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German Pages 17 [24] Year 1932
UNOARISCHE BIBLIOTHEK F ü r d a s U n g a r i s c h e I n s t i t u t an d e r U n i v e r s i t ä t B e r l i n h e r a u s g e g e b e n von JULIUS VON FARKAS
Erste Reihe, Heft 17
Uber die Herausgabe ungarischer Volkslieder von
Bela
Bartök
Sonderabdruck aus den Ungarischen Jahrbüchern Band XI Heft 3
1931 Walter de G r u y t e r & Co. Berlin und Leipzig
UNGARISCHE
JAHRBÜCHER
Z E I T S C H R I F T für die kulturellen, sozialen und wirtschaftlichen Fragen Ungarns und seiner Nachbarländer. — Begründet von ROBERT GRAGGER. Unter Mitwirkung von W. B A N G , Z. v. G O M B O C Z , E. L E W Y , K. S C H Ü N E M A N N , herausgegeben von dem Direktor des Ungarischen Instituts an der Universität Berlin JULIUS v. FARKAS. Die Jahrbücher erscheinen viermal jährlich.
Bd. Bd. Bd. Bd. Bd.
I, II, III, IV, V,
Heft Heft Heft Heft Heft
1—4 . 1—4 . 1—4. 1—4 . 1—4.
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RM. RM. RM. RM. RM.
12.-; 12.— ; 12.— ; 12.—; 16.-fc
geb. geb. geb. geb. geb.
RM. RM. RM. RM. RM.
13.50 13.50 14.14.18.—
Bd. VI, Heft 1 — 4 . B d . VII, Heft 1 - 4 . Bd. VIII, Heft 1 - 4 . Bd. IX, Heft 1 - 4 . Bd. X, Heft 1—4 .
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20.— ; 24.— ; 24.-: 24.— ; 24.— ;
geb. geb. geb. geb. geb.
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22.— 26 — 26.26.— 26.—
AUS DEM INHALT DER BISHER E R S C H I E N E N E N B Ä N D E : Sprachwissenschaft B A N G . W . : Türkisches Lehngut im Mandschurischen (IV). — : Turkolog. Briefe aus dem Ungar. Inst. (V, VII, X). B R A N D L , A.: Der Name Magyar bei König Alfred (III). B R O C K E L M A N N , C.: Naturlaute im Mitteltürkischen (VIII). GIESE, F.: Zum Wortschatz der altosman. anonymen Chroniken (VIII). GOMBOCZ, Z.: Geschichte der urungar. a-Laute (VIII). — : Über die Haupttypen der ungar Verbalformen (X). G R A G G E R , R.: Zur Geschichte der ugrofinn. Sprachwissenschaft (IV). G Y Ö R F F Y , St.: Rumänische Ortsnamen (VI). JOKL, N.: Die magyar. Bestandteile des alb. Wortschatzes (VII). J U N K E R , H.: Türk. S'imnu „Ahriman" (V). — : Neupers. asan „leicht" usw. (V). L E W Y , E.: Kurze Betrachtung der ungar. Sprache (IV). — : Arisch-Finno-Ugrisches (VI). •—: Possessivisch und passivisch (VIII). — : Wogulische Vorstudien (X). LOSONCZY, Z.: Die ungar. Sprachwissenschaft 1920—21 (II). M A R K W A R T , J.: Np. ädtna. „Freitag" (VII). MEZGER, F.: Altgerman. Zeugnisse zu ost- und nordeurop. Völker- und Ländernamen (II). MLADENOV, St.: Zur Erklärung_der sogenannten Buela-Inschrift des Goldschatzes von Nagy-Szent-Miklös (VII). MOOR, E.: Ungarische Flußnamen (VI). NEMETH, J.: Die petscheneg. Stammesnämen (X). PAIS, D.: Die altungar. Personennamen (III). POPPE, N.: Altaisch und Urtürkisch (VI). — : Die türkischen Lehnwörter im Tschuwassischen (VII). RACHMATULLIN, G. R.: Die Hilfsverben und Verbaladverbien im Altaischen (VIII). SCHAEDER, H. H.: Zur Beschriftung des Schatzfundes von Nagy-Szent-Miklös (V). SCHULTE, W . : Zum Tocharischen (VII). — : Osteuropäisches (VIII). SETÄLÄ, E.: Ein vorarisches ev. urindogerman. Kulturwort im FinnischUgrischen (VII). — : Einige vor- und urarische -er- und -r-Wörter in den fiugr. Sprachen (VIII). S Z I N N Y E I , J.: Die Ungar. Akademie der Wissenschaften und die ungar. Sprachwissenschaft (VI). THIENEMANN, T.: Die deutschen Lehnwörter der ungar. Sprache (II). THOMSEN, V.: Aus Ostturkestans Vergangenheit (V). TREML, L.: Die ungar. Lehnwörter im Rumänischen I (VIII). — : Die ungar Lehnwörter im Rumänischen II (IX). W I N K L E R , H.: Die altaischen Sprachen (IV). Geschichte und Hilfswissenschaften ALFÖLDI, A.: Der Untergang der Römerherrschaft in Pannonien I, II, III (III, IV). A N G Y A L , D.: Das österr. Staats- und Reichsproblem (III). A R R A S , P.: Regestenbeiträge zur Geschichte des Matthias I. Corvinus (IV). B E R Z E V I C Z Y , A, v . : Der italienische Feldzug von 1859 und Bachs Sturz (VI). B R I N K M A N N , C.: Bulgarisch-ungarische Beziehungen im 5.—11. Jh. (II). B R Ü C K N E R , A.: Zur Geschichte der Slowakei (VI). BUCHNER, M.: Um das Nibelungenlied (IX). FEHfeR, G.: Ungarns Gebietsgrenzen in der Mitte der 10. Jh. (II).. G Y A L O K A Y , E. V.: Die Schlacht bei Mohäcs (1526) (VI). HOLIK, Fl.: Die erste gelehrte Gesellschaft in Ungarn (III). HOLTZMANN, W . : Papst Alexander III. und Ungarn (VI), HÖMAN, B.: Der Ursprung der Siebenbürger Sz6kler (II). — : Geschichtliches im Nibelungenlied (III). K A R O L Y l , A . : Stephan Szechenyis beschlagnahmte Schriften (II). L I N T Z E L , M.: Theudebert I. und die Sachsen in Pannonien (X). L U K I N I C H ; E . : Preußische Werbung in Ungarn (1722—40) (VI). M Ä L Y U S Z , E. v . : Die Entstehung des Komitates Türöc (I). MÖÖR, E.: Die -deutschen Spielleute in Ungarn (I). — : Anschauungen von der Uiheimat der Ungarn, im Mittelalter und bei den Humanisten (VII). M O R A V C S I K , J. : Zur Geschichte der Onoguren (X). MORDTMANN, J. H.: Osmanische Historiographie und Urkundenlehre (VIII). MÖTEFINDT, H.: Der Schatzfund von Nagy-Szent-Miklös (V). OREND, M.: Die ältesten von Stammes-, Gebiets- und Ortsnamen abgeleiteten Familiennamen der Siebenbürger Sachsen (IX). R E L K O V I C , N.: Aus dem Leben der sieben „niederungar. Bergstädte" im 14.-—17. Jh. (VI). SCHMIDT, L.: Die Ostgoten in Pannonien (VI). — : Franken und Sachsen im 6. Jh. in Pannonien ? (IX). SCHÜNEMANN, K . : Ungar. Hilfsvölker in der Literatur des deutschen Mittelalters (ly). — : Hunnen und Ungarn (V). — : Die „Römer" des anonymen Notars (VI). T A K Ä T S , A.: Ungar, und türk. Berufsschreiber im 16. und 17. Jh. (I). THIM, J. R.: Die Gründungsversuche Jugoslawiens 1848/49 (I).' Literaturwissenschaft und -geschichte B A N G , W., GABAIN, A. v.: Ein uigur. Fragment über den manichäischen Windgott (VIII). B R Ü C K N E R , A.: Ungarn und Polen (IV). — : Ein Arpaden-Held russischer Balladen? (VI). D R E S C H E R , P.: Die ungar. Übersetzungsliteratur 1920-28 (IX). Fortsetzung
siehe 3.
Umschlägseite
UNGARISCHE BIBLIOTHEK Für das U n g a r i s c h e Institut an der U n i v e r s i t ä t herausgegeben
von
Berlin
J U L I U S VON F A R K A S
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Uber die Herausgabe ungarischer Volkslieder von
Bela B a r t ö k
Sonderabdruck aus den Ungarischen Jahrbüchern Band XI Heft 3
1931 Walter
de
G r u y t e r
Berlin und Leipzig
&
Co.
Ungarische Jahrbücher Band XI, Heft 3 enthält : B é l a B a r t ó k , Über die Herausgabe ungarischer Volkslieder. S. [91—205. U l r i c h N o a c k , Das Metternichproblem.
S. 206—223.
W i l h e l m G ü r g e , Der mitteleuropäische Gedanke. E. K o l b e n h e y e r ,
Ungarns
Außenhandelspolitik
S. 224—239. nach
dem
Kriege I. S. 240—276. F r i e d r i c h G i e s e , Bemerkungen zu G. Raquette: Eine Kaschgarische Wakfurkunde aus der Khodscha-Zeit Ost-Turkestans. S. 277—283. Kleine Mitteilungen und Anzeigen: S. 284—301. Otto Gombosi: Béla Bartók. — Rudolf Rusznàk : Die Staatslehre in Ungarn. — G. Prokofjew: Materialien zur Erforschung der OstjakSamojedischen Sprache. Die Tasovsche Mundart. II. — G. R. Rachmati : Zur Frage des 12 jährigen Tierzyklus bei den Türkvölkern. — Tibor v. Joó: Bemerkungen zur ungarischen Philosophie der Gegenwart.
Bficherschau.
S. 302—352.
Mit großen Erwartungen sah man in Ungarn dem Erscheinen des 12. Bandes der Sammlung Das Lied der Völker entgegen 1 ), da alle bisherigen für das Ausland zusammengestellten Anthologien des ungarischen Volksliedes bloß ein kläglich verzerrtes Bild boten. Man hoffte um so mehr endlich einmal eine einwandfreie Veröffentlichung zu erhalten, da bekannt war, daß sie „nach wissenschaftlichen Gesichtspunkten ausgewähltes" und mit Anmerkungen versehenes Material enthalten sollte. Der angesehene Verlag schien dafür zu bürgen, daß die Veröffentlichung allen Anforderungen entsprechen werde, die man an eine solche Arbeit stellen kann. Diese Anforderungen sind: die charakteristischesten Melodien aller Hauptgruppen, wenigstens in je einem richtig aufgezeichneten, rein erhaltenen (also nicht etwa in verzerrtem oder zersungenem) Exemplar mit möglichst genauer Quellenangabe, einwandfreier Begleitung und sorgfältigen Bemerkungen versehen, übersichtlich geordnet vorzuführen. Wir müssen leider gestehen, daß diese Erwartungen getäuscht worden sind. Sowohl von musikwissenschaftlichen, wie auch von rein musikalischen Standpunkt aus ist der Band weit davon entfernt, befriedigend zu sein; ja, er bietet sogar in einzelnen Nummern und Anmerkungen das denkbar Schlechteste, was man auf diesem Gebiete geben kann. Dieser Umstand ist um so auffallender, als die übrigen Bände, wenn sie auch nicht fehlerfrei, doch in dieser oder jener Hinsicht befriedigender sind. % Betrachten wir den Band vorerst vom wissenschaftlichen Standpunkt aus. Aus dem Vorwort geht hervor, daß der Herausgeber bei der Auswahl der Lieder die Volkslieder aller ungarischen Volksschichten, also sog. „volkstümliche Kunstlieder" ebenso wie sog. Bauernlieder in Betracht zieht. Dagegen wäre nichts einzuwenden; beide Arten bergen wertvolles Material in sich. Freilich sollte schon durch die Art und Weise der Auswahl ein unverfälschtes Bild des gegenseitigen Verhältnisses und der relativen Bedeutung beider Arten geboten werden. Hierzu sei folgendes bemerkt: Das Lied der Völker, B a n d 1 2 : Ungarische Volkslieder (Verlag B . Schotts Söhne, Mainz; herausgegeben v o n Heinrich
MÖLLER). 1
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Béla Bartók,
1. Bauernlieder, namentlich jene im engsten Sinne des Wortes, sind im ungarischen Material recht gut von den volkstümlichen Kunstliedern zu unterscheiden, wenn auch der Herausgeber diese Möglichkeit im Vorwort leugnet. 2. Die Lieder des Bauerntums haben für die ungarische Volksmusik eine unvergleichlich höhere Bedeutung als die volkstümlichen Kunstlieder, und zwar sowohl zahlenmäßig, als auch inhaltlich. Wir besitzen ungefähr 10 ooo Aufzeichnungen ungarischer Bauernlieder, die etwa 2600 Variantengruppen bilden, wogegen wohl kaum mehr als 1500 volkstümliche Kunstlieder allgemein bekannt sein dürften (die naturgemäß ausgesprochene Varianten nicht aufweisen). Inhaltlich sind erstere bei weitem wichtiger, sowohl ihren ästhetischen Wert, als auch ihre nationale Bedeutung betreffend. Der vorliegende Band enthält 44 Melodien, davon volkstümliche Kunstlieder insgesamt 23 (Nr. 1. 2. 3. 5. 20. 21. 22. 23. 25. 26. 27. 28. 29. 30. 31. 32. 33. 34. 35.36.39.41.44), die mit vier Ausnahmen (Nr. 23. 26. 27 und 32) im Bauerntum nicht verbreitet oder überhaupt unbekannt sind. Diese 55 % Kunstlieder des Bandes geben ein falsches Bild von der Bedeutung und dem Zahlenverhältnis beider Arten. Da der Herausgeber Kriterien zur Unterscheidung beider Arten nicht kennt, bzw. nicht zuläßt, müssen wir diese zugunsten der volkstümlichen Kunstlieder ausgefallene einseitige Auslese seinem persönlichen Geschmack zuschreiben. Durch die planlose Vermischung beider Arten ist es ihm jedenfalls gelungen, einen verwirrendbunten Wechsel in seinem Bande zu erreichen. Die Verwirrung wird dadurch noch ärger, daß er einige dieser Lieder (1. 21. 27. 34. 35. 36. 41. 44) in den Fußnoten oder durch Angabe des Autors als Kunstlied bezeichnet, bei den übrigen dagegen fehlt jeder derartige Hinweis. Aber selbst die Auswahl dieser Kunstlieder ist gänzlich unbefriedigend. Wozu von ein und derselben Art gleich vier Belege liefern (Nr. 28. 30—32) ? Von dieser weinerlich sentimentalen Art hätte ein Exemplar vollends genügt, da so manche wertvollere Lieder anderer Autoren gänzlich fehlen. Kunstlieder mit einer derart unmöglichen Deklamation wie Nr. 34 und 36, die bloß zur Demonstration dessen dienen könnten, wie man einen ungarischen Text nicht vertonen soll, dürften in eine Musterauswahl überhaupt nicht aufgenommen werden. Ebensowenig ein Lied, wie Nr. 5, dessen Text — ein Machwerk abschreckendster Art — Verstöße gegen die ungarische Sprache enthält, wie z. B. ,,Sokä szeretöül birtam ¿n, De elcsabittatott szegeny." Das klingt ungefähr so, wie wenn man deutsch „mir war eine Geliebte" statt „ich hatte eine Geliebte" sagte. Untersuchen wir nun, wie die Haupttypen der Bauernlieder vertreten sind. Vorher sei folgendes bemerkt: in der ungarischen Bauernmusik fallen zwei Klassen besonders auf, jene der „alten" (A) und jene der „neuen" (B)
Über die Herausgabe ungarischer Volkslieder.
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Melodien. Klasse A hat die charakteristischen Unterklassen der 12-, 8-, 6-, 7-, 9-, 10- und n-Silbler, wovon die der 12-, 8- und 11-Silbler besonders wichtig sind. Nun gehören in diesem Bande Nr. 7 (parlando), 10 und 1 1 (beide im festen Rhythmus) der 8-Silbler, Nr. 12 und 13 der 7-Silbler, Nr. 38 der 9-Silbler, Nr. 39 der 10-Silbler Unterklasse an. Nr. 10 und 1 1 einerseits, 12 und 13 anderseits führen ein und denselben Typus vor; hingegen fehlen die ungemein wichtigen Unterklassen der 12- bzw. 11-Silbler gänzlich. Erstere ist deshalb wichtig, weil sie ein ungarisches Spezifikum darstellt, die zweite, weil sie den Ausgangspunkt zur Entwicklung der „neuen" Lieder bildet. Von den vier Haupttypen der „neuen" Lieder ist der erste durch Nr. 14 und 18, der vierte durch Nr. 8 und 9 repräsentiert; der besonders charakteristische dritte Typus — ebenfalls ein imgarisches Spezifikum — (mit Strophenstruktur A B B A) fehlt vollständig bzw. sollte durch das infolge gänzlich falscher Aufzeichnung fast unkenntlich gewordene Lied Nr. 16 repräsentiert sein. Quellenangaben fehlen fast durchweg, was um so mehr auffällt, als in anderen Bänden (z. B. Band 9 „Griechische, albanische und rumänische Volkslieder") Name des Sammlers und oft auch Ort der Sammlung fast stets angegeben sind. Was für griechische Volkslieder von Bedeutung ist, wäre für die ungarischen unwichtig? Wie wir sehen, werden die Lieder wähl- und planlos herausgegriffen, ihre Folge dem reinen Zufall überlassen, im Charakter und Aufbau verwandte Melodien unsystematisch einander näher oder weiter gerückt. Geschah letzteres, um einer Monotonie aus dem Wege zu gehen, so hätten Anmerkungen auf die Verwandtschaft der betreffenden Melodien hinweisen müssen. Wie denn überhaupt — bei einer Ausgabe von wissenschaftlichem Anspruch — wenigstens die besonders charakteristischen Züge der wichtigsten Typen angegeben werden sollten. Doch davon ist — mit Ausnahme der Bemerkung über die Pentatonik zu Nr. 7. 8. 10—14 — keine Spur vorhanden. Dagegen enthalten die Anmerkungen zahlreiche überflüssige oder gänzlich falsche Angaben. Bei Nr. 1 heißt es: „Ein Lied aus dem 17. Jahrhundert", und weiter: „die Melodie ist von Aug. Luttenberger". Luttenberger lebte jedoch in der zweiten Hälfte des 19. Jh.! Das Merkwürdigste aber ist in diesem Falle, daß der Aufsatz, auf den sich Herausgeber zur Bekräftigung seiner Behauptungen beruft („Ethnographie" 1916, 228, namentlich aber ein zweiter, ebendort, 1917, 266—277), gerade unwiderlegbar beweist, daß sowohl Text, als auch Melodie ein Machwerk aus der Zeit um 1890 ist. Eine unbegreifliche Anmerkung finden wie bei Nr. 3 (Notenbeispiel 1): „Die Melodie ist typisch für den Stil der alten Balladen, in deren Melodik Kirchentöne neben der sogenannten Zigeunerskala häufig vorkommen." Fast jedes Wort ist hier unzutreffend! Die Melodie ist tatsächlich von Ignaz Jeitteles (gest. 1901) komponiert, der Text von Tihamir Almässy
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Béla Bartók,
verfaßt. 1 ) Abgesehen davon ist sie nicht einmal eine Nachbildung der alten Balladenmelodien, denn letztere weisen vierzeilige isometrische Strophenstruktur und meistens Pentatonik oder Kirchentöne auf, niemals aber die sog, Zigeunerskala und niemals eine Zeilenendung auf d 1 . In Nr. 3 finden wir dagegen heterometrische Strophenstruktur (14 + M + 16 + 8 Silben in den 4 Zeilen), die 1. und 2. Zeile endigt auf d 1 . Wer kann es überhaupt für möglich halten, daß alte Balladen in Osteuropa auf Melodien mit einer derart komplizierten Strophenstruktur gesungen werden? Die vom Herausgeber behauptete Verwandtschaft von Nr. 23 des vorliegenden und Nr. 17 des 10. Bandes (Westslavische Volkslieder) ist recht zweifelhaft; nur die erste Hälfte beider Melodien zeigt eine ähnliche Linie der Melodie bei völlig verschiedenem Rhythmus; die zweite Hälfte beider Melodien hat dagegen überhaupt nichts Gemeinsames. Mit einer ähnlichen Vergleichsmethode könnte man Tausende von Volksliedern Mittel-Osteuropas für verwandt erklären. Zu Nr. 27 heißt es: „Die Melodie ist in verschiedenen rhythmischen Variationen in Ungarn, in der Slovakei, in Kroatien usw. verbreitet B. Bartök ist in solchen Fällen geneigt, slovakischen Ursprung anzunehmen." Diese Behauptung entspricht nicht den Tatsachen. Gerade in diesen Fällen, wo es sich nämlich um eine Melodie mit der vierzeiligen Strophenstruktur A, A um eine Quinte höher, B, A handelt, bin ich folgender Meinung: „Wir haben keinen annehmbaren Beweis dafür, daß diese Struktur ein ungarisches Urprodukt wäre, weil wir überhaupt keine Sammlung ungarischer Volksmusik aus der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts besitzen. I c h b i n aber d a v o n ü b e r z e u g t , d a ß diese S t r u k t u r b e i den U n g a r n e n t s t a n d e n ist und schon am Anfang des vorigen Jahrhundertes dort allgemein bekannt war." 2 ) Hier speziell handelt es sich um ein volkstümliches Kunstlied, das unter dem Einfluß der neueren ungarischen Bauernmusik entstanden ist. Bei Nr. 44 (der bekannte Raköczi-Marsch) heißt es: „Diese NationalMelodie soll Franz II. Fürsten Rakoczis (1676—1735) Lieblingsstück gewesen sein." Hier ist jeder Beweis überflüssig, einem jeden Musikwissenschaftler genügt ein Blick auf die Melodie und Struktur des Raköczi-Marsches, um feststellen zu können, daß die Melodie nicht vor Ende des 18. Jh. entstehen konnte. Betrachten wir nun die angeführten Melodien selber, so erhalten wir ein noch ungünstigeres Bild von der Veröffentlichung. Nr. 4 (s. Notenbeispiel 2 a). Hier sind zwei Fehler unausgemerzt geblieben. Die Wiederholung der 1. Zeile ist Willkür des (anonymen) Auf1)
Zum erstenmal zur Aufführung gelangt im Volksschauspiel „ A falu bolondja"
am 3. Dez. 1861 zu Pest. 2)
B. BARTÖK: Das ungarische Volkslied, Berlin: W. de Gruyter 1925 (Ungarische
Bibliothek I, 11), S. 48 f.
Über die Herausgabe ungarischer Volkslieder.
Zeichners oder des Bearbeiters, denn es liegen 3 gedruckte1), 7 phonographierte und 9 bloß aufgezeichnete Varianten vor, sämtliche ohne diese Zutat. Eine zweite Willkür zeigt die Unterlegung des Textes: der 1. und 2. Melodiezeile müßte ein und dieselbe (die 1.) Textzeile repetiert unterlegt sein, der 3. und 4. Melodiezeile die folgende (2.) Textzeile ebenso; d. h. die Melodiestrophe ist vierzeilig, die Textstrophe jedoch nur zweizeilig (Notenbeisp. 2b, Kodálys Aufzeichnung aus dem J . 1916 inNagyszalonta). Den Beweis hierfür liefern die 19 vorliegenden Varianten. •— Schließlich muß angeführt werden, daß zwei der 19 Varianten die Dur-, zwei die Moll-, alle übrigen die aeolische Tonleiter aufweisen, ein übermäßiger Sekundenschritt aber in keiner der Varianten zu finden ist. Dies hindert indessen den Herausgeber nicht, die Folgerung zu ziehen: „Die Melodie ist alt, zeigt aber schon den Einfluß der Zigeunermusik: absteigende Skala g f e d eis b." Wenn aus 20 Varianten nur eine diesen übermäßigen Sekundenschritt aufweist, und auch diese einzige, nach einem nicht zu kontrollierenden Vortrag und von einem Unbekannten aufgezeichnet wurde (jede diesbezügliche Angabe fehlt), die meisten der übrigen 19 indessen von Fachmännern aufgezeichnet, teilweise auch phonographiert worden sind, so darf man diesen Sekundenschritt doch nicht als eine essentielle Eigenschaft der Melodie darstellen, sondern muß ihn vielmehr als Willkür oder Zufälligkeit ansehen. Nicht Zigeuner-, sondern westslavischer Einfluß tritt in dieser Melodie zutage, denn sie zeigt in der Strophenstruktur eine sogenannte „Rhythmusverengung" der beiden Innenzeilen, die für die slovakischen und mährischen Volksmelodien außerordentlich charakteristisch ist. Im ungarischen Material gibt es insgesamt 10 Variantengruppen dieser Struktur (1 Fünfsilbler, 4 Sechssilbler, 2 Siebensilbler, 3 Achtsilbler) im mährisch-slovakischen Material hingegen2) insgesamt 63! (1 Fünf-, 16 Sechs-, 10 Sieben-, 28 Acht-, 8 Zehnsilbler). Auch bei allen diesen, mehrere Hunderte zählenden Melodien fehlt die weiter oben beanstandete Zutat und ist eine Textunterlegung mit repetierten Textzeilen ohne Ausnahme zu beobachten. Herausgeber hat B A B T A L U S : Magyar
népdalok,
Bd. III, Nr. 13, Bd. VI, Nr. 8;
BABTÓK:
Das
ungarische Volkslied, Nr. 185. — Weshalb zitiert Herausgeber nur die erste ? Er hat ja allem Anschein nach alle drei zur Verfügung gehabt. 2 ) Hier sei nur auf die in gedruckten Schriften angeführten Siebensilbler hingewiesen: K. J . EBBEN: Náphiy prostonárodních pisní ¿eskych, Prag 1886, 2. Aufl., Nr. 9 1 ; Fr. SUSIL: Moravské Národní Písné, Brünn 1859, Nr. 20b, 192a, 623b, 683c, 820a, 8 2 1 b ; Fr. BABTOS: Nové Národní Plsné Moravské, Brünn 1882, Nr. 246; ders.: Národní Písné Moravské, Brünn 1889, Nr. 660; ders.: Národní Písné Moravské, Prag 1899 und 1901, Nr. 189, 697, 1 1 3 1 ; Slovenské Spevy, Bd. I—III, Turüansky Sväty Mart'n 1880, 1890 und 1899, Bd. I, Nr. 62, 246, 394, Bd. II, Nr. 169, 475, Bd. III, Nr. 163, 220, 380; J . CERNIK, Zpevy Moravskych Kopaniíáru, Prag 1908, Nr. 167. Somit insgesamt 21 gedruckte Exemplare; dazu noch 18 handschriftliche slovakische von ungarischen Forschern aufgezeichnet.
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Béla Bartók,
mit sicherer Hand von den vielen Hunderten der Melodien dieser Familie das verdorbenste Exemplar herausgegriffen. Es ist eine Oberflächlichkeit höchsten Grades, hier von Zigeunereinfluß zu sprechen und dabei den evidenten westslavischen Einfluß unerwähnt zu lassen. Herausgeber scheint der Ansicht zu sein, daß zur kritischen Behandlung des osteuropäischen Materials die Kenntnis der, wie er sie nennt, „Zigeunermusik" genügt. Nr. 6. „Melodie nach Bartalus" (s. Notenbeispiel 3a). Ein Blick genügt, um die Unbeholfenheit des Aufzeichners, mit der er den freien Rhythmus der Parlando-Melodie in einen 4/4-Takt hineinzuzwängen versucht, wahrzunehmen. — Herausgeber erwähnt in der Anmerkung 2 Varianten aus B. B a b t ö k und Z. K o d ä l y : N¿pdalok (Erdölyi Magyarsäg, Bp. 1923): Nr. 113 (s. Notenbeisp. 3b) und 127, beide in Kodälys Aufzeichnung. Weshalb hat er nicht eine dieser gewählt ? Mit ihr wären gleichzeitig wenigstens einige Beispiele für die höchst charakteristische Verzierungsweise der altungarischen Volksmusik vorgeführt worden, wovon sonst im ganzen Hefte nicht ein Beispiel vorhanden ist. Er hat nicht einmal die Entschuldigung, die gute Aufzeichnung nicht gekannt zu haben. Bewog ihn vielleicht die übermäßige Sekunde (ein Intervall, für das er eine besondere Vorliebe zu hegen scheint) der Bartalusschen stümperhaften Aufzeichnung zu diesem Mißgriff? Einen der allerschwersten Fehler des Bandes zeigt Nr. 16. Die Aufzeichnung von Bartalus bringt die Melodiezeilen dieses allgemein bekannten Liedes in gänzlich verkehrter Ordnung! Hier ist j eder Kommentar überflüssig: man vergleiche Notenbeisp. 4a (Bartalus' Aufzeichnung) mit Notenbeisp. 4b (Kodalys Aufzeichnung aus Nagyszalonta im J. 1917). Die Melodie ist weit und breit bekannt, es liegen 20 handschriftliche Varianten vor, ja selbst eine gedruckte und vom Herausgeber unbemerkt gebliebene, in der Bartalus-Sammlung (I. Bd, Nr. 32!), die alle die Struktur von 4b aufweisen. Hätte Herausgeber sich das Lied von einer beliebigen Zigeunerkapelle vorspielen lassen, selbst diese würde ihm die Melodie in unverdorbener Struktur geliefert haben. Angenommen den Fall, daß diese Melodie tatsächlich in dieser Mißgestalt dem AufZeichner vorgesungen wurde, ist dies noch bei weitem keine Entschuldigung dafür, eine derart verballhornte Form einer allgemein bekannten Melodie einer Anthologie einzuverleiben. In Nr. 38 (s. Notenbeisp. 5 a, große Notenköpfe) wirkt Takt 12 (Primo) wirklich wie eine Faust aufs Auge. Ist es eine Willkür des Bearbeiters Korbay ? Denn eine solche Unmöglichkeit kann nicht einmal dem Zigeunervortrag zugeschrieben werden. Sähe man nicht darunter die sich anschmiegende Begleitung, müßte man diese Unsinnigkeit für einen Druckfehler halten. Sie ist um so verwunderlicher, da der Herausgeber die richtigen Formen dieser Melodie kennt und zitiert: „Ähnlich bei Szini, A magyar n6p dalai es dallamai Nr. 158. Liszt benutzte die Melodie im Schlußteil der 13. Rhapsodie. Ein Vergleich der obigen Fassung und selbst der zigeunerischen
Über die Herausgabe ungarischer Volkslieder.
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Variante, die Liszt benutzte, mit der in B. Bartök ,Das ungarische Volkslied' Beisp. 73 kann schwerlich zugunsten der Bauernvariante ausfallen." Notenbeisp. 5 a legt in der kleinen Notenschrift die Abweichungen der von Liszt benutzten Variante, Notenbeisp. 5 b, in der großen Notenschrift Szinis Variante, in der kleinen Kodalys Variante vor; den Vergleich überlassen wir dem Leser; es sei nur folgendes dazu bemerkt: 5 b rührt einesteils von einem der ausgezeichnetsten Fachleute: von Kodäly, andererseits von Szini her, dessen Aufzeichnungen sich als ziemlich korrekt bewährten; beide stimmen im großen und ganzen überein. Dagegen ist es unbekannt, von wem und nach wessen Vortrag 5a aufgezeichnet worden ist; beide dieser Varianten ändern den Schlußtakt der Melodie — jede auf ihre eigene Art — in erheblicher Weise, ohne daß die Authentizität dieser Abweichung durch analoge Fälle bekräftigt werden könnte. Hingegen liegen analoge Schlüsse zu 5 b in vielen Melodien vor. Wir müssen also 5 a so lange als eine Verballhornung betrachten, bis uns nicht mindestens 10 Beispiele vorgelegt werden, die entweder die Struktur der einen oder der anderen Variante von 5 a aufweisen. Herausgeber zieht diese Verballhornimg anscheinend aus „ästhetischen" Gründen vor: auch hier hat er die schlechteste der Vorlagen herausgegriffen. In der Anmerkung zu Nr. 40 (s. Notenbeisp. 6 a) läßt Herausgeber seinen aristokratischen Gefühlen freien Lauf in folgendem Satz: „Eine bäurisch entstellte Variante in B. Bartök Das ungarische Volkslied, Nr. 72" (s. Notenbeisp. 6 b). Weshalb „entstellte" ? Weder in 6 a noch in 6 b ist irgend etwas entstellt (außer daß in 6 a der stereotype Rhythmus der Zeilenanfänge verdächtig zu sein scheint, denn bei Zeile 1 , 2 und 4 ist f ^ (- -) aus textlichen Gründen viel wahrscheinlicher). Der Unterschied zwischen beiden ist nicht erheblicher als die allgemein vorkommenden Unterschiede zwischen Bauernvarianten. Von einem ähnlichen Blickpunkte müßte dann jede Variante im Verhältnis zu einer andern für „entstellt" erklärt werden. Übrigens muß ich feststellen, daß die „unentstellte" Variante 6a ebenso bäurisch ist wie 6 b. Den größten Fehler des Heftes finden wir aber in Nr. 44, welche den Raköczi-Marsch als ein „gesungenes Volkslied" hinstellt. — In Wirklichkeit ist die Sachlage die folgende: Nachdem der im Anfang des 19. Jh. nach älteren Motiven komponierte Raköczi-Marsch sehr populär geworden war, versuchte man ihn mit einem überschwenglichen (also nicht einmal volkstümlichen) Textmachwerk zu versehen. Mit diesem Texte wurde er, zu nationalen Feiern, Schulchören usw. eingedrillt und von denselben gelegentlich vorgetragen. Spontan wurde diese spezifisch instrumentale Musik niemals gesungen. Wie steht es nun mit dem musikalischen Wert der Bearbeitungen? Vor allem fallen die Bearbeitungen Korbays (Verlag B. Schotts Söhne,
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Béla Bartók,
Mainz) durch Bombast und falsches Pathos unangenehm auf (Nr. 2. 3. 4. 5. 17. 24. 25. 38). „Sensa tempo misurato, fantasticamente", „Lento patetico quasi narrato", „Lento patetico", „Allegretto quasi anelante (keuchend)" usw. lauten die Tempobezeichnungen; der Charakter der Bearbeitungen ist ihnen entsprechend: zu wilden Tremolos angeschwollene Akkorde, keuchende Passagen usw. finden sich darin in Hülle und Fülle. Vor vierzig oder fünfzig Jahren, als es auf diesem Gebiete noch nichts Besseres gab, als man die osteuropäische Volksmusik mit romantischer Schwärmerei ansah, gingen sie noch irgendwie an, sie verstoßen ja wenigstens nicht gegen die musikalische Grammatik. Heute wirken sie aber stillos und veraltet. Die Absicht, aus dem Verlagseigentum soviel wie nur möglich wieder zu verwenden, ist hier viel zu offensichtlich. Als zweites fällt uns die große Zahl der Bearbeitungen anonymer Herkunft auf (Nr. 1. 10. 11—15. 18—21. 23. 26—29. 32—35. 37. 39. 41. 42). Es hat geradezu den Anschein, als ob man in Ungarn mit Klavierbegleitung volksmusizierte, als ob die Klavierbegleitung ebenfalls vom „Volk" abgelauscht worden wäre. — Nun, es ist auch für diese Bearbeiter vorteilhafter, sich im anonymen Dunkel zu verbergen, denn ihre Arbeit entbehrt wohl des Korbayschen Schwulstes, weist aber dafür Unbeholfenheiten und grammatische Verstöße auf. Es seien nur einige Beispiele herausgegriffen: Nr. 10 (s. Notenbeisp. 7). Die Begleitung besteht aus neun Akkorden, wovon fünf ein und derselbe Akkord: der Tonika-Dreiklang in der Grundlage sind. Wenn schon der Bearbeiter nur über eine solch minimale Invention verfügt, so hätte er besser getan, die denkbar einfachste Begleitung Tonika und Dominante als Ostinato Orgelpunkt hinzusetzen, statt auf diese unbeholfene Weise hin und her zu kippen vom und zum Tonika-Dreiklang. — Eine ähnliche Plattheit (fünfmaliges Zurückgreifen im Laufe des Liedes auf den Tonika-Dreiklang in der Grundlage) zeigt sich in Nr. 13. Nr. 14 (s. Notenbeisp. 8). Sind die parallelen Quinten im vorletzten Takte vielleicht ein Druckfehler? Für absichtliche kann man sie schwerlich halten! Die Antizipation des Schlußakkordes im drittletzten Takte ist — wie jeder Kompositionsschüler weiß — eine höchst unökonomische Ungeschicklichkeit. Nr. 42 (s. Notenbeisp. 9). Im drittletzten Takte müßte doch ,,ais" statt „ b " stehen! Aber auch die namentlich angeführten Bearbeiter haben ihr Scherflein beigetragen. In Nr. 6 (s. Notenbeisp. 10) vor- und drittletzter Takt verrät die verdeckte Oktavenparallele der beiden Außenstimmen den höchsten Grad der Unbeholfenheit. Nr. 16 (bearbeitet von Bartalus) bildet aber den Tiefpunkt auf dem Felde der Volksliedbearbeitung. Diese mit kindischer Einfältigkeit großtuerische Schreibweise findet ihresgleichen nur in sonstigen Bearbeitungen desselben Autors! — Ich muß übrigens gestehen, daß ich selbst die Bearbeitungen von Nr. 7 und 8 — zwei meiner Jugendsünden
Über die Herausgabe ungarischer Volkslieder.
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aus dem Jahre 1906 — für unbefriedigend halte. Sie sind wohl allen bisher besprochenen weit überlegen, sind also für diesen Band zu gut, für das deutsche Publikum jedoch zu ungenügend, als daß ich ihrer Hervorzerrung in die breite Öffentlichkeit beistimmen könnte. Die einzige tadellose und echt künstlerische Bearbeitung — aus Kodalys Feder — finden wir in Nr. 9. Man fragt sich erstaunt: Weshalb wählte Herausgeber nicht mehr aus Kodalys Bearbeitungen? Es waren ja bis zum J. 1928 schon 3 Hefte erschienen: lauter Meisterwerke von unübertrefflicher Schönheit. Fand sie Herausgeber vielleicht zu kompliziert und zu „modern" ? Doch gebärden sich die Bearbeitungen der griechischen Volkslieder des 9. Bandes viel modemer und sind teilweise viel komplizierter. Oder hat vielleicht den Herausgeber von Kodalys Bearbeitungen der Umstand abgeschreckt, daß sich darin nur ein einziger übermäßiger Sekundenschritt befindet? Schließlich sei noch einiges über die ungarische Musikfolklore-Forschung gesagt. Herausgeber behauptet in seinem Vorwort: „Nachdem Liszt, Brahms, Hubay, Chovan u. a. in ihren ungarischen Rhapsodien . . . u. dgl. . . . die Zigeunermusik und das neuere Kunstlied als Bestandteile der ungarischen Volksmusik überbetont haben, neigen heutige Volksliedforscher zu einer U n t e r Schätzung des zigeunerischen Einschlags und wollen zigeunerisch beeinflußte Weisen und die volkstümlichen Kunstlieder überhaupt nicht als ungarische Volkslieder gelten lassen." Ferner: „Nur was die Bauern singen und nach bestimmten Normen verarbeitet haben, soll nach dieser Theorie . . . allein als ,echt' ungarisches Volkslied anzuerkennen sein." Dann weiter unten: „Mit dem Versuch einer Herausschälung des sogenannten Bauernliedes aus der Gesamtheit der ungarischen Volkslieder wird nicht einmal eine klare Systematisierung gewonnen: denn der Begriff des Bauernliedes ist historisch, sozial und stilistisch genau so relativ und unbestimmbar wie der des Volksliedes überhaupt, die bäuerliche Überlieferung ist ebenso .unzuverlässig' wie die zigeunerische . . . " Demgegenüber müssen wir folgendes feststellen: Unsere Forscher, gleich jenen der Schwesterwissenschaften (allgemeine Folklore und Ethnographie), hatten triftige wissenschaftliche Gründe, um sich bei ihrer Arbeit vor allem um das Bauerntum zu kümmern. Sie stehen eigentlich dem Natoforscher nahe, indem sie sich die Bauernmusik zum Forschungsgebiet erwählt haben. Die Art und Weise der Entstehung der Kulturdokumente des Bauerntums nämlich ist — wenigstens in Osteuropa — wesentlich verschieden von der Entstehungsweise der Kultodokumente anderer Schichten. Erstere können in ihrer Gesamtheit als Erzeugnis naturnaher spontaner Kräfte betrachtet werden, denn ihr wichtigstes Merkmal — das Entstehen prägnant - einheitlicher Stile — kann nur dem nach einer Richtung eingestellten instinktiven Variationstrieb zugeschrieben werden.
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Sprechen wir von Bauernmusik im engsten Sinne des Wortes, so verstehen wir darunter eben die Dokumente dieser einheitlichen Stile. Dieses Merkmal ist es, welches der ungarischen volkstümlichen Kunstmusik fehlt; d a s ermöglicht die wissenschaftliche Unterscheidung derselben von der Bauernmusik. Und wenn auch gegenseitige Beeinflussungen häufig stattgefunden haben, ist dies noch kein Grund, um einer Unterscheidung aus dem Wege zu gehen. Für den Begriff „Bauernmusik" haben wir — wenn auch eine relative, so doch wenigstens handgreifliche Definition.1) Was jedoch unter „Volksmusik" verstanden werden soll, hat uns noch niemand gesagt. Leider bleibt uns auch Herausgeber in seinem Vorwort, wo er die Alleinberechtigung der Bezeichnung „Volksmusik" verficht, diese Definition schuldig. Viel wird von ihm auch das Wort „Zigeunermusik" gebraucht, womit er augenscheinlich das neuere ungarische volkstümliche Kunstlied meint. Es wäre endlich einmal Zeit, mit dieser dilettantischen Bezeichnung aufzuräumen. Die Zigeunermusikanten sind Träger und Vermittler gewisser Arten des ungarischen Volksliedes (von neueren volkstümlichen Kunstliedern und teilweise auch von Bauernliedern). Es bedarf keines Beweises, daß ein Volkslied eine unzertrennbare Einheit von Melodie und Text ist. Nun präsentiert aber der Zigeunervortrag die Lieder ausschließlich ohne Text (nur die Zuhörer singen eventuell mit). Schon dieser Umstand bezeugt das Nichtauthentische des Zigeunervortrags und liefert den Beweis gegen die Autorenschaft der Zigeunermusikanten. Abgesehen davon wissen wir ja auch, daß die meisten ungarischen volkstümlichen Kunstlieder von ungarischen Autoren stammen. Es gibt wohl auch eine „Zigeunermusik": Lieder mit Texten in Zigeunersprache. Die wird aber von den Zigeunerkapellen nie öffentlich gespielt. Was sie spielen, ist Musik ungarischer Autoren, also u n g a r i s c h e Musik. Die höchst seltenen Komponisten von Zigeunerabkunft schließen sich dem Stil dieser Musik vollständig an. Aber selbst der Zigeunervortrag hat durchaus keine einheitlichen Merkmale. Es gibt Dorfzigeuner und Stadtzigeuner als Musikanten, dazwischen zahlreiche intermediäre Abstufungen. x)
„Unter Bauernmusik im weiteren Sinne verstehen wir die Gesamtheit der-
jenigen Melodien, welche in der Bauernklasse irgendeines Volkes in mehr oder minder großer zeitlicher und räumlicher Ausdehnung als ein spontaner Ausdruck des musikalischen Gefühls fortleben oder irgendwann fortgelebt haben. — Vom folkloristischen Standpunkt aus kann man denjenigen Teil der sich mit Urproduktion befassenden Bevölkerung als Bauernklasse bezeichnen, welcher sein körperliches oder seelisches Ausdrucksbedürfnis mehr oder minder entweder mit Formen befriedigt, die seinen Überlieferungen entsprechen, oder mit solchen Ausdrucksformen, welche zwar aus höherer (städtischer) Kultur stammen, doch instinktmäßig seiner eigenen seelischen Veranlagung entsprechend umgeformt wurden" (B. BABTÖK: Das ungarischeVolkslied,
S. I). „Unter
Bauernmusik im engeren Sinne des Wortes verstehen wir die Gesamtheit all jener Bauernmelodien, welche zu einem oder mehreren einheitlichen Stilen gehören" (ib. S. 3).
Über die Herausgabe ungarischer Volkslieder.
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In den armseligen Dörfern vom Komitat Maramaros (Maramures) ist das Musikantentum in Zigeunerhände geraten; die meisten 'dieser Zigeunermusikanten spielen ihr von der bäurischen Dudelsackmusik ererbtes Repertoire in unverfälschter bäurischer Weise, da gibt es keinen übermäßigen Sekundenschritt, bloß die Skala d 2 e2 fis2 gis2 a 2 h 2 c3. Dasselbe wird bei den vereinzelten Zigeunermusikanten des Komitats Bihar (Bihor) beobachtet, die genau auf dieselbe Art musizieren wie die rumänischen Bauemmusikanten; ferner bei den Zigeunern entlegener ungarischer Dörfer. Je weiter wir nun nach Kulturzentren vordringen, desto mehr verändert sich der Zigeunervortrag, bis wir schließlich in den Städten jenen allgemein bekannten, von den Zigeunerschwärmern bisher leider Undefiniert gelassenen Zigeunervortrag und das Überhandnehmen des volkstümlichen Kunstliedes im Repertoire vorfinden. Welcher Vortrag ist für die Bauernmusik authentischer: jener der an der Quelle sitzenden Dorfmusikanten oder jener der Stadtmusikanten ?! Aus diesen Tatsachen wird außerdem evident, daß der Charakter des Vortrages nicht einmal der Rasse, sondern dem Milieu zuzuschreiben ist. Grundfalsch ist es übrigens, bei jedem übermäßigen Sekundenschritt Zigeunereinfluß zu wittern. Diese Eigentümlichkeit kommt erstens nicht so häufig im Zigeunervortrag vor, zweitens ist sie überhaupt kein Spezifikum der Zigeuner; sie tritt ja am Balkan und im Orient viel häufiger auf als im Zigeunervortrag. Es ist doch vernünftiger einerseits anzunehmen, die Zigeuner wären während ihrer Wanderung von arabischer Musik beeinflußt worden und wären auf diese Weise zum übermäßigen Sekundenschritt gelangt. Andererseits sind die Völker des Balkans und der nördlich angrenzenden Gebiete in allzu folgenschwere Berührung mit den Türken gekommen, um nicht auch annehmen zu können, daß diese Eigentümlichkeit eher einem turko-orientalischen Einfluß zuzuschreiben ist. Jedenfalls ist letztere Erklärung für das Vorhandensein jenes Intervallschritts in der rumänischen, ungarischen usw. Musik viel plausibler als die durch den Zigeunereinfluß begründete. Herausgeber behauptet: „Die bäuerliche Überlieferung ist ebenso unzuverlässig wie die zigeunerische." Er glaubt augenscheinlich, die ungarischen Bauemmusik-Forscher arbeiteten ohne jedes kritische Urteil; sobald ein Bauer den Mund öffnete, betrachteten sie das Ergebnis als eine heilige Offenbarung. Dies trifft keineswegs zu! Solange wir für eine Erscheinung nur einen Beleg oder nur einige Belege besitzen, müssen wir diese als nicht authentisch bezeichnen. Liegen indessen zahlreiche, namentlich aus untereinander weit entfernten Gebieten herstammende Belege vor, so müssen wir die Erscheinung als authentisch betrachten. Widerspricht nun — was oft der Fall ist — der städtische Zigeunervortrag solchen Belegen, so sind wir eben gezwungen, letztere im „Namen der Wissenschaft" für nichtauthentisch zu erklären.
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Zum Schluß sei des letzten Absatzes im Vorwort gedacht, in welchem Herausgeber acht ungarischen Persönlichkeiten „für freundliche Auskünfte und Beschaffung von Liedmaterial" dankt. Da sich darunter auch Fachleute der Volksliedforschung (z. B. Z. Kodaly) befinden, erweckt der Herausgeber mit Aufzählung dieser Namen den Anschein, als ob alles Unwissenschaftliche und Unkünstlerische dieses Bandes die Begutachtung dieser Musiker erhalten hätte. Es wäre höchst lehrreich, zu erfahren, welche Fragen der Herausgeber an diese Herren gerichtet hat ? Welche Auskünfte er von ihnen erhalten hat? Oder handelte es sich in seinen Fragen vielleicht nur um Belanglosigkeiten? Wir sind gezwungen festzustellen, daß die Sammlung sowohl in wissenschaftlicher wie in künstlerischer Hinsicht unzureichend ist und müssen das deutsche Publikum warnen, sich aus ihr einen Begriff vom ungarischen Volkslied oder auch nur vom volkstümlichen Kunstlied bilden zu wollen.
Über die Herausgabe ungarischer Volkslieder.
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