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German Pages 77 [88] Year 1970
SIZILIANISCHE VOLKSLIEDER
MEYERBEER
Siziianifdfe '^V&ifoii a)er herausgegeben von
FRITZ BOSE Staatliches Institut für Musikforschung Preußischer Kulturbesitz
WALTER DE C R U Y T E R & C O Vormals G. J. Göschen'sche Verlagshandlung • J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung • Georg Reimer • Karl J. Trübner • Veit & Comp. BERLIN
1970
© Copyright 1970 by Walter de Gruyter & Co., vorm. G. J. Göschen'sche Verlagshandlung * J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung • Georg Reimer . Karl J . Trübner * Veit & Comp., Berlin 30 • Alle Rechte, einschließ lidi der Rechte der Herstellung von Photokopien und Mikrofilmen, von der Verlagshandlung vorbehalten • Archiv-Nr. 13 99 701 • Satz und Druck: Heenemann K G , Berlin • Printed in Germany
INHALT
A. Die Quelle und ihre Entstehung
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B. Melodien und Texte
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Literatur
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A. DIE QUELLE UND IHRE ENTSTEHUNG
Das Staatliche Institut für Musikforschung in Berlin besitzt in seinem MeyerbeerArchiv, einer umfangreichen
Sammlung
von Briefen und Manuskripten
Giacomo
Meyerbeers, die ihm 1952 von den Erben des Komponisten zur Verwaltung und Auswertung überlassen wurde, eine Reihe von Aufzeichnungen sizilianischer Lieder und Tänze in der Handschrift des Komponisten. Sie fanden sich in dem zweiten Band des Partitur-Autographs der Oper „Romilda e Costanza", der von dem Institut 1959 käuflich erworben wurde. (Der erste Band dieser Partitur befand sich bereits in dem Meyerbeer-Nachlaß.) Der Band ist fest in Leinen gebunden, die Volksmusik-Notierungen lagen jedoch lose und ohne Paginierung darin. Sie sind auf einem Notenpapier gleichen Formates wie die Partitur geschrieben und scheinen zur selben Zeit wie die Opernpartitur entstanden zu sein. Daß diese Aufzeichnungen in Sizilien erfolgt sind, geht aus den Überschriften und Anmerkungen des Autographs hervor: Meyerbeer hat bei einigen seiner Notierungen den Ort der Aufzeichnung und die Interpreten angegeben. Eine Datierung findet sich allerdings nirgends. Doch können wir anhand anderer Quellen seinen Aufenthalt in Sizilien bestätigt finden. Er fällt in den Sommer 1816 und scheint von längerer Dauer gewesen zu sein. Am 20. Juni 1816 weilt er noch in Neapel, wie die Datierung einer „Aria per mezzo Sopran" beweist. Von Neapel aus muß er nach diesem Datum, aber vor dem 22. Juli nach Sizilien gereist sein, denn eine Cavatine für die Oper „Robert und Elise", die sich im Nachlaß Carl Maria von Webers fand, ist durch Meyerbeers Datierung an diesem Tage in Sizilien niedergeschrieben. Am 3. Oktober 1816 ist Meyerbeer wieder in Genua, wie die Datierung einer Arie mit Chor und Orchester „Perché, numi tiranni" beweist. Am 20. Oktober trifft Louis Spohr ihn in Venedig und fügt in seiner Selbstbiographie hinzu: „. . . er ist jetzt von einer Reise durch Sizilien zurückgekommen" [1, S. 319]. So kann die Zeit seines Aufenthaltes eingegrenzt werden in einen Zeitraum unbekannter Dauer, der zwischen dem 20. Juni und dem 3. Oktober 1816 liegen muß. Ein Tagebuch hat er in dieser Zeit nicht geführt, und es haben sich bisher auch keine Briefe von ihm oder an ihn aus diesem Zeitraum finden lassen. Wir wissen also weder die Zeitdauer seines Aufenthaltes genau, noch die Route seiner Reise innerhalb Siziliens Doch können wir anhand des Volkslied-Manuskriptes 3 Stationen seines Aufenthaltes
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A. DIE QUELLEN UND IHRE ENTSTEHUNG
in Sizilien belegen: Palermo, Siracusa und Messina sind in ihm als O r t e genannt, an denen er aus dem Munde sizilianischer Volkssänger und Musiker Lieder und T ä n z e notiert hat. D i e Stücke sind nach dem Gehör notiert, während der Darbietung oder bald danach. Ein bestimmtes Auswahlprinzip ist nicht zu erkennen, er notierte offenbar alles, was er hörte bzw. was ihn interessierte. Die Notierung ist zwar flüchtig, aber doch den U m ständen entsprechend genau. Bei einer großen Zahl von Vokalstücken ist auch der T e x t notiert, in einigen Fällen sogar vollständig mit allen Strophen. Über den Zweck dieser Aufzeichnungen können nur Vermutungen geäußert werden. Zunächst
über-
rascht es, daß ein Komponist wie der junge Meyerbeer sein Interesse der Volksmusik zugewandt hat. Sein Schaffen galt der Oper, speziell der opera seria, für die er während seines Aufenthaltes in Italien (1816—1825) eine stattliche Zahl von W e r k e n schuf, die auf italienische Libretti fußend historische Ereignisse und Persönlichkeiten
dar-
stellen. (Auch die späteren Opern Meyerbeers aus seiner Pariser Epoche sind historische Heldenopern.) Weder in seinen Kompositionen noch in seinen Briefen und T a g e büchern bekundet er sein Interesse an Volksmusik. Dabei liegt in jener Zeit ein solches Interesse durchaus in der Luft. V o n Herder angeregt, sammelte Goethe im Elsaß 1 7 8 1 „aus dem M u n d e der ältesten Müttergens" zwölf alte deutsche Volkslieder, von denen er sogar die Melodien aufzeichnete, die allerdings nicht erhalten sind. Lieder im V o l k s ton wurden von Goethe und anderen gedichtet und sind gerade auch in Berlin vertont worden
(Reichardt
und
andere
Vertreter
der
Berliner
Liederschule).
Die
große
Sammlung deutscher Volkslieder von Arnim und Brentano „Des K n a b e n W u n d e r h o r n " lag 1 8 1 6 bereits Vor, 1 8 1 0 hatte J. N. Böhl von Faber hierzu 24 Melodien veröffentlicht. Zumindest in Deutschland war das Interesse an echter Volkspoesie und auch an Volksmelodien bereits geweckt. In Italien dachte man freilich noch nicht an eine S a m m lung der Volkslieder, die erste gedruckte Sammlung der Canti popolari italiani erschien 1 8 2 9 in Leipzig, unter dem Titel „Egeria", ihre Verfasser waren die Deutschen Wilhelm Müller und O . L. B. W o l f f , die venezianische, neapolitanische und sizilianische Lieder aus mündlicher Überlieferung
und fliegenden
Blättern
aufgezeichnet
hatten
[4, S. 119]. Die Beschäftigung eines deutschen Musikers mit dem Volksliedschatz Siziliens wäre im Jahre 1816 an sich also nicht so ungewöhnlich. Aber sie paßt so schlecht in das Bild, das wir von Meyerbeer haben, wie es sich auch nach den jüngsten Forschungen Beckers auf Grund seiner Briefe und Tagebücher zeigt und wie wir es auch aus seinem W e r k herauslesen. Seltsam ist auch, daß Meyerbeer nur hier in Sizilien den Drang verspürt haben sollte, die Melodien und Lieder der Straßenmusikanten — denn diese waren seine wichtigste Informationsquelle — zu notieren. Hätten wir ähnliche Aufzeichnungen auch aus anderen Teilen Italiens, Frankreichs und Deutschlands, würden wir seines Interesses an der Volksmusik um ihrer selbst willen sicher sein. D a er aber nur in Sizilien eine solche Sammeltätigkeit entwickelte, können wir die Motive hierzu nicht so leicht erkennen. Natürlich könnte es sein, daß ihm gerade hier der große
A. DIE QUELLEN UND IHRE ENTSTEHUNG
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Reichtum an Volksmusik und ihr besonderer Zauber aufgegangen ist, denn sicher war Sizilien in jener Zeit ein Dorado der Folklore. Aber war es Neapel nicht im selben M a ß e ? So liegt die Vermutung nahe, daß er mit dieser Sammlung einen bestimmten Zweck verfolgte, der über die Freude an den schönen Melodien und originellen T e x ten hinausging und irgendwie mit seinen Opernplänen in Zusammenhang gestanden haben muß. Vielleicht machte er diese Studien, um sie in einer Oper zu verwenden, deren Handlung in Sizilien spielen sollte. Es empfiehlt sich, zunächst nach dem Zweck seiner Sizilienreise zu forschen. Sie fällt in die Zeit der Sommerpause der Opernhäuser, damit auch für ihn in die Zeit der Ferien, der Erholung und des Arbeitens an den Stücken für die kommende Saison. Sein Aufenthalt in Italien hatte erst im Frühjahr begonnen. A m 7. Januar weilte er, wie die Eintragung in seinem Tagebuch beweist, noch in Paris, das er im Dezember 1 8 1 4 aufgesucht hatte. Hier faßte er den Entschluß, zur Abrundung seiner Ausbildung nach Italien zu reisen, wie ein Brief von Heinrich Baermann an ihn vom 9. O k t o b e r 1 8 1 5 erkennen läßt, in dem dieser ihm ein Zusammentreffen in Venedig vorschlägt. Hier ist davon die Rede, daß Meyerbeer im Dezember 1 8 1 5 in Venedig eintreffen wollte [1, S. 285—288]. Doch verzögerte sich wohl die Abreise aus Paris, in einer Tagebucheintragung vom 4. Januar 1 8 1 6 spricht Meyerbeer von Reisevorbereitungen [1, S. 3 0 8 ] , ebenso am 7. Januar [1, S. 309], Der genaue Zeitpunkt seines Eintreffens ist nicht bekannt — das Tagebuch wurde mit dieser Eintragung abgebrochen. Die erste Datierung ist ein Brief seiner Mutter vom 30. M ä r z 1 8 1 6 , der nach R o m adressiert ist. In einem Nachwort des Vaters sind Kreditbriefe für ihn nach Genua, Neapel und Mailand erwähnt. Er scheint sich auch in Verona aufgehalten zu haben, wie eine Datierung „Verona, 18. M ä r z 1 8 1 6 " auf einer für H. J. Baermann und Helene Harlas geschriebene Kantate „Gli Amori di T e o l i n d a " bezeugt [1, S. 3 0 9 ] , A m 11. Juni bestätigt sein Vater den Empfang eines Briefes vom 22. M a i aus Rom, wohin auch dieser Brief gerichtet ist [1, S. 3 1 6 ] . D e r nächste ist nach Neapel adressiert (22. Juni), der letzte dorthin am 9. Juli [1, S. 318], Sein Aufenthalt in Sizilien muß also zwischen diesem Datum und dem 3. O k t o b e r 1 8 1 6 liegen, betrug also im Höchstfall 3 M o n a t e und fällt in die Zeit der „toten S a i s o n " und der Sommerferien. In dieser Zeit konnte er auf Sizilien keine Anregungen auf dem Gebiet der Oper gewinnen, die Spielzeit war lange zu Ende. Sein Aufenthalt konnte also nur der Erholung und der Arbeit an eigenen Opernplänen gedient haben. Die Cavatine, die er in Palermo am 22. Juli 1816 abfaßte, gehörte zu der einaktigen Oper „Robert und Elise", von der Heinz Becker vermutet, daß er schon in der Zeit seines Pariser Aufenthaltes an ihr gearbeitet habe [1, S. 3 1 9 ] . Sie wird von Carl Maria von W e b e r in einem Brief vom 10. März 1 8 1 7 als „deutsche O p e r "
erwähnt, deren Abschluß Meyerbeer
aus Mailand berichtet
habe
[1, S. 653, A n m . z. S. 319,1]. Diese Oper scheint also in Palermo höchstens noch ergänzt zu sein, vielleicht ist die Cavatine auch nur ein abschriftlicher Auszug, aus der schon in Mailand vollendeten Partitur, die er Carl M a r i a von W e b e r nach Dresden schickte, in dessen Nachlaß sie sich befand [1, S. 3 1 9 ] .
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A. DIE QUELLEN UND IHRE ENTSTEHUNG Die erste italienische Oper Meyerbeer's ist „Romilda e C o s t a n z a " ,
melodramma
semiserio in due atti mit dem Libretto von Gaetano Rossi, dem Textdichter Rossinis. Dieses W e r k muß 1 8 1 6 und nach „Robert und Elise" entstanden sein. Es war für die Winterspielzeit
in Venedig bestimmt, k a m dort jedoch nicht zur Aufführung,
da
man dem noch unbekannten, erst 25 Jahre alten Komponisten allzu große finanzielle O p f e r zumutete
[6, S. 45 ff.]. Sie gelangte in Padua am 19. 6. 1817 zur Urauffüh-
rung, wo sie großen Erfolg hatte, der sich dann bei der Einstudierung in Venedig im Herbst desselben Jahres wiederholte. W e n n Meyerbeer in Sizilien an einer O p e r gearbeitet haben sollte, so muß es diese gewesen sein. D a ß das Manuskript der sizilianischen Volksweisen dem 2. Band dieser Oper beigefügt war, spricht ja auch dafür. Auch sind diese Aufzeichnungen auf demselben Papier niedergeschrieben wie die Partitur der Oper. Auch das deutet auf die gleichzeitige Entstehung. Die Opernpartitur ist dann — vielleicht später — gebunden worden, und Meyerbeer hat die Volksmusiknotierungen diesem W e r k beigelegt, mit dem es in zeitlicher und geographischer Verbindung steht. Eine thematische Verbindung besteht jedoch nicht. A n keiner Stelle der RomildaPartitur finden sich Relationen zu den Volksmelodien. Hierauf hat auch Becker verwiesen [2], der an gleicher Stelle jedoch die Ansicht vertritt, daß die sizilianischen Volksliedskizzen als thematisches Material in der Oper „Robert der T e u f e l " und in der „nicht komponierten O p e r Angiolina" Verwendung gefunden hätten. D a die eine nicht komponierte Oper schlecht auf diese Behauptung
geprüft werden kann,
soll
der Versuch unternommen werden, die bekannte Oper „Robert der T e u f e l " auf solche thematische Verwandtschaft mit den Volksliedaufzeichnungen aus Sizilien zu untersuchen. Die 1 8 3 1 in Paris vollendete Oper „Robert der T e u f e l " spielt in Sizilien zur Zeit der Normannenherrschaft.
Musikalische Anregungen hierfür hatte er sicher bei
seinem
Aufenthalt im Sommer 1 8 1 6 in Sizilien gewonnen. Die Oper enthält mehrere Nummern, die Volksszenen in Sizilien darstellen. Hier hätte er Gelegenheit gehabt, seine Notizen und Skizzen sizilianischer Lieder und Tänze zu verwenden. So finden wir im Finale des ersten Aktes (Nr. 3) eine „Sicilienne" in F-dur im 6/8 Takt. Rhythmisch entspricht dieser Tanz absolut der Siciliana, der Periodenbau stimmt gleichfalls überein. Doch sind T e x t und Melodie (O fortune, ä ton caprice) ohne Entsprechung zu einem von ihm notierten Volkstanz oder Lied aus Sizilien sondern frei erfunden, wenn auch im gesamten Erscheinungsbild die Musik durchaus dem Charakter sizilianischer T a n z lieder gerecht wird. Im 2. A k t ist die Nr. 6 ein Chortanz (Accourez au devant d'elle). Auch dieser Tanz steht in dem in Sizilien so häufigen 6/8 T a k t , hat aber nicht den Siziliana- bzw. T a r a n tella-Rhythmus.
Melodische
Beziehungen
zu den
Volksmusik-Aufzeichnungen
von
1 8 1 6 sind nicht erkennbar. Die folgende Nr. 7 ist ein großes Ballett mit dem Titel „Pas de cinq". Hier sollte man erwarten, eine Ähnlichkeit mit dem 1816
aufgezeichneten
T a n z „I cinque passi" zu entdecken, den Meyerbeer als „sehr alt, wird nur noch im
A. DIE QUELLEN UND IHRE ENTSTEHUNG
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Innern getanzt - Bauerntanz" bezeichnet. In der Oper ist aber aus dem schlichten Volkstanz der „fünf Schritte" im 3/4 Takt ein fünfteiliges Ballett geworden. Der erste dieser fünf Tänze in d-Moll steht im 4/4 Takt, (Andantino quasi Allegretto), der zweite in g-Moll im 6/8 Takt (Allegro moderato), der dritte in B-dur im 2/4 Takt (Allegro moderato) und die Coda in G-dur gleichfalls im 6/8 Takt. Weder rhythmisch noch melodisch finden sich direkte Anklänge an die 1816 notierten Tänze, schon gar nicht an den Fünf-Schritte-Tanz. Auch das Finale des dritten Aktes hat drei Ballettweisen, keine deutet auf das 1816 gesammelte Material hin. Die beiden letzten Akte der „großen Oper" haben keine Volksszenen oder Tänze mehr. Wenn Meyerbeer bei dieser in Sizilien spielenden Oper also auch wenigstens stellenweise musikalisches Lokalkolorit zur Geltung kommen läßt, so doch ohne Verwendung der von ihm notierten Stücke als thematisches Material. Es hat den Anschein, als habe er, wie z. B. in der Nr. 3 „Sicilienne" im ersten Akt, den Typus dieser Tänze wiederzugeben versucht, sich aber dabei eigener Erfindung bedient. Man kann darüber nachsinnen, warum er die von ihm gesammelten Originalmelodien nicht einfach übernommen oder sie zumindest in veränderter Gestalt verwendet hat. Vielleicht hatte er sie 1830/31 gar nicht mehr zur Hand. Sie lagen wahrscheinlich seit 1816/17 in der Partitur der „Romilda" — wo sie sich noch befanden, als diese in die Obhut des Staatlichen Instituts für Musikforschung kam, also fast 150 Jahre danach. Diese Oper hat er wohl gar nicht nach Paris mitgenommen, für dessen Opernbühne sie auch vom Stoff wie von der Komposition her wenig geeignet gewesen wäre. Sie lag wahrscheinlich schon im Elternhaus in Berlin, wohl gehütet, aber nicht mehr zur Aufführung bestimmt — und das mag auch der Grund sein, weshalb nur diese eine Opernpartitur als Autograph im Meyerbeer-Nachlaß gefunden wurde, und mit ihr die Volksmusik-Skizzen aus Sizilien, dem Ort der Entstehung dieser Partitur. Als Meyerbeer im Sommer 1816 diese Melodien notierte, dachte er jedoch sicherlich noch nicht an den „Robert". Sein nächstes Opernprojekt war eine Oper mit antikem Stoff „Phädra", das sein Bruder Michael in einem Brief vom 13. 5. 1818 als für Turin geplant erwähnt [1, S. 354]. Auch seine Mutter erwähnt diesen Plan [1, S. 355] und Michael spricht noch am 18. 7.1818 davon. Nach Becker war diese Oper jedoch nicht vollendet, wahrscheinlich nicht einmal begonnen worden. Die nächste vollendete und aufgeführte Oper ist „Semiramide riconosciuta" mit Text von G. Rossi nach Metastasio, die 1819 in Turin, später auch in Bologna gespielt wurde, und gleichfalls großen Beifall fand [5]. Schon vom antiken Stoff her kann diese Oper nicht mit den sizilianischen Volksliednotizen in Beziehung gebracht werden. Das gilt auch für die nächste italienische Oper „Emma di Resburgo" (Text von G. Rossi), Melodramma eroico in due atti, die in Venedig am 26. Juni 1819 uraufgeführt und später auch in anderen Städten Italiens und Europas (Berlin, München, Stuttgart, Frankfurt, Budapest, Brünn, Warschau, Barcelona) erfolgreich war. Die erste Erwähnung dieser Oper findet sich in Meyerbeers Brief an F. S. Kandier aus Venedig vom Juni 1819
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A. DIE QUELLEN UND IHRE ENTSTEHUNG
[1, S. 374]. Auch die folgenden, in Italien geschriebenen Opern deuten nicht darauf hin, daß in ihnen von den Notizen Meyerbeers aus Sizilien Gebrauch gemacht worden ist. Es sind dies die Opern „Margherita d ' A n j o u " (Mailand 1 8 2 0 ) ,
„L'Almanzore"
(unvollendet), „L'Esule di G r a n a d a " (Mailand 1 8 2 1 ) , „II Crociato in Egitto" (Venedig 1 8 2 4 ) und „Ines di C a s t r o " (Neapel 1 8 2 5 ) . W e n n Meyerbeer diese Volksmelodien erst im „Robert der T e u f e l " wieder hervorgeholt hat, der 1 8 3 1 vollendet wurde, so geschieht dies 15 Jahre nach der Aufzeichnung. Somit erscheint es fraglich, ob Meyerbeer bei der Niederschrift dieser V o l k s lieder bereits eine Verwertung für ein Opernsujet im Auge hatte. D a mir über die nicht komponierte Oper „Angiolina" nicht bekannt ist, wann er sie geplant hat, lassen sich auch hier keine unmittelbaren Anknüpfungspunkte zu seinem Sizilienaufenthalt finden. M i r scheint es weniger wahrscheinlich, daß Meyerbeer diese Volksweisen in der bestimmten Absicht, sich ihrer gelegentlich oder für ein bereits bestimmtes Opernprojekt als Motivmaterial zu bedienen, gesammelt haben soll. Ich glaube eher, daß ihn, der doch erst seit kurzem in Italien weilte und hier in Sizilien erstmals außerhalb der geschäftigen Kunststädte und frei von den künstlerischen und gesellschaftlichen Ansprüchen der Opernsaison als Tourist und Feriengast in ungezwungener
Umge-
bung lebte, die natürliche Anmut der singenden und musizierenden Menschen in den damals noch nicht vom Tourismus umgeprägten Städten des Landes anrührte.
Die
Landschaft und ihre Menschen waren es wohl, die ihn bewogen, ihre volkstümlichen Melodien festzuhalten. Sein Interesse an italienischem W e s e n war schon bald nach seiner Ankunft geweckt worden. M i t Eifer stürzt er sich in die Komposition italienischer Opern, wobei ihm besonders Rossini zum Vorbild wird, der mit seiner Oper „Tancredi" (1813) den ersten durchschlagenden Erfolg auf den Opernbühnen des Landes errungen hatte und neue M a ß s t ä b e für die Kunstgattung schuf. Später bekennt er dann: „Alle meine Gefühle und meine Gedanken wurden italienisch; nachdem ich ein Jahr dort gelebt hatte, kam ich mir vor, als sei ich ein geborener Italiener" [6, S. 48]. Dieses bemerkenswerte Geständnis seiner Liebe zu Italien hat sicher auch sein Interesse an der Volksmusik Siziliens geweckt. D a ß er aber solche Volksweisen nur in Sizilien notiert hat, erscheint wieder sonderbar. Es sind allerdings kaum Skizzen seiner Arbeiten aus diesen Jahren seines Italienaufenthaltes bekannt geworden. M ö g licherweise hat er auch an anderen Orten solche Volkslieder und Instrumentalstücke gesammelt. Es ist jedoch weder beweisbar noch sehr wahrscheinlich. rend der dem Sizilienaufenthalt
vorangehenden M o n a t e
Denn
weilte er in den
wähgroßen
Städten der Halbinsel, die ihn mit ihrem reichen Musikleben und dem ihn besonders fesselnden Opernbetrieb wohl kaum Zeit für folkloristische Studien finden ließen. Das gilt auch für die auf den Sizilienaufenthalt folgende Zeit, die er wiederum in den Metropolen der italienischen Oper verbrachte. Nur hier konnte er wohl die M u ß e finden, sich auch mit der Volkskunst dieser Insel zu befassen. Während er an der Oper „Romilda e C o s t a n z a " arbeitete und sich gleichzeitig von den Strapazen der vorangegangenen Saison erholte, entstand diese kleine Sammlung sizilianischer Volkswei-
E. MELODIEN U N D T E X T E
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sen, wie er sie von Bettlern und Straßenmusikanten hörte. Die Lieder enthalten teilweise Angaben über den Ort der Aufzeichnung — genannt sind Palermo, Messina und Syrakus, Städte, die auch damals schon Zentren des Fremdenverkehrs waren. Ländliche Bezifke sind nicht genannt, offenbar beschränkte Meyerbeer seinen Aufenthalt auf die Städte, die einem reichen Fremden den nötigen Komfort zu bieten hatten. So enthält also diese Sammlung vorwiegend städtisches Musikgut aus der Schicht der semiliterarischen Produktion, man könnte es eine Sammlung von volkstümlichen Liedern städtischer Unterschichten, etwa in der Art der heutigen „Schlager" nennen — doch sind auch einige Stücke echter Volkspoesie und Lieder offenbar bäuerlicher Herkunft enthalten. Einige wenige Lieder und Tänze mögen ältere sizilianische Überlieferungen vertreten.
B. MELODIEN UND TEXTE
Die Notierung erfolgte offenbar unmittelbar während oder nach der Darbietung, sie ist z. T. recht flott, jedoch ziemlich genau. Lediglich die begleitende Instrumentalstimme ist oft recht flüchtig und abgekürzt notiert. Es scheint sich dabei meist um eine Violinstimme zu handeln. Die heute in Sizilien als Begleitinstrument dominierende Gitarre ist wohl um 1816 noch wenig im Gebrauch, zumindest nicht in der Hand von Volksmusikern. Nur die Begleitung des ersten Stückes dieser Sammlung ist ganz offenbar nicht für die Violine sondern für die Gitarre gedacht. Ihr Umfang läßt eine Ausführung auf der Geige nicht zu. Hier handelt es sich aber um ein ausgesprochenes Kunstlied. Bei vielen Liedern scheint der Sänger zugleich die Geige gespielt zu haben, wobei er vor allem die Vor- und Zwischenspiele auf ihr ausführte. Doch sind bei einer Reihe von Stücken auch die Gesangspartien von Meyerbeer mit einer Begleitstimme unterlegt. Auch hier ist es möglich, daß der Sänger sich selbst während des Singens begleitet hat, denn man hielt ja die Geige nicht, wie heute üblich, mit dem Kinn fest, sondern drückte sie gegen den oberen Brustkorb in Höhe des Schultergelenks, eine Geigerhaltung, die wir noch heute bei Volksmusikern in einigen Teilen Europas beobachten können. Hierbei hat die linke Hand die Geige zu halten, was voraussetzt, daß nur in der ersten Lage gespielt wird — und Meyerbeers Instrumentalstimmen entsprechen dieser Spieltechnik. Sie alle sind ohne Lagenwechsel spielbar und ihre Faktur entspricht absolut dem Spiel auf der Violine, obwohl sie natürlich auch auf einer Gitarre ausführbar wären. Aber sie würden der greifenden Hand dort
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B. MELODIEN UND TEXTE
nicht so b e q u e m liegen. Es sind typische G e i g e r f l o s k e l n , die leicht s p i e l b a r sind. Z u rund der H ä l f t e der S t ü c k e h a t M e y e r b e e r auch die T e x t e n o t i e r t , z. T . mit
allen
Strophen.
Auch
das
deutet
darauf
hin,
daß
ihm
nicht
in
vollständig erster
Linie
d a r a n g e l e g e n w a r , t h e m a t i s c h e s M a t e r i a l für eine in Sizilien spielende' O p e r zu s a m m e l n , denn h i e r f ü r h ä t t e die N o t i e r u n g der M e l o d i e n allein ausgereicht. Es m u ß i h m schon d a r a n g e l e g e n g e w e s e n sein, die Lieder u m i h r e r s e l b s t willen
aufzuschreiben.
Er ging d a b e i m i t den T e x t e n wie m i t den M e l o d i e n v o r : er n o t i e r t e sie s o r g f ä l t i g , wenn
auch in Eile. S o e r g e b e n sich f ü r den Leser dieser p r i v a t e n
Aufzeichnungen
einige S c h w i e r i g k e i t e n in der E n t z i f f e r u n g . H a t m a n sich a b e r in M e y e r b e e r s
Hand-
schrift e i n g e l e s e n , g i b t es n u r noch w e n i g U n k l a r h e i t e n . Bei der T e x t n o t i e r u n g
fällt
a u f , d a ß M e y e r b e e r nicht n u r die italienische S p r a c h e v o l l k o m m e n b e h e r r s c h t e ,
son-
d e r n auch b e m ü h t w a r , den z u m e i s t in sizilianischer M u n d a r t v o r g e t r a g e n e n
Wort-
laut so g e n a u wie möglich w i e d e r z u g e b e n . H i e r b e i w a r e n i h m a b e r o f f e n b a r G r e n z e n g e s e t z t : in der r e l a t i v k u r z e n Z e i t seines S i z i l i e n a u f e n t h a l t e s h a t t e er u n m ö g l i c h p e r f e k t Sizilianisch l e r n e n k ö n n e n . S o h ö r t e er oftmals italienische W o r t b i l d u n g e n h e r a u s und schrieb die sizilianischen W o r t e auch in einer nicht stilgerechten Vielleicht w a r e n
a b e r auch
die S ä n g e r
an
der o f t m a l s
Orthographie.
korrumpierten
Fassung
der
sizilianischen T e x t e schuld, sei es, d a ß sie diese n u r in m e h r oder w e n i g e r italinisierter F a s s u n g k a n n t e n , sei es, d a ß sie sie d e m F r e m d e n zuliebe in einer solchen d a r b o t e n . Für den des Sizilianischen u n k u n d i g e n H e r a u s g e b e r s dieser Lieder e r g e b e n sich so erhebliche S c h w i e r i g k e i t e n in der Ü b e r t r a g u n g der T e x t e . D i e s e w a r e n es d a n n auch vor allem, die ihn b e w o g e n , sich im F r ü h j a h r 1 9 6 6 s e l b s t nach Sizilien zu b e g e b e n , u m a n O r t u n d S t e l l e m i t b e r u f e n e n K e n n e r n des sizilianischen V o l k s l i e d e s u n d der sizilianischen S p r a c h e die T e x t e durchzugehen. Bei der v o r l i e g e n d e n A u s g a b e sind die w e r t vollen A n r e g u n g e n , E r g ä n z u n g e n , R i c h t i g s t e l l u n g e n u n d R e k o n s t r u k t i o n e n der T e x t e durch P r o f e s s o r G i o r g i o P i c c i t t o in C a t a n i a u n d der M e l o d i e n durch A n t o n i n o U c c e l l o in P a l a z z o l o A c r e i d e berücksichtigt. D a M e y e r b e e r n u r bei zwei der n o t i e r t e n S t ü c k e eine N u m e r i e r u n g
anbrachte —
diese Stücke sind die b e i d e n e r s t e n dieser A u s g a b e — w ä h r e n d die ü b r i g e n a u f l o s e n B l ä t t e r n o h n e e r k e n n b a r e Folge n i e d e r g e s c h r i e b e n sind, w o b e i t e x t i e r t e und
textlose
S t ü c k e z. T . a u f d e m s e l b e n B l a t t s t e h e n , u n d weil auch in der R e i h e n f o l g e , in der die B l ä t t e r d e m M a n u s k r i p t der O p e r b e i g e l e g t w a r e n , k e i n e R e g e l e r k e n n b a r w a r , h a b e ich die mit T e x t e n v e r s e h e n e n Lieder v o r a n g e s t e l l t u n d die u n t e x t i e r t e n S t ü c k e a n g e schlossen. B e i diesen h a n d e l t es sich meist u m T ä n z e , v o n d e n e n a n g e n o m m e n w e r d e n k a n n , d a ß sie M e y e r b e e r rein i n s t r u m e n t a l v o r g e t r a g e n w o r d e n sind. D a s schließt nicht a u s , d a ß auch diese T ä n z e im V o l k s m u n d T e x t e b e s e s s e n h a b e n . Gleich der erste T a n z ( N r . 1 8 „La p a c c h i a n e l l a " ) m a g ein T a n z l i e d s e i n : M e y e r b e e r n o t i e r t es zweilinig, b e i d e Stimmen
im
Violinschlüssel,
die
Unterstimme
als
Begleitung
in
Terzenparallelen
und gelegentlichen A k k o r d e n , a m Ende der in der O b e r s t i m m e n o t i e r t e n M e l o d i e d a n n als Nachspiel m i t typischen G e i g e r f l o s k e l n in T r i o l e n b e w e g u n g . O b die
Oberstimme
h i e r gleichfalls v o n einer G e i g e a u s g e f ü h r t o d e r zu e i n e m nicht n o t i e r t e n T e x t g e s u n -
15
B. MELODIEN UND TEXTE gen w u r d e , ist nicht zu unterscheiden. In n e u e r e n S a m m l u n g e n sizilianischer
Volks-
lieder wie auch in solchen aus Italien ist das Stück w e d e r der M e l o d i e noch d e m T i t e l nach a u f z u f i n d e n . N r . 1 9 „La N i n n a r e d d a " D i e s e sind nach einer N o t i z a m K o p f
b e g i n n t und endet mit e i n e m
Ritornell.
von N r . 2 0 o f f e n b a r stets i m p r o v i s i e r t ,
und
M e y e r b e e r n o t i e r t bei d i e s e m Stück auch zwei a b w e i c h e n d e F a s s u n g e n des N a c h - b z w . Z w i s c h e n s p i e l s . D a s eigentliche Stück, ein W e i h n a c h t s l i e d , ist g e s u n g e n w o r d e n , w a s M e y e r b e e r hier ausdrücklich v e r m e r k t h a t . Auch bei N r . 2 0 „La C a t a n e s e " , dem T a n z aus C a t a n i a , f e h l t der T e x t , o b w o h l M e y e r b e e r ihn als „ T a n z mit G e s a n g "
notiert.
Auch die Ü b e r s c h r i f t „ C a n z o n e " bei N r . 2 1 deutet auf ein Lied. O h n e T e x t
notierte
Lieder w e r d e n auch sicher N r . 2 2 und 2 3 („wird b e i m B r o t b a c k e n g e s u n g e n " ) sein. Bei d e n restlichen S t ü c k e n o h n e T e x t h a n d e l t es sich stets u m T ä n z e , da dies v o n M e y e r b e e r ausdrücklich im T i t e l b e s t ä t i g t ist. O b hierzu allerdings T e x t e b e s t a n d e n
haben,
ist u n b e k a n n t . D e r h e u t i g e n P r a x i s des V o l k s t a n z e s in Sizilien w ü r d e es jedoch e n t sprechen, d e n n wie b e i m m o d e r n e n T a n z s c h l a g e r h a b e n auch die V o l k s t ä n z e T e x t e — w e n n sie auch k a u m g e s u n g e n , s o n d e r n n u r i n s t r u m e n t a l w i e d e r g e g e b e n w e r d e n . D a s w a r vielleicht schon 1 8 1 6 e b e n s o , und das dürfte der G r u n d sein, w a r u m
Meyerbeer
zu diesen T ä n z e n k e i n e T e x t e unterlegt h a t . D i e Einteilung
des v o n i h m
gesammelten
Materials
nach
Gattungen
ist
äußerst
schwierig. Ich h a b e es bei der g r o ß e n U n t e r t e i l u n g nach Liedern (Nr. 1—23) und T ä n zen ( N r . 24—37) b e l a s s e n , w o b e i auch b e r e i t s die N u m m e r n 1 8 u n d 2 0 zu den T ä n z e n zu z ä h l e n sind, vielleicht auch N r . 6 „ L a S i c i l i a n a " , o b w o h l die e i n g e s c h o b e n e n R e z i tative dies wieder unwahrscheinlich m a c h e n . B e i den Liedern sind die C a n z o n e n oder C a n z o n e t t e n v o r a n g e s t e l l t . D i e s e D i c h t u n g e n sind volkstümlich wie die M e l o d i e n , a b e r doch städtischer H e r k u n f t , N r . 2 ist eine V a r i a n t e eines Gedichtes von A b b a t e M e l i , d e m wichtigsten V e r t r e t e r dieser sizilianischen L i e d g a t t u n g
[7], Auch die
folgenden
S t ü c k e sind C a n z o n e t t e n , allerdings w e n i g e r k u n s t v o l l in den T e x t e n , volkstümlich i m B a u w i e im I n h a l t , der m e i s t recht f r i v o l e und z. T . o b s z ö n e T h e m e n b e h a n d e l t . Echtes V o l k s l i e d ist d a g e g e n N r . 6 (La S i c i l i a n a ) . Im h a l b l i t e r a r i s c h e n C a n z o n e t t e n s t i l
sind
auch einige religiöse T e x t e g e h a l t e n ( N r . 5 a, 1 2 und o h n e N r . „ L a M a d o n n a
della
P i e t a t i " ) , auch die W e i s e n
dazu sind volkstümlich.
Echte religiöse V o l k s l i e d e r
N r . 1 3 (La M a d o n n a della Iettera), 14 (La M a d o n n a dello C a r m i n o ) , 1 5
sind
(Weihnachts-
lied), 1 6 (Lu p r i m o dulore di S. G i u s e p p e ) . E b e n s o wechseln bei den T ä n z e n alte u n d n e u e W e i s e n , schlicht bäurische u n d gek ü n s t e l t städtische. Doch ü b e r w i e g t auch bei diesen das v o l k s t ü m l i c h e S t i l e l e m e n t . A u f s G a n z e g e s e h e n h a t M e y e r b e e r also nicht g e r a d e P e r l e n sizilianischer musik
notiert. D i e
literarischen
und
semiliterarischen
Erzeugnisse
einer
Volks-
städtischen
M u s i k k u l t u r u n d die Lieder u n d T ä n z e der U n t e r s c h i c h t e n der S t a d t k u l t u r
überwie-
gen. W a h r s c h e i n l i c h lag das nicht in seiner A b s i c h t , er n o t i e r t e , w a s er h ö r t e — u n d seine I n f o r m a n t e n w a r e n städtische Spielleute und S ä n g e r , B e t t l e r u n d
Straßenmusi-
k a n t e n . I h r M u s i z i e r g u t ist es, w a s er f e s t g e h a l t e n h a t . U n d d e s h a l b w o h l auch h a t sich nichts d a v o n in n e u e r e n V o l k s l i e d s a m m l u n g e n aus Sizilien wiederfinden l a s s e n —
16
B. MELODIEN UND TEXTE
ausgenommen ein einziges Lied, das auch von Favara aus dem Volksliedschatz Siziliens um die W e n d e zum 20. Jahrhundert aufgezeichnet worden ist: D a s Weihnachtslied Nr. 15 ist in T e x t und Melodie mit der Nr. 6 4 4 in Favaras „Corpus di musiche popolari" übereinstimmend und ähnelt auch noch den Varianten Nr. 6 4 5 melodisch und 6 4 6 im Text. Nur dieses offenbar alte Weihnachtslied hat sich also bis in die Gegenwart erhalten, die übrigen Lieder und Tänze dagegen nicht. Sie waren als städtisches M u s i k gut zu sehr zeitgebunden, der Mode unterworfen. Die Canzonen und Canzonetten im Stile Melis wie die derben Abarten davon wurden im Lauf der Zeit durch andere Lieder ersetzt, die ebenso geartet, aber in T e x t und W e i s e moderner waren. Diese Lieder waren in ihrer Zeit das, was wir heute Schlager nennen, ebenso unbedenklich und primitiv verfaßt, dem Geschmack der M a s s e n angepaßt, zum Konsum bestimmt, nicht an Brauch und Sitte gebunden. Modische Produkte geraten eben schnell in V e r gessenheit. W a s sich im Volksmund länger hält, sind Brauchtumslieder, religiöse wie weltliche. Davon aber hat Meyerbeer nur wenig zu hören bekommen. Selbst die T ä n z e haben die Zeit bis zur Gegenwart nicht überdauert, obwohl in ihnen einige gute Stücke volkstümlicher Überlieferung enthalten sind. Auch hier ist es der Wechsel der Moden, der sie in Vergessenheit geraten ließ. So zeigt uns Meyerbeers Manuskript einen Ausschnitt aus dem populären Musiziergut der sizilianischen Städte in Liedern und T ä n zen vom A n f a n g des 19. Jahrhunderts, und dafür ist es eine wertvolle Dokumentation. M ö g e n einige der Stücke auch noch bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts zurückreichen, in einigen Melodien sogar noch ältere Stilelemente erkennbar sein, im wesentlichen zeigt die Sammlung die Charakteristika des volkstümlichen Lied- und Tanzrepertoires der Zeit der Niederschrift. D a wir andere Quellen zur Volksmusik Siziliens aus dieser Zeit nicht haben, ist diese Sammlung von ziemlicher Bedeutung für die Volksmusikforschung Siziliens. Und daß ausgerechnet ein Deutscher, und noch dazu ein Komponist sie anlegte, dessen Lebenswerk fast ausschließlich der Form der seriösen O p e r gewidmet war, macht sie noch besonders denkwürdig. Jedoch war Meyerbeer nicht der erste, der sizilianische Volkslieder notiert hat. Er hatte einen Vorläufer, und auch dieser war ein Deutscher: Salomon Bartholdy. Die von J o h a n n Friedrich Reichardt, Kgl. Preußischem Kapellmeister, herausgegebene
„Berli-
nische Musikalische Zeitung" bringt im ersten Jahrgang (Berlin 1 8 0 5 ) auf Seite 1 9 und 2 0 darüber einen Bericht, der hier im Wortlaut wiedergegeben sei: E T W A S ÜBER DEN V O L K S G E S A N G DER SICILIANER VON HERRN SALOMON BARTHOLDY (Mit einer Vorerinnerung des Herausgebers) Herr Bartholdy, der mit reinerem Sinn für die Kunst und mit besseren Vorkenntnissen nach Italien kam, sich auch dort auf seiner Hin- und Herreise nach Griechenland länger aufgehalten, und den mehrmals wiederholten Aufenthalt in den Hauptstädten Italiens besser benutzt hat, als die meisten Reisenden wohl pflegen; hat auch bei seinen Reisen durch Sicilien den dortigen Volksgesang mit vieler Liebe und mit
B. MELODIEN UND TEXTE
17
S i n n beachtet. M i t seinem reichen Schatze von Kenntnissen und Erfahrungen, hat er auch G e w i n n für unsre K u n s t mitgebracht. Ich h a b e die sicilianischen der Stammmelodien
Abschriften
verschiedener sicilianischer Städte, von welchem H. B. in
dem
folgenden A u f s a t z e spricht, vor mir. Auch sie haben ihr Charakteristisches. Eben so willkührlich wie das V o l k die W o r t e in Poesie und Prosa seinen unterlegt;
so u n b e s t i m m t
sind sie auch niedergeschrieben.
Nationalmelodien
Einzelnen
musikalischen
R h y t h m e n von 2 , 3, 4 T a k t e n sind längere und kürzere Verse, o h n e nähere Beziehung auf die darüber stehenden, wie bei Instrumentalmelodien zusammengezogenen N o t e n , untergesetzt. M e i s t e n s schließt der R h y t h m u s mit einer langen Note, der dann die noch übrigen S y l b e n , welche unter den T ö n e n der Melodie nicht h a b e n untergebracht werden können, sie wiederholend, untergelegt werden. Nicht einmal für die häufigen weiblichen Endungen der V e r s e ist die Schlußnote, die beide S y l b e n fassen soll, wiederholt geschrieben; sie steht so einzeln da, wie die Guitarre sie anschlägt. Für diese stehen auch zwischen den meisten V e r s e n Zwischenspiele meist aus Harpeggien, oft auch aus Melodien bestehend, die eben nicht viel gemein haben mit den Singemelodien. M a n sieht auch an dieser Einrichtung, daß es dem V o l k e überall mehr auf die augenblickliche Ergötzung des G e m ü t h s und des O h r e s a n k o m m t , als auf eigentliche Poesie und einer ihr völlig entsprechenden musikalischen Composition. W i r
werden
unsern Lesern nächstens eine jener Melodien möglichst entziffert vorlegen.
D. H.
Ich glaube, daß es wenige Nationen giebt, welche M u s i k so leidenschaftlich lieben, als die Sicilianer. Nie verstummen, während der heitern Sommernächte, die Guitarren zu Palermo und M e s s i n a . M e e r und H a f e n wimmeln von Schiffen und B a r k e n , auf denen Instrumente
schallen, deren T ö n e die U f e r
freundlich
zurückgeben.
Serena-
ten begegnen S e r e n a t e n ; bald entsteht W e t t s t r e i t und Wechselgesang, bald vereinigt man sich zu gleicher Melodie. Ja die Hitze des T a g e s und der Arbeit wird durch Lieder gemildert, die selbst Maulthiertreiber und Führer in Mühseligkeit und Beschwerde, improvisieren, und durch ihre Munterkeit
und Originalität
den Reisenden
erquicken,
oder ihn durch einen gewissen leidenschaftlichen Ausdruck rühren, der der Sprache schon einwohnt, die das italiänische O fast jedesmal in das tiefere, mehr aus der Kehle articulirte U, verwandelt. Es ist ein Vorzug der Sicilianer, wie der V e n e t i a n e r , V o l k s lieder zu besitzen, deren Zartheit und einschmeichelnder
C h a r a k t e r entzücken,
und
denen bloß die Allgemeinheit der Dialecte fehlt, um classisch zu werden. Einige zwar, wie die Biondina in Gondoletta, vom braven noch lebenden Lombardi, sind auch aus den Lagunen auf fremden Boden verpflanzt worden, und man freut sich ihrer im schnellen C a y k auf dem Canale von Constantinopel, wie im K a h n e auf der trägen Spree. D i e sicilianischen Cantonetten werden bis jetzt nur in ihrer Heimath geschätzt. A b e r da das Aechtgute sich immer spät oder früh Luft macht und hervortritt, so möchten auch letztere bald b e k a n n t e r werden, und es wird nicht allein die M ü h e verdienen, sie ans Licht zu ziehen, sondern auch belohnen. D e r A b b a t e Meli, Professor der Chemie zu Palermo, ist gegenwärtig der beliebteste und gehaltvollste Dichter in sici2
Bose, Meyerbeer
18
B. MELODIEN UND TEXTE
lianischer M u n d a r t . S e i n e P a s t o r a l e n sind vortrefflich. S e i n e lyrischen Gedichte w e r den v o n allen Lippen w i e d e r h o l t . A b e r gedruckte oder g e s c h r i e b e n e Poesie g e n ü g t d e m lebhaften
Insulaner
nicht.
Er
will alles
singen,
was
andre
redend
mittheilen,
dem B e k e n n t n i s s e seiner Leidenschaft a n , bis zum M o r g e n - und A b e n d g r u ß e .
von Klein
und g r o ß , A d e l und V o l k , V o r n e h m u n d G e r i n g , w a s f ü h l e n k a n n , drückt seine E m p findung melodisch aus. D a h e r d e n n h a t m a n sich eine b e s t i m m t e W e i s e zu einer C a n z o n e v o n acht V e r s e n , in einer oder zwei S t r o p h e n , g e w ä h l t , die j e d e r m a n n geläufig ist, und in die m a n s e i n e P h r a s e n e i n z w ä n g t , oder zu deren A u s f ü l l u n g m a n sie d e h n t , u n b e k ü m m e r t o b das P r o d u c t b e g e i s t e r t und geschmückt, oder o b es gar n u r
ryth-
misch sey. M e h r e r e b e d e u t e n d e S t ä d t e bildeten sich eigene M e l o d i e n , v o n d e n e n die v o n N o t o , C a t a n i a , P a l e r m o und S i r a c u s a die g e w ö h n l i c h s t e n sind. T h e i l e n Sie sie d e m P u b l i k u m mit, w e n n Sie sie dessen w e r t h h a l t e n . Ich lege I h n e n als M u s t e r der F o r m des T e x t e s eine C a n z o n e v o m A b b a t e M e l i bei, die den Schluß einer
Fischerecloge
macht. D i e Sprache scheint a p r i m a vista, m o n o t o n , a b e r sie wird a n g e n e h m und m a n f ü h l t ihre K r a f t , w e n n m a n v e r t r a u t e r d a m i t wird. Auch r ü h m e n sie die italiänischen S p r a c h f o r s c h e r s e h r , u n d e i n e r v o n i h n e n sagt i r g e n d w o : „Sicilia f ü la m a d r e della lingua volgar c o t a n t o in p r e z z o . " D i e S i r a c u s a n a , als Beleg wie m a n alles singt, w a s in M u n d und S i n n k o m m t , mit der Ü b e r s e t z u n g ;
a b e r es ist f a s t u n m ö g l i c h leichte P o e s i e n , deren H a u p t w e r t h
im
A u s d r u c k e und in der N a i v e t ä t liegt, zu ü b e r t r a g e n , vorzüglich sie aus dem I t a l i ä n i schen ins D e u t s c h e zu ü b e r t r a g e n . Lidda
Canta
Q u a n n u a Culcichia, j e u v o g g h i u parrari, C a spissu, spissu m i veni lu filu; A la finestra mi m e t t u a filiari; Q u a n n ' iddu p a s s a poi r u m p u lu silu; C a d i lu f u s u ; ed eu m e t t u a g r i d a r i : G n u r i pri carita pruitimulu Iddu lu p i g g h i a ; mi m e t t i a g n a g d a r i J e u mi n n i v a j u suppilu, suppilu. Meli W e n n ich m e i n e n N i c o l a s zu sprechen s i n n e , Allzu häufig k ö m m t m i r das B e s t r e b e n ; S e t z e ich z u m o f f e n e n F e n s t e r mich, und s p i n n e ; K o m m t er n u n , zerreisse ich m e i n W e b e n ; U n d es fällt die S p i n d e l ; schüchtern ich b e g i n n e : W o l l e t , H e r r , g e n e i g t sie w i e d e r g e b e n ! U n d er n i m m t sie, blickt mich zärtlich an, die S i n n e S c h w i n d e n mir, es schwindet f a s t mein L e b e n . S. B .
B. MELODIEN U N D T E X T E
19
Siracusana Mi voju maritali e fari zita, Voju pigghiari ad unu cu la spada E poi mi veni vistuta di sita, Cudda trizza spampinata. Si nni va a la chiazza a fari spisa, Accatta un mazziteddu d'insalata: Santudia ahe cara la spisa! Campa muy hieri mia, e paga la casa. Freyen will ich und zur Braut mich machen; Einen mit dem Degen, muß ich haben : Dann in seidnem Kleide herrlich prangen, Schön und breit, die Flechten meines Haares. Und er geht auf Einkauf zu dem Markte, Wählet sich ein Bündelchen Salate, Heilger Gott, wie theuer ist die Ware! Lebe, Frau, den Hausverbrauch zu zahlen!
Professor Giorgio Piccito glaubt, daß entweder Bartholdy oder Reichardt oder der Setzer der Berlinischen Musikalischen Zeitung die beiden Texte arg
verstümmelt
haben. Die Lidda Canta hat er nach der Ausgabe der Gedichte von Meli [7, S. 181] richtiggestellt : Quannu a Culicchia jeu vogghiu parrari, Ca spissu spissu mi veni lu sfilu, A la finestra mi mettu a filari; Quann' iddu passa, poi rumpu la filu; Cadi lu fusu, ed eu mettu a gridari: Gnuri, pri carità pruitimilu! Iddu lu pigghia, mi metti a guardari: Jeu mi nni vaju suppilu suppilu.
Von der Siracusana meint er, daß es sich wohl eher um eine „ottava", also einen Achtzeiler mit gleichen Reimpaaren als um zwei Quartinen handelt. Bis auf Verszeile 4 haben alle Verse 11 Silben. Dieser nur achtsilbige Vers wäre vielleicht besser zu lesen als „e cu la trizza tutta spampinata". Auch in Vers 5 fehlt eine Silbe, so daß er zu 2*
20
B. MELODIEN UND TEXTE
korrigieren w ä r e : „Si nni va a la chiazza a fari la s p i s a " , desgleichen im 7. V e r s : „Santu Diu, com'è cara la spisa". D i e letzte Zeile mit 13 statt 1 1 Silben ist vielleicht als A b schluß der „ O k t a v e " zu verstehen, eine Korrektur hierfür scheint G. P. nicht angebracht. Hier seine Richtigstellung der offenbaren Schreib- oder Druckfehler: M i voju maritari e fari zita, V o j u pigghiari ad unu cu la spata, E poi mi teni vistuta di sita, Cu dda trizza spampinata. Si nni va a la chiazza a fari spisa, Accatta un mazziteddu d'insalata: Santu Diu, ch'è cara la spisa! C a m p a , mughieri mia, e paga la casa.
V o n der Siracusana ist auch die Melodie in der „Berlinischen Musikalischen Z e i t u n g " abgedruckt. Sie wird hier im A n h a n g an die Meyerbeersche Sammlung nachgedruckt. D a s Interesse an der Volkspoesie und am Volkslied war in Deutschland schon seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert geweckt worden, nicht zuletzt durch Gottfried Herder. Lieder im V o l k s t o n wurden von G o e t h e und anderen gedichtet, von K o m p o n i s t e n wie Reichardt in einen angemessen volksliedhaften T o n in M u s i k gesetzt und, meist mit Klavierbegleitung, auch fleißig gesungen. D e r Goethe-Zeller-Briefwechsel
enthält
viele Hinweise auf diese Neubelebung eines Interesses an volkstümlicher Poesie und M u s i k und besonders auch auf die richtige Art, Goethes volksliedhafte Gedichte zu vertonen. Eine Beschäftigung mit dem Volkslied eines fremden Landes war daher zumindest für einen Deutschen und erst recht für einen Berliner nicht so u n g e w ö h n lich, wie es zuerst scheinen
mag. M e y e r b e e r wird die Lieder Reichardts
und
Berliner Liederschule sicher gekannt haben, vielleicht auch Herders S a m m l u n g
der
euro-
päischer Volkspoesie. D a ß er auch die Ausführungen Bartholdys über das Volkslied in Sizilien in der Berlinischen Musikalischen Zeitung von 1 8 0 5 gelesen hat, ist nicht erwiesen und eigentlich wenig wahrscheinlich — er war damals erst 1 4 Jahre alt. Es ist bedauerlich, daß wir von ihm nicht wissen, was ihn zur Niederschrift dieser S a m m lung veranlaßt hat, und daß wir auch keine Notizen von ihm über die Art des Z u standekommens dieser S a m m l u n g , über seine Gewährsleute und über das V o l k s m u s i k leben seiner Zeit in den von ihm besuchten Plätzen der Insel h a b e n . W a s wir h a b e n , sind seine Skizzen und die spärlichen B e m e r k u n g e n zu den dort notierten Stücken. Sie enthalten auch in einigen Fällen Herkunftsangaben. A b e r es ist nicht einmal sicher, daß er an allen angegebenen O r t e n auch geweilt hat. Für Palermo darf man das als sicher ansehen, von hier sind die meisten der Stücke mit O r t s a n g a b e , von
Messina
k a n n man es noch mit einiger Sicherheit annehmen, da hier die O r t s a n g a b e im Titel
21
B. MELODIEN U N D TEXTE
so gehalten ist, daß man annehmen muß, er hätte die Stücke dort gehört und notiert (z. B. Nr. 24). Bei anderen Stücken wie den Tänzen „La Trapanesa"; (33) oder„LaCatanese" (20) mag die Darbietung von Straßenmusikanten aus Palermo oder Messina erfolgt sein und der Titel die Herkunft aus Trapani oder Catania dieser Stücke andeuten, die dann auch über die Grenzen ihrer Stadt und Provinz hinaus Verbreitung gefunden haben. Die auf Bartholdy
und
Meyerbeer
folgenden
handschriftlichen
wie
gedruckten
Sammlungen sizilianischer Volkslieder beginnen erst Jahrzehnte später. Der früheste Beleg stammt aus dem Jahre 1825, wo in Neapel ein Sammelband
musikalischer
Unterhaltungsstücke unter dem Titel „Passatempi musicali" erschienen ist, der auch eine Canzonetta siciliana „Bedda Eurilla" enthält —allerdings vonDonizetti komponiert. Daneben sind noch weitere sizilianische Canzonen anonymer Autoren enthalten, jedoch keine Volkslieder und Tänze [3], Weitere Canzonen in Manuskripten des 19. Jahrhunderts, z. T. auf Texte von Meli, komponiert von verschiedenen Komponisten, enthält die Sammlung der Bibliothek des Conservatorio Bellini in Palermo. Doch sind dies alles Kunstlieder. Volkslieder aus Sizilien sammelten bald nach Meyerbeer andere Deutsche: Wilhelm Müller und O. L. B. Wolff geben die erste Sammlung italienischer Volkslieder heraus, die auch einige Proben sizilianischer Lieder enthält („Egeria", italienische Volkslieder aus fliegenden Blättern und mündlicher Überlieferung, Leipzig 1829). Von diesen angeregt, begannen nun auch die Italiener die Volkslieder
ihres
Landes
zu
sammeln.
Die
erste
Sammlung
sizilianischer
Lieder
dann aber erst die von Lionardo Vigo „Canti popolari siciliani", Catania
ist
1857.
Es folgen 1875 die „Canti popolari di Noto", eine Sammlung der Volkslieder der innersizilianischen Provinz Noto, von Corrado Avolio in Noto bei Fr. Zammit herausgegeben, und von F. P. Frontini „Eco della Sicilia — 50 canti popolari siciliani" ( M i l a n o l 8 8 3 , Ricordi). Die vierbändige Ausgabe der „Canti della Terra e del Mare di Sicilia" von A. Favara (Milano 1907—1945, Ricordi) und die „Antiche Canzoni di Sicilia" von F. Paolo Frontini, Milano 1936 (Carisch S. A.) gehören schon zur Volksliedforschung der Neuzeit, über die Ernst Hilmar im Band 2 des „Jahrbuches für musikalische Volksund Völkerkunde", herausgegeben von Fritz Bose, auf Seite 119 ff. eine Übersicht gegeben hat. Meyerbeer ist also nicht der erste Volksliedsammler in Sizilien gewesen. Und da er seine Sammlung nicht veröffentlicht hat, konnte sie auch keine Anregung zu eigener Sammeltätigkeit im Lande selbst sein. Dennoch verdient sie, als eine der frühesten Dokumentationen einer gleichzeitig auf Text und Melodie gerichteten Sammeltätigkeit musikalischen Volksgutes über den Bereich der musikalischen Volkskunde Siziliens hinaus allgemeine Beachtung. Meyerbeer ist auf jeden Fall der erste gebildete Musiker, der sich der Volksmusik annimmt und dabei noch der Volksmusik einer für ihn in Kultur und Sprache fremden Umwelt.
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ag(g)razi
-
a
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c o - ri è
sì
Quantu
si
ÍTflfl
ci,
23
B. MELODIEN UND TEXTE 10
m si
ag(g)ra - zi
- a
- ta:
mia
Ni - ci a - ma - ta,
stu
c o - ri è
tò !
jmHJTTOJÏÏBf;
Dieses musikalisch wie poetisch besonders reizvolle Liedchen hat wie das folgende keine Überschrift. Diese beiden Stücke sind die einzigen, die in Meyerbeers Manuskript numeriert sind. Die zweiteilige musikalische Form entspricht der Gliederung des Textes in zwei Vierzeiler von je vier fünfsilbigen Versen. Doch ist es nicht ein zweistrophiges Lied: der zweite Vierzeiler bringt eine melodische und harmonische Variante und wird danach mit der Melodie des ersten wiederholt, so daß eine ABAForm entsteht, die einen volkstümlichen, jedoch nicht volksliedhaften Habitus zeigt. Der Text ist entsprechend literarisch und im Stil der Gedichte Melis. Doch ist es offenbar nicht von ihm verfaßt sondern von einem der vielen Nachahmer. Das Gedicht könnte vollständig sein. Seine Sprache ist sizilianisch. „Biddicchia" ist eine Koseform von „bedda" (schön) und wird auch heute häufig verwendet. Nici biddi[c]chia, scocca di rosi, lu Celu vosi chi [eu] t'ama [s] si.
Du schöne Nice du Rosenstrauch, der Himmel wollte daß ich dich liebe.
Quantu sì duci, sì a[g]graziata: mia Nici amata, stu cori è to!
Wie süß bist Du, wie graziös: meine geliebte Nice, dieses Herz ist dein. (Übersetzung von Giorgio Piccitto)
Die Ergänzung [eu] im 4. Vers wird von der Metrik gefordert, sie fehlt in der Notierung Meyerbeers. Das nachfolgende „tamusi" der Hs. wurde von Giorgio Piccitto in „t'amassi" verbessert. Das begleitende Instrument ist wohl eine Gitarre in der üblichen Stimmung.
NR. 2 p H f f e
Jyt^
c U SSÚ
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a] pam
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B. MELODIEN UND TEXTE
25
Text und Melodie dieses Liedes ähnelt formal dem vorangegangenen. Es handelt sich um eine Variante des Gedichtes von Meli (Puisii di l'abbati Meli, edizioni curata di Eduardu Alfanu, Palermu 1914, p. 219), das dort 4 Strophen hat, deren erste lautet: Cu l'ucchiuzzi a pampinedda quasi menz' addurmisciuta, Nici mia si sta siduta supra un morbidu sofä. Die musikalische Form ist wieder dreiteilig, die zwei letzten Verse bilden zuerst einen modulierenden Mittelteil, um dann mit der Anfangsmelodie wiederholt zu werden. Übersetzung der Handschrift (von Giorgio Piccitto): Mit diesen Äuglein halbgeschlossen, du scheinst mir eingeschlummert. Meine Nice bleibt sitzend (sitzt) auf einem weichen Sofa. Die italienischen Formen sopra (statt supra) und morbido (statt morbidu) können von Meyerbeer oder einem Gewährsmann verändert sein.
NR. 3 Canzone delle tre sorelle (Lied der drei Schwestern)1 Die Canzone von den drei Schwestern ist allgemein in Italien verbreitet, sicherlich jedoch nicht sizilianischen Ursprungs. Eine sizilianische Variante des Textes mit abweichender Melodie findet sich bei Favara [Nr. 502], der auch weitere Vorkommen anführt. Die Melodie der Meyerbeerschen Notierung ist dem französischen Volkslied „Malborough s'en va-t-en guerre" entlehnt, das im 18. und 19. Jahrhundert zum mittelund westeuropäischen Allgemeingut des Volksgesanges zu zählen ist. Die 3 vierzeiligen Strophen der Canzone sind auf diese Melodie verteilt, die eigentlich einen anderen Strophenbau voraussetzt. So wird vor allem in der 3. Strophe die ursprüngliche Melodie stark verändert. Das Vorspiel verwendet die ersten 8 Takte der Malborough-Melodie. Die vierte Zeile ist abweichend von Meyerbeers Notierung textlich geändert (bei Meyerbeer: „poi tutte tre d'amore", was keinen Sinn ergibt.) Die überflüssigen Konsonanten-Verdoppelungen in Zeile 8 „misse" und Zeile 12 „annello" sind eingeklammert, ebenso aus Gründen des Rhythmus der Schlußvokal von „navigare" in Zeile 9, womit 1
Übersetzungen der folgenden Liedertexte durch Giorgio Piccitto und Ingrid Foti-Hiller, vom Herausgeber überarbeitet.
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(Das Mädchen, das einen alten Gatten nimmt) Allegro
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B. MELODIEN UND TEXTE
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quello cho ho intesso (Anmerkung von Meyerbeer)
Meyerbeer teilt hier den A n f a n g eines volkstümlichen Liedes mit, das das beliebte T h e m a der „mala m a r i t a t a " , der schlecht verheirateten Frau behandelt. Der Text ist von ihm italienisch notiert, wahrscheinlich auch schon so von seinem Informanten in Messina intoniert worden. Eine Rekonstruktion in Sizilianisch gibt Piccitto wie folgt: Vogghiu a tutti raccuntari
Erzählen will ich allen,
zò ch'intisi 'na jurnata,
was ich eines T a g e s hörte
di 'na donna maritata
von einer verheirateten Frau,
ch'è 'na vera pietà.
eine wahrhaft traurige Geschichte.
Siti, Tuzza, sfurtunata,
Ihr seid, Tuzza, unglücklich,
chi vi dettiru pir spusu
der man zum M a n n e gab
un vicchiazzu murmurusu
einen mürrischen Alten
pir li so nicissità.
für seine Bedürfnisse.
„ D u z z a " in Vers 5 (Beginn der 2. Quartine) ist unmöglich, es muß wohl Tuzza heißen, eine Koseform Agatuzza (von Agata) in einer noch heute gebräuchlichen Verkürzung. Wieder sind 2 Quartinen zu einer Doppelstrophe gefügt, diesmal ohne textliche oder musikalische Wiederholungen. Die rasch in gleichbleibenden Achteln hineilende Melodie trägt den Text Silbe für Silbe im Parlandostil des volkstümlichen Coupletliedes vor. Auch die reichliche Verwendung chromatischer Übergänge ist nicht volksliedhaft. Die nur stellenweise notierte Begleitung könnte wieder von einer Violine, aber auch von der Gitarre ausgeführt worden sein.
NR. 10 Li mariti
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(Die streitsüchtigen Ehemänner)
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"(Anmerkungen von Meyerbeer)
Dieses Lied ist eine volkstümliche Canzonette im üblichen Versmaß der Quartine, von denen je zwei eine Strophe bilden. Hier ist die erste Strophe notiert, die dementsprechend acht Verse hat. Meyerbeers Lesart ist bis auf die Schreibung der Vokale sizilianisch. Unklar sind nur die beiden ersten Verse. Das Anfangswort »Dalle" gibt einen falschen Sinn ( = von den), besser wäre nach Vorschlag von Piccitto 'nta Ii ( = in den). „Gran magiate" im 2. Vers erklärt Meyerbeer in seiner Fußnote als „große Nichtsnutze". Piccitto möchte hierfür ,,'ngramagghiati" (ital. „ingramagliate = in Trauerkleidern, d. h. in Trauer wegen ihrer schlechten Männer) setzen. Er schlägt folgende sizilianische Rekonstruktion vor: 'Nta li nostri tempi sunu
In unserer Zeit fristen
certi donni 'ngramagghiati,
manche Frauen ein trauriges Dasein,
malamenti maritati
so schlecht sind sie verheiratet,
ch'è 'na vera pietà.
daß es gar sehr zu bedauern ist.
Zitidduzzi sfurtunati,
Ihr armen Mädchen ohne Bräutigam,
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die ihr die Geschichte hören werdet:
sù riversi li mariti
streitsüchtig sind die Männer,
ch'è 'na vera pietà.
daß es gar sehr zu bedauern ist.
Der musikalische Aufbau teilt die ganze Melodie in zwei Halbstrophen zu je zwei Doppelversen. In der ersten Halbstrophe bilden diese eine bis auf die Kadenz gleiche Wiederholung — auch das Vorspiel ist eine solche —, in der zweiten moduliert der erste Doppelvers, während der zweite wieder die anfängliche Melodiegestalt hat. Das begleitende Instrument ist vermutlich eine Violine.
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s'inginucchiaru, e ognunu dicìa viva, viva
Maria, als sie Euch sahen, lobten sie Euch,
[di] Maria la sacra littra.
fielen auf die Knie, und alle riefen: heil, heil dem heiligen Brief [von] Maria.
Das W o r t „lebeccare" in der Variante, das für „acclamaro" in der 1. Fassung steht, ist unverständlich. Musikalisch ist die „ A r i a " eher ein Rezitativ. Die engstufige Bewegung im Parlandostil lehnt sich an die Lektionsformen der Gregorianik an, hat aber schon durch den Ambitus auch liedhafte Züge und wirkt im Ganzen recht altertümlich.
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B. MELODIEN UND TEXTE
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Dieses Weihnachtslied wurde früher auf den Straßen vor den Bildern des Jesukindes gesungen, entsprechend den Krippenliedern anderer Länder. Als Begleitinstrument fungierte die Violine (die auch für die vorhergehenden geistlichen Volkslieder anzunehmen ist). Ähnliche Jesuskindlieder gab es mehrere in allen Teilen Siziliens. Meyerbeer notierte auch hier nur die erste Strophe, eine Quartine. In T a k t 7 hat die Hs. „vi M e s s i a " , was zweifellos ein Schreibfehler ist. In T a k t 8 ist in der Hs. nudo lida getrennt. Es sollte ein W o r t sein (Verkleinerungsform von nudu =
nackt). Die Rekon-
struktion von Piccitto lautet: Ralligrativi, pasturi,
Erfreut euch, ihr Hirten,
già ch'è natu lu Mis[s]ia,
weil der Messias geboren ist,
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klein und nackt in der Kälte
spostu 'mbrazza di Maria.
in den Armen von Maria.
Die Niederschrift von Gesangstimme und Begleitung, die hier einmal vollständig unterlegt ist, läßt den rezitativischen Charakter des Vortrages exakt erkennen. Die V i o line oder Gitarre, vielleicht vom Sänger selbst gespielt zu denken, hat ausgedehnte Passagen im Vor- und Nachspiel, sonst tritt sie nur am Ende des zweiten Verses mit Akkordschlägen in Erscheinung. D a s Melos und die Tonalität sind mit den vorangegangenen geistlichen Volksliedern identisch. T e x t und Melodie finden sich bei Favara „Corpus . . . " unter Nr. 644. Die Melodie klingt auch in der von Favara notierten Variante desselben Weihnachtsliedes Nr. 6 4 5 an, der T e x t in der Nr. 6 4 6 .
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Meyerbeer notiert bei dieser Canzone „moderner, ungefähr 30 Jahre alt". Das mag stimmen, denn das Lied hat tatsächlich den Duktus der volkstümlichen städtischen Lieder des ausgehenden 18. Jahrhunderts. Der Aufbau ist schlicht und ebenso liedhaft wie tänzerisch. Es wirkt auf uns Heutige wie ein Schlager aus fernen Tagen, denn die Komposition ist recht einfallsarm. Das Initialmotiv ist sentimentalisch, seine Fortspinnung trivial. Der Periodenbau im Schema A A 1, B A 1 simpel, selbst der B-Teil (Takt 9-12) ist rhythmisch eine genaue Kopie der A-Teile. 5
Bose, Meyerbeef
NR. 22
Il carcerato (Der Eingekerkerte)
Der Titel deutet auf ein Lied, doch ist der Aufbau durchaus tanzgemäß: 16 Takte, von denen die ersten 8 eine viertaktige Periode zweimal vorstellen, bei der Wiederholung melodisch und harmonisch verändert; die zweite Strophenhälfte beginnt mit einem rhythmisch und melodisch neuen Motiv von 4 Takten und schließt mit der Wiederholung der Takte 5-8 der ersten Periode (A A I , B A I ) . Meyerbeers Bemerkung, es handele sich um ein „etwas moderner" gehaltenes Stück, gilt kaum im Hinblick auf die von ihm notierten Tänze, von denen nur wenige einer älteren Schicht als der dieses Stückes angehören.
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„wird beim Brotbacken gesungen."
Dieses Lied von der Bäckerin ist von Meyerbeer ohne den Text notiert — vielleicht hat er es in einer instrumentalen Fassung gehört. Doch spricht die Niederschrift mit der deutlichen Unterscheidung von verbundenen und offenen Achteln (vgl. Takt 8, 10, 12) dagegen. Andererseits ist die Niederschrift so flüchtig, daß auch diese keinen beweiskräftigen Anhaltspunkt bieten kann. Daß es sich um ein Lied handelt, geht aus der Überschrift und der Anmerkung Meyerbeers hervor, daß es beim Brotbacken gesungen wurde. Er gebraucht hierfür eine grammatische Form, die erkennen läßt, daß das Lied noch zur Zeit der Niederschrift in der erwähnten Weise gebraucht wurde. Der Aufbau ist dreiteilig, jeweils 4 Takte bilden eine Periode: ABB1. Die beiden Schlußtakte von B und B 1 (7, 8 und 11, 12) bilden einen Refrain. Die eigenartige Tonalität — Moll mit verminderter zweiter Stufe — und die engstufige Melodik mit häufigen Halbtonfortschreitungen stellen das Lied in die kleine Gruppe der Stücke, die der Schicht des älteren sizilianischen Volksliedes angehören. 5*
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B. MELODIEN UND TEXTE
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Das von Meyerbeer als „Tanz" bezeichnete Stück ist von ihm auf 2 Systemen ziemlich sorgfältig notiert. Die Ausführung ist wohl von 2 Violinen ausgeführt zu denken. Der Tanz besteht musikalisch aus drei Teilen. Der erste geht bis zum Takt 8 und enthält eine viertaktige Periode mit Wiederholung. Von Takt 8 Mitte bis 16 Mitte folgt ein neues Motiv, ebenfalls viertaktig mit Wiederholung. Hier hat die Begleitung, die in der ersten Periode Durklangszerlegungen ausführt, eine Parallelbewegung zur Oberstimme. Nun schließt sich bis zum Takt 28 ein Mollteil an, auf den dann nach Meyerbeers Angaben der Durteil (1-16) zu wiederholen ist. Im Mollteil führt die Begleitstimme Fundamentschritte im Stil des Basso continuo aus. Die ersten vier Takte des Mollteils bringen ein zweitaktiges Thema mit Wiederholung, ein viertaktiges, ebenfalls wiederholt, bildet den Abschluß. Der vielgliedrige Aufbau und große Umfang deuten auf städtische Herkunft. Der Duktus der nicht gerade bemerkenswerten Komposition zeigt die typischen Wendungen der Zeit um 1800, wie sie wohl überall in Süditalien anzutreffen waren.
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B. MELODIEN UND TEXTE
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Meyerbeer hat diesen Tanz wohl in Palermo notiert, wie man seiner Anmerkung entnehmen kann. Er bescheinigt ihm ein hohes Alter, und das mag auch zumindest im Hinblick auf die metrische Anlage zutreffen. Taktwechselnde Tänze sind in Italien selten und gehören auch dort einer älteren Schicht an. Hier folgen in vollkommener Regelmäßigkeit zwei Takten in 3/8 drei in 2/8. Die Periode ist so zweigeteilt, jeder Teil enthält sechs Achtel, die anfangs in 2 Gruppen zu 3, dann in 3 Gruppen zu 2 Achteln zusammengefaßt sind. Der ersten Periode (1-5) folgt eine zweite (6-10) mit einer Ausweichung in die Subdominante und einer Rückführung auf die Tonika beim Beginn des 11. Taktes, die über die Dominante erreicht wird. Die dritte Periode (11-15) variiert das Motiv der ersten, die vierte (16-20) das der zweiten, während die abschließende fünfte (21-25) eine genaue Wiederholung der zweiten einschließlich der Kadenzformel ist.
Meyerbeer
schreibt ein Dacapo vor, gibt aber kein Finis-Zeichen an. Es ist wohl nach der ersten Note des Taktes 11 zu setzen. Trotz des relativ großen Umfangs ist der Aufbau ziemlich simpel (A B A 1 B 1 B [AB]), zumal auch das zweite Motiv dem ersten thematisch verwandt ist. Die Unterstimme hat eine Begleitfunktion und wechselt nur zwischen zwei Akkorden. Die G-Saite wird als Dominante das ganze Stück hindurch bordunartig beibehalten und auch dort nicht verlassen, wo die Melodie eindeutig die Subdominante verlangt (Takt 4, 8, 9 und Parallelstellen). Diese Technik erinnert an die Sackpfeife, die hier von zwei Violinen imitiert zu sein scheint. Obwohl das Instrument zu Meyerbeers Zeit in Sizilien recht verbreitet gewesen sein muß, mag er es in den von ihm besuchten Städten nicht mehr angetroffen haben.
NR. 26 Lu sicchiu1 (Der Eimer)
Dieser Tanz ist an sich ganz regelmäßig gebaut, wenn man Takt 1 als Auftakt wertet. Dann sind Takt 2-9 eine viertaktige Periode mit Wiederholung unter Abänderung der Schlußformel. Von Takt 10-17 folgen wiederum zwei gleichartige Perioden gleicher Länge, die in der Tonart der Dominante stehen und am Schluß zur Tonikalage zurückleiten, in der dann die ersten Takte wiederholt werden. Der Duktus der simplen Komposition und die Architektur des kurzen Stückes sind volkstümlich und gehören zu der Schicht, die zur Zeit der Niederschrift vielleicht schon als historisch angesehen wurde, keineswegs jedoch von höherem Alter ist. Der Tanz ist wie die meisten der hier im gleichen Takt notierten 6/8 Tänze vom damals wie heute weit verbreiteten Typ der sizilianischen und neapolitanischen Tarantella. Wie auch sonst in Meyerbeers Sammlung ist als ausführendes Instrument an die Violine zu denken. Eine Begleitstimme ist nicht notiert. 1
Das sizilianische Wort „sicchiu" (Eimer) verlangt auch den zugehörigen Artikel. (Italienisch: il secchio)
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NR. 27 La regina
(Die Königin)
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Anlage und Aufbau, sogar die Thematik ähneln dem, von Meyerbeer auf der gleichen Seite notierten Tanz „Lu sicchiu". Der Mittelsatz der moll-Weise steht hier in der zugehörigen Durtonart. Der Vorsatz wird danach wiederholt.
NR. 28
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Auch dies ist ein T a n z im Tarantella-Rhythmus, in der Anlage identisch mit den vorhergehenden. Den Auftakt könnte man auch als 3/16 lesen, doch sind wohl Achtelnoten gemeint. D a die ganze Phrase des Vorsatzes aber in G-dur steht, wäre vielleicht statt der Folge a h eis' im Auftakt auch richtiger g h c' oder h h c' zu schreiben. D e r Mittelsatz im zugehörigen e-moll kontrastiert rhythmisch gar nicht und melodisch kaum mit dem Durteil.
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„Lu tariolo", wie Meyerbeer notiert, ist zwar sizilianisch, aber falsche Orthographie. Tariolu ist ein Diminutiv von „tari", was eine kleine Münze bedeutet.
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