen werden. Der Text ist die zentrale Autorität. Besonders in späteren Arbeiten (vor allem 1941; 1971) trifft Vodi!ka dann eine weitere terminologische Unterscheidung: der Kontext der literarischen Konkretisierungen, der nationale Kontext und der historische Kontext. In der Vorstellung des Prager Strukturalismus ist das literarische Werk das Resultat interaktiver Kräfte des Kontexts, in dem es entsteht, in den es zugleich eintritt und an dessen Beschaffenheit es mitwirkt. Das für das literarische Werk grundlegende semantische Geschehen zu begreifen, heißt zu begreifen, welcher Kontext diesem Werk eigen ist. 5.3. Der „Intertext“ Vodi!ka verwendet nicht den Begriff ‚Intertext‘, ist sich aber der semantischen Aktivität, die sich hinter dieser Bezeichnung verbirgt, ebenso wie ihrer Bedeutung für den semantischen Aufbau des literarischen Werks durchaus bewusst. Bei seiner Untersuchung literarischer Phänomene auf der Ebene der Motive und Themen im Kontext ihrer historischen Entwicklung kommt Vodi!ka zu Erkenntnissen, die vor dem Hintergrund einer im Entstehen begriffenen Theorie der Intertextualität (Bachtin und später Kristeva) betrachtet werden können. Er untersucht Motive und Themen, die nicht nur in Werken einzelner Autoren, son-

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dern auch in verschiedenen Perioden und Epochen intertextuelle Bezüge aufweisen. Diese „wandernden Einheiten“ können in einem neuen Kontext, in einem neuen Text ästhetisch wirksam werden. Vodi!ka behauptet, dass „die Motive oder Arbeitsverfahren, die bereits Eingang in die Literatur gefunden haben, weiterhin als potentieller Vorrat für neues literarisches Schaffen bereitliegen“ (Vodi!ka 1948, 233). Wird der intertextuelle Charakter einer Motivreihe erkannt, so wird damit zugleich ein wichtiges semantisches Attribut des untersuchten Textes offenkundig, was sowohl für den inneren als auch äußeren Kontext eines Werks von Bedeutung ist. In seiner theoretischen Arbeit ist Vodi!ka immer bemüht, das literarische Werk als Kunstwerk, als Manifestation des Individuellen und Einzigartigen ins Zentrum zu rücken. Muka"ovsk# ist der Auffassung, dass das, was das Kunstwerk einmalig und unverwechselbar macht, was ihm seinen eigentlichen künstlerischen Wert verleiht, im Zeichen des Subjekts geschieht – denn das Subjekt bringt die Bedeutung des literarischen Werks hervor. Diese Annahme bringt Muka"ovsk# zu der Frage, wo dieses Subjekt angelegt ist: Eine Frage, die im Lichte weiterer Forschungen des tschechischen Strukturalismus, z. B. der Arbeiten Miroslav $ervenkas (1992) und Milan Jankovi!s (1992), als letztes großes semantisches Abenteuer des tschechischen Strukturalismus bezeichnet werden kann – ein Abenteuer, das im Grunde noch nicht abgeschlossen ist. Denn es hat fast den Anschein, als habe der ganze tschechische Strukturalismus im Grunde nur auf die Formulierung dieser zentralen Frage hingearbeitet, der Frage nach dem Subjekt des literarischen Werkes. Oder, anders formuliert: der Frage nach der Identität des Kunstwerks. In diesem Zusammenhang soll noch auf ein weiteres methodologisches Moment der Prager Schule verwiesen werden. Die literaturwissenschaftliche Analyse, so sinnvoll sie auch sein mag, kann nur partiell dazu beitragen, die Einzigartigkeit eines Werks zu erfassen. Deshalb integriert der Prager Strukturalismus auch Fragen der Soziologie, der Philosophie und der Psychologie. In seiner Darstellung der Einflüsse, denen der Prager Strukturalismus, besonders auch Vodi!ka unterlag, bietet Jurij Striedter (1976) eine Übersicht über die zeitgenössischen literaturwissenschaftlichen, ästhetischen und philosophischen Konzepte. Die Neigung der Prager Schule zu einem Horizont des semantischen Geschehens in einem durch ein Kollektiv festgelegten Raum, in dem auch das Subjekt (Autor oder Rezipient) aufgeht, bezeichnet Striedter als Folge eines marxistischen Einflusses. Betrachtet man hingegen Vodi!kas eigene Konzeption des semantischen Aufbaus und berücksichtigt auch den Umstand, dass die

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Vertreter der ersten tschechischen strukturalistischen Generation sehr wohl an modernen Kunstrichtungen interessiert waren, so lässt sich eine andere, viel offensichtlichere Parallele erkennen. In diesem Beitrag ging es bislang darum, einen Einblick in die Konzepte der narrativen Analyse bei Jan Muka!ovsk" und Felix Vodi#ka zu geben. An einigen Stellen wurde ergänzt bzw. ‚zu Ende gesprochen‘, was bei Vodi#ka selbst nicht in dieser Form expliziert worden ist. Es sollte hier einzig und allein um das Modell der Erzähltextanalyse gehen, weitere Modelle Vodi#kas müssen unberücksichtigt bleiben, mag es sich um sein Modell der vertikalen Gliederung der Prosa einer bestimmten Epoche handeln oder um das Modell der historischen Struktur der literarischen Entwicklung. Vor ihrem Hintergrund kristallisiert sich jedoch noch deutlicher die Tatsache heraus, dass Vodi#ka die Erzählung nicht nur als literarisch, also als schriftlich fixierte Materialität begreift, sondern sie weiter definiert und auch die mündlich überlieferte Erzählung mit einbezieht. Dies markiert seine Vorstellung von der Erzählung als einer Form der Rede. Eine weitere Forschungsrichtung, die Vodi#ka eingeschlagen hat, zeichnet sich hier ab: die Frage nach dem Urheber, dem Subjekt oder der Individualität des Dichters und der Rezeption von Erzählungen. Eine Richtung, in die ihm die Rezeptionsästhetik dann gefolgt ist, wie eine Reihe von Arbeiten der internationalen Literaturtheorie zeigt, die von Felix Vodi#ka wichtige Impulse erhalten haben.25 6. Einige Kategorien des Prager Strukturalismus als Beitrag zu gegenwärtigen Diskussionen der literaturwissenschaftlichen Narratologie Die Kommunikationssituation: Nach Muka!ovsk" ist ein wesentlicher Bestandteil des Erzählens neben der zeitlichen und kausalen Motivation auch die Frage des Wertes, die im Verständnis des Prager Strukturalismus nicht nur mit dem Zweck verbunden ist, sondern auch von der anthropologischen Fundierung des Erzählens ausgeht. Das Erzählen wird von den Prager Strukturalisten als vermittelnde Instanz wahrgenommen, und als vermittelnde Instanz realisiert es auch die übrigen Beteiligten an der Kommunikationssituation im Rahmen der in das Werk projizierten und textlich erfassbaren Intention. Die Überzeugung der Prager Strukturalisten von der zentralen Position des Textes mündet in das Bestreben, die Mechanismen der Kommunikation (die Entstehung der Bedeutung, das Verstehen) und ihre Teilnehmer als Texteinheiten wahrzunehmen. In diesem Sinne stellt Muka!ovsk" in seiner Stu_________ 25

Vgl. hierzu detaillierter Striedter 1976.

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die Dialog und Monolog den vermittelnden Charakter des Werkes heraus. Er verweist auf den dialogischen Charakter des Erzählens hinsichtlich des zweiten Subjekts der Kommunikation und auf den Monolog, der gleichzeitig besteht. Diese beiden Charakterzüge des Erzählens stehen im Gegensatz zueinander und schaffen die innere Spannung eines jeden Erzählens, eine Spannung, die die Bedeutung generiert und die linguistischen Mittel zur Erfassung der Perspektivierung des Erzählens und die Wechselbeziehung zwischen dem „Ich“ und dem „Du“ des Erzählens bestimmt. Insofern der vermittelnde Charakter des Erzählens betont wird, zeigt sich deutlich, dass man im Verständnis des Prager Strukturalismus von Erzählen dort sprechen kann, wo das Erzählen eine Kommunikationssituation realisiert und also auch ihre Teilnehmer bezeichnet. Bestandteil eines solchen minimalen Erzählens ist auch zugleich der Wert, den wir als den realisierten und identifizierten Sinn wahrnehmen können, der die Konsequenz des semantischen Aufbaus dieser minimalen Einheit ist. Ein solcher Sinn ist schwerlich mit dem Zweck (und somit der kausalen Reihe) gleichzusetzen, sondern es ist eher angebracht, ihn vor einem Horizont zu betrachten, wie wir ihn bei Abbott (2002) und in seinem Begriff der Narrativisierung vorfinden. In diese Richtung gingen auch die weiteren Erwägungen von Vodi!ka, der als eine wesentliche Eigenschaft des Erzählens nicht nur die Finalität und Kausalität bezeichnet, sondern auch die Existenz einer Dominante, der sich die übrigen Elemente dieser minimalen Einheit unterordnen. Die Begründung des Erzählens in der Kommunikationssituation betont das Erzählen als die Intention erzeugende und von dieser erzeugte Strategie. Im Sinne seines Verständnisses der zentralen Stellung des literarischen Textes im Kommunikationsprozess sind sodann die Intentionen ebenso wie alle Subjekte der Kommunikation durch den Text realisierte Kategorien. Der Text bezeichnet sie also vermittels sprachlicher Zeichen. Die Intention hat jedoch (ebenso wie das Subjekt) für die Prager Strukturalisten Prozesscharakter und erscheint als die vom Leser des Werkes realisierte Konkretisierung, wobei allerdings keine der Konkretisierungen mit ihr deckungsgleich ist. Dabei ist es zur Identifizierung der durch den Text bezeichneten Intention notwendig, sowohl die Stellung der einzelnen Textelemente und ihrer Beziehungen untereinander, also den inneren Kontext in Betracht zu ziehen, als auch gleichzeitig den äußeren Kontext zu aktivieren, auf den der Text mit seinen Signalen verweist und den er zur Erfassung seiner Intention in Anspruch nimmt. Der Kontext ist jedoch ebenfalls eine dynamische Größe des Textes, und der Text enthält unzählige Kontexte, was eine dauernde semantische Spannung und ein dauerndes Sinngeschehen garantiert.

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In diesem Verständnis zeigt sich das Erzählen in minimaler Gestalt bereits als Ergebnis und Ursprung einer komplizierten Strategie, die es formuliert und die zugleich Konsequenz ist. Diese Strategie könnten wir als Konsequenz der dem Erzählen innewohnenden Intention bezeichnen. Die Deskription: Als ein wichtiger Beitrag der Prager Strukturalisten kann auch die Definition der Beschreibung in Bezug auf die Handlung angesehen werden. Ihre Definition der Beschreibung können wir vor dem Hintergrund der späteren Diskussion zwischen Philippe Hamon (1993) und Seymour Chatman (1990) betrachten. Während Hamon die Beschreibung als Mittel ansieht, das im Erzählen eine untergeordnete Stellung einnimmt, verweist Chatman auf das spezifische Wesen der Beschreibung, die sie zu einem koexistierenden Narrativ macht: Die Deskription hat ihre eigene Logik und es gibt keinen Grund sie herabzusetzen, weil sie nicht der Chronologik der Narration gleicht. Hamon charakterisierte diese Logik als metonymisch: beispielsweise setzt die Deskription eines Gartens notwendigerweise „vor allem die Aufzählung der verschiedenen Blumen, kleinen Wege, Parterres, Bäume, Gerätschaften usw., welche den Garten bilden, voraus“. Die metonymische Struktur kann die Imagination, aber auch die Beziehung der Objekte zu ihren eigenen Qualitäten einschließen, wobei Qualität im weitesten Sinne des Wortes verstanden wird. (Chatman 1990, 31)

Die Narratologie bezeichnet als ein distinktives Merkmal der Deskription oft das Statische; es findet sich auch die Behauptung, die Beschreibung stünde außerhalb des eigentlichen Erzählens, was aus dem Verständnis ihrer untergeordneten Stellung gegenüber der Handlung folgt. Der Prager Strukturalismus schlägt vor, im Falle der Beschreibung nicht etwa das Verhältnis zur Handlung zum Ausgangspunkt zu machen, sondern das Verhältnis zur Herausbildung der einenden Bedeutung. Aus einer solchen Perspektive wird die Beschreibung zu einer dynamischen Kategorie des Werkes. Sie beteiligt sich dann nicht nur am Motivaufbau des Erzählwerks, sondern besitzt auch die Fähigkeit, das Narrative zu dynamisieren. Nach den Prager Strukturalisten können wir die Beschreibung nicht als abgrenzbare Einheit im Text wahrnehmen, sondern in der Reichweite und im Rahmen der Beziehungen, die sie eingeht. In den Vorschlägen Vodi!kas zeigt sich die Sicht der Prager Strukturalismus, dass die Grenze zwischen Beschreibung und Handlung sehr beweglich ist und dass die beiden Formationen, wenn überhaupt, dann nur sehr schwer von einander zu trennen sind. Die semantische Potentialität eines Werkes als Sinngeschehen bewirkt nämlich, dass sich die Hierarchie der einzelnen Elemente zu jeder Zeit zugunsten einer anderen, potentiell anwesenden Bedeutung umgruppieren kann. Neben der

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Spannung der Handlung muss also in Bezug auf die Beschreibung auch die semantische Spannung bedacht werden. Wichtig ist auch ein Moment, durch das der Prager Strukturalismus die Kategorie der Beschreibung der intentionalen und konstruierenden Aktivität des Erzählers unterordnet. Es ist dann erforderlich, auch ihre Beziehung zur Installation der Kommunikationssituation und ihrer Teilnehmer in Betracht zu ziehen. Die Beschreibung bezeichnet so nicht nur eine fiktive Welt und setzt sie als eine Welt ein, in der sich die erzählte Geschichte realisiert, sondern sie ist auch in Beziehung zur Textstrategie bezeichnend, die sie verwendet, um die Bedeutung zu erzeugen. Das Subjekt: Mit seinem Verständnis des Subjekts als Textkategorie und gleichzeitig einende semantische Dominante des Erzählwerks kann der Prager Strukturalismus in eine den implizierten Autor betreffende Diskussion eintreten. Die Frage des Subjekts verknüpft der Prager Strukturalismus eng mit dem Begriff der semantischen Geste, an der in Muka!ovsk"s Verständnis sowohl der Autor als auch der Empfänger teilhat. Das Subjekt ist für die Prager Strukturalisten eine durch das Werk realisierte Entität (ein Punkt). Das Werk stellt zugleich die Grenze dar, die vom Subjekt dessen konkretes Produkt und den Produzenten trennt, oder eher die Grenze, an der sich die Intentionen von Leser und Text treffen. In Muka!ovsk"s Verständnis ist das Subjekt ein mentales Konstrukt, durch das die Intention des semantischen Aufbaus enthüllt wird. Dieser Punkt wird also gänzlich innerhalb des Werkes realisiert, seine Identifizierung ist jedoch abhängig von der Aktivität der Konkretisierung, also von der Aktivität und den Fähigkeiten, den Erfahrungen und dem Wissen des Rezipienten. Wenn bei Muka!ovsk" also das Subjekt als Punkt wahrgenommen wird, lässt es sich als prozessual abgeschlossenes Ergebnis des Verstehens, der Subjektivierung begreifen. Andererseits sieht Muka!ovsk" diesen Punkt jedoch als durch jegliche Konkretisierung unerreichbar an. In dem Falle ist es nötig, über den Prozesscharakter des semantischen Geschehens nachzudenken, wobei die Sinnerzeugung als Aufgabe ständig vor uns liegt. Das Subjekt ist also gleichzeitig einendes Prinzip des semantischen Aufbaus und seiner Realisierung in Gestalt des einzigartigen Sinnes, auch wenn er sich mit keinem einzigen Sinn deckt. Das abstrakte Werksubjekt wird von Muka!ovsk" in folgender Weise definiert: Es ist ein Punkt, in dem der gesamte künstlerische Aufbau eines Werkes zusammenläuft und im Hinblick auf den es angeordnet ist, in den jedoch eine jede

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Persönlichkeit, sowohl eine wahrnehmende, als auch die des Autoren projiziert werden kann. (Muka!ovsk" 1940/41, 14 f.)

Anfänglich deckte sich bei Muka!ovsk" das Subjekt teilweise mit dem Erzähler des literarischen Werkes, später allerdings verlagert sich seine Bestimmung ganz in einen Bereich, in dem die Strategie des gesamten semantischen Aufbaus geschaffen wird. In den Bereich einer Strategie, die auch den Erzähler als Instrument ihrer Intention verwendet. Das Subjekt können wir dann in einem Raum wahrnehmen, der jenem gleicht, in dem sich die Fokalisierung (Genette) bzw. der implizite, der implizierte oder der abstrakte Autor definieren. Zwei wichtige Problemkreise treten im Zusammenhang mit der vorangegangenen Bestimmung auf: die soziale Begründung des Werkes und die Verknüpfung seines semantischen Geschehens mit der Verankerung dieses Geschehens in der Zeit. Diese beiden Begriffe müssen wiederum im Zusammenhang mit dem Begriff Kontext bedacht werden, so wie ihn (Muka!ovsk" folgend) Vodi#ka definiert. Die inspirierenden Ideen des Prager Strukturalismus müssen vor allem im Zusammenhang mit der zentralen Stellung des literarischen Textes in der Kommunikationssituation gesehen werden. Diese Sicht führt weder zu einer Verabsolutierung des Textes, wovon der weitgefasste Kontextbegriff Zeugnis ablegt, noch zu einer Verabsolutierung des mereologischen Prinzips, sondern erfasst den Text als Bestandteil der pragmatischen Situation und erkennt die Unmöglichkeit einer Abtrennung der Semantik von der Betrachtung der Pragmatik der Erzählsituation. Die Vorschläge der Prager Schule wenden sich dabei sowohl gegen reduzierende mimetische Theorien als auch gegen abstrakte Metasprachen der Literaturtheorie, und sie verweisen auf die Notwendigkeit, die theoretische Forschung nicht fern von praktischen Fragen des Erzählens und seiner aktuellen Bestimmung anzusiedeln. Die Theorie soll dazu dienen, aktuelle Fragen zu lösen, mit denen sich zugleich auch das literarische Erzählen befasst und soll sich also nicht von der literarischen Praxis entfernen. Diese Verknüpfung von Theorie und narrativer Praxis ist eines der Schlüsselmomente im Vermächtnis der Prager Strukturalisten.

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OND!EJ SLÁDEK, B OHUMIL FO!T (The Academy of Sciences of the Czech Republic, Brno)

The Prague School and Lubomír Dole!el’s Theory of Fictional Worlds 1. Historical overview 1.1. The functional structuralist approach to language practised by V. Mathesius, R. Jakobson, N. S. Trubetzkoy, B. Havránek, B. Trnka, J. Vachek and many others, has become, together with poetics and aesthetics as pursued by Jan Muka"ovsk#, Felix Vodi$ka and their pupils, a valid part of the history of literary theory, linguistics and aesthetics in the Czech lands and in the world. The theoretical principles these representatives of what has come to be known as Prague School relied on were to be subjected to a whole series of transformations in the years to come.1 The linguistic aspects of the Prague School and its individual applications formed, nevertheless, only one of the activities of this scholarly constellation, the others being literary semiotics, poetics and aesthetics.2 When using the term Prague School we usually refer to both branches of Czech structuralist inquiry: linguistics as well as aesthetics. Thus, on _________ 1

2

The labels ‘Prague School’ and ‘Prague Linguistic Circle’ are used here basically as synonyms; it is however necessary to note that the term ‘Prague School’ has a somewhat broader reference, including even those researchers and their theoretical proposals that did not or could not contribute (for developmental and historic reasons) to the activities of the Prague Linguistic Circle (1926–1948; it resumed its activities in 1990) but accept and maintain the theoretical-methodological basis of the school. ‘Czech structuralism’ is a term with an even broader reference, including all theories, generations and advocates of the Prague School, even those that developed beyond the framework of the Prague Linguistic Circle or the Prague School in spite of being influenced by these schools significantly. The main principles of the Prague approach to linguistic phenomena were summed up in the so-called Theses, published on the occasion of the first congress of Slavonic philologists in Prague in 1929. The volume was prepared especially by V. Mathesius, R. Jakobson, J. Muka"ovsk# and B. Havránek. Comp.: Thèses présentées au Premier Congrès de philologues slaves, in: Travaux du Cercle linguistique de Prague, 1929, No. 1, 3–29. A French version was also reprinted in the anthology A Prague School Reader in Linguistics (Vachek ed. 1964, 33–58); in English: Vachek (ed. 1983, 77–120). For the history of the Prague School see Matejka (ed. 1976); Galan (1985); Bojtár (1985); Toman (ed. 1994; 1995); Chvatík (1992); Dole!el (1990, 147–175); Dole!el (1993b, 1993c, 1995a); Vachek (ed. 1964, 1983); Vachek (1966, 1999).

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Ond!ej Sládek, Bohumil Fo!t

the one hand we refer to two different fields of investigation, but, on the other, we refer to two methodologically similar (unified) approaches which result in a specifically formed literary theoretical inquiry: both disciplines share the same interest in one of the most important types of works of art, that of literary artworks. Whereas the former tends to focus on their material, the latter focuses rather on their milieu and development; however, both disciplines are primarily focused on the way in which literary artworks function.3 Thus, at the intersection of structuralist linguistics and aesthetics, the Prague School of literary theory is born. 1.2. The work of the circle was substantially influenced by the political events of 1938, 1948 and 1968, when many of its members, advocates and followers left for exile (such as R. Wellek, R. Jakobson, J. Veltrusk", L. Dole#el, M. Grygar, K. Chvatík and others). Those who stayed in the country were persecuted or made (especially in the 1950s) to speak against formalism and structuralism and disclaim these scholarly concepts in public. The 1960s were, on the other hand, a period of renewed interest in structuralism, when the second and third generation of the Prague School (L. Dole#el, M. $ervenka, K. Chvatík, M. Jankovi%, J. Lev" and others) became prominent. They responded to the political change and the new atmosphere in research and culture in significant ways. They strove to come to terms with French structuralism, philosophical hermeneutics, reception aesthetics and many other lines of thought influencing linguistics, aesthetics and literary theory at that time. It was this very critical “coming to terms” that was at the origin of all transformations of the theoretical principles and structuralist methodology of the Prague School during this period. The new research and development of the Prague School were interrupted by the events of 1968, which amounted to a disruption of closer contacts with occidental linguistics and literary theory for over 20 years. On the other hand, these two decades provided some (structuralist) Czech scholars living in exile with time for intensive reflection on the possibilities and limits of structuralist poetics, and for innovating and making the original structuralist approach known.4 _________ 3

4

The functional approach of the Prague School’s linguistics and aesthetics is based on the general structuralist idea that structures consist of parts with specific functions. In terms of Prague School’s literary theory, its main representative, Jan Muka!ovsk", essentially adopted Karl Bühler’s three-function concept of language/speech, supplementing it with a fourth element: aesthetic function; called poetic by Roman Jakobson. For further reference to the connection between function and Prague linguistics see Dane& (1987). See Matejka (ed. 1976); Dole#el (1979b) ; $ervenka (1990, 1992). For Czech structuralism in exile see Sládek (2004).

The Prague School and Lubomír Dole!el’s Theory of Fictional Worlds

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This continuous process of revision and innovation – in the context of change in connection with the growing mistrust of modernist paradigms during the 20th century as postmodernism and poststructuralism came on the scene – is the reason why Czech structuralism (or the approaches formulated as early as those of the Prague Linguistic Circle) have proved an ever up-to-date and stimulating methodology to be drawn on in research in poetics and aesthetics of literary artworks.5 One of the most stimulating mergings of the tradition of Czech structuralism with modern trends in linguistics, literary theory, logics and analytical philosophy has taken place in the narrative semantics of the linguist and literary theoretician Lubomír Dole!el.6 1.3. Dole!el’s original theoretical focus had already been in the middle of the 1970s, when he was influenced by his encounter with analytical philosophy (especially by Georg H. von Wright) and the theory of possible worlds, in particular the philosophical-logical approach of Saul Kripke. The theory soon proved of providing a suitable interpretative framework for issues related to fiction and also proved to be applicable beyond the framework of the discipline as such. As well as Lubomír Dole!el, Thomas Pavel (1986), Umberto Eco (1994), M.-L. Ryan (1991), R. Ronen (1994) and others applied this theory to literary thinking. A systematic study of these issues led Lubomír Dole!el to develop an integrated concept of narrative semantics in the course of the 1970s and in particular the 1980s, drawing on the theory of possible worlds and presenting his theory as an alternative to the mimetic approach to literature. The foundations to this concept were laid by his studies Narrative semantics (1976a), Poetic Narrative (or Die Hundeblume, 1976b) and Narrative Modalities (1976c). These works, together with his papers collected in Essays in Structural Poetics and Narrative Semantics, published by the Toronto Semiotic Circle in 1979, link the study of the thematic and mo_________ 5 6

See Volek (1985); Dole!el (1999a, 2000); Chvatík (2001); Steiner (1984). Lubomír Dole!el (*1922) has worked as a professor of Czech language and literature at the University of Toronto since 1968 (later as a professor of comparative literature). The history of his work abroad, namely in the USA, started as early as 1965–1968, when he accepted Ladislav Matejka’s invitation to teach at the University of Michigan in Ann Arbor. By that time he had published several important studies and co-authored the following: Kapitoly z praktické stylistiky (1955, Chapters in Practical Stylistics), Kní!ka o jazyce a stylu soudobé "eské literatury (1962, A Book on the Language and Style of Contemporary Czech Literature) addressing selected issues from among his main scholarly interests, which mainly included stylistics and Slavic linguistics, structural poetics and literary theory. To these he added cybernetics and mathematical linguistics in the 1960s (leading the Department of Mathematical Linguistics at the Institute of Linguistics of the Czech Academy of Sciences) and narratology, narrative semantics, theory of fictional worlds and theory of fiction in the 1970s.

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Ond!ej Sládek, Bohumil Fo!t

tivic structure of literary works (i. e. the study of narrative microstructure) with analysis of the world of the literary artwork as such (i. e. the study of narrative macrostructure), referred to as “narrative world” or “fictional world”.7 Dole"el’s research in structural poetics found its expression in his Occidental Poetics: Tradition and Progress (1990), where he traces the history of structural poetics from Aristotle up to the semiotic project of the Prague School. An integral approach to narrative semantics has been presented in his Heterocosmica (1998).

2. The aim of the study 2.1. There have been two editions of Narrative Modes in Czech Literature (Narativní zp#soby v $eské literatu!e) by Lubomír Dole"el. The first one appeared in English at the University of Toronto in 1973, and the second, in Czech (1993a), was published twenty years later. However, despite the two editions having the same title, suggesting a similarity in their content, the Czech version is hardly a mere translation of the English original. Rather, it is an entirely new book reflecting Dole"el’s (new) focus on fictional worlds. The shift of the Czech version of Narrative Modes towards the semantics of fictional worlds is manifested by a number of newly included passages dealing with fictional worlds as well as by the completely different concept of a “world”. Comparing, for example, Dole"el’s double treatment of the concept in the chapter on the composition of The Labyrinth of the World and the Paradise of the Heart (Labyrint sv%ta a ráj srdce) by Comenius, we discover that the discussion of the concept “world” is dependent on thematic levels of the structure of the epic work (i. e. characters, plot and setting). The Czech version from 1993, however, replaces the term “world” by the term “fictional world”. What was it then that made Lubomír Dole"el move from “worlds” to “fictional worlds”? We suggest that the answer can be found at the deeper level of connections between the concepts of world and worlds developed by Dole"el, Muka!ovsk& and Vodi$ka.

_________ 7

Dole"el’s extensive academic-organisation, pedagogical and translating activities have been complemented by significant editorial activities since the beginning of the 1960s. He contributed towards the bibliography of quantitative linguistics (1964) and co-authored an annotated bibliography of statistical stylistics (Bailey, Dole"el eds. 1968) with Richard W. Bailey and a volume of conference proceedings called Statistics and Style (Bailey, Dole"el eds. 1969); was one of the editors of a celebratory volume devoted to L. Matejka (Dole"el, Stolz, Titunik eds. 1984).

The Prague School and Lubomír Dole!el’s Theory of Fictional Worlds

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2.2. Discussing the transformations of Czech structuralism in literary theory, one necessarily faces the question of its “tradition” and “legacy”. Is it legitimate to speak of a “tradition” in this respect, provided we are aware that there is no such coherent concept of Czech structuralism8 and understanding that rather than an integrated structural method, structuralist methodology should be referred to? – or structuralisms and metamorphoses of the original conceptual basis of Prague School functionalism, something which can hardly be subsumed under the concept of “tradition”? In his introduction to Occidental Poetics (1990), Dole!el points out that the development of poetics can be understood only in the context of historical continuity, best captured by the idea of research tradition. The author of the work in questions, Larry Laudan (1977, 81), claims that: A research tradition is a set of general assumptions about the entities and processes in a domain of study, and about the appropriate methods to be used for investigating the problems and constructing theories in that domain.

Research tradition thus provides each scholarly discipline with a theoretical foundation (set of hypotheses, theories, methods of observation and analysis, concepts etc.). In the domain of literary studies, Dole!el discusses the research tradition in investigating poetics and points out the existence of what are designated as modes of poetics –“conceptual and methodological systems that were designed to cope with topical issues of the research tradition and its various developmental stages” (Dole!el 1990, 5). The idea of a research tradition is significant especially since it represents a tool for the systematic reconstruction of poetics as a continuously developing set of assumptions, concepts and methods.9 A question arises: What do we arrive at, using a continuing tradition of research, in a comparative analysis of the concepts developed by the Prague School and Lubomír Dole!el’s theory of fictional worlds? 2.3. The aim of this study is neither to list all the overlaps between Prague School structuralism and the narrative semantics of fictional worlds by Dole!el, nor to enumerate what Dole!el has taken over from Muka"ovsk# and Vodi$ka, what he adopted and transformed in order to use in his theory of fictional worlds. We will focus on two main clusters of issues shared by the two lines of thought: (a) the analysis of poetic structures and their expression in language; _________ 8 9

See Tobin (ed. 1988); Schwarz, Hol#, Jankovi$ (eds. 1997); Nekula (ed. 2003); Volek (2004); Sládek (ed. 2006). For Prague School terminology see %ervenka (1990), Grygar (1999), Vachek (2003).

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(b) ways of treating the concept of a world (of the literary work, i. e. the fictional world). These issues, we believe, provide an apt illustration of Dole"el’s approach to narrative and his relation to the Prague School.

3. Research in poetic language and communicative acts 3.1. In the international context Prague School linguistics primarily refers to functional aspects.10 We do not want to suggest that it was the Prague School scholars who brought the term function to the field of linguistic investigation; nevertheless, it seems that it was the Prague School scholars who started using this term in a specific and rather influential way both in their system of linguistic inquiry as well as in their analyses of particular language units. The concept of functional linguistics is based on an assumption, borrowed from the general model of communication, that particular language statements do not hang in the air on their own but are specific messages from a sender to a receiver in the act of language communication – these messages are designed in order to carry specific meaning regardless of whether we are dealing with everyday non-literary communication or communication through literary artworks: “The sender in the act of speaking follows some aims/functions and according to the aims uses specific language devices, a specific functional language” (Star# 1995, 36). This assumption inevitably triggers the Prague School scholars’ interest in the general problem of language use and effect: the communicational aspect of language units is thus thoroughly intertwined with the pragmatic view of language and its structures.11 Generally speaking the above mentioned communicative basis of the Prague School theory of functional styles plays a crucial role not only in Prague School linguistics but also in Prague school aesthetics. This aspect determines the very idea of aesthetic communication between the author and the reader and also grounds the notion of the aesthetic function – one of the integral parts of the Prague School aesthetic system. Nevertheless, on the level of linguistics (or stylistics), the functional model brings the Prague School scholars to two major fields of linguistics, the investigation of which is of major importance for literary theoretical inquiry: to the analyses of narrative models and situations (which _________ 10 11

See Havránek, Muka!ovsk# (ed. 1942); Vachek (1970; 1972). Today it is well known that the pragmatic inquiry results in one of the crucial achievements of the Prague School investigation which has been evaluated and pointed out by the scholars of the so-called Constance School.

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remain an important part of general narratological investigation to the present days) and to the investigation of poetic language; the outcome of this is a probing into the identity of literary artworks.12 Indeed, the focus on an inquiry into the inner structures of language statements and the effect the statements may have on the receiver represents the core of Prague School structuralist aesthetics, based on the concept of the aesthetic function. The aesthetic function, according to Muka"ovsk#’s definition, focuses the reader’s attention on the structure of a literary artwork, on the way in which the artwork is composed, and on the language the artwork is written in. 3.2. Using the idea of functional styles in order to define the identity of literature, Prague School structuralists tried to show and further investigate the difference between common (practical) and poetic languages. At this point we encounter one of the most important parallels between the Prague School and the Russian formalists’ attempt to define literature by its poetic language, which was considered a material of literary artworks.13 However, from a contemporary point of view it is obvious that to differentiate between poetic and common languages means to walk on very thin ice – as Roman Jakobson confirms: But even if we succeed in isolating those devices that typify the poets of a given period, we have still to establish the line of demarcation between poetry and nonpoetry. The same alliterations and other types of euphonic devices are used by the rhetoric of the period; and what is more they occur in everyday, colloquial language. Streetcar conversations are full of jokes based on the very figures found in the most subtle lyric poetry, and the composition of gossip often corresponds to the laws of composition followed by best sellers, or at least last year’s best sellers (depending on the degree of the gossiper’s intelligence). (Jakobson 1981, 741)

Prague School scholars suggest the following solution to the problem: From the whole list of potential functions which are intended to be fulfilled and can actually be fulfilled in the act of language communication, they chose the aesthetic function and stipulated its dominance in specifically literary communication.14 _________ 12 13

14

See Garvin (ed. 1964); Wellek (1963; 1969); Muka"ovsk# (1970; 1977a; 1978); Matejka (ed. 1976); Steiner (ed. 1982); Steiner (1977; 1982; 1984); Striedter (1989) etc. It is obvious that the concept of poetic language did not originate within the framework of Russian formalist thought. Nevertheless, in this framework the search for poetic language results in the crucial question of the identity of literary artworks, which in turn results in the idea of the poetic function – the idea of the poetic function of the Russian formalists brings them to the notion of an artistic notion (priem) which contributed to the modern narratological context in a major fashion; see Erlich (1969); Matejka, Pomorska (eds. 1978); Hansen-Löve (1978); Steiner (1984); $ervenka (1990). See Muka"ovsk# (1977a; 1978); Striedter (1989).

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According to Jan Muka!ovsk", the aesthetic function15 substantially determines the identity of literary artworks and literary aesthetic communication as a whole – the aesthetic function is initiated by the subject (receiver) of the communication and transmitted by literary artworks, the objects of communication: But an active capacity for the aesthetic function is not a real property of an object, even if the object has been deliberately composed with the aesthetic function in mind. Rather, the aesthetic function manifests itself only under certain conditions, i. e. in a certain social context. A phenomenon which, in one time period, country, etc., was the privileged bearer of the aesthetic function, may be incapable of bearing this function in a different time, country, etc. (Muka!ovsk" 1970, 3)

However, in spite of the fact that aesthetic functioning is initially triggered by the subject of aesthetic communication, the literary work itself is shaped according to the purpose of the communication and therefore its structure enables the subject to trigger the aesthetic function. In other words, the literary artwork, having been designed specifically for aesthetic communication, enables the perceiving subject to take on the aesthetic poise, which is the essential precondition of aesthetic functioning. Nevertheless, with regard to the idea of poetic language, two simple questions remain: (a) What is the connection between poetic language and the aesthetic function? (b) How is the function based in language? To answer these questions another crucial point of Prague structuralism must be kept in mind: according to Prague aesthetics an artwork is of a sign nature; therefore the artwork refers to reality in order to reach no other aim but aesthetic pleasure. In other words, a literary artwork, which is essentially a sign, has a specific reference: It primarily refers not only to What is said but also, and more importantly, to How it is said – the way poetic language distorts our everyday common sense, catches the reader’s attention and aims it at the structure of the work itself. At this point one can come to the conclusion that we have been bound in a circle: Poetic language determines aesthetic function – it helps the reader to take an aesthetic poise and thus to trigger the aesthetic function – and the function aims the reader’s attention at the poetic language. Fortunately, the framework of Prague School aesthetics offers us more than that: within this framework, procedures operating in poetic language and its development can be defined – that of defamiliarization and familiarization.16 It must be emphasised, however, that they both _________ 15 16

See Veltrusk" (1980); Zima (1995, 1999). The Prague School shares the idea of automatisation and actualisation with Russian formalism – however, whereas Russian formalists refer to this idea mainly in order to differentiate poetic language from common language, in Czech structuralism the idea represents an important aspect of the inquiry of literary development. Let us emphasise that in the

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operate at all levels of the linguistic structure of an artwork and can thus be viewed only as a part of the overall structure of literary development, in a process of change.17 But what are the concrete manifestations of this kind of language? According to Czech structuralists, in every literary artwork both poetic devices and strategies which can be considered traditional, as well as devices and strategies which are newly used, can be found – however, the combination of both affects the reader’s reception and focuses their attention on the specific combination of the devices. At this point we can see one of the most important assumptions of fictional worlds semantics, a narrative modes inquiry. When trying to analyse and describe the procedures of familiarization and defamiliarization in the development of poetic language, some structuralists, namely Muka"ovsk# and Vodi$ka, were seriously involved in developing detailed analyses of various levels and forms of narration and narratives. Not surprisingly, one of the levels of their interest is closely connected with further narratological investigation of what have been termed narrative modes or narrative situations. In their studies from the 1920s to the 1940s, in order to describe larger elements of narratives and their historical development, Muka"ovsk# and Vodi$ka tried to analyse the inner linguistic structures of narratives in connection with terms such as plot, narrator, literary character, subject and object of narration, monologue and dialogue, Ich-form narration and Er-form narration, objectivity and subjectivity of narration, true-evaluation, or perspective in narration (Muka"ovsk# 1948a; Vodi$ka 1948).18 Since then this specific approach to the analysis of narratives and narrativity has been part and parcel of the Czech structuralist approach to literature, namely narration. In modern history, Dole!el is a direct ancestor of this tradition, someone who has not only provided modern literary theory with a systemic analysis of narrative modes, but also with a crucial contribution to fictional worlds semantics.19 _________

17

18 19

framework of Prague linguistics we can find a strong emphasis placed on the dynamic characteristics of language development. Not surprisingly, the developmental aspect of literary structures had been established in Prague literary criticism in a more complicated and slower fashion. The concept of literary development in connection with the identity of literature within Prague School inquiry is based on two major theoretical sources. First of all, Russian formalists, when defying the identity of literature in the final stage of Formal School, came to the idea of literary development, directly derived from the formalist search for poetic language. The second source of the Prague School’s concept of literary development is based on the Hegelian idea of history and development; it was from this idea that the Prague School theoreticians derived their idea of immanent literary development. See Grygar (1968); Vodi$ka (1972). See Dole!el (1996; 2006a). See Dole!el (1976a; 1989a; 1998).

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3.3. For the Prague School, analysis of poetic language has been closely connected to analysis of style20 – which not only considers the significance of parts within a whole, but also initiates the study of the functions and validity of individual types of utterances within the literary artwork as a whole.21 Analysis of structures of communicative acts underlying Czech stylistic concepts of the 1950s and 1960s, which have contributed to the analysis of narrative situations or modes in a fundamental fashion, was associated with the efforts of the very first generation of Prague structuralists. This aspect of Prague School inquiry deals with the key concept of function, which refers to the semanticteleological (and pragmatic) understanding of language and language communication.22 Apart from B. Havránek, V. Mathesius, R. Jakobson and K. Bühler, whose contribution to functional styles analysis is well known and described in detail, Josef Václav Be"ka is worth mentioning. His typology of objective and subjective styles is based on the relation between the speaker and the receiver: Talking about subjectivity and objectivity of style in stylistics, we mean whether or not the author is in a direct relationship with the receiver. […] It is most important for the nature of the style whether the author wants and can reveal his heart in his writing or whether he places himself outside the subject-matter being dealt with, whether the author targets his writing at a particular receiver (albeit an imaginary one) whom he is addressing in a direct way, or whether he targets his writing at infinity and places the receiver outside the subject-matter. (Be"ka 1948, 368)

This is evidently a proposal anticipating a whole strain of narratological inquiry focusing on Who is talking to whom? These and similar considerations then informed the study of narrative modes. Analysis of communicative acts and types of communicative acts has been a leitmotif of Pra-

_________ 20

21 22

Milan Jelínek points out the close interrelation between language and style with regard to the Prague School: “The terminology referring to the linguistic style of literary fiction has varied. The oldest works by the Prague School (R. Jakobson, B. Havránek, J. Muka!ovsk# and others) referred to ‘poetic language’, the attribute ‘poetic’ referring to all literary artworks. The inappropriacy of using the term ‘language’ in this context has already been mentioned. Later works preferred terms such as ‘literary language’ and ‘literary style’ next to which explicit terms ‘language/style of literary fiction’ and ‘language/style of poetic art’ were established. Terms like ‘literary style’ or ‘poetic style’ tended to be avoided, their general acceptance being prevented by the polysemy of the adjectives ‘literary’ and ‘poetic’”. See also Dole$el (1984; 1985). K. Chvatík (1996a; 1996b, 110) says in this context that the study of style as the moment of “form becoming artwork’s content” stems from the Prague School. The relation between de Saussure and Muka!ovsk# is important in this respect (Sládek 2007).

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gue School inquiries since its very beginnings, but these analyses won full appreciation only after World War II.23 3.4. In his first book, On the Style of Modern Czech Fiction. Text Composition, Dole!el (1960) described the stylistic-semantic tools he used to interpret some of the narrative aspects of specific works of Czech literature. He dealt with the relation of the individual levels in detail, explored the textual architecture of modern epic fiction and analysed the functions of text structure and their individual components in the literary structure of literary fiction. The fundamental feature characterising the text structure of epic fiction consists, according to Dole!el, in the distinction between two heterogeneous communicative acts and/or levels of communication: the level of the narrator and the level of characters. Describing the types of communicative acts and their functions within specific literary artworks, Dole!el defines these types of communicative acts based on his analysis of specific narrative acts, studying which stylistic characteristics it is that these individual communicative acts are characterised by. This work was followed by the study Narrative Modes in Czech Literature (1973), where Dole!el’s gradual departure from stylistics towards narratology and/or analysis of narrative modes in fictional discourse became fully evident. The five chapters devoted to selected works of Czech literature (by J. A. Comenius, V. Van"ura, K. V. Rais, K. #apek and M. Kundera) discuss issues relating to the narrator and his position in fiction within the framework of a structurally oriented analysis. Dole!el is concerned with how the role of the narrator is becoming increasingly dominant in narrative and how subjectivization increases in the development of literary structure. This approach ultimately finds its expression in Dole!el’s model of specific fictional worlds structuring, presented in an integrated form in his Heterocosmica (1998) 25 years later. 3.5. The stylistic differences between subjectivized and objectivized communicative acts have been pointed out by a number of linguists and stylists. The notion of distance was raised as early as the beginning of the 20th century, when the first stylistic analyses of modern fiction were presented, showing that distinctive features of language composition are neutralised in modern narrative fiction. Speaking of subjective and objective styles in his Introduction to Czech Stylistics J. V. Be"ka (1948) introduces two important ideas into Czech linguistics, and, consequently, literary theory: firstly, he elaborates and systemises subjective and objec_________ 23

See also Hausenblas (1971).

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tive aspects of the stylistic composition of communicative acts, and secondly, by this systemisation, he anticipates certain aspects of narrative pragmatics associated with concepts such as point of view. Be"ka’s typology of objective and subjective aspects of the stylistic composition of communicative acts is, somewhat surprisingly for the present reader, based on the relation between the author and the addressee of the communicative act: Speaking of stylistic subjectivity or objectivity, we are concerned with whether the author is directly addressing the receiver. It is therefore not a matter of philosophical subjectivity or objectivity, of whether the author’s claims are universally valid statements or rather his beliefs and emotions. (Be"ka 1948, 368)

Dole#el, on the other hand, bases his definitions of subjectivity and objectivity in A Book on the Language and Style of Modern Czech Fiction (Dole!el, Kucha" eds. 1961) on something else: The narrator is the only originator of the narrative who is developing the plot and depicting its external conditions and circumstances; the characters produce dialogues (or, more rarely, monologues), which may move the plot forward, but are not an integral part of the narrative as such. The narrative is markedly objective while characters’ communicative acts are overtly subjective, expressing a personal view of the reality being depicted as seen by the character. (Dole#el, Kucha! eds. 1961, 25)

It can be seen that unlike Be"ka, for whom the issue of subjectivity and objectivity of narrative is inseparably connected to the communicative model of literary creation and reception, Dole#el’s division has to do with the degree of objectivity of an individual literary artwork’s components with respect to the world of the literary work. But rather than show both poles, the (purely) objective and the (purely) subjective styles, the aim of Dole#el’s efforts is to demonstrate certain intermediate zones separating both extremes and to provide a typology and an interpretation of these zones of transition within modern Czech literature. Dole#el’s typology of the individual degrees of subjectivization and/or objectivization of narrative styles is fundamentally based on a set of criteria – heterogeneous criteria taken from different planes of stylistic inquiry. Probably the most complete and most systemic proposal in this respect has been presented in Dole#el’s Narrative Modes in Czech Literature (1993a). Dole#el defines here what he considers to be subjective and objective text. While in subjective texts the speaking subject controls the composition of his communicative act in terms of a number of aspects (the text is an expression of his vision and experience of the

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world), objective texts (in the semantic sense of the word) are characterised by neither expressivity nor appeal.24 3.6. Dole!el’s main aim (1973, 3–55; 1993a) is to provide sufficiently valid tools to be used in a detailed analysis of narrative processes in modern fiction. Therefore, to be able to describe the zones of transition between objective and subjective texts, Dole!el differentiates between the individual types based on a network of distinctive features, divided into several categories: grammatical (verbal person and tense), relating to the communicative act (appeal and deixis), semantic (semantic features), stylistic (stylistic features), and, last but not least, graphic (various graphic signs). Depending on whether these features are present in or missing from the communicative acts, Dole!el distinguishes between specific types of communicative acts; he differentiates between objective (most objective) narrative, semi-direct speech, and direct (most subjective) speech, but considers yet another category which he calls mixed speech, referring to narrative acts in which the original distinctive features of objective and subjective communicative acts are neutralized to the extent that a conglomerate constantly undermining conventional narrative semantics is formed. The origination of mixed speech is a culmination of the process of neutralisation of the diomedian opposition. New types of communicative acts arising in this process form, together with their classic predecessors, a system whose shared basis is the combinatorics of binary distinctive features of language composition […]. The conflicting nature of the linguistic composition of semi-direct and mixed speech disrupts the stability and straightforwardness of the narrative text. (Dole!el 1993a, 36)

Dole!el approaches semi-direct speech as a transitive entity, which “bridges the communicative-act opposition between the narrator and the characters in a specific way” (Dole!el 1993a, 23). He thus opposes psychological explications, focusing his attention mainly on the linguistic aspects of semi-direct speech, approximating the tradition established by Bally. The nature of semi-direct speech is thus purely combinatorial. In connection with subjectivity and objectivity of narrative, Dole!el supplements his considerations of communicative acts by discussing more general narrative modes based on individual types of communicative acts – they are the objective, the rhetorical, and the subjective mode; subjective, rhetorical and objective Er-forms and Ich-forms can thus be distinguished. _________ 24

Cf. Dole!el (1993a, 12). Some narratologists consider Dole!el’s distinction between the “objective” discourse of the narrator and “subjective” discourse of fictional characters too rigid and schematic. See especially the work of Wolf Schmid (1973, 40; 2003, 200–201; 2005, 180–181).

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By analyzing narrative situations and modes, Dole"el evidently comes close to one of the key concepts of modern narratology – the concept of point of view, as it can be found in the works of Schmid, Genette, Stanzel, Bal, Cohn and others.25

4. Between the Prague School and narrative semantics: on the concept of ‘world’ 4.1. It is a matter of fact that any investigation into the ontological status of a literary artwork can result in two different interpretive approaches to the artwork: on the one hand it can be described as an imitation, as a spiritual reproduction of reality, as a fictional representation of the real world, or as a complexly hierarchized meaning structure, yet, on the other, it can be viewed as a concrete material fact. Nevertheless, all these suggestions alert us to the fact that a literary artwork has primarily been defined and delimited with respect to reality, at least from the time of Aristotle’s Poetics. In sum: a (literary) work of art as such is – according to K. Chvatík (2001, 101) – a specific model of the world. Formalists as well as structuralists perceived a literary artwork as an entirety or a dynamic structure representing an organised and dialectical cluster of individual components among which there is permanent tension. According to the Formalists this structure, with both a systemic and a temporal dimension, is to be studied irrespective of all its external relations and liaisons, i. e. primarily as a phenomenon sui generis (Muka!ovsk# 1948b, 9). Although the above statement might lead us to assume that investigation into the issues of the relation between artwork and reality was a minor issue in structuralist inquiry, this is not (and has never been) the case. _________ 25

See Dole"el (1967). In the 1960s Dole"el’s ideas of narrative modes were taken into consideration by Wolf Schmid, who also contributed to their further development – despite Schmid’s rather critical attitude towards these ideas, cf. Schmid (1973, 40; 2005, 180– 181). The contribution by Dorrit Cohn should be emphasised in connection with another feature of Dole"el’s oeuvre. Cohn has mostly been mentioned in connection with research into so-called narrative awareness (Cohn 1978). Ways in which the most intimate emotions and drives of narrative characters are represented have been the focus of literary scholars’ interest since the beginnings of their existence. E. M. Forster’s essay Aspects of the Novel (1927) can be mentioned, where the author outlines how and to what extent the readers can access characters’ motivations. Dole"el says explicitly that the ability of modern fiction to capture these “mind contents” is one of its basic distinctive features – the claim pertaining mainly to the presence of the so-called internal monologue (cf. Dole"el, Kucha! eds. 1961, 50). The integration of the semiotic and the stylistic points of view in Dole"el’s work is thus completed.

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It would, however, be inaccurate to claim that the Czech structuralist doctrine has produced an emergent concept of fictional worlds as known from modern narratological discourse. On the other hand, Czech structuralism in literary theory can be viewed as one of the multiple potential influences that have shaped the final concept of theory of fictional worlds directly rather than indirectly. It is indisputable that worlds of art (including worlds of fiction) were spoken about long before the establishment of the Prague School, both in international and domestic context. 4.2. The problem of poetic reference seems to be central for the investigation of the relation between theory of fictional worlds and structural poetics of the Prague School (Muka"ovsk# 1976; 1977c). As Dole!el (1988; 1990, 164–167; 1995a, 49–51) points out, the Prague School has not yet come up with a detailed and systemic account of the issues of reference. However, Muka"ovsk#’s university lectures from the turn of the 1930s26, a representative selection of which was published as late as 1995, provide not only evidence of the existence of a relatively compact “system” of his structuralist thought in its early stage but also of the fact that he did not neglect issues of reference in his oeuvre. Muka"ovsk# elaborates Ingarden’s (1931) ideas about understanding the meaning of words and sense of sentences in a remarkable way, supplementing this with a brief outline of sentence semantics, although, as he says: Our concern is not with semantics of language phenomena, but with semantics of all that can be contained in speech, i. e. semantics of higher units of meaning, which is, after all, just preparation for philosophy of poetic work proper. (Muka"ovsk# 1995c, 111)

As for the issue of the relation between a work of art and reality, Muka"ovsk# dealt with it quite extensively, although he did not formulate his ideas in an integrated theory (Dole!el 1990, 164–167).27 _________ 26

27

Two university lectures by Muka"ovsk# from 1933/34 (Philosophy of poetic language [Muka"ovsk# 1981a] and Philosophy of poetic structure [1981b] were published in one volume together with another university lecture from 1929/30 called Poetic semantics, in the collection of texts called Básnická sémantika (Muka"ovsk# 1995a). What is crucial, however, is his claim explicitly formulated in the study called On the Terminology of Czechoslovak Theory of Art, where he asserts his opinion that a work of art as a sign is doubly related to reality: “to the specific reality that it refers to and related to reality in general” (Muka"ovsk# 1948c, 35–36). Later he specifies his interpretation once more, when he speaks of the relation between art and reality as dialectic in an interview from 1971: “A work of art is a sign of a special kind for the realm of signs – beginning with speech – is enormous. Its specificity consists in expressing a relation to the world, to reality in general through specific facts, and it wants to communicate with people, with the readers about how it can be approached, acted towards etc. It is this very understanding of this sign nature of a work of art that leads to understanding its truly dialectic relation to

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Muka!ovsk" deals with reference in communicative acts firstly by referring to the reality reflected in the “intentional object” understood by him as a projection of the meaning of the word beyond the word itself, and, secondly, by referring to transcendental reality (i. e. reality sui generis, mediated only by our senses indirectly). He devotes considerable attention to delimiting the concept of the intentional object. Unlike Ingarden, who deals with the intentional object predominantly in connection with the meaning structure of the word or the sentence, Muka!ovsk" is of the opinion that the intentional object can very well exist independently of meaning. It is, according to Muka!ovsk", contained in the meaning by virtue of its origin, but “can temporarily exist without it” (Muka!ovsk" 1995c, 110). He refers to painting as an example, representing intentional objects (for it cannot represent ontological reality). Muka!ovsk" supplements his discussion with the claim that “[the intentional object] is not related to word meaning only and depends not only on that, being posited between it and the transcendental reality” (Muka!ovsk" 1995c, 110). The following point is relevant to our discussion: communicative acts are not in contact with a single intentional object but a whole set of such objects and states forming a compact whole: specific intentional reality. Muka!ovsk" speaks explicitly of a “world”. He understands this reality primarily as a set of values, but also views it as consisting of material mediated by sensory perception, emotions and thinking. What does Muka!ovsk" precisely mean here? While the intentional object is a correlate of the word, intentional reality is a correlate of a higher language unit: the sentence (or the text). We regard as significant the observation by Muka!ovsk" that an intentional object is of a collective (social) nature, that it (a) refers to a point of a domain of transcendental reality while being confronted with the whole context of intentional reality and that (b) it consists of a certain value (besides visible and invisible values, there is a whole network of so-called diffuse values which “seal” our world together, such as “ideology”). By this whole augmentation, Muka!ovsk" sets the ground for explaining the relation between language and reality: […] a whole sentence rather than the meaning of a single word that is closer to transcendental reality and the meaning of the whole context rather than the meaning of a whole sentence. This follows from what has already been said, namely that only when context is finalised, the factual meaning of all of its component parts becomes firmly set. Therefore, it is the overall meaning of the

_________ reality as the dialectic relation to reality implies an ability to see the conflicts contained in reality itself, that no one invented and no one inserted into it” (Muka!ovsk" 1982b, 797).

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context, referred to as the theme (“the content”) that is the closest to the reality. (Muka"ovsk# 1995c, 117)

This is why in informative texts, content prevails over the linguistic components. The relation to reality is the criterion here while in poetic texts, reference to reality is but a plastic tool. In this sense it is also easy to understand that “a lack of purpose” in poetry only weakens the relation to transcendental reality.28 By carefully distinguishing between both kinds of reality (transcendental and intentional) and especially by viewing intentional reality as a complex “world” of values, Muka"ovsk# has come close to an understanding of literary artwork when he regards it as an independent represented world, i. e. a world (set) of represented objects. Muka"ovsk# however did not take the route leading to a reflection of the presented world as a specific sphere of being forming a compact and ontologically coherent unity.29 However, yet another step remained: from intentional objects (and states) to objects presented in the literary work. And this task has been undertaken by Ingarden. In his important work Das literarische Kunstwerk (1931) and much more explicitly in O poznawaniu dzie!a literackiego (1937), Ingarden shows that it is the intentional object-states, or, put more generally, intentional correlates of sentences that interest us in works of literature.30 It is these which enter interrelations and become linked when the work is read; they form a series of object-states and situations from which we learn about their “fate”. In the process of reading we thus uncover “a certain specific world of things, people, events and incidents existing for itself, with a dynamics and emotional atmosphere of its own” (Ingarden 1967, 39). The act needed to “pass” from individual intentional states to this represented world, which must be performed many times, is the act of “objectivization” – i. e. constituting and understanding the represented world as a certain whole in which the events and everything else that forms it exist “as if” objectively. It is only thanks to synthesizing objectiviztion (which sums up and integrates data expressed in different sentences into a single whole) that the represented objects present themselves as a “quasi-reality” with a history, shape and dynamism of their _________ 28

29

30

Muka"ovsk# also says of the relation of poetic language to reality: “With respect to reality, all kinds of play and hues can be used in a poetic work: for instance mixing fairy-tale elements with realistic ones, multiple different interpretations of facts creating a multiple reality and so on” (Muka"ovsk#, 1995c, 115). See also Dole!el 1982a. It is also worth mentioning that in his study Aesthetic function, norm and value as social facts from 1936, Muka"ovsk# opposes the idea that art creates “things yet unseen“. See also Dole!el 1990, 166. For some details of the relation of Ingarden and Czech literary theory see Herman (1995).

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own (Ingarden 1967, 43). Ingarden’s concept of “artwork reading” thus combines the act of reception/understanding and of creativity posing certain demands on the readers, especially on their activity and qualification.31 Synthesizing objectivization, however, also depends to a considerable extent on the structure of the meaning layer of the work. Muka!ovsk" was familiar with Ingarden’s book Das literarische Kunstwerk (1931) and, naturally, aware of the fact that a literary artwork represents a unique world; nevertheless, the problem of poetic reference is only briefly outlined in his work, and has remained underdeveloped in Czech structuralism.32 A certain solution to the problem of reference was attempted much later by Felix Vodi#ka, whose approach to the artwork as a specific “fictional world” allows a more detailed comparison with Dole$el’s concept of “fictional world”. 4.3. It is evident that Muka!ovsk" does not show any close interest in the entity which might be referred to as the world of the artwork. There are but a few hints suggesting that he takes this entity for granted without specifying or defining it in detail.33 What Muka!ovsk" (1925, 240– 241) calls ‘plot atmosphere’ anticipates by some of its features the concept of fictional worlds as compact semiotic entities in which the act of creation meets the act of reception of the literary artwork. It is, however, important that in his study Aesthetic Function, Norm and Value as Social Facts (1936), the same author links the alternative reality produced by the literary artwork to the concept of the “function of the communicative act” (1936, 72–73). In addition, he says that the extent to which reality is present in the fictional world of the artwork and how it is translated into this world affects not only the whole semantic structure of the artwork and cannot be regarded as a distinctive feature as far as the genre and period classification of the artwork are concerned. Both the fact that Muka!ovsk" discusses the world of the literary artwork and the way he speaks of this entity are certainly important for creating an awareness of this entity, for identifying its constitutive prop_________ 31

32 33

The act of synthesization, according to Ingarden, takes place at 3 levels of reading: (a) in the course of reading individual parts (sentences, paragraphs, chapters); (b) after these parts have been read; (c) after the whole artwork has been read. This shows that these successive “objectivizations” need to be corrected continuously and a final revision after the whole artwork has been read is also needed. See Dole$el (1990; 1995a; 1998). See also Fo!t (2004). Literary worlds have been discussed, although not at the same level as in modern scholarship, by one of the founding fathers of Czech literary theory, Josef Jungmann. In his Slovesnost (second edition, 1845), he not only speaks of fictional worlds produced by literary artworks, but also provides a typology based on their relation to the real world (cf. Sládek 2006a; 2006b).

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erties and for its further analysis. What has not been emphasised enough about fictional worlds is their connection to the sign nature of literary artworks, pointed out by Muka"ovsk# so frequently and with great emphasis. This connection links fictional worlds with the idea of poetic language on the one hand and with functional stylistics and semantics on the other. The sign nature of a literary artwork in connection with the aesthetic function, conditioned by familiarizing and defamiliarizing stylistic techniques, shapes the reader’s focus on the work itself, on its makeup as a sign structured in complex ways. Aesthetic effect is the goal of poetic expression. However, the aesthetic function, which thus dominates in poetic language (being only a concomitant phenomenon in other functional languages), concentrates attention on the linguistic sign itself – hence it is exactly the opposite of a practical orientation toward a goal which in language is communication. (Muka"ovsk# 1977b, 4)

The reader thus perceives the literary artwork as an entity not only referring to some kind of reality but also structuring this reality in a unique way and referring to it in a unique way34 – and finding a solution to the question of the relation between this specific literary reality and the surrounding world accounts for a major part of the concern of Prague School structural aesthetics. The literary artwork, which is in itself of a sign nature, points to the stylistic tools and techniques used in its composition, but no systemic strategy is drawn upon – at least by Muka"ovsk# – in the inquiry into the specifics of the language of the artwork. 4.4. The general characteristics of the common ground between Vodi$ka’s and Dole!el’s approaches can be described as follows: both theoreticians insist on a rational epistemology, whose formation in the Czech lands had been developed within the framework of the literarytheoretical and aesthetic research of the Prague School; both of them – as far as their analysis of narration is concerned – employ analysis of represented discourse and speech-levels; and finally, both of them are interested in the thematic composition of literary works. Analysing their concepts in a more specific way, we were able to find far more mutual links and similarities. To quote just two fundamental issues, appropriately illustrating the overall correspondence of their approaches, we can take: (a) the concept of “world”, employed in the analysis of the structure of narrative theme and its individual components, and _________ 34

Let us mention in this context the important statement by Jakobson (1981) about the specificity of the literary (poetic) work consisting in the fact that a word is perceived as a word rather than a representation of an object or an emotion.

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(b) their respective answers to the question of the relation pertaining between fiction and reality.35 The issue of the structure of narrative theme has played an important role in Czech structuralist thought. This observation can be supported by the fact that theme is the pivotal component of the meaning structure of a literary work, and also by the elaboration of the concept by Muka!ovsk" (1938b), who used and detailed an inspiring older approach developed by Boris Toma#evskij (1925). The main levels to be found in every narrative work, playing thus the role of its structural components, as distinguished by Vodi$ka (1948) are story (d!j), characters (postavy) and setting (prost"edí), the last of the terms being replaced with the term “context of the external world” (kontext vn!j#ího sv!ta) (Vodi$ka 1948, 114–115). In spite of the fact that Vodi$ka grants the context of the external world considerable independence within the literary work, it is always defined with respect to its framework of relations, i. e. in relation to other thematic levels – of characters and the story. In this context it is important to note that describing this level (“context of the external world”), Vodi$ka intentionally avoids using the “setting” category as it can refer to temporal and spatial situatedness and the so-called physical environment (e. g. nature or physical objects) only, replacing it with the above-mentioned category of the “context of the external world”. The term as he uses it comprises both social relations and psychological descriptions on the one hand and the historical, spiritual and ideological atmosphere in which the characters live and where the story takes place on the other. In this step, which can be formally characterized as renaming “setting” (prost"edí) to “external world” (vn!j#í sv!t), which is a synonym for a comprehensive universe (world), Vodi$ka was inspired by J. Hankiss and R. Petsch (1942, 223). With reference to Petsch’s understanding of the external world (Umwelt der Figuren) as a world of nature, subjects and beings, Vodi$ka emphasises the variability of this component in the thematic structure of literary work.36 Vodi$ka (1948; 1969) deals with the issues of the thematic level in terms of reference and independence of the artistic shape. He shows that it is the level of the theme that links the literary artwork with the reality of the non-literary worlds most clearly. He writes in his Po$átky krásné prózy novo$eské (The Beginnings of Modern Czech Prose, 1948): “the opposition between the reality known to or assumed by the reader and the literary reality [may become] a source of the aesthetic effect” _________ 35 36

Dole%el discusses Vodi$ka’s oeuvre in the following studies: 1982b; 1989b; 1996; 1999b. See Hausenblas (1969); Drozda (1982); see also Jedli$ková (2004).

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(Vodi"ka 1948, 167). Vodi"ka also understands the level of the theme as a layer of the literary structure through which “the content of life interests and problems of the period pertaining to a certain community exerts the most powerful pressure on the immanent development of the literary structure” (Vodi"ka 1948, 168). The blending of individual hierarchized themes, their dynamic unity and structural relatedness, this is what – according to Vodi"ka – forms the essence of the literary artwork. Not only does this kind of structure communicate certain messages about the real world, but the work itself represents a (literary) reality of its own, a world of its own, i. e. “literary reality” (skute!nost literární) in Vodi"ka’s terminology (1948, 167). Although in Vodi"ka’s concept, “literary reality” is attributed an autonomous existence which is entirely and completely dependent on and formed by the text (thus exhibiting a considerable degree of correspondence with what Dole!el calls “fictional world” (fik!ní sv"t), he terms it “fictional-fictive world” (fiktivní sv"t) (Vodi"ka 1948, 184). We believe that despite the evident closeness of the terms fictional and fictional-fictive, a more detailed analysis of the meanings of the two terms will reveal differences which are not apparent at the first glance. Let us now focus on the referents of both “worlds”. Are they identical, or do they differ? Interpreting the Pre-Romantic historical short story by Josef Linda Zá#e nad pohanstvem (Glare On Pagans, 1818) in his Beginnings of Modern Czech Prose Felix Vodi"ka writes: The poet evoked to the reader a completely unique autonomous world, a reality which was in a superior position with respect to the reader’s daily reality. […] A fictional-fictive world of people living in the olden days, people with primitive ways of life, but rich internal, social and emotional lives, a fictional-fictive world of a pastoral community living in contact with nature – a fictional-fictive world of Native Americans in American exotic nature – this is the kind of literary reality, in which Pre-Romantism takes pleasure. The Czech reader must have been filled with a unique kind of satisfaction when he could locate these fictionalfictive worlds, artificial and only weakly supported with scientifically established knowledge, in Czech or Slavic antiquity. (Vodi"ka 1948, 253–254)

At this point, Vodi"ka operates with two different concepts of the meaning of the word reality. On the one hand, he considers a unique “literary reality” – an autonomous world of the narrative work itself; on the other hand, he compares this “world” with the everyday reality, a specific empirical reality. On the very basis of this relation between literary reality and reality, he arrives at a realisation of the fictitious and idealised nature of the “literary world”, which was “in a superior position with respect to the reader’s daily reality”.

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To be more precise, Vodi"ka develops a double concept of narrative text as (a) text presenting an autonomous, unique world (of literary reality), which is simultaneously (b) text that continues to be viewed on the background of our reality. Based on this fact, the above-mentioned world of Glare On Pagans is referred to as “fictional-fictive”, i. e. imaginary. The best way to understand Vodi"ka’s term “fictional-fictive world” is to see it as applying to historical fiction or special fictional genres.

5. Dole#el’s theory of “fictional worlds” 5.1. In contrast to Vodi"ka’s concept, Dole#el builds his theory on the idea that fictional texts refer to fictional worlds, i. e. that they refer to what is established by the text itself. Dole#el accepts Vodi"ka’s notion of the autonomy of literary reality, but elaborates it in the direction of semantics of narrative texts proper, and answers the question of reference in an entirely new way. In his writings dealing with the history of the Prague School’s poetics, Dole#el (1990, 164–167; 1995a, 49–51) notes that the theory of reference was the only area that was left unexplored in greater detail by Czech structuralism. In Dole#el’s view, it was, to a great extent, the fact that the Prague School relied on de Saussure’s concept of sign systems that caused this lack of attention referential aspect of literary works. Dole#el’s own theory of fictional worlds is an attempt to fill this gap. Let us now compare Vodi"ka’s concept of hierarchized theme with Dole#el’s approach, developed in the Czech version of Narrative Modes in Czech Literature (1993a). Dole#el presents his specific concept of narrative texts, which becomes the cornerstone of his approach: The author composes a narrative text with the purpose of forming a fictional world; the reader discovers this world by means of the narrative text. In narrative communication […], the narrative text serves as the means of construction and reconstruction of the fictional world. Narrative fictional world is a multilevel meaning structure, the main components of which are story, characters and setting (natural and cultural). (Dole#el 1993a, 10)

Dole#el uses the term fictional world to refer to a world which is a possible world established by the text. He highlights the fact that the structure of the fictional world is fully conditioned by the structure of the narrative text; it is the narrative text that predetermines the completeness or lack of determinacy of the fictional world. The quotation above shows the extent to which Dole#el adopts Vodi"ka’s notion of the issue

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as well as the extent to which he develops it and adapts it for his own purposes.37 One methodological prerequisite upon which Dole!el’s theory of fictional worlds is based is the fundamental difference between fictional worlds and the real world. Dole!el refrains from a mimetic reading of literature or rather from accentuating its mimetic nature and function (1988; 1998). This does not mean, however, neglecting the relation between fiction and reality. He uses the term fictional world to denote the ontological nature of a world constructed by a work of fiction.38 Fictional worlds are defined in great detail in his crucial book on this subject, Heterocosmica: Fictional worlds of literature […] are a special kind of possible worlds; they are aesthetic artifacts constructed, preserved and circulating in the medium of fictional texts. […] Fictional worlds and their constituents, fictional particulars, are granted a definite ontological status, the status of nonactualized possibles. (Dole!el 1998, 16)

5.2. According to Dole!el, narrative texts have two meaning components: the extensional and the intensional; both relate to the world constituted by the fictional text. As the components of the overall meaning of the text, they necessarily participate in constructing the fictional world, which is a semiotic object by definition: the extensional meaning of the text is associated with the extensional structure of the fictional world while the intensional meaning is associated with the intensional structure of the fictional world. Speaking of the concepts of extension and intension, it is important to bear in mind the specific nature of fictional worlds arising from their semiotic nature: The fictional worlds […] are extensional entities. Their constituents, shapes, and structures are not tied to the wording of the constructing fictional text but are fixed by paraphrasing, by a translation of the original texture into extensional representations. But, obviously, fictional worlds are constructed by the author and reconstructed by the reader in and through the fictional text’s original wording (texture), that is, as intensional formations. (Dole!el 1998, 139)

Having accepted that the fictional world exists by virtue of the potential semantic energy of the text which is actualised in the creative act of reading in which the corresponding fictional world is reconstructed, we should ask what the relation between the structuring of the fictional text and the structuring of the fictional world is. The analogy between the structuring of the texture and the intensional structuring of the fictional world is formally expressed by intensional functions. Dole!el defines the _________ 37 38

See Dole!el (1982b; 1991; 1996). Cf. Pavel (1986); Ryan (1991); Ronen (1994); Eco (1994); Martin (2004).

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intensional function, inspired by the general definition of intension39, as a “function from the fictional text’s texture to the fictional world” (Dole"el 1998, 139). The intensional function translates the structuredness of the texture into the structure of the fictional world: it is a “global regularity of texture that affects the structuring of the fictional” (Dole"el 1998, 139). The path towards their analysis starts with the fictional text in whose structuring they are grounded. Global regularities40 of the structure of the fictional world have to be identified and named first, and then their share in the structuredness of the fictional world has to be determined. Intensional functions seem to play a fundamental role both for the author’s construction and for the reader’s reconstruction of the fictional world (cf. Dole"el 1998, 135–184) and can thus be a useful theoretical tool for our tapping the intensional structuring of the fictional world. In the structure of fictional worlds, consisting of the extensional and the intensional component, intensional functions are part and parcel of the fictional world’s structuring: “Although extensions and intensions can and must be differentiated in semantic theory, they are by definition complementary in the production of literary meaning” (Dole"el 1998, 142). In the suggested design of fictional worlds Dole"el in particular recognises two intensional functions which are crucial for the final shape of the worlds: the authentication function and the saturation function. Whereas the authentication function is connected with the notion of fictional existence, its degree and distribution within fictional worlds, the saturation function controls density and its distribution within fictional worlds. Nevertheless, a simple question remains: How exactly can we analyse these complex functions and the way they operate? According to Dole"el, as we have seen, these functions are mappings from fictional texts onto fictional worlds. Thus, the only access to these functions is through the fictional texts themselves: The method of indirect analysis […] identifies intensional functions by uncovering the global ‘morphology’ of texture, its formative principles, its stylistic regularities. Intensional function is redefined as a global regularity of texture that affects the structuring of the fictional world. (Dole"el 1998, 139)

According to this suggestion the only way to access the intensional structure of fictional worlds is through a thorough stylistic analysis of fictional texts. The Prague School structuralists’ heritage of functional _________ 39 40

Text intensions are ususally defined as functions from possible worlds into extensions. Rather than just regularities of the texture, the concept of ‘regularity’ in fact includes a whole series of stylistic and narrative-semantic categories, and also irregularities of the texture, provided these terms are used in the strict sense of the word.

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linguistics and of the sign nature of literary artworks is thus firmly attached to the very core of fictional worlds semantics. As we can imagine the whole concept of fictional existence is very complex; in modern and postmodern literature in particular, the notion of existence seems to not only to be an important motif of this kind of literature but also its final topic of investigation: “To exist fictionally means to exist in different modes, ranks, and degrees” (Dole!el 1998, 147). As we have seen Dole!el’s authentication function controls fictional existence and its degree in the realm of fictional worlds: We conclude then, that the speech acts of fictional persons in the binary type have, potentially, a performative force, but its origin is different from that of the authoritative narrative. The narrator’s authority […] is given by genre convention and is analogous to Austin’s performative authority; the fictional persons’ authority rests on consensus and coherence and is analogous to the pragmatic 41 conditions of natural discourse. (Dole!el 1998, 150–51)

Thus the structure of fictional worlds is fundamentally formed by the intensional authentication function. Dole!el suggests that fictional worlds are split into two domains by the operation of this function: to the factual domain of authenticated facts and to the virtual domain of beliefs, visions and illusions. Therefore, the domains are based on stylistic features of particular narrative activities. Thus, as we can see, Dole!el’s approach combines an extensive study of the formal features of narrative modes with a functional point of view: narrative modes are speech acts with specific functions within narrative structures. In this part of his system Dole!el combines the achievements of modern speech and action theory with the specific heritage of Prague School linguistics, that of its functional stylistics. The intensional function of saturation controls the density and its distribution within fictional worlds. In his system Dole!el differentiates between three kinds of fictional texture: explicit, implicit and zero, which split the fictional world’s structure into three domains: The explicit texture constructs the determinate domain, the implicit texture the indeterminate domain, and zero texture the domain of gaps […]. The determinate domain represents the solid core of the fictional world, its determinate facts […]. The core is supplemented by the fuzzy domain of indeterminate facts. (Dole!el 1998, 182–183)

With regard to the notion of gaps in fictional worlds it should be mentioned that in Dole!el’s conception (in contrast to the conceptions of Ingarden and Iser), gaps cannot be filled and actually are not supposed _________ 41

It is obvious that in general Dole!el’s idea of authentication function is inspired by J. L. Austin’s theory of performative speech acts. According to this theory speech acts carry an illocutionary force which makes them specific actions (or they can become parts of actual actions) depending on the speaker’s authority.

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to be filled: According to Dole"el, as regards fictional narrative, we lack procedures with which to fill the gaps. Gaps are an inevitable and highly significant part of the structure of fictional worlds.42 5.3. Studying the extensional structures of fictional worlds, Dole"el demonstrates the restrictions to which fictional worlds as structures are subjected: a fictional world “is a macrostructure and its ‘order’ is determined by global restrictions” (Dole"el 1998, 113). These global restrictions controlling fictional worlds are determined by operations of two types: a selective and a formative operation. Simply put, selection as the first operation determines the type of the world43 depending on which entities and structures are confirmed by the process of selection; the second, formative operation “shapes narrative worlds into orders that have the potential to produce (generate) stories” (Dole"el 1998, 113). It is therefore evident that these two kinds of operations complement each other in the sense that the operation of selection as a substrate conditions the operation of the formative operation to a certain extent. Dole"el refers to the main formative factors as narrative modalities: “They play this role because they have a direct impact on acting; they are rudimentary and inescapable constraints, which each person acting in the world faces” (Dole"el 1998, 113). He distinguishes four types of these modal restrictions contributing to fictional worlds’ global structuring in a crucial way: alethic, deontic, axiological, and epistemic restrictions. Alethic restrictions are absolutely crucial as far as fictional worlds structuring is concerned: they determine what is or is not possible in the given fictional world and what is necessary; they control the basic modal distribution of the whole world. Modal alethic restrictions, however, concern not only the fictional world as a whole, but also its individual specific elements, individual entities of the fictional world. In the absolute majority of cases, characters are the fundamental entities in stories taking place in fictional worlds: the subjective M-operator regulates three kinds of capacity: physical – the bodily dispositions for performing actions; instrumental – the potency for producing and using instruments; and mental – the sensory range and the scope of mental operations. The sum of person’s physical, instrumental, and mental capacities constitutes his or her alethic endowment. (Dole"el 1998, 118)

_________ 42

43

Unlike historical narrative, fictional narrative lacks cognitive procedures that would be able to fill gaps in fictional worlds, because there is nothing that could be inserted into the gaps, no witness, no evidence, no new discovery. Gaps are just an inevitable part of fictional-world structure. For typology of fictional worlds see Dole"el (1998), Sládek (2006a).

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Deontic restrictions. These restrictions determine what is allowed, what is forbidden and what is obligatory in the fictional world. They are a source of the basic normatic and normative plan of the fictional world. Norms as such can be of several kinds, too: norms given explicitly by regulations, moral norms following from systems of religion, habitual norms, norms reflecting the social and economic structure of the fictional world etc. Just as with alethic norms, their applications are of two kinds: “codexal norms are valid for an entire world, subjective norms spell out prohibitions or duties for individual persons” (Dole!el 1998, 120). Another important attribute of norms is their imposition or cancellation, which are both manifested in a change of the deontic structuring of the given fictional world (cf. Dole!el 1998, 120–123). The third type of modal restrictions are axiological restrictions, delimiting areas of value, areas of non-value and areas without value in the fictional world. Value assignment seems to be attached to the individual subjects of the fictional world rather than its objective and objectivizable valorization, objective valorization often having a practical counterpart in a deontic structuring. “The valorization of the world is perhaps the strongest stimulus of acting: the presence of values and disvalues evokes desires and repulsions” (Dole!el 1998, 124). Finally there are epistemic restrictions, concerning knowledge, lack of knowledge and opinion in the fictional world. As with their types of restrictions, there are objective epistemic restrictions such as intersubjective systems of learning and knowledge of all kinds, and subjectivized epistemic restrictions, concerning the world outlook. Knowledge and attitudes of individual subjects, which more or less depend on the knowledge and attitudes characterising the whole society of the fictional world. Moreover: The person of the fictional world is an epistemic ‘monad’, perceiving himself or herself, other persons, and the entire world from a definite and distinct vantage point. The person’s practical reasoning and, consequently, his or her acting and interacting are to a high degree determined by this epistemic perspective, by what the agent knows, is ignorant of, and believes to be the case in the world. (Dole!el 1998, 126)

Modal restrictions provide a basic source of narrative tension. Dole!el states explicitly that “The deontic marking of actions is the richest source of narrativity; it generates the famous triad of the fall (violation of the norm – punishment), the test (obligation fulfilled – reward) and the predicament (conflict of obligations)” (Dole!el 1998, 121). 5.4. Having compared the approaches of the two theorists, it is clear that Vodi"ka’s concept “external world” cannot be equated with the concept of “fictional world” at all. To sum up, Vodi"ka’s fictional-fictive world

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(fiktivní sv"t) is a world which represents a specific literary reality, referring to a non-empiric, fabricated reality. In contrast, the fictional world (fik#ní sv"t) introduced by Dole$el is a world generated by a narrative text, a world which is fully homogenous from the ontological point of view. The differences between Vodi#ka’s and Dole$el’s concepts can be seen even at the level of thematic analysis: firstly, Vodi#ka argues that the “context of the external world” is firmly linked to thematic structures of the story and its character. Only then, on the grounds of the interrelation of these thematic elements, is the world of a literary artwork itself generated as a specific kind of literary reality. Dole$el calls this global dynamic linkage of thematic structures (levels) “fictional world” (it is, in fact, a narrative macrostructure). From this point of view, Vodi#ka’s “context of the external world” is but one part of the fictional world. Secondly, Dole$el does not subscribe to Vodi#ka’s “context of an external world”, preferring the traditional term used to refer to this thematic component – i. e. “setting” (prost!edí).44 Dole$el regards delimitation of the mutual relation between structural thematology (Dole$el 1995c) and narrative semantics as one of the basic tasks for the theory of narrative (Dole$el 1991; 1995b). He believes this task can be accomplished only within the framework of general text semantics. Dole$el uses his approach to show that the best way to cope with this agenda is to merge Frege’s semantics with the semantics of possible worlds. Dole$el’s link to the tradition of Czech structuralism is evident from the very strategies and procedures he uses in his extensional semantics of fictional worlds, aimed at an analysis of individual thematic structures: characters, story, interaction etc.45 His methodological procedures as well as analyses of these individual structures correspond to the thematological investigation implemented by Vodi#ka. The correspondence between both sets of procedural steps, adopted within the respective frameworks of structuralism and extensional semantics of fictional worlds, cannot be inferred via their detailed analysis and comparison alone; it is evidenced by a description presented by Dole$el himself: Structural thematology is extensional semantics of the narrative, studying structures of fictional world and its categories – story, acting characters, relations between characters, action, interaction, psychological motivation etc. (Dole$el 46 1991, 5)

_________ 44 45 46

Dole$el (1993a, 10); see also Dole$el (1969, 40). Dole$el (1980; 1995b). See also Dole$el (1995b, 91–93). A deeper discussion of these issues and related questions can be found in Dole$el’s Heterocosmica (1998).

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We can say that, in general, Vodi"ka’s concept of theme has informed Dole!el’s theory of fictional worlds to a considerable degree. It inspired him to a re-thinking and re-evaluation of the different types of thematic structures, a process which eventually – Dole!el argues – led to the concept of fictional world. In this context it is, however, worth recalling Dole!el’s studies dealing with style in modern Czech fiction, where he explains why it is important to distinguish between different speech act planes rigorously, and develops typologies of narrative speech acts. He is concerned – like his teacher Vodi"ka in The Beginnings of Modern Czech Prose – with the growing role of the narrator in narratives and with the growing subjectivization in the development of literary structures.47 5.5. It is not our claim to say that fictional worlds are another stage of Prague School structuralist thinking. It is nevertheless evident that the tradition is “implicitly” contained in the theory. This is clear from the beginning of Dole!el’s discussion where he speaks of extensional and intensional fictional world structuring, i. e. about what is said and how it is said. Fictional worlds as semiotic entities are naturally conceived through language – meaning that both extensional and intensional fictional world structurings depend on the linguistic message, but while the intensional structure directly depends on the form of this message (and is thus unique), the extensional structure is paraphraseable. The extensional structure refers to the world of the artwork where events are taking place; the intensional structure refers to the code in which the world has been created. We are approaching by detour concepts such as ‘the world of the artwork’, on the one hand, and the ability of poetic language to claim attention, on the other; it would, however, be a mistake to claim that Dole!el’s intensional function has the same basis as the poetic function of language studied by formalists and structuralists. First of all, intensional function is a function neither of the language nor of the artwork, it is a function mapping the texture onto the fictional world and therefore plays a crucial role in structuring this world. Dole!el does not deal with the pragmatic aspect of the aesthetic effect of literature on an aesthetic platform, but claims in general that intensional function characterises all language communication, structuring narrative worlds constituted by narratives and constructing fictional worlds in fictional narratives, in specific ways. It should, on the other _________ 47

For instance the conclusion of Vodi"ka’s analysis of the role of direct speech in epic fiction is that its use has the effect of (1) changing the narrative subject; (2) changing the temporal co-ordinates of the text; (3) endowing the artwork with a clearer differentiation between the character and its communicative acts on the one hand, and the external world on the other. Cf. Vodi"ka (1948, 234– 235).

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hand, be emphasised that Dole"el’s inquiry into intensional functions is linked to an analysis of stylistic aspects of narrative strategies, conventions and their development to such an extent that it, in a certain respect, touches upon the structuralist idea of processes of familiarization and defamiliarization operating in poetic texts. If the idea of familiarization and defamiliarization has made structuralists explore the stylistic qualities of individual narratives and their segments in detail (both synchronically and diachronically), Dole"el’s intensional functions can be viewed as a sophisticated consequence of this process. 5.6. Fictional worlds, however, do not confine us to talking about the history the Prague School.48 Let us emphasise that among other concepts which are considered crucial in the Czech literary theoretical environment, and which Dole"el leaves aside, there is the notion of the subject in literature.49 Therefore, in the last part of this study we would like to draw attention to the way in which Miroslav #ervenka belonged to the group of direct ancestors of the Prague School in the fields of aesthetics and versology, and thus, secondly, tried to apply fictional world semantics to these two traditional fields of Czech structuralist investigation. In his book Fictional Worlds of Lyric Poetry #ervenka (2003) significally redesigns standard fictional worlds semantics with regard to the crucial topics of traditional Prague School investigation. First of all he connects fictional worlds to the notion of the subject of a lyrical work: “A fictional world of a lyric poem is represented by its subject” (#ervenka 2003, 23). In this respect it could be suggested that #ervenka’s understanding of fictional worlds significantly differs from that of Dole"el’s. Whereas Dole"el consideres fictional worlds to be ultimate semantic frames for literary reference, #ervenka, having suggested that fictional works of lyric poetry are represented by its subject, views the fictional worlds of poems as objects of a make-believe game of the subject of the work, who is placed above the fictional world. #ervenka, following Muka!ovsk$’s notion of the “semantic gesture”, one of the most significant concepts of the Prague School heritage, considers the subject of a lyric artwork the ultimate base for a unified meaningfulness of the work. But why does #ervenka employ this specific notion of Prague School investigation, which is not traditionally connected with fictional worlds semantics? In the Prague School inquiry, the subject plays a very important role in the process of literary creation, reception and communication. It is the subject-author who guarantees the unity of the construction of the _________ 48 49

See esp. Fo!t, Jedli%ková (eds. 2006). Dole"el (2006b).

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meaning of the work, and, on the other hand, it is the subject-reader who receives and uncovers the meaning; thus the subject of the work is a category which determines the very core of the possibility of literary communication, of the transmission of meaning. It is obvious that for the purpose of any literary theoretical investigation it is necessary to distinguish between the subject of the work and authors and readers: whereas the author and the reader belong to our actual world, the subject belongs to a world of a different ontological status; the subject of the work represents a semantic category which enables a literary artwork to function as a specific aesthetic message and thus keeps a position external to the fictional world to which the work refers. However, where then is the subject situated, if not in the fictional world? What domain does the subject belong to? To answer this question "ervenka uses a theoretical solution suggested by Kendall L. Walton, who differentiates between a fictional world constituted by a literary work and a fictional world that involves the former and uses it as an object of a game: There are fictional worlds of games of make-believe, fictional worlds of representational works, and fictional worlds of dreams and daydreams […]. Among game worlds are the worlds of games in which representational works are props. (Walton 1990, 58–59)

"ervenka uses the world-of-game in order to accommodate elements of the meaning-constitution of a literary work that, according to him, do not belong to the fictional world itself, for example the subject of the work: Exactly here, not in the spectral domain of the fictional world of a work, but in the domain of dealing with the world, we find a place to locate the work’s subject as a carrier of the creative activities leading to the origin of the work.

"ervenka (2003, 43) calls the domain “a sphere of play and contemplation, of playful contemplation, of contemplated play”. Thus, the fictional worlds of lyric poetry are actually objects of play of their subjects. The fundamental difference between Dole!el’s and "ervenka’s concepts of fictional worlds is that Dole!el’s concept does not have room for speculative questions concerning the meaning of the artwork and its role in human existence, which are symtpomatic of the whole Czech structuralist tradition. His concept provides a systemic integrated framework linking individual layers of the narrative with semiotic concepts. In contrast, "ervenka puts more emphasis on the creative-reception side of the communicative process, which is grounded in philosophical starting points within Prague School aesthetics and its tradition.50 It is nevertheless important that fictional worlds returned to a point or shared origins _________ 50

For a detailed comparison of both approaches see Fo#t (2005, 77–80; 2006).

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and can thus contribute to the much desired plurality of literarytheoretical inquiry in the Czech context.

6. Conclusions 6.1. When we speak about the sources of inspiration for the theory of fictional worlds, emphasis is usually placed on the following: possible worlds of logical semantics, theory of action, general semiotics and semantics, and cognitive science. Nevertheless, the influence of structuralist theory is not usually strongly emphasised. We believe that apart from a general structuralist assumption, which is reflected in the general shape of fictional words as structured entities based in language and its semiotic possibilities, it should be kept in mind that in the most systemic proposal in the theory of fictional worlds, i. e. Dole"el’s, fictional worlds are connected with both Prague School stylistics (intensional function) and Prague School narratology (world as a narratological entity). One might say that fictional worlds are interconnected with the tradition of Czech structuralism at yet another level, although in a weaker way. We are alluding to the similarities stemming from the fact that some structuralists pay attention to worlds of literature as products of artistic representation. In this context it may be pointed out that more or less any line of literary-theoretical inquiry assuming that entities produced by literary artworks may be, in a certain sense, viewed as specific worlds will be connected with the theory of fictional worlds. As far as the Prague School is concerned, comments relating to certain, mainly thematological or general-narratological aspects of fictional worlds or their extensional structuring, may be identified. These are predominantly characteristics linked to plot or narrative tension, leading to typological considerations. Vodi#ka, for instance, in his Beginnings of Modern Czech Prose (1948) describes the stories of individual works in connection with the tension (of the story-line) and the plots51 in a such a way that these descriptions resemble fictional-world discussions of the effect of conflict and tension within fictional universe constellations. (It needs to be emphasised, nevertheless, that we are concerned with the domain of general narratology rather than any field fictional worlds semantics could claim as exclusively its own area of interest.) Another resemblance of this kind is Muka!ovsk$’s attempt to develop a typology of fictional processes by which he partly anticipated _________ 51

See for instance his typology of plots (Vodi#ka 1948, 240–242) or his discussion of the relation between the story and the plot (Vodi#ka 1948, 295).

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Dole!el’s fictional worlds consisting of natural forces, objects and actors and patients. With Muka"ovsk# (1938a, 385) we are, however, at the reception-causal rather than the ontological level on which fictional entities exist. 6.2. But let us return to the very beginning of our argument, to the opening question seeking the cause for the shift in Dole!el’s use of the term “world” in his discussion of Comenius. Our comparison of Dole!el’s, Muka"ovsk#’s and Vodi$ka’s respective concepts of “world” shows that in his older treatment of narrative modes in Czech literature, Dole!el uses the term “world” to refer to the “world of the literary work”, i. e. a world we can regard as equal to Vodi$ka’s “fictive world”, a world presenting an autonomous literary reality, but at the same time referring to non-empirical, construed reality. In contrast, the term “fictional world” found in Dole!el’s Narrative Modes from 1993, refers to worlds generated by narrative texts, worlds which are entirely homogenous from an ontological point of view, and of which it can be said that “the structure of the fictional world is underlain by the structure of the narrative text” (Dole!el 1993a, 55). The shift in Dole!el’s approach to his own book, adjusted and reassessed in terms of his new scholarly interests relating to issues of semantics of literary fiction, logic and theory of fictional worlds, does not mean he abandoned his methodological (structural) starting points in any way. Although this shift in Dole!el’s reasoning may be characterised as a smooth shift from structuralism to poststructural agenda and to the theory of fictional reference, the view is but a cursory one, neglecting what Dole!el himself has to say about this movement, i. e. that “the basic principles of the Prague School have nevertheless survived the confrontation with recent development on the international scale and have remained the ground in which my own theory and methodology are rooted” (Dole!el 2005, 248). 6.3. The aim of the study was to present some aspects of fictional worlds in the wider perspective of the Czech structuralist tradition. In conclusion, what we would like to emphasise is that the way in which fictional worlds are, to some degree, founded in Prague structuralist thought enables us not only to confront them with the structuralist tradition itself but also to apply them back to that tradition and thus enrich the tradition with different perspectives and stimuli.

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Index der Namen Abbott, H. Porter 3, 36, 306, 310 Aleksandrov, Aleksandr D. 155, 183 Ambros, Veronika 261, 270 Apuleius 130 Aristoteles 6, 123, 255, 257, 270 Aronson, Mark I. 199, 229 Artaud, Antonin 255 Arutjunova, Nina D. 203, 229 Aumüller, Matthias V, VII, 7, 14–15, 36, 91, 121, 135, 163, 189, 229 Austin, John Langshaw 337 Averincev, Sergej S. 207, 229 Bachtin, Michail M. IX, 29, 158, 188– 189, 200, 203, 206–214, 224, 229, 278, 304 Bailey, Richard W. 316, 346 Bako!, Mikulá! 4 Bal, Mieke, 32–34, 36, 225, 326 Bally, Charles 325 Barba, Eugenio 269 Barck, Karlheinz 93, 135 Barthes, Roland 2, 29, 36, 49, 87, 142, 169, 182–183, 201, 217, 221, 229, 242, 246, 256–257, 270 Bartoszy"ski, Kazimierz 225, 227, 229 Bazin, André 244, 225, 227, 229, 242 Beck, Rudolf 1, 36 Be#ka, Josef Václav 322–324, 346 Belyj, Andrej 51, 66, 87, 195, 229 Benveniste, Emile 29, 36 Bern!tejn, Sergej I. 297, 310 Bílek, Petr A. 221, 230 Biti, Vladimir 1, 49, 133, 135 Blagoj, Dmitrij D. 187 Blok, Aleksandr A. 198 Blumenberg, Hans 169 Bo#arov, Sergej P. 207, 229

Boccaccio, Giovanni 118 Bogatyrev, Petr G. X, 240, 246–247, 259, 261, 270 Bojtár, Endre 224, 230, 313, 346 Booth, Wayne C. IX, 189, 223, 227, 230 Bordwell, David 3, 36, 242–243, 264, 266–267, 270 Bourbaki, Nicolas 155 Bracher, Hans 117–119, 135 Brecht, Bertold 26, 240 Bremond, Claude 30, 36, 182 Brik, Lilja 93 Brik, Osip 93–94 Brojtman, Samson N. 206, 236 Brook, Peter 269 Brooks, Cleanth 2, 36 Brooks, Peter 2–3, 36 Bruner, Jerome 36 Buchholz, Sabine 3, 36 Budzyk, Kazimierz 224 Bühler, Karl 244, 263, 270, 276, 310, 314, 322 Bunin, Ivan A. 16, 18–20 Burch, Noël 242 $apek, Karel 277, 323 Carroll, Noël 250–251, 270 Castellucci, Romeo 255 $echov, Anton P. 96 $elakovsk%, Franti!ek Ladislav 280 $erny!evskij, Nikolaj G. 206 Cervantes, Miguel de 10, 60 $ervenka, Miroslav IX, 216–217, 220–223, 230, 304, 310, 314, 317, 319, 342–343, 346 Chan-Magomedov, Selim 93, 135 Chaplin, Charlie 247, 249, 260, 262 Chariton 131

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Index der Namen

Charpa, Ulrich 197, 230 Chateaubriand, François-René de 275, 282 Chatman, Seymour 2–3, 30, 36, 290, 307, 310 Chlebnikov, Velimir V. 51, 64, 70 Chomsky, Noam 68 Christiansen, Broder 121 Chvatík, Kv!toslav 218, 230, 313, 314–315, 322, 326, 346 Cicero 59 Cilevi", Leonid M. 27, 37 Cohn, Dorrit 2, 37, 326, 346 Collins, Christopher 81, 87 Comenius, Johann Amos 316, 323, 345 Craig, Edward Gordon 255 Crane, R. S. 2, 37 #udakov, Aleksandr P. 203–204, 230 Culler, Jonathan 3, 37 Daimer, Emma 116 Dane$, Franti$ek 314, 346 Dannenberg, Hilary P. 3, 37 Danto, Arthur C. 145, 183 Davydov, Sergej A. 103, 135 Davydova, Tat’jana 81, 87 De Man, Paul 199, 230 Dehne, Marianne V Delluc, Louis 243 Dewey, Michael 14, 37 Dibelius, Wilhelm VIII, 14, 37, 115, 135 Dickens, Charles 112 Dmitriev, Aleksandr N. 93, 98, 135 Dole%el, Lubomír V, XI, 14, 21, 37, 91–92, 94–96, 103, 114–115, 117, 123–129, 131–133, 135, 274, 284, 296, 310, 313–318, 321–327, 329– 346 Dostoevskij, Fedor M. 69, 92, 112, 113, 194, 196, 204 Drozda, Miroslav 199, 230, 332, 348 Du$e"kina, Elena V. 230 Duvakin, Viktor D. 99, 135

Eagle, Herbert 239–240, 246–247, 249–250, 256, 260, 270 Eco, Umberto 223, 230, 246, 315, 335, 348 Egorov, Boris F. 28–29, 37, 215, 230 &jchenbaum, Boris M. X, 61, 87, 91– 94, 97–100, 102, 106, 111–112, 124, 135–136, 239, 243–244, 246, 248, 251–252, 257–258, 270 &jzen$tejn, Sergej M. 69, 240, 249, 252–255, 268, 270 Elam, Keir 246 &ngel’gardt, Boris M. 98, 204, 231 Erlich, Victor 1, 26, 37, 97–98, 100– 101, 121, 136, 188, 231, 319, 348 Ewald, Karl 117, 127–128, 136 Fiedler, Konrad 123 Fieguth, Rolf 224–226, 228, 231 Fischer-Lichte, Erika 246 Fi$er, V. M. 133, 136 Flaker, Aleksandar 189, 231 Flechtner, Hans Joachim 150, 166, 183 Fleischer, Michael 149, 183 Flej$man, Lazar’ S. 21, 37 Fludernik, Monika 2, 37, 80, 87 Flügge, Manfred VII, 74–75, 87 Forster, Edward Morgan 2, 37, 146, 183, 326, 348 Fo't, Bohumil V, XI, 330, 343, 348 Foucault, Michel 189, 201 Frank, Gustav 183 Frege, Gottlob 340 Freise, Matthias 209, 210–211, 228, 231 Freytag, Gustav 116, 136 Friedemann, Käte 115, 274, 292, 310 Galan, Franti$ek William 313, 348 Galton, Antony 159, 183 García Landa, José Ángel 2–3, 6, 33– 34, 38–39 Gasparov, Michail L. 70, 87 Geller, Martha 120, 136

Index der Namen

Genette, Gérard 8, 32, 34, 38, 114, 134, 146, 162, 184, 193, 221, 242, 288, 309, 326 Gfrereis, Heike 1, 38 Ginzburg, Lidja Ja. 215 Gippius, Vasilij V. 133, 136 Gir!man, Michail M. 212 G"owi#ski, Micha" 224, 227, 231 Goethe, Johann Wolfgang von 47, 87, 103, 111, 126, 142 Gogol’, Nikolaj V. 47, 165, 194, 196, 204, 254 Gogoti!vili, Ljudmila A. 187, 207, 209–211, 231 Goldstein, Moritz 117–119, 136 Goldt, Rainer 85, 87, 193, 231 Gölz, Christine V, IX Gorskij, Ivan K. 53, 87 Greimas, Algirdas J. 30, 38, 74, 182 Griffith, D. W. 249 Grimm, Jacob 184 Grimm, Jacob und Wilhelm 169, 175 Grishakova, Marina 199 Grossman, Leonid P. 92, 136 Grotowski, Jerzy 254–255, 269 Groys, Boris E. 207, 232 Grübel, Rainer 1, 38, 133, 136, 200, 202, 208, 232 Gruzdev, Il’ja A. IX, 192–200, 205, 214, 232 Grygar, Mojmír 314, 317, 321, 348 Grzybek, Peter 149, 184 Günsberg, Maggie 6, 38 Günther, Hans 224 Gurevi$, Stella 252, 270 Gus’kova, Anna 200, 232 Gu!anskaja, E. M. 37 Gvozdev, Aleksej A. 253 Hamon, Philippe 290, 307, 310 Hankiss, Janos 332 Hansen-Löve, Aage VII, 3–4, 13–14, 21, 35, 38, 49–50, 52, 60, 63–68, 78, 87, 91, 93–94, 98, 100–103, 106, 109, 121–122, 124, 136, 193,

355

196–197, 199, 204, 210, 232, 319, 348 Harper, Kenneth E. 1, 38 Haskelson, Paya 253 Hauschild, Christiane V, VIII, 27, 38 Hausenblas, Karel 323, 332, 346, 348 Havránek, Bohuslav 285, 313, 318, 322 Heine, Heinrich 10 Heliodoros 131 Heller, Leonid 81, 87 Hennig, Anke 58, 88 Herbart, Johann Friedrich 285 Herman, David 274, 277, 329, 348 Heyse, Paul 104, 116, 120–121, 136 Hildebrand, Adolf 116, 122–123, 136 Hitchcock, Alfred 249 Hjelmslev, Louis 148–149, 155, 165, 167 Hoffmann, E. T. A. 117–118 Holenstein, Elmar 99, 137 Hostinsk%, Otakar 285 Hühn, Peter 142, 184 Husserl, Edmund 99, 217 Ibler, Reinhard 232 Ingarden, Roman XI, 217, 220–221, 224–225, 281, 284, 286, 310, 327– 330, 337, 348 Iser, Wolfgang 69, 220, 223, 232, 274, 277, 337 Ivan$ikova, E. A. 202, 232 Ivanov, Vja$eslav I. X, 240, 270 Jahn, Manfred 1, 38, 80, 88 Jakobson, Roman O. VII, X, 7, 9, 38, 49–54, 63–66, 88, 93–94, 101, 107, 137, 163, 198–199, 216, 232, 240, 244, 248–249, 261, 264, 267, 270, 281, 313–314, 319, 322, 331, 348 Jakubinskij, Lev P. 107, 137, 277, 310 Jampol’skij, Isaak G. 215 Jankovi$, Milan 304, 310 Jannidis, Fotis 144, 232

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Index der Namen

Jarcho, Boris I. 101, 137 Jauß, Hans Robert 220 Jedli!ková, Alice 332, 348 Jefferson, Ann 94, 137 Jelínek, Milan 322, 349 Jungmann, Josef 275, 282, 284, 290, 300, 302, 330, 349 Ka!er, Miroslav 217, 233 Kafalenos, Emma 3, 38 Kant, Immanuel 154–155, 160, 184 Karcevskij, Sergej O. 285 Kataev, Vladimir B. 200, 233 Kaulbach, Friedrich 155, 184 Kazanskij, Boris V. 258–260, 271 Keaton, Buster 260 Keiter, Heinrich 116, 137 Kellen, Tony 116, 137 Keller, Gottfried 118 Kellog, Robert 2, 41 Kenigsberg, Maksim M. 133, 137 Kindt, Tom 190, 228, 233 Korman, Boris O. IX, 189–190, 202, 211–215, 233 Kostkiewiczowa, Teresa 227 Ko"inov, Vadim V. 27–28, 38 Kraan, Menno 226, 233 Krah, Hans 142, 184 Kridl, Manfred 224 Kripke, Saul 315 Kristeva, Julia 142, 184 Krivonos, Vladislav !. 212 Kroll, Walter 224–225, 233 Krylov, Ivan A. 17 Kubí!ek, Tomá# VI, XIII, 287, 310 Kubrick, Stanley 249 Kule#ov, Lev V. 252 Kundera, Milan 323 Küster, Hildegard, 1, 36 Küster, Martin, 1, 36 Lachmann, Renate 26, 38, 121 Lanser, Susan S. 221, 233 Laudan, Larry 317, 349 Lauschus, Leo 120, 137 Lazarus, Moritz 163

Leech-Anspach, Gabriele 81, 88 Lehmann, Rudolf 116, 137 Leicht, Richard 116 Lejtes, Natalija 212 Lermontov, Michail Ju. 29, 255 Lessing, Gotthold Ephraim 254 Lev!enko, Jan 93, 98, 135 Levin, Viktor 187 Lévi-Strauss, Claude 182 Lev$, Ji%í 314 Leyda, Jay 255, 271 Licha!ev, Dmitrij S. 187, 200–201, 233 Linda, Josef 282, 294–295, 298–299, 333 Litzmann, Berthold 116–117 Ljutikova, Evgenija V. 199, 233 Longos 131 Lothe, Jakob 3, 39 Lotman, Jurij M. VIII, X, 22, 26–28, 39, 141–143, 146–184, 198–199, 211, 215, 224, 233, 240–243, 245, 259, 265–269, 271 Lukas, Wolfgang 183 Lunc, Lev N. 193 Maazel, Lorin 68 Mácha, Karel Hynek 277, 280 Majakovskij, Vladimir V. 255 Malmgren, Carl D. 199, 234 Mandel’#tam, Osip &. 35, 39 Margolin, Uri 101, 137 Marinis, Marco de 246 Markiewicz, Henryk 224, 234 Martin, Thomas L. 335, 349 Martínez, Matías 1–3, 39, 142, 184, 315–316 Matejka, Ladislav 315–316 Mathesius, Vilém 285, 313, 322 Maupassant, Guy de 14, 96, 100, 110 Medvedev, Pavel N. 95, 121–123, 137 Meerzon, Yana V, X, 246 Meister, Jan Christoph 142, 144, 184 Mejerchol’d, Vsevolod &. 240, 252, 254–255 Meschkowski, Herbert 155, 184

Index der Namen

Metz, Christian 246, 267, 271 Meyer, Richard M. 1, 39, 116, 137 Miall, David S. 94, 137 Mühlbacher, Georg 116 Muir, Edwin 2, 39 Muka!ovsk", Jan XI–XI, 4, 39, 216– 223, 234, 240–241, 244–245, 254, 259, 261–263, 265–266, 271, 274– 282, 284–285, 288, 304–306, 308–310, 313–314, 316–317, 319– 322, 326, 327–332, 342, 344–345, 349 Müller, Günther 292, 311 Müller, Hans-Harald 116, 122, 137, 190, 228, 233 Nabokov, Vladimir V. 47, 88 Nekljudov, Sergej Ju. 160, 185 Nelles, William 3, 39 N#mcová, Bo$ena 277 Novák, Arne 285 Nünning, Ansgar 1, 39, 234 Nünning, Vera, 1, 39 O’Toole, Michael 68, 88, 94, 138 Oatley, Keith 3, 39 Okopie%-S&awi%ska, Aleksandra 225– 227, 234 Onega, Susana 3, 39 Onu'kov, Nikolaj E. 56, 88 Oppel, Horst 47, 88 Os’muchina, Ol’ga Ju. 199, 234 Ostrovskij, Aleksandr N. 253 Palmieri, Giovanni 189, 234 Paulmann, Inge 52, 88 Pavel, Thomas G. 315, 335, 350 Pavis, Patrice 246 Permjakov, Grigorij L. 76, 88 Petrovskij, Michail VI–VIII, 13–17, 24, 31, 40, 61, 88, 91–114, 118, 121, 124, 126, 130, 132–134, 138 Petsch, Robert 274, 284, 295, 311, 332, 350 Pier, John 3, 40

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Piotrovskij, Adrian 253, 255–256, 258, 271 Pjatigorskij, Aleksandr M. 150, 184– 185 Plumpe, Gerhard 150, 185 Pölitz, K. H. L. 284 Popova, Irina M. 207, 234 Potapova, Galina V, 12 Potebnja, Aleksandr A. 76, 88 Prince, Gerald 144–145, 148, 185 Propp, Vladimir Ja. 30, 40, 69, 70, 149, 161–162, 169–170, 173–174, 177–179, 182, 185, 274 Pucsko, Rudolf 116 Pu(kin, Aleksandr S. VII, 12-13, 76, 94, 96, 109, 168 Quinn, Michael 240, 259–260, 262– 263, 271 Rais, Karel Václav 323 Reformatskij, Aleksandr A. VII, 13, 60–63, 88, 91–92, 94–96, 99, 103, 110, 113, 133, 138 Renner, Karl Nikolaus 141, 156–157, 180, 185 Richardson, Brian 3, 40 Ricœur, Paul 3, 40 Riemann, Robert 126, 128, 138 Riffaterre, Michael 49, 88 Rilke, Rainer Maria 50 Rimmon-Kenan, Shlomith 2, 31–32, 34, 40 Ronen, Ruth 315, 335, 350 Rosenberg, Rainer 122, 138 Rozik, Eli 246, 249, 271 Russell, Bertrand 71 Ryan, Marie-Laure 315, 335, 350 Rybnikova, Marija 192, 235 Rymar’, Nikolaj T. 29, 40, 202, 212, 235 )alda, F. X. 285 Samorukova, Irina V. 190, 235 Saussure, Ferdinand de 148, 322, 334

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Index der Namen

!"eglov, Jurij K. VII, 68–75, 88, 90 !"erbina, Vladimir 187 Schardt, Reinhold 1, 40 Scheffel, Michael 1–2, 39, 142, 184 Scheffler, Leonore 81, 89 Scherer, Wilhelm 115–116, 139 Schiller, Friedrich 17 Schissel von Fleschenberg, Otmar VIII, 14–15, 40, 105, 114–115, 124– 132, 139 Schmid, Herta 210, 217–218, 220, 222, 232, 235 Schmid, Wolf 4, 8, 20, 33–34, 41, 48, 50, 76, 80, 89, 94, 108, 118, 126, 139, 142, 144, 146, 162, 167, 175, 180, 185, 202, 206, 209, 215, 217, 220–221, 225–228, 235, 241, 247, 271, 274, 325–326, 350 Schmidt, Erich 115 Scholes, Robert 2, 41 Schönbach, A. E. 125 Schönert, Jörg 143, 185 Schulz, Christiane 3, 41, 95, 139 Schulze-Witzenrath, 1, 41 Schutte, Jürgen 41 Schwarz, Wolfgang F. 217 Schwarze, Hans-Wilhelm 41 Seemann, Klaus-Dieter 22, 24, 41 Servius Sulpicius 59 Settig, Leopold 116 Seuffert, Bernhard VIII, 14, 115, 124– 129, 139 Shakespeare, William 72 Shane, Alex M. 81, 89 Sheldon, Richard 52, 57, 89 Shen, Dan 3, 41 Sherwood, Richard 4, 41, 42 Shukman, Ann 94, 139 Simmel, Georg 11, 33, 42 Skaftymov, Aleksandr P. 69, 89 !klovskij (Chklovski), Viktor B. VI– VII, X, 1–16, 19, 21–22, 24–26, 29, 31, 33–35, 42, 47–52, 54–61, 63, 70, 75, 89, 91, 93–94, 100, 102, 110–111, 113–114, 121, 124, 126, 132, 139, 162, 191, 193, 235, 239,

243, 252–254, 262–263, 265–266, 271, 284, 285 Skobelev, Vladislav P. 202, 212, 235 Sládek, Ond#ej V, XI, 313–314, 322, 330, 338, 350 S$awi%ski, Janusz 202, 206, 224, 226–227, 236 Slonimskij, Aleksandr L. 92, 139 Smith, Barbara Herrnstein 68, 89 Sokolov, Aleksandr N. 200, 236 Sonesson, Göran 149, 185 !or, Rozalija O. 14–15, 43, 95, 115, 117, 124–125, 139 Speck, Stefan 9, 43, 150, 152, 186 !pet, Gustav G. 61, 98 Spielhagen, Friedrich 115–116, 139, 292, 311 Spitzer, Hugo 128–129, 139 Stanzel, Franz 288, 291, 326 Star&, Zden'k 318, 350 Steiner, H. G. 155, 186 Steiner, Peter 93, 98, 102–103, 121, 135, 139, 198, 236, 315, 319, 350– 351 Steinthal, Hermann 163 Stempel, Wolf-Dieter 43, 121 Stendhal 101 Sternberg, Meir 134, 139, 242 Sterne, Laurence 57, 59 Stierle, Karlheinz 33–34, 43, 80, 89 Strekopytov, Sergej A. 93, 139 Striedter, Jurij 43, 121, 191, 236–237, 281–282, 304–305, 311, 319, 351 Svitel’skij, Vladimir 212 Taborisskaja, E. M. 37 Tamar"enko, Natan 206, 212–213, 236 Tarde, Gabriel 277, 311 Tasso, Torquato 6 Thompson, Kristin 270 Tieghem, Paul van 311 Timofeev, Leonid I. 187 Titzmann, Michael 141, 157, 180, 186 Tjupa, Valerij I. 206, 212, 236 Toddes, Evgenij A. 230

Index der Namen

Todorov, Tzvetan 2, 4, 12, 21, 24, 29–30, 34, 43, 76, 89, 143, 182, 186, 241–242, 272 Tolkien, J. R. R. 48 Tolstoj, Lev N. 10, 56, 59, 61–63, 70, 97, 101–102, 112, 204 Toman, Jind!ich 351 Toma"evskij, Boris V. VI, 1–2, 13, 21–28, 30–32, 34, 43, 109, 140, 163, 186, 199, 201, 236, 241, 272, 284, 288, 297–298, 311, 332, 351 Toporkov, Andrej L. 170, 186 Toro, Fernando de 246 Tret’jakov, Sergej M. 253 Trier, Lars von 249 Trnka, B. 313 Trubetzkoy, Nikolaj S. 313 Turgenev, Ivan S. 10, 113 Tynjanov, Jurij N. IX–X, 2, 12, 18– 19, 44, 48, 63, 89, 91, 93, 98, 101, 106–107, 140, 193, 196, 198, 203, 236, 239, 243–246, 248–250, 264, 272 Ubersfeld, Anne 246, 257, 272 Uspenskij, Boris A. 151, 186, 214–215 Vachek, Josef 313, 317–318, 351 Váhala, Franti"ek 346 Van#ura, Vladislav 277, 280, 323 Vachtangov, Evgenij B. 252 Veksler, Aleksandra 192, 195, 236 Veldhues, Christoph 188–192, 196– 199, 206, 227–228, 237 Veltrusk$, Ji!í X, 240–241, 255, 259, 261, 263–264, 266, 272, 314, 320, 351 Vertov, Dziga 252 Veselovskij, Aleksandr N. 4–5, 44, 48, 53, 163–164, 169, 170, 174, 186, 204 Vinogradov, Viktor V. IX, 133, 140, 187–190, 193, 200–208, 211–214, 224, 227–228, 237 Vinokur, Grigorij O. 199, 237

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Vodi#ka, Felix V, X–XI, 219, 274– 275, 277, 280–306, 308–309, 311, 313, 316–317, 321, 330–334, 339– 341, 344–345, 347, 351 Vogt, Jochen 1, 44 Volek, Emil 2–3, 7, 12, 21, 44, 315, 317, 351 Volo"inov, Valentin N. 203, 237 Vygotskij, Lev S. VI, 16–21, 31, 44 Waldhausen, Agnes 117–119, 140 Walton, Kendall L. 343, 351 Walzel, Oskar 100, 115–117, 121–122, 129–130, 274 Warren, Austin 1–2, 44 Warren, Robert Pen 2, 36 Weisgerber, Leo 156 Wellek, René 1–2, 44, 314, 319, 352 West, Russel 7, 44 White, Hayden 3, 45 Williams, Gareth 68, 71, 89 Wimmer, Rainer 48, 90 Winko, Simone 224, 237 Wolf, Werner 183, 186 Wolff, Erwin 223, 237 Wölfflin, Heinrich 116, 121–122, 140, 191 Worringer, Wilhelm 121–123, 140 Wóycicki, Kazimierz 224 Wright, Georg H. von 315 Xenophon 127, 131 Zamjatin, Evgenij I. 79–82, 85–86 Zareckij, V. A. 37 Zelenin, Dmitrij 173 Zenkin, Sergej N. 190 Zich, Otakar X, 262–263, 272 Zima, Petr V. 320, 352 %irmunskij, Viktor M. 13–14, 45, 95, 100–101, 107, 124, 136, 140, 224 %olkovskij, Aleksandr K. VII, 17, 45, 68–75, 90 Zuschlag, Katrin 3, 45