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German Pages [280] Year 2000
Bauwelt Fundamente 92
Herausgegeben топ Ulrich Conrads und Peter Neitzke Beirat: Gerd Albers Hansmartin Bruckmann Ludus Burckhardt Geriiard Fehl Herbert НбЬпег Julius Pbsener Thomas Sieverts
Adolf Max Vogt Russische und französische Revolutions-Architektur
1917 · 1789
Friedr. Vieweg & Sohn
Brannschweig/Wiesbaden
Erste UmscHagseite: О. Leonidow, Lenininstitut, Modell Vierte Umschlagseite: С N. Ledoux, Entwurf zu einem Wandbild für den Friedhof der Stadt Chaux.
Reprint der t Auflage 1974, erschienen im DuMont Buchverla^ Köln, mit einem Vorwort des Autors Der Verlag Vieweg ist ein Unternehmen der Verlagsgruppe Bertelsmann International. Alle Rechte vorbehalten © Friedr. Vieweg & Sohn Verlagsgesellschaft mbH, Braunschweig 1990 Umschlagentwurf: Helmut Lortz Satz: Satzstudio Frohberg Freigericht Druck und buchbinderische Verarbeitung: Lengericher Handelsdruckerei, Lengerich Printed in Germany
ISBN 3-526-08792-7
ISSN 0522-5094
Meinen Brüdern Armin und Willi in Erinnerung an Werner Vogt (1898-1972)
1789,1917 - Zweimal das Gleiche? Bemerkungen zur Neuauflage „Revolutionsarchitektur" ist für viele ein ärgerlicher Begriff - und doch hat sich die Etikettierung (geschaffen von Emil Kaufmann, dem Wiederentdecker dieser merkwürdigsten, irritierendstea provozierendsten Phase der französischen Architekturgeschichte überhaupt) hartnäckig eingebürgert und behauptet. Sie scheint etwas zu umfassen, was da ist und wiederum nicht. „Da" nämlich in den Köpfen und durchaus auch auf dem Papier oder auf der Leinwand (was für Malerei völlig hinreichend wäre), aber eben nur zum kleinsten Teil als Bau. Dieses Verwirrspiel zwischen „da' und „nicht da' scheint sogar vor dem weit gedehnteren Horizont der politischen Geschichte zu existieren und aktuell zu sein - das Jahr 1989 ist dafür ein Musterbeispiel. War die „Revolution" noch „da", oder keineswegs mehr, als die heutigen Franzosen sich anschickten, die Zweihundertjahrfeier für 1789 zu begehen? Einer der Wortführer dere Historiker, François Furet, erklärte die Postulate von damals als heute weitgehend erfüllt. Das Szenario der großartigsten Neuerungen und der fürchterlichsten Grausamkeiten zugleich habe sich zwar, so Furet, weit in das 19. Jahrhundert hinein ausgewirkt, nun aber erscheine es doppelt aufgehoben - entweder erfüllt oder irrelevant geworden. Doch kaum war das Quatorze Juillet abgefeiert, regten sich im Osten Europas unerwartete Stimmea Sämtliche Randstaaten des Ostblocks, von Polen im Norden bis Bulgarien im S ü d e a begann sich freizumachen von ihren Fesseln. Auch bei dieser Befreiungsaktion wird man sich einst darüber streiten: Waren es Revolutionen oder rücht? Doch eines wird niemand leugnen: Daß der Drehund Angelpunkt auch im osteuropäischen Befreiungsprozeß von 1989 ein kurzes, 17 Artikel umfassendes Schriftstück gewesen ist, die Erklärung der Menschenrechie. Diese „Declaration des Droits de l'Homme et du Citoyen' vom 26. August 1789 erscheint uiw heute als das Lebendigste und Großartigste, das die Turbulenz von 1789 hervorgebracht hat.
Selbstverständlich war die Revolutioiisgeneration der Meinung, auch die Architektur liege darnieder. D o c h das Heilmittel, das als Rettung gepriesen wurde, war gerade nicht (wie heute noch oft behauptet wird) der Rückgriff auf das Muster des griechischen Tempels. Denn die Autorität wird für aufgeklärte Revolutionäre nicht, wie kurz zuvor (und bald wieder) üblich, im Rückgriff auf ein bestimmtes altes Muster gefunden, sondern in der Glorifizierung einer bestimmten geistigen Disuiplin, der Geometrie. S o hat der Architekt Dufourny, als Abgeordneter der Convention, im S o m m e r 1793 tatsächlich gefordert: „L'Architecture doit se régénérer par la Géométrie." Damit ist eine „Culte de la Géométrie" entstanden, parallel zum „Culte de la Raison". Die Vernunft, von der Aufklärung so sehr in den Verdergrund gestellt, findet ihre geschwisterliche Entsprechung in der Geometire. Fünf Vierteljahrhunderte später waren die russischen Revolutionäre zwar orientiert über den Culte de la Raisorv aber sie konnten kaum etwas wissen vom Culte de la G é o m é trie in der Architektur. Warum, habe ich auf Seite 2 2 4 des Buches kurz angedeutet: Der Freiheitsanspruch dieser Architekten, sich wie Maler zu benehmen und Hoffnungsbildern freien Lauf zu lassen, hat sich für Boullée, Ledoux und ihre Gefolgsleute schlecht ausgezahlt. Ihre Entwürfe wurden bald nicht mehr gezeigt, ihre Publikationen gerieten in falsche Hände (z. B. bei Ledoux) oder wurden (im Falle von Boullée) überhaupt nicht gedruckt. Frankreich verurteilte diese Tagträumer summarisch als megaloman und vergaß sie bald, denn sie hatten gegen die Regeln der Zunft verstoßen und die konventionellen Grenzen der Berufsgattung mißachtet. W i e also sollte man sich ein Jahrhundert später ihrer erinnern, dazu noch weit weg, in Rußland? Da Emil Kaufmanns Wiederentdeckung erstmals 1928 nachweisbar ist, sein erstes wichtiges Buch Von Ledoux bis Le Corhusier aber erst 1933 publiziert wird, läßt sich für die Russen vor 1928/1933 mit hochgradiger Wahrscheinlichkeit sagen: Zwar kannten sie die utopischen Wordideen von 1789, doch die utopischen Raumideen von 1 7 8 9 waren auch für sie damals vergessen und unzugänglich. W i r stehen somit vor der ungewöhnlichen Tatsache, daß dieselbe Dominanz des Geometrischen ein zweites M a l „erfunden" wird und zu verblüffend ähnlichen Resultaten führt. Das ermög-
licht Beobachtungen der „Condition humaine" bei erhöhtem Erwartungsund Hoffnungsspiegel, und diese Chance ist die Raison d'être meines Buches geworden. Geschrieben wurde es, als die Zweite radikale Geometrisierung der Architektur ihre Kehrseite zu zeigen begann: „Modernität als „terrible simlifìcation", ja sogar als Brutalität, Monotomie, erdrükkende Widerholung bis zum Orientierungsverlust im Außen- oder Innenraum, Kältewirkung des „bloß" geometrische Konzipierten, Dauerverstöße gegen die Wohnlichkeit, kurz: Die nackte „Unwirtlichkeit" des modernen Hauses kam zu Tage. Mich interessierte damals, wie eine Baukultur, deren Fragwürdigleit wir eben zu gewärtigen begannen, ihre Anfänge und Motivierungen einst gebildet hatte, und ich fand eine doppelte Wurzel. Unversehens geriet das Buch so zu einem Plädaoyer für dynamisch-kritischen Umgang mit den sogenannten Gattungsgrenzen. Diese waren nie so starr und ehern, wie das breitere Klischeedenken es annimmt, und sie haben sich durch die Jahrhunderte oft verschoben. Daß Architekten unter dem Druck der Revolutionserawrtung zu Malern wurden, hat seine guten Gründe. Und der Historiker ist nicht ermächtigt, seinen Klassifierunguen zuliebe derartige Wandlungen zu verschweigen, er sollte sie zur Kenntnis nehmen und zu verstehen suchen. Denn es trifft zu, was Annette Rusche und Alfred Lorenzer zu 1789 festhalten: „Keiner anderen Kunstgattung gelingt es im 18. Jahrhundert, die zeitgeistigen Veränderungsprozesse so anschaulich und lebendig zu versinnbildlichen wie der Architektur. Zwar nicht in Form von Bauwerken, wohl aber in Entwürfen, Zeichnungen und Architekturgemälden.'* Genauso wie Boullée beharrte auf dem Motto „Ed io anche son pittore", war es für Le Corbusier unabdingbar, auch Maler zu sein - gegen alle Einwände der Gattungsbürokraten. Kein Wunder, daß die revolutionären Russen gerade ihm von allen westlichen Zeitgenossen am meisten Spielraum einräumten, an der sowjetischen Bauszene mitzugestalten. Zürich, im März 1990
Adolf
Max
Vogt
*In: „Bildfälle, die Moderne im Zwielicht*, hg. von Beat Wyss, Zürich 1990, S. 106
Inhalt
I
Bessere Wohnungen für bessere Menschen. Die sowjetische Wohnutopie heute und 1917 1 2 3 4 5 6 7
II
19 28 33 40 45
53
8 9 10
,53 60
12
Revolution als Hoffnungs-Explosion . . . . Weiße Flecken auf der historischen Karte . . Das Interesse für französische Revolutionsarchitektur Das Interesse für russische Revolutionsarchitektur Weiße Stelle oder blinder Fleck?
1917 und 1789-Vergleich 13 14 15
IV
ii i6
Revolution und Architektur
11
III
Überwindung des >kleinen Haushalts