Sinn und Unsinn des Lesens: Gegenstände, Darstellungen und Argumente aus Geschichte und Gegenwart 9783737001281, 9783847101284, 9783847001287


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German Pages [246] Year 2013

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Sinn und Unsinn des Lesens: Gegenstände, Darstellungen und Argumente aus Geschichte und Gegenwart
 9783737001281, 9783847101284, 9783847001287

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Sandra Rühr / Axel Kuhn (Hg.)

Sinn und Unsinn des Lesens Gegenstände, Darstellungen und Argumente aus Geschichte und Gegenwart

Mit 4 Abbildungen

V& R unipress

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-8471-0128-4 ISBN 978-3-8470-0128-7 (E-Book) Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Dr. German Schweiger-Stiftung. Ó 2013, V& R unipress in Göttingen / www.vr-unipress.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Titelbild: Universitätsbibliothek Heidelberg, Cod. Pal. germ. 848 Große Heidelberger Liederhandschrift (Codex Manesse) Seite 311r. Druck und Bindung: CPI Buch Bücher.de GmbH, Birkach Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Für Ursula Rautenberg zum 60. Geburtstag

Inhalt

Zu diesem Band . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Lesekultur des Mittelalters Siegfried Grosse Versmaß, Reim und Syntax Überlegungen zur oralen Poesie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

17

Arno Mentzel-Reuters »Wer h–t mich guoter ˜f get–n?« Studien zur volkssprachlichen höfischen Lesekultur des Hochmittelalters

29

Nikolaus Weichselbaumer »Sie sollen lesen bei Tag und bei Nacht« Akzeptanz und Funktion scholastischer Leseformen . . . . . . . . . . . .

53

Veränderungen der Lesebedeutung in der Frühen Neuzeit Edoardo Barbieri A Peculiarity of the ›Glossae‹ by Salomon III. of Constance [Augsburg, Monastery of SS. Ulrich and Afra, about 1474] . . . . . . . .

75

Oliver Duntze The sound of silence Eine unbekannte ›Ars punctandi‹ als Quelle zur Geschichte des Lesens in der Frühen Neuzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

81

Mechthild Habermann Lesenlernen in der Frühen Neuzeit Zum Erkenntniswert der ersten volkssprachlichen Lehrbücher . . . . . .

99

8

Inhalt

Leseängste und Leseideale in der Moderne Hans-Jörg Künast Lesen macht krank und kann tödlich sein Lesesucht und Selbstmord um 1800 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 Ute Schneider Anomie der Moderne Soziale Norm und kulturelle Praxis des Lesens . . . . . . . . . . . . . . . 143

Lesen als Gegenstand in Wissenschaft und Ökonomie der Gegenwart Heinz Bonfadelli Zur Konstruktion des (Buch-)Lesers Universitäre Kommunikationswissenschaft und angewandte Medienforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 Lilian Streblow / Anke Schöning Lesemotivation Dimensionen, Befunde, Förderung

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181

Sven Grampp Kindle’s Abstinence Porn Über Sinn und Sinnlichkeit digitaler Lesegeräte in der Werbung . . . . . 197

Die Zukunft des Lesens Axel Kuhn Das Ende des Lesens? Zur Einordnung medialer Diskurse über die schwindende Bedeutung des Lesens in einer sich ausdifferenzierenden Medienlandschaft . . . . . . . 219 Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241

Zu diesem Band

›Lesen‹ ist ein thematischer Sammelbegriff für sehr unterschiedliche Phänomene und als Forschungsgegenstand ein wesentlicher Bestandteil des universitären Fachs Buchwissenschaft. Lesen lässt sich zum einen als Entschlüsselung verschrifteter Sprache und zum anderen als literarische Kompetenz verstehen, beide Dimensionen zusammen erfordern einen komplexen Lernprozess. Prozesse des Lesens gehen zudem mit Fragen nach Lesemotivationen und Lesewirkungen sowie Verstehensleistungen einher. Weiterhin sind mit dem Lesen immer Leseobjekte, Lesesituationen und Leseweisen verbunden, die sich im Lauf der Geschichte verändert haben und sich weiter verändern. Eine soziale Bedeutung des Lesens entsteht damit historisch gesehen mit den ersten Protoschriften und wird dann in den antiken Hochkulturen zu einem professionellen Handwerk. Anschließend breitet es sich in Europa nach einer Unterbrechung im späten Mittelalter über verschiedene Bevölkerungsgruppen aus und erreicht in der Gutenberg-Galaxis der Moderne seinen vorläufigen Höhepunkt. In der Gegenwart wird das Lesen vor allem als Basiskompetenz der digitalen Mediennutzung und damit als Voraussetzung eines weiteren kulturellen und sozialen Fortschritts betrachtet. Trotz der historisch und gegenwärtig vielfältigen Bedeutungen ist die übergreifende Relevanz des Lesens für soziale und kulturelle Wandlungsprozesse unumstritten. Dennoch zeigt sich historisch wie gegenwärtig, dass das Lesen vor allem immer eins war und ist: ein anhaltender Diskurs um Leseobjekte, Leseweisen, Lesefunktionen und Lesewirkungen. Die Veränderungen des Lesens sind somit Gegenstand übergreifender, historisch geprägter Wahrnehmungsweisen und Denkmuster, die sich in spezifischen institutionalisierten und sozial strukturierten Praktiken manifestieren. Eine derartige Betrachtung folgt im weitesten Sinn einem Forschungsstil, der in der Tradition des französischen Poststrukturalismus nach Michel Foucault Tiefenstrukturen menschlicher Äußerungen aufzeigt und interpretiert. Der Diskurs des Lesens ist dabei nicht nur überindividuell, sondern auch interdisziplinär und zeitlich unbegrenzt.

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Zu diesem Band

Die Ausprägungen des Diskurses um das Lesen werden in diesem Band verdeutlicht, indem die Gegenstände und Darstellungen des Lesens sowie sprachliche Äußerungen über das Lesen vom Mittelalter über die Frühe Neuzeit und die Moderne bis in die Gegenwart, abgerundet durch einen Blick in die Zukunft, fokussiert werden. So befassen sich die ersten drei Beiträge mit dem Diskurs des Lesens im Mittelalter. Siegfried Grosse bildet in seinem Beitrag Versmaß, Reim und Syntax – Überlegungen zur oralen Poesie ausgewählte mittelhochdeutsche Textbeispiele in ihrer syntaktischen Struktur ab. Daran zeigt er auf, dass diese Gefüge auch in der gebundenen Rede Anwendung fanden. Er kann damit verdeutlichen, dass Epen Ende des 12. und Anfang des 13. Jahrhunderts für ein lautes Lesen bestimmt und in der Lage waren, komplexe mittelhochdeutsche Strukturen wiederzugeben. Arno Mentzel-Reuters überprüft in seinem Beitrag »Wer h–t mich guoter ˜f get–n?« Studien zur volkssprachlichen höfischen Lesekultur des Hochmittelalters die gängigen Beschreibungen der höfischen Lesekultur, die davon ausgehen, dass höfische Literatur für das gemeinsame Lesen und den Vortrag gedacht waren. Anhand der Darstellungen des Lesens in den Handschriften selbst und eingehender Studien zeigt er jedoch auf, dass Psalterien, Handschriften der höfischen Epik und Liederhandschriften nicht zwangsläufig für einen Vortrag vor einem größeren Publikum geeignet sind und die Leseweisen von Faktoren wie Schriftart und -größe, Größe des Buchblocks, Umfang sowie den wahrscheinlichen Lichtverhältnissen beeinflusst werden. Nikolaus Weichselbaumer beleuchtet in seinem Beitrag »Sie sollen lesen bei Tag und bei Nacht« – Akzeptanz und Funktion scholastischer Leseformen den Wandel vom monastischen zum scholastischen Lesen anhand des Diskurses um Lesetechniken, der Akzeptanz von Ordnungssystemen und den Regelungen des Lesens an den frühen Universitäten. Anhand historischer Äußerungen weist er die funktionalen Veränderungen nach, die das Lesen in dieser Zeit erfährt. Die Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern läutet die Frühe Neuzeit ein, in der sich die Bedeutung des Lesens durch gewandelte Verbreitungsmöglichkeiten für Bücher verändert. Edoardo Barbieri erläutert in seinem Beitrag A Peculiarity of the ›Glossae‹ by Salomon III. of Constance [Augsburg, Monastery of SS. Ulrich and Afra, about 1474] für die Zeit der Wiegendrucke ein öfter auftretendes Phänomen der Bereitstellung von Lesestoffen, nämlich einzelne Seiten, die in einem gedruckten Band nachträglich ausgetauscht wurden. Er führt dies auf die noch unzureichend standardisierten Prozesse des Druckens zurück und wirft damit die Frage auf, inwiefern man bei ungleichen Exemplaren von einem einheitlichen Lesestoff ausgehen kann. Oliver Duntze thematisiert in seinem Beitrag The sound of silence – Eine unbekannte ›Ars punctandi‹ als Quelle zur Geschichte des Lesens in der Frühen

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Neuzeit die Funktion von Anleitungen zur Zeichensetzung, ›Artes punctandi‹. Satzzeichen erfüllten zu dieser Zeit nicht die uns heute bekannte Aufgabe der grammatikalischen Gliederung von Sätzen, sondern dienten dazu, den Vortrag durch stimmliche Artikulation und / oder Pausen zu strukturieren. Somit waren sie sowohl für den Redner als auch für den Zuhörer wichtige Hilfsmittel und verdeutlichen, dass Lesen auch mit Erfindung des Buchdrucks zunächst weiterhin ein ›Vorlesen‹ blieb. Mechthild Habermann zeigt auf, dass durch den Buchdruck zahlreiche Leselehren verbreitet werden konnten. Anhand ausgewählter Beispiele geht sie in ihrem Beitrag Lesenlernen in der Frühen Neuzeit – Zum Erkenntniswert der ersten volkssprachlichen Lehrbücher der Frage nach, welche Vorstellungen in der Frühen Neuzeit vom Lesen vorherrschten und wie das Lesen erlernt wurde. Sie verdeutlicht damit, dass bereits zu dieser Zeit das Lesen von Vorreitern wie Valentin Ickelsamer als Prozess gedacht wurde, der in Verstehen mündet. In der Moderne schließlich setzt sich das Prinzip der massenhaften Produktion und Verbreitung von Büchern, Zeitungen und Zeitschriften endgültig durch und die Lesefähigkeit dehnt sich über verschiedene soziale Gruppierungen aus. Diese Ausweitung des Lesens führt zu einem übergreifenden, urteilenden Diskurs über das Lesen und seine Auswirkungen auf diese Gruppen. Hans-Jörg Künast wertet in seinem Beitrag Lesen macht krank und kann tödlich sein – Lesesucht und Selbstmord um 1800 erstmals historische medizinische Quellen aus, die die Lesesuchtdebatte in ein neues Licht rücken. So zeigt er, dass Lesesucht nicht ausschließlich mit dem Lesen von Romanen, sondern auch mit erbaulichen Lesestoffen einhergeht und dass nicht alleine das Bildungsbürgertum, sondern ebenfalls das Kleinbürgertum betroffen war. Ute Schneider wirft in ihrem Beitrag Anomie der Moderne – Soziale Norm und kulturelle Praxis des Lesens übergreifend die Frage auf, ob das vom Bürgertum nach außen kommunizierte Ideal des Lesens tatsächlich der kulturellen Lesepraxis entsprochen hat. Im Mittelpunkt ihrer Betrachtung stehen dabei Äußerungen zum bürgerlichen Habitus und zur Bedeutung des Lesens für eine nationale Identität. Dabei stellt sie eine stabile Anomie zwischen Normen und Praktiken des Lesens vom 18. bis ins 20. Jahrhundert fest. In der Gegenwart angekommen wandelt sich der Diskurs um das Lesen erneut. Im Vordergrund stehen nun weniger einzelne Bevölkerungsgruppen, sondern das Lesen als universelle Kompetenz, die in den einzelnen Teilbereichen der Gesellschaft unterschiedliche Diskurse erzeugt. Heinz Bonfadelli verdeutlicht in seinem Beitrag Zur Konstruktion des (Buch-)Lesers – Universitäre Kommunikationswissenschaft und angewandte Medienforschung, dass der Diskurs um das Lesen in der Gegenwart insbesondere in Wissenschaft und Forschung stattfindet. Anhand der Konstruktion des Lesers über Daten und Fragestellungen zeigt er auf, welche Interessenlagen in der Forschung welche

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Zu diesem Band

Aussagen produzieren. Welche Folgen dies für die Lese- und Leserforschung hat, zeigt sich ihm zufolge vor allem an der Problematik, die diskursiv geprägten Ergebnisse wieder zu einer objektiven Einheit zu verbinden. Auch Lilian Streblow und Anke Schöning stellen in ihrem Beitrag Lesemotivation – Dimensionen, Befunde, Förderung für die Gegenwart einen wissenschaftsspezifischen Diskurs zum Lesen fest. Anhand unterschiedlicher Studien zeigen sie auf, dass bereits die Definition von Lesekompetenz einem Diskurs zwischen literarischem Verstehen und Lesefähigkeit unterliegt, der sich über die jeweilige Integration der Lesemotivation manifestiert. Sie folgern daraus, dass dieser Diskurs sehr starke Auswirkungen auf die Art und Weise der praktisch umgesetzten Leseförderung hat. Sven Grampp schließlich skizziert den gegenwärtigen Diskurs um das Lesen in einer ganz anderen, ökonomisch orientierten Richtung. Er analysiert in seinem Beitrag Kindle’s Abstinence Porn – Über Sinn und Sinnlichkeit digitaler Lesegeräte in der Werbung die Darstellung des digitalen Lesens über Lesegeräte als versinnlichte Objekte der Begierde in der Werbung. Anhand eines konkreten Werbespots untersucht er, mit welchen Mitteln das digitale Lesen analog dem Lesen gedruckter Texte sinnlich aufgeladen wird. Eine Betrachtung des Diskurses um das Lesen ist nicht komplett, wenn man keinen Blick in eine mögliche Zukunft wirft. Axel Kuhn stellt in seinem Beitrag Das Ende des Lesens? Zur Einordnung medialer Diskurse über die schwindende Bedeutung des Lesens in einer sich ausdifferenzierenden Medienlandschaft die Frage nach den sich widersprechenden Aussagen zum Ende oder zur Fortführung des Lesens, die fast schon traditionell mit dem Aufkommen neuer Medien entstehen. Er formuliert die These, dass die Aussagen bezüglich des Lesens eigentlich gar nichts mit dem Lesen selbst zu tun haben, sondern mit grundsätzlich unterschiedlichen Weltanschauungen. Der daraus entstehende Diskurs führt deshalb zu keiner objektiven Wahrheit, sondern dient der Bewältigung sozialer und kultureller Veränderungen. Wir möchten an dieser Stelle den Beiträgerinnen und Beiträgern danken, die sich auf die thematische Perspektive einer diskursanalytischen Historiographie und Betrachtungsweise eingelassen und damit in einem höchst heterogenen Forschungsfeld Verbindungen zwischen unterschiedlichen Disziplinen geschaffen haben. Wir danken darüber hinaus auch Ursula Rautenberg, die, ohne von der Entstehung dieses Bands gewusst zu haben, die Grundlagen für eine derartige Betrachtung gelegt hat. Ohne ihr unermüdliches Engagement für einen interdisziplinären Zugang der Buchwissenschaft und ihre stets vorhandene Offenheit für die Integration und Verbindung unterschiedlichster theoretischer und methodischer Ansätze hätte eine übergreifende Betrachtung des Diskurses um das Lesen von Historikern zu Kommunikationswissenschaftlern in der

Zu diesem Band

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Buchwissenschaft nicht realisiert werden können. In diesem Zusammenhang danken wir auch allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Lehrstuhls für Buchwissenschaft in Erlangen, ohne deren gemeinsame Arbeit zur Konzeption und tatkräftige Unterstützung dieser Band nicht entstanden wäre. Ganz besonderer Dank gilt zudem auch der Dr. German Schweiger-Stiftung, die den Druck dieses Bands durch ihre finanzielle Unterstützung erst möglich gemacht hat. Erlangen, im Januar 2013 Sandra Rühr und Axel Kuhn

Lesekultur des Mittelalters

Siegfried Grosse

Versmaß, Reim und Syntax Überlegungen zur oralen Poesie

Das gesprochene Wort ist weltweit in der Kulturgeschichte zeitlich sehr unterschiedlich optisch erfassbar festgehalten worden, um es wiederholen zu können. Das Bestreben, den flüchtigen Klang und die Information der Sprechenden außerhalb des in seinem Fassungsvermögen begrenzten menschlichen Gedächtnisses zu fixieren, um sie jederzeit auch von anderen als dem ursprünglichen Sprecher nochmals vollständig erklingen zu lassen, hat im Laufe der Zeit zu erstaunlich vielen und verschiedenartigen Schriftarten und Schreibtechniken geführt. Die frühsten deutschsprachigen Texte sind zu Beginn des 9. Jahrhunderts aufgeschrieben worden, sehr viel später als die griechischen und lateinischen Texte des europäischen klassischen Altertums oder die Texte verschiedener außereuropäischer Kulturen. Der Lateinunterricht in den Klosterschulen ist vermutlich eine Art Katalysator für die Niederschrift deutschsprachiger Texte gewesen. In den seither vergangenen 1200 Jahren haben sich das Schreiben, die Schrift, der Text und vermutlich auch das Sprechen und Hören erheblich verändert: Von der Handschrift mit dem Federkiel auf Pergament, später auf Papier, über den Druck im Blocksatz und dann mit beweglichen Lettern, über die Rotationsmaschine bis zum heute selbstverständlichen Lichtsatz und seiner Digitalisierung. Diese Entwicklung hat vor allem in den letzten 50 Jahren eine rasante Beschleunigung erfahren. Man kann heute außerdem den Klang des gesprochenen Worts direkt fixieren und beliebig oft wiederholen und hören, und zwar ohne den Umweg über die Schrift zu nehmen, und es gibt bereits gut entwickelte Diktiergeräte, mit denen die Stimme sofort ohne den menschlichen Mittler in Maschinenschrift umgesetzt wird. Es ist also heute durchaus möglich, das ständig wachsende Weltwissen sowohl akustisch im Klang des gesprochenen Worts als auch optisch im Schriftbild oder als Tondokument zu archivieren und an die nächsten Generationen weiterzugeben, ohne dass etwas verloren geht. Mit der Erfindung des Buchdrucks beginnt in der Literaturwissenschaft die immer umfangreicher werdende Geschichte der Textüberlieferung. Neben der schriftlichen Konservierung hat sich die mündliche Überlieferung, die den Text

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Siegfried Grosse

aus dem Gedächtnis abruft und dann vorträgt, in zwar rückläufigem, aber durchaus noch lebendigem Umfang über die Jahrhunderte hinweg bis heute erhalten. Man spricht vom oralen Überlieferungsstrang, der den schriftlichen Strom begleitet. Dazu gehören Texte von zeitloser Gültigkeit, die ihre pädagogische Aktualität behalten haben, wie zum Beispiel Märchen, Sagen, Volksballaden und -lieder, aber auch besondere Familienereignisse, die von Generation zu Generation weitergegeben werden. Neben diesen Texten längeren Umfangs gibt es auch kürzere, die zum Teil nur oral tradiert werden, wie beispielsweise Abzählreime im Kinderspiel, Rätsel, Witze, Gebete, Flüche, Verwünschungen oder alle möglichen Rezepturen bis hin zu phraseologischen Redensarten und bildhaften Vergleichen. Im frühen Mittelalter, als erst ein kleiner Teil der Bevölkerung lesen konnte, lernte die höfische Gesellschaft Heldensagen, Heiligenlegenden, ritterliche Abenteuer und Minnelieder durch den oralen Vortrag als unterhaltsames Bildungsgut kennen. Wie die uns aus späterer Zeit schriftlich überlieferten Texte damals mündlich dargeboten worden sind, also ob sie zum Beispiel vorgelesen wurden, wie manche zeitgenössischen Textbelege andeuten, oder, gestützt vom Singsang einer einfachen, psalmodierenden Melodie, frei vorgetragen wurden, weiß man nicht.1 Ich habe mir diese Fragen oft gestellt, als ich das Nibelungenlied übersetzt habe, ohne eine Antwort zu finden. Sind Spielleute, die auf Einladung bei höfischen Festen ihre artistischen Kunststücke vorgeführt haben, auch die Vortragenden von Epen gewesen? Das Vorlesen setzt das Vorhandensein einer Handschrift voraus, die sich damals wegen ihrer Kostbarkeit und Seltenheit kaum im Besitz fahrender Leute befunden haben dürfte. Hätte sie also der Gastgeber aus seinem Besitz für den Vortrag zur Verfügung gestellt? Oder geschah die Darbietung ohne jede Textvorlage als freie Rezitation? Welche Textmengen konnte man einem Auditorium zumuten? Hinweise auf Lesepausen oder -abschnitte sind mir nie begegnet. Die Einteilung des Nibelungenlieds in Aventiuren gibt wegen deren sehr unterschiedlichen Längen keinen Hinweis auf Vortragspausen und die dem Hörenden und Vortragenden zumutbare Textmenge. Als germanistischer Assistent am Deutschen Volksliedarchiv in Freiburg habe ich 1955 Tonbandaufnahmen kennengelernt, die das Johannes-KünzigInstitut für die Volkskunde von wolhyniendeutschen Frauen gemacht hatte. Emigranten aus den Gemeinden der Mennoniten hatten seit 1816 in mehreren Schüben Danzig, die Rheinpfalz und Württemberg verlassen und sich in der wolhynischen Landschaft im Westen der Ukraine angesiedelt. Ihre Anzahl betrug 1911 etwa 200 000. Nach dem ersten Weltkrieg sind sie zum Teil nach 1 Zu Lesesituationen der höfischen Lesekultur vgl. Arno Mentzel-Reuters in diesem Band mit seinem Beitrag »Wer h–t mich guoter ˜f get–n?«

Versmaß, Reim und Syntax

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Sibirien deportiert worden, nach 1945 kehrten sie nach Deutschland zurück. Die Tonaufnahmen waren von älteren Frauen gemacht worden, die in ihren Dörfern die weibliche Dorfgemeinschaft beim Federschleißen unterhalten haben, wenn diese in langer, eintöniger Handarbeit den Flaum vom harten Kiel der Gänseund Hühnerfedern zu trennen hatten. Die umfangreichen Erzählungen, die in gereimten Langzeilen gehalten waren, handelten von Abenteuern, Brautwerbungen, Kämpfen, bedrohlichen Ungeheuern und vor allem von den starken und schönen Helden, die alle Gefahren überstanden. Der Vortrag erfolgte in einer eintönig leiernden Sprechmelodie, die vermutlich eine Gedächtnisstütze war. Die Vortragende rezitierte frei ohne schriftliche Textvorlage und korrigierte sich kaum. Die Parallele zu den mittelhochdeutschen Dichtungen und ihrem Vortrag liegt nahe. Ob etwa auch Damen der höfischen Gesellschaft diese Aufgabe des Vortrags übernommen haben? Denn einige von ihnen hatten das Lesen in den Klosterschulen gelernt. Ihnen wäre vermutlich eine kostbare Handschrift aus dem Besitz des Burgherrn als Vorlesemanuskript eher zugänglich gewesen als einem fahrenden Spielmann. Der musizierende und textgewaltige Spielmann begegnet uns in der Gestalt Volkers von Alzey im Nibelungenlied. Das wolhynische Beispiel aus jüngster Zeit zeigt jedenfalls, dass der Vortrag und die orale Überlieferung umfangreicher Textmengen in gebundener Rede möglich und üblich gewesen sind. Schon frühe Zeugnisse der deutschen Sprache, wie etwa Otfrids Evangelienbuch von 860, sind in gebundener Rede verfasst. Der Sprachrhythmus und die Assoziation der Reime am Ende der Verszeilen deuten auf die klangliche Wiedergabe und Wirkung der schriftlich fixierten und stummen Texte hin. Sie dürften ein Zeichen dafür sein, dass bei der Wiederbelebung die Schriftzeichen zum Klingen gebracht werden müssen, so dass der Text laut und vernehmbar zu lesen war ; denn der Klang ist das ursprüngliche Medium der Sprache, er wird gehört und bewirkt beim Hörer Verstehen. Heute erfüllt das digitale Hörbuch eine ähnliche Aufgabe, allerdings meist nur für einen oder wenige Zuhörer. Im Mittelalter hingegen war es üblich, zur Unterhaltung und Belehrung einer größeren Zuhörergemeinschaft, von der nur wenige lesen konnten, Erzählungen oder Lieder und Sprüche erklingen, das heißt laut vorlesen, zu lassen. Reim und Rhythmus machen die Sprache für den Vortragenden wie auch für den Hörer geschmeidig. Sie bestimmen den Sprachfluss der mittelhochdeutschen Epen und Lyrik. Die erzählende Dichtung der Blütezeit ist beispielsweise zu einem großen Teil in der gängigen Form des paarweise gereimten Vierhebers verfasst, bei dem die betonten Silben als Hebungen gezählt werden, die Zahl der Senkungen, der unbetonten Silben, aber frei ist, so dass die Verse eine unterschiedliche Silbenanzahl haben können.

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Siegfried Grosse

Gebundene Rede Ich möchte im Folgenden an einigen Beispielen zeigen, wie die syntaktischen Regeln der Sprache in der gebundenen Rede beachtet werden. Rhythmus und Endreim können einzelne Begriffe betonen und hervorheben, aber sie bestimmen nicht die Konstruktion des Satzes. Das zeigt sich immer dann, wenn die Ausdehnung von Satzkonstruktion und gereimtem Vers verschieden sind. Das ist zum Beispiel bei Gottfried von Straßburg der Fall, in dessen Tristan sich Sätze in der Länge von 160 Wörtern finden. Mittelhochdeutsche Texte machen es dem heutigen Leser nicht leicht, die Ausdehnung eines Satzes zu erkennen, denn es gibt in den Handschriften keine geregelte Interpunktion, die dem Leser bei der sprachlichen Gliederung hilft. Die im akademischen Unterricht gebräuchlichen mittelhochdeutschen Textausgaben sind häufig nach den heutigen Regeln interpungiert, wobei die Entscheidungen leider oft nicht begründet werden und es daher offen bleibt, wo weiterhin Zweifel bestehen. John Asher hat drei Ausgaben des Guoten GÞrhart von Rudolf von Ems sorgfältig redigiert. Aber über die Interpunktion sagt er nur, sie habe an vielen Stellen eine andere Bedeutung als in der alten Ausgabe von Moritz Haupt.2 Man erfährt leider nicht, weshalb er vor den Beginn vieler Nebensätze kein Komma setzt. Außer Punkt und Komma werden von den Herausgebern Frage- und Ausrufezeichen, Doppelpunkt, Gedankenstrich und, im Fall der Parenthese, Klammern verwendet. Das sind alles den Inhalt betreffende Interpretationshilfen, die den Text im Sinn des Editors präsentieren. Oft begegnet dem Leser das Semikolon, vermutlich als ein Zeichen mangelnder Sicherheit, weil seine Durchlässigkeit offen lässt, ob eine Sinneinheit beendet ist oder weiterläuft. In den mittelhochdeutschen Prosatexten dürfte, wie ich das an Predigten beobachten konnte, die Satzgrenze schwerer festzulegen sein als in der vierhebigen Endreimdichtung. Zum einen sind in der poetischen Literatur in der Regel die Sätze kürzer und deshalb besser zu überschauen und zu gliedern. Zum anderen gibt es in ihr kaum die in der Predigt häufig gebrauchten Wendungen wie ›der ist‹ oder ›das ist‹, die man sowohl als demonstrativen Anschluss eines Hauptsatzes als auch als den Beginn eines relativen Nebensatzes deuten kann. Die Stellung des Verbs ist in den gereimten Texten das verlässlichste Kriterium für die Gliederung der Sätze. Denn abgesehen von einigen besonderen Satzarten steht das Verb, ähnlich wie im Neuhochdeutschen, im Hauptsatz meistens an zweiter und im abhängigen Satz an einer späteren oder der letzten Stelle. Dass die Konturen der mittelhochdeutschen Sätze poetischer Texte nicht immer klar erkennbar sind, liegt an der freien und oft wortreichen Füllung der einzelnen Satzfelder. 2 Vgl. Der guote GÞrhart, S. XVII.

Versmaß, Reim und Syntax

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Die gebundene Rede an Beispielen aus Der arme Heinrich, Gregorius, Tristan und Der guote Gêrhart Als Grundlage für die folgenden Beobachtungen habe ich Texte von drei Autoren zwischen 1195 und 1225 ausgewählt. Mit dieser geringen Menge sind natürlich keine repräsentativen Ergebnisse möglich. Aber es lässt sich zeigen, dass der rhythmisch gebundene Sprachfluss mit dem Reim am Versende ein kunstvolles Bauprinzip ist, das mit den syntaktischen Regeln zur Einheit verschmilzt. Die gleichzeitige Wirkung von Rhythmus, Reim und syntaktischer Fügung ergibt ein uniformes Erscheinungsbild der paarweise gereimten Vierheber. Ich habe die beiden Legenden Hartmanns von Aue, Der arme Heinrich und Gregorius, der ›gute Sünder‹, sowie Gottfrieds von Straßburg Tristan ausgewählt, außerdem den Guoten GÞrhart des Rudolf von Ems, der Hartmann und Gottfried in seinen Literaturkatalogen rühmt und als besonders begabte Dichter würdigt.3 Beiden Autoren fühlt er sich als Vorbildern verpflichtet. Auf Gottfried geht er am ausführlichsten ein. Er rühmt dessen Fähigkeit, reine Reime zu finden. Aber sein Lob ist allgemein gehalten, es erschließt keine sprachlichen Details. In den mittelhochdeutschen durch Rhythmus und Reim gebundenen Texten wird der Aussagesatz von einem der neuhochdeutschen Prosa ähnlichen Grundbauplan geprägt, der sprachlich allerdings anders als im Neuhochdeutschen gefüllt werden kann. Ich entnehme den Satzbauplan der Mittelhochdeutschen Grammatik in der neusten Auflage.4 Man unterscheidet beim Bau des Hauptsatzes das Außenfeld, das Vorfeld, die linke Klammer, das Mittelfeld, die rechte Klammer und das Nachfeld. Ich erprobe diese schematische Darstellung des Satzes mit einigen mittelhochdeutschen Textbeispielen, wobei die Schreibweise nicht Vers und Reim, sondern den syntaktischen Zusammenhängen folgt. Dabei wird das Vokabular des Texts in Bestand, Wortstellung, Rhythmus und Reimwörtern nicht verändert. Letztere, die durch Unterstreichung kenntlich gemacht werden, verlieren ihre textgliedernde, versabschließende Funktion. Die folgenden Beispiele haben jeweils das finite Verb an zweiter Stelle positioniert. der nam in s„n gemüete got.5

In diesem Satz gibt es kein Außenfeld. Das Vorfeld besteht nur aus dem Pronomen ›der‹, das finite Verb ›nam‹ steht an zweiter Stelle, der das Mittelfeld ›in

3 Hartmann von Aue und Gottfried von Straßburg würdigt er in Alexander und Willehalm von Orlens. 4 Vgl. Paul: Mittelhochdeutsche Grammatik. 5 Der guote GÞrhart, V. 99.

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Siegfried Grosse

s„n gemüete‹ folgt. Es wird vom Verb ›nam‹ und dem Akkusativobjekt ›got‹ eingeklammert. Ein Nachfeld ist nicht vorhanden. s„n rehter nam was Riwalin, / s„n –nam was Canelengres,6

Die Aussage umfasst zwei sich nicht miteinander reimende Verse. An erster Stelle steht jeweils ein Vorfeld von mehreren Wörtern, an zweiter Stelle kommt das Verb ›was‹, an dritter füllt ein Name das Mittelfeld. Damit endet der Satz. Beide Verse reimen sich nicht, weil das letzte Wort ›Riwalin‹ an den Reim des vorhergehenden Verses gebunden ist und ›Canelengres‹ in Vers 323 an den des folgenden. Beide Namen werden nicht durch den Gleichklang des Reims einander angenähert, obwohl sie inhaltlich zusammengehören. s„ hete ir gemüete / mit reiner kindes güete / an ir herren gewant7

Der Hauptsatz nimmt drei Verse ein. Das Pronomen ›s„‹ füllt als Vorfeld die erste Stelle im Satz, das finite Verb ›hete‹ und das Partizip ›gewant‹ umschließen als linke und rechte Klammer das Mittelfeld. Der Satz hat kein Nachfeld. Die uns aus dem heutigen Sprachgebrauch vertraute Verbklammer von finitem ›hete‹ und infinitem ›gewant‹, die weitere modale Ergänzungen umschließt, ist in den Reimdichtungen selten. Mehrteilige Verbalformen werden meist nicht voneinander getrennt, sondern folgen unmittelbar aufeinander : ›hete gewant‹. Der Reim zu ›gewant‹ gehört zum folgenden Vers. Dú die burgaere s–hen / das schef dar zuo g–hen, dú sazten si sich mit her / disem sch¦ffÀ ze wer8

Der mit ›dú‹ eingeleitete abhängige Nebensatz, der zwei Verse umfasst, bildet das Außenfeld des folgenden, ebenfalls zwei Verse umfassenden Hauptsatzes, wo er in dessen Vorfeld mit einem korrespondierenden ›dú‹ wiederholt wird. Darauf folgt als linke Klammer der erste Teil des Verbalgefüges ›sazten‹, der mit der rechten Klammer ›ze wer‹ das Mittelfeld umschließt. Die vier vierhebigen Verse bilden syntaktisch ein Satzgefüge, das aus einem Neben- und einem Hauptsatz von jeweils zwei Versen besteht und einen zeitlich gegliederten Verlauf im Satzgefüge zeigt. N˜ truoc m„n herze zaller zit / mit im selben manigen str„t, ob sie lebten oder niht.9

6 Tristan, V. 322 – 323. 7 Der arme Heinrich, V. 321 – 323. 8 Gregorius, V. 1851 – 1854. Die Einrückung von V. 1851 – 1852 markiert den abhängigen Nebensatz. 9 Der guote GÞrhart, V. 295 – 297. Die Einrückung von V. 297 markiert den abhängigen Nebensatz.

Versmaß, Reim und Syntax

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Das zeitliche Adverb ›n˜‹ füllt das Vorfeld des Hauptsatzes, das Verb ›truoc‹ ist die linke Klammer, die zusammen mit dem Akkusativobjekt ›manigen str„t‹ als rechte Klammer das Mittelfeld bildet. Der mit ›ob‹ angefügte abhängige Satz ist in einem Vers für sich, der sich mit dem folgenden Vers reimt, das Nachfeld. Ein Außenfeld gibt es nicht. Das gesamte Satzgefüge besteht aus drei Versen. Manchmal steht das finite Verb des Hauptsatzes aus reimbedingten Gründen nicht an der zweiten Stelle wie in den bisherigen Beispielen. Man hat sich an den ersten Vers im Armen Heinrich Hartmanns von Aue so gewöhnt, dass die ungewohnte Stellung des finiten Verbs, das sich hier am Ende und nicht an der zweiten Stelle des Hauptsatzes befindet, nicht als störend empfunden wird. Ein ritter sú gelÞret was, daz er an den buochen las, swaz er daran geschriben vant.10

In den beiden dem Hauptsatz folgenden abhängigen Sätzen, Verse 2 – 3, steht das finite Verb am Ende. Beide Male bildet ein einleitendes Pronomen die linke und das am Ende stehende Verb die rechte Klammer. Im 19. Jahrhundert, als die freien Rhythmen üblich waren, hätte der Beginn des Armen Heinrich aus fünf Versen unterschiedlicher Länge bestehen können: Ein ritter was, so gelÞret, daz er an buochen las, swaz er daran geschriben vant.

Im nächsten Beispiel aus dem Guoten GÞrhart stimmt die Verseinteilung mit dem syntaktischen Zusammenhang nicht überein, was im Schriftbild der gereimten Fassung nicht deutlich wird: des nam er ein urkünde dort an der schrift der w–rheit, diu von dem almuosen seit, swer es mit guotem muote g„t, daz ez leschet zaller z„t die sünde, alsam das wazzer tuot daz fiur. ditz was dem herren guot ein liebes b„spel und ein trúst, der in von zw„vel tet erlúst.11

10 Der arme Heinrich, V. 1 – 3. Die Verse 2 und 3 sind nach dem Grad ihrer Unterordnung eingerückt. 11 Der guote GÞrhart, V. 152 – 160.

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Siegfried Grosse

Die syntaktische Gliederung sieht demgegenüber so aus: des nam er ein urkünde / dort an der schrift der w–rheit, diu von dem almuosen seit, swer ez mit guotem muote g„t, daz es leschet zaller z„t / die sünde, alsam das wazzer tuot / das fiur. Ditz was dem herren guot / ein liebes b„spel und ein trúst, / der in von zw„vel tet erlúst.12

Dem Hauptsatz in der Länge von zwei vierhebigen Versen folgen vier abhängige Sätze, von denen die beiden ersten dem bisherigen Bauprinzip entsprechen, die beiden folgenden aber nicht. Sie stören den Reim- und Rhythmusfluss, da ihre Reimwörter ›z„t‹ und ›tuot‹ dem Sinn nach nicht den Vers beenden, sondern die Aussagen erst mit den jeweiligen Akkusativobjekten ›die sünde‹ und ›das fiur‹ abgeschlossen werden. Der Positionswechsel der beiden Akkusative nach syntaktischem Verständnis zerstört die gleichmäßige Vierhebigkeit der Verse. In dieser Anordnung fallen die Reimwörter ›z„t‹, ›tuot‹ und ›guot‹ als Versende und klangliche Zäsur kaum auf, weil das Ende der syntaktischen Einheit sie aus ihrer Position am Versende verdrängt und den Charakter der Prosa annimmt. Ende und Beginn zweier Sätze dürfte in der Mitte eines vierhebigen Verses selten sein, so dass auch in der Versform die Akkusative herausgehoben werden. Es ist jedoch nicht zu übersehen, dass in der Wortstellung des Rudolf von Ems ›die sünde‹, ›das fiur‹ und ›ein liebes b„spel‹ jeweils am Anfang der Verse stehen und so eine besondere Herausstellung erfahren. Die Nachstellung des Adjektivs hinter das Substativ ›herren guot‹ braucht nicht reimbedingt zu sein. Wir kennen sie heute aus alten Wendungen wie ›Röslein rot‹ oder ›Brüderlein fein‹. Syntaktische Begrenzung und reimendes Versende werden auch im folgenden Beispiel nicht eingehalten: dem erwarp gewaltecl„che der edel keiser r„che ein recht, daz immer hinnen für der bischof sitzet an der kür, d– der krúne wirt erkorn ein voget, der vientl„chen zorn und ungerihte stoeren sol.13

12 Der guote GÞrhart, V. 152 – 160. V. 154 – 157 und V. 160 sind jeweils abhängige Verse und daher eingerückt. 13 Der guote GÞrhart, V. 195 – 202.

Versmaß, Reim und Syntax

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Die syntaktische Gliederung sieht hingegen so aus: dem erwarp gewaltecl„che / der edel keiser r„che / ein recht, daz immer hinnen für / der bischof sitzet an der kür, / d– der krúne wirt erkorn / ein voget, der vientl„chen zorn / und ungerihte stoeren sol /.14

In der nach syntaktischen Regeln gesetzten Folge wird deutlich, dass die sieben vierhebigen paarweise gereimten Verse aus einem Gefüge von einem Hauptsatz und drei von ihm abhängigen Sätzen bestehen. Aber Vers- und Satzeinteilung stimmen nicht überein. Der Hauptsatz schließt mit dem Akkusativobjekt ›ein recht‹ aus dem Vers 197. Der folgende abhängige mit ›daz‹ eingeleitete Satz hat, nach dem Verlust von ›ein recht‹, bis zum Ende ›kür‹ nur noch sieben Hebungen. Diese ungerade Anzahl weisen auch die beiden folgenden abhängigen Sätze auf, das heißt die syntaktische Fügung stimmt mit dem Metrum des Vierhebers nicht mehr überein. Aber die Kunst des Rudolf von Ems hat den identischen Wortbestand mit der gleichen syntaktischen Konstruktion in gereimte Rhythmen gesetzt, so dass die zentralen Begriffe ›ein recht‹, ›der bischof‹ und ›ein voget‹ am Beginn der Verse hervorgehoben stehen und nicht durch den Gleichklang der Reime verwässert werden. Im nächsten Beispiel holt das in dreifacher Abhängigkeit gegliederte Außenfeld weit aus, ehe der Hauptsatz beginnt. Dadurch wird die Spannung auf die letzte Aussage gesteigert: wie daz geschach, wenn ez ergie, swer daz geruochet hoeren hie, dem will ich ez niht verdagen.15

Jeder der vier Verse ist eine eigene syntaktische Einheit. Deshalb gibt es keine Brüche zwischen den Versen. Dieses Beispiel zeigt wie auch die beiden vorhergehenden, wie klar, kunstvoll und geschickt die einzelnen Sätze in ihrem syntaktischen Bau sich dem sprachlichen Rhythmus fügen und im Reim die für den Vortragenden und Zuhörenden eingängige Geschmeidigkeit erhalten. Einen Ansatz für die periodische Gliederung könnte man in der Klammerbildung sehen, die im Tristan mit Anrede und Hauptsatz eine Aufzählung umschließt. Die Schreibung nach syntaktischen Kriterien nimmt neun Zeilen in Anspruch, die Einteilung nach gereimten Versen acht. Die Reime und mit ihnen die Kennzeichnung des Versendes treten zurück oder werden verdeckt:

14 Der guote GÞrhart, V. 195 – 202. 15 Der guote GÞrhart, V. 77 – 80.

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›seht‹ sprach er ›vrouwe, als ich vernam / von s„nem vater, wie’z dem kam / umbe s„ne Blanchefliure, / mit wie vil maneger triure / ir gernder wille an ime ergie, / wie s„ diz kint mit triure empfie, / mit welcher triure s„’z gewan, / sú nenne wir in Tristan.‹16

In diesem Satz von 46 Wörtern zeigen Rhythmus, Vers und Reim die akustische Gliederung des lauten Lesens, während die kunstvolle syntaktische Gliederung erst in der schriftlichen Analyse sichtbar wird. Die doppelte Konstruktion wird in der Abfolge der gereimten Vierheber beim Vortrag hörbar, und in der gestaffelten Argumentation ihrer abhängigen Sätze im Schriftbild sichtbar. Sechs Verse, die in gleichrangiger zweiter Unterordnung einem im ersten Grad abhängigen Temporalsatz folgen, umfassen vier gleichberechtigte Modalsätze, von denen die letzten drei den zentralen Begriff ›triure‹ enthalten und steigern, so dass der Namensvorschlag ›Tristan‹ mit Nachdruck begründet wird. So sieht im Unterschied dazu die Einteilung nach gereimten Versen aus: ›seht‹ sprach er ›vrouwe, als ich vernam von s„nem vater, wie’z dem kam umbe s„ne Blanchefliure, mit wie vil maneger triure ir gernder wille an ime ergie, wie s„ diz kint mit triure empfie, mit welher triure s„’z gewan, sú nenne wir in Tristan.‹17

In Gottfrieds Tristan finden sich auch sehr lange Sätze, die jedoch nicht wie beispielsweise bei Kleist periodisch gegliedert sind, sondern aus meist modalen, aneinander gereihten Aufzählungen bestehen. In 29 Versen mit 160 Wörtern schildert Rual Tristans Kindheit. Ich gebe nur die syntaktische Variante, die 21 Zeilen einnimmt, wieder. Der einleitende Hauptsatz besteht aus vier Versen, von den folgenden abhängigen Sätzen bestehen sechs aus je zwei Versen, 13 aus einem: Sus saz Rual der guote / mit tr˜recl„chem muote / und seite dem gesinde / von dem vil armen kinde, / wie starke er des hiez nehmen war, / dú ez diu muoter gebar ; / 16 Tristan, V. 1991 – 1998. Die Einrückungen markieren Verse erster und zweiter Unterordnung. 17 Tristan, V. 1991 – 1998.

Versmaß, Reim und Syntax

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wie er‘z an tougenl„cher stat / verbergen und verheln bat; / wie er ze maere werden liez, den lantliuten sagen hiez, / ez waere in s„ner muoter tút; / wie er s„nem w„be gebút, als ich iu Þ seite, / daz s„ sich in leite, / als ein w„p kindes inne l„t, / und daz s„ nach der selben z„t / der werlde jehende waere, / daz s„ das kint gebaere; / wie s„ mit ime ze kirchen gie, / und wie er d– die toufe empfie; / war umbe er Tristan wart genant; / wie er in sante in vremdiu lant, / und swaz er vuoge kunde / mit handen und mit munde, / wie er in daz lÞren hiez; wie er in dem schiffe liez / und wie er im d– wart genomen, / wie er n–ch ime dar was komen / mit maneger arbeite. / Sus saz er unde seite / diz maere gar von ende her.18

In der Interpunktion dieses langen Satzgebildes stimmen die Textausgaben von Marold, Ranke und Krohn bis auf eine Stelle überein.19 Bei Marold steht in Vers 4236 nach ›gebar‹ ein Punkt, Ranke und Krohn setzen ein Semikolon, was überzeugt, denn der Satz läuft weiter. Marold erläutert zu Beginn seiner Ausgabe auf 66 Seiten die Lesarten der Tristan-Handschriften, aber er sagt kein Wort zur Interpunktion, die vermutlich von ihm stammt. Ranke und Krohn haben sie übernommen. Man wüsste zum Beispiel gern, weshalb am Ende der abhängigen Sätze teilweise ein Komma, teilweise ein Semikolon steht. Die von mir unternommene Gliederung der ausgewählten Versbeispiele ändert die Texte weder in ihrem Umfang noch in der Wortwahl oder Reihenfolge, sondern sie versucht nur, den grammatischen Aufbau des Sprachablaufs sichtbar zu machen. Dies zeigt, wie Metrum und Reime die oft kunstvolle Stufung der inneren Abhängigkeit der Nebensätze vom jeweiligen Hauptsatz überdecken und in eine geschmeidige Form bringen, die den Text bei lautem Vortrag zum rhythmischen Klingen bringt. Die Texte sind also weit vor deren Etablierung als ›Hörbücher‹ konstruiert.

18 Tristan, V. 4233 – 4261. Die Einrückungen markieren abhängige Sätze. 19 Marold besorgte 1906 für Tristan und Isolde den Text sowie den kritischen Apparat, der mehrmals unverändert nachgedruckt wurde, Ranke gab 1949 Tristan und Isold heraus und Krohn übersetzte dessen Fassung ins Neuhochdeutsche mit Stellenkommentar und Nachwort. Diese Fassung erschien 1981.

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Quellen Alexander – Rudolf von Ems: Alexander. Ein höfischer Versroman des 13. Jahrhunderts. 2 Bde. Herausgegeben von Victor Junk. Darmstadt 1970. Der arme Heinrich – Hartmann von Aue: Der arme Heinrich. Mittelhochdeutsch / Neuhochdeutsch. Herausgegeben von Ursula Rautenberg, übersetzt von Siegfried Grosse. Stuttgart 1993. Evangelienbuch – Otfrid von Weißenburg: Evangelienbuch. Bd. I: Edition nach dem Wiener Codex 2687. Herausgegeben von Wolfgang Kleiber unter Mitarbeit von Rita Heuser. Tübingen 2004. Gregorius – Hartmann von Aue: Gregorius, der ›gute Sünder‹. Herausgegeben und erläutert von Friedrich Neumann. Wiesbaden 1958 (Deutsche Klassiker des Mittelalters. Neue Folge 2). Der guote Gêrhart – Rudolf von Ems: Der guote GÞrhart. Herausgegeben von John A. Asher. 2., revidierte Auflage. Tübingen 1971 (Altdeutsche Textbibliothek 56). Tristan – Gottfried von Straßburg: Tristan. Nach dem Text von Friedrich Ranke neu herausgegeben, ins Neuhochdeutsche übersetzt, mit einem Stellenkommentar und einem Nachwort von Rüdiger Krohn. 2 Bde. Stuttgart 1981. Tristan und Isold – Gottfried von Straßburg: Tristan und Isold. Herausgegeben von Friedrich Ranke. Berlin 1949. Tristan und Isolde – Gottfried von Straßburg: Tristan und Isolde. Text und kritischer Apparat herausgegeben von Karl Marold. 3., unveränderter Nachdruck von Werner Schröder. Berlin / New York 1969. Willehalm von Orlens – Rudolf von Ems: Willehalm von Orlens. Herausgegeben aus dem Wasserburger Codex der Fürstlich Fürstenbergischen Hofbibliothek in Donaueschingen von Victor Junk. 2., unveränderte Auflage. Dublin / Zürich 1967.

Literatur Paul, Hermann: Mittelhochdeutsche Grammatik. Neu bearbeitet von Thomas Klein, Hans Joachim Solms und Klaus-Peter Wegera. Mit einer Syntax von Ingeborg Schröbler, neu bearbeitet und erweitert von Hans-Peter Prell. Tübingen 2007.

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»Wer hât mich guoter ûf getân?« Studien zur volkssprachlichen höfischen Lesekultur des Hochmittelalters

Explizite schriftliche Zeugnisse über die Produktion und Rezeption volkssprachlicher Literatur vor 1300 sind rar. Bei der Rekonstruktion des literarischen Schaffens und der Verbreitung der Werke sind wir weitgehend auf Spekulationen angewiesen. Es gehört zu den gattungsübergreifenden Konventionen höfischer Literatur, dass sie über sich selbst, ihre Schöpfer und ihre Rezeption keine belastbaren Aussagen macht, sondern sich allenfalls in Andeutungen ergeht, wie der Bescheidenheitstopoi, Verweise auf neidische und missgünstige Rezipienten oder die unermessliche Freigiebigkeit der gesellschaftlichen Eliten. Die konkreten Umstände, die Biographie der Autoren oder die mediale Geschichte ihrer Dichtungen kann man daraus nicht gewinnen. Mit großer Sicherheit lässt sich nur sagen, dass die höfische Literatur für gemeinschaftliches Lesen und den Vortrag gedacht war.1 Details der Aufführungssituationen können kaum gewonnen werden. Inwieweit und für welchen Zeitraum die Anspielungen hierauf wirklich als Abbild einer performativen Realität gelten dürfen, kann man nicht klären. Insbesondere im Lichte jüngerer Forschungen zu Homer2 ist zu prüfen, ob auch in der Mediävistik die als authentisch genommenen Indizien für orale Textkulturen nicht zum archaisierenden Habitus einer verschriftlichten Literatur gehören. Noch problematischer ist die Bindung der höfischen Dichtung an ein größeres Publikum, etwa bei Hoffesten. Gegen diese Vorstellung spricht zum Beispiel der Prolog zum Wigalois Wirnts von Gravenberc, der etwa zeitgleich mit Wolframs von Eschenbach Parzival entstand: Wer h–t mich guoter ˜f get–n? s„ ez iemen der mich kan beidiu lesen und verstÞn, 1 Grundlegend, wenngleich in der Vorstellung einer durch und durch analphabeten hochmittelalterlichen Adelskultur überholt ist Bumke: Höfische Kultur, Bd. 2, S. 720 – 724. 2 Vgl. Meier-Brügger : Die homerische Kunstsprache; Blößner : Relative Chronologie im frühgriechischen Epos, S. 19 – 21.

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der sol gen–de an mir begÞn, ob iht wandels an mir s„, daz er mich doch l–ze vr„ valscher rede: daz Þret in.3

Das Buch spricht zu einem Einzelnen. Dass dieser Rezipient ›lesen‹ kann, wird vorausgesetzt, jedoch wird von ihm auch erwartet, dass er selbst das Lesen mit ›verstÞn‹ verbindet. Hier ist kein weiteres Publikum mitgedacht, denn sonst müssten (Vor-)Lesen und Verstehen auf unterschiedliche Personen verteilt werden. Der Aufruf, Fehler zu verzeihen, richtet sich ausschließlich an das ›Verstehen‹ des Lesers. Hinter dieser vom Topos der ›captatio benevolentiae‹ geprägten Bitte steht weiterhin das Bild eines einzelnen Lesers, keinesfalls eines aus mehreren oder gar vielen Personen bestehenden Publikums. Ist diese Vorstellung eines einzelnen Lesers eine Laune Wirnts von Gravenberc? Jürgen Wolf stellt, nicht ohne Bedenken, andere standardisierte Lesesituationen vor : Die höfischen Romane, mit Ausnahme der Gral-Dichtungen von Wolfram von Eschenbach, seien »Accessoires der Hofkultur, die man als Spiegel des eigenen Lebensgefühls oder als Anleitungen zur richtigen Lebensführung schätzte und etwa zur Auflockerung eines Hoffestes oder eines festlichen Mahles bei Tisch vortrug«.4 Analog zu Peter Jörg Becker und Joachim Bumke sieht Wolf die Rolle der Handschriften darin, »den Text durch entsprechende schriftliche Niederlegung in ein materielles und ästhetisches Wertobjekt verwandeln zu wollen«.5 Die Quellen decken dies nur in Ansätzen, was sich an einigen Beispielen zeigen lässt. Die um 1225 anzusetzende Artuserzählung Le chevalier aux deux ¦p¦es lässt Damen und Herren des Artushofs unter schattigen Bäumen auf einer Wiese lagern, »die Königin Ginover hielt einen Roman in ihrer Hand, aus dem sie den Rittern und Jungfrauen vorlas«.6Das klingt zunächst nach einem größeren Publikum und zum anderen nach einer kleinformatigen Handschrift, die die Königin mit einer Hand halten kann, um frei zu sprechen. Dies ist umso wichtiger, weil die Deklamation bei Tageslicht im Freien stattfindet. Anders im Iwein von Hartmann von Aue. Der Held trifft bei der Rückkehr von einer Aventiure den Burgherrn und seine Frau im Garten, wo ihnen ein Mädchen französische Geschichten vorliest, das Publikum wird also von gerade einmal zwei Personen gebildet.7 Die Vorleserin bedient sich wiederum des Tageslichts. In beiden Szenen ist der Grund für die gemeinschaftliche Rezeption nicht 3 Wigalois, V. 1 – 7. 4 Wolf: Buch und Text, S. 266. 5 Wolf: Buch und Text, S. 266 unter Bezug auf Becker : Handschriften und Frühdrucke mittelhochdeutscher Epen, S. 164 und Bumke: Epenhandschriften, S. 52. 6 Zitiert nach Bumke: Höfische Kultur, Bd. 2, S. 721. Auf den Folgeseiten weitere Beispiele. 7 Vgl. Iwein, V. 6455 – 6462. Weitere Beispiele vgl. Wolf: Psalter und Gebetbuch am Hof, S. 160.

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zwingend die Leseunfähigkeit der Zuhörer, sondern, und das gilt für gemeinschaftliche Lektüre bis ins 20. Jahrhundert hinein8, die Pflege einer gemeinschaftlichen Lesekultur um ihrer sozialen Effekte willen. Was aber ist an diesen Szenarien Fiktion, was Spiegelung einer realen Lesepraxis?9 Hier kann die Erforschung der materiellen Überlieferungsträger, die in den letzten Jahrzehnten erheblich ausgebaut wurde, neue Wege aufzeigen.10 So machte Jürgen Wolf unter den Überlieferungsträgern der höfischen Dichtung ›psalterähnliche Codices‹ aus, die auf gemeinsame Skriptorien für Epenhandschriften und Psalterien zurückzuführen sind und analysierte die Analogien zwischen liturgischen und höfischen Handschriften.11 Nigel Palmer verwies zudem auf die Rolle von liturgischen Formeln in höfischen Handschriften.12 Dem stehen jedoch die traditionelle literaturgeschichtliche Fixierung auf das Abstraktum ›Text‹13 und wenig fassbare Größen wie ›Aufführungssituation‹14, ›Publikum‹ oder gar ›Zeremonialhandeln‹15 im Weg. Die von Sonja Glauch und Jonathan Green in ihrem Forschungsbericht ausgemachten »neuen Schwerpunkte« im Rahmen einer »konzeptuellen Interessensverlagerung vom ›Buch‹ zum ›Medium‹ und zur ›Kommunikation‹« haben zwar tatsächlich »das Lesen zunehmend als eine Rezeptionstechnik akzentuiert«16, sich aber nicht aus dem Bann traditioneller und zum Teil mit Ideologemen17 belasteter Sichtweisen lösen können. Auch die ›New Philology‹18 hat nicht die Handschriften als Überlieferungsträger und Primärzeugnisse zum Forschungsgegenstand erhoben, sondern den Textbegriff auf die Varietät der Handschriften umgebrochen. Es fehlen belastbare Erkenntnisse. Ihre Gewinnung ist möglich, weil in jeder Handschrift ein Lesekonzept angelegt ist. Es lässt sich an konkreten Merkmalen 8 Beispielsweise Richard Wagners abendliche Vorlesungen, vgl. für zahlreiche Beispiele Wagner : Die Tagebücher, zum Beispiel Bd. 2, S. 290 zum 13. Januar 1879: »Dann liest er uns die Übersetzung des Textes der ›Abenc¦ragen‹ [Oper von Luigi Cherubini]. Und darauf, später, wirklich nimmt er den 3ten Akt vor bis zur Anbetung des Speeres! […] Er sagt zu mir dann, wir würden dies besser unter uns vorgenommen haben – es war aber unsäglich! … [sic!] Wie die andren Freunde sich entfernt, bleibt Freund Levi.« 9 Vgl. zu dieser Fragestellung Wolf: Psalter und Gebetbuch am Hof, S. 149. 10 Vgl. Becker : Handschriften und Frühdrucke mittelhochdeutscher Epen. Vgl. für neuere Forschungen Palmer : Von der Paläographie zur Literaturwissenschaft; Palmer : Manuscripts for reading; Wolf: Buch und Text. 11 Vgl. Wolf: Psalter und Gebetbuch am Hof, S. 165 – 167. 12 Vgl. Palmer : Manuscripts for reading, S. 71 – 75. 13 Vgl. zur neueren Diskussion Martens: Was ist – aus editorischer Sicht – ein Text; Schnell: ›Autor‹ und ›Werk‹ im deutschen Mittelalter. 14 Vgl. für eine kritische Sicht Bumke: Autor und Werk. 15 Vgl. Kleinschmidt: Minnesang als höfisches Zeremonialhandeln. 16 Glauch / Green: Lesen im Mittelalter, S. 400. 17 Vgl. Mentzel-Reuters: Das Nebeneinander von Handschrift und Buchdruck im 15. und 16. Jahrhundert, S. 412 f. und S. 420 f. 18 Zur Kritik an Stephen G. Nichols vgl. Baßler : New Historicism und der Text der Kultur, S. 27.

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der überlieferten Handschriften wie Größe, Gewicht des Buchblocks und der Schriftgröße bestimmen. Ihre Bedeutung ergibt sich aus der Korrelation zwischen der ›conditio humana‹ und dem Leseakt, denn der Lesende muss das Buch in einem bestimmten Abstand vor seinen Augen fixieren. Dies sind einfache Relationen: Kann der konkrete Codex mit einer Hand gehalten werden, benötigt man beide Hände oder gar eine Unterlage wie zum Beispiel ein Pult? Kann der Codex in der richtigen Entfernung vor den Augen gehalten werden, ohne das freie Sprechen in den Raum zu behindern? Für welche Helligkeit sind die höfischen Handschriften ausgelegt, setzen sie Tageslicht voraus oder sind die Buchstaben auch bei künstlicher Beleuchtung noch sicher erkennbar?

Psalterien Als Modellfall ist der Buchtyp des Psalters heranzuziehen. Schon im Frühmittelalter lernte man mit dem Psalter lesen, es gab sogar Psalterien mit voranstehenden ABC-Tafeln.19 Lesen ist im Hochmittelalter zuerst und vor allem das Lesen der Psalmen, wie überhaupt die überwiegende Zahl früh- und hochmittelalterlicher Bücher liturgischen oder spirituell-meditativen Zwecken diente. Die Lesesituationen solcher Codices sind durch ihre rituelle Einbindung klar definiert und werden im kirchlichen beziehungsweise monastischen Bereich in der Regel noch heute praktiziert. Auch die dafür entwickelten Buchformate wurden nahezu unverändert beibehalten. Es sind folglich konkrete Rückschlüsse vom Layout auf die Benutzungssituation möglich. Plenarmissalia, Antiphonalia und ähnliche liturgische Codices werden von Gruppen von Klerikern oder Sängern gleichzeitig benutzt und der Vortrag soll einen großen Raum ausfüllen. Diese Bücher zeichnen sich durch besondere Größe im Buchblock und der Schrift beziehungsweise der Notensysteme aus. Als zwischen Holzdeckel gebundene Pergamentcodices sind sie so schwer, dass sie dauerhaft auf mächtigen Pulten gelagert werden. Die Vortragenden müssen unter sich das Aufschlagen und das Umblättern organisieren.20 Anders ist es bei Sakramentaren, Lektionaren und Evangelistaren. Sie dienen dem Vortrag eines Einzelnen, der jedoch mit erhobener Stimme für viele Zuhörer in einen großen Raum hinein spricht. Die am Ende des Hochmittelalters entstehenden Stundenbücher 19 Vgl. Leroquais: Les Psautiers manuscrits latins des bibliothÀques publiques de France, Bd. 1, S. VII. 20 Vgl. Psalter BR Bruxelles, ms. 10607, fol. 150r (ca. 1270). In einer historisierten Initiale hat sich eine Gruppe von drei Klerikern vor einem Pult mit aufgeschlagenem Psalterium zum Chorgebet versammelt. Das Buch ist für alle drei einsehbar, es wird gerade vom ersten Kleriker umgeblättert. Abb. bei Smeyers: Flämische Buchmalerei, S. 141, Abb. 43.

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und die späteren Gebetbücher sind für einzelne Leser mit wenigen oder keinen Zuhörern bestimmt. Auch für die höfische Welt außerhalb der Kirchenräume war der Psalter von Bedeutung. Alle 150 Psalmen wurden jede Woche gelesen. Man teilte sie in Gruppen ein. Beginnend mit Psalm 1 wurden sieben Reihen festgelegt, die für die Messen beziehungsweise den Frühgottesdienst an den sieben Wochentagen bestimmt waren. Die Psalmen ab Nr. 109 wurden bei den sonntäglichen Vespern gelesen. Diese ›oratio continua‹ wurde zu einer allgemeinen Regel der Kirche, sowohl im gemeinschaftlichen Choroffizium als auch im persönlichen Gebet, auch bei Laien. Die Texte wurden durch Antiphone und Hymnen, Lesungen und Cantica […] ergänzt. Der Psalter enthielt auch einen Kalender, in dem die wichtigsten Feste des Kirchenjahres verzeichnet waren.21

Im 10. und 11. Jahrhundert reicherte man das Textprogramm des Psalters mit Offizien, insbesondere zur Heiligen Jungfrau, zum Heiligen Geist und für die Verstorbenen an. Vor allem im 13. und 14. Jahrhundert war der Psalter so beliebt, dass in Brüssel und Gent fast ebenso viele Prachtexemplare hergestellt wurden wie im eigentlichen Zentrum Paris. Die größere Nachfrage war eine Folge der mehr auf das persönliche Gebet ausgerichteten religiösen Erneuerungsbewegung, die in den Städten dank der Franziskaner und Dominikaner Eingang fanden.22

Die Offizien, Litaneien und Hymnen lösten sich ab dem 13. Jahrhundert zusammen mit den sieben Bußpsalmen aus dem Verbund des Psalters heraus und bildeten mit dem Stundenbuch eine neue, sehr erfolgreiche Buchform für die private Laienfrömmigkeit, während für das individuelle Stundengebet oder das Chorgebet der Mönche und Kleriker das Brevier entwickelt wurde. Gerade hier, bei weitgehend identischem Text, war die Größe von Buchblock und Schriftzeile das ausschlaggebende Kriterium für eine Zuordnung zu individuellem oder gemeinschaftlichem Lesen. Es gibt Breviere in handlichem Format für intime Lesesituationen und am Layout der Messbücher angelehnte großformatige Breviere für das laute Lesen in der Gruppe. Die Psalterien spielten schon vor aller volkssprachlichen Literatur eine Rolle bei den lesenden Eliten. Sie schufen damit Bucherfahrungen und Leseerwartungen, innerhalb derer sich die volkssprachliche höfische Literatur entwickelte. Dies kann man ganz unmittelbar daran erkennen, dass Wolfram von Eschenbach seine ablehnende Haltung zur Büchergelehrsamkeit ausgerechnet mit dem Zitat 21 Smeyers: Flämische Buchmalerei, S. 137. 22 Smeyers: Flämische Buchmalerei, S. 134. Vgl. zur Bedeutung der Dominikaner für Veränderungen des Lesens auch Nikolaus Weichselbaumer in diesem Band mit seinem Beitrag »Sie sollen lesen bei Tag und bei Nacht«.

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von Psalm 70,15 umschreibt23 und in der gesamten Parzival-Handlung nur drei Bücher erwähnt: die Psalterien der Inkluse Sigune, des Eremiten Trevrizent und der Königin Ginover.24 Wir können rückschließen, dass solche persönlichen Psalterien von der adligen Elite für ein solipsistisches tägliches Stundengebet und für kalendarische Bestimmungen genutzt wurden. Die Frage nach der Lesefähigkeit dieser Elite muss man also gar nicht mehr stellen25, sondern jene nach Ort und Praxis der Lektüre. Es waren die Psalterien, die zunächst die höfischen und alsbald die städtischen Eliten für die Welt der Bücher gewannen. Aus und mit ihnen wurden das Lesen und der Umgang mit Büchern erlernt. Obwohl die prachtvollen Miniaturen an sich keinen Realismus anstreben, können wir nicht nur aus dem Codex Manesse26 viel über die konkrete Handhabung27und Lesepraxis28erfahren, sondern schon aus den älteren Psalterien. Ihre Verbreitung prädestinierte sie zum Vorbild auch für weltliche Lesestücke in der Volkssprache. Die Übertragung des Layouts des Psalters auf literarische Handschriften erfolgte zuerst in Frankreich und Oxitanien, doch kann man an den Nibelungenhandschriften sehen, dass in Deutschland die Akzeptanz für diese Form der Texteinrichtung hoch war, auch wenn keine französischen Vorbilder zur Verfügung standen.29 23 Vgl. Eggers: Non cognovi litteraturam (zu Parzival 115, 27); Thelen: Das Dichtergebet in der Deutschen Literatur des Mittelalters, S. 270. 24 Vgl. Parzival, V. 416, 25 – 27, V. 438, 1 und V. 664, 24. Vgl. hierzu mit weiteren Belegen aus der höfischen Dichtung Wolf: Psalter und Gebetbuch am Hof, S. 143 f. 25 Vgl. für eine ausführliche Darstellung auf breiter Quellengrundlage Wolf: ›saltervrouwen‹, S. 412 – 414, Abb. 1 – 3. 26 UB Heidelberg, Cpg 848, auch bezeichnet als Große Heidelberger Liederhandschrift / Codex Manesse / C. 27 Einige Beispiele: Gregor der Große in BR Bruxelles, ms. 9642-4, fol. 133v (ca. 1150) umgreift das Evangeliar mit der linken Hand vom Buchdeckel her und legt die Finger auf den unteren Rand der Textseite (Smeyers: Flämische Buchmalerei, S. 92, Abb. 49). Ähnlich wird der Heilige Ambrosius bei der Taufe des Augustinus in BM Douai, Ms. 280, fol. 41 dargestellt, der sein Sakramentar mit dem Daumen und dem kleinen Finger der linken Hand aufgeschlagen hält, während die drei mittleren Finger von hinten auf den Buchrücken drücken (Smeyers: Flämische Buchmalerei, S. 70, Abb. 19). Auch die Heilige Ursula in KB Københavns, GKS 3384, fol. 160v (ca. 1325) hält ihren eigenen Psalter mit einer Hand am unteren Schnitt (Smeyers: Flämische Buchmalerei, S. 140, Abb. 42). 28 Das Doppelblatt des Psalters BR Bruxelles, ms. 10607, fol. 149v–150r (ca. 1270) präsentiert zwei Buchnutzungen: Der Heilige Thomas hält den Psalter noch mit der linken Hand am Rücken, während er Christus in die Wunde fasst. Auf der gegenüberliegenden Seite wird die in Anm. 20 beschriebene Szene abgebildet (Smeyers: Flämische Buchmalerei, S. 141, Abb. 43). Eine Lichtquelle wird nicht dargestellt. Im Psalter KB Den Haag, 76G 17, fol. 187v wird in einer historisierten Initiale das Totenoffizium im oberen Bildteil von einem Kleriker vor den Trauernden aus einem Manuskript gelesen, das er mit beiden Händen aufgeschlagen vor der Brust hält, so dass seine Stimme nicht durch den Buchblock behindert wird. Im unteren Bildteil sitzen zwei trauernde Frauen mit den Psalterien auf den Knien, sie sind über die Bücher gebeugt und lesen für sich. 29 Vgl. Becker / Overgaauw: Aderlaß und Seelentrost, S. 38 – 45.

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Das gestalterische Konzept der volkssprachlichen Handschriften wurde nicht aus den Produkten der hochmittelalterlichen Skriptorien entnommen, an die wir heute denken, wenn von Psalterien die Rede ist. Die Pracht frühmittelalterlicher monastischer Psalterien wurde ohnehin nur in wenigen Zimelien, wie dem Thüringer Landgrafenpsalter oder dem Psalter Ludwigs des Heiligen, in die höfische Welt übertragen. Neben solchen extravaganten Stücken wurden kleinformatige Psalterien in fast serieller Produktion hergestellt, die nicht nur preisgünstiger, sondern auch leichter zu handhaben waren. Auch diese verwenden ein gediegenes, einheitliches Seitenbild, das in den besseren Stücken durch historisierte Initialen oder Miniaturen gelockert wird. Unabhängig davon, wie einfach oder hochstehend die künstlerische Gestaltung ausfiel, eint sie doch ein minimalistisches Schriftlayout. Absätze erfolgen nur beim Wechsel von einem Psalm zum folgenden, hier werden teilweise auch prachtvolle Initialen verwendet. Innerhalb des einzelnen Psalms sind die Versanfänge durch Lombarden oder kleinere (Gold-)Initialen gekennzeichnet. Der Buchblock solcher höfischen Psalterien entspricht weitgehend dem heutigen Groß-Oktav, funktional treffend als Handbuch-Format bezeichnet: Man kann es mit beiden Händen im Stehen frei oder im Sitzen auf den Knien halten. Für das funktionale Verhältnis von geplanter Lesesituation und Buchformat lässt sich als Faustregel formulieren: Je größer Buchblock und Schrift sind, desto wahrscheinlicher ist eine intendierte Verwendung für einen öffentlichen Vortrag. Der umgekehrte Schluss ist nicht so sicher zu treffen. Großformate mit kleiner Schrift sind ein sicheres Indiz für eine Studienhandschrift mit wenig oder gar keiner Zuhörerschaft. Das Kleinformat ist durch sein geringes Gewicht dafür prädestiniert, seinen Besitzer ständig zu begleiten, und dient damit häufig der intimen Lektüre. Es kann jedoch auch, selbst bei kleiner Schriftgröße, für einen lebhaften Vortrag vor Publikum verwendet werden, weil es sich mit nur einer Hand halten lässt und infolge der übersichtlichen Blattgröße auch nach einem Blick ins Publikum das Wiederauffinden von Textstellen leicht ermöglicht. Schwerer zu bestimmen ist der Faktor der Umgebung für die Leseperformanz, insbesondere die Ermittlung der in profanen höfischen Räumen zu erwartenden Helligkeit. Repräsentative Räume mit original hochmittelalterlichen Lichtverhältnissen finden sich praktisch nicht mehr.30 Neben der im Spätmittelalter allgemein gestiegenen Erwartung an die Bequemlichkeit solcher Räume sind dafür wohl auch die schlechten Lichtverhältnisse verantwortlich. Sie entstanden 30 Die Beobachtungen zu den Lichtverhältnissen stützen sich auf die im Kern ins 13. Jahrhundert zurückgehende Burg Reifenstein bei Sterzing in Südtirol, an der praktisch keine neuzeitlichen Bauveränderungen vorgenommen wurden. Doch auch hier ist die Wohnstube, das sogenannte ›Kapitelszimmer‹, im Spätmittelalter umgestaltet und mit größeren Fenstern versehen worden.

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durch die wenigen und kleinen Fenster, die entweder gar nicht oder mit Pergament, Stoff oder Milchglas verschlossen waren. Die Raumhelligkeit wurde nicht nur von den Fensteröffnungen bestimmt, sondern vor allem von den Feuerstellen im Raum31, die mehr noch als Kerzen32 oder Fackeln zur Ausleuchtung dienten. Selbst wenn man direkt neben dem Lesepult Kerzen aufstellte, wie dies durch Gebetsszenen in mittelalterlichen Stundenbüchern belegt ist, ergab sich ein diffuses Licht. Glänzende oder in kräftigem Rot und Blau gehaltene Initialen sind also nicht nur Buchschmuck, sondern auch Orientierungshilfen bei ungünstigen Lichtverhältnissen. Für die Leseperformanz ist außerdem zu berücksichtigen, dass im Hochmittelalter keine Mittel zur Kompensation von Sehfehlern bekannt waren und insbesondere die Altersweitsicht zu erheblichen Einschränkungen der Lesefähigkeit führte. An den Liturgika lässt sich gut zeigen, dass solche Beeinträchtigungen durch Vergrößerung der Buchseiten und der Schrifthöhe kompensiert wurden. Es erklärt aber auch, warum an allen größeren geistlichen Einrichtungen Schüler und Novizen den Vortrag des nach Tageszeiten gegliederten Psalters, das ›Psalterium feriatum‹, übernahmen.33 Die in Psalterien oder Evangeliarien häufige Abbildung der Verkündigung Mariens stellt die Heilige Jungfrau meist beim Lesen des Psalters dar.34Dieser ruht auf einem Kissen oder einem Lesepult. Die Szene wird selten in einem Innenraum dargestellt, sondern meist auf einer Loggia oder in einem Garten.35 Im Codex Manesse sitzt Alram von Gresten mit seiner Dame auf einer Gartenbank. Sie stützt ein ungebundenes Faszikel auf ihr linkes Knie und hält es mit drei Fingern der linken Hand am oberen Falz.36 Anhand eines nach Paris zu lokalisierenden fragmentarischen Psalters aus der Mitte des 13. Jahrhunderts, von dem sich fünf Blätter im Besitz des Verfassers befinden37, wurden die äußeren Gebrauchsbedingungen getestet. Der 31 Vgl. Parzival, V. 230, 6 – 14: mit marmel was gemüret / dri vierekke fiwerrame:/ dar äffe was des fiwers name,/ holz hiez lign aloe./ so groziu fiwer sit noch e / sach nieman hie ze Wildenberc: / jenz waren kostenlichiu werc. 32 Vgl. Parzival, V. 236, 1 – 3: von sehs glas l˜ter […] / dar inne balsem, der wol bran. 33 Vgl. zu Bestimmung und Verständnis mittelalterlicher Psalterien Leroquais: Les Psautiers manuscrits latins des bibliothÀques publiques de France. 34 Vgl. Evangelienbuch; Haubrichs: Rituale, Feste, Sprechhandlungen, S. 61 f. 35 Vgl. Mayer-Pfannholz: Mariä Verkündigung im Wandel der Kunstgeschichte; Denny : The Annunciation from the Right from Early Christian Times to the 16th Century ; Schreiner : Marienverehrung, Lesekultur, Schriftlichkeit; Wenzel: Die Verkündigung an Maria; Liebrich: Die Verkündigung an Maria. 36 Dies ist die einzige Miniatur im Codex, in der ein Buch gelesen wird. Alle anderen Szenen sind entweder dem Schreibvorgang gewidmet oder der Übergabe von kleinen Rotuli oder Schedulae mit einzelnen Gedichten. Vgl. für eine digitale Abbildung UB Heidelberg, Cpg 848, fol. 311r. In: Universitätsbibliothek Heidelberg : Heidelberger historische Bestände – digital (URL: http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/cpg848/0617 [01. 01. 2013]). 37 Ehemals BC Toronto, ms. 6. Vgl. Sotheby’s: Western Manuscripts and Miniatures, S. 47,

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Psalter misst im Buchblock 14,5 x 11,5 cm, der Schriftraum bedeckt einen Block von 12 x 8 cm mit 19 Zeilen pro Seite, was einer Zeilenhöhe von 0,63 cm entspricht. Damit korreliert die Blattgröße exakt mit einem Handteller. Man konnte den Codex also mit einer Hand, mit dem Daumen im Schnitt, aufgeschlagen vor den Augen halten oder auf beiden Händen ruhen lassen.38 Bei einem abendlichen Tageslicht von 3 000 lx ist er selbst mit Altersweitsicht von 1,5 Dioptrien in einer Entfernung von 40 cm vom Auge gut zu lesen, auch in einem hellen Raum (140 lx) ist die Schrift für normalsichtige Augen gut, mit Altersweitsicht immerhin noch mit Mühe zu lesen. Unterhalb dieser Helligkeitswerte wird ein sicheres Erkennen der Buchstaben schwierig und hat in jedem Fall eine Verringerung der Lesegeschwindigkeit zur Folge, so dass zwar noch ein langsames meditatives Lesen, aber kein flüssiger Vortrag für Zuhörer mehr denkbar ist.39 Die Bedingungen dieses fragmentarischen Psalters können verallgemeinert werden: Die Helligkeitsmessung unmittelbar an der Flamme einer großen Kirchenkerze ergibt 400 lx, die sich jedoch in der Umgebung rasch verlieren. Da die Flamme vertikal steigt, kann sie kaum zur Ausleuchtung eines in der Hand oder gar auf dem Schoss gehaltenen Buchs genutzt werden. Hält man den Psalter direkt hinter zwei Kerzen, ist zwar eine gute Helligkeit zu erzielen, doch gefährden die Flammen die Augen des Lesenden. Außerdem würde eine solche Lesepraxis erhebliche Verschmutzungen des Pergaments durch Ruß und Funkenflug oder sogar das Ansengen des Buchs zur Folge haben.40 Davon ist in den erhaltenen Codices nichts zu sehen. Man muss das Buch also auf ein Pult zwischen die Kerzen legen, so dass die Flammen den Schriftraum beleuchten. Dazu sollten die Flammen, das Buch und die Augen des Lesenden möglichst auf gleicher Höhe sein, was zur Folge hat, dass Pult und Buch den Mund des Lesenden verdecken. Auf diese Weise erreicht man zwischen zwei Kerzen im Abstand von 20 cm etwa 90 lx. Das im Test verwendete kleine Psalterium wäre auf diese Weise zu lesen, vorausgesetzt der Abstand zwischen den Kerzen bleibt unterhalb von 30 cm. Größere Buchformate mit gleicher Schrifthöhe könnten mit dem Licht zweier Kerzen also nicht mehr flüssig gelesen werden, weil schon bei einem Abstand von 40 cm nur mehr 60 lx auf das Buch fallen. Lot No. 55. Die Handschrift hatte demnach 129 Blatt und wurde vom neuen Besitzer zerstückelt. Seither werden Einzelblätter und kleinere Tranchen auf Auktionen und im Internet angeboten. 38 Vgl. für Stellungen des Bücherhaltens in der mittelalterlichen Kunst Wolf: Psalter und Gebetbuch am Hof, S. 145 – 147. 39 Für einen Leseplatz werden heute mindestens 300 lx gefordert. 40 An dieser Stelle ist darauf hinzuweisen, dass Pergament sich, wie jede Haut, bei Kontakt mit Feuer in Sekundenbruchteilen aufwölbt und nahezu rückstandslos verbrennt. Filmische Darstellungen von Bibliotheksbränden zeigen oftmals braune Ränder und aus den Büchern herabfallende Asche, sie übertragen irrtümlich die Eigenschaften des filmisch weit effektvolleren Papierbrands.

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»Dirre salme ist nuzze wiben und mannen in der sele und an dem libe«, so lautet die an adlige Laien gerichtete Gebetsanweisung41 im Fragment des auf das 12. Jahrhundert zu datierenden lateinischen Psalters BSB München, Cgm 5250/5a.42 Sie wurde um 1200 an den Rand von Psalm 50 geschrieben, der zu den sieben Bußpsalmen gehört.43 Es ist eines der typischen Zeugnisse deutschsprachiger Schriftlichkeit vor 1200, denn sie dreht sich um den lateinischen Psalter44, der höfischen ›wiben und mannen‹ in die Hand gegeben wurde.45 Wir halten zur späteren Verwendung fest, dass der lateinische Psalter das Buchformat 18,5 – 18,8 x 12,8 cm hat und einen Schriftraum von 19 Zeilen auf 13,5 x 7,5 cm verwendet und somit eine Schrifthöhe von etwas mehr als 0,7 cm aufweist. Das aus gleicher Zeit stammende Psalterfragment BSB München, Cgm 5250/5b-e ist geringfügig größer.46 Das wegen seiner Runenzeilen berühmte und mit einem Hymnar erweiterte Psalterium BSB München, Clm 13067 ist um 1200 entstanden.47 Es ist zweispaltig und weist den Weg für die lektüretechnische Bedeutung der Schriftgrößen. Es handelt sich gleichermaßen um eine Vorlese- und Studienhandschrift. Der Psalter ist auf den inneren Spalten eingetragen, die äußeren sind für die Scholien reserviert. Die Zeilenhöhe der Scholien beträgt zwei Drittel der für den Psalter verwendeten Schrift. Da der gesamte Schriftraum 21 x 11 cm beträgt, ergibt sich im Psalter bei 30 Zeilen eine Zeilenhöhe von 0,7 cm. Die Scholien beginnen bereits oberhalb des zweizeiligen Psalmentexts und kommen auf 45 – 50 Zeilen mit einer Gesamthöhe von 23 cm, also 0,46 cm je Zeile.

41 Vgl. Hellgardt: Deutsche Gebetsanweisungen zum Psalter in lateinischen und deutschen Handschriften und Drucken des 12.–16. Jahrhunderts; Wolf: Psalter und Gebetbuch am Hof, S. 175, Abb. 56. 42 Vgl. Schneider: Die Deutschen Handschriften der Bayerischen Staatsbibliothek München, S. 134 f. 43 Vgl. für weitere Literatur zur Handschrift BSB München, Cgm 5250/5a das Paderborner Repertorium der deutschsprachigen Textüberlieferung des 8. bis 12. Jahrhunderts (URL: http://www.paderborner-repertorium.de/8954 [01. 01. 2013]). 44 Vgl. Hellgardt: Die deutschsprachigen Handschriften im 11. und 12. Jahrhundert. 45 Vgl. für einen vollständigen Überblick über die deutschsprachige Handschriftenüberlieferung vor 1200 das Paderborner Repertorium der deutschsprachigen Textüberlieferung des 8. bis 12. Jahrhunderts (URL: http://www.paderborner-repertorium.de/). 46 Der Buchblock beträgt hier 19,6 – 19,9 x 14 cm mit einem Schriftraum von 14,5 – 15 x 9 cm. Vgl. Schneider : Die deutschen Handschriften der Staatsbibliothek München, S. 135. 47 Vgl. für eine ausführliche Beschreibung der Handschrift Selmer : The Runic Inscription of Codex Latinus Monacensis 13067, S. 645 f. Vgl. zur Herkunft der Handschrift aus dem wallonischen Waulsort Despy : Le scriptorium de l’abbaye de Waulsort au XIe siÀcle. Vgl. für eine digitale Abbildung BSB München, Clm 13067. In: Bayerische Staatsbibliothek München: Regensburger Reichsstädtische Bibliothek Online (URL: http://daten.digitalesammlungen.de/~db/0004/bsb00042781/images/ [01. 01. 2013]).

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Handschriften der höfischen Epik Es ist hier vom späten 12. und frühen 13. Jahrhundert die Rede, also der Zeit, in der das Nibelungenlied seine uns heute bekannte Fassung erhielt, der Pfaffe Konrad das Rolandslied in deutsche Verse48 brachte und Hartmann von Aue seine Werke schrieb. Wie sie, und bald darauf Wolfram von Eschenbach und Gottfried von Straßburg, ihre Handlungen entwarfen und in Verse umformten, ist nicht überliefert. Vermutlich haben sie mit Wachstafeln begonnen und die Ergebnisse auf Rotuli aus Pergament übertragen, aus denen man auch schon vortragen konnte. Für die Liederdichter, von denen später die Rede sein soll, kann man das genauer rekonstruieren, für die Epiker ist es gegenwärtig ungewiss. Die mediale Untersuchung kann bei dieser Quellenlage erst mit der Kodifizierung der Dichtung beginnen. Die ältesten Codices mit mittelhochdeutschen Versdichtungen gehören dem späten 12. Jahrhundert an, zu nennen ist der Codex UB Heidelberg, Cpg 112.49 Er ist der einzige erhaltene Codex des darüber hinaus durch sechs Fragmente überlieferten Rolandslieds des Pfaffen Konrad. Er wird nicht zuletzt wegen seiner Federzeichnungen geschätzt.50 Die Handschrift besteht im Wesentlichen aus Quaternionen im Format 21 x 15 cm. Den nur leicht schwankenden Schriftraum von 17,4 – 17,8 x 12 – 12,2 cm füllen einheitlich 23 Zeilen, deren Höhe damit bei 0,77 cm liegt. Bis auf wenige Nachträge stammt der Codex von einem einzigen Schreiber.51 Die Textgliederung wird ausschließlich durch rote Lombarden erzielt. Die Verse sind nicht abgesetzt, sondern lediglich durch Punkte markiert, die nicht syntaktisch gemeint, sondern als Pausenzeichen zu verstehen sind.52 Das Erscheinungsbild der Seiten ist folglich nüchtern und gleichmäßig, nur einmal, bei fol. 5v, wird für den Vers 360 »si sungen alle deo gratias«53 eine Auszeichnungsschrift verwendet, das ›gratias‹ ist gesperrt geschrieben. Das ist eine typische Schreibweise für zu Initien verkürzte Gebete oder Versikel am Ende von liturgischen Einheiten, ein zeitgenössisches Beispiel ist das gesperrte »in secula« am Ende des Magnifikat

48 Vgl. Rolandslied; Nellmann: Pfaffe Konrad. 49 Vgl. für eine digitale Abbildung UB Heidelberg, Cpg 112. In: Universitätsbibliothek Heidelberg: Heidelberger historische Bestände – digital (URL: http://digi.ub.uni-heidelberg.de/ diglit/cpg112 [01. 01. 2013]). Vgl. für eine Beschreibung der Handschrift Zimmermann: Die Codices Palatini germanici in der Universitätsbibliothek Heidelberg (Cod. Pal. germ. 1 – 181), S. 264 f. 50 Vgl. Kern: Bildprogramm und Text. 51 Vgl. Angaben nach Zimmermann: Die Codices Palatini germanici in der Universitätsbibliothek Heidelberg (Cod. Pal. Germ. 1 – 181), S. 264. 52 Vgl. Oliver Duntze in diesem Band mit seinem Beitrag The sound of silence. 53 Textwiedergabe in der Schreibweise der Handschrift.

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im Psalterium BSB München, Clm 23119, fol. 150v.54 Diese Sperrung ist in Evangeliarien und Psalterien schon im 9. Jahrhundert geläufig.55 Bemerkenswert ist die Übertragung in den höfischen Kontext einer Handschrift des Rolandslieds. Nicht nur dieses Detail, sondern die gesamte Seitengestaltung und insbesondere Schriftraum und -größe lassen erkennen, dass der Schreiber von UB Heidelberg, Cpg 112 sich ein Psalterium zum Vorbild genommen hat. Die Nibelungenhandschrift LB Karlsruhe, Cod. Donaueschingen 6356 verwendet das gleiche Layout mit einem nur leicht am rechten Rand flatternden Schriftblock und Absetzung der Verse durch kleine Lombarden. Der Buchblock misst 24,5 x 16,5 cm, der Schriftraum darin 18,5 x 11,5 cm mit 33 Zeilen. Die Zeilenhöhe beträgt also 0,56 cm. Vor allem in der Artusepik wird der Schriftblock durch Zeilenumbrüche am Versende ersetzt, wobei die Schreiber dennoch versuchen, gleichmäßige Blöcke zu bilden. So werden zum Beispiel überlange Verse interlinear oder am Ende des Folgeverses fortgesetzt. Damit rücken die Lombarden, die im Block den Versanfang markieren, in eine vertikale Linie am Spaltenanfang. Sie sind eigentlich ihrer Funktion enthoben. Dass sie aber dennoch auftreten, belegt, dass es sich beim Versumbruch um eine sekundäre Form handelt, der eine Anordnung im Schriftblock vorausging. Sie sind keine Erfindung volkssprachlicher Schreiber, sondern eine typische Markierung für Zeilenanfänge. Dies lässt sich zum Beispiel im Psalterium BSB München, Clm 23037 aus dem 12. Jahrhundert auf fol. 30rb57 für das Athanasische Glaubensbekenntnis erkennen.

54 Vgl. für eine digitale Abbildung BSB München, Clm 23119. In: Bayerische Staatsbibliothek München: Frauenklöster – Handschriften und Inkunabeln (URL: http://daten.digitalesammlungen.de/~db/0003/bsb00034602/images/ [01. 01. 2013]). Vgl. für eine Beschreibung der Handschrift Klemm: Die romanischen Handschriften der Bayerischen Staatsbibliothek, S. 224 f. Mit 16,2 x 12 cm und 20 Zeilen auf 12 – 12,5 x 8 cm und damit einer Zeilenhöhe unterhalb von 0,65 cm ist dieses Psalterium vergleichsweise klein. 55 Aus diesem Grunde verbieten sich Rückschlüsse auf eine stilistische Verwandtschaft zwischen dem Regensburger Psalterium und der traditionell auch nach Regensburg verorteten Handschrift des Rolandslieds. Für einen Versuch des Nachweises einer mitteldeutschen Herkunft von UB Heidelberg, Cpg 112 vgl. Gutfleisch-Ziche: Zur Überlieferung des deutschen ›Rolandsliedes‹, S. 148 – 159. 56 Vgl. für eine Übersicht zur Handschrift LB Karlsruhe, Cod. Donaueschingen 63 das Marburger Repertorium. Deutschsprachige Handschriften des 13. und 14. Jahrhunderts (URL: http://www.handschriftencensus.de/1482 [01. 01. 2013]). Vgl. für eine digitale Abbildung derselben Handschrift die Digitale Bibliothek der Badischen Landesbibliothek (URL: http:// www.blb-karlsruhe.de/blb/blbhtml/nib/uebersicht.html [01. 01. 2013]). Vgl. hierzu auch Obhof: Nibelungenlied und Nibelungenklage (C); Badische Landesbibliothek: Die Nibelungenlied-Handschrift C, S. 23 – 25. 57 Vgl. für eine digitale Abbildung BSB München, Clm 23037. In: Bayerische Staatsbibliothek München: Handschriften (lateinische – Clm) (URL: http://daten.digitale-sammlungen.de/ bsb00006470/image_61 [01. 01. 2013]).

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Die Handschrift UB Gießen, Hs. 97 mit Hartmanns von Aue Iwein hat Diskussionen ausgelöst, weil sie sich mit einem Buchblock von 12,6 x 8 cm scheinbar in eine Entwicklung von der ›billigen‹, kleinformatigen Handschrift zum repräsentativen Codex einordnet.58 Ihr Schriftraum beträgt 9,1 – 9,3 x ca. 5,5 cm mit 26 Zeilen. Die Schrifthöhe liegt bei 0,36 cm, der Hälfte des Codex UB Heidelberg, Cpg 112 mit dem Rolandslied. Dennoch ist die Vorstellung eines stetigen Qualitätszuwachses nicht haltbar. Miniaturisierung bedeutet gerade im Buchwesen keineswegs zwangsläufig Wertminderung bei Schmuck und Textqualität. Nach heutigem Forschungsstand gehört die Gießener Handschrift dem zweiten Viertel des 13. Jahrhunderts an.59 Sie steht damit in direkter Konkurrenz zu größeren Formaten für volkssprachliche Werke, etwa der Sammelhandschrift BSB München, Cgm 1960, die durch ihre auf Einzelblättern eingefügten Illuminationen zum Parzival berühmt wurde. Hierfür verwendet sie 57 Zeilen in drei jeweils 26 cm hohen Spalten, also eine Schrifthöhe von 0,45 cm.61 Vergleicht man BSB München, Cgm 19 mit der Gießener Iwein-Handschrift, so ist bei der größeren Handschrift zwar eine bessere Flächennutzung, aber auch ein Verlust an Leseperformanz zu beobachten. Nur dieser dient das Duodezformat der Iwein-Handschrift. Es kann nicht aus einem Sparbedürfnis resultieren, denn die dreispaltige Textverteilung der Münchener Sammelhandschrift gewährleistet eine weit effizientere Flächennutzung. Die materielle Ausgangssituation war für die Blätter beider Codices gleich, sie mussten aus präparierten Tierhäuten gefaltet und dann an den Rändern beschnitten werden. Nur wurden die Pergamentblätter für die Blattgröße des Münchener Codex zwei Mal gefaltet, für jene des Gießener Codex vier Mal. Da bei kleinerem Seitenformat mehr Raum für Schreibrand und Bundsteg verloren geht, war auf diese Weise keine Einsparung zu erzielen. Der Iwein umfasst 8 166 Verse, der Parzival mit 827 sogenannten Dreißigergruppen etwa 24 800 Verse und damit beinahe die dreifache Menge. Im Format des Codex UB Gießen, Hs. 97 würde der Parzival 378 Blatt benötigen. Ein solcher Codex wäre zu stark, um ihn mit einer Hand halten zu können, dafür müsste man die Lagen auf mehrere Codices verteilen oder auf eine geeignetere Blatt58 Vgl. Wolf: Buch und Text, S. 266 f. 59 Vgl. für eine Zusammenfassung zur Handschrift UB Gießen, Hs. 97 das Marburger Repertorium. Deutschsprachige Handschriften des 13. und 14. Jahrhunderts (URL: http:// www.handschriftencensus.de/1102 [01. 01. 2013]). 60 Vgl. Klein: Beschreibendes Verzeichnis der Handschriften (Wolfram und Wolfram-Fortsetzer), S. 942 f. und S. 959. Vgl. für weitere Literatur zur Handschrift BSB München, Cgm 19 das Marburger Repertorium. Deutschsprachige Handschriften des 13. und 14. Jahrhunderts (URL: http://www.handschriftencensus.de/1223 [01. 01. 2013]). 61 Vgl. Dressler : Die Handschrift Cgm 19 der Bayerischen Staatsbibliothek München, S. 14.

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größe wechseln. Alleine die Textmenge machte also die Verbreitung des Parzival in kleinformatigen Handschriften unsinnig und legte den Wechsel auf das historische Quart-Format, nach heutiger Definition Groß-Oktav, nahe. Das hat Konsequenzen. Eine solche Handschrift kann man allenfalls im geschlossenen Zustand mit einer Hand halten. Sie lässt sich zwar von einem einzelnen Leser auf die Knie legen, doch dann muss er sich, ebenso wie beim Lesen vom Pult, wegen der geringen Schriftgröße darüber beugen und kann nicht mehr frei in den Raum sprechen. Dieses Layout ist also nur eingeschränkt für einen Vortrag geeignet. Dies deutet auf individuelle Lektüre hin. Die Vereinzelung des Lesens zeigt sich auch in der Leseperformanz des Codex BSB München, Cgm 19 bei Kerzenlicht. Selbst bei einem engen Kerzenabstand von 50 cm wäre diese Handschrift nur mit 30 lx beleuchtet. Mit Altersweitsicht ist sie dann nicht mehr zu entziffern, aber mit einer geringeren Akkomodationsbreite sehr gut zu lesen. Hier zeigt die frühgotische Minuskel ihre eigentliche Stärke. Infolge der gespaltenen Schäfte ist das Fixieren der Buchstaben bei einer flackernden Lichtquelle leichter als bei einer modernen gedruckten Antiqua gleicher Schrifthöhe. Jedoch sollte der Lesende möglichst nicht von dem Buch aufsehen, da, zumal bei dreispaltigem Layout, das Wiederauffinden einer Zeile in diesem Codex sehr mühsam ist. Damit erweist sich BSB München, Cgm 19 als Handschrift für eine Lektüre in einem geschlossenen Raum, und zwar entweder für individuelles Lesen oder einen sehr kleinen Zuhörerkreis. Mehrfach wurde versucht, Psalterien als Quelle zum Geistesleben am thüringischen Fürstenhof um 1200 zu nutzen. Felix Heinzer leitete das in der Mitte des 13. Jahrhunderts für Sammelhandschriften von Wolframs von Eschenbach Epen verwendete dreispaltige Layout aus den Psalterien im Umfeld des Thüringer Hofs ab.62 Er rekurrierte dabei auf den sogenannten Landgrafenpsalter WLB Stuttgart, HB II 24 und den Elisabethpsalter MAN Cividale del Friuli, Ms. CXXXVII, die beide für die 1238 verstorbene Sophie von Wittelsbach angefertigt wurden. Katharina Mertens Fleury schloss von diesem eher formalen Ausgangspunkt auf eine weitergehende theologische Verbindung zwischen den höfischen Psalterien und dem ethischen Programm der Versromane. Sie verwies auf den Begriff des ›Mitleidens‹, lateinisch ›compassio‹63, den sie als Konstante höfischer Weltsicht und Ethik versteht. Sie leitete ihn aus der vorangehenden lateinischen

62 Vgl. Heinzer: Über das Wort hinaus lesen, S. 147 – 168. 63 Die Übersetzung ist problematisch. Die von Parzival erwartete Tugend wird mittelhochdeutsch als ›erbärmde‹ bezeichnet, was dem viel weiter gefassten lateinischen Begriff der ›misericordia‹ entspräche. Es ist nicht zu erkennen, wo bei Wolfram von Eschenbach die bernhardinische ›compassio‹ im Sinne einer meditiativ nacherlebenden Passion thematisiert würde. Diese Deutung passt weit besser auf Wagners Parsifal.

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Tugend-Literatur als Element der ›Passionsfrömmigkeit‹ ab.64 In den genannten Psalterien aus dem Umfeld des Thüringer Hofs erkennt sie eine damit korrelierende, von zisterziensischer Leidensmystik beeinflusste Darstellung von Passion und Martyrium.65 Als zeitlich und räumlich nahe beieinander liegende Ausdrucksformen werden dem Thüringer Hof zugeschriebene Psalterien und das dort zumindest zum Teil entstandene Versepos Parzival Wolframs von Eschenbach gewertet.66 Doch folgen weder die erhaltenen epischen Handschriften noch die Psalterien dieser Analogie. Ganz im Gegenteil nehmen die von Heinzer angeführten Thüringer Psalterien ein Layout vorweg, dass erst im späteren 13. und dann vor allem im 14. Jahrhundert in der volkssprachlichen Epik Anwendung findet. Nicht nur der Buchblock, sondern auch die Schriftgröße sind gegenüber den Gebrauchspsalterien vergrößert, so dass die Handschriften mit ihrer Illumination für eine Zurschaustellung geeignet sind, die aber mit einem Vortrag vom Pult aus verbunden werden kann.

Liederhandschriften Bei Minnesang wie Sangspruch setzt die Kodifizierung wesentlich später ein als in der erzählenden Dichtung. Der Grund hierfür liegt nicht in einer oralen Kultur, sondern in den Aufführungsbedingungen. Es kamen nur kleinformatige Textvorlagen in Frage, die die Bewegungsfreiheit und die akustische Wirkung des Vortrags nicht behinderten, also vor allem Rotuli. Wachstafeln halfen bei Konzeption und Niederschrift. Beide Schriftträgertypen können wir in den retrospektiven Darstellungen des Codex Manesse häufig antreffen. Der Sänger diktiert oder rezitiert nach ihnen67 oder er steckt das Lied der Dame oder ihrer Vertrauten zu.68 Die Illuminatoren des 14. Jahrhunderts zogen die Lesefähigkeit der adligen Personen des vorausgegangenen Jahrhunderts nicht in Zweifel. 64 Vgl. Mertens Fleury : Leiden lesen, S. 13 – 47. 65 Vgl. Mertens Fleury : Leiden lesen, S. 48 – 109. 66 Wolframs von Eschenbach Haltung zum Landgrafenhof ist allerdings nicht einfach zu bestimmen. Vgl. hierzu Bumke: Wolfram von Eschenbach, S. 13 – 15. 67 So sind Rotulus und Wachstafel gemeinsam bei dem blinden Reinmar von Zweter zu sehen (fol. 323r). Beispiele für Rotuli finden sich bei Burggraf von Rietenburg (fol. 119v) und Meinloh von Sevelingen (fol. 120v). Vgl. UB Heidelberg, Cpg 848. In: Universitätsbibliothek Heidelberg: Heidelberger historische Bestände – digital (URL: http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/cpg848/ [01. 01. 2013]). 68 Beispiele für Briefe oder Zettel finden sich bei Wilhelm von Heinzenburg (fol. 162v), Herrand II. von Wildonie (fol. 201r) und beim als Pilger verkleideten Hadlaub (fol. 371r). Vgl. UB Heidelberg, Cpg 848. In: Universitätsbibliothek Heidelberg: Heidelberger historische Bestände – digital (URL: http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/cpg848/ [01. 01. 2013]).

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Diese Beobachtungen lassen vermuten, dass Aufführung von Liedern und Sammelhandschriften von Liedern zwei unterschiedlichen Nutzungssphären angehören. Doch ist dies keineswegs immer so. Die vier ältesten und für die hochmittelalterliche Literatur bedeutendsten Handschriften sind die Kleine Heidelberger Liederhandschrift (A)69, die Große Heidelberger Liederhandschrift (C; Codex Manesse)70, die Weingartner Liederhandschrift (B)71 und die Jenaer Liederhandschrift (J)72. Sie sind aller Wahrscheinlichkeit nach in der genannten Reihenfolge entstanden. Es gibt noch einige kleinere, nur fragmentarisch erhaltene Sammlungen, zum Beispiel die Naglerschen Bruchstücke und die 1985 entdeckten drei Budapester Blätter bairisch-österreichischer Provenienz.73 Bei allen diesen Handschriften sind die Strophen abgesetzt und durch größere Lombarden gekennzeichnet, Verse nicht. Mit Ausnahme der Jenaer Liederhandschrift (J) lassen sich die Handschriften A, B und C einem vergleichsweise engen geographischen und zeitlichen Umfeld zuordnen. A wird in das Elsass, B in den Bodenseeraum und C nach Zürich verortet. Sie gehören keinem direkt verbundenen Stemma an, lassen aber die kodikologischen Paradigmen der hochmittelalterlichen Liedüberlieferung im alemannischen Raum erkennen. Der Kleinen Heidelberger Liederhandschrift (A) gebührt dabei sowohl wegen des Alters als auch der philologischen Qualität ein besonderes Augenmerk. Im Kern ist sie vor 1280 entstanden, wurde jedoch noch im 14. Jahrhundert weiter ergänzt.74 Mit einem Buchblock von 18,5 x 13,5 cm und einer geringen Stärke von 47 Blatt ist sie leicht in einer Hand zu halten. Über den ersten Einband lässt sich nichts sagen, der heutige stammt aus dem 16. Jahrhundert. Die Schriftgröße beträgt bei durchschnittlich 40 Zeilen auf einem Raum von 14,2 – 15 x 10,5 – 10,7 cm 0,34 – 0,37 cm, ist also jener des Wolfram-Codex BSB München, Cgm 19 ähnlich. Die Linien sind jedoch kräftiger, was die Lesbarkeit verbessert. Das Layout folgt dem Modell der Psalterien. Die Versanfänge sind nicht abgesetzt, aber durch kleine Lombarden markiert. Große Lombarden bezeichnen die 69 UB Heidelberg, Cpg 357. Vgl. für eine Zusammenfassung den Handschriftencensus. Eine Bestandsaufnahme der handschriftlichen Überlieferung deutschsprachiger Texte des Mittelalters (URL: http://www.handschriftencensus.de/4927 [01. 01. 2013]). 70 UB Heidelberg, Cpg 848. Vgl. für eine Zusammenfassung das Marburger Repertorium. Deutschsprachige Handschriften des 13. und 14. Jahrhunderts (URL: http://www.handschriftencensus.de/4957 [01. 01. 2013]). 71 WLB Stuttgart, HB XIII 1. Vgl. für eine Zusammenfassung das Marburger Repertorium. Deutschsprachige Handschriften des 13. und 14. Jahrhunderts (URL: http://www.handschriftencensus.de/5914 [01. 01. 2013]). 72 ThUuLB Jena, MS. El. F. 101 und das Fragment Studienbibl. Dillingen, XV Fragm. 19. 73 Vgl. für weitere Literatur Kornrumpf: Die Anfänge der Manessischen Liederhandschrift, S. 4. 74 Vgl. Miller / Zimmermann: Die Codices Palatini germanici in der Universitätsbibliothek Heidelberg (Cod. Pal. germ. 304 – 495), S. 208.

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Liedanfänge. Aus den traditionellen Rubriken wie ›Psalmus David‹ wird zum Beispiel auf fol. 15r die Autorennennung ›Der truchsze von S Gallen‹. Der im Kern75 um 1300 angelegte Codex Manesse ist großformatig. Der Seitenspiegel von 35 x 25 cm ist mit einem Schriftraum von 26 x 17,5 cm in je zwei Spalten zu 46 Zeilen gefüllt. Damit erreicht er eine Zeilenhöhe von 0,56 cm. Seine Besonderheit sind die 137 ganzseitigen Miniaturen in Deckfarbenmalerei, zu denen eine nicht ausgeführte Vorzeichnung hinzuzuzählen ist. Größe und Bildprogramm zeigen eine direkte Anlehnung an das Layout der 100 Jahre zuvor in Venetien angefertigten provenÅalischen Liederhandschriften.76 Der Codex BN Paris, Ms. FranÅais 854 (I) hat bei einem Buchblock von 31 x 22 cm 46 Zeilen in einem zweispaltigen Schriftraum von 21 x 15,5 cm, also eine Zeilenhöhe von 0,46 cm77, der monumentale Codex BN Paris, Ms. FranÅais 12473 (K) verfügt bei einem Buchblock von 34 x 23,5 cm über einen Schriftraum von 23 x 16 cm mit 49 Zeilen und damit wiederum eine Zeilenhöhe von 0,46 cm. Beide zeigen Autorenportraits in historisierten Initialen, der Codex Manesse aber bringt es auf ganzseitige Darstellungen. Damit übertrifft er die provenÅalischen Vorläufer in Größe, Zeilenzahl, Schriftgröße und in der Ausmalung. Das Fragment der Budapester Liederhandschrift OSK Budapest, Cod. Germ. 92 (Bu) ist in seiner Seitengestaltung und in der Zeilenhöhe von 0,52 cm näher am Psalterium.78 Die Initialen wurden hier nicht ausgeführt. Das Naglersche Fragment BJ Krakûw, Berol. Mgo 125 (Cb) kommt bei deutlich kleinerem Buchblock und Schriftspiegel auf 0,5 cm Zeilenhöhe.79 Da beide mit dem Codex Manesse verwandt sind, aber nicht direkt von ihm abhängen80, könnte darin ein Hinweis auf die Seitenge-

75 Zum sorgfältig geplanten Grundbestand und seinen Erweiterungen vgl. Kornrumpf: Die Anfänge der Manessischen Liederhandschrift. 76 Vgl. zusammenfassend Lemaitre / Vielliard: Portraits des troubadours. Initiales des chansonniers provenÅaux I & K.; Lemaitre / Vielliard: Portraits de troubadours. Initiales du chansonnier provenÅal A. 77 Vgl. Lemaitre / Vielliard: Portraits des troubadours. Initiales des chansonniers provenÅaux I & K, Abb. S. XXXI – XL. 78 Bei einem Buchblock von 21,4 x 15,5 cm und einem Schriftraum von 16,4 x 10,4 cm ergibt sich bei 31 Zeilen eine Zeilenhöhe von 0,52 cm. Vgl. für eine Übersicht zu OZK Budapest, Cod. Germ. 92 das Marburger Repertorium. Deutschsprachige Handschriften des 13. und 14. Jahrhunderts (URL: http://www.handschriftencensus.de/1296 [01. 01. 2013]). Vgl. hierzu auch Voetz: Überlieferungsformen mittelhochdeutscher Lyrik, S. 246 – 249; Mittler / Werner : Codex Manesse, Abb. S. 551 – 556. 79 Bei einem Buchblock von 17,4 x 11,9 cm und einem Schriftraum von ca. 16,5 x 10 cm ergibt sich bei 33 Zeilen eine Zeilenhöhe von 0,5 cm. Vgl. für eine Übersicht zu BJ Krakûw, Berol. Mgo 125 das Marburger Repertorium. Deutschsprachige Handschriften des 13. und 14. Jahrhunderts (URL: http://www.handschriftencensus.de/1303 [01. 01. 2013]). Vgl. hierzu auch Voetz: Überlieferungsformen mittelhochdeutscher Lyrik, S. 249 f.; Mittler / Werner : Codex Manesse, Abb. S. 557 – 559. 80 In Oechelhäuser : Die Miniaturen der Universitäts-Bibliothek zu Heidelberg, S. 377 – 379

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staltung verborgen sein, die vor dem Codex Manesse verbreitet war. Dieser bewegt sich von diesen Formen hin zum Layout der Brevierhandschriften, das zum Beispiel im Troßschen Fragment BJ Krakûw, Berol. Mgq 519 (Ca)81 deutlich ausgeprägt ist und auch der Jenaer Liederhandschrift (J) zugrunde liegt. Die ins erste Viertel des 14. Jahrhunderts zu datierende Weingartner Liederhandschrift (B) hat unregelmäßig geschnittene Blätter mit einer Mindestgröße von 17 x 12,5 cm, ihr Schriftraum misst 12,5 x 8,5 cm. Bei 28 Zeilen ergibt sich eine Zeilenhöhe von 0,44 cm. Sie ist mit zwei halb- und 23 ganzseitigen Miniaturen ausgestattet und hat einen neuzeitlichen Einband. Die aufführungsgebundene Trennung von Epen- und Liederhandschrift spielte für die lesende Rezeption in kleinen Gruppen oder durch Einzelpersonen keine Rolle mehr. Um 1300 entstand der erste Teil der Riedegger Handschrift (R), die neben dem Iwein Hartmanns von Aue und dem Pfaffen Amis des Stricker auch Lieder Neidharts von Reuenthal beinhaltet.82 Sie verwendet jedoch unterschiedliche Layouts: Die Epik wird mit abgesetzten Versen geschrieben, die Lieder aber im Block. Eine Sonderstellung nimmt die Jenaer Liederhandschrift (J) ein, die um 1330 in Thüringen angelegt wurde. Sie entstand zusammen mit einer heute weitgehend verlorenen Schwesterhandschrift mit höfischer Epik.83 Beide Handschriften sind von monumentaler Größe. J hat eine Blattgröße von ca. 56 x 41 cm, einen Schriftraum von 38 x 30 cm mit zwei Spalten — 33 Zeilen, das heißt eine Zeilenhöhe von 1,15 cm. Die Epenhandschrift misst demgegenüber im Buchblock 47 x 35 cm, im Schriftraum 32 x 24,5 cm mit 36 Zeilen in zwei Spalten, hat also eine Zeilenhöhe von 0,89 cm. Die Besonderheit von J sind die beiden Leich- und die 89 Strophenmelodien, die in römischen Quadratnoten auf roten Notenlinien beigegeben sind. Daran ist das Layoutwird für das Naglersche Fragment und den Codex Manesse eine gemeinsame Vorlage postuliert. 81 Bei einem Buchblock von 26 x 20 cm und einem Schriftraum von 19,8 x 14,2 cm ergibt sich bei zwei Spalten — 33 Zeilen eine Zeilenhöhe von 0,6 cm. Vgl. für eine Übersicht zu BJ Krakûw, Berol. Mgq 519 den Handschriftencensus. Eine Bestandsaufnahme der handschriftlichen Überlieferung deutschsprachiger Texte des Mittelalters (URL: http:// www.handschriftencensus.de/11781 [01. 01. 2013]). Vgl. hierzu auch Voetz: Überlieferungsformen mittelhochdeutscher Lyrik, S. 250 – 252; Mittler / Werner : Codex Manesse, Abb. S. 560 – 567. 82 Vgl. für eine Übersicht zu SB Berlin, mgf 1062 das Marburger Repertorium. Deutschsprachige Handschriften des 13. und 14. Jahrhunderts (URL: http://www.handschriftencensus.de/1222 [01. 01. 2013]). Vgl. hierzu auch Becker : Handschriften und Frühdrucke mittelhochdeutscher Epen, S. 65 f. , Nr. 23 und S. 105 – 107, Nr. 46; Voetz: Überlieferungsformen mittelhochdeutscher Lyrik, S. 272 f.; Mittler / Werner : Codex Manesse, Abb. S. 581 – 583. 83 Von dieser sind vier Blätter erhalten, zwei mit Versen des Parzival und zwei mit Versen einer unbekannten epischen Dichtung, die verlegenheitshalber als ›Segremors‹ bezeichnet wird. Vgl. für einen Überblick das Marburger Repertorium. Deutschsprachige Handschriften des 13. und 14. Jahrhunderts (URL: http://www.handschriftencensus.de/1708 [01. 01. 2013]).

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Vorbild leicht zu erkennen: es ist das Ritualbuch84, insbesondere das für die liturgischen Handlungen der Bischöfe vorgesehene Pontifikale. Das großformatige Layout ist für einen freien Vortrag einer Gruppe von Sängern von einem Pult aus bestimmt.

Lesesituationen höfischer Handschriften Die vorliegende Untersuchung bezieht erstmals die Korrelation zwischen Schriftgröße und Helligkeit in die Betrachtung mit ein und kann die von den Schreibern intendierte Benutzung höfischer Handschriften deutlich machen. Die meisten der vor 1250 angelegten höfischen Handschriften sind nicht für einen Vortrag vor einem größeren Publikum geeignet. Es ist von einer Lektüre in Gruppen von zwei bis vier Personen oder sogar von Einzellektüre auszugehen. Der Ort dieser Lektüre ist am ehesten im Freien oder in einer Fensternische bei Tageslicht zu vermuten. Die Sitzbänke in den Fensternischen eines Palas oder einer Kemenate fassen zwei bis vier Personen. Sie dienen in den Kemenaten vor allem dem ebenfalls auf Tageslicht angewiesenen weiblichen Handwerk. Schon Otfrid von Weißenburg verbindet die Lektüre des Psalters mit dem Spinnen von Garn.85 Erst die repräsentativen Handschriften des späteren 13. und vor allem 14. Jahrhunderts, beispielsweise die Jenaer Liederhandschrift (J) und ihre Schwesterhandschrift mit epischer Dichtung, erlauben einen Vortrag vor größerem Publikum. Die Schriftentwicklung des 13. Jahrhunderts, insbesondere die Aufspaltung der Buchstabenschäfte in der frühgotischen Minuskel, könnte auf ein verstärktes Lesen bei künstlichem, flackerndem Licht hindeuten. Die Analyse der Handschriften belegt, dass die Darstellungen von Lesesituationen in der höfischen Dichtung selbst weitgehend realistisch sind, sowohl was das Halten der Bücher als auch die Größe der Leserschaft betrifft. Weitere Studien, die wegen der konservatorischen Gefahren für die Originale nicht immer leicht zu realisieren sein werden, sind erforderlich, um unsere Vorstellungen vom hochmittelalterlichen Leseverhalten aus dem Bereich der Mutma84 Man vergleiche etwa den Codex DDB Köln, Cod. 267. Bei diesem handelt sich um ein in der Mitte des 14. Jahrhunderts entstandenes Offiziums-Antiphonar, das heißt ein fast vollständiges Brevier der Kölner Domkirche mit 35 Zeilen auf Blättern von 35,5 x 25,3 cm.Vgl. für ein Digitalisat der Handschrift Codices Electronici Ecclesiae Coloniensis (URL: http:// www.ceec.uni-koeln.de [16. 01. 2013]). 85 In der Verkündigungsszene geht der vom Himmel zu Maria entsandte Erzengel Gabriel »in den Palas, fand sie meditierend, mit dem Psalter in den Händen, den sang sie bis zum Ende, während sie schöne Stoffe aus kostbarem Garn wirkte, das tat sie ja gerne« Evangelienbuch, V. 9 – 12 (übersetzt durch den Verfasser). Vgl. zur Gesamtszene, ohne Bezugnahme auf den Psalter, Haubrichs: Rituale, Feste, Sprechhandlungen, S. 61 f.

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ßungen und romantischen Vorstellungen in wissenschaftlich gesicherte Erkenntnisse zu überführen.

Handschriften Augsburg, Privatsammlung, o. S. (ehem. Toronto, Bergendal Collection, Ms. 6) Berlin, Staatsbibliothek, mgf 1062 (Riedegger Handschrift) Bruxelles, BibliothÀque royale de Belgique, ms. 10607 Bruxelles, BibliothÀque royale de Belgique, ms. 9642-4 Budapest, Orsz‚gos Sz¦ch¦nyi Könyvt‚r, Cod. Germ. 92 (Budapester Liederhandschrift) Cividale de Friuli, Museo Archeologico Nazionale, Ms. CXXXVII Den Haag, Koninklijke Bibliotheek, 76 G 17 Dillingen, Studienbibliothek, XV Fragm. 19 Douai, BibliothÀque Municipale, Ms. 280 Gießen, Universitätsbibliothek, Hs. 97 Heidelberg, Universitätsbibliothek, Cpg 112 Heidelberg, Universitätsbibliothek, Cpg 357 (Kleine Heidelberger Liederhandschrift) Heidelberg, Universitätsbibliothek, Cpg 848 (Codex Manesse) Jena, Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek, Ms. El. F. 101 (Jenaer Liederhandschrift) Karlsruhe, Landesbibliothek, Cod. Donaueschingen 63 Köln, Diözesan- und Dombibliothek, Cod. 267 Københavns, Kongelige Bibliotek, GKS 3384 Krakûw, Biblioteka Jagiellon´ska, Berol. mgo 125 (Naglersches Fragment) Krakûw, Biblioteka Jagiellon´ska, Berol. mgq 519 (Troßsches Fragment) München, Bayerische Staatsbibliothek, Cgm 19 München, Bayerische Staatsbibliothek, Cgm 5250/5a München, Bayerische Staatsbibliothek, Cgm 5250/5b-e München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 13067 München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 23119 München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 23037 Paris, BibliothÀque Nationale de France, Ms. FranÅais 854 Paris, BibliothÀque Nationale de France, Ms. FranÅais 12473 Stuttgart, Württembergische Landesbibliothek, HB II 24 Stuttgart, Württembergische Landesbibliothek, HB XIII 1 (Weingartner Liederhandschrift)

Quellen Evangelienbuch – Otfrid von Weißenburg: Evangelienbuch. Bd. I: Edition nach dem Wiener Codex 2687. Herausgegeben von Wolfgang Kleiber unter Mitarbeit von Rita Heuser. Tübingen 2004.

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Nikolaus Weichselbaumer

»Sie sollen lesen bei Tag und bei Nacht« Akzeptanz und Funktion scholastischer Leseformen

Der Wandel vom monastischen zum scholastischen Lesen im Spätmittelalter ist eine der wichtigen Zäsuren der Lesegeschichte. In diesem Beitrag wird untersucht, welche Akzeptanz den neuen Lesetechniken von Zeitgenossen entgegengebracht wurde. Beleuchtet werden dafür zwei Aspekte: Erstens die Akzeptanz alphabetischer Ordnungssysteme, die als eine der Hauptinnovationen des scholastischen Buchs gelten können und zweitens die Funktion, die dem Lesen im Umfeld der Universitäten zugeschrieben wird. Anhand von Aussagen scholastischer Autoren sowie der Statuten von Universität und Orden wird eine Entwicklung vom 12. bis 14. Jahrhundert nachgezeichnet. Der Fokus liegt dabei auf Paris, das für die Lektüre der Theologen als exemplarisch gelten kann.

Lesen für das Seelenheil Das scholastische Lesen entsteht in einer Welt, die drei Formen des Lesens kennt, die alle vorrangig in Kirchen und vor allem Klöstern betrieben werden: Erstens die für ein Publikum gedachte Rezitation, die seit der Antike mit bestimmten Vortragstechniken verbunden und dem liturgischen Gesang eng verwandt ist. Zweitens das tief in der klösterlichen Kultur verankerte murmelnde beziehungsweise wiederkäuende Lesen (›ruminatio‹), das zur Unterstützung der Meditation dient. Und drittens die stille Lektüre.1 Leises Lesen und Murmeln finden in der Regel in der Klosterzelle statt, die Rezitation in Gegenwart der Klostergemeinschaft.2 Obwohl seit der Antike grundsätzlich bekannt, ist das leise Lesen in Klöstern die Ausnahme, weil es der religiösen Versenkung nicht dienlich ist. Ein berühmtes Beispiel für einen Leser, dem die Technik des leisen Lesens von Büchern trotz großer Bildung nicht zur Verfügung steht, ist Petrus Venerabilis, der gelehrte Abt, der 1122 – 1156 der Abtei von Cluny vorsteht. Über 1 Vgl. Petrucci: Lire au Moyen ffge, S. 604. 2 Vgl. Petrucci: Lire au Moyen ffge, S. 605.

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ihn wird berichtet, dass er meist des Nachts auf seinem Bett gesessen und die Schriften ohne Unterlass wiedergekäut habe:3 Murmelnd, aber nicht leise, denn als Petrus erkältet war und jedes Mal husten musste, wenn er den Mund aufmachte, habe er weder im Chor noch in seiner Zelle ›für sich‹ lesen können.4 Der Zweck dieses murmelnden Lesens ist ein doppelter : Schon der spätantike Rhetoriker Quintillian betont die Wichtigkeit des Murmelns für das Lernen. Neben dem Vorteil, dass der Geist auf diese Weise den zu lernenden Inhalt durch zwei Sinne aufnehme, komme, dass das Murmeln den Geist am Abschweifen hindere.5 Diese zweite Funktion des Murmelns betont auch die Benediktsregel: Das Lesen sei eines der Mittel, mit denen der Müßiggang vermieden werden könne.6 Das monastische Lesen ist dabei immer ein lineares, intensiv-wiederholendes, das der religiösen Versenkung in biblische Texte dient. Solch ›heilige‹, dem Seelenheil förderliche Lektüre soll, wenigstens in der Fastenzeit, jeder Mönch betreiben. Diese Lektüreform spiegelt sich auch in den Handschriften des Hochmittelalters wider, die durch ihre sparsame Gliederung nur für das lineare Lesen geeignet sind. Wie das Lesen ist auch das Schreiben ein Akt der religiösen Versenkung und hat nicht den Leser im Blick. In den Unterschriften, die einige Kopisten an das Ende einer Abschrift setzen, wenden sie sich niemals an den Leser, zeigen kein Interesse an der zukünftigen Verwendung des Buchs und schreiben nichts vom Sinn und Zweck ihrer Arbeit. Einzig eine Intention wird klar zum Ausdruck gebracht: Der Austausch der Mühsal des Schreibens gegen Gebete für das Seelenheil der Schreiber.7

Lesen für die Weisheit Im 12. Jahrhundert tritt neben der meditativ-kontemplativen Lektüre vermehrt ein Lesen auf, das Bildung und Wissenschaft dient. Die Neuerungen des Lesens sind allerdings keine Erfindung der Universitäten, sie entwickeln sich vielmehr parallel dazu, aus ähnlichen Gründen und an vergleichbaren Orten. Einer dieser Orte ist Paris, das schon vor der Gründung der Universität mit der Kathedralschule und den Klosterschulen ein wichtiges Zentrum des europäischen Geisteslebens war. An einer der Klosterschulen, der des Augustinerchorherrenstifts von St. Viktor, arbeitet zu Beginn des 12. Jahrhunderts ein Autor, der einen einmaligen Einblick in die Anfänge des scholastischen Lesens ermöglicht. Hugo von St. Viktor, ab 1118 Mitglied und ab 1133 Vorsteher der Schule des Stifts, ist 3 4 5 6 7

Vgl. Petrus Venerabilis: De Miraculis, Sp. 887 A. Vgl. Leclercq: The love of learning and the desire for god, S. 87. Vgl. Quintilian: Institutionis oratoriae libri duodecim, S. 649. Vgl. Benedikt von Nursia: Die Benediktsregel. Vgl. Petrucci: Lire au Moyen ffge, S. 607.

»Sie sollen lesen bei Tag und bei Nacht«

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einer der einflussreichsten Theologen der Frühscholastik. Sein Didascalicon de studio legendi8 ist ein Lehrbuch über das richtige Lesen, das er für seine Schüler und Mitbrüder verfasst. Obwohl Hugo, dessen Schule als einer der Nuclei der Sorbonne gelten kann, noch kein Universitätsgelehrter im späteren Sinne ist, unterscheidet sich sein Verständnis vom Lesen grundsätzlich vom Ideal des monastischen Lesens. Das begründet sich auch darin, dass das Selbstverständnis der Regularkanoniker sich merklich vom benediktinischen Mönchsideal abhebt. Es steht in der Tradition der Augustiner, deren Wurzeln im Römischen Reich liegen und die grundsätzlich weltbezogener sind als die Benediktiner. Das spiegelt sich auch darin wider, dass die Stifte der Augustinerchorherren in Städten angesiedelt sind, wohingegen Abteien der Benediktiner und besonders der Zisterzienser meist abseits der Städte und zurückgezogen von der Welt zu finden sind. Der fundamentale Unterschied zwischen dem Leseverständnis der Kanoniker und der Mönche besteht darin, dass erstere die ›Bildung‹ der (Stadt)Bevölkerung durch ›Wort und Beispiel‹ als eine wesentliche Komponente ihrer Lebensweise ansehen.9 In der Benediktsregel sind die Aufgaben des Lehrers mit den Worten ›anleiten‹ und ›lenken‹ bezeichnet, nicht aber mit ›bilden‹.10 Auch Bernhard von Clairvaux, Kreuzzugsprediger, strenge Leitfigur der Zisterzienser und Zeitgenosse Hugos, schreibt in seiner Einführung für Novizen, De gradibus humilitatis et superbia11, nicht von der Bildung der Gemeinschaft inner- oder gar außerhalb der Klostermauern durch das Lesen des Mönchs. Hugo dagegen empfiehlt seinen Brüdern eine Lektüre, die gleichzeitig im Angesicht Gottes und der Menschen stattfinden solle, also der Lehre und Predigt genauso dient wie dem Gebet. Das ist eine signifikante Veränderung gegenüber dem wiederkäuenden Lesen, das nur im Angesicht Gottes stattfinden soll und dessen Verständlichkeit für andere Menschen sekundär ist. Das Didascalicon beginnt mit der Feststellung, dass von allem Erstrebenswerten »das höchste die Weisheit« sei, »in der die Form des vollkommenen Guten existiert«.12 Man solle folglich nicht lesen, um Gott zu gefallen oder Müßiggang zu vermeiden, sondern um Weisheit zu erlangen. Dafür nennt Hugo zwei Techniken: Lesen und Meditation.13 Lesen ist für ihn, »daß wir uns an Regeln und Vorschriften aus geschriebenen Texten bilden«.14 Ferner unter8 Vgl. Hugo von St. Viktor : Didascalicon de studio legendi. Vgl. für eine ausführliche Interpretation des Texts Illich: Im Weinberg des Textes. 9 Vgl. Illich: Im Weinberg des Textes, S. 166. 10 Vgl. Illich: Im Weinberg des Textes, S. 167. 11 Vgl. Bernhard von Clairvaux: De gradibus humilitatis et superbia. 12 Hugo von St. Viktor : Didascalicon de studio legendi, S. 110 f. 13 Vgl. Hugo von St. Viktor : Didascalicon de studio legendi, S. 106 f. 14 Hugo von St. Viktor : Didascalicon de studio legendi, S. 240 – 243.

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scheidet er drei Arten des Lesens: das vortragende Lesen des Lehrenden, das Mitlesen des Lernenden und die Lektüre des für sich Lesenden, der auch lernt, dabei aber nicht dem Vortrag eines Lehrers folgt. Meditation dagegen beschreibt den Prozess der Verarbeitung des Gelesenen, der bei abermaliger, langsamer Lektüre persönliches Verstehen produziert.15 Diese Meditation ist verwandt mit der ›ruminatio‹ des intensiv lesenden Mönchs, wird aber von einer anderen Zielsetzung geleitet. Es geht nicht mehr um religiöse Versenkung, sondern um Verstehen. Dieses ist vor dem Hintergrund von Hugos mnemotechnischem Ansatz von Wissenschaft zu sehen. Für ihn soll jegliches Wissen in einem biblisch strukturierten, vieldimensionalen Gedächtnispalast abgelegt werden, den er als Arche Noah bezeichnet und in einem gleichnamigen Traktat ausführlich beschrieben hat.16 Die Meditation dient dem Einsortieren des Gelesenen in diese Arche. Dabei verschwimmt die Grenze zwischen Lesen und Lernen. Während das Ziel des Lesens sich grundlegend ändert, bleibt die Technik des linearen Lesens weitgehend die gleiche. Das Ablegen des daraus gewonnenen Wissens in einem Gedächtnispalast führt zu einer Menge stets verfügbarer und geordneter Informationen. Dies gelingt aber nur unter großen Lernanstrengungen, die mit der steigenden Menge bekannter und relevanter Texte stetig zunehmen. Illich bezeichnet Hugo daher als den Letzten, der versucht das verfügbare Erbe der christlichen Vergangenheit mit dem Mittel der Gedächtniskunst zu beherrschen.17 Während die Memoria in der Scholastik zunehmend durch Hilfsmittel wie Indizes, Listen und Nachschlagewerke ergänzt wird, bleibt das Auswendiglernen vor allem grundlegender Texte noch lange eine übliche Lese- und Lerntechnik. Um dies zu erleichtern, sind die an der Wende zum 13. Jahrhundert entstandenen und über Jahrhunderte verwendeten Grammatiken des Alexander de Villa Dei und Êvrards de Bethune in Versform gehalten.18 Noch Johannes Buridan erklärt, dass er seinen Kommentar zur Physik des Aristoteles nur geschrieben habe, weil seine Studenten beklagt hätten, dass sie sich den Inhalt ohne die Hilfe der Schrift nur schlecht einprägen könnten.19 Fraglos handelt es sich dabei um einen Bescheidenheitstopos, doch hätte Buridan auch schreiben können, dass man in seinem schriftlich vorliegenden Werk besser nachschlagen könne. Der Gelehrte des 14. Jahrhunderts nimmt jedoch auf die bei Hugo erstmals als Hauptziel des Lesens betrachtete Memoria Bezug.

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Vgl. Hugo von St. Viktor : Didascalicon de studio legendi, S. 107. Vgl. Hugo von St. Viktor : De arca Noe moralia. Vgl. Illich: Im Weinberg des Textes, S. 50. Vgl. Haskins: The renaissance of the twelfth century, S. 137. Vgl. Michael: Johannes Buridan, Bd. 2, S. 578. Vgl. dazu auch Miethke: Die Mittelalterliche Universität und das gesprochene Wort, S. 25.

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Lesen als Pflicht Ein Teil der überlieferten Abschriften des Didascalicon enthält ein Vorwort Hugos, in dem eine Lesepflicht formuliert wird.20 Auch wenn sie nicht explizit genannt werden, richtet sich das Vorwort wahrscheinlich gegen die Cornificani, eine bei Johannes von Salisbury erwähnte akademische Strömung, die die Auffassung vertrat, dass wissenschaftliches Studium für Unbegabte vergeblich und für Talentierte überflüssig sei.21 Hugo tritt dem entgegen: Unter den Unbegabten gebe es jene, die mit Mühe und Arbeit Lernerfolge erreichen und jene, die das Lernen vernachlässigen, weil sie bemerken, dass sie ›die höchsten Dinge‹ nicht verstehen könnten. »Nichtwissen ist einfach ein Zeichen von Schwäche, die Ablehnung von Wissen aber ist ein Zeichen bösen Willens.«22 Es gebe jedoch auch die Begabten, die aus Faulheit oder Ablenkung durch ›Laster und sinnliche Neigungen‹ die Suche nach Weisheit vernachlässigen. »Diese Leute sind in der Tat verabscheuungswürdig«.23 Zwar erkennt Hugo an, dass nicht allen die gleichen materiellen Möglichkeiten zur Verfügung stehen, doch will er die Armen nicht ganz entschuldigen, schafften es doch genug von ihnen trotz widriger Umstände zu Weisheit zu gelangen. »Wie es ruhmvoller ist, allein aus eigener Kraft zur Weisheit zu gelangen, auch wenn die Mittel fehlen, so ist es gewiss schimpflicher, volle Geisteskraft und allen Reichtum zu besitzen und dennoch im Nichtstun zu erschlaffen.«24 Im Vergleich zum monastischen Lesen ist die Veränderung der Lesemotivation zu betonen. Lesen ist für Hugo eine Frage der Moral: Wer es kann, ist verpflichtet es zu tun. Etwas Aufschluss über die Praxis des Lesens und die Art und Reihenfolge, in der die Bibel zu lesen sei, gibt ein anonym überlieferter Brief des Johannes von Salisbury, adressiert an den Freund Hugo.25 Der Text ist nur über eine inzwischen verlorene Handschrift überliefert, die aus der Abtei Notre Dame de Josaphat in LÀves bei Chartres stammt, der Grablege des Johannes von Salisbury. Auch wenn die Zuschreibung nicht mit Sicherheit gemacht werden kann, spricht einiges dafür, dass Johannes der Autor ist. Er hatte bei Abelard studiert, war Sekretär des Thomas Becket und ab 1176 Bischof von Chartres. Weder aus Chartres noch aus Notre Dame de Josaphat ist für diese Zeit ein anderer Autor bekannt, der sich mit Fragen des Lesens auseinandergesetzt hätte. Johannes 20 21 22 23 24 25

Vgl. Hugo von St. Viktor : Didascalicon de studio legendi, S. 107. Vgl. Johannes von Salisbury : Metalogicon. Hugo von St. Viktor : Didascalicon de studio legendi, S. 105. Hugo von St. Viktor : Didascalicon de studio legendi, S. 107. Hugo von St. Viktor : Didascalicon de studio legendi, S. 107. Vgl. Anonymus [Johannes von Salisbury]: Epistola anonymi ad hugonem amicum suum de modo et ordine legendi sacram scripturam.

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dagegen ist der Autor des Metalogicon, durch dessen Passus zur Verdammung der Cornificani diese Sekte überhaupt dokumentiert ist. Er schlägt Hugo vor, in der Schule die Bücher der Bibel in einer bestimmten, für das Lernen hilfreichen Reihenfolge zu lesen. Angelehnt an ein Zitat des Hieronymus reiht er die Bücher nach dem Grad ihrer theologischen und sprachlichen Komplexität, beginnend mit den Psalmen und endend mit der Apokalypse, jeweils ergänzt um Auctoritates wie die Etymologiae Isidors von Sevilla oder De Civitate Dei des Augustinus, die zwischen den einzelnen Büchern der Bibel zu lesen seien. Auch die Apokryphen sollen gelesen werden, wenn auch mit Vorsicht und ohne die Erwartung einer Wahrheit.26 Das Lesen in Hugos Umfeld ist also ein lernendes Lesen, das nicht mehr dem Modell eines Tauschs von Lesen gegen Seelenheil anhängt, sondern Bildung schaffen soll. In der Technik des Lesens ist es aber noch im Hochmittelalter verhaftet. Texte werden intensiv, vollständig und mehrmals gelesen sowie möglichst durch Auswendiglernen verfügbar gehalten.

Neue Werkzeuge des Lesens Mit der Scholastik entsteht neben der Bibel eine Gruppe von Auctoritates, die an den Universitäten Grundlagen der Lehre werden. Auctoritates und ihre Widersprüche27 sind Gegenstand von Quaestionen, Disputationen und Quodlibetae, also aller Textsorten der scholastischen Literatur.28 Einige dieser Werke sind schon lange im Gebrauch, andere, beispielweise von Aristoteles, werden wiederentdeckt. Teilweise werden Texte auch neu verfasst, zum Beispiel das Doctrinale des Alexander de Villadei oder die Sententiae von Petrus Lombardus. Durch die Universitäten werden diese Texte in einen festen Kanon gegossen. Mittelfristig werden die Auctoritates zum Hindernis der Scholastik, da sie als ein abgeschlossenes Korpus des Wissens wirken, das nicht übertroffen werden kann. Dies führt beispielsweise in der Anatomie zu Problemen, als Obduktionen im 15. Jahrhundert Erkenntnisse bringen, die mit Avicenna nicht zu vereinbaren sind. Zunächst gehört die Beherrschung dieses Kanons jedoch zum unverzichtbaren Handwerkszeug jedes scholastischen Gelehrten.29 Bald nach Hugo wird die Menge dieser Texte zu groß, um sie nur durch die Memoria zu beherrschen. Das ist der Zeitpunkt, an dem die Miscellanea26 Vgl. Anonymus [Johannes von Salisbury]: Epistola anonymi ad hugonem amicum suum de modo et ordine legendi sacram scripturam, Sp. 486 – 490. 27 Diese Widersprüche existieren teils nur scheinbar, vgl. hierzu Abaelardus: Sic Et Non zur Frage ›Gibt es einen Gott?‹ 28 Vgl. Chenu: Introduction — l’¦tude de Saint Thomas d’Aquin, S. 71 – 76. 29 Vgl. Chenu: Introduction — l’¦tude de Saint Thomas d’Aquin, S. 68 f.

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Sammlungen an Bedeutung gewinnen. Ursprünglich eine Erfindung der koptischen Christen des 4. Jahrhunderts in Ägypten30, sind sie das ideale Hilfsmittel, um das Bedürfnis der Scholastiker nach dem Auffinden der passenden Autorität zu befriedigen. Die Lektüre wandelt sich durch die neue Textsorte zu dem, was heute unter scholastischem Lesen verstanden wird. Sie wird zur Konsultation des professionellen Wissenschaftlers: schneller und kleinteiliger.31 Dadurch ändert sich erneut der Zweck des Lesens. Der Franziskaner Bonaventura beschreibt Mitte des 13. Jahrhunderts vier Arten ein Buch zu schreiben: Erstens den Schreiber, der »schreibt, ohne etwas hinzuzufügen, oder zu verändern«, zweitens den Kompilator, der »Fremdes schreibt und etwas hinzufügt, aber nicht von sich,« drittens den Kommentator, der »Fremdes und Eigenes schreibt« und viertens den Autor, der »Eigenes und Fremdes schreibt, aber immer vorrangig Eigenes«.32 Jegliches intellektuelle Schreiben erfordert also Lesen, das nicht mehr nur Gottes Gnade und die von Hugo angestrebte Weisheit bringen soll, sondern auch neue Texte. Besonders trifft dies für die Arbeitstechnik der Kompilation zu, die in der Scholastik zu einer dominierenden Form wird. Lesen und Schreiben sind nicht mehr getrennt. Man liest, um zu schreiben.33 Die neue Funktion des Lesens löst die Memoria zwar nicht ab, diese verliert aber mit dem Aufkommen des konsultierenden Lesens an Bedeutung gegenüber der Fähigkeit eine eigene ›ratio‹ an einen Gegenstand heranzutragen oder ein Urteil zu treffen. Wilhelm von Ockham echauffiert sich Anfang des 14. Jahrhunderts über angebliche Experten seines Fachs, die in Wahrheit Ignoranten seien und nur ein ausgezeichnetes Gedächtnis vorweisen könnten. Sie hätten nur das, was sie gelesen, gehört oder gesehen haben, präsent, ohne über ein sicheres Urteil zu verfügen. Viele hätten ein gutes Gedächtnis, aber das sei eine Gabe, die Tieren und Menschen, Männern und Frauen, Kindern und Erwachsenen, Ungebildeten und Gelehrten gemeinsam zukomme. Bisweilen besäßen solche Leute dann aber keinerlei Urteilskraft. Mit eigenen Augen habe er gesehen, wie einige Knaben, Frauen und sogar offenkundig sonst Schwachsinnige sich in ihrer Gedächtniskraft gebildeten Männern von tiefgegründeter Urteilskraft überlegen zeigten.34 Ein derart vernichtendes Urteil über die Memoria wäre für Hugo noch undenkbar, für Wilhelm ist das Prahlen mit der alten Spitzendisziplin der Gelehrten dagegen schon eine Jahrmarktsattraktion und von weit geringerem Wert als die Urteilskraft.

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Vgl. Petrucci: Lire au Moyen ffge, S. 604. Vgl. Petrucci: Lire au Moyen ffge, S. 610. Bonaventura: Opera Omnia, S. 14 f. Vgl. Petrucci: Lire au Moyen ffge, S. 610. Vgl. Wilhelm von Ockham: Elementarium Logicae, S. 275. Übersetzung nach Miethke: Die Mittelalterliche Universität und das gesprochene Wort, S. 34.

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Eine der wichtigsten Neuerungen der Scholastik für die Wissensorganisation in Büchern dient dann auch der Bereitstellung von Argumenten für den urteilenden Leser und Schreiber. Schon 1053 stellt Papias mit dem Elementarium doctrinae rudimentum35 ein alphabetisch geordnetes Wörterbuch vor, in dessen Vorwort sich die erste bekannte Beschreibung dieser Methode findet. Papias erläutert, dass er nicht nur nach dem ersten, sondern auch nach dem zweiten und dritten Buchstaben sortiert.36 Der Durchbruch der alphabetischen Sortierung dauert jedoch bis zum 13. Jahrhundert. Der seit dem 12. Jahrhundert für die Kernaufgabe der mittelalterlichen Wissenschaften entwickelte Apparat, die Glossen zur Heiligen Schrift, orientiert sich an der Reihenfolge des biblischen Texts. Die Zurückhaltung gegenüber der alphabetischen Liste ist darin zu suchen, dass die zu ordnenden Gegenstände für die Zeitgenossen bereits eine ihnen jeweils eigene ›ratio‹ besitzen. So wie es heute selbstverständlich scheint, die Monate nicht alphabetisch, sondern nach ihrer ›natürlichen‹ Reihenfolge zu sortieren, wird die Reihenfolge der Bücher der Bibel als in sich sinnhaft gesehen.37 Doch auch dort, wo vereinzelt alphabetische Ordnung eingesetzt wird, betrifft die Sortierung nur den ersten Buchstaben. Die Verbreitung der alphabetischen Liste im 13. Jahrhundert ist jedoch rasant. Die erste Textgattung aus dem Umfeld der Bibelexegesen, die alphabetische Ordnung einführt, sind die Distinctiones, Sammlungen von biblischen Begriffen und ihrer allegorischen Bedeutungen, die an ihren Verwendungen in der Bibel illustriert werden und primär für den Einsatz in Predigten bestimmt sind. Ursprung dieser Textsorte ist die Pariser Universität, an der bereits Ende des 12. Jahrhunderts fünf solcher Sammlungen entstehen, von denen zwei alphabetisch sortiert sind. Eine dritte, die von Peter von Cornwall zunächst thematisch geordnet wurde, wird um 1200 durch ein alphabetisch sortiertes Inhaltsverzeichnis und ein Vorwort ergänzt, das erklärt »wie man das Gesuchte einfach findet, durch Verwendung einer neuen Methode: alphabetischer Ordnung.«38 Die erfolgreichen und weit verbreiteten Distinctiones-Sammlungen des 13. Jahrhunderts sind ausnahmslos alphabetisch geordnet. Rasch werden auch die ›Interpretationes‹, Listen mit Erklärungen hebräischer Namen, die es seit der lateinischen Bibelübersetzung des Hieronymus für jedes Buch der Bibel gab, zu einem alphabetisch organisierten Verzeichnis für die ganze Bibel kombiniert. Sie bilden den sogenannten Standardapparat, der kaum einer zeitgenössischen Bibel fehlt. Ein weiteres wichtiges Arbeitsinstrument, das alphabetisch organisiert wird, ist die Verbalkonkordanz zur Bibel, die noch vor 35 36 37 38

Vgl. Zonta: I codici GLPV dell’ Elementarium Papiae. Vgl. Rouse / Rouse: Alphabetization, S. 204. Vgl. Rouse / Rouse: Alphabetization, S. 205. Eine Edition des Vorworts von Peters Pantheologus findet sich bei Hunt: English Learning in the Late Twelfth Century, S. 38 – 42.

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1239 kompiliert wurde.39 Zur Mitte des 13. Jahrhunderts lagen auch zu den Kirchenvätern und den Kerntexten der lateinischen Aristotelesüberlieferung alphabetisch organisierte Indizes nach Themen und Stichworten vor.40 Vor 1261 hatte der spätere Erzbischof von Canterbury, Robert Kilwardby, die Tabulae super Originalia Patrum41 erstellt, einen übergreifenden alphabetischen Index der Werke von Ambrosius, Anselm, Augustinus, Boethius und Isidors von Sevilla. 1297/98 schließlich verfasst Johannes von Freiburg als erster Autor für seine Summa confessorum selbst einen Index.42 Ab dieser Zeit ist es auch üblich, dass Besitzer für ihre Handschriften Indizes entsprechend eigener Bedürfnisse anlegen. Ein Beispiel dafür ist Jacob von Cahors43, der nach einem Bericht Petrarcas mehrere alphabetische Verzeichnisse der Sentenzen für seinen Gebrauch anfertigen lässt.44 Die Durchsetzung der alphabetischen Sortierung ab dem 13. Jahrhundert ist kontinuierlich, aber nicht alternativlos. Die thematisch oder nach Textreihenfolge sortierten Apparate existieren weiterhin. Richard und Mary Rouse sehen hier die mittelalterliche Einstellung widergespiegelt, dass ein guter Kompilator in der Lage sein müsse, eine sinnvolle Reihenfolge für seine Themen zu finden. Üblich ist dabei eine hierarchisch absteigende, zum Beispiel ›Deus, Christus, Maria, Angeli, Apostoli…‹.45 Demgegenüber bringt die alphabetische Sortierung die Anerkennung mit sich, dass ein Nutzer seine eigene, nach den jeweiligen Anforderungen geformte ›ratio‹ an die Inhalte herantragen könne und dafür beliebige Inhalte schnell auffinden müsse. Diese Einstellung wird dabei nicht für alle Texte als angemessen angesehen. Petrus Lombardus etwa kennt und nutzt die Ordnungshilfsmittel des scholastischen Buchs, wenn er über Aristoteles schreibt. Sein Text folgt einer selbst erdachten Argumentation, die durch häufige, wahrscheinlich nachgeschlagene Verweise auf Aristoteles gestützt wird. Der Kommentar hat keine dienende Funktion mehr, er stellt selbst die Ordnung dar, der das Buch folgt. In seinem Bibelkommentar geht Petrus Lombardus dagegen Zeile für Zeile vor.46 Albertus Magnus sieht die alphabetische Ordnung sogar explizit als minderwertig an. Im zwölften Buch von De animalibus entschuldigt er sich in der Einleitung eines Kapitels über Vögel, dass die folgende Auflistung verschiedener Vogelarten alphabetisch und damit nicht in der für die Philosophie 39 40 41 42 43 44 45 46

Vgl. Rouse / Rouse: Alphabetization, S. 205. Vgl. Rouse / Rouse: Alphabetization, S. 205 f. Vgl. Callus: The »Tabulae super Originalia Patrum« of Robert Kilwardby, S. 243 – 270. Vgl. Boyle: The ›Summa confessorum‹ of John of Freiburg and the Popularization of the moral Teaching of St. Thomas and Some of his Contemporaries, S. 245 – 268. 1316 – 1334 als Johannes XXII. Papst in Avignon. Vgl. Ehrle: Historia bibliothecae Romanorum pontificum tum Bonifatianae tum Avenionensi, S. 180. Vgl. Rouse / Rouse: Alphabetization, S. 206. Vgl. Illich: Im Weinberg des Textes, S. 105 f.

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angemessenen Ordnung sei. Er wende sie dennoch an, ermögliche sie doch dem Leser das schnelle Auffinden der ›doctrina‹.47 Der höhere Rang, der der ›natürlichen‹, nicht-alphabetischen Ordnung zugestanden wird, lässt sich auch noch Ende des 14. Jahrhunderts bei Johannes von Mirfeld nachweisen. Der englische Arzt und Theologe beginnt sein alphabetisch geordnetes Floriarium Bartholomei, eine religiöse Enzyklopädie über die Gesundheit des Geistes, mit dem Hinweis, dass die darin gesammelten Autoritäten nicht mit Hast, sondern mit Bedacht und ›meditatio‹ gelesen werden sollen.48 Dieses Bestreben, ein Werk, das in seiner Anlage offensichtlich auf die Bedürfnisse des scholastischen Lesens ausgerichtet ist, nach den Idealen der Memoria lesen zu lassen, zeigt die Ambivalenz, mit der das scholastische Lesen angenommen wurde. Die pragmatischen Vorteile der alphabetischen Ordnung werden zwar genutzt, die Implikationen, die diese für die Nutzung des Werks hat, wie zum Beispiel, dass es kaum je linear gelesen wird, erschließen sich dem Autor dagegen nicht. Bei Johannes von Mirfeld drückt sich dies auch darin aus, dass er den Duktus einer durch ›ratio‹ geordneten Liste beibehält. Das erste Kapitel betreffe ›abstinentia‹, weil es zuerst in der alphabetischen Reihe stehe. Das wiederum sei der Fall, weil niemand in der Auseinandersetzung mit spirituellen Problemen Erfolg haben könne, der nicht zuvor die schmutzigen Sünden durch die Überwindung der verdammenswerten Gelüste des Geistes weggewaschen habe.49 Die Vorstellung, dass Ordnung sinnbehaftet sei, ist bei Johannes von Mirfeld so fest verankert, dass für ihn die Tatsache, dass ein Wort am Beginn einer alphabetischen Liste steht, Rückschlüsse auf dessen Wichtigkeit zulässt.

Studenten als professionelle Leser Eine im 12. Jahrhundert neu entstehende und im Wortsinne ›scholastische‹ Lesergruppe ist die der Universitätsstudenten, deren Hauptaufgabe das Lesen ist. Die gesamte mittelalterliche Pädagogik basiert auf der Lektüre von Texten. Die universitäre Scholastik institutionalisiert und verstärkt diese Methode.50 Die Kenntnis der Autoritäten und deren souveräne Verwendung in der Disputation ist ein Hauptgegenstand des Studiums, der sich von den Anfängen bis zur Promotion nachvollziehen lässt.51 Die Grundlage dabei bildet immer das Studium der Bibel und der Sentenzen.52 47 48 49 50 51 52

Vgl. Albertus Magnus: De Animalibus, S. 433. Vgl. Smith: Johannes de Mirfeld of St. Bartholomew’s, S. 121. Vgl. Smith: Johannes de Mirfeld of St. Bartholomew’s, S. 121. Vgl. Chenu: Introduction — l’¦tude de Saint Thomas d’Aquin, S. 67. Vgl. Miethke: Die Mittelalterliche Universität und das gesprochene Wort, S. 32. Selbst Thomas von Aquin musste nach seiner Ankunft in Paris 1254 – 1256 als ›bachelier

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Über die Lektüre dieser Studenten sind wenige direkte Zeugnisse überliefert. Einen Zugang ermöglichen überlieferte Regelungen und Verbote, insbesondere Universitätsstatuten und die Beschlüsse der Generalkapitel.53 Die Protokolle der dominikanischen Generalkapitel sind hier besonders ergiebig. Die Versammlungen des Generalkapitels bestimmen, welche Studenten zum Generalstudium des Ordens zugelassen werden und welche Vorrechte und Pflichten sie haben. Außerdem werden regelmäßig lange Listen von ›Admonitiones‹, Ermahnungen, verabschiedet, darunter auch viele, die sich auf die Studenten und ihre Lektüre beziehen. In der Frühphase der mittelalterlichen Universitäten ist jene in Paris die einzige, die die päpstliche Erlaubnis hat, Theologie zu lehren54, weshalb es auch das Generalstudium des Dominikanerordens wird. Neben Rezitation, Murmeln und leisem Lesen55 steht an der Universität die ›Lectio‹. In der Antike war ›Lectio‹ nicht mehr als ein sorgfältiges Durcharbeiten eines Texts als Vorstufe für ›emendatio‹, ›enarratio‹ und ›judicium‹, und somit ein Arbeitsschritt, der die Grundlage eines Urteils bildet.56 Im Spätmittelalter dagegen bezeichnet ›Lectio‹ das kommentierende Vorlesen eines Texts im Lehrbetrieb durch einen Bakkalaureus, Magister oder Doktor, also eine Vorlesung.57 Diese Form des Lesens gibt es zwar schon bei Hugo, doch wird sie an der Universität institutionalisiert und differenziert. Es wird zwischen ›Lectio cursorie‹ und ›Lectio ordinarie‹ unterschieden, wobei der Vorlesende bei der ›Lectio ordinarie‹ die einzelnen Wortbedeutungen und Argumentationsschritte erklärt und bei der ›Lectio cursorie‹ ohne Unterbrechungen vorliest.58 Voll ausgeprägt entwickelt die ›Lectio ordinarie‹ drei Stufen: Erstens ›littera‹, das heißt die Erklärung der Wörter in ihrem Zusammenhang, zweitens ›sensus‹, das heißt die Erklärung der einzelnen Elemente und Übersetzung in die Sprache der Studenten und drittens ›sententia‹, das heißt die Erklärung und Auslegung der tieferen Bedeutung des Texts.59 Obwohl sie zur Zerstückelung der Texte führt und die generelle Aussage eines Werks teilweise im kleinteilig erklärenden Vortrag verloren geht,60 dominiert die ›Lectio ordinarie‹ den Lehrbetrieb. Die Artisten der englischen Nation an der

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sententiaire‹ studieren, wie alle zukünftigen Magister der Theologie. Vgl. Chenu: Introduction — l’¦tude de Saint Thomas d’Aquin, S. 68. Als Generalkapitel wurden die Beschlussgremien der zentralistisch organisierten Orden bezeichnet. Die etwas ältere Universität in Bologna ist dagegen auf Jura spezialisiert. Das leise Lesen wird an der Universität zur meist verbreiteten Form der persönlichen Lektüre. Vgl. Saenger: Silent Reading, S. 383 – 396. Vgl. Chenu: Introduction — l’¦tude de Saint Thomas d’Aquin, S. 70. Vgl. Weijers: Terminologie des universit¦s au XIIIe siÀcle, S. 300 f. Vgl. Chenu: Introduction — l’¦tude de Saint Thomas d’Aquin, S. 70. Vgl. Chenu: Introduction — l’¦tude de Saint Thomas d’Aquin, S. 70. Vgl. Chenu: Introduction — l’¦tude de Saint Thomas d’Aquin, S. 71.

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Sorbonne sollen die Topik und die Sophistischen Widerlegungen des Aristoteles zweimal ›ordinarie‹ und wenigstens einmal ›cursorie‹ oder aber mindestens dreimal insgesamt ›ordinarie‹ hören.61 Ähnliches gilt für die alte und neue Dialektik, die ›ordinarie‹ und nicht ›cursorie‹ gelesen werden soll.62 Auch an anderen Fakultäten und Universitäten wurde die ›Lectio ordinarie‹ in der Regel bevorzugt. Die ›Lectio‹ ist es auch, die am stärksten der Kontrolle unterworfen wird. Schon 1210 verbietet der Erzbischof von Paris unter Androhung der Exkommunikation die Naturphilosophie des Aristoteles öffentlich oder im Geheimen zu lesen,63 zielt damit aber auf die ›Lectio‹ und nicht auf die persönliche Lektüre ab. Das Lesen im Geheimen bezeichnet eine klandestine Vorlesung, die sich über das Verbot der Universität hinwegsetzt. Da in den Schulen nur das öffentliche Lesen seinen Platz hat und die individuelle Lektüre in der Zelle stattfindet, dürfte der Hintergrund des Verbots, das das Pariser Generalkapitel der Dominikaner von 1279 verhängt, ähnlich gelagert sein: Den Studenten wird untersagt, andere Bücher an die Schulen mitzubringen als jene, die dort gelesen werden sollen.64 Dieses Verbot ist im Kontext der Pariser Verurteilung von 1277 zu sehen, die 219 Thesen des Aristotelismus und Averroismus unter Androhung der Exkommunikation verboten hat.65 Das erwähnte Verbot des Mitbringens der entsprechenden Bücher in die Schule dürfte dazu dienen, einen verbotenen Unterricht über die fraglichen Texte zu verhindern. Die private Lektüre wird dagegen weit weniger kontrolliert. Das zeigt sich auch daran, dass in den Pariser Pecienlisten nach 1277 weder die Anzahl der einschlägigen Aristotelestexte noch die der Kommentare dazu sinken.66 Direkt auf das Lesen des Einzelnen bezogen ist dagegen die Ermahnung des Generalkapitels der Dominikaner in Montpellier von 1271 an die Studenten des Ordens, weniger Philosophie und mehr Theologie zu betreiben sowie insbesondere Sentenzen zu lesen.67 Neben dem falschen Lektüregegenstand stören sich die Ordensoberen auch an einer zu weitgehenden Auslegung. Kein dominikanischer Bruder soll in den Psalmen und Propheten irgendetwas anderes als den wörtlichen Schriftsinn lesen,68 wohl weil bei diesen Texten der Interpreta-

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Vgl. Denifle / Chatelain: Chartularium Universitatis Parisiensis, S. 230. Vgl. Denifle / Chatelain: Chartularium Universitatis Parisiensis, S. 78. Vgl. Denifle / Chatelain: Chartularium Universitatis Parisiensis, S. 70. Vgl. Reichert: Acta Capitulorum Generalium Ordinis Praedicatorum, Bd. 1, S. 202. Vgl. Grabher : Die Pariser Verurteilung von 1277. Vgl. Weichselbaumer : Die Pecienhandschriften des Zisterzienserklosters Heilsbronn, S. 27. Vgl. Reichert: Acta Capitulorum Generalium Ordinis Praedicatorum, Bd. 1, S. 159 f. Vgl. o. V.: Liber constitutionum ordinis fratrum Praedicatorum juxta codicem prototypum beati Humberti in archivo generali ordinis Romae asservatum, S. 175.

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tionsspielraum vergleichsweise groß und das Risiko einer ›falschen‹ Interpretation größer ist als etwa bei den Evangelien. Bei der Diskussion über das Gelesene lässt sich eine Entwicklung feststellen. In Petrus Cantors Verbum Adbreviatum69 aus dem ausgehenden 12. Jahrhundert findet sich ein Passus dazu, wie Studenten mit Fragen zu verfahren haben, die bei der Lektüre der Bibel aufkommen. Sie sollen notiert und bis zur nächsten Disputation aufgeschoben werden, und zwar ›indiscussa‹.70 Dies ist ein unmissverständlicher Versuch, den Rahmen der Diskussion zu steuern und das Aufkommen unerwünschter Antworten zu vermeiden. Dagegen erlaubt das 1312 in Carcassonne tagende dominikanische Generalkapitel die Diskussion zwischen den Studenten nicht nur, es ermuntert sie sogar dazu, über das in Bibel und Sentenzen gelesene regelmäßig zu diskutieren.71 Hier ist wieder die steigende Wertschätzung des Urteils zu erkennen, die auch Wilhelm von Ockham demonstriert. Wer zu urteilen lernen will, muss es üben, und die Diskussion ist dafür ein geeigneter Rahmen. Weniger liberal ist dagegen der Umgang mit der Produktion von Texten, sogar von reinen Kompilationen. Schriften von Dominikanern, ob verfasst oder kompiliert, sollen auf keinen Fall ohne Erlaubnis des Provinzials veröffentlicht werden,72 eine Regel, die sich beinahe identisch auch bei den Zisterziensern findet.73 Das Schreiben wird zweistufig kontrolliert. Innerhalb des Ordens dürfen Studenten zwar nur in Ausnahmefällen längere Texte verfassen, dies aber primär, weil sie das vom Studium abhalten würde. Insbesondere das Kompilieren ist sonst kein problematischer Akt, vielmehr ist es eine zunehmend ubiquitäre Arbeitsmethode. Die Veröffentlichung dieses Texts ist dagegen streng geregelt und muss durch den Ordensmeister oder das Generalkapitel genehmigt werden, vor allem weil eine Verurteilung eines dominikanischen Texts durch die Kirche nicht nur dem individuellen Autor, sondern auch dem Orden Schaden zufügen könnte. Wenn auch die Kontrolle des Lesens sich in erster Linie auf die Vorlesungen konzentriert, sind Umstände und Gegenstand der studentischen Lektüre nicht völlig frei. Die Konstitution des Dominikanerordens von 1256, die älteste überlieferte Version der Ordensverfassung,74 widmet dem Studium der Mönche ein umfangreiches Kapitel. Darin ist festgelegt, dass die Studenten unter den 69 70 71 72

Vgl. Boutry : Petri Cantoris Parisiensis Verbum adbreviatum. Vgl. Baldwin: Masters, princes, and merchants, S. 66 f. Vgl. Reichert: Acta Capitulorum Generalium Ordinis Praedicatorum, Bd. 2, S. 56. Vgl. o. V.: Liber constitutionum ordinis fratrum Praedicatorum juxta codicem prototypum beati Humberti in archivo generali ordinis Romae asservatum, S. 171 – 178. 73 Vgl. Canivez: Statuta capitulorum generalium ordinis Cisterciensis, S. 26. 74 Vgl. o. V.: Liber constitutionum ordinis fratrum Praedicatorum juxta codicem prototypum beati Humberti in archivo generali ordinis Romae asservatum, S. 171 – 178.

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Brüdern einen betreuenden Bruder haben müssen, ohne dessen Erlaubnis sie weder Hefte schreiben noch Lektionen hören sollen. Sie sollen weiterhin weder die Bücher der Heiden noch der Philosophen lesen und weder die säkularen Wissenschaften noch die freien Künste gelehrt bekommen, wenn nicht ein Magister des Ordens oder das Generalkapitel es anders beschließen. In jedem Fall sollen sie aber die theologischen Bücher lesen und zwar die neuen, wie auch die anderen75, eine Formulierung, die Raum für Interpretationen lässt. Gemeint sein können sowohl inhaltlich ältere theologische Literatur, wie etwa die der Kirchenväter, als auch jüngere Werke scholastischer Theologen. Ebenso denkbar wäre 1256 jedoch eine Unterscheidung zwischen Sentenzensammlungen sowie anderen Miscellanea und den ›anderen‹, konventionellen, linear zu lesenden Werken. Unmissverständlich ist dagegen die Forderung nach dem Arbeitseinsatz der Studenten. Im Studium sollen sie Eifer zeigen und »bei Tag, bei Nacht, zuhause oder unterwegs irgendetwas lesen oder meditieren«76 und versuchen so viel zu behalten, wie sie können. Die Memoria-Ideale Hugos und auch sein Verständnis von Meditation sind noch zu erkennen, werden aber gekoppelt mit einer Leseintensität, die eher an die ›Lesewut‹ einer späteren Zeit erinnert.77 Diese drastische Forderung ist im Kontext der stark reglementierten Studentenzahlen zu verstehen. Die Provinzen des Ordens dürfen nur je drei Studenten nach Paris zum Studium schicken.78Außerdem haben sie dafür zu sorgen, dass an einem geeigneten Konvent der Provinz ein vorbereitendes Provinzialstudium vorhanden ist, das jeweils vier Studenten aufnimmt. Falls die Provinz keine geeigneten Lehrer für dieses Studium hat, soll der Ordensmeister einen solchen bereitstellen. Die Studenten sind also eine Elite im Orden, die viel Aufwand bereitet und von der entsprechender Lern- und Leseeifer erwartet wird. Zudem muss der Student ausgestattet werden: Jede Provinz, die einen Bruder zum Studium schickt, soll diesen mit wenigstens drei theologischen Büchern ausstatten, der Bibel sowie den Sentenzen samt der dazugehörigen Glossen, auf die sich das Studium besonders richten soll. 75 Vgl. o. V.: Liber constitutionum ordinis fratrum Praedicatorum juxta codicem prototypum beati Humberti in archivo generali ordinis Romae asservatum, S. 171. 76 o. V.: Liber constitutionum ordinis fratrum Praedicatorum juxta codicem prototypum beati Humberti in archivo generali ordinis Romae asservatum, S. 171 (übersetzt durch den Verfasser): »de die. de nocte. in domo. in itinere. legant aliquid vel meditentur«. 77 Vgl. zu den Auswirkungen der Lesewut im medizinischen Diskurs in der Moderne Hans-Jörg Künast in diesem Band mit seinem Beitrag Lesen macht krank und kann tödlich sein. 78 Diese Zahl relativiert sich aber mit Blick auf die Größe mittelalterlicher Universitäten. Für die frühe Zeit sind keine Matrikel überliefert, aber in den 25 Jahren von 1392 bis 1416 graduierten an der Sorbonne gerade einmal 460 Magister, weniger als 10 im Semester. In der Frühzeit dürften es noch erheblich weniger gewesen sein. Vgl. die tabellarische Aufstellung bei Uiblein: Mittelalterliches Studium an der Wiener Artistenfakultät, S. 102.

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Diese Bücher sollen die Studenten niemals aus der Hand geben und auch am Gedenktag für den Ordensgründer Dominikus und anderen hohen Festtagen mit dem Studium darin fortfahren. Die Zelle, die einem Studenten in seinem Kloster, am Provinzial- oder Generalstudium zugewiesen wird, soll keine Ablenkungen bieten und für vier Tätigkeiten in der genannten Reihenfolge geeignet sein: Schreiben, Lesen, Beten, Schlafen. Auch soll der Student in der Nacht bei Licht wachen dürfen, wenn er das für sein Studium möchte.79 Dem Lesen der Studenten wird demnach extrem hohe Bedeutung beigemessen. Lesen und Schreiben stehen sogar vor dem Beten, einer der Grundpflichten jedes mittelalterlichen Christen, zumal eines Mönchs. Die Studenten bekommen gute Arbeitsbedingungen zugesichert, sehen sich aber auch entsprechenden Anforderungen gegenüber. Für den Ablauf des Studiums wird großer Wert auf die Reihenfolge des Lesens und Lernens gelegt. Ohne eine solide theologische Grundlage scheint das Studium aller anderen Wissenschaften sinnlos oder gefährlich. Diese Grundlage soll durch das Studium der Bibel und insbesondere der Sentenzen erworben werden. Das dominikanische Generalkapitel vom Anfang des Jahres 1305 legt als Grundlage der Ausbildung ein Sentenzenstudium fest, auf das nach zwei Jahren ein Studium der Logik folgen und auf das nach drei Jahren wiederum ein Naturalienstudium angeschlossen werden konnte, das Arithmetik, Geometrie und Astronomie umfasst.80 Ähnliche Regeln werden regelmäßig wiederholt, so 1311 in Neapel81, 1312 in Carcassonne82 sowie 1315 in Bologna, wo eine Verlängerung der theologischen Vorbereitung in einem Provinzialstudium auf drei Jahre festgeschrieben wird.83 Dieses gestufte System dient primär der allgemeinen fachlichen Vorbereitung und der Auswahl geeigneter Kandidaten für die wenigen Studienplätze am Generalstudium. Später wird die Vorbereitung zwar wieder auf zwei Jahre reduziert, zusätzlich aber ein Eignungszeugnis des Lehrers verlangt.84 Die Ermahnungen der Generalkapitel erinnern die Studenten regelmäßig daran, ihr Studium nicht zu vernachlässigen. So beginnt das Mailänder Generalkapitel seine Ermahnungen 1278 mit dem Hinweis, dass die Studenten auf ihre Studien zu achten hätten. Genauer bedeute das, dass sie den Text der Bibel und die Sentenzen lesen und diskutieren sollen und mit ihren Lektionen fort79 Vgl. o. V.:Liber constitutionum ordinis fratrum Praedicatorum juxta codicem prototypum beati Humberti in archivo generali ordinis Romae asservatum, S. 177 f. 80 Vgl. Reichert: Acta Capitulorum Generalium Ordinis Praedicatorum, Bd. 2, S. 12 f. 81 Vgl. Reichert: Acta Capitulorum Generalium Ordinis Praedicatorum, Bd. 2, S. 52. 82 Vgl. Reichert: Acta Capitulorum Generalium Ordinis Praedicatorum, Bd. 2, S. 56. 83 Vgl. Reichert: Acta Capitulorum Generalium Ordinis Praedicatorum, Bd. 2, S. 82. 84 Generalkapitel von 1347. Vgl. Reichert: Acta Capitulorum Generalium Ordinis Praedicatorum, Bd. 2, S. 314.

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schreiten. Aus diesem Grund sollen die Studenten auch nicht von Prioren oder anderen Brüdern abgelenkt werden, wenn nicht aus wichtigem Grund und mit besonderer Erlaubnis.85 Das Generalkapitel von 1315 in Bologna wird konkreter und schreibt den Studenten vor, dass sie sich dem Studium der Bücher zu widmen und alles zu unterlassen haben, was sie davon abhalten könnte. Insbesondere sollen sie nicht selbst Bücher schreiben und sich von Frauen fernhalten. Daher dürfen sie nicht durch die Stadt laufen, keine Kontakte zu Beghinen oder anderen Frauen pflegen und auf gar keinen Fall deren Häuser besuchen, ja nicht einmal in der Kirche oder unter dem Tor sollen sie mit Frauen sprechen.86 Deutlicher lässt sich die Aufwertung kaum illustrieren, die das lernende Lesen an den Universitäten genommen hat. Explizit geht es hier nicht um etwaige moralische Einwände gegen den Kontakt zwischen Mönchsstudenten und Frauen, allein die Ablenkung vom Studium ist das Problem, gleichrangig mit der zeitlichen Einschränkung, die das Kopieren von Handschriften darstellt.

»Sie sollen lesen bei Tag und bei Nacht« Die dem Lesen zugeschriebene Funktion wandelt sich in der Scholastik grundlegend. Ein erster Schritt ist die Lösung vom monastischen Ideal der kontemplativen, dem Gebet verwandten Versenkung hin zu dem durch Hugo von St. Viktor vertretenen Verständnis, dass Lesen der Erlangung von Weisheit und, kurzfristiger, der Füllung eines mnemotechnischen Gedächtnispalasts dienen soll. Mit dem Aufkommen der Universitäten als Zentren professioneller Leser tritt diese Funktion zurück und nimmt in der Folge eine ambivalente Rolle ein. Für das Lernen von Grundlagentexten gilt sie noch lange als maßgeblich, doch genügt sie, wie die Verachtung Wilhelms von Ockham für Gedächtniskünstler zeigt, nicht mehr als alleinige Arbeitstechnik eines Gelehrten. Urteilsvermögen, das Auffinden von Autoritäten zur Stützung einer Argumentation und damit das selektive, konsultierende Lesen werden zu prägenden Errungenschaften der Hochscholastik. Statt Weisheit wird Erkenntnis angestrebt. Die damit verbundenen Werkzeuge, insbesondere die wertungsfreie Sortierung von Inhalten in einer alphabetischen Liste, die sich in weniger als einem Jahrhundert durchsetzt, werden pragmatisch eingesetzt. Trotz ihrer verbreiteten Anwendung wird die alphabetische Sortierung als grundlegend minderwertig erachtet, da sie keine ›natürliche‹ Ordnung darstellt. Sogar der Hauptzweck der Abecedarien, das Zugänglichmachen von Inhalten für eine vom Leser an den Text herange85 Vgl. Reichert: Acta Capitulorum Generalium Ordinis Praedicatorum, Bd. 1, S. 196 f. 86 Vgl. Reichert: Acta Capitulorum Generalium Ordinis Praedicatorum, Bd. 2, S. 80.

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tragene ›ratio‹, war problematisch, erschien es doch jedenfalls dem Wort Gottes gegenüber zu respektlos. Die später verbreitete Kritik des falschen Lesens findet sich allerdings nicht. Versuche einer Kontrolle des Lesens beziehen sich eher auf Vorlesungen und das Schreiben, als auf die Lektüre des Einzelnen. In der Frage eines bekömmlichen Lesepensums gibt es dagegen eine Entwicklung. Zu Anfang der hier skizzierten Entwicklung hatte Hugo von St. Viktor in dieser Frage noch zu Mäßigung geraten: Ihren Ursprung hat [die Auffassungsgabe] in der Natur, durch Betätigung wird sie gefördert, durch übermäßige Arbeit stumpft sie ab, durch maßvolle Übung aber wird sie geschärft. Wie jemand sehr zutreffend gesagt hat: ›Ich will, dass du dich endlich schonst. In den Büchern steckt doch nur Mühsal – lauf hinaus an die frische Luft.‹87

Aus Sicht von Orden und Universität des 13. und 14. Jahrhunderts gilt das lernende Lesen dagegen als rückhaltlos erstrebenswert, sollten die Studenten doch bei Tag und Nacht und sogar an Feiertagen lesen.

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Denifle, Heinrich / Chatelain, Émile (Hrsg.): Chartularium Universitatis Parisiensis. 4 Bde. Paris 1889 – 1897. Hugo von St. Viktor : Didascalicon de studio legendi. Studienbuch. Übersetzt und eingeleitet von Thilo Offergeld. Freiburg / New York 1997. Hugo von St. Viktor : De arca Noe moralia. In: Migne, Jean-Paul (Hrsg.): Patrologia Latina 176. Paris 1854, Sp. 618 – 682. Johannes von Salisbury : Metalogicon. Herausgegeben von John B. Hall unter Mitarbeit von Katharine S. B. Keats-Rohan. Turnhout 1991 (Corpus Christianorum Continuatio Mediaevalis 98). Petrus Venerabilis: De Miraculis. In: Migne, Jean Paul (Hrsg.): Patrologia Latina 189. Paris 1854, Sp. 887 A. Quintilianus, Marcus Fabius: Institutionis oratoriae libri duodecim. Tomus II. Libri VII–XII. Herausgegeben von M. Winterbottom. Oxford 1970. Reichert, Benedikt M. (Hrsg.): Acta Capitulorum Generalium Ordinis Praedicatorum. Bd. 1 und 2. Rom / Stuttgart 1898 / 1889 (Monumenta Ordinis Praedicatorum Historica III und IV). Robert von Melun: Œuvres de Robert de Melun. Tome III: Sententie. Bd. I: Texte in¦dit. Louvain 1947 (Spicilegium Sacrum Lovaniense 21). Wilhelm von Ockham: Elementarium Logicae. Ediert von Eligius M. Buytaert. In: Franciscan Studies 25 (1965), S. 170 – 276.

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Veränderungen der Lesebedeutung in der Frühen Neuzeit

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A Peculiarity of the ›Glossae‹ by Salomon III. of Constance [Augsburg, Monastery of SS. Ulrich and Afra, about 1474]1

Johannes Hinderbach, prince-bishop of Trent (1465 – 1486), is a well-known historical figure for many reasons, only partly related to his classical studies. In the first place he was the persecutor of the local Jewish community, which he exterminated after the mysterious murder of a child, the later beatified Simonino.2 In the second place he had a printing press set up in the city in order to spread the worship of the child martyr.3 Moreover, he built up an important book collection, which he himself extensively read and annotated. A part of this collection was preserved and is now stored mainly in the Biblioteca Comunale of Trent, after merging first into the Episcopal Library and then into the Seminary Library.4 The volume G.1.a.60 is a copy of the edition of the Glossae ex illustrissimis auctoribus collectae by Salomon III., Bishop of Constance. Actually the revised version of the text, mistakenly attributed to Salomon, is based on the one hand on the Liber Glossarum of the Carolingian tradition and on the other hand on the Abavus maior.5 The following description is from the edition itself:6

1 Acknowledgements go to Giuseppe Frasso, Brian Richardson, Giliola Barbero, Mauro Hausbergher, Giancarlo Petrella, Alessandro Ledda and Luca Rivali for discussing this contribution. English Translation by Alba Mantovani. 2 See Bellabarba / Rogger : Il principe vescovo Johannes Hinderbach (1465 – 1486) fra tardo Medioevo e Umanesimo; Toaff: Pasque di sangue; Petrella: Fra testo e immagine, pp. 24 – 34. 3 See Rozzo: Il presunto omicidio rituale di Simonino di Trento e il primo santo tipografico. 4 See Leonardelli: ›Pro bibliotheca erigenda.‹ 5 See Schmid: ›Salomonisches Glossar‹; Henkel: Althochdeutsches im 15. Jahrhundert. 6 See Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz: Gesamtkatalog der Wiegendrucke (URL: http://www.gesamtkatalogderwiegendrucke.de/docs/M39747.htm [02. 01. 2013]). Bibliography : Goff S21; HC 14134*; C 5231; Pellechet-Polain 10397 (10161); CIBN S-52; Polain Belgique 3433; IGI 8566; Ohly-Sack 2514; Sack Freiburg 3141; Walsh 554; Oates 902; Bodleian S-039; BMC II, 340; BSB-Inkunabeln S-54; GW M39747. The edition is rather common in Central Europe and in the United States (much less in France and in Italy), the ISTC lists more than 80 copies. See British Library : Incunabula Short Title Catalogue (ISTC) (URL: http:// istc.bl.uk/search/record.html?istc=is00021000 [02. 01. 2013]).

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[a2ra] Epistola prelibaticia in sequentis jj operis commendationem breui/ jj bus absoluta incipit foeliciter :. jjj L11 ATINE jj quidem loq(ui) jj & proprie […] & ab his tibi imitandi vestigia relicta.:. [a2rb-A9rb] Salemonis ecclesie Constantiensis jj e(pisco)pi glosse ex illustrissimis collecte jj auctoribus incipiunt foeliciter.:. jjj A11 in omnibus jj ge(n)tibus ideo jj prior est lite jj rarum(m) […] solis valido nu(n)qua(m) adserat jj ignes: [A10ra-F8vb] A13 B acti magi jj strat(us) di jj cebant(ur) qui jj coacti […] est hec aqua: Zuzommin. Hec jj cogitationis ut supra:7

See below the formal description: Folio; [288] leaves; [a12 b–o10 p8 q–z10 A–E10 F8]; 2 columns; 55 lines; written space 283 – 175 mm; R105; enlarged initials with white vine-stem borders left as blank parchment on fol. [a2r] and at the beginning of each alphabet letter ; blank spaces left for smaller initials.

It is agreed that this edition dates to circa 1474 and was issued by the printing workshop set up in the monastery of Ulrich and Afra in Augsburg. It is also well known that this printing and publishing activity developed thanks to the efforts of the abbot Melchior von Stammheim in the years 1472 – 1474.8 The copy from Trent, like others, is exceptionally large, it measures 405 x 279 mm.9 It is containing many handwritten notes, or ›postille‹ as they were defined by Giuseppe Frasso and later by Bernard Rosenthal, by Hinderbach himself.10 Most importantly, it is bearing traces of the original monastic binding, which was probably carried out in Augsburg with beech boards and decorated goat skin.11 In 1967 Curt Bühler had already studied this edition by collating as many as 14 copies.12 It turned out that quire [b] is a case of a replaced leaf. In the bifolio [b5 – 6], the former corresponding to [b4v] was printed on [b5v]. The cancellandum [b5] was removed and replaced by the cancellans on which the correct 7 Salomon ›Constantiensis, III.‹: Gloassae illustrissimis auctoribus collectae. For a digital reproduction of the copy BSB-Ink S-54GW M39747 see Bayerische Staatsbibliothek: Digitale Sammlungen (URL: http://daten.digitale-sammlungen.de/bsb00043994/image_7 [02. 01. 2013]). 8 See for initial information Proctor : Ulrich von Ellenbog and the Press of S. Ulrich at Augsburg; BMC II, p. ix and pp. 338 – 340. For a current bibliography see Corsten: Der Buchdruck im 15. Jahrhundert, Vol. 1, pp. 386 – 388 and Vol. 2, p. 754; Henkel: Althochdeutsches im 15. Jahrhundert, pp. 162 – 164. 9 The copy in Harvard for example measures 411 x 285 mm, the copies in the British Library in London measure 398 x 270 mm and 385 x 253 mm, the copies in the Bodlein Library in Oxford measure 397 x 275 mm, 408 x 275 mm and 405 x 267 mm. 10 See Barbieri: I libri postillati. 11 See for an accurate description Hausbergher / Groff: Gli incunaboli della Biblioteca comunale di Trento, no. 417. 12 See Bühler : Remarks on the Printing of the Augsburg Edition (c. 1474) of Bishop Salomon’s Glossae.

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text had been impressed.13 Moreover, the cancellans [b5] of the Trent copy turns out to be a single small-size leaf with chain lines parallel to the shorter edge of the book.14 This is an evidence of problems that occurred during the composition of the text, because it shows that, after counting the available characters, the compositor started working on the innermost bifolio of the quire. Bühler also remarks that in the copy in the Pierpont Morgan Library of New York, folio [a1r], usually blank and often removed, contains by mistake the text printed on [a12v]. The repetition of the same form on the same side of a sheet implies that the printing was done with a single pull, by printing one page at a time in the in folio format. Such data is useful for a better understanding of a peculiarity of the Trent copy. One leaf I call folio *, which we preliminarily define as a ›proof sheet‹ of a part of the Glossae, was originally pasted inside the binding and has now been removed. The copy Ink. 17 fol.:[1] in the Universitätsbibliothek Heidelberg is also preserving an identical leaf, Ink. 17 fol.:[2], which was pasted inside the contemporary binding as well.15 The printed text is distributed in the following way, [*r] was the previously pasted part: [*ra] »Chus enim hebraica lingua […] proposite rei describens.« [*rb] »Afrodin greci voca(n)t […] sed vocatur ai« [*va] »Agedum aduerbiu(m) est […] accidere nom(en)« [*vb] »ut metellus creticus […] qua(m) greci auiaugan«

Folio * is showing the same character, number of lines and written space as the whole edition, but cannot be defined as a ›proof sheet‹. Instead, it is a completely different typographical composition rich in pilcrows.16 In the final printing, the four columns of the text in folio * are corresponding to [a6va] (only the last line), [a6vb], [a7ra], [a7rb] and [a7va]. As we know, the quire [a] contains twelve leaves of which the bifolio [6–7] is the innermost one and therefore was the first one to be composed. So when the text was to be printed after the counting of the characters, it was so long that folio * could only correspond to one of the two folios [6] or [7] of the innermost bifolio. Why was folio * discarded probably immediately after its composition and then reused in the binding? 13 This certainty proves that the print shop of Ulrich and Afra was provided with enough characters to compose at least one and a half sheets (six leaves, twelve columns). 14 The Watermark is similar to no. ›14603. Augsbourg, 1470‹, see Briquet: Les Filigranes, p. 738. 15 See Schlechter / Ries: Katalog der Inkunabeln der Universitätsbibliothek Heidelberg, des Instituts für Geschichte der Medizin und des Stadtarchivs Heidelberg, no. 1593 and 1595. The Heidelberg copy was purchased on the antiquarian book market in 1980. 16 This is not explaining why the ISTC assigned the specific record ›is00021050‹ based on the Heidelberg copy.

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This must undoubtedly be connected with the inclusion of the ›Epistola prelibaticia‹ afterwards in [a2ra], the only paratextual element which modified the length of the already well-defined work.17 A few remarks on this text, that is a very short but interesting introduction with a humanistic approach to the genre of Latin dictionaries, had already been provided by Nikolaus Henkel, who also prepared a modern edition of the ›epistola‹ and hypothesized its attribution to Melchior von Stammheim himself.18 According to the first hypothesis, the text of the Glossae might have been initially composed without the ›epistola‹, which was added after the printing process had started. But in this case a column would have slid backward in the original composition and the present text of folio * would have been distributed on [a6va-b] and [a7ra-b], but not on a single folio. In the second hypothesis, the Glossae, still without the ›epistola‹, could begin on [a1v], so that three columns of the text would have slid backward and folio * would correspond to [a6]. But also this possibility has to be discarded, because Ulrich and Afra editions are always beginning on the recto of the first or second leaf of the edition, but never on the verso of the first. The most convincing and effective hypothesis is that when the printing process began, they knew that the ›epistola‹ had to be included without being aware of its length. So they were reserving the complete [a2r] for it. When they realized that it was a short text of only 43 lines, including eleven lines of border for the woodcut initial, they decided to set the ›epistola‹ and the first column of the Glossae side by side. For this reason, the text already present in folio *, corresponding to [7] of the first composition, had to slide more than one column backward and ended up occupying part of [6v].19 The above hypothesis is not only explaining the origin of folio *, but also seems to help dating the ›Epistola prelibaticia‹ by confirming that it was written in the Monastery of Ulrich and Afra at about the same time that the book was being composed.

17 See for manuscript tradition references Handschriftencensus: Eine Bestandsaufnahme der handschriftlichen Überlieferung deutschsprachiger Texte des Mittelalters (URL: http:// www.handschriftencensus.de/werke/3812 [02. 01. 2013]); Schmid: ›Salomonisches Glossar.‹ 18 See Henkel: Althochdeutsches im 15. Jahrhundert, pp. 165 – 167. 19 For a sixteenth-century case of a similar mistake in the pre-estimate of the length of the introductory texts of an edition see Gilmont: Bibliographie des ¦ditions de Jean Crespin, 1550 – 1572; Barbieri: Note sulla fortuna europea della ›Tragedia del libero arbitrio‹ di Francesco Negri da Bassano, pp. 133 f.

A Peculiarity of the ›Glossae‹ by Salomon III. of Constance

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The sound of silence Eine unbekannte ›Ars punctandi‹ als Quelle zur Geschichte des Lesens in der Frühen Neuzeit

Im Jahr 2006 wurde durch das US-amerikanische Antiquariat Bruce McKittrick ein bis dahin unbekannter Kleindruck angeboten, der eine interessante Perspektive auf das Thema ›Lesen in der Frühen Neuzeit‹ eröffnet. Der undatierte Druck, bei dem es sich laut Antiquariatskatalog um eine Inkunabel handelt,1 trägt den Titel Antonij Ciceromani ad Johannem fratrem suavissimum de arte punctuandi prefatio,2 und wird dadurch als eine ›Ars punctandi‹,3 eine Anleitung zur Zeichensetzung, ausgewiesen. Über Antonius Ciceromanus ist bislang nichts bekannt, er ist offenbar nicht als Autor oder Beiträger weiterer Inkunabeln oder Drucke des frühen 16. Jahrhunderts in Erscheinung getreten. Im November 2006 wurde der Band durch die Newberry Library in Chicago erworben und dort unter der Signatur Inc. 8587.9 in den Bestand aufgenommen.4 Bevor mit der inhaltlichen Analyse des Texts begonnen wird, soll er im Folgenden kurz typographisch beschrieben werden. Da der Druck unfirmiert ist, ist zudem die Ermittlung seines Druckorts und der für seine Herstellung verantwortlichen Offizin notwendig. Der Druck umfasst vier Blatt im Quartformat. Die Rückseiten des Titelblatts und der letzten bedruckten Seite sind leer, so dass der Text mit einem Incipit auf dem Blatt 2a beginnt und auf Blatt 4a endet. Die Druckseiten sind mit jeweils 41 Zeilen gefüllt, der Satzspiegel einer voll bedruckten Seite beträgt 12,9 x 8,2 cm. Für die Ermittlung des Druckers der kleinen Inkunabel sind wir auf eine Analyse seiner Drucktypen nach der Proctor-Haeblerschen Methode angewie1 Vgl. Bruce McKittrick Rare Books: Fifteeners, S. 5. 2 Vgl. Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz: Gesamtkatalog der Wiegendrucke, im Folgenden abgekürzt GW, 0704150N. 3 Die Bezeichnungen ›Ars punctandi‹ und ›Ars punctuandi‹ stehen sowohl in den Drucken als auch in der Sekundärliteratur ohne semantische Unterscheidung nebeneinander. Im Folgenden wird bei Titelangaben die Form entsprechend der Vorlage verwendet, bei der Gattungsbezeichnung die Form ›punctandi‹. 4 Für die Auskunft zu Erwerbungsdatum und Signatur danke ich Dr. Paul Saenger, Newberry Library, Chicago.

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sen. Die Type, eine kleine Rotunda, misst etwa 63 mm auf 20 Zeilen und verwendet nach der Klassifikation Konrad Haeblers ein M91.5 Die Majuskeln sind ohne auffällige Verzierungen gestaltet: Bei B, C, D, E, F, L, N und T ist der Schaft verdoppelt, das J ist mit einem ›Schnörkel‹ am Schaft gestaltet. Die Majuskel U ist mit einer doppelten Innensehne verziert, die leicht schräggestellt von links unten nach rechts oben verläuft. In Haeblers Typenrepertorium sind in der Größe zwischen 60 und 66 mm zahlreiche Drucktypen mit M91 verzeichnet, vor allem aus Offizinen in Venedig und Lyon.6 Bei einer genaueren Überprüfung zeigen jedoch fast alle dieser Typen deutliche Abweichungen. Lediglich in der Type 11:62G des Lyoneser Druckers Jean du Pr¦ lassen sich alle Majuskeln des Ciceromanus-Drucks nachweisen.7 Aufgrund dieses Befunds wurde im Verkaufskatalog des Antiquariats McKittrick der Druck Jean du Pr¦ zugeschrieben. Da seine Type 11 in datierten Drucken nur zwischen 1490 und 1495 nachweisbar ist, wäre der Druck auf die frühen 1490erJahre zu datieren und eindeutig als Inkunabel einzuordnen. Betrachtet man jedoch nicht ausschließlich die Majuskeln, sondern auch die Minuskeln und Satzzeichen, kommen Zweifel an dieser Zuweisung auf: Die Ciceromanus-Type verwendet nach Haeblers Terminologie ausschließlich ein ›h mit Ringelschwanz‹. Das heißt der rechte Schaft ist unter die Schriftlinie gezogen und endet mit einem nach rechts gebogenen Haarstrich. Du Pr¦s Type 11 hat dagegen standardmäßig ein h, dessen rechter Schaft nach innen gebogen auf der Grundlinie endet. Die Form mit ›Ringelschwanz‹ ist in den Abbildungen der Gesellschaft für Typenkunde8 zwar für du Pr¦s Type 11 abgebildet, doch handelt es sich um eine selten eingesetzte Nebenform.9 Des Weiteren werden im Ciceromanus-Druck ein großes Rubrum ohne Unterlängen und ein kurzes doppeltes

5 Vgl. Haebler : Typenrepertorium der Wiegendrucke. 6 In Abt. III und den Nachträgen des Typenrepertoriums sind folgende venezianische Typen verzeichnet: Johann Hamann 6:60G mit einem Nachguss auf größerem Kegel auch als 6:66G, Johannes Emericus 15:60G, Marinus Sarazenus 4:65/66G. Aus Lyon sind aufgeführt: Matthias Huss 16:60/61G, Hemon David 7:61G, Paul Reberget 2:61G, Jean du Pr¦ 11:62G, Nicolaus Wolf 9:62G, Michel Topi¦ 14:63G, Antoine Lambillon 5:65G. Die bei Haebler verzeichnete Type 14:61/62G der kurzzeitig in UzÀs ansässigen Offizin des Jean du Pr¦ entspricht der Type 11:62G seiner Lyoneser Offizin. Des Weiteren verzeichnet Haebler zwei Leipziger Typen, Konrad Kachelofen 10:60/61G und Melchior Lotter 7:60/61G, sowie eine Straßburger Type von Johann Grüninger, Type 15*:64G. 7 Allerdings erscheinen die im Ciceromanus-Druck ausschließlich benutzten Formen des C und E mit doppeltem Schaft bei du Pr¦ nur als Nebenformen gemeinsam mit den entsprechenden Formen mit einfachem Schaft. 8 Vgl. Gesellschaft für Typenkunde des fünfzehnten Jahrhunderts: Veröffentlichungen der Gesellschaft für Typenkunde des XV. Jahrhunderts, Tafel 2113. 9 Vgl. British Library : Catalogue of books printed in the XVth century now in the British Museum, Bd. 8, S. 281.

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Diviszeichen verwendet, die beide in Drucken der Offizin du Pr¦ nicht nachweisbar sind.10 Ein Schriftsatz mit den hier beschriebenen Besonderheiten ist in Haeblers Typenrepertorium nicht verzeichnet. Erst 193511 wurde eine in allen Details passende Type bei der Zusammenstellung der Veröffentlichungen der Gesellschaft für Typenkunde aufgefunden und als GfT-Tafel 2137 abgebildet. Sie ist dort nach einer auf den 3. Dezember 1500 datierten Ausgabe von Ciceros De officiis reproduziert.12 Der Druck ist unfirmiert, kann aber aufgrund der weiteren benutzten Typen und der Initialen mit Sicherheit der Lyoneser Offizin des Jean de Vingle zugeschrieben werden.13 Bezeichnet als Type 14:63G de Vingles, konnte sie bei den Arbeiten zum Gesamtkatalog der Wiegendrucke noch in einem weiteren Druck nachgewiesen werden, einer auf den 25. August 1500 datierten Ausgabe des Manipulus Curatorum des Guido de Monte Rochen.14 Auch diese Ausgabe erschien ohne Angaben zu Erscheinungsort und Drucker, kann aber ebenfalls aufgrund des gemeinsam mit der kleinen Rotunda verwendeten typographischen Materials sicher Jean de Vingle zugeordnet werden.15 Die Zugehörigkeit der ›Ars punctuandi‹ zu diesen beiden Drucken ist eindeutig. Auch sie kann damit auf die Zeit ›um 1500‹16 datiert und als Druck Jean de Vingles bestimmt werden. In das Druckprogramm de Vingles fügt sich der kleine Traktat über die Zeichensetzung in jedem Fall gut ein. De Vingle war einer jener um 1500 typischen Drucker, die mit ihrem Programm keine thematische Ausrichtung verfolgten, sondern vor allem ›Brotdrucke‹ produzierten, also Texte, die ohne große Investitionen einen sicheren Absatz versprachen. Ein wichtiges Standbein einer solchen Programmgestaltung waren Lehr- und Lektüretexte für Schule und 10 Du Pr¦s Type 11 ist mit einem Rubrum ausgestattet, bei dem die Unterlänge nach links umgebogen ist. Das Divis ist bei du Pr¦ zwar doppelt, aber etwas länger. 11 Der letzte Nachtragsband des Typenrepertoriums erschien 1924. 12 GW 06974. 13 Bei den beiden weiteren Typen handelt es sich um die Typen 1:81G, eine Textrotunda, und 8:140G, eine Auszeichnungstextura, von de Vingle. Die Initialen sind im GWals Initialreihen b, e, f, i und v verzeichnet. 14 GW 11823. 15 Eine sehr ähnliche Type, die nur in einigen minimalen und oft kaum zu erkennenden Details von de Vingles Type 14 abweicht, findet sich in einer undatierten Ausgabe des Speculum Ecclesiae des Hugo de Sancto Caro: GW n0255. In diesem Druck ist die Abbreviatur ›us‹ etwas unter die Schriftline gezogen und das Divis ist länger und steiler als bei de Vingle. Aufgrund der Initialen kann der Druck eindeutig dem Lyoneser Drucker Etienne Baland zugeschrieben werden. Baland war ab 1503 in Lyon tätig, die Initialen lassen sich in Drucken aus der Zeit ab 1508 nachweisen. Zu Baland vgl. Baudrier : Bibliographie lyonnaise, Bd. 11, S. 1 – 19. 16 Ob es sich streng genommen um eine Inkunabel handelt, also um einen Druck, der vor der willkürlichen Datierungsgrenze am 31. Dezember 1500 gedruckt wurde, kann bei der fehlenden Datierung nicht mit Sicherheit bestimmt werden.

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Studium, die sich in de Vingles Produktion zahlreich nachweisen lassen. In diesem Kontext ist auch der Ciceromanus-Traktat zu verorten. Das Thema des Texts und seine Kürze, die den Stoff auf das notwendigste Grundwissen reduziert, legen einen Gebrauch als Lehrbuch in der Schule oder im Artes-Studium nahe.

Die ›Ars punctandi‹ als Leseanweisung Der kleine Traktat beginnt mit einer kurzen Einleitung, in der Ciceromanus sein Werk einem gewissen Johannes zueignet, den er als ›frater suavissimus‹ und ›amicus suavissimus‹17 bezeichnet. Dieser habe ihn gebeten, etwas zum Nutzen der Jugend zu schreiben.18 Dieser Bitte komme der Verfasser nun nach, und er habe deshalb den folgenden Dialog zwischen einem Lehrer, ›magister‹, und einem Schüler, ›discipulus‹, entworfen. Der darauf folgende Dialog gliedert sich in sieben Abschnitte, die jeweils mit einer Frage des Schülers beginnen, an die sich eine ausführliche, durch Nachfragen des Schülers unterbrochene Erläuterung des Lehrers anschließt. Im ersten Abschnitt erklärt der Lehrer zunächst allgemein, die Satzzeichen, ›puncti‹, seien verschiedene Arten, das Schreibrohr beziehungsweise die Feder19 aufzudrücken. Aufgabe der Punkte sei es, den Lesern und Hörern zu verdeutlichen, wie eine Rede auszusprechen, ›pronuntiare‹, oder zu verstehen, ›intellegere‹, sei.20 Bereits an dieser Stelle ist bemerkenswert, dass nicht allein eine Verbindung zum Lesen geschaffen wird, sondern explizit zum lauten Lesen beziehungsweise Vorlesen und zur Rezeption des Vorgelesenen durch den Hörer. Für Ciceromanus dienen die Satzzeichen nicht als Gliederungshilfen, die eine visuelle Rezeption beim leisen Lesen erleichtern, sondern vor allem als Markierungen für die laute Artikulation eines geschriebenen Texts. Im weiteren Verlauf des Dialogs zählt der Lehrer die sechs verschiedenen Arten von Punkten respektive Satzzeichen auf, die er behandeln will: ›Colon‹, ›Comma‹, ›Virgula‹, ›Interrogans‹, ›Parenthesis‹ und ›Periodus‹.21 Jedem dieser 17 Vgl. Ciceromanus: De arte punctuandi, Bl. 2a. GW 0704150N. 18 Ciceromanus: De arte punctuandi, Bl. 2a: »[…] vt quicq(uam) ad iuuenu(m) vtilitatem […] scriberem«. 19 Der im Traktat verwendete Begriff ›calamus‹ bezeichnet ursprünglich das Schreibrohr, wurde im Mittelalter aber auch als Bezeichnung für den Federkiel benutzt. 20 Ciceromanus: De arte punctuandi, Bl. 2a: »Quid igitur punctu(m) sit: elucida? Ma. Punctu(m) est varia calami impressio: qua clara pronu(n)ciatu / atq(ue) intellectu legentibus / atq(ue) audie(n)tibus fit or(ati)o.« Die Abkürzungen ›Ma.‹ und ›Di.‹ stehen für ›Magister‹ und ›Discipulus‹. 21 Im Folgenden werden die lateinischen Bezeichnungen der Satzzeichen verwendet, um eine Verwechslung mit den modernen Satzzeichen auszuschließen.

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Satzzeichen ist ein eigener Absatz gewidmet, und auch hier wird immer wieder ein Bezug zum Vorlesen hergestellt. Das erste Satzzeichen, das Colon, wird nach einer ›clausula perfecta‹, also am Ende eines vollständigen Satzes,22 gesetzt: »Ubi p(er)fectam videbis clausulam verbo / (et) no(m)i(n)e: (et) ad sequente(m) non resultare«.23 Die Form des Colon beschreibt Ciceromanus als viereckigen Abdruck der Schreibfeder.24 Für den Lesenden zeigt das Colon eine längere Pause im Vorlesen und eine schwere Betonung, also eine Senkung der Stimme, an.25 Das zweite Satzzeichen, das Comma, bei Ciceromanus stets ›Coma‹ geschrieben, wird durch einen Punkt über dem Colon angezeigt, seine Form entspricht damit dem modernen Doppelpunkt.26 Es sei immer nach einer ›clausula non perfecta‹27 zu setzen, also nach einem unvollständigen Teilsatz, der noch weitergeführt wird. Im Gegensatz zum Colon sei nur eine kurze Pause mit scharfer beziehungsweise hoher Betonung zu machen.28 Die hier verwendeten Bezeichnungen der Satzzeichen Comma und Colon stammen, ebenso wie der später behandelte Periodus, aus der in der antiken Rhetorik entwickelten Unterscheidung der Satzteile. Der Begriff Komma meint hier den kleinsten, unvollständigen Teil eines Satzes, das Kolon einen größeren Abschnitt und die Periode das übergeordnete komplexe Satzgefüge. Bereits in der Antike wurden die Satzzeichen zum Teil als Mittel zur Markierung von Kola, Kommata und Perioden angesehen, und im Mittelalter wurden die Bezeichnungen der Satzteile auf die Satzzeichen übertragen.29 Die Virgel, das dritte im Dialog behandelte Interpunktionszeichen, dient nach Ciceromanus der Markierung einer Aufzählung. Ihre Form beschreibt der Lehrer als schrägen Strich von links unten nach rechts oben.30 Beim Lesen dürfe 22 Der Terminus ›clausula‹ bezeichnet in der antiken Rhetorik die in der Kunstprosa verwendeten metrisch gestalteten Schlussformeln. Ciceromanus benutzt ihn offenbar in allgemeiner Bedeutung als Satz(teil)schluss. 23 Ciceromanus: De arte punctuandi, Bl. 2a. 24 Ciceromanus: De arte punctuandi, Bl. 2a: »Istius puncti figura(m) impressione calami quadrata veteres signaru(n)t hoc modo .« 25 Ciceromanus: De arte punctuandi, Bl. 2b: »Pronunciatione(m) eius debere esse grave(m): (et) oportunu(m) esse ibidem facere magna(m) pausam: vt lege(n)s in tali mora anhelitus quiete sustentari possit.« 26 Ciceromanus: De arte punctuandi, Bl. 2b: »Di. Quomodo signari d(ebet)? Ma. Cum puncto plano sup(er) Colon posito hoc modo :« 27 Ciceromanus: De arte punctuandi, Bl. 2b: »Coma est: q(uo)d in fine clausule non p(er)fecte / vel resultantis exseque(n)te ponitur: vsq(ue) p(er)fecta reddatur s(e)n(tent)ia.« 28 Ciceromanus: De arte punctuandi, Bl. 2b: »Di. Quid h(uius)mo(d)i figura notat? Ma. Pronunciatione(m) eius non debere esse grave(m). vt Colon: sed breviorem / et acutam.« 29 Zu den unterschiedlichen Definitionen von Kolon, Komma und Periode in der Antike vgl. ausführlich die entsprechenden Artikel in Ueding: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. 30 Ciceromanus: De arte punctuandi, Bl. 3a: »Figuratur calamo acute a sinistro in dextrum eleuato hoc modo /«

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an dieser Stelle nur eine sehr kurze Pause gemacht werden und wie beim Comma solle die Stimme gehoben werden, so wie auch die Feder beim Schreiben schnell nach oben geführt werde.31 Es folgt ein Kapitel über das Fragezeichen, ›Interrogans‹, dessen Form als Kombination eines Colon mit einer darüber angebrachten gewölbten Virgel beschrieben wird und damit der im 15. Jahrhundert verbreiteten Form des Fragezeichens entspricht.32 Die Betonung bei einem Fragezeichen sei noch höher als beim Colon.33 Der Lehrer weist zudem auf die Verwechslungsgefahr mit dem Bewunderungspunkt, ›punctus admirativus‹, und dem Ausrufepunkt, ›punctus exclamativus‹, hin, die in ihrer Funktion in etwa dem modernen Ausrufezeichen entsprechen. Beide seien genauso gestaltet wie das Fragezeichen, die Aussprache müsse daher aus dem Kontext erschlossen werden. Auch für das fünfte Satzzeichen, die Parenthese in Form zweier runder Klammern,34 gibt Ciceromanus eine Artikulationsanweisung. Der in Klammern stehende Redeteil sei etwas tiefer oder auch leiser auszusprechen.35 Das letzte Satzzeichen, den Periodus, beschreibt Ciceromanus als Colon mit untergestellter Virgel. Seine Form entspricht damit in etwa dem modernen Semikolon.36 Er sei nach einem Sinnabschnitt zu setzen, wenn ein neuer Gedanke anfange und der Sprecher wie von Neuem beginne.37 Die Rede könne nun in einen weniger formellen Gesprächston übergehen.38

31 Ciceromanus: De arte punctuandi, Bl. 3a: »[…] ea acute pronunciare debemus. sed cum paulula / ac subita mora: sicut calami subito erecta est impressio.« 32 Ciceromanus: De arte punctuandi, Bl. 3b: »Figuratur per virgulam circunflexam supra Colon positam hoc modo ˘.« 33 Ciceromanus: De arte punctuandi, Bl. 3b: »Profecto pronu(n)ciationem eius debere acutam esse: (et) quidem acutiorem Comatica pronunciatione.« 34 Ciceromanus: De arte punctuandi, Bl. 3b: »Adinstar circuli per mediu(m) fracti hoc modo ().« 35 Ciceromanus: De arte punctuandi, Bl. 3b: »Disci. Quid figura eius innuit? Ma. Modu(m) loque(n)di illius clausule esse submissiorem or(ati)one: inter quam clauditur :« 36 Ciceromanus: De arte punctuandi, Bl. 4a: »Figuratur per virgulam subter Colon positam hoc modo .« Interessanterweise verfügte der Drucker offenbar über keine entsprechende Letter, so dass er an dieser Stelle nur einen einfachen Punkt, entsprechend dem Colon, setzt. Die hier beschriebene Form geht auf den mittelalterlichen ›punctus versus‹ zurück, der im liturgischen Bereich zur Markierung eines Versendes eingesetzt wurde. Vgl. dazu Parkes: Pause and effect, S. 36 und S. 306. 37 Ciceromanus: De arte punctuandi, Bl. 4a: »Periodus est: quod ponit(ur) in fine alicuius clausule non modo perfecte: sed etiam perfecti sermonis: vt quod sequitur : quasi de nouo inchoari videatur.« 38 Ciceromanus: De arte punctuandi, Bl. 4a: »Di. Quid eius figura notat? Ma. Sententiam penitus debere remitti / sermone(m) / atque loquutionem.«

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Abschließend fasst der Lehrer das Gesagte noch einmal kurz zusammen, indem er die Verwendung der Satzzeichen nach der Art der ›sententiae‹, die sie anzeigen, gliedert.39

Satzzeichen als Schriftzeichen – Satzzeichen als Lesezeichen Die in Ciceromanus’ Traktat eingestreuten Anmerkungen zur Aussprache der Satzzeichen wirken aus heutiger Sicht zunächst ungewöhnlich. Liest man moderne Anleitungen zur (deutschen) Zeichensetzung, so erscheint die Interpunktion primär als ein Phänomen der Orthographie, das der Verdeutlichung syntaktischer Strukturen dient. Beispielsweise beschreibt die Deutsche Rechtschreibung auf knapp 30 Seiten den korrekten Gebrauch der Satzzeichen bei den unterschiedlichsten syntaktischen Konstruktionen. Ihre Funktion für das Lesen wird dagegen nur ein einziges Mal, in der Vorbemerkung des Kapitels, angesprochen: Die Satzzeichen sind Grenz- und Gliederungszeichen. Sie dienen insbesondere dazu, einen geschriebenen Text übersichtlich zu gestalten und ihn dadurch für den Lesenden überschaubar zu machen.40

Hier wird zwar ein Bezug zum Lesen hergestellt, aber offensichtlich wird eine Situation des leisen Lesens vorausgesetzt. Der Text soll ›übersichtlich‹ und ›überschaubar‹ sein, das heißt die syntaktische Struktur soll graphisch abgebildet werden und einen leisen, visuell rezipierenden Lesevorgang unterstützen. Der Effekt der Satzzeichen auf die Artikulation spielt hier keine Rolle. Hinweise auf das Verhältnis von Interpunktion und Artikulation finden sich in heutiger Zeit nicht im grammatischen oder orthographischen Diskurs, sondern vor allem in Texten zur Sprechwissenschaft und Sprecherziehung. Das Wissen um die artikulatorischen Effekte von Satzzeichen wird im Wesentlichen im Zusammenhang mit dem Erwerb der elementaren Lesekompetenz in den ersten Schuljahren vermittelt, für erwachsene Leser spielt es kaum eine Rolle. Insgesamt wird die artikulationsmarkierende Funktion von Satzzeichen in der Sprecherziehung allerdings durchaus kritisch beurteilt. So konstatiert Christian 39 Ciceromanus: De arte punctuandi, Bl. 4a: »De numero sententiarum: aut vna inter alia(m) clausa est: aut non. Si clausa: tunc Parenthesi signatur. Si non: aut est p(er)fecta / aut no(n). Si no(n) est perfecta: Aut est imperfecta dictionibus: (et) tunc virgula signatur. Aut orationibus: (et) hoc dupliciter. Aut querentibus: (et) tu(n)c interrogatiuo signatur. Aut no(n) querentibus: (et) sic Comate signatur. Si vero sentencia sit perfecta: aut est perfecta inse tantum. (et) Colon est signanda. Aut est perfecta in tota illa materia: (et) sic Periodo signanda est.« 40 Zwischenstaatliche Kommission für deutsche Rechtschreibung: Deutsche Rechtschreibung, S. 69.

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Winkler, einer der Begründer der Sprechwissenschaft in der Nachkriegszeit, in seiner Deutschen Sprechkunde: Diese Gliederung der Rede [das heißt durch Pausen] bleibt grundsätzlich unabhängig von der Interpunktion. […] In den letzten 300 Jahren kennzeichnen unsere Satzzeichen […] immer eindeutiger den grammatischen Bau der Rede und nicht mehr die akzentuelle Gliederung. So kommt es beim Lesen häufig zur redefremden Irreführung durch das Schriftbild. […] Nimmt der Leser schriftgläubig die Satzzeichen als Pausenzeichen, wird die Rede schwer verständlich.41

Auch ein neueres Handbuch zur Sprechpädagogik hält in einem kurzen Kapitel zum ›richtigen Lesen‹ der Satzzeichen fest: Manche lernten in der Schule eine häufig unsinnige Regel: ›Bei jedem Komma die Stimme heben und eine kleine Pause machen‹. Richtig wäre der Leitsatz: ›Satzzeichen sind nicht unbedingt gleichzeitig Vortragszeichen!‹ Leider sind oft nur grammatikalische Gründe für unsere Zeichensetzung verantwortlich.42

Historisch gesehen besteht allerdings ein enger Zusammenhang zwischen der Entwicklung der Satzzeichen und der Geschichte des Lesens beziehungsweise des lauten Lesens.43 In den frühesten bekannten Zeugnissen zur Interpunktion dienten die Satzzeichen nicht der Markierung syntaktischer Einheiten, sondern in erster Linie der Markierung von Pausen. Häufig wurden die Satzzeichen nicht durch die Schreiber eines Papyrus oder eines Codex angebracht, sondern durch spätere Benutzer, die auf diese Weise ihre individuelle Lesart des Texts markierten. Malcolm B. Parkes merkt dazu an:44 In a period dominated by the ideal of the orator the principal function of pauses, whether in speaking or reading, was not simply to provide opportunities to take breath but to phrase the delivery of a speech, or the reading of a text, in order to bring out its meaning and to set off the related cadences. Pausing therefore was part of the process of reading not copying, and during the first six centuries wherever punctuation was

41 Winkler : Deutsche Sprechkunde und Sprecherziehung, S. 294. 42 Wagner : Mündliche Kommunikation in der Schule, S. 129. Trotz dieser Relativierung bietet Wagner im Anschluss vergleichsweise detaillierte Intonationsanweisungen, beispielsweise zur Stimmsenkung nach Aussagen, Stimmhebung bei Fragen ohne Fragewort und Stimmsenkung bei Fragen mit Fragewort. 43 Zur Entwicklung der Interpunktion vgl. grundlegend Parkes: Pause and effect. Eine ältere, immer noch lesenswerte Darstellung findet sich bei Müller: Quellenschriften und Geschichte des deutschsprachigen Unterrichtes bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts, S. 279 – 297. Zur Geschichte der deutschen Interpunktion, die gegen Ende des 15. Jahrhunderts auf Basis der lateinischen entwickelt wurde, vgl. Höchli: Geschichte der Interpunktion im Deutschen; Garbe: Texte zur Geschichte der deutschen Interpunktion und ihrer Reform 1462 – 1983. 44 Vgl. dazu unter anderem Müller : Rhetorische und syntaktische Interpunktion; Parkes: Pause and effect, S. 11 – 19.

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employed it was inserted by readers or, towards the end of the period, by scribes as they read their exemplars.45

Die hier erwähnte zentrale Funktion der Pausen ist in der antiken Rhetorik oft angesprochen worden. So betont beispielsweise Quintilian im elften Buch seiner Institutio Oratoria im Kapitel über den Vortrag, ›pronuntiatio‹,46 die Wichtigkeit der korrekt gesetzten Pausen, allerdings ohne einen Zusammenhang mit der Interpunktion herzustellen: secundum est, ut sit oratio distincta, id est: qui dicit, et incipiat ubi oportet et destinat. observandum etiam, quo loco sustinendus et quasi suspendendus sermo sit, quod Graeci rpodiastok^m vel rposticl^m vocant, quo deponendus.47

Zur Kennzeichnung der Pausen wurde in der Antike das System der ›distinctiones‹, zum Teil auch als ›positurae‹ bezeichnet, entwickelt, das beispielsweise der Grammatiker Donatus im 4. Jahrhundert in seiner Ars grammatica beschreibt.48 Es besteht aus den drei Punkten ›distinctio‹, ›media distinctio‹ und ›subdistinctio‹, die unterschiedlich hoch auf der Schriftlinie angeordnet werden. Die niedrig gestellte ›subdistinctio‹ bezeichnet eine kleine Pause im Satz, die ›media distinctio‹ auf mittlerer Höhe eine größere satzinterne Pause und die hochgestellte ›distinctio‹ eine finale Pause nach dem Ende eines Satzes beziehungsweise einer Periode.49 Bereits bei Donatus wird eine Beziehung zu der in der Rhetorik ausgearbeiteten Gliederung der Periode in Kola und Kommata angedeutet und im Mittelalter, wohl erstmals in Isidors von Sevilla Etymologiae, werden die drei ›distinctiones‹ regelmäßig mit den rhetorischen Satzteilen gleichgesetzt.50 Die ›subdistinctio‹ sei nach einem Komma einzufügen, die 45 Parkes: Pause and effect, S. 19. 46 Im antiken System der Rhetorik bildete die ›pronuntiatio‹ nach ›inventio‹, ›dispositio‹, ›elocutio‹ und ›memoria‹ das fünfte und letzte Stadium bei der Produktion einer Rede. 47 Quintilianus : Institutio oratoria, Lib. XI, Cap. 3, Abschn. 35. Zitat und Übersetzung nach der Ausgabe von Rahn, Bd. 2, S. 620 f. : »Die zweite Voraussetzung der Deutlichkeit besteht darin, daß die Rede deutlich gegliedert ist, d. h. daß der Redende an der gehörigen Stelle anfängt und aufhört. Es gilt auch zu betrachten, an welcher Stelle die Rede innezuhalten hat und gleichsam in der Schwebe zu halten ist, was die Griechen mit rpodiastok^ oder rposticl^ bezeichnen, und an welcher Stelle der Ton sich senken muß.« 48 Donatus: Ars maior, Pars I, Cap. 6. Zitiert nach der Ausgabe von Keil: Grammatici Latini, Bd. IV, S. 372: »Tres sunt omnino positurae vel distinctiones, quas Graeci h]seir vocant, distinctio, subdistinctio, media distinctio. distinctio est, ubi finitur plena sententia: huius punctum ad summam litteram ponimus. subdistinctio est, ubi non multum superest de sententia, quod tamen necessario separatum mox inferendum sit: huius punctum ad imam litteram ponimus. media distinctio est, ubi fere tantum de sententia superest, quantum iam diximus, cum tamen respirandum sit: huius punctum ad mediam litteram ponimus. in lectione tota sententia periodus dicitur, cuius partes sunt cola et commata [id est membra et caesa].« 49 Vgl. dazu Parkes: Pause and effect, S. 13. 50 So zum Beispiel bei Isidor von Sevilla: Etymologiae, Lib. I, Cap. XX, Abschn. 2. Zitiert nach

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›media distinctio‹ nach Kolon und die ›distinctio‹ nach einer Periode. Isidor bringt zudem eine etymologische Erklärung des Terminus ›positurae‹, die sowohl auf ihre graphische als auch auf die artikulatorische Komponente der Satzzeichen rekurriert. Der Name beziehe sich entweder auf das Setzen, ›ponere‹, der Punkte oder das zeitweise Beiseitelegen, ›deponere‹, der Stimme.51 Im Mittelalter bildeten sich neben den ›distinctiones‹ noch weitere Systeme zur Interpunktion aus. So wurde im liturgischen Bereich, in dem die richtige Artikulation und das korrekte Setzen der Pausen eine zentrale Rolle spielte, ein neues System der ›positurae‹ entwickelt.52 Die dort verwendeten Zeichen, insbesondere das Fragezeichen, wurden zum Teil auch in jenes Inventar von Satzzeichen übernommen, das sich im 12. und 13. Jahrhundert langsam als stabiler Kern der Interpunktion herausbildete. Im hohen Mittelalter wurde der einfache Punkt zum generell verwendeten Pausenzeichen, insbesondere zur Markierung finaler Pausen. Er diente aber auch als allgemeines Markierungsund Trennzeichen, beispielsweise um Namen oder römische Ziffern zu kennzeichnen. Um eine weitere Differenzierung zu ermöglichen, wurde der einfache Punkt durch Beizeichen ergänzt: Beim ›punctus elevatus‹, der größere satzinterne Pausen anzeigte, wurde der Punkt durch eine übergestellte Virgel ergänzt, beim ›punctus interrogativus‹ zur Kennzeichnung von Fragesätzen mit einer geschwungenen Linie. Zur Verdeutlichung von kleineren Pausen setzte sich die ›virgula‹, auch ›virgula suspensiva‹ in Abgrenzung zur waagrechten ›virgula plana‹, durch. Im späten Mittelalter wurde der Bestand noch um zusätzliche Zeichen wie das Ausrufezeichen, ›punctus exclamativus‹, das ›semicolon‹ und die ›parenthesis‹ erweitert.53 Ergänzend zu diesem System setzten sich die Kennzeichnung von Satzanfängen durch ›litterae notabiliores‹ und die Markierung von Paragraphen durch spezielle Zeichen durch. Im hohen und späten Mittelalter finden sich immer wieder Ausführungen zum Zusammenhang von Interpunktion und Artikulation, doch sind sie meist knapp und allgemein gehalten. So werden beispielsweise im Catholicon des Johannes Balbus, gestorben 1298,54 die Satzzeichen Colon, Comma und Periodus

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der Ausgabe von Lindsay, S. 47: »Prima positura subdistinctio dicitur; eadem et comma. Media distinctio sequens est; ipsa et cola. Vltima distinctio, quae totam sententiam cludit, ipsa est periodus; cuius, ut diximus, partes sunt cola et comma; quarum diversitas punctis diverso loco positis demonstratur.« Isidor von Sevilla: Etymologiae, Lib. I, Cap. XX, Abschn. 1. Zitiert nach der Ausgabe von Lindsay, S. 47: »Dictae autem positurae vel quia punctis positis adnotantur, vel quia ibi vox pro intervallo distinctionis deponitur.« Vgl. Parkes: Pause and effect, S. 35 – 40. Vgl. dazu ausführlich Parkes: Pause and effect, S. 41 – 49. Balbus: Catholicon, Bl. 64b. GW 03182. Hier zitiert nach der ersten Druckausgabe: »(C)Oma est punctum cum u(ir)gula sursum ducta. quando nec sentencia nec constructio est p(er) fecta. Et talis distinctio d(icitu)r suspensiua. (C)Olum est punctum sine ulla u(ir)gula.

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behandelt, ihre Pausenwerte dabei aber nur kurz angedeutet. Das Speculum doctrinale des Vinzenz von Beauvais, gestorben um 1294, zitiert zwar Isidors von Sevilla etymologische Erklärung des Terminus ›positurae‹, geht aber sonst nicht weiter auf die artikulatorischen Werte der Satzzeichen ein.55 Auch die von Francesco Novati edierten Interpunktionsanweisungen italienischer Rhetoriker des 13. und 14. Jahrhunderts56 beschreiben die Auswirkungen der Satzzeichen auf die Aussprache meist nur relativ knapp.57 Unter ihnen gibt lediglich der in Bologna tätige Rhetoriklehrer Pietro de’ Boattieri, ca. 1260 – 1319,58 in seiner Rosa novella super arte dictaminis eine ähnlich ausführliche Anweisung zur Artikulation der Pausen wie Ciceromanus’ Ars punctuandi.59 Insgesamt scheint es, dass im späten Mittelalter die Funktion der Satzzeichen als Pausenmarkierungen in den Hintergrund getreten ist. Möglicherweise besteht hier ein Zusammenhang mit der Etablierung des leisen Lesens als primärer Rezeptionsform von Texten im späten Mittelalter.60 In einer zunehmend visuell rezipierenden Einstellung zum geschriebenen Text, in der Schrift in erster Linie Basis eines leisen Lesens war, dienten Satzzeichen eher als syntaktische Gliederungshilfen, weniger als Artikulationsanweisungen und Pausenmarkierungen für das laute Vorlesen.

Ciceromanus und die gedruckten ›Artes punctandi‹ des 15. Jahrhunderts Für die literargeschichtliche Einordnung des Ciceromanus-Traktats ist ein Vergleich mit den weiteren im 15. Jahrhundert gedruckten Interpunktionsan-

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quando uidelice(t) co(n)structio est p(er)fecta. sed adhuc pendet intentio d(i)c(t)atoris. et talis distincc(i)o uocatur constans siue media. (P)Eriodus est punctum cum u(ir)gula deorsum deducta. quando nec constructio nec sentencia plus dependet. et talis distincc(i)o uocatur finitiua.« Vgl. dazu zum Beispiel die erste Druckausgabe, Vincentius Bellovacensis: Speculum doctrinale, Lib. IV, Cap. CXXXI, Bl. 86b. GW M50560. Vgl. Novati: Di un’ Ars punctandi erroneamente attributa a Francesco Petrarca. Zu bedenken ist dabei allerdings, dass die Texte überwiegend im Umfeld des italienischen Kanzleiwesens entstanden sind. Das laute Lesen von Schriftstücken dürfte in diesem Kontext eine untergeordnete Rolle gespielt haben. Zu Boattieri vgl. Zaccagnini: Le epistole in Latino e in volgare di Pietro de’ Boattieri. Vgl. Novati: Di un’ Ars punctandi erroneamente attributa a Francesco Petrarca, S. 113 – 115. Eine ähnlich ausführliche Darstellung bietet auch die um 1290 entstandene Summa dictaminis des Jacques de Dinant (Jacobus de Dinanto, gestorben nach 1300). Vgl. Polak: A textual Study of Jacques de Dinant’s Summa dictaminis, S. 70 – 74. Vgl. dazu grundlegend Illich: Im Weinberg des Textes; Saenger : Space between words. Vgl. hierzu auch Nikolaus Weichselbaumer in diesem Band mit seinem Beitrag »Sie sollen lesen bei Tag und bei Nacht«.

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weisungen von besonderem Interesse. Da hier nicht der Ort ist, alle im 15. Jahrhundert erschienenen grammatischen Werke auf ihre Anweisungen zur Interpunktion hin zu überprüfen, sollen im Folgenden nur jene Texte untersucht werden, die sich als selbständige Werke ausschließlich dem Thema der Interpunktion widmen und in der Inkunabelzeit gedruckt erschienen.61 Die bekannteste und am weitesten verbreitete Interpunktionsanleitung der Inkunabelzeit ist der Compendiosus dialogus de arte punctandi, der erstmals 1470 als anonymes Nachstück zur Orthographia des italienischen Humanisten Gasparinus Barzizius, ca. 1360 – 1431, gedruckt wurde62 und ab 1478 als Nachstück zahlreicher Ausgaben des Vocabularius breviloquus Johannes Reuchlins, 1455 – 1522,63 eine weite Verbreitung fand. In späteren Druckausgaben64 wurde der Text dem Humanisten Johann Heynlin von Stein, 1430 – 1496, zugeschrieben, inzwischen gilt jedoch Guillaume Fichet, 1433 bis ca.1480, als Verfasser.65 Bei der weiten Verbreitung des Compendiosus dialogus ist anzunehmen, dass auch Ciceromanus ihn kannte und möglicherweise als Vorbild seines Traktats nutzte. Diese These wird durch zahlreiche formale und inhaltliche Übereinstimmungen gestärkt: Auch Fichets Traktat ist als Dialog zwischen Lehrer und Schüler gestaltet, und wie Ciceromanus definiert Fichet die Satzzeichen zunächst grundlegend als »impressione[s] calami«66. Im Anschluss daran erklärt der Lehrer nacheinander Aussehen und Verwendung von Virgel, Comma, Colon, Periodus, Interrogativus und Parenthesis. Ciceromanus weicht hier zwar leicht von Fichets ›Ars punctandi‹ ab, indem er Colon, Comma und Virgel in ›absteigender‹ Reihenfolge behandelt, den Periodus ans Ende stellt und beim Interrogativus noch Admirativus und Exclamativus ergänzt. Die Formen und Funktionen der Satzzeichen stimmen in beiden Dialogen jedoch weitgehend überein.67 Anders als Ciceromanus ergänzt Fichet die sechs Grundzeichen al61 Eine Untersuchung der Interpunktionsanweisungen der im 15. Jahrhundert entstandenen humanistischen Grammatiken wie beispielsweise Nicolaus Perottus’, 1429 – 1480, Rudimenta grammatices oder Bernhard Pergers, gestorben um 1502, Grammatica nova würde an dieser Stelle zu weit führen. 62 Vgl. Barzizius: Orthographia. GW 03691. Zu Barzizius vgl. Mercer: The teaching of Gasparino Barzizza. 63 Die Erstausgabe des Vocabularius breviloquus erschien 1478 in Basel bei Johann Amerbach. GW M37896. 64 Erstmals 1493 in einer in Leipzig bei Arnold von Köln erschienenen Ausgabe, in der Fichets Text als Anhang zu einem fälschlicherweise Petrarca zugeschriebenen Traktat zur Zeichensetzung gedruckt wurde. GW M31529. Ein Nachdruck erschien in Leipzig um 1497 – 1500 bei Wolfgang Stöckel. GW M31533. 65 Zur Verfasserfrage des Dialogs vgl. Beltr‚n: Un trait¦ inconnu de Fichet sur la ponctuation. Beltr‚n verweist auf einen handschriftlich überlieferten Interpunktionstraktat Fichets, der zum Teil wörtlich mit dem Compendiosus Dialogus übereinstimmt. 66 Fichet: Compendiosus dialogus de arte punctandi, Bl. 234b. GW 03691. 67 Das Comma ist bei Ciceromanus als Doppelpunkt, bei Fichet als Punkt mit übergestellter

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lerdings durch zwei weitere, rein graphische Zeichen, die nicht zur Markierung von Sätzen beziehungsweise Satzzeilen benutzt werden: Das Auslassungszeichen, ›gemipunctus‹, wird beispielsweise in Briefen eingesetzt, wenn der Empfänger noch nicht bekannt ist, und der ›semipunctus‹ dient als Worttrennzeichen am Ende einer Zeile.68 Der Compendiosus dialogus endet mit der Frage des Schülers nach der Aussprache der Satzzeichen: »Et dic pariter si placet ! quo pacto pu(n)cta ipsa (ut dixisti) ostendunt uiam pronuntia(n)di?«, woraufhin der Lehrer die unterschiedlichen Pausenlängen bei Virgel, Comma, Colon und Periodus beschreibt: »Virgula eni(m) / dum pronuntias ! paruam temporis moram exigit. Comma / longisculam ! cum suspensa tame(n) uoce. Colon tandem et Periodus / prolixius interuallum desiderant.«69 Im letzten Jahrzehnt des 15. Jahrhunderts wurde Fichets Dialog in Leipzig mit mehreren weiteren Texten zur Interpunktion zu einem kleinen Sammelband vereinigt70 : Einer älteren Ars punctandi, die im Druck fälschlicherweise Francesco Petrarca zugeschriebenenwird,71 einer kurzen Übersicht über Aussehen und Verwendung der Satzzeichen, Generales punctorum formae,72 sieben ›Regeln‹ zur Verwendung der Satzzeichen, Artis huius regulae aliquae, und einer Übersicht zur Verwendung der Satzzeichen im liturgischen Kontext, Modus punctandi ecclesiasticus. Fichets Dialog bildet in diesem Verbund das zweite Stück. Die Petrarca zugeschriebene Ars punctandi, die Generales punctorum formae und die Regulae bieten gegenüber Ciceromanus und Fichet ein umfangreicheres Zeicheninventar, in dem zu den bereits genannten Zeichen noch Asteriskus und Obelus für die Kennzeichnung verdammens- oder bemerkenswerter Sätze73 sowie Zeichen zur Markierung von Appositionen und Synekdochen74 eingeführt

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Virgel ( ! ) beschrieben. Diese Form geht auf den mittelalterlichen, im liturgischen Gebrauch entwickelten ›punctus elevatus‹ zurück und wurde bei Ciceromanus zum Doppelpunkt vereinfacht. Vgl. Parkes: Pause and effect, S. 42 und S. 306. Vgl. Fichet: Compendiosus dialogus de arte punctandi, Bl. 235b. Der Semipunctus wird als einfacher Schrägstrich beschrieben, der Gemipunctus als zwei hintereinanderstehende Punkte. Fichet: Compendiosus dialogus de arte punctandi, Bl. 235b f. Anonymus [Petrarca]: Ars punctandi. GW M31529. Nach Francesco Novati war der Verfasser Jacobus Alpoleius de Urbisaglia. Daneben wird auch Coluccio Salutati als Verfasser diskutiert. Vgl. Novati: Di un’ Ars punctandi erroneamente attributa a Francesco Petrarca, S. 103 – 107. Anonymus [Petrarca]: Ars punctandi, Bl. 3b f.: »Iste sunt generales puncto(rum) forme.« Anonymus [Petrarca]: Ars punctandi, Bl. 2a: »[…] sententias damna(n)das vel denotandas.« Beide Zeichen konnten im benutzten Druck nicht dargestellt werden. Stattdessen wurden größere Spatien eingefügt, in die die Zeichen handschriftlich eingetragen werden konnten. Die im 15. Jahrhundert übliche Form des Asterisk war ein um 45 Grad gekipptes Kreuz mit einem Punkt in jedem der vier Winkel. Der Obelus wurde häufig als horizontaler Balken mit einem übergestellten Punkt dargestellt. Möglicherweise wurde dieser Teil erst im Druck ergänzt. In der Edition Novatis findet sich

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werden. Hinweise auf die Aussprache der Satzzeichen finden sich in diesen drei Traktaten nicht, wohl aber im letzten Stück, dem Modus punctandi ecclesiasticus. Er beschreibt den Gebrauch der Satzzeichen im liturgischen Kontext, wo sie zur Kennzeichnung des Tonfalls bei einer gesungenen Rezitation von Texten dienen.75 So zeigt beispielsweise das Comma eine absteigende Terz von Sol nach Mi an.76 In ähnlicher Weise werden auch Virgel, Interrogativus und Colon, das hier mit dem Periodus gleichgesetzt wird, behandelt. Der Modus punctandi ecclesiasticus bietet also sehr genaue Artikulationsanweisungen, beschränkt sich dabei aber auf den Bereich der Liturgie und ist somit nicht mit Ciceromanus’ oder Fichets Dialogen zu vergleichen. Die letzte Interpunktionslehre, die hier untersucht werden soll, ist der bislang von der Forschung kaum beachtete Dialogus de arte punctuandi des aus Piacenza stammenden Bartholomäus Scopesus.77 Er wurde erstmals in den letzten Jahren des 15. Jahrhunderts, also etwa zeitgleich mit Ciceromanus’ Dialog, in Paris bei Antonie Denidel gedruckt, ist aber möglicherweise deutlich früher entstanden. Der Text ist als Gespräch zwischen Scopesus, seinem Zögling Faustus und dem als Kanoniker aus Vercelli bezeichneten Ludovicus Gromis78 gestaltet. Mit Faustus ist vermutlich der aus Forl‡ stammende Humanist Publius Faustus Andrelinus, 1462 – 1518, gemeint, der ab 1489 Professor für Poesie und Rhetorik an der Pariser Universität war und bis zu seinem Tod 1518 in Frankreich lebte.79 Sofern es sich bei der beschriebenen Gesprächssituation nicht um eine literarische Fiktion handelt und Faustus tatsächlich Scopesus’ Schüler war, müsste der Dialog bereits in den 1470er- oder frühen 1480er-Jahren entstanden sein. Es ist denkbar, dass Faustus den Dialog seines Lehrers nach Frankreich mitbrachte und sich dort in der Pariser Offizin des Antoine Denidel um die Publikation des Texts bemühte. Scopesus’ Dialog behandelt ein weiteres Mal das Grundinventar von sechs Zeichen, Virgel, Comma, Colon, Periodus, Interrogativus und Parenthesis, das, wie bei Fichet, durch Semipunctus und Gemipunctus ergänzt wird. Die grammatischen Funktionen der Zeichen entsprechen den Beschreibungen bei Fichet

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der entsprechende Abschnitt nicht. Vgl. Novati: Di un’ Ars punctandi erroneamente attributa a Francesco Petrarca, S. 118. Vgl. dazu auch Kaufmann: Metrische Studien, S. 19 f. Anonymus [Petrarca]: Ars punctandi, Bl. 5a: »Tunc vox de sol in mi deprimatur. et sic fit descensus vnus tertie.« Scopesus: De arte punctuandi. GW M40999. Scopesus wird auf dem Titelblatt der einzigen bekannten Ausgabe als ›placentinus‹, aus Piacenza stammend, bezeichnet. Möglicherweise identisch mit dem ab den 1480er-Jahren in den Statuten der Stadt Biella, Piemont, mehrfach erwähnten Ludovicus de Gromis. Vgl. Sella: Statuta comunis Bugelle et documenta adjecta. Zu Faustus’ Biographie vgl. die Einführung in Andrelinus: Publi Fausti Andrelini Amores sive Livia, S. 1 – 118.

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und Ciceromanus. Zum Abschluss seines Dialogs geht auch Scopesus auf die Aussprache der Satzzeichen ein. Er weist dazu zunächst auf eine Parallele zur Musik hin, in der die korrekte Betonung eine wichtige Rolle spiele.80 Bei der ›pronuntiatio‹ einer Rede sei es wichtig, Stimme, Mimik und Gestik zu variieren, und eine Modulation der Stimme sei notwendig, um so unterschiedliche Sachverhalte wie Freude, Bewunderung oder Leid auszudrücken.81 Im Anschluss an diese generellen Vorschriften für den rhetorischen Vortrag geht Scopesus schließlich auf die Artikulation der Pausen, die durch die Satzzeichen angezeigt wird, ein: »Virgula enim dum pronuncias paruam pausam facit Coma longisculam: Colon et periodus maiorem intermissionem et prolixiorem postulant.«82 Die Pausen werden also, ähnlich wie in der ›Ars punctandi‹ Fichets, nach ihrer Länge unterschieden, nicht aber nach ihrer Betonung, also Stimmhebung und -senkung, wie bei Ciceromanus.

Das laute Lesen als humanistische Lektürepraxis Auch wenn sich die drei von Fichet, Ciceromanus und Scopesus verfassten humanistischen Interpunktionsdialoge in Details unterscheiden, sind ihre Gemeinsamkeiten unübersehbar. Sie bieten nicht nur ein fast identisches Repertoire an Interpunktionszeichen, sondern in allen drei Texten zeigt sich ein deutliches Interesse am Verhältnis der Interpunktion zum lauten Lesen. Mit der Idealisierung der Antike durch die Humanisten gewann das ›Ideal des Orators‹83 wieder an Aktualität. Dadurch wurden auch die Pausen, die in der antiken Rhetorik eine essentielle Rolle in der ›pronuntiatio‹ der Rede spielten, und die Satzzeichen als Markierungen der Pausen Themen im grammatischen und rhetorischen Diskurs. Die gedruckten ›Artes punctandi‹ des 15. Jahrhunderts zeigen deutlich, dass im humanistischen Schulbetrieb Lesen und Vorlesen eng miteinander verbunden waren und die Notwendigkeit bestand, die Auswirkungen der Interpunktion auf die Aussprache zu regulieren.

80 Scopesus: De arte punctuandi, Bl. 3b: »Sed michi visus es hanc punctuandi mensuram musice consonasse. […] Nam Musica scientia est bene modulandi. Hec aut(em) vocib(us) constat vocu(m) aut(em) alia est gravior alia acutior […]« 81 Scopesus: De arte punctuandi, Bl. 3b: »Et in pronu(n)ciacione vocis exte(n)sio remissio / flexus / necesse sit vt si gra(n)dia et fortia proferre voluerim(us) ellate Si iocunda dulciter Si moderata leuiter / Si admiracione aut exclamacione digna Aut si misericordia(m) petimus congruenti et accomodata voce p(ro)nu(n)ciamus« 82 Scopesus: De arte punctuandi, Bl. 3b f. 83 Vgl. dazu Parkes: Pause and effect, S. 19.

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Mechthild Habermann

Lesenlernen in der Frühen Neuzeit Zum Erkenntniswert der ersten volkssprachlichen Lehrbücher

Studien zur Lesekompetenz, Lesemotivation oder Leseförderung stehen in der Forschung des 21. Jahrhunderts hoch im Kurs.1 Fragen nach der Lesekarriere, dem Leseverhalten und den Lesegewohnheiten im Zeitalter von Multimedia erhalten eine neue Bedeutung, die nicht nur die Kommunikations- und Medienwissenschaft als universitäre Disziplinen betreffen, sondern pädagogische und bildungspolitische, soziologische und kulturwissenschaftliche Aspekte ebenso mit einbeziehen wie die wirtschaftliche Zukunft des Buchmarkts. Im Zeitalter der Erfindung des Buchdrucks scheint die Vielschichtigkeit der heutigen Fragestellungen zweifellos auf die eine reduziert zu sein: Wie lernt man lesen? Seit dem letzten Viertel des 15. Jahrhunderts entstanden immer wieder Leselehren, die in der Regel auch im Druck erschienen sind.2 Sie legen Zeugnis davon ab, dass der Lesekompetenz aus unterschiedlichen Motiven heraus ein zunehmend bedeutender Stellenwert eingeräumt wurde, bildete sich doch allmählich, wenngleich keineswegs kontinuierlich, ein Markt für das gedruckte Buch heraus.3 Die im Folgenden dargestellten Leselehrwerke rechtfertigen die Kunst zu lesen und geben Einblick, welcher Wert Buchstaben beigemessen wird und wie 1 Vgl. zum Zusammenspiel dieser Aspekte Heinz Bonfadelli mit seinem Beitrag Zur Konstruktion des (Buch-)Lesers sowie Lilian Streblow und Anke Schöning mit ihrem Beitrag Lesemotivation in diesem Band. 2 Eine Ausnahme bildet zum Beispiel der nur handschriftlich überlieferte, aus dem Jahr 1477 stammende Modus legendi des deutschen Schulmeisters Christoph Hueber aus Landshut; vgl. hierzu Müller: Quellenschriften und Geschichte des deutschsprachigen Unterrichtes bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts, S. 9 – 13 und S. 337 – 373. Signatur der Handschrift: BSB München, Cgm 216 (5), Bl. 2r–4r. 3 Mit diesem Beitrag soll an zentrale Forschungsgebiete von Ursula Rautenberg angeknüpft werden, die sich in zahlreichen Publikationen nicht nur mit dem Buchdruck des 15. und 16. Jahrhunderts beschäftigt, sondern auch einen interdisziplinären Zugang für die Buchwissenschaft des Öfteren eingefordert hat, vgl. Rautenberg: Die Entstehung und Entwicklung des Buchtitelblatts in der Inkunabelzeit in Deutschland, den Niederlanden und Venedig; dies.: Das Lesen sehen: Bilder von Büchern und Lesern am Beginn der Frühen Neuzeit; dies.: Buchwissenschaft in Deutschland.

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man sich ihre Zusammensetzung zu Wörtern vorzustellen hat. Für die Herausbildung der Orthographie des heutigen Deutsch war der Erwerb der Kulturtechnik des Lesens ganz entscheidend. Denn seit Langem ist bekannt, dass sich die Rechtschreibung des Deutschen von einer anfänglich produktionsorientierten Graphie nach dem Motto ›Schreib, wie du sprichst‹ hin zu einer rezeptionsorientierten Orthographie entwickelt hat. Die Anfänge der Neuausrichtung der orthographischen Regelung weg von einer Schreibproduktion ohne Vorhandensein starrer Regularien hin zu einer Graphie, die die Produktion beim Schreiben zwar erschwert, dafür aber die Rezeption beim Lesen erleichtert, liegen in der Frühen Neuzeit. Der nachfolgende Beitrag will einen Einblick in die Anfänge der Reflexion über das Lesen und Lesenlernen bieten; hierbei stehen die Schriften Valentin Ickelsamers im Mittelpunkt. e

Valentin Ickelsamer: Die rechte weis / auffs kurtai_t le_en au lernen (1534) e

Valentin Ickelsamer bietet in den beiden Schriften Die rechte weis / auffs kurtai_t le_en au lernen und Teut_che Grammatica die intensivste Auseinandersetzung mit dem Thema des Lese-Erwerbs in der Frühen Neuzeit. Der Verfasser wurde um 1500 wohl in Rothenburg ob der Tauber geboren und starb in den 1540er-Jahren in Augsburg. Er studierte ab 1518 an der Universität Erfurt. Zunächst war er Anhänger Martin Luthers, bevor er sich der sozialrevolutionärem Gedankengut verpflichteten Schwärmerbewegung Karlstadts anschloss. Zeitweise unterhielt er eine Schule in e Erfurt, wo er auch Die rechte weis / auffs kurtai_t le_en au lernen veröffentlichte. Die Schrift stellt das Vorgängerwerk zu seiner Teut_che[n] Grammatica dar.4 Der Zweck der älteren Unterweisungsschrift zeigt sich darin, dass der Lesekundige das Wort Gottes und die Auslegung der Theologen selbst lesen und sich deshalb ein besseres Urteil erlauben kann:

4 Zu Leben und Werk vgl. Niederer : Ickelsamer, Valentin, S. 112 f.; Giesecke: Alphabetisierung als Kulturrevolution, S. 143 – 165. Während Niederer als Todesjahr noch 1541 angibt, korrigiert Giesecke aufgrund der Angaben im Steuerregister der Reichsstadt Augsburg das Todesjahr auf 1546 beziehungsweise 1547. Zum Werk vgl. Müller : Quellenschriften und Geschichte des deutschsprachigen Unterrichtes bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts, S. 396 – 407; Jellinek: Geschichte der neuhochdeutschen Grammatik von den Anfängen bis auf Adelung, S. 47 – 51, § 20; Moulin: Deutsche Grammatiken vom Humanismus bis zur Aufklärung, S. 23 – 25; Giesecke: Alphabetisierung als Kulturrevolution, S. 164. Fechner : Vier seltene Schriften des sechzehnten Jahrhunderts bietet eine diplomatische Abschrift des Drucks von 1534. Eine erste Ausgabe wurde 1527 von Johannes Loersfeldt in Erfurt gedruckt.

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Le_en konnen hat inn langer aeit nie _o wol _einen nuta gefunde˜ / als itao / dweyls _eer ein yeder da jjrumb lernet / das er Gottes wort / vnd et=jjlicher Gotgelerte˜ menner e e außlegung / dar jjuber _elbs le_en / vnd de_to bas darinn vr= jjteylen moge.5

Die Notwendigkeit, lesen zu können, ist in vielen, wenngleich nicht allen Leselehren mit der im Zuge der Reformation feststellbaren Aufwertung der deutschen Sprache verbunden. Die Bibel und deren Auslegung kann nun auf Deutsch, in der Volkssprache, gelesen werden. Lesen ist demnach religiös motiviert: Es gewährt einen direkten Zugang zur Bibel und damit zum Wort Gottes, ermöglicht die Rezeption der Auslegungen und erlaubt, sich auf dieser Grundlage ›de_to bas‹, umso besser, ein eigenes Urteil zu bilden. Lesen bedeutet, ganz im Sinne des humanistischen ›ad fontes‹, einen direkten Zugang zu den Quellen zu haben und durch Vergleich verschiedener Meinungen zu einem eigenen Urteil zu kommen. Lesen leitet demnach Emanzipationsprozesse ein, weil es Mittelspersonen, die des Lesens Unkundige nicht nur belehren, sondern auch verführen, überflüssig macht und zu Selbständigkeit und Unabhängigkeit erzieht. Halt geben allein die Buchstaben, die in direkten Zusammenhang zur ›rede‹, zur gesprochenen Sprache, gestellt werden, dar jjauff alle rede erhalten wird vnd _tehet / wie ein hauß auff _einen _ewlen odder balcken enthalten _tehet / darumb _ie auch buchsta= jjben oder buch_tecken hei__en / das _ie die re= jjde halten.6 e

Denn die Buchstaben sind »teyle eines worts«, die »mit den naturlichen in_trumenten der aungen vnd des munds ge_prochen vnnd ausgeredt«7 werden. Um den Vorgang des Lesens zu veranschaulichen, greift der Autor wiederum zur ›Steckenmetapher‹: Den˜ / le_en i_t nichts anders / den˜ ei jjne˜ buch_tabe˜ nach dem andern ergreiffe˜ / da jjran man _ich halte / wie ein _tabe od‘ _tecke˜ / wen˜ man nun einen vberhupfft / oder gehen le_t / _o felt man.8

Ickelsamer bemüht sich, das Lesen als natürlichen Vorgang plastisch vor Augen zu führen, dem, da er gottgewollt ist, nichts Gelehrtes anhaftet. Hiervon zeugen zum einen die Metaphern, die den ›Lesevorgang‹ mit einem natürlichen ›Gang‹ in Verbindung bringen. Zum anderen wird der Versuch unternommen, auch die Buchstaben-Laut-Beziehung als eine ›natürliche‹ Beziehung zu erklären, da Formen der geschriebenen Buchstaben Vorbilder in der Natur haben, die ikonisch auf den entsprechenden Lautwert verweisen: Beim Erlernen der Konsonanten werden zum Beispiel pädagogische Hinweise der folgenden Art gegeben, 5 6 7 8

Ickelsamer : Die rechte weis, Bl. A 2r. Ickelsamer : Die rechte weis, Bl. A 3r ; vgl. auch Ickelsamer: Teut_che Grammatica, Bl. A 6v. Ickelsamer : Die rechte weis, Bl. A 3r. Ickelsamer : Die rechte weis, Bl. A 6r.

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die dazu führen, dass der Lesen-Lernende Formähnlichkeiten zwischen einem oder

und den aufgeblasenen Backen der Pfeifer erkennen kann: Man mag aber die_e _tumbe buch_taben den le_en lernenden durch gleichni__en vn˜ e e deutungen furgebe˜ / vn˜ _ie wei_en mit wel= jjchem organo oder geru_t _ie im mund ge= jjmacht werde˜ / als das b mit _einem gleich jjen p _chickt _ich al_o / das man den odem mit zuge_pertem mund halten mus / das er / die backen aufftreibt / wie einem pfeiffer / aljj lein das p i_t herter.9

Während die Buchstaben und

in ihrer graphischen Gestalt die artikulatorische Bewegung des Aufblasens der Wangen bei der Produktion des Lauts [b] und [p] nachzeichnen, sind andere Konsonanten dadurch motiviert, dass sie in der Natur gehört werden können: e

Das g wie die gan_e pfeiffen / wen _ie einen an lauffen au bei_en. Das h wie man mit o einem _tarcken odder _charpffen odem in die hende haucht. Das l wie der ochs lullet. 10 Das m wie die kwe brumet.

Auch in seiner später erschienenen Teut_che[n] Grammatica werden die Laute mit ähnlichen Vergleichen beschrieben. Dort merkt er aber erkennbar deutlicher als in der Unterweisungsschrift an, dass zwischen den Buchstaben und ihren Lauten keine Eins-zu-Eins-Beziehung besteht, so dass nicht ohne Weiteres von einer direkten Bezogenheit ausgegangen werden kann.11 Ickelsamer ist sich der Grenzen ikonischer Beziehbarkeit bewusst, erkennt die Andersartigkeit der Schreibebene gegenüber der Lautebene und versucht, die Schreibebene in ihrer eigenen Wertigkeit zu fassen. Hier vollzieht sich die Trennung zwischen einer ausschließlich auf die Lautebene bezogenen Schriftlichkeit und einer Schreibebene, die darüber hinausgeht. Trotz dieser zukunftsweisenden Erkenntnis bleibt dennoch für Ickelsamer hinsichtlich des Lese-Erwerbs der Bezug auf die Lautsprache zentral: Wer sich schwer tue, einen Konsonanten auszusprechen, solle den betreffenden Buchstaben jeweils mit den fünf Vokalen, den ›lautbuch_taben a, e, i, o, u‹, kombinieren, wie etwa zu ›ba‹, ›be‹, ›bi‹, ›bo‹ oder ›bu‹. Aber Ickelsamer unterscheidet eindeutig zwischen einer Lautung der jeweiligen Konsonanten, wenn sie für sich alleine stehen, wie etwa bei der Aufzählung des Alphabets, und ihrer Lautung im Verbund mit anderen Selbst- und Mitlauten, wie etwa in einem Wort. Nur wer letztere Lautung kennt, kann gut lesen, denn das Abc aufzählen können macht 9 Ickelsamer: Die rechte weis, Bl. A 6v. 10 Ickelsamer: Die rechte weis, Bl. A 7r. 11 Im Lateinischen habe zum Beispiel in ›ergo‹ und ›ego‹ einen unterschiedlichen Lautwert, und auch bei deutsch ›man‹ spreche man das nicht, was heute kurios anmutet, vgl. hierzu Ickelsamer: Teut_che Grammatica, Bl. A 8v–B 1r. Zur vergleichenden Beschreibung der Konsonanten und zum Zusammenfall des Lautwerts bei unterschiedlichen Buchstaben wie und vgl. Ickelsamer: Teut_che Grammatica, Bl. B 1r–B 4r.

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noch keinen Leser. Aus diesem Grund gilt er als Vertreter der Lautiermethode, der zudem dem Lernenden vorschlägt, das Lesenlernen nach Lesesilben vorzunehmen.

Valentin Ickelsamer: Teut_che Grammatica (um 1535) e

Im Unterschied zur Unterweisungsschrift Die rechte weis / auffs kurtai_t le_en au lernen, die auf das Notwendigste beschränkt ist und nur wenige Erklärungen des Dargebotenen enthält, ist Ickelsamers Teut_che Grammatica nicht nur eine Weiterführung des Vorgängerwerks, sondern auch eine theoretische Fundierung der Bedeutung, die dem Lesenlernen letztlich zukommt.12 Die Schrift Ickelsamers ist die erste Teut_che Grammatica des Deutschen überhaupt, bei der es sich zudem nicht um eine Übertragung einer lateinischen Grammatik, wie etwa die des Donat, ins Deutsche handelt: Wer aber maint / es _ey kain Gram jjmatica / die nit alles kinderwerck lere / das in der o Lateini_chen Grammatic i_t / Darzu _ag ich / das der vns noch lang kain Teüt= jj_che Gra˜matic geben oder be_chriben hatt / der ain Lateini_che für _ich nymbt / vn˜ ver= jj teüt_cht _y / wie ich jr ettwa wol ge_ehe˜ […]. [Jemand, der eine Teut_che Grammatica schreiben will, muss] trachten nach dem e o grund vn˜ vr_prung der acht hauptworter der rede tayl / vnd jrer Accidentien / vnd muß e die nit verteüt_chen wie _y in den gemaine˜ kinder Donaten verteüt_cht _ein […].13

Da eine Teut_che Grammatica von Nutzen sein muss, steht in erster Linie das Lesenlernen im Vordergrund, das nun dezidiert als nützliche und notwendige Fähigkeit des einfachen Mannes apostrophiert wird und das ohne Schulmeister und Bücher gelernt werden könne: Es würdt auch ain yeder / der aum rechten vr_prung des le_ens geden= jjcken vnd ˜ en würdt (wie di_es bue chlin anaaiget) erkenne˜ / das es ain heraliche gab Gottes i_t / kum vnd das _y ain holtahawer / ain hyrdt auff dem velde / vn˜ ain yeder in _einer arbait one o e Schulmai_ter vnd Bucher ler= jjnen mag […].14 12 Zur ersten deutschen Grammatik vgl. Rössing-Hager : Konzeption und Ausführung der ersten deutschen Grammatik, S. 534 – 556; vgl. dies.: Frühe grammatische Beschreibungen des Deutschen, S. 779 – 781. Zur Frage, wann die erste Ausgabe der Teut_che[n] Grammatica erschienen ist, vgl. Müller : Quellenschriften und Geschichte des deutschsprachigen Unterrichtes bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts, S. 416 – 419; Giesecke: Alphabetisierung als Kulturrevolution, S. 152 – 161. Bei der im Folgenden verwendeten Ausgabe aus Augsburg, ca. 1535, die online verfügbar ist, handelt es sich wohl um die Erstausgabe, die nach Giesecke spätestens auf das Frühjahr 1533 datierbar ist, vgl. hierzu Giesecke: Alphabetisierung als Kulturrevolution, S. 155. 13 Ickelsamer: Teut_che Grammatica, Bl. A 1v f. 14 Ickelsamer: Teut_che Grammatica, Bl. A 4r.

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Darüber hinaus bezeichnet er das Lesen als eine ›subtile Kunst‹, die leicht zu erlernen sei: Vnd i_t di_es le_en ain _olche kun_t / das _y ainer in ainem tag aur nott mag ler= jjnen […].15

Stärker als in seiner früheren Schrift betont Ickelsamer die Bedeutsamkeit des Leseverstehens, da Lesen mehr sei als die Aufnahme schriftlicher Zeichen und Umwandlung in Laute. Deshalb gibt er den Rat, dass […] ainer der ain wort reden oder _chreyben will / fley__ig auffmerckung hab auff die bedeüttung vnd Compo_ition de__elben worts […].16

Da der Blick auf die Bedeutung und Zusammensetzung der Wörter für wichtig erachtet wird, geht Ickelsamer weit über eine rein additive Aneinanderreihung der einzelnen Buchstaben beim Lesen hinaus. Der ›Sinn‹ der Wörter, der eine ganzheitliche Erfassung des Worts voraussetzt, macht erst richtiges Lesen möglich. Eine Trennung zwischen bedeutungstragenden Einheiten, das heißt den Morphemen, und den phonetisch-artikulatorischen Einheiten, den Silben, ist Ickelsamer nicht bekannt. Vielmehr scheint er beide Ebenen als untrennbar miteinander verbunden zu betrachten, wenn er für das Wort ›Für_te‹ etwa empfiehlt, in die Silben ›Für‹ und ›_te‹ zu teilen, da seine Bedeutung von den beiden Wörtern ›für‹ und ›_tehn‹ komme: das ain Für_te i_t vnd _oll _ein / der _einem volck ge= jjtrewlich für_tehe […].17

Die Silbe unterliegt aber auch den Gesetzen des Wohlklangs, der »Euphonia / da e i_t des lauts wol_tand / die di_er ding fürnam_te mai_terin vn˜ lererin i_t […].«18 Sie wirkt sich zum einen auf die korrekte Artikulation einzelner Laute aus, wie zum Beispiel auf vor , das in dem von Ickelsamer gewählten Beispiel ›trinken‹ nicht als [n], sondern vielmehr als [N] artikuliert wird. Eine korrekte Akzentuierung ist zum anderen nur dann möglich, wenn das Wort in seiner Silbenstruktur gesamthaft ›überschaut‹ werden kann. Ohne dass der Autor auf das für das Deutsche typische Wechselspiel von betonten und unbetonten beziehungsweise nebentonigen Silben eingeht, gewährleistet nur die Unterscheidung der Silbenqualitäten eine natürliche, akzentfreie Aussprache des Deutschen.19 15 16 17 18 19

Ickelsamer: Teut_che Grammatica, Bl. A 5v f. Ickelsamer: Teut_che Grammatica, Bl. A 4v. Ickelsamer: Teut_che Grammatica, Bl. D 1r. Ickelsamer: Teut_che Grammatica, Bl. D 2r. Ungeübte Leser neigen heute (wie damals?) dazu, unbetonte Silben, die etwa zur Kennzeichnung der Flexion dienen, beim Lesen stark zu betonen. Eine Wortsprache wie das Deutsche ist aber durch unterschiedliche Silbenqualitäten gekennzeichnet. Die Unterschiede in der Silbenqualität haben bereits in der Frühen Neuzeit existiert. So verweist Ickelsamer

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Seiner Zeit weit voraus erkennt Ickelsamer, dass Lesen eine genauere und bessere Aussprache der Wörter ermögliche, da eine Orientierung an den Buchstaben und deren Lautwert Fehler vermeiden helfe. Denn wenn der Leser o

das _elbig wort oder _eine tayl / das i_t / die buch_taben vor in _ei= jjne oren neme / vnd frag _eine aungen wie es kling / hart oder waich / vnd was es aigent= jjlich für laute hab / o o dann _olches würdt der leichtlich thun künden / der der buch_taben vnd des le_ens e berichtet / wie in di_em buch= jjlin geleret würt / dem würdt pater nit hai_= jj_en bader / noch no_ter noßder / oder _cribo _chribo / auch teüfel nitt teüffel / würdt jm auch nit aines _ein den vn˜ denn / vn˜ des vil. Darumb wer auff di_e weis le_en lernet / der lißt auch o das Latein vil leichter vnnd bas, dan˜ ders lernet durch das gemain buch_ta= jjben / wie 20 mans nennet […].

In der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts befördert die Leseaussprache nur eine korrekte Aussprache des Lateinischen. Da die deutsche Orthographie nicht annähernd einheitlich ist, konnte eine standardisierte Aussprache des Deutschen noch nicht Thema sein. Heute gilt die Aussprache des Hochdeutschen durch norddeutsche Sprecher, insbesondere der Gegend um Hannover, als die beste Aussprache des Deutschen. Historisch gesehen handelt es sich um eine Leseaussprache, die sich dadurch herausgebildet hat, dass Sprecher des Niederdeutschen Schriften, die hochdeutschen Lautstand aufwiesen, (vor-)lasen. Eine wichtige Rolle spielte in diesem Zusammenhang die Bibel in der Übersetzung Martin Luthers. Als Methode zum Lese-Erwerb propagiert Ickelsamer im Folgenden den Weg vom Wort zum Buchstaben und nicht umgekehrt, vom Buchstaben zum Wort: Wer vo˜ jm _elbs / od‘ auch _un_t von aine˜ lermai_ter bald vnd leichtlich will le_en ler= jj e nen / der gedenck wider_ynnes das / a / be / ce auß den wortern vn˜ rede / vnd nit die e o o wor= jjter auß dem / a / be / ce / wie wir yetat thun / au lernen […].21 Wer nun al_o ain yedes wortt ab_etaen kündt in _eine tayl / der kündt warhafftig _agen / o Er het das le_en von jm _elbs geler= jjnet / ehe er ye ainen buch_taben het kennet […] e o vnd wer dan˜ al_o die buch_taben in den wortern vrtailen vnd erkennen kündt / der e bedorfft darnach nit mehr / dan˜ das man jm für augen aay= jjget vnd wey_et wie die e o ˜ vnd namen er vor in den wortern buch_taben ain form vnd ge_talt hetten / deren _tym 22 gelernet hett.

Der Weg vom Wort zum Buchstaben, der ein sinnorientiertes Erfassen sprachlicher Einheiten in ihrer Gesamtheit möglich macht, ist aus heutiger Sicht erzum Beispiel darauf, dass ›jckel‹ (das heißt ›Igel‹) als ›Jkl‹, also mit einer betonten und einer unbetonten Silbe, ausgesprochen wird, vgl. Ickelsamer: Teut_che Grammatica, Bl. B 1r. Vgl. hierzu auch Penzl: Valentin Ickelsamer und die Aussprache des Deutschen im 16. Jahrhundert, S. 220 – 236. 20 Ickelsamer: Teut_che Grammatica, Bl. B 5r. 21 Ickelsamer: Teut_che Grammatica, Bl. B 5v. 22 Ickelsamer: Teut_che Grammatica, Bl. B 7r f.

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staunlich fortschrittlich. Der Blick für derartige Innovationen in der ersten deutschen Grammatik geht verloren, wenn Ickelsamer einzig und allein auf das Schlagwort ›Anhänger der Lautiermethode‹ und ›Gegner der Buchstabiermethode‹ reduziert wird. Gerade durch ein am Wortsinn orientiertes Lesen komme die deutsche Sprache zu ihrem Recht und werde als ›vernünftig‹ begriffen. Denn o im Unterschied zu den Juden, die »_chier mit allen buch_taben jrer _prach / al_o _cher=jjtzen vn˜ Philo_ophieren«, so ist in den deutschen Wörtern auch _olcher kun_t nitt wenig / Aber es i_t _o gar in vnbrauch / vnver_tand vnd vergeß e ˜ en / das ich glaub / das nitt ain Nation _ey / die jrer worter vnnd _prach weniger kom ver_tand vnd vr_ach wi__e vnd geben künd / dan˜ die Teüt_chen.23

Nach Wolf Peter Klein bediente sich Ickelsamer Muster »kabbalistischen Sprachdenkens, um die Elemente seiner Muttersprache mit einem außerordentlichen Vermögen auszustatten«.24 Die ursprüngliche Bedeutsamkeit von Sprache bezeugt deren Schöpfung durch Gott. Das Wiederentdecken von Vergessenem und Aufdecken der nicht mehr erkennbaren ursprünglichen Bedeutung der einzelnen Sprachelemente rechtfertigten bis ins 17. Jahrhundert hinein eine philologische Beschäftigung mit dem Deutschen. Die Sichtbarmachung der Wörter durch die Schrift und ihre Rezeption durch verständnissicherndes Lesen zwingt zu einer Beschäftigung mit dem Wort, das als eine feste Einheit von Form und Inhalt wahrgenommen wird. Dass aber gerade das materialisierte schriftliche und weniger das flüchtige gesprochene Wort über seine Rezeption Anlass zu etymologischen Überlegungen gibt, liegt aus nachvollziehbaren Gründen auf der Hand: Die im Prozess des Lesens erforderliche kognitive Leistung der Konstituierung von Sinn evoziert weitere kognitive Prozesse wie die nach der Dechiffrierung der ›geheimen Botschaften‹ der Sprachzeichen durch deren philologisch-etymologische Erforschung. Dass hierbei die meisten Etymologien aus heutiger Sicht höchst spekulativ und wissenschaftlich nicht haltbar sind, tut dem Ideengerüst keinen Abbruch: Lesen ist der Schlüssel zum Verstehen, und Verstehen ist der Schlüssel zum Wissen.25 Ickelsamers Teut_che Grammatica ist in mehrfacher Hinsicht äußerst modern und zukunftsweisend. Sie steht für ein ausgesprochen vielschichtiges Gedankengebäude, das sich abschließend in acht Punkten zusammenfassen lässt: Die Befürwortung der Lautiermethode und ihre Anwendung beim Lesenlernen ist erstens eine Absage an die Methoden anderer Schulmeister, die den Lese-Erwerb über das Alphabet mittels Buchstabiermethode mit Nennung der Buchstabennamen wie ›a‹, ›be‹ und ›ce‹ vermitteln. 23 Ickelsamer: Teut_che Grammatica, Bl. D 3r f. 24 Klein: Am Anfang war das Wort, S. 81. 25 Zum Wandel des Lesens hin zum Verstehen vgl. Nikolaus Weichselbaumer in diesem Band mit seinem Beitrag »Sie sollen lesen bei Tag und bei Nacht«.

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Mit der Lautiermethode stellt Ickelsamer zweitens Grundfertigkeiten des Menschen in den Mittelpunkt, die von jedermann erworben werden können. Denn die Lesekunst ist ein Geschenk Gottes und erlaubt dem Menschen direkten Zugang zum Wort Gottes. Als Gabe Gottes sind die Buchstaben drittens ›natürlich‹: So verweist die Form einiger Buchstaben direkt auf deren Lautwert, indem die Artikulationsbewegung nachgestaltet wird wie bei [b] und [p]. Grundsätzlich ist der Lautwert aller Buchstaben in der Natur, beispielsweise [g] bei Gänsen, [m] bei Kühen, oder in der Erfahrungswelt der Menschen wie [h] beim Hauch in die Hände präsent. Der Prozess des Lesens setzt viertens eine Reihe kognitiver Prozesse in Gang, die auch heute in Laut- und Schreiblehren eine bedeutende Rolle spielen: Die Beziehung des Buchstabens zum Laut, also die sogenannte Graphem-PhonemKorrespondenz, die Assoziation des Lauts mit seinem ›natürlichen‹ Vorkommen, das heißt die phonetische Motivation, die Koartikulation von Lauten / Buchstaben im Wort, also die Phonotaktik, die Beziehung zwischen der formalen Gestalt der ›Silbe‹ und ihrem Inhalt, das heißt die Morphologie, und die Beziehung der Wortform zu ihrer Bedeutung, nämlich die Lexikologie. Durch den Prozess des Lesens erhält fünftens der geschriebene Text eine eigene Wertigkeit, die sich dadurch auszeichnet, dass die Schreibebene eigenen Gesetzen folgt: So besteht weder eine Eins-zu-eins-Beziehung zwischen Buchstabe und Laut, noch haben Abkürzungen und Interpunktionszeichen als essentielle Elemente der Schreibebene eine Entsprechung auf der Lautebene. Im Unterschied zur Flüchtigkeit der Lautsprache rücken im geschriebenen Text sowohl die Wortform als auch die beim Lesen notwendige Auseinandersetzung mit ihr deutlich in den Fokus. Die Trias Lesen – Verstehen – Wissen wird sechstens auf kognitiver Ebene durch Visualisierung aufeinander bezogen und miteinander vernetzt. Sie setzt mögliche Assoziationen in Gang, wenn etwa der Buchstabe mit der Vorstellung eines mit beginnenden ›Mönchs‹ gekoppelt wird26 oder das visualisierte Wort ›Weinnachte˜‹ von der Wortform her eine mögliche Etymologie zu ›Wein‹ nahelegt.27 Sowohl beim Lesen als auch bei der philologischen Arbeit des Etymologisierens geht es darum, ›hinter die Sachen zu blicken‹. Der Erkenntnisgewinn besteht zum einen in der Umsetzung geschriebener Buchstaben in tatsächliche oder imaginierte Lautsprache und zum anderen darin, dass mit 26 Ickelsamer propagiert hierfür den Einsatz von Bildtafeln. Der Buchstabe ist in diesem Fall mit einem abgebildeten ›Münch‹ verbunden, vgl. Ickelsamer : Teut_che Grammatica, Bl. C 1v. 27 Vgl. Ickelsamer : Teut_che Grammatica, Bl. D 5v f.: »Weinnachte˜« komme »von ainer weyo nige nacht die man mit weintrincke˜ hat aubracht«, ein Brauch, der noch aus heidnischer Zeit herrühre und den ein guter Christ nicht unbedingt befolgen solle.

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der Aufdeckung ursprünglicher Bedeutung »etliche tieffe gehaimnuß«28 gelüftet werden. Verstehen und Wissen konservieren siebtens die Sprache, denn die Kenntnis der ursprünglichen Bedeutung verhindert, dass Wörter sich ändern und für ihre Benutzer noch unverständlicher werden.29 Auch in der Orthographie gebe es Unverständliches, so etwa zu viele, zu wenige oder falsche Buchstaben und unnötige Doppelungen im Wort. Wenngleich Ickelsamer Kritik an der in den Schriften praktizierten Rechtschreibung übt, geht er nicht den Schritt, die gängige Praxis ändern zu wollen.30 Wie die Ordnung der Buchstaben im Wort, so erfüllt achtens die Interpunktion die Ordnung in der ›rede‹, das heißt im geschriebenen Text: Wie ain leib hat _eine gelencke vnd gli= jjder / dadurch alles ordenlich vn˜ vnter_chid jj e lich an ainander hangt / Al_o hat die rede jre formliche ordnung vnnd taylung / da= jj durch _y be_tehet vnnd auffainander ge= jjfüegt würd […, denn sie] nutaet _er o auuer_tehen der re= jjden _ynn.31

Die vier Teile der Teut_che[n] Grammatica, die Leselehre, Etymologie, Orthographie und Interpunktion, bilden zwar aus heutiger Sicht nicht den Kernbereich einer Grammatik, sind aber bei Ickelsamer auf das Engste aufeinander bezogen. Sie stellen die Anfangsgründe einer bewussten Betrachtung des Deutschen dar, die religiös motiviert ist, da im Wort und Buchstaben der Schöpfungsakt Gottes erkannt werden kann. Lesenlernen bedeutet eine Auseinandersetzung mit dem Wort, und zwar sowohl seiner Wortform als auch seiner ursprünglichen Bedeutung, und mit dem Satz. Die Ausrichtung auf die Bedürfnisse des Lesers und Zuhörers macht es für Ickelsamer notwendig, auf verständnissichernde Lesehilfen hinzuweisen. Insgesamt dienen sowohl Etymologie als auch Orthographie und Interpunktion dazu, den geschriebenen Text in seinem Verständnis und seiner Wirkung nachdrücklicher zu gestalten. Der Autor ist einer der ersten, der erkennt, dass die Schreibsprache anderen Prämissen unterworfen ist als die Lautsprache. Er vollzieht den entscheidenden 28 Ickelsamer: Teut_che Grammatica, Bl. D 3r. 29 Ickelsamer: Teut_che Grammatica, Bl. D 5r : Deshalb »_olten ye di teüt_chen jre _prach bas ver_tehn lerne˜ / vnd _olt kain wort _ein des vr_prung vn˜ bedeütung _y nit wi_ten«. 30 Vgl. Ickelsamer : Teut_che Grammatica, Bl. C 6v f.: Es gebe »vnge_chickligkaitten der Ore o o thographien / ja mehr Cacographien da ma˜ die worter mit au wenig oder auuil / oder auch o vnrechten buch_tabe˜ _chreibt«, die beim Lesen wie Stolpersteine wirken; Ickelsamer: e Teut_che Grammatica, Bl. E 1v : »Ain _chentlich weis i_ts / das man _chier in allen wortern e o ˜ ˜ gedupelte buch_tabe _etaet da nur der ainig vo noten i_t […]«. Aber Ickelsamer : Teut_che Grammatica, Bl. D 7v : »Jch tring nit al_o auff eraelte Orthogra jjphia vnd Etymologia das e man dardurch von lang gewohntem brauch der teüt_che˜ worter / abweichen _olt / _onder ich beger da man den rechten ver_tand hab vnd wi__e / man brauch es darnach im reden vn˜ _chrey jjben wie man will […]«. 31 Ickelsamer: Teut_che Grammatica, Bl. E 1v f.

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Schritt, die Schreibsprache erstmals aus der Perspektive des Lesers und auch des Zuhörers zu begreifen.

Volkssprachliche Leselehren zur Zeit Valentin Ickelsamers Seit den 1530er-Jahren erschien eine Reihe von Leselehren im Druck, die sich zum Teil auf Valentin Ickelsamer beriefen und insbesondere Textteile aus der e Unterweisungsschrift Die rechte weis / auffs kurtai_t le_en au lernen in ihre Werke übernahmen.32 Aus der Vielzahl der Werke werden drei zeitgenössische Schriften herausgegriffen, die exemplarisch vorgestellt werden sollen. Es handelt o sich dabei um Johannes Kolroß’ Enchiridion von 1530, Peter Jordans Leyen_chul 33 von 1533 und Ortolf Fuchsbergers Leeßkonst von 1542. Johannes Kolroß34 konzipiert sein Enchiridion als Handbüchlein, das nicht e nur dazu dient, »artlich ae_chryben«, sondern auch, »la_en« zu lernen.35 Sein Werk sei für ein schnelles Lernen angemessen, egal ob Laien oder Fortgeschrittene sich seiner bedienen: e

Derhalben i_t di_es handtbuchlin gemacht / da mit die jhenigen _o ettlicher maß e _chryben vnd laßen ergriffen / daruß was jnen noch manglet / ouch in kurtaem erlernen e 36 mogen.

Im Enchiridion des Johannes Kolroß werden Schreiben und Lesen als gleich wichtig erachtet, wodurch der Blick auf die Schreibebene aus der Sicht des Lesers 32 Allein bei Müller : Quellenschriften und Geschichte des deutschsprachigen Unterrichtes bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts sind im Zeitraum von 1525 bis 1542 insgesamt zehn Schreibund Leselehren nachgewiesen, die vergleichbare Zwecke verfolgen wie Ickelsamer. Vgl. auch Giesecke: Alphabetisierung als Kulturrevolution, S. 166 f. 33 Die drei Leselehren sind bei Müller: Quellenschriften und Geschichte des deutschsprachigen Unterrichtes bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts in diplomatischem Nachdruck zugänglich, o Jordan: Leyen_chul zusätzlich auch in der Ausgabe bei Fechner: Vier seltene Schriften des sechzehnten Jahrhunderts, die diesem Beitrag zugrunde liegt. 34 Johannes Kolroß ist wohl um 1487 in Kirchhofen bei Staufen, Kreis Freiburg im Breisgau, geboren. 1503 immatrikulierte er sich an der Universität Freiburg im Breisgau. Wohl ab 1529 war er Lehrmeister an der ersten deutschen Volksschule für Knaben in Basel. Gestorben ist er zwischen 1558 und 1560 in Basel. Zu Leben und Werk vgl. Elschenbroich: Kolroß, Johannes, S. 477 f.; Müller : Quellenschriften und Geschichte des deutschsprachigen Unterrichtes bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts, S. 414 – 416; Jellinek: Geschichte der neuhochdeutschen Grammatik von den Anfängen bis auf Adelung, S. 53 f., § 25; Moulin: Deutsche Grammatiken vom Humanismus bis zur Aufklärung, S. 24 f. Im VD 16 sind drei Ausgaben des Enchiridions verzeichnet, und zwar Nürnberg: Friedrich Peypus 1529, Basel: Thomas Wolff 1530 und Zürich: Christoph Froschauer der Jüngere 1564. 35 Kolroß: Enchiridion, Bl. A 1v nach Müller : Quellenschriften und Geschichte des deutschsprachigen Unterrichtes bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts, S. 64. 36 Kolroß: Enchiridion, Bl. A 2r nach Müller : Quellenschriften und Geschichte des deutschsprachigen Unterrichtes bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts, S. 65.

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und Zuhörers eher in den Hintergrund gerät. Kolroß’ Ziel ist das Erlernen der Schreibkunst, und zwar auf der Grundlage der ›hochdeutschen Sprache‹. Dass dabei im hochdeutschen Sprachgebiet zahlreiche Schreibvarianten beobachtet werden können, ist ihm wohlbewusst: Exemplum. […] / aid / laid / maid/ oder al_o mit dem zwyfachen vnd langen y / ayd / layd rc. welcher nun eben waar nimpt vff das vß_prechen angeaeygter worten / würt er e vnder_cheydlich yede _tymm / eygentlich vernemmen / vnd werden der glychen worter e mit dem ay fürnamlich in Schwaben ge_chriben / dann in andern landen würt gemeinlich ey für ay gebrucht / als mey_ter / eyd/ leyd […].37

Während der Leser also mit Schreibvarianten rechnen muss, gibt Kolroß dem Schreiber aber folgenden Hinweis, der wiederum direkte Auswirkung auf den Leseprozess hat: e

Sol man ouch yetweders vnder_cheydlich bruchen / dann nit wenig daran gelagen wo _y o e artlich vnd recht ge_chriben / gebend _y guten ver_tand dem la_er / herwiderumb / wo o e eins für da ander ge_etat / muß der la_er die bedütung für _ich _elbs er_innen vnd o _uchen […].38

Reduktion scheinbar nutzloser Varianz und unterschiedliche Schreibung, wenn unterschiedliche Bedeutung vorliegt, sind Postulate, die auch die gegenwartssprachliche Orthographie weitgehend bestimmen. In nachfolgender Zeit werden des Öfteren Unterschiede in der Schreibung in Fällen von Homonymie wie zum Beispiel ›Wal‹ versus ›Wahl‹ propagiert. Varianz bei Bedeutungsunterschieden zur Erleichterung des Lesens und Verstehens zeichnet sich bei Kolroß bereits ab. Von vergleichbarer Wichtigkeit ist schließlich auch die scheinbar triviale Feststellung, dass Wörter durch Leerräume abgegrenzt werden: e

o

Noch eins _olt du hie meercken, das du dich hutte_t / das du nit ein _ilb au einem wort e e o o _chrybe_t / dem _y nit augehore / _onder was au einem yegklichen wort gehort / _olt du e o ordenlich au_amen _etaen / vnd an einander hangken / vnd awü_chen yedem wort ein klein _patium (da i_t ein klein _chlücklin) la__en / als wyt als ein punct ge_ton mag / e damit ye ein wort vor dem andern moge erkent werden […].39

Obwohl der Hinweis, zwischen den Wörtern einen Abstand zu lassen, primär an den Schreiber gerichtet ist, wird auch hier die Leserperspektive mit einbezogen, wenn ›_patium‹ mit ›_chlücklin‹ übersetzt wird. Der Leerraum ist auch eine 37 Kolroß: Enchiridion, Bl. A 6v nach Müller : Quellenschriften und Geschichte des deutschsprachigen Unterrichtes bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts, S. 69. 38 An darauffolgender Textstelle tritt er für eine Unterscheidung zwischen kurzem [I] und langem [i:] ein, das zum einen als , zum anderen als verschriftet werden soll, vgl. Kolroß: Enchiridion, Bl. A 8v nach Müller : Quellenschriften und Geschichte des deutschsprachigen Unterrichtes bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts, S. 70. 39 Kolroß: Enchiridion, Bl. C 7v nach Müller : Quellenschriften und Geschichte des deutschsprachigen Unterrichtes bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts, S. 83.

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Orientierungshilfe für den Leser, da er ihm zumindest potenziell die Möglichkeit zum ›Schlucken‹ lasse. Kolroß bietet gerade in seinen Richtlinien zum Schreiben einige zukunftsweisende Anmerkungen mit dem Ziel, ein verständnissicherndes Lesen zu gewährleisten. o Drei Jahre später, 1533, erschien die Leyen_chul von Peter Jordan,40 der in seinem Vorwort Valentin Ickelsamer unter der Vielzahl der Lese- und Schreiblehren lobend hervorhebt.41 Er bezieht sich dabei insbesondere auf die Schrift e o Die rechte weis / auffs kurtai_t le_en au lernen, von der die Leyen_chul eine verkürzte Bearbeitung darstellt, ohne mit Ickelsamers Werk jedoch identisch zu sein. Besonderen Wert legt Jordan auf die visuelle Methode, die es erlaubt, den Buchstaben mit einem Wort desselben Anfangsbuchstabens oder -lauts, und damit mit der Sache, in Verbindung zu setzen (vgl. Abb. 1).

Abb. 1: Schautafel zur Visualisierung der Beziehung zwischen Wort mit entsprechendem Anfangsbuchstaben / -laut und bezeichnetem Referenzobjekt.42

Für Jordan ist es wichtig, dass die Schüler nicht nur sofort die Buchstaben und ihre Aussprache kennenlernen, sondern auch gleich wissen sollen, wie man sie schreibt:

40 Peter Jordans Werdegang liegt weitgehend im Dunkeln: Er war vermutlich Druckergeselle bei Jakob Köbel in Oppenheim. 1531 hatte er eine Druckoffizin ›Zur Ledderhosen‹ in Mainz, von der bis heute ungefähr 30 Drucke bekannt sind. Um 1540 hat er sich vermutlich in Köln niedergelassen. Gestorben ist er nicht vor 1552. Zu Leben und Werk vgl. Stamm: Jordan, Peter, S. 603. Vgl. auch Müller : Quellenschriften und Geschichte des deutschsprachigen Unterrichtes bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts, S. 407 – 410; Jellinek: Geschichte der neuhochdeutschen Grammatik von den Anfängen bis auf Adelung, S. 51, § 21. o 41 Jordan: Leyen_chul, Bl. A 2r : »[…] hab ich vnther allen keyns gefunden da des lobs wirdiger ist / dan eins / _o Valentin Ickelshamer be_chriben hat / durch welches ich auch bin verur_acht e o worden / diß meyn buchlin au trucken / Dan˜ ich furwar _eyner meynung / _o viel ich des o ver_tanden / nach gefolgt hab / vnnd meynen vnver_tand auß _eynem _chreybenn / au be__errem ver_tandt erweytert hab«. Vollständig übernommen wurde die Beschreibung der o Laute nach artikulatorischen und / oder akustischen Merkmalen, vgl. Jordan: Leyen_chul, Bl. A 7v–A 8v. o 42 Abbildungen vgl. Jordan: Leyen_chul, Bl. A 3v und Bl. A 5r.

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˜ ende od‘ Laut jjbuch_taben Man _oll auch die Schuler / _o bald _ie nur die fünff Stim kennen vnd auß_prechen künnen / von _tund an auch die_elben leren _chreyben vnd abmalen […].43

Ein umfassendes Verständnis der Buchstaben von Grund auf ist unverzichtbar, »_o wirt das le_en de_to leych jjter vnd fürderlicher«, und bei dem Erwerb der Konsonanten mahnt er an, »daß man den le_en lernenden ja nit gewene / die Co˜_onanten mit jren name˜ au nennen / dan˜ jre namen _eyn viel mehr _yllaben dann buch_taben […]«.44 Der Lehrmeister sollte seinen Schülern die Silben zudem vorschreiben, damit sie üben können, geschriebene Buchstaben zu erkennen.45 Jordan legt aber auch Wert darauf, dass die Schüler mit dem Alphabet vertraut gemacht werden: o

SO mann nuhn eynen Schuler alle buch_taben mitt fleyß gelert hatt / alßdann _oll mann jm das ganta abc nach _eyner ordnung fürlegen / vn˜ jn alle buch_ta= jjben / hinter _ich vnd für _ich auch ken= jjnen vnd nennen la__en lernen.46 o

In Peter Jordans Leyen_chul wird Ickelsamers Unterweisungsschrift auf die zentralen Aussagen zu den Buchstaben nach didaktischen Maßstäben reduziert, durch die Abbildung von Beispielwörtern mit dem entsprechenden Anfangsbuchstaben visualisiert (vgl. Abb. 1) sowie um Bemerkungen zum Schreiberwerb und zur Notwendigkeit der Kenntnis des Alphabets erweitert. Die aufs Engste gegebene Wechselbeziehung zwischen Lese- und Schreibfähigkeit wird bei ihm besonders deutlich. Ortolf Fuchsberger47 schrieb eine 1542 im Druck erschienene und an Schüler adressierte Leeßkon_t, die er wie schon Ickelsamer letztlich auf Gott zurückführt: Auf heutigen tag werden vill leut funden / welche on all vorgelernt _chriften / auß _ondrer Gottes begnadung / treffentlich von himdli_chen vnd irdi= jj_chen Dingen / o

43 Jordan: Leyen_chul, Bl. A 3v. o 44 Jordan: Leyen_chul, Bl. A 4r und Bl. A 5v. Auf antike Tradition, insbesondere auf Quintilian: Institutio oratoria Lib. I, Cap. I, Abschn. 26, verweist Müller : Quellenschriften und Geschichte des deutschsprachigen Unterrichtes bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts, S. 338 f. o 45 Vgl. Jordan: Leyen_chul, Bl. B 5r. o 46 Jordan: Leyen_chul, Bl. A 7v. 47 Ortolf Fuchsberger wurde 1490 in Tittmoning geboren, studierte in Ingolstadt die Rechte und lehrte daraufhin die lateinische Sprache in Altötting. Um 1526 war er als Hofrichter zu Mondsee sowie als Sekretär des dortigen Abtes tätig und unterrichtete zugleich die jüngeren Mönche in Logik und Rhetorik. Er verfasste nicht nur eine Schrift gegen die erneut erstarkte Wiedertäuferbewegung, sondern gab 1533 die erste deutsche Logik heraus sowie unter anderem 1535 die erste deutsche, in mehreren Auflagen erschienene Übersetzung des Justinianischen Rechts. Er ist nicht vor 1541 gestorben. Zu Leben und Werk vgl. Westermayer: Fuchsberger, Ortolf, S. 174 f.; Müller : Quellenschriften und Geschichte des deutschsprachigen Unterrichtes bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts, S. 410 – 416; Jellinek: Geschichte der neuhochdeutschen Grammatik von den Anfängen bis auf Adelung, S. 52 f., § 24.

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mechtig _ein aureden. Den anderen hat Got die buch_tabi_chen mitel verordent / dae e durch Sie irer _chwachen gedachtnus mogen helfen / vnd _ich des Gotlichen willen / an den Bibli_chen _chriften / […] auch men_chlicher ge_chichten vnd khon_ten erynnern.48

Der katholischen Tradition verhaftet, sieht der Autor die Buchstaben nicht wie Ickelsamer als Geschenk, sondern als göttliche Verordnung. Sie dienen denjenigen, die nicht die besondere Gnade Gottes der freien Rede haben, als Gedächtnishilfe. Buchstaben tragen nicht wie bei Ickelsamer zur Bildung des eigenen Urteils bei, sondern unterstützen das Erinnerungsvermögen. Fuchsberger stellt einen ›Lehrplan‹ auf, wie Kindern das Lesen gelehrt werden soll. Er unterscheidet sich nicht wesentlich von den aus Ickelsamer, Kolroß und Jordan hinreichend bekannten Grundsätzen: Zunächst sollen die Schüler mittels einer Buchstabentafel die Buchstaben erkennen und unterscheiden lernen. Danach soll man ihnen Gebete und ähnliche Schriften in Silben geteilt vorschreiben und sie daran üben lassen. Wichtig ist, dass die Kinder verstehen, was sie lesen, und zwar unabhängig davon, ob sie später Latein lernen sollen oder nicht.49 Wie vor allem Jordan befürwortet auch Fuchsberger die starke Interdependenz von Lese- und Schreiberwerb, die jeweils erkennen lassen, dass die Sprache aus verständigen Worten besteht: DWeyl _chreyben vnd le_en allain darumb gelernt / das man ein yede rede vnd _chrift / e was _ie bedeut / aumai_tern wiß / Aber die_elben auß vilen ver_tandigen worten ae_amge_etat / welche wort auß _ylben / vnd die _ylben durch buch_taben gemacht vnd außge_prochen werden […].50

Die Scheidung der vier konstitutiven Teile der Grammatik entstammt lateinischer Tradition, und zwar der Institutio oratoria von Quintilian. Dort wird zwischen ›littera / Buchstabe‹, ›syllaba / Silbe‹, ›dictio / Wort‹ und ›oratio / Rede‹ 48 Fuchsberger : Leeßkon_t, Bl. A 3v f. nach Müller: Quellenschriften und Geschichte des deutschsprachigen Unterrichtes bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts, S. 168. 49 Fuchsberger : Leeßkon_t, Bl. A 5v nach Müller : Quellenschriften und Geschichte des deutschsprachigen Unterrichtes bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts, S. 170: »Welchs auch nit die wenig_t vr_ach / das _ie in teut_chen Schulen vil ehe / dan in den lateini_chen des fertigen le_ens gewonen«. In Übereinstimmung mit den Vorgängerwerken geht auch Fuchsberger auf die Interpunktion sowie auf Abkürzungen ein und bietet zum einen Schaubilder zu den Vokalen und Konsonanten, zum Alphabet sowie zur Bildung von Silben, zum anderen Lesetexte nach Silben getrennt und in ganzen Wörtern. Zum Dritten liefert er Übersichten zu Zahlen und Ziffern. Vgl. Fuchsberger : Leeßkon_t, Bl. B 5v–E 4r nach Müller : Quellenschriften und Geschichte des deutschsprachigen Unterrichtes bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts, S. 177 – 187. 50 Fuchsberger : Leeßkon_t, Bl. A 6v nach Müller : Quellenschriften und Geschichte des deutschsprachigen Unterrichtes bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts, S. 171. An anderer Stelle scheint er das Lesen mit Kenntnis der Buchstaben als Voraussetzung für das Schreibenlernen darzulegen, vgl. Fuchsberger : Leeßkon_t, Bl. D 2v nach Müller: Quellenschriften und Geschichte des deutschsprachigen Unterrichtes bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts, S. 181.

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differenziert. Lateinischer Tradition sind auch die drei Eigenschaften der Buchstaben entlehnt:51 Ein yeder buch_tab hat drey aigen_schaft / das _ein / die figur / die kraft / vnd der namen […].52

Diese Charakterisierung der Buchstaben nach ›figura‹, ›potestas‹ und ›nomen‹ ist ebenfalls bei Quintilian überliefert, der mit der ›Figur‹ die Form der Graphie, also das Aussehen des Buchstabens, mit ›Kraft‹ den Lautwert sowie mit ›Namen‹ den Buchstabennamen wie etwa ›A Be Ce‹ bezeichnet. Zwischen Lautwert und Buchstabennamen nimmt der Autor jedoch eine Gewichtung zugunsten der ›potestas‹ vor : o

Nachmal _oll nit werden verge__en / das man die khinder aum aller er_ten / allain _traks auf die kraft des buch_taben wei_en / vnnd den namen / wie er hay__e / nit _agen _ol / byß _ie der kraft aeuor aimlichen bericht empfangen […].53

Den Wert der Schrift sieht Fuchsberger schließlich darin gegeben, dass die Buchstaben e

eben wie die gebrochnen _tabel vnd ruetel hin vnd wider durcheinander gelegt / in die e e bucher werden ge_chriben / dadurch die _chrift ve_t vnd b_tandig bleibt vnnd _teet 54 […]. e

Denn Schrift beuge dem »_chlupferigen gedachtnis«55 vor. Fuchsberger zeichnet sich dadurch aus, dass er aus dem katholischen Süden die Tradition der Lateingrammatik mit den neuen, im reformatorischen Umfeld entstandenen Leselehren in Verbindung bringt. Die emanzipatorische Kraft des Lesens zur Bildung des eigenen Urteils, wie sie Ickelsamer pointiert herausstellt, wird bei Fuchsberger auf den Wert der Schriftlichkeit reduziert, deren wichtigster Zweck die Gedächtnisstütze ist.

51 Quintilian: Institutio oratoria Lib. I, Cap. I, Abschn. 24. Vgl. auch Giesecke: Alphabetisierung als Kulturrevolution, S. 134 f. 52 Fuchsberger : Leeßkon_t, Bl. A 6v nach Müller : Quellenschriften und Geschichte des deutschsprachigen Unterrichtes bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts, S. 171. 53 Fuchsberger : Leeßkon_t, Bl. B 2r nach Müller : Quellenschriften und Geschichte des deutschsprachigen Unterrichtes bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts, S. 174. 54 Fuchsberger : Leeßkon_t, Bl. A 6v nach Müller : Quellenschriften und Geschichte des deutschsprachigen Unterrichtes bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts, S. 171. 55 Fuchsberger : Leeßkon_t, Bl. D 2v nach Müller : Quellenschriften und Geschichte des deutschsprachigen Unterrichtes bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts, S. 181.

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Zur Bedeutung der Leselehren in der Frühen Neuzeit Die auf den ersten Blick unter didaktisch pädagogischer Konzeption stehenden Leselehren erweisen sich als Vorboten einer Alphabetisierung, die das Lesen als Kulturtechnik unter dem Vorzeichen des Verstehens begreift. Die Propagierung des Lesens steht am Anfang einer Entwicklung hin zu einer ›Wissensgesellschaft‹, die durch Vermittlung mittels Schrift und Buch zu einer Verständigung über das verfügbare Wissen führt. Auch wenn die durch Schulpflicht erworbene Alphabetisierung der Gesellschaft noch mehr als 200 Jahre auf sich warten lassen sollte, so erhoben doch Autoren wie Ickelsamer den Anspruch, dass Lesen nicht nur jedermann erwerben könne, sondern dass es auch Voraussetzung für ein kritisches Denken sei. So weit wie Ickelsamer gehen andere Autoren der Zeit nicht, so etwa Kolroß und Jordan, die die Praxis des Lese-Erwerbs in den Vordergrund stellen. Fuchsberger hingegen, der katholischen Tradition verhaftet, argumentiert grundsätzlich anders, indem er Lesen und Schrift vielmehr auf die Funktion der Gedächtnisstütze reduziert. Allen gemeinsam ist jedoch, den hohen Wert der Schriftlichkeit zu erkennen und diese in ihrer Andersartigkeit gegenüber der Lautsprache wahrzunehmen. Eine Ausrichtung der Schriftlichkeit auf den Leser hin ist nur noch eine Frage der Zeit, klingt aber bereits insbesondere bei Ickelsamer an.

Quellen Fechner, Heinrich (Hrsg.): Vier seltene Schriften des sechzehnten Jahrhunderts. Reprint der Ausgabe Berlin1882. Hildesheim / New York 1972. Fuchsberger, Ortolf: Leeßkon_t. Ingolstadt: Alexander I. Weißenhorn 1542. In: Müller, Johannes: Quellenschriften und Geschichte des deutschsprachigen Unterrichtes bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts. Mit einer Einführung von Monika Rössing-Hager. Nachdruck der Ausgabe Gotha 1882. Hildesheim / New York 1969 (Documenta Linguistica – Quellen zur Geschichte der deutschen Sprache des 15. bis 20. Jahrhunderts. V: Grammatiken des 16. bis 18. Jahrhunderts), S. 167 – 188. VD16 F 3272. Hueber, Christoph: Modus Legendi. Hs. Landshut 1477. In: Müller, Johannes: Quellenschriften und Geschichte des deutschsprachigen Unterrichtes bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts. Mit einer Einführung von Monika Rössing-Hager. Nachdruck der Ausgabe Gotha 1882. Hildesheim / New York 1969 (Documenta Linguistica – Quellen zur Geschichte der deutschen Sprache des 15. bis 20. Jahrhunderts. V: Grammatiken des 16. bis 18. Jahrhunderts), S. 9 – 13 und S. 337 – 373. e Ickelsamer, Valentin: Die rechte weis jj auffs kurtai_t le_en au lernen / jj wie das aum er_ten erfunden / vnnd au_a der jj rede vermerckt worden i_t / Valentin jj Ickel_amer / Gemehret mit Silbe˜ figurn jj vnd Namen / Sampt dem text des / kleinen Catechi_mi. Marburg: Franciscus Rhodus 1534. In: Fechner, Heinrich (Hrsg.): Vier seltene

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Schriften des sechzehnten Jahrhunderts. Reprint der Ausgabe Berlin 1882. Hildesheim / New York 1972, unpag. VD16 I 34. Ickelsamer, Valentin: Teut_che Grammatica. Augsburg: Philipp Ulhart ca. 1535. Sign. UB LMU München: Cim. 37 (= 88Philol. 1248). VD16 I 26. Digitalisat der Teut_che[n] Grammatica. In: Universitätsbibliothek LMU München (6. Juli 2011, revidiert am 25. Juli 2012. URL: http://epub.ub.uni-muenchen.de/12188/1/Cim._37.pdf [04. 01. 2013]). o e Jordan, Peter : Leyen_chul. WJe man Kun_tlich jj vnd behend / _chreyben vnnd jj le_en e _oll lernen. Darneben jj auch eyn vntherricht / wie die vngele jj rigen kopff / _o eyns grobe˜ ver_tands jj _eyn / on buch_taben / durch figu= jjren vn˜ Caracteren / _o jnen jj o _elb_t anmutig / aller= jjley aur noturfft jj anau_chrey jjben vnd au le_en / _ollen vnder= jj wey_at werden. Mainz: Peter Jordan 1533. In: Fechner, Heinrich (Hrsg.): Vier seltene Schriften des sechzehnten Jahrhunderts. Reprint der Ausgabe Berlin 1882. Hildesheim / New York 1972, unpag. VD16 ZV 22178. e Kolross, Johannes: Enchiridion: jj das i_t / Handbuchlin jj tüt_cher Orthographi / o e h’chtüt_che [sic] jj _prach artlich ae_chryben / vnd la_en / sampt ey= jjnem Regi_terlin über die gantae Bibel / wie jj man die Allegationes vnd Concordantias / _o jj im Nüwen e Te_tament naben dem text / jj vnnd _un_t mit halben Latin_chen jj worten veraeychnet. Ouch wie man die Cifer vnd jj tüdt_che aaal jj ver_ton jj _oll. jj Durch Joannem Kolro_a / o tüdt_ch jj Leermey_tern au Ba_el. Basel: Thomas Wolff 1530. In: Müller, Johannes: Quellenschriften und Geschichte des deutschsprachigen Unterrichtes bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts. Mit einer Einführung von Monika Rössing-Hager. Nachdruck der Ausgabe Gotha 1882. Hildesheim / New York 1969 (Documenta Linguistica – Quellen zur Geschichte der deutschen Sprache des 15. bis 20. Jahrhunderts. V: Grammatiken des 16. bis 18. Jahrhunderts), S. 64 – 91. VD16 K 1953. Müller, Johannes (Hrsg.): Quellenschriften und Geschichte des deutschsprachigen Unterrichtes bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts. Mit einer Einführung von Monika Rössing-Hager. Nachdruck der Ausgabe Gotha 1882. Hildesheim / New York 1969 (Documenta Linguistica – Quellen zur Geschichte der deutschen Sprache des 15. bis 20. Jahrhunderts. V: Grammatiken des 16. bis 18. Jahrhunderts).

Literatur Elschenbroich, Adalbert: Kolroß, Johannes. In: Neue Deutsche Biographie. Bd. 12. München 1979, S. 477 f. In: Deutsche Biographie online (URL: http://www.deutschebiographie.de/pnd119732769.html [04. 01. 2013]). Giesecke, Michael: Alphabetisierung als Kulturrevolution. Leben und Werk Valentin Ickelsamers (ca. 1500–ca. 1547). In: Giesecke Michael: Sinnenwandel, Sprachwandel, Kulturwandel. Studien zur Vorgeschichte der Informationsgesellschaft. Frankfurt am Main 1992 (stw 997), S. 122 – 185. Jellinek, Max H.: Geschichte der neuhochdeutschen Grammatik von den Anfängen bis auf Adelung. Erster Halbbd. Heidelberg 1913 (Germanische Bibliothek. Zweite Abteilung: Untersuchungen und Texte 7).

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Klein, Wolf P.: Am Anfang war das Wort. Theorie- und wissenschaftsgeschichtliche Elemente frühneuzeitlichen Sprachbewußtseins. Berlin 1992. Moulin, Claudine: Deutsche Grammatiken vom Humanismus bis zur Aufklärung. Ausstellung der Forschungsstelle für deutsche Sprachgeschichte der Universität Bamberg in Zusammenarbeit mit der Staatsbibliothek Bamberg. Bamberg 1988. Niederer, Heinrich: Ickelsamer, Valentin. In: Neue Deutsche Biographie. Bd. 10. München 1974, S. 112 f. In: Deutsche Biographie online (URL: http://www.deutschebiographie.de/pnd118761331.html [04. 01. 2013]). Penzl, Herbert: Valentin Ickelsamer und die Aussprache des Deutschen im 16. Jahrhundert. In: Strelka, Joseph P. / Jungmayr, Jörg (Hrsg.): Virtus et Fortuna. Zur deutschen Literatur zwischen 1400 und 1720. Festschrift für Hans-Gert Roloff zu seinem 50. Geburtstag. Bern / Frankfurt / New York 1983, S. 220 – 236. Rautenberg, Ursula: Buchwissenschaft in Deutschland. Einführung und kritische Auseinandersetzung. In: Rautenberg, Ursula (Hrsg.): Buchwissenschaft in Deutschland. Ein Handbuch. Bd. 1: Theorie und Forschung. Berlin 2010, S. 3 – 64. Rautenberg, Ursula: Das Lesen sehen: Bilder von Büchern und Lesern am Beginn der Frühen Neuzeit. In: Hanuschek, Sven u. a. (Hrsg.): Die Struktur medialer Revolutionen. Festschrift für Georg Jäger. Frankfurt am Main u. a. 2000 (Münchner Studien zur literarischen Kultur in Deutschland 34), S. 36 – 50. Rautenberg, Ursula: Die Entstehung und Entwicklung des Buchtitelblatts in der Inkunabelzeit in Deutschland, den Niederlanden und Venedig. Quantitative und qualitative Studien. In: Archiv für Geschichte des Buchwesens 62 (2008), S. 1 – 105. Rössing-Hager, Monika: Frühe grammatische Beschreibungen des Deutschen. In: Auroux, Sylvain u. a. (Hrsg.): Geschichte der Sprachwissenschaften. Ein internationales Handbuch zur Entwicklung der Sprachforschung von den Anfängen bis zur Gegenwart. 1. Teilbd. Berlin / New York 2000 (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 18.1), S. 777 – 784. Rössing-Hager, Monika: Konzeption und Ausführung der ersten deutschen Grammatik. Valentin Ickelsamer : ›Ein Teütsche Grammatica‹. In: Grenzmann, Ludger / Stackmann, Karl (Hrsg.): Literatur und Laienbildung im Spätmittelalter und in der Reformationszeit. Symposium Wolfenbüttel 1981. Stuttgart 1984 (Germanistische Symposien, Berichtsbände 5), S. 534 – 556. Stamm, Karl: Jordan, Peter. In: Neue Deutsche Biographie. Bd. 10. München 1974, S. 603. In: Deutsche Biographie online (URL: http://www.deutsche-biographie.de/ pnd128791225.html [04. 01. 2013]). Westermayer, Georg: Fuchsberger, Ortolf. In: Allgemeine Deutsche Biographie. Bd. 8. Leipzig 1878, S. 174 – 175. In: Deutsche Biographie online (URL: http://www.deutschebiographie.de/sfz17899.html [08. 01. 2013]).

Leseängste und Leseideale in der Moderne

Hans-Jörg Künast

Lesen macht krank und kann tödlich sein Lesesucht und Selbstmord um 18001

In seinem neuesten Werk zieht Jerome Kagan, einer der weltweit führenden Entwicklungspsychologen, eine kritische Bilanz seines Fachgebiets.2 Da der 83jährige Harvard-Professor keine Anfeindungen durch Berufskollegen oder die Pharmaindustrie mehr fürchtet, stellt er nicht nur die Erkenntnisfortschritte seiner Disziplin dar, sondern legt schonungslos auch deren Defizite offen. In einem Spiegel-Interview vom 30. Juli 2012 benennt er eine dieser Fehlentwicklungen mit deutlichen Worten. Auf die Frage, wie es dazu kommen konnte, dass in den Vereinigten Staaten von Amerika psychische Störungen bei Kindern in den 1960er-Jahren praktisch unbekannt waren, nach den neuesten Zahlen amerikanischer Gesundheitsbehörden jedoch jedes achte Kind psychisch krank sein soll, antwortet er : Richtig, aber das liegt vor allem an der schwammigen Diagnosepraktik. Lassen Sie uns 50 Jahre zurückgehen und einen siebenjährigen Jungen anschauen, der sich in der Schule langweilt und den Unterricht stört. Damals hätte man ihn faul genannt. Heute sagt man, er leide an ADHS [Aufmerksamkeitsdefizit / Hyperaktivitätsstörung]. Deshalb sind die Zahlen so hochgeschnellt.3

Auf die Nachfrage des Spiegel, ob er tatsächlich behaupten wolle, dass es sich bei ADHS um eine Erfindung von Medizinern, Psychologen und der Pharmaindustrie handele, bekräftigt Jerome Kagan: Korrekt, sie ist eine Erfindung. Jedes Kind, das schlecht in der Schule ist, wird heutzutage zum Kinderarzt geschickt, und der sagt: Es ist ADHS, und hier ist Ritalin. Dabei 1 Dieser Beitrag wurde zum einen angeregt durch Barth: Mädchenlektüren und zum anderen durch das Sondersammelgebiet der Staats- und Stadtbibliothek Augsburg zum Thema Selbstmord, das auf die Sammlung des Augsburger Journalisten Hans Rost, 1877 – 1970, zurückgeht und kontinuierlich ergänzt wird. Vgl. Rost: Bibliographie des Selbstmords. Weitere Anstöße erfolgten durch Diskussionen mit Kathy Stuart, Davis, University of California, zu ihrem Forschungsprojekt über ›mittelbaren oder indirekten Selbstmord‹. Vgl. hierzu Stuart: Suicide by Proxy und Stuart: Suicide by Proxy – Crime, Sin and Salvation. 2 Vgl. Kagan: Psychology’s Ghost. 3 o. V.: ›Nachhilfe statt Pillen‹, S. 95.

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haben 90 Prozent dieser 5,4 Millionen [Kinder in den USA] gar keinen gestörten Dopamin-Stoffwechsel. Das Problem ist: Wenn Ärzte ein Medikament zur Verfügung haben, stellen sie auch die entsprechende Diagnose.4

Der folgende Beitrag beschäftigt sich mit der Lesesucht, einer ebenfalls ›erfundenen‹ Krankheit. Eine Variante hiervon war die Sucht nach Romanlektüre. Von dem Arzt Friedrich Benjamin Osiander, 1759 – 1822, dessen Ansichten noch ausführlich dargestellt werden sollen, erhielt die ›Krankheit‹ den eindrucksvollen lateinischen Namen ›Vesana ad scenas romanenses propensio‹, auf Deutsch wurde sie jedoch ›Romanensucht‹ genannt. In erster Linie nahm man die Lektüre von Frauen ins Blickfeld. Die Ärzte, die sich hierzu äußerten, glaubten in der Lesesucht nicht nur verhängnisvolle Auswirkungen auf die psychische und intellektuelle, sondern auch auf die physische Entwicklung zu erkennen.5 Lesesucht könne zu ernsthaften Erkrankungen, in letzter Konsequenz zum Tode, zumeist durch Selbstmord, der Betroffenen führen. Während die Romansucht im Zusammenhang mit der ›Leserevolution‹ einerseits von den Literaturwissenschaften und der Germanistik sowie andererseits der historischen Lese(r)forschung große Aufmerksamkeit erhalten hat,6 ist eine andere Form der Lesesucht bislang übersehen worden. Nach Auffassung Osianders und einer Reihe weiterer Mediziner des 18. und frühen 19. Jahrhunderts besaßen nicht nur Romane ein großes Suchtpotenzial, sondern auch die traditionelle Lektüre von religiöser Erbauungsliteratur konnte schwerwiegende psychische und physische Erkrankungen hervorrufen. Diese Variante der gefährlichen Lesesucht blieb deshalb unentdeckt, weil die Selbstmordliteratur von der historischen Lese(r)forschung bisher nicht berücksichtigt wurde. Macht man die Probe durch Überprüfung der Aussagen von Ärzten, ob es Zusammenhänge zwischen Lesesucht und Selbstmord gibt, so wird man schnell fündig. Dabei stößt man auf das Phänomen des ›mittelbaren oder indirekten Selbstmords‹. ›Mittelbare‹ Selbstmörder waren in der Regel keine Romanleser der gehobenen bürgerlichen Gesellschaftsschichten, sondern sie gehörten eher dem Kleinbürgertum an, das der religiösen Erbauungsliteratur ›verfallen‹ war. Der gelehrte Diskurs über Lesen und (geeignete) Lesestoffe war im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit geprägt von Theologen mit pädagogischen Interessen, die sich um das Seelenheil der ihnen anvertrauten Menschen sorgten.7 Seit 4 o. V.: ›Nachhilfe statt Pillen‹, S. 95. 5 Vgl. Barth: Mädchenlektüren, S. 39 – 77. 6 Vgl. beispielsweise Erning: Das Lesen und die Lesewut; Bödeker : Lesekulturen im 18. Jahrhundert; Wittmann: Gibt es eine Leserevolution am Ende des 18. Jahrhunderts; Messerli: Leser, Leserschichten und -gruppen, Lesestoffe; letzterer mit weiteren Literaturhinweisen. 7 Vgl. die Quellen Glaser : Wie der Christen trawrigkeit/ schwermuth vnd Melancholey/ […] etlicher massen zu stillen sey ; Musäus: Speculationischer Teuffel. Biller / Hudson: Heresy and Literacy behandeln das Thema von 1000 bis 1530.

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dem 18. Jahrhundert verschoben sich die Inhalte dieses Diskurses. Im Mittelpunkt stand nun nicht mehr die Sorge um das Jenseits, sondern um die physische und psychische Gesundheit im Diesseits. Dieser Diskurs spielte sich vor dem Hintergrund der Auflösung der ständischen Gesellschaft und der Emanzipationsbestrebungen des Bürgertums ab.8 An dieser Stelle kann nicht die ganze Breite der Diskurse zur Lesesucht ausgeleuchtet werden,9 sondern es stehen die Publikationen des Gynäkologen Friedrich Benjamin Osiander im Mittelpunkt, der in die Medizingeschichte als Entwickler der Zangengeburt einging. Zudem erwarb er sich Verdienste um die Einrichtung von modernen Entbindungshäusern.10 Dieser Arzt wurde ausgewählt, weil er sich als vielseitiger und breit rezipierter Autor zu den beiden zentralen Themen äußerte, die hier von Relevanz sind und die es ermöglichen, die Lesesucht aus verschiedenen Perspektiven in den Blick zu nehmen. So behandelt eines seiner Hauptwerke die Krankheiten von pubertierenden jungen Frauen, ein anderes die Ursachen von Selbstmord.11 Die Debatten zur Lesesucht in der Zeit um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert verdienen Beachtung, weil an diesem historischen Beispiel besonders deutlich wird, dass die Wahrnehmung einer Krankheit von gesellschaftlichen und kulturellen Vorstellungen mitgeprägt wird. Dies gilt besonders für ›erfundene‹ Krankheiten, für die in der Regel kein klar definiertes Krankheitsbild erstellt werden kann. Sie können daher als Reaktionen auf Probleme und Ängste verstanden werden, die von gesellschaftlichem und technischem Wandel ausgelöst werden.12

Gesellschaftlicher Wandel um 1800 Die Jahrzehnte um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert zeichnen sich im deutschen Sprachraum, verglichen mit den vorangegangenen Epochen, durch 8 Vgl. Demel: Reich, Reformen und sozialer Wandel, S. 119. Die ständische Gesellschaft mit ihrer idealtypischen Einheit von Berufs- und Arbeitswelt wird brüchig und soziale Mobilität als Abbild individueller Leistung wird akzeptiert, teilweise sogar erwünscht. 9 Hierfür wäre es notwendig, die bei Engelmann: Bibliotheca medico-chirurgica et anatomicophysiologica verzeichnete Literatur zu ermitteln und auszuwerten, die für die Fragestellung relevant ist. Eine hilfreiche Liste mit pädagogischen und medizinischen Schriften findet sich in Barth: Mädchenlektüren, S. 282 – 288. 10 Vgl. Winkelmann: Entbindungswissenschaft und Entbindungskunst bei Friedrich Benjamin Osiander. e e 11 Vgl. Osiander : Uber die Entwickelungskrankheiten in den Bluthenjahren des weiblichen e Geschlechts; Osiander : Uber den Selbstmord. 12 So warnten Mediziner bei Einführung der Eisenbahn vor den gesundheitlichen Folgen für Reisende, die infolge der hohen Geschwindigkeit zu befürchten seien. Der menschliche Körper sei hierfür nicht konstruiert.

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einen beschleunigten Wandel in allen Bereichen aus. Diese Veränderungen betreffen Wirtschaft (Protoindustrialisierung), Gesellschaft (Bevölkerungswachstum, besonders der Unterschichten; zunehmende horizontale Mobilität), Kommunikation (Straßenausbau; Verlags- und Pressewesen), Kultur (Aufklärung), Politik (Reformen im Geist der Aufklärung) sowie die territoriale Neugliederung des Zentrums von Europa nach der Auflösung des Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation 1803/06.13 Für die folgende Untersuchung ist besonders die neue Sichtweise der Familie von Bedeutung. Das Bildungs- und Wirtschaftsbürgertum wandte sich einem veränderten Ideal der Beziehungen zwischen den Geschlechtern zu. Wichtigstes Merkmal ist eine gesteigerte ›Empfindsamkeit‹ innerhalb der Kernfamilie, die vor allem zu einer gefühlvolleren Beziehung zwischen Eltern und ihren Kindern führte.14 Eine Folge hiervon war, dass man sich viele Gedanken über die Erziehung machte, wodurch die Jugend als eigenständige Lebensphase eines Menschen wahrgenommen und akzeptiert wurde.15 In den wohlhabenden bürgerlichen Gesellschaftsschichten hatten zudem die weiblichen Familienmitglieder vermehrt freie Zeit zur Verfügung, da sie durch Dienstpersonal von den Haushaltspflichten entlastet wurden. Diesen Freiraum nutzten sie bevorzugt zum Lesen. Frauen traten damit erstmals in nennenswerter Zahl als Leserschaft in Erscheinung, wovon besonders der Buchmarkt für Belletristik profitierte.16

Die Leserevolution Der langfristige Prozess war durch Änderungen der Lesepraktiken charakterisiert und führte zu einer Zunahme der Leserschaft in den Jahrzehnten vor und nach 1800 und damit zu einer großen Expansion des Buchmarkts. Die hierfür getroffene Bezeichnung ›Leserevolution‹ ist allerdings nicht besonders gelungen.17 Aufmerksame Beobachter der Zeit wie Friedrich Benjamin Osiander 13 Vgl. für einen kompakten Überblick Demel: Reich, Reformen und sozialer Wandel. 14 In der belletristischen Literatur der Zeit spiegelt sich diese Entwicklung, die dadurch zudem verstärkt wurde. Demel: Reich, Reformen und sozialer Wandel, S. 184: »Die Romantik aber war ihrerseits nur eine neue Welle jener ›Revolution der Gefühle‹ der jeweils jungen Generation, die schon in der Literatur der ›Empfindsamkeit‹, nach 1770 im ›Sturm und Drang‹ ihren literarischen Ausdruck gefunden hatte.« 15 Vgl. Mitterauer : Sozialgeschichte der Jugend, S. 66 – 69. 16 So gesehen hatte Lesen ein kompensatorisches Element für das auf Haus und Familie beschränkte Tätigkeitsfeld der Frauen. Vgl. Becker-Cantarino: Schriftstellerinnen der Romantik, S. 37 – 42. 17 Nach Messerli: Leser, Leserschichten und -gruppen, Lesestoffe, S. 462 charakterisieren drei Faktoren die Leserevolution: »Vor und nach 1800 änderten sich weiter die Lesepraktiken: Das laute individuelle Lesen wich dem schnelleren stummen Lesen, die Wiederholungslektüre der extensiven Lektüre immer neuer Bücher. Und in dieser Zeit nahm auch die Zahl

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haben diesen Wandel deutlich wahrgenommen, ihn allerdings in erster Linie mit Städten in Verbindung gebracht.18 Inzwischen liegen auch Studien zum 18. Jahrhundert vor, die sich mit der Literaturversorgung in kleineren Orten beschäftigen. Am bekanntesten ist Hans Medicks Werk über den württembergischen Weberort Laichingen, in dem nachgewiesen wird, dass kleine und größere Büchersammlungen in vielen Haushalten vorhanden waren.19 Dass es sich dabei um keine Ausnahme handelt, belegt die Situation in Emmendingen, einer mehrkonfessionellen Kleinstadt bei Freiburg im Breisgau. Dort gab es ebenfalls in fast jedem Haushalt zumindest ein Gesangbuch und einige religiöse Erbauungsschriften. Die größte Bibliothek besaß in der Mitte des 18. Jahrhunderts der dortige Burgvogt Matthias Gottlieb Böck mit mehr als 350 Werken. Mit einer gewissen Zeitverzögerung ist auch in Emmendingen ein Wandel bei der Lektüre und damit bei den Lektürepraktiken zu erkennen. War in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts fast ausschließlich religiöse und erbauliche Literatur vorhanden, so erweitert sich anschließend das Spektrum beträchtlich um naturwissenschaftliche, pädagogische, historische, geographische, philosophische sowie literarische Werke und Zeitschriften. Deshalb kann davon ausgegangen werden, dass im letzten Jahrhundertdrittel die ganze Bandbreite der zeitgenössischen Literatur rezipiert wurde.20 Die Leserevolution als Vorbedingung für die Lesesucht fand folglich, wenngleich mit Einschränkungen, im deutschen Südwesten auch außerhalb der Universitäts-, Residenz- und Handelsstädte statt. Ob vergleichbare Entwicklungen für die Jahre um 1800 in anderen Regionen des deutschsprachigen Raums nachweisbar sind, kann gegenwärtig noch nicht beantwortet werden. Literatur wird nicht mehr ausschließlich als nützlich erachtet, sondern sie dient breiteren Kreisen, besonders Frauen und Jugendlichen, als Konsumgut zur Unterhaltung und zum Zeitvertreib. Vor allem dieser Sachverhalt ruft Kritik hervor. der Lesenden enorm zu.« Demel: Reich, Reformen und sozialer Wandel, S. 159 f. problematisiert Folgendes: »Was ›Leserevolution‹ genannt wurde, war jedoch der längerfristige Prozeß einer Gewöhnung breiter Kreise an ein mehr oder minder regelmäßiges, auf den Inhalt konzentriertes und häufig, aber nicht durchgehend leises, bewegungsloses (also etwa nicht gestikulierendes) Lesen. Vornehmlich bei den gebildeten Ständen war diese ›Revolution‹ verbunden mit dem Übergang von der wiederholten Lektüre weniger Werke zur extensiven Informationslektüre.« 18 Osiander nennt Residenz-, Handels- und Universitätsstädte. Vgl. das ausführliche Zitat im e Kapitel dieses Beitrags, Lesen und Selbstmord, Osiander: Uber den Selbstmord, S. 306. 19 Vgl. Medick: Weben und Überleben in Laichingen 1650 – 1900, S. 447 – 560. 20 Vgl. Schmölz-Häberlein: Kleinstadtgesellschaft(en), S. 167 – 180 und Anhang 2, S. 340 – 350, wo Werke in Emmendinger Bibliotheken, die eindeutig identifiziert werden konnten, aufgelistet sind. Die Quellenlage zu den Eigentumsverhältnissen, einschließlich des Bücherbesitzes, ist in Emmendingen vorzüglich, da über 500 Inventare aus dem 18. Jahrhundert erhalten sind, die die soziale Schichtung abbilden.

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Die Medizin um 180021 Bevor die Schriften von Friedrich Benjamin Osiander vorgestellt werden, ist es notwendig, kurz den Stand der Medizin um 1800 zu skizzieren. Bis weit ins 18. Jahrhundert waren die kleinsten Fakultäten an den Universitäten in der Regel die medizinischen. Die zahlenmäßig geringe, studierte Ärzteschaft konzentrierte sich ganz auf Adel und wohlhabendes städtisches Bürgertum. Die übrige Bevölkerung in Stadt und Land konnte sich den Gang zum Arzt nicht leisten und musste sich an nicht-akademische Anbieter von medizinischen Dienstleistungen wenden, wie Chirurgen, Apotheker, Hebammen, Barbiere, Zahnbrecher, Starstecher und Scharfrichter. Dies änderte sich seit der zweiten Jahrhunderthälfte grundlegend, als sich das moderne Krankenhaus entwickelte und die Medizin sich in immer mehr Fachgebiete aufspaltete. Damit einher gingen ein Ausbau der medizinischen Fakultäten und ein Anstieg der Ärzteschaft. Mit dem Argument fehlender Kenntnisse und der ›Pfuscherei‹ versuchten die Ärzte, in enger Kooperation mit staatlichen Behörden, ihre nicht-akademische Konkurrenz vom Markt zu verdrängen oder zumindest zu kontrollieren. Sie erreichten dies, indem sie die Definitionshoheit über die Benennung, Erklärung und Behandlung von Krankheiten erlangten und als Berufsgruppe den medizinischen Markt monopolisierten. Von der medizinhistorischen Forschung wird dieser Vorgang Medikalisierung genannt. Die Zeit zwischen 1750 und 1850 förderte jedoch nicht nur empirische und rationale Ansätze in der universitären Medizin, sondern sie war auch geprägt durch gegenläufige Tendenzen, die im Zusammenhang mit der sich ausbildenden bürgerlichen Gefühlskultur zu sehen sind. Einerseits wurde der menschliche Körper als funktionierende Maschine angesehen und in seine Einzelteile zerlegt, andererseits wurde er in davon abweichenden medizinischen Strömungen der Zeit wie Animismus, Vitalismus oder Brownismus als Organismus aufgefasst, dessen Gesundheit und Krankheit durch den Zustand der Seele bedingt war.22 Mediziner dieser Richtung waren mehr Philosophen als Naturwissenschaftler im heutigen Sinn. Zudem verlor die Humoralpathologie als Erklärungsmuster für Krankheiten an Bedeutung. Krankheiten wurden nicht mehr als eine Disharmonie der Körpersäfte angesehen, sondern als Folge nervlicher Überreizungen im Organis21 Vgl. Huerkamp: Der Aufstieg der Ärzte im 19. Jahrhundert; Loetz: Vom Kranken zum Patienten; French: Medicine before science. 22 Vgl. Wiesing: Kunst oder Wissenschaft? Die ›romantische Medizin‹, besonders der Brownismus, stand stark unter dem Einfluss der Naturphilosophie von Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling. Der Brownismus war besonders im katholischen Deutschland verbreitet, wo er eine moderne, auf wissenschaftlicher Forschung basierende Medizin über Jahrzehnte verhinderte.

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mus. Wie die Neuronalpathologie die Entstehung von Krankheiten erklärte, lässt sich exemplarisch an Osianders Ausführungen zur Romansucht darlegen.

Friedrich Benjamin Osianders Ansichten zur Lesesucht Friedrich Benjamin Osiander23 wurde 1759 im württembergischen Zell unter Aichelberg geboren und besuchte zunächst eine Schule in Kirchheim unter Teck, ehe er 1775 zur Klosterschule von Denkendorf wechselte. Noch im selben Jahr nahm er ein Medizinstudium in Tübingen auf, wo er 1779 mit seiner Dissertation über die Heilquelle von Owen auf der Schwäbischen Alb, De fonte medicato Owensi, promoviert wurde. Bereits während seines Studiums beschäftigte er sich besonders mit der Geburtshilfe. Im Anschluss an die Promotion arbeitete er als Arzt in Kirchheim unter Teck, unterbrochen durch längere Aufenthalte in Straßburg und Kassel, um in Entbindungsanstalten vertiefte praktische Kenntnisse in seinem Spezialgebiet der Gynäkologie und Geburtshilfe zu erwerben. 1791 wurde er zum Direktor des Klinikums und des neu errichteten Entbindungshauses in Göttingen berufen, wo er 1792 eine Professur für Medizin erhielt. 1822 verstarb er hochangesehen in Göttingen. Seine vielfältigen Aufgaben hinderten Osiander nicht daran, zahlreiche Bücher und Aufsätze zu veröffentlichen. Zu seinen wichtigsten Publikationen gehört ein im Jahr 1817 erschienenes zweibändiges Handbuch zu den Entwickelungskrankheiten in den e Bluthenjahren des weiblichen Geschlechts, das schon bald in einer zweiten, überarbeiteten und erweiterten Ausgabe gedruckt wurde.24 In einer ausführlichen Rezension wurde dieses Werk von Christoph Wilhelm Hufeland, 1762 – 1836, dem wohl bedeutendsten deutschen Mediziner der Zeit,25 als die beste bisher erschienene Darstellung der Krankheiten »bei dem weiblichen Geschlechte um die Jahre der Mannbarkeit kurz vor, bei und nach dem ersten Erscheinen der monatlichen Reinigung bis zu dem vollkommen ordentlichen Fliessen derselben«26 gelobt. Osiander gehörte zu einer Ärztegeneration, die zum einen von den Ideen der Aufklärung und zum anderen von der neuen Anthropologie des Bürgertums 23 Vgl. Tshisuaka: Osiander, Friedrich Benjamin, S. 1080. Dort findet sich auch weiterführende Literatur. e e 24 Vgl. Osiander : Uber die Entwickelungskrankheiten in den Bluthenjahren des weiblichen Geschlechts. 25 Hufeland gilt als Begründer der Makrobiotik in Deutschland und bedeutender Vertreter des Vitalismus. Er war Professor für Medizin an der Charit¦ in Berlin und Mitglied der preußischen Akademie der Wissenschaften. 26 Hufeland: [Rezension], S. 259.

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sowie von den medizinischen Strömungen der Zeit geprägt wurde.27 Im Vorwort seines Handbuchs beschreibt er die Medizin als eine Erfahrungswissenschaft, für die die praktische Medicin einen wahren Werth hat, welche uns die psychischen, physischen und medicinischen, aus Erfahrung erhobenen, Wahrheiten aller Jahrhunderte e e e erkennen, sammeln, schatzen, mit Ernst und Wurde behandeln, als Manner von e Charakter festhalten, uns zu eigen machen, und auf die individuellen Krankheitsfalle 28 mit Klugheit, Entschlossenheit und Festigkeit anwenden lehrt.

Sein Beruf als Frauenarzt habe ihn zu der Überzeugung geführt, dass die Gesundheit von Pubertierenden extrem gefährdet sei. Osiander bringt dabei die Romanlektüre in Zusammenhang mit einer besonders üblen ›Krankheit‹, der Selbstbefriedigung. Diese bewirke nicht nur körperliche Schwäche, sondern führe insbesondere zu psycho-sozialen Störungen, die die Frau ins Unglück stürze, weil sie dadurch für ihre Bestimmung zur Ehefrau und Mutter nicht mehr tauglich sei: Nichts wirkt in den Jahren der lebhaftesten Einbildungskraft auf Kopf und Herz eines e jungen Frauenzimmers so nachtheilig, als die an sich verderbliche Romanenlecture. e Schlupfrige Romane erwecken bey ihnen die noch schlafenden Zeugungstriebe, und e reißen sie zur Selbstbefriedigung hin, welche den lebhaftesten Geist todtet, die e bluhenoste [sic] Gesichtsfarbe in kurzem verwischt, und aus einem Engel in wenigen Monaten eine wandelnde Leiche schafft, ja manchmal den Grund zu unheilbaren Uebeln in und außer der Ehe leget.29

Die Lektüre von Belletristik sieht Osiander grundsätzlich kritisch. Er lehnt daher nicht nur die billigen Ritter- und Kolportageromane ab, sondern auch die an27 So publizierte er nicht nur medizinische Fachliteratur, sondern auch Schriften zur Volksaufklärung, unter anderem zu (Tier-)Seuchenbekämpfung, Feuerprävention oder Obstanbau. Osiander veröffentlichte auch kleinere literarische Arbeiten. Vgl. beispielsweise Osiander : Wie können Palläste […] gegen Feuersgefahr geschützt werden?; Osiander : Ueber die Anpflanzung der Obstbäume an Straßen und auf Weideplätzen. e e 28 Osiander : Uber die Entwickelungskrankheiten in den Bluthenjahren des weiblichen Geschlechts, S. VI f. e e 29 Osiander : Uber die Entwickelungskrankheiten in den Bluthenjahren des weiblichen Gee e schlechts, S. 46 f. Osiander : Uber die Entwickelungskrankheiten in den Bluthenjahren des weiblichen Geschlechts, S. 48: Die ›schlüpfrigen Romane‹ sind die »seit etlich und zwanzig Jahren in Unzahl ausgeheckten Ritterromane«. Eine der einflussreichsten Schriften zur Selbstbefriedigung, die zahlreiche Auflagen in ganz Europa erlebte, stammt von Tissot: Von der Onanie. Die Selbstbefriedigung wird in der medizinischen Diskussion als eine der Hauptursachen für Selbstmord angesehen. So schreibt beispielsweise Hoffbauer : Ueber den Selbstmord, S. 132: »Dieses Laster, […] welches im Dunkeln herrscht, ist eine heimliche e e e e Sunde, gewohnlich der Jugend, […]; es entnervt ungemein den Korper, und schwacht so sehr e Geist und Herz, dass der Mensch, jede Gesellschaft und alle Vergnugungen meidend, bald mit e Abscheu gegen sich selbst erfullt wird.«

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spruchsvollen literarischen Werke des Sturm und Drang, denen er mit Unverständnis gegenübersteht: Sind auch die Romane rein sittlich, aber empfindsam und hoch gespannt, so wird in dem zarten Herzen der Leserin das Feuer einer idealistischen Liebe angefacht, und eine e Sehnsucht rege, die selten so befriedigt wird, wie die uberspannten Foderungen [sic] 30 und Erwartungen es heische.

Die Enttäuschung durch das Auseinanderklaffen vom in der Lektüre vorgefundenen Ideal und der Realität als Gattin und Mutter führe zu schrecklicher Schwermut. Wenn die Umwelt dagegen keine Maßnahmen ergreift, »so wird e e e entweder sein Verstand unheilbar zerruttet, und das sonst verstandige Madchen e e vollig verruckt, oder es ist Selbstmord das traurige Ende dieser Entwickelungskrankheit.«31 Osiander berichtet anschließend vom Fall der Kammerzofe einer adeligen Dame, den er selbst in den 1780er-Jahren in einem württembergischen Heilbad miterlebt hatte. Diese Zofe habe sich in eine solche Hysterie hineingesteigert, dass sie fast daran zugrunde gegangen sei. »Der ganze und e eigentliche Grund aber ihrer Visionen bestandt sicher in einer machtig aufgeregten und nie befriedigten Zeugungsbegierde, bey Verwirrung ihrer Phantasie e durch Romanenlecture.«32 Verstärkt wurde der krankhafte Gemütszustand des Mädchens durch fehlende Arbeit und das vorherrschende schwülwarme Sommerwetter.33 Das Problem der Lesesucht darf jedoch nicht isoliert betrachtet werden. Wichtig zu dessen Verständnis ist es, den Kontext mit zu berücksichtigen, in dem Osiander die ›Krankheit‹ verortet. Denn junge Frauen sind von einer Vielzahl von Krankheiten bedroht, deren Ursachen der Rezensent von Osianders Werk folgendermaßen begründet: Jede Entwicklungsperiode des thierischen Lebens, und des menschlichen insbesondere, ist mit einer eigenen Disposition, Propension oder Neigung zu gewissen Krankheiten verbunden. Die Jahre der angehenden Mannbarkeit sind der Zeitpunkt der mächtigsten Entwicklung, und es wird der Organismus um diese Zeit gegen alle Eindrücke vorzüglich empfindlich. Bei dem weiblichen Geschlechte, bei welchem die e

e

30 Osiander : Uber die Entwickelungskrankheiten in den Bluthenjahren des weiblichen Geschlechts, S. 47. e e 31 Osiander : Uber die Entwickelungskrankheiten in den Bluthenjahren des weiblichen Geschlechts, S. 49. Osiander bezieht sich hier auf eine Rezension von Jean Pauls Roman Flegeljahre, der 1804/05 in Tübingen im Cotta-Verlag erschien. Bei dt: Flegeljahre, S. 430 war zu e lesen: »Andere Leser, besonders weibliche, […] verspuren bisweilen gar Anwandlungen von melancholischer Tollheit und Trieb zum Selbstmorde. Das ist Thatsache.« e e 32 Osiander : Uber die Entwickelungskrankheiten in den Bluthenjahren des weiblichen Geschlechts, S. 52. e e 33 Vgl. Osiander : Uber die Entwickelungskrankheiten in den Bluthenjahren des weiblichen Geschlechts, S. 52: Er schreibt von »sitzender Lebensart« und »treibende[r] Gewitterate mosphare«.

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Sensibilität oder Empfindlichkeit der Person zu allen Zeiten des Lebens hervorstehend ist, findet daher in jener Periode eine besondere Erhöhung der Empfindlichkeit sowohl im ganzen Nervensysteme, als besonders in dem System der sympathischen Nerven und den Nerven des Rückenmarkes Statt [sic]. Dieses ist der Hauptgrund weswegen alle Krankheiten, welche beim weiblichen Geschlechte in dieses Alter fallen, einen eigenen Charakter haben, der sich zwar selten durch grosse Gefahr für das Leben, aber durch besondere Einwirkung der Seele auf den Körper, und Zurückwirkung von diesem auf jenen, so wie durch Einwirkung anderer menschlicher Individuen auf ein Mädchen von den Jahren der Mannbarkeit, und durch die Disposition eines solchen Mädchens zur Aufnahme schädlicher Eindrücke, vermöge der Vorstellung, in seine Seele, recht auffallend auszeichnet.34

Nachfolgende weibliche Entwicklungskrankheiten behandelt Osiander neben der ›Romanensucht‹ sehr ausführlich: 1. krankhafte Mitleidenschaft, ›sympathia morbosa‹ 2. Nachahmungssucht, ›adfectus mimicus / mimeticus‹ 3. mysteriöse Melancholie, ›melancholia mystica‹, die oft aus der ›melancholia amatoria‹ der Mädchen in der Pubertät hervorgeht35 4. unersättliche Lust nach Leiden und Ungemach, ›dolorum adversarumque rerum aviditas‹ 5. Fallsucht, ›epilepsia‹, die während der ersten Monatsblutung häufig auftreten soll 6. St. Veitstanz, auch das taktmäßige Gliederzucken, ›chorea St. Viti seu convulsiones rhythmicae‹, genannt36 7. Ohnmacht in verschiedenen Graden, ›deliquium animi‹ 8. Schlafrednerei, ›somniloquium‹, nicht zu verwechseln mit Schlafwandeln 9. Geisteserhöhung, oft mit Gabe der Weissagung verbunden, ›animi exaltatio cum praesagiendi facultate‹ 10. Starrsucht, ›catalepsis‹, die zu Beginn einer Monatsblutung auftreten kann und häufig mit Schmerzunempfindlichkeit einhergeht37 11. Feuerlust Letztere ist in diesem Zusammenhang auf den ersten Blick überraschend, denn sie passt nicht ganz in das sonstige Schema der weiblichen Empfindlichkeit. Zumal im Mittelalter, in der Frühen Neuzeit und erneut seit Mitte des 19. Jahrhunderts vor allem das männliche Geschlecht mit dem Feuer spielt(e), 34 Hufeland: [Rezension], S. 260 f. 35 Hufeland: [Rezension], S. 262: »Mit Unrecht achtet man in Deutschland zu wenig auf diese melancholia amatoria, in Italien hält man sie mit Recht für eine bedeutende Krankheit.« 36 Der St. Veitstanz geht oft einher mit großer Redseligkeit oder heftigen Wein- und Lachanfällen. Die betroffenen Mädchen wurden früher als verhext oder besessen angesehen. 37 Vermutlich wird hier eine seltene Form der Epilepsie beschrieben.

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wie die Kriminalitätsforschung nachweisen konnte.38 Osiander macht jedoch die richtige Feststellung, dass im Zeitraum zwischen 1750 und 1850 auch zahlreiche Frauen unter den Brandstiftern zu finden sind.39 Das Beispiel der ›Feuerlust‹ zeigt, dass der Göttinger Arzt ein guter Beobachter des gesellschaftlichen Wandels seiner Zeit war, auch wenn man seiner Ansicht, Brandstifterinnen als krank einzustufen, nicht folgen mag. Würde man die Publikationen von anderen zeitgenössischen Ärzten auswerten, so stieße man auf weitere Krankheiten, die Mädchen und junge Frauen betreffen konnten, wie beispielsweise die Bleichsucht.40 Alle genannten Krankheiten, ob es sich nun um reale Krankheiten wie die Epilepsie oder um ›erfundene‹ handelt, können sich Osiander zufolge schon bei Mädchen mit neun oder zehn Jahren bemerkbar machen, sind aber auch bei erwachsenen Frauen im Alter von 25 Jahren noch zu beobachten. Gehäuftes Auftreten ist bei Personen festzustellen, deren Eltern kränklich oder hypochondrisch veranlagt sind, oder wenn die Väter an einer ›Lustseuche‹ leiden. Osiander betont, dass häufig mehrere Krankheiten in Kombination zu beobachten sind. Besonders gefährlich für die Gesundheit wird es, wenn Lesesucht gemeinsam mit der bereits genannten Onanie, aber auch mit Nachahmungssucht, Melancholie und unersättlicher Lust nach Leiden und Ungemach auftritt.41

Lesen und Selbstmord Die ›Vesana ad scenas romanenses propensio‹ konnte Pubertierende in den Selbstmord treiben, der nach gängiger religiöser Vorstellung als Todsünde galt. Obwohl Selbstmord nicht gerade zu Friedrich Benjamin Osianders Forschungsfeld im engeren Sinn gehörte, so beschäftigte ihn das Thema doch so sehr, dass er hierzu ebenfalls eine umfangreiche Studie verfasste. Damit ergibt sich die Möglichkeit, Lesen und dessen Gefahren für Leib und Leben aus einer 38 Vgl. Schwerhoff: Historische Kriminalitätsforschung. 39 Die medizinische Begründung Osianders, warum weibliche Teenager davon betroffen sein e sollen, lautet wie folgt: »Neben dem Eigenthumlichen des Gehirn- und Nervensystems e e e e solcher empfindlichen, jungen Madchen, außert sich oft auch fruhe eine Eigenthumlichkeit e e e ihres Gefaßsystems. Die Venositat ihrers Blutes ist stets großer, als die Erzeugung des are e e teriosen Blutes.« Osiander : Uber die Entwickelungskrankheiten in den Bluthenjahren des weiblichen Geschlechts, S. 195. 40 Vgl. Hardach-Pinke: Bleichsucht und Blütenträume. 41 Osiander und die pädagogische Literatur bedienen sich der gleichen Argumentationsmuster. Barth: Mädchenlektüren, S. 79: »Die pädagogischen Reden über Lesen korrespondieren immer wieder mit den medizinischen. Sie spitzen sich in der Onaniediskussion zu, die einen engen Zusammenhang von Lektüren und psychosexuellen Triebregulierungen herstellt.« Grundlegend zum Onaniediskurs vgl. Braun: Die Krankheit Onania.

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anderen Perspektive zu betrachten. Denn Osiander sieht in der Tat einen direkten Zusammenhang zwischen der Leserevolution des 18. Jahrhunderts, die ihre Ursache in der Lesesucht der städtischen Bevölkerung habe, und dem Anstieg der Selbstmordraten: e

e

Aber auch im ubrigen Deutschlande nahm nach dem siebenjahrigen Kriege, besonders e e aber in den achtziger Jahren, in vielen Residenz-, Handels- und Universitatsstadten der Selbstmord sehr zu. Die Ursache davon schien keine andere zu seyn, als die sich immer e e mehr verbreitende Sucht der faden Romanen-Lecture, welche die uberall errichteten e e Lesegesellschaften und die Nachdrucke schongeisterischer Schriften ungemein e e begunstigten, und von den hohern bis in die niedern Klassen verstreuten, und wodurch die Liebe, einen Roman zu spielen, und endlich wie ein Romanenheld zu sterben, e nachdem Kopf und Herz mit Abentheuer angefullt und verschroben waren, unter der so e empfanglichen Jugend allgemein verbreitet wurde.42

Dabei denkt Osiander vor allem an Johann Wolfgang von Goethes Briefroman Die Leiden des jungen Werther, der zur Leipziger Herbstmesse 1774 erstmals erschienen war. Als einziges Heil- und Gegenmittel gegen die Lesesucht empfiehlt er mit robespierreschem Eifer : e

Man verbiete, unterdrucke und zernichte alle Romane, Trauerspiele oder e e schongeisterische Schriften, in welchen der Selbstmord als eine rumliche Handlung, als eine Heldenthat oder eine Handlung eines großen Genie’s dargestellt wird. Gleichviel, e wer das Buch geschrieben hat, ein Shakespeare, Schiller oder von Gothe. Die Welt 43 verliert nichts dabei, […].

Tatsächlich gab es deutsche Staaten, die Osianders Ansicht von der Gesundheitsgefährdung der Bevölkerung durch die Lektüre des Werther teilten und daher den Verkauf des Werks verboten.44 Liest man die zeitgenössische Selbstmordliteratur und Presse, dann könnte man in der Tat den Eindruck bekommen, dass Deutschland von einer Selbstmordwelle überrollt wurde und das Verbot somit zumindest eine gewisse Berechtigung hatte. Tatsächlich gibt es einige wenige spektakuläre Fälle, jedoch ist ein Anstieg der Selbstmordraten nicht nachweisbar.45 Das Werther-Fieber beruht somit auf einem ›Medienhype‹ und sagt viel über die Befindlichkeit der Gesellschaft am Ende des Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation aus. Was in der Forschungsliteratur zur Lesesucht bisher gerne übersehen wurde, ist der Sachverhalt, dass nicht nur Romane süchtig machen konnten, sondern auch religiöse Erbauungsliteratur als Gefahr für die Gesundheit und als Selbstmordmotiv angesehen wurde. So hält der Bielefelder Arzt Johann Heinrich 42 43 44 45

e

Osiander : Uber den Selbstmord, S. 306. e Osiander : Uber den Selbstmord, S. 359. Vgl. Steinberg: Furcht vor dem Werther-Fieber. Vgl. Kästner : Tödliche Geschichte(n), S. 468 – 473.

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Hoffbauer es für eine erwiesene Tatsache, dass religiöse Menschen sich bevorzugt das Leben durch das Durchtrennen der Kehle nähmen: »Die frommen e Schwarmer, den Hals abgeschnitten, werden oft in knieender, gleichsam betender Stellung gefunden, oder auch manchmal sitzend vor einem ascetischen Buche, wie in tiefe Andacht versunken«.46 Ferner berichtet Julius Heinrich Gottlieb Schlegel, 1772 – 1839, Leibarzt der Fürsten von Weimar und Meiningen, ausführlich von einem Selbstmord aus dem Jahr 1815. In diesem Fall war eine verheiratete Mutter lutherischer Konfession in den Selbstmord getrieben worden, wobei Erbauungsliteratur ihr Weltbild und ihre Wahnvorstellung wohl entscheidend mitprägten: Durch erbliche Anlage, Glauben an Hexerei, durch Beten und Lesen in Erbauungse buchern, ohne gebildet genug zu seyn, das zu verstehen, was sie vielleicht kaum lesen e konnte, eilte sie durch falsche […] Religionsbegriffe einer volligen Geistesverwirrung e e e entgegen. […] Sie verfiel in religiose Melancholie, außerte unter andern: sie wurde e nicht in den Himmel kommen, sondern auf eine Wiese, wo sie Gras fressen mußte. So e e lange man sie in ihren unsinnigen Gebeten nicht storte, verhielt sie sich ruhig, wahlte besonders den vor ihrem Hause befindlichen Ziehbrunnen zum Gegenstande ihrer Andacht, kniete oft, mit einem Gebetbuch in der Hand, stundenlang vor diesem Brunnen und nannte ihn den Quell des reinen Lebens.47

In einem unbeobachteten Moment sprang sie am 26. Mai 1815 in den Brunnen, wo sie ertrank.

Lesen und ›mittelbarer‹ Selbstmord48 Den Zusammenhang von Lesen und Selbstmord kann man noch deutlicher an einer Sonderform der Selbsttötung erkennen, weil die ›Täter-Opfer‹ befragt werden konnten und auch bereitwillig Auskunft gaben. Diese aus heutiger Sicht überraschende ›Lösung‹ für den Wunsch, sich zwar das Leben nehmen zu wollen, gleichzeitig jedoch als Christ mit der Aussicht auf Auferstehung zu sterben, stellt der ›mittelbare‹ oder ›indirekte‹ Selbstmord dar. Dieser ist seit dem frühen 17. Jahrhundert bekannt, wurde jedoch im Verlauf des 18. Jahrhunderts von der Öffentlichkeit verstärkt wahrgenommen, weil man das Problem hatte, wie damit zu verfahren sei: Sind diese Menschen wie Mörder hin46 Hoffbauer : Ueber den Selbstmord, S. 51. 47 Schlegel: Das Heimweh und der Selbstmord, S. 101 f. 48 Interessant ist, dass der ›mittelbare‹ Selbstmord in Rost: Bibliographie des Selbstmords nicht berücksichtigt wurde. Das Phänomen scheint Rost unbekannt gewesen zu sein. Im Abschnitt Der Selbstmord und die Lektüre geht es ausschließlich um ›Schundliteratur‹. Vgl. Rost: Bibliographie des Selbstmords, S. 42.

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zurichten oder als Geisteskranke in ein Zucht- und Irrenhaus beziehungsweise in die neuen psychiatrischen Anstalten einzuweisen? Dem ›mittelbaren‹ Selbstmord widmet auch Friedrich Benjamin Osiander einen Abschnitt in seiner Selbstmordstudie, den er folgendermaßen definiert: e

Andere wollen den Tod nicht durch sich selbst, noch eigenhandig, sondern durch andere mit Bitten, List oder Gewalt dazu gebrachte Menschen bewirken, oder durch ein e e todeswurdiges Verbrechen von der offentlichen Justiz erzwingen. Dabei hegen sie gee wohnlich die Absicht und den Wunsch, Zeit zu gewinnen, um sich auf die Ewigkeit e e vorbereiten und von Gott Verzeihung ihrer Sunden erlangen zu konnen.49

Eine ganz besonders originelle List zur ›Sterbehilfe‹ in eigener Angelegenheit hatte ein Bürger zu Wien im Jahr 1812, der den dortigen Scharfrichter zu sich nach Hause einlud und ihn zwingen wollte, ihn zu töten: e

e

Als dieser in das Zimmer getreten war, verschloß der Burger die Thure, und sagte dem e Scharfrichter, er sey seines Lebens mude, und daher fest entschlossen, solches durch den Strick zu endigen. Da er aber nicht gerne Hand an sich lege, so habe er ihn wegen e seiner bekannten Geschicklichkeit im Aufhangen kommen lassen, um dieses Werk an ihm zu verrichten. Hierauf zeigte er ihm in der einen Hand 6 Ducaten, die er als e Belohnung haben solle, in der andern eine geladene Pistole, und fugte hinzu, dass diese e e fur ihn bestimmt sey, wofern er sich weigere, das ihm zugemuthete Geschaft zu e 50 ubernehmen.

Seine Zustimmung vortäuschend, bat der Scharfrichter darum, das übliche Hinrichtungsverfahren durchführen zu dürfen, wozu er dem Delinquenten die Hände binden musste. Dabei entwand er dem Selbstmörder die Waffe und zeigte e den Fall der Wiener Polizei an, »welche den Verruckten unter die gehörige Obhut 51 setzte.« Leider wird nichts über die Hintergründe dieses missglückten ›mittelbaren‹ Selbstmordversuchs mitgeteilt, der vermutlich mit einer Einweisung in eine Irrenanstalt endete. Es kann jedoch mit Sicherheit gesagt werden, dass es sich nicht um einen typischen Fall handelt. Der ›mittelbare‹ Selbstmord wird in der Mehrzahl von Frauen gesucht. Um nicht als sozial geächtete Selbstmörderinnen behandelt zu werden, töteten diese Frauen ein Kleinkind, das nach damaliger Vorstellung sofort Aufnahme im Himmel fand.52 Anschließend stellte sich die Täterin den e

49 Osiander : Uber den Selbstmord, S. 95. Der ›mittelbare‹ oder ›indirekte‹ Selbstmord ist durchaus kein Phänomen einer vergangenen Epoche, sondern immer noch aktuell, auch wenn sich Methoden und Motive geändert haben. Als Beispiel seien Geisterfahrer genannt, die mit Absicht schwere Verkehrsunfälle auf Schnellstraßen und Autobahnen herbeiführen. e 50 Osiander : Uber den Selbstmord, S. 97. e 51 Osiander : Uber den Selbstmord, S. 98. 52 Neben dieser häufigsten Variante der Kindstötung finden sich noch die Selbstbezichtigung von nicht begangenen Verbrechen, Brandstiftung oder Blasphemie durch das Zerschlagen

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Behörden und gestand ihr Verbrechen, um nach Abschluss des Gerichtsverfahrens vom Scharfrichter öffentlich, in einem »Theater des Schreckens«, hingerichtet zu werden.53 Zuvor hatte sie ihre Sünden bereut und von einem Geistlichen die Absolution erhalten.54 Im Gegensatz zu Selbstmördern, deren Leichen ehrlos entsorgt oder und anonym begraben wurden,55 konnte diesen Delinquenten ein christliches Begräbnis nicht verweigert werden, und auch ihr Besitz konnte nicht beschlagnahmt werden, wie dies in einigen deutschen Territorien bei bewusstem Selbstmord üblich war.56 Für die historische Forschung sind diese Fälle deshalb besonders aufschlussreich, weil die Täter in den Verhören bereitwillig Auskunft über die Hintergründe ihres Verbrechens gaben. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass in gut dokumentierten Fällen zum ›indirekten‹ Selbstmord ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen der Lektüre von religiöser Erbauungsliteratur, die angeblich zu Melancholie führte, und der Tat hergestellt wird.57 Die religiösen Praktiken des konfessionellen Zeitalters wurden von manchem Mediziner als für die Gesundheit bedenklich angesehen. Friedrich Benjamin Osiander geht hierauf nicht näher ein, aber sein Rezensent, der Berliner Medizinprofessor Christoph Wilhelm Hufeland, stellt fest, dass die ›melancholia mystica‹ besonders in Klöstern und unter Pietistinnen oder Herrnhuterinnen verbreitet sei. Hufeland rückt intensive religiöse Lektüre und Andacht damit in die Nähe von psychischen Krankheiten.58 Also

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von Kruzifixen in Kirchen. Ein Beispiel für eine Brandstifterin, die ›mittelbaren‹ Selbstmord verüben wollte, findet sich in Stuart: Suicide by Proxy, S. 414. Osiander hätte bei dieser Frau wohl Feuerlust in Kombination mit einer Form von Melancholie und Lust an Leiden und Ungemach diagnostiziert. Dülmen: Theater des Schreckens. Für einen ersten Überblick zum Phänomen des ›indirekten‹ Selbstmords in Verbindung mit Aspekten wie Chronologie, Geographie, konfessionelle Verteilung und Rituale vgl. Stuart: Suicide by Proxy. In der Reichsstadt Augsburg beispielsweise wurden die Leichen von Selbstmördern vom Scharfrichter in Fässern im Lech versenkt. In Württemberg wurden sie unter dem Galgen verscharrt. Diese drastischen Sanktionen betrafen allerdings nur Selbstmörder, die bei klarem Verstand handelten. Kranke, melancholische Selbstmörder wurden in geweihter Erde bestattet, allerdings nur in einer ›stillen‹ Beerdigung bei Nacht und ohne Prozession und Sterbeglocke. Diese Gnadenakte der Obrigkeit stießen allerdings nicht selten auf den Widerstand der Bevölkerung. Bei jedem Selbstmord wurde daher von Amts wegen eine Untersuchung zu den Hintergründen eingeleitet, weshalb es hierzu eine breite Quellenüberlieferung gibt. Vgl. Stuart: Suicide by Proxy, S. 416 f. Dies war zum Beispiel im Kurfürstentum Bayern der Fall. Vgl. Heydenreuter : Kriminalgeschichte Bayerns, S. 137. Der Selbstmord wurde seit dem 16. Jahrhundert von den landesherrlichen Juristen als Religionsdelikt angesehen, das in die Zuständigkeit des Landesherrn beziehungsweise seiner Zentralbehörden fiel. Beispiele hierfür in Stuart: Suicide by Proxy – Crime, Sin and Salvation, vgl. besonders Kapitel 4: Melancholy Murderers: Suicide by Proxy and the Insanty Defence. Vgl. Hufeland: [Rezension], S. 262. Als Risikofaktor wird besonders der Zölibat hervorgee hoben. Hoffbauer : Ueber den Selbstmord, S. 156: »Auch haben im geistlichen Colibat von

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können nicht nur Romane, sondern auch religiöse Erbauungsschriften ›tödlich‹ sein. In der damaligen Fachterminologie ausgedrückt, sind die ›mittelbaren‹ Selbstmörderinnen an der mysteriösen Melancholie, ›mystica melancholica‹, erkrankt, die durch intensives Versenken in religiöses Schrifttum ausgelöst worden sein kann. Durch die weibliche Nachahmungssucht werden die psychisch und physisch bereits angeschlagenen und geschwächten Frauen dazu verleitet, zur Tat zu schreiten. Angeregt werden sie entweder durch das Miterleben einer Hinrichtung einer ›mittelbaren‹ Selbstmörderin oder durch die Rezeption von illustrierten Einblattdrucken, Flugschriften und Zeitungen.59 Ferner wurde das Phänomen des ›indirekten‹ Selbstmords in Intelligenzblättern und Zeitschriften zu Medizin, Psychologie und Jurisprudenz behandelt, die in großer Zahl seit den 1750-er Jahren gegründet wurden.60 Der ›mittelbare‹ Selbstmord verlor seine Attraktivität, als Obrigkeit, Juristen und Theologen nicht mehr der Argumentation der Täter folgten, die für sich eine Verurteilung zum Tode im wahrsten Sinne des Wortes einklagten, sondern sie wie den Wiener Bürger im Jahr 1812 für unzurechnungsfähig erklärten und in Irren- oder psychiatrische Krankenhäuser einweisen ließen.61 Das gewandelte Menschenbild machte Hinrichtungen problematischer und damit seltener. Die Entscheidungsträger sahen diese Selbstmordversuche nicht mehr als Sünde gegen Gott, welche eine Bestrafung der ganzen Bevölkerung nach sich ziehen konnte, wenn sie nicht geahndet wurden. Vielmehr wurden diese Taten in zunehmendem Maße als Übertretungen von gesellschaftlichen Normen durch verwirrte und kranke Menschen erachtet.62

Resümee und Ausblick: Medien und ihre Wahrnehmung Von der historischen Lese(r)forschung wird die medizinische Fachliteratur des 18. und 19. Jahrhunderts noch zu wenig beachtet. Weitere ungenutzte Quellen finden sich darüber hinaus in Gerichtsakten zum Selbstmord beziehungsweise

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jeher Hypochondrie, Melancholie, Wahnsinn und die Sucht, sich den Lebensfaden abzuschneiden, wichtige Rollen gespielt.« Vgl. für Beispiele Stuart: Suicide by Proxy – Crime, Sin and Salvation. Vgl. Hufeland: [Rezension]. Vgl. für weitere Beispiele Stuart: Suicide by Proxy, S. 427: Magazin für Erfahrungsseelenkunde, als Lesebuch für Gelehrte und Ungelehrte, gegründet 1783, oder Annalen der Gesetzgebung und Rechtsgelehrsamkeit in den preussischen Staaten, gegründet 1788. Der früheste ›mittelbare‹ Selbstmord, der bislang bekannt ist, wurde im Jahr 1612 dokumentiert, der letzte 1839. Vgl. Stuart: Suicide by Proxy, S. 421. Zum Rückgang öffentlicher Hinrichtungen im Allgemeinen vgl. Demel: Reich, Reformen und sozialer Wandel, S. 171.

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zum ›mittelbaren‹ Selbstmord. Besonders letztere sind ergiebig, weil die Betroffenen bereitwillig Auskunft gaben, wodurch sie einen Einblick in Lesepraktiken und Lektürerezeption des Kleinbürgertums erlauben, über die im Vergleich zum Wirtschafts- und Bildungsbürgertum bislang weit weniger bekannt ist.63 Noch 1913 sieht der Blankenburgische Pfarrer Bernhard Bergervoort einen engen Zusammenhang zwischen schlechter, sittenloser Lektüre, wozu er auch die aufkommende Literatur zur sexuellen Aufklärung zählt, und Selbstbefriedigung sowie Selbstmord, um schließlich vor dem neu aufgekommenen Medium Kino zu warnen.64 Für ihn zieht hier offensichtlich eine neue Gefahr auf. Die öffentliche Diskussion um die Einführung von neuen Medien war und ist immer mit Ängsten und Befürchtungen hinsichtlich ihrer ökonomischen, gesellschaftlichen und kulturellen Aus- und Rückwirkungen verbunden.65 Es wäre lohnend, hierzu eine vergleichende, nicht nur medizingeschichtlich ausgerichtete Studie über den Zeitraum von der Expansion des Zeitungs- und Zeitschriftenmarkts bis zur Gegenwart durchzuführen.66 Denn der Diskurs zur Lesesucht besitzt Gemeinsamkeiten, aber auch seine Besonderheiten im Vergleich mit den Diskussionen um die Gefahrenpotenziale von Kino, Radio, Fernsehen, Computer, Internet und Handy. Auch wäre danach zu fragen, wie sich die Sicht auf die etablierten Medien bei der Einführung eines neuen Mediums ändert. So wird Lesen heute nicht als Ursache von ADHS, sondern eher als ›Heilmittel‹ gegen unkontrollierten Medienkonsum erachtet. Rudolf Schenda sah in der Lesesucht eine »ideologische Fälschung«67 aufklärungsfeindlicher und antiemanzipatorischer Kreise. Dies ist sicher ein 63 Im Kapitel Methoden und Quellen von Messerli: Leser, Leserschichten und -gruppen, Lesestoffe, S. 455 – 462 wird nur beiläufig auf den medizinischen Diskurs hingewiesen, die ergiebige medizinische Literatur zu Selbstmord, Onanie und Hysterie wird nicht erwähnt. 64 Bergervoort: Selbstmord und Lektüre, S. 674: »Nach unseren Erfahrungen ist in den weitaus meisten dieser Fälle die Unsittlichkeit der eigentliche Grund, besonders die sog. stumme Sünde [Onanie]. Sittenlose Lektüre sowohl, wie auch verfrühte Aufklärung begründen die Ueberreizung des Sexualtriebes, rauben den inneren Frieden, die Sünde macht energielos, willensschwach, mißmutig, lebensüberdrüssig, […].« Am Ende seines Beitrags verweist Bergervoort noch auf ein neues Medium: »Und warnen vor verführerischer Lektüre und schlechtem Kino!« 65 Vgl. hierzu Axel Kuhn in diesem Band mit seinem Beitrag Das Ende des Lesens? 66 Erste Ansätze hierzu liefert Andree: Wenn Texte töten, S. 222 f.: »Es gibt überhaupt keine Medienrezeption ohne Beeinflussung, deshalb können Medien auch ›gefährlich‹ sein. Warum aber existiert diese Debatte um die Mediengewalt erst seit der Neuzeit – Goethes Werther markiert ja den ersten Skandal zu diesem Thema? Die Antwort lautet: Eine pluralisierte Medienlandschaft ist Grundvoraussetzung für solche irregeleiteten Rezeptionshandlungen. Erst infolge der Durchsetzung der Druckerpresse während des 17. und 18. Jahrhunderts und der dadurch verursachten explosionsartigen Diversifizierung der zugänglichen (Text-)Welten werden Fehllektüren möglich, […].« 67 Schenda: Volk ohne Buch, S. 88.

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wichtiger Aspekt des Diskurses, aber Friedrich Benjamin Osiander gehörte nicht zu diesen konservativen Kreisen, die die alte Ordnung retten wollten. Es ging letztendlich um Kontrolle und Normensetzung bei der Verdammung der Lesesucht. Als Repräsentantem der bürgerlichen Oberschicht missfiel Osiander an der Leserevolution kaum die Tatsache, dass mehr als früher gelesen wurde, sondern er kritisierte, dass für Jugendliche ungeeignete Lektüre in Einsamkeit, und damit ohne soziale Kontrolle, zu irrationalen Hirngespinsten und unvernünftigem Handeln führen könne. Süchtige Leser waren dem Projekt der Emanzipation des Bürgertums nicht förderlich, weil sie im Fall religiöser Leser in unaufgeklärten Verhältnissen stecken blieben, Romanleser dagegen die Emanzipation nicht voranbrachten, ja sogar von Ideen befallen werden konnten, die nicht seiner Vorstellung einer bürgerlichen Gesellschaft entsprachen.68 Besonders bei jungen Frauen war nach Osianders Ansicht die Gefahr besonders groß, dass diese ihrer Rolle als Ehefrau und Mutter nicht genügen könnten. Dabei tat sich das Dilemma auf, dass Bildung eine unabdingbare Voraussetzung für sozialen Aufstieg und die Emanzipation des Bürgertums darstellte. Dies galt auch für Frauen, für die Bildung die Chancen auf dem Heiratsmarkt verbesserte. Die positiven Auswirkungen des Lesens für die Persönlichkeitsentwicklung junger Menschen werden von Osiander jedoch an keiner Stelle thematisiert. Der Grund hierfür dürfte in seiner Rolle als Arzt zu suchen sein, der seine Mitbürger vor einem gefährlichen Gift warnen wollte. Erst die Pädagogen in der Generation nach Osiander berücksichtigen die positiven Faktoren des Lesens.69 Ihre Einsicht, dass das Lesen nicht verboten, allenfalls durch geeignete Lektüre für die Jugend gelenkt werden könne, hatte zur Folge, dass man sich Gedanken über eine altersgerechte Kinder- und Jugendliteratur machte.70 Die Kombination von Angst vor den Folgen der ›erfundenen‹ Krankheit der Lesesucht und dem neuen pädagogischen Ansatz der Förderung der Leselust gab dem Kinder- und Jugendbuchmarkt wichtige Impulse.71

68 Im Punkt der Destabilisierung der Gesellschaft berühren sich die Argumente bürgerlicher sowie kirchlicher und konservativer Kritiker der Lesesucht, auch wenn letztere, neben Säkularisation und Dechristianisierung, die alte Ordnung durch Auflösung des ›ganzen Hauses‹ in Gefahr sahen. Vgl. Erning: Das Lesen und die Lesewut, S. 86 – 88. 69 Vgl. Barth: Mädchenlektüren, S. 136 – 141. 70 Der erste Lehrstuhl für Pädagogik wurde in Halle allerdings bereits 1779 eingerichtet. Vgl. Demel: Reich, Reformen und sozialer Wandel, S. 163. 71 Die Entwicklung dieses Markts ist gut nachvollziehbar mit Hilfe von Brüggemann / Ewers: Handbuch zur Kinder- und Jugendliteratur, Bd. 3 und Brunken u. a.: Handbuch zur Kinderund Jugendliteratur, Bd. 4.

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Anomie der Moderne Soziale Norm und kulturelle Praxis des Lesens

Leseakte werden einerseits durch individuelle Befindlichkeiten wie intellektuelles Vermögen, Zeit- und Finanzbudget modelliert, andererseits ist die Kulturtechnik Lesen seit Ende des 18. Jahrhunderts mit bestimmten normativen sozialen und kulturellen Regeln belegt. So wurde das Lesen im Zuge der Aufklärung zugleich zu einem Mittel und einer normativen Praxis, um kulturelle Ziele zu erreichen. Diese Ziele hießen sehr allgemein Rationalität, Bildung und kritische Öffentlichkeit. Die sozialen und kulturellen Aspekte des Lesens wurden mit Beginn der Moderne1 von den Zeitgenossen ausdrücklich formuliert und kontrovers diskutiert. Nach Richard Münch wird die ›Idee der Moderne‹ durch eine »voluntaristische als eine komplexe und kontingente Ordnung«2 konstituiert. In dieser Ordnung werden die Normen und Wertesysteme formal geregelt, gleichwohl zunächst nur allgemein und nicht in ihrer inhaltlichen Füllung. Die voluntaristische Handlungstheorie geht davon aus, dass »den allgemeingültigen Prinzipien und dem gemeinschaftlichen Konsens keine hinreichende motivierende Kraft für das konkrete menschliche Handeln«3 inhärent ist und diese allgemeingültigen Prinzipien daher »im Extremfall nur eine ideelle Ordnung ohne faktische Wirkung im konkreten Handeln«4 sind. So bleibt eine permanente Spannung im normativen Muster, das »individuelle Autonomie und kulturelle Allgemeingültigkeit, individuelle Bedürfnisentfaltung und soziale Geordnetheit des Handelns miteinander vereinigt, ohne daß eine Seite der anderen untergeordnet würde«.5 Damit wird jedoch nicht negiert, dass grundsätzlich ein allgemeingesellschaftlicher Konsens über das sozial und kulturell Wünschenswerte existiert. Konzepte rationalen Handelns sowie die Betonung und Aufwertung individueller Freiheit seit der Aufklärung führten in der Folge, flankiert 1 Der Beginn der Moderne wird hier mit dem Durchbruch der Aufklärung und der Durchsetzung rationalen Handelns spätestens Ende des 18. Jahrhunderts datiert. 2 Münch: Die Struktur der Moderne, S. 617. 3 Münch: Die Struktur der Moderne, S. 620. 4 Münch: Die Struktur der Moderne, S. 621. 5 Münch: Die Struktur der Moderne, S. 621.

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vom Aufstieg der bürgerlichen Gesellschaft im 19. Jahrhundert, zu einem soziokulturellen Wertesystem, das die aktive Gestaltung des eigenen Lebens wie auch eine persönliche Verantwortung für die kollektive Umsetzung von gemeinsamen Zielen innerhalb der Wertegemeinschaft normativ forderte. Insbesondere im Zusammenhang mit Kanonisierungsfragen präferierte Lesestoffe sind durch entsprechende Quellen aus dem 19. Jahrhundert und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts belegt und ausgewertet worden. Dazu gehören unter anderem schulische Lesebücher6, autobiographische Zeugnisse7, Anstandsbücher8 sowie auch Büchmanns Zitatenschatz von 18649. Dabei wurden vor allem die bürgerliche Gesellschaft, ihr Wertesystem und ihr Verhältnis zum Lesen als Element der Sozialisation analysiert, die sowohl die Kenntnis des klassischen Lektürekanons forderten als auch den Umgang mit dem Buch regelten. Erst als das Lesen zunehmend als gesamtgesellschaftliches Phänomen beobachtet werden konnte, wurde die Lesepraxis in soziale Normen gegossen, um Leseakte, Lesestoffe und den Umgang mit dem Buch zu kontrollieren, gegebenenfalls zu sanktionieren oder zu belohnen. Normen werden hier verstanden als von »Individuen geäußerte Erwartungen der Art, daß etwas der Fall sein soll oder muß«10 und sie werden in mehr oder weniger hohem Maß einvernehmlich in der Gesellschaft akzeptiert. Die Erwartungshaltung an das individuelle wie auch kollektive Verhalten in einer Gemeinschaft ist umso stärker sanktionsbewehrt, wenn gesellschaftlich stark einflussreiche Institutionen wie beispielsweise Kirche oder Schule oder andere staatliche Einrichtungen diese Normen formulieren. Diese normsetzenden Institutionen sind im Fall der Kulturtechnik Lesen, der Diskussion über ihre Sinnhaftigkeit, ihre Gefahren und Folgen nicht die einzigen Instanzen, die reglementierend auf das soziale Verhalten einwirken. So wird das Ende des 18. Jahrhunderts als sozialer Stand etablierte Bürgertum zur maßgebenden Kontroll- und Lenkungsinstanz der kulturellen Praktiken und damit auch der Kulturtechnik Lesen. Lesen als probates Mittel, den Prozess der Persönlichkeitsentwicklung und Identitätsbildung zu unterstützen, voranzutreiben und zu stabilisieren, dominierte im 18. Jahrhundert noch den Umgang mit dem Buch und bestimmte die Ziele des Lesens. Ziel allen sozialen Handelns, wozu auch das zielgerichtete Lesen gehört, war es, ein vernünftiger Mensch mit ästhetischem Urteilsvermögen, sozialer Verantwortung und politischer Willensbildung zu werden. Die Differenzierung zwischen Hoch- und Populärkultur nimmt hier ihren Ausgang und bleibt 6 7 8 9 10

Vgl. Korte / Zimmer : Das Lesebuch 1800 – 1945. Vgl. Korte: ›Meine Leserei war maßlos.‹ Vgl. Martens: Der gute Ton und die Literatur. Vgl. Frühwald: Büchmann und die Folgen. Opp: Die Entstehung sozialer Normen, S. 7.

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wirkmächtig bis in die Gegenwart. Die Auseinandersetzungen über vernünftige Lektüre zur moralischen, ethischen und sittlichen Unterweisung und ihre unvernünftigen Gegenpole ›Lesesucht‹ und ›Lesewut‹11 sind mit Beginn des 19. Jahrhunderts zwar nicht gänzlich verstummt, aber doch erheblich leiser geworden. Insbesondere mit der Etablierung des Bildungsbürgertums wurden aus den standgebundenen kulturellen Zielen des frühen Bürgertums soziale Ansprüche abgeleitet. Bürgerliche Normen dienten infolgedessen nicht mehr rein additiv der Ausprägung eines bürgerlichen Habitus, sondern sie hatten darüber hinausgehende, strukturgebende Funktionen in der Gesamtgesellschaft. In der Sozialstruktur des 19. Jahrhunderts waren die kulturellen Normen nämlich insofern prägend, als sie die politisch wie wirtschaftlich inhomogenen bürgerlichen Interessengruppen12 zu einer sozial nach oben und nach unten deutlich abgrenzbaren sowie einflussreichen Größe integrieren sollten. Insofern waren die Kulturpraktiken einer besonderen sozialen Kontrolle unterworfen. Die entstehenden Normen zielten dabei direkt auf einen Bildungsbegriff, der sich nicht nur als Akkumulation von Wissen verstehen ließ: »Denn Bildungswissen wurde nun zu einem Teil der Persönlichkeit selber und war nicht mehr nur ein äußerlicher Kanon.«13 Das Lesen wurde infolgedessen ein Mittel zur Erfüllung sozialer Normen. Die lesedidaktischen Anleitungen und Ziele unterlagen in der Moderne einem stetigen Wandel, der epochenspezifisch von politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Rahmenbedingungen sowie den jeweils entsprechenden Bildungsangeboten abhängig war. Trotz dieses Wandels lässt sich eine durchgängige Anomie in Bezug auf das Verhältnis von sozialer Norm und kultureller Praxis des Lesens feststellen14, denn die Erfüllung von Lesenormen erfordert individuellen wie kollektiven Willen und kognitive wie ökonomische Befähigungen, an gesellschaftlichen Gütern zu partizipieren, die durch die Lesenormen erreicht werden können. Die theoretisch formulierten, allgemeingültigen Richtlinien, über die durchaus Konsens im Bürgertum bestand, blieben in ihrer konkreten Anwendung deshalb eher vordergründig. Bürgerliche Erwartungshaltungen wurden in der kulturellen Praxis vom Individuum folglich nicht immer erfüllt, auch wenn die Normen allen Vertretern des Bürgertums bekannt waren. 11 Vgl. zur Bewertung unterschiedlicher Lektüre im 18. Jahrhundert Hans-Jörg Künast in diesem Band mit seinem Beitrag Lesen macht krank und kann tödlich sein. 12 Vgl. hierzu Döcker : Die Ordnung der bürgerlichen Welt, S. 10. Zum Bürgertum des 19. Jahrhunderts, seinen kulturellen, geistigen und sozialen Verhaltensmustern sowie seinem Wertesystem existiert des Weiteren eine reiche Fülle von Forschungsliteratur, die seit den 1970er-Jahren fast alle Facetten des bürgerlichen Lebens ausgeleuchtet hat. 13 Hettling / Ludwig-Hoffmann: Zur Historisierung bürgerlicher Werte, S. 14. 14 Vgl. hierzu Saxer : Lesesozialisation, S. 322.

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Ästhetische und soziale Fragen des Lesens Zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurde der Kulturtechnik Lesen im Hinblick auf ihr soziales Leistungsspektrum im Vergleich mit dem 18. Jahrhundert eine deutliche Erweiterung zugeschrieben. Der bereits in der Aufklärung beginnende Prozess normativer Verfestigungen, der in erster Linie im städtischen Bürgertum im Hinblick auf Lesemotivationen, Leseziele und Lesestoffe durch kontroverse Diskussionen seinen Ausgang nahm, findet spätestens in den 1820erJahren seinen ersten Abschluss. Bis dahin war das Lesen als kulturelle Praxis eng gekoppelt mit sozialdivergenten Medienformen, die »nicht nur in Bezug auf die jeweilige Gattung, sondern auch hinsichtlich ihrer Mediengebundenheit distinkt«15 waren. Dies zeigt sich bis etwa in die Mitte des 19. Jahrhunderts hinein besonders in den geselligen Formen der Rezeption, wenn Almanachpoesie und andere lyrische Texte in geselliger Runde des gehobenen Bürgertums vorgetragen wurden.16 Später im 19. Jahrhundert hatte die Materialität der Lektüre zwar immer noch eine soziale Komponente, wenn insbesondere für das Besitzbürgertum Prachtbände zu Repräsentationszwecken von geschäftstüchtigen Verlegern auf den Buchmarkt gebracht wurden, aber deren Aneignung hatte lediglich symbolischen Charakter. Die soziale Differenz drückte sich nur noch über die Materialität, nicht mehr zwingend über die Kenntnis der medienspezifischen Inhalte aus. Die Prachtausgabe von Schillers Gedichten aus dem Jahr 185917 etwa war zwar in ihrer Ausstattung opulent und nur für finanzkräftige Käufer zu erwerben, aber der Inhalt des Buchs war nicht an eine spezifische Medien- oder Publikationsform gebunden. Im Gegensatz zum 18. Jahrhundert, als sich das Bürgertum im kritischen Diskurs über das kollektiv Gelesene und auch über den konkreten Leseakt in Lesegesellschaften verständigte und in seiner Lesepraxis durch die damit verbundene soziale Kontrolle auch eine recht kohärente soziale Gruppe bildete, wurde im 19. Jahrhundert der Sinn des Lesens aus dem neuhumanistischen Bildungsgedanken erklärt. Literatur wurde nach ihren ästhetischen Merkmalen und pädagogischen Leistungen bewertet. Lektürestoffe wurden nicht nur im Kanonisierungsakt dahingehend überprüft, ob sie dem Ansinnen humanistischer Weltdeutung entsprachen oder nicht. Ihre Kenntnis wurde außerdem als ein Mittel angesehen, mit dessen Hilfe man sich Prestige und Einfluss, im weitesten Sinn kulturelles Kapital, erarbeiten konnte. Das reflektierte Lesen und ausgesuchte Lektürestoffe wirkten nun nicht mehr nur innerhalb des bürgerlichen Stands integrativ, sondern sie riefen eine Binnendifferenzierung innerhalb 15 Mix: Bildung und Unterhaltung ›als eines‹ denken, S. 223. 16 Vgl. Mix: Bildung und Unterhaltung. 17 Vgl. Schiller : Gedichte.

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des Bürgertums hervor. Entsprechend dieser Funktionserweiterung entstand ein stetiger Diskurs zum Nutzen und den Ausdrucksformen der Kulturtechnik Lesen. Lesen gehörte neben anderen sozialen Praktiken zum bürgerlichen Habitus. Habituelles Lesen war dem Kanon verpflichtet, und hier wurden die Differenzen zwischen sozialer Norm und kultureller Praxis am schnellsten deutlich.18 Wurde in der Spätaufklärung das Romanlesen grundsätzlich als unreflektiertes Lesen aus eskapistischen Motiven stigmatisiert, so wurde im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts die Romanliteratur allmählich differenzierter betrachtet. Die zeitgenössisch beliebten Lektürestoffe aus dem Bereich der Unterhaltungs- und Trivialliteratur blieben von kulturkritischen Zeitgenossen nicht unkommentiert. Da Unterhaltung mehr und mehr bürgerlich und damit gesellschaftlich akzeptiert wurde19, wurde der ästhetische Wert von literarischen Werken noch nicht mit dem sozialen Status, aber mit den kognitiven Fähigkeiten ihrer Leser gekoppelt: Eine Leihbibliothek ist so interessant, daß sie nur von einem Leihhause übertroffen wird. Wie hier die Mysterien des Hauses unter das Siegel der Verschwiegenheit gegeben werden, so dort die Mysterien des Herzens und Verstandes. Ein Nummernzettel in einer Leihbibliothek ist wie ein Pfandzettel eine Sache der Discretion. Man sagt nicht gern, daß man Göthe’s Wahlverwandtschaften zwar für ein classisches Buch hält, lieber aber für sich den Paul de Kock liest. Wie man im Leihhause seine bürgerliche Ehre verpfändet, verpfändet man in der Leihbibliothek den Taxationswerth seines Kopfes. Und die Sucht unserer Zeitgenossen, für witzig, geistreich, geschmackvoll zu gelten, ist so sehr zur Leidenschaft geworden, daß man sich weniger über das Abhandenkommen eines Pfandzettels ängstigen würde, als über den Verlust eines Verlangzettels in der Leihbibliothek.20

Diese von Karl Gutzkow 1843 getroffene Beobachtung streicht zwar den Unterschied zwischen sozialer Norm und kultureller Praxis heraus, aber das Unterhaltungslesen ist noch ›nicht sozial zweideutig‹21. Mit Paul de Kock führte Gutzkow einen jener Autoren an, die sich auf dem deutschen Buchmarkt außerordentlicher Beliebtheit erfreuten. Dieser war neben EugÀne Sue auch in Deutschland einer der meistgelesenen französischen Schriftsteller in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. In Gutzkows Charakterisierung des Leihbibliothekspublikums werden zunächst ästhetische und anschließend auch habituelle 18 Über die kulturellen und allgemeinen sozialen Normen hinaus gab es auch geschlechtsspezifische, denen sich der weibliche Teil des bürgerlichen Lesepublikums zu unterwerfen hatte. Vgl. hierzu Häntzschel: Bildung und Kultur bürgerlicher Frauen 1850 – 1918. 19 Zur Geschichte der Unterhaltung und ihrer Verbürgerlichung vgl. Hügel: Einführung, S. 18. 20 Gutzkow: Was sollen wir lesen, S. 1. 21 Zur Koppelung von ästhetischer und sozialer Distinktion ab ca. 1870 vgl. Hügel: Einführung, S. 18.

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Distinktionen angesprochen. Lesen hatte zwar grundsätzlich ein hohes Sozialprestige, das aber sofort in Frage gestellt werden konnte, wenn die Lektüre dem ›classischen Buch‹, dem Kanon, entgegenstand. Diese Überlegungen über die richtige, weil wertvolle Lektüre waren im Vormärz keineswegs neu, sondern stammten noch aus dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts. Dennoch ist nach den 1820er-Jahren ein Effekt eingetreten, der sich mindestens in den darauf folgenden 100 Jahren nachweisen lässt: Die Norm, was gelesen werden, welche Titel der Nationalliteratur oder der Weltliteratur der gebildete Deutsche kennen sollte, ist zwar stark verinnerlicht, hat aber kaum noch Auswirkungen auf die Lektürewahl in der Alltagskultur. Im sozialen Miteinander kam es aber dennoch darauf an zu wissen, was man gelesen haben müsste.22 So heißt es bereits 1826 im Literarischen Conversations-Blatt auf die zeitgenössische Flut der Zeitschriften und Taschenbücher : »Niemand will sein Wissen beschränken, Jeder in Gesellschaft Berührungspunkte haben. Darf er fasten an der reich besetzten Tafel dieses Literaturzweigs?«23 ›Berührungspunkte in der Gesellschaft‹ verweist auf die Erwartungshaltung in der gepflegten Konversation. Die im 19. Jahrhundert wachsende Anzahl und Vielfalt der Lesestoffe auf dem Buchmarkt fachten den Diskurs über das richtige und falsche Lesen, über gute und schlechte Lektürestoffe wieder an. Vor der beginnenden Industrialisierung galt: »Nur großer Reichthum konnte eine kleine Büchersammlung sich aneignen.«24 Die wachsende Quantität brachte qualitative Veränderungen: »Die theuern Kleinode – die Bücher – hatten ihrer Seltenheit und Geistesfülle wegen einen höhern Werth, ihre Lecture einen größern Reiz, ihr Inhalt gab reichlicheres Material zum Denken.«25 Aus dem Wachstum des jährlichen Titelvolumens resultierte, zumindest im Bürgertum, die Notwendigkeit, sich erneut und nun kontinuierlich über die Leistungen des Lesens zu verständigen. In einem verstetigten Institutionalisierungsprozess wurde ritualhaft bis ins 20. Jahrhundert hinein in Anlehnung an Goethe die Botschaft verbreitet, das richtige Lesen sei eine Kunst: »Die guten Deutschen wissen nicht, was einem für Zeit und Mühe kostet, um lesen zu lernen. Ich habe achtzig Jahre dazu gebraucht und kann noch jetzt nicht sagen, daß ich am Ziele wäre.«26 Zur Untermauerung der Behauptung, Lesen sei ein lohnender, wenn auch mühsamer und anspruchsvoller Akt, wurde im Bürgertum die Literalität mit der 22 Für eine noch 2007 erschienene Handlungsanleitung vgl. Bayard: Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat. 23 o. V.: Das Lesen, als Zeiterscheinung, S. 459. 24 o. V.: Das Lesen, als Zeiterscheinung, S. 457. 25 o. V.: Das Lesen, als Zeiterscheinung, S. 457. 26 Johann Wolfgang von Goethe zitiert nach Witkowski: Was sollen wir lesen und wie sollen wir lesen, S. 19.

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Beherrschung verschiedener sozialer Praktiken27 verknüpft, zu denen der Umgang mit Sprache und ähnliche kognitive Leistungen, aber auch die »Pflicht, sich ästhetisch zu unterscheiden«28 gehörten. Die angestrebte ästhetische Urteilskraft bezog sich auf verschiedene Ausdrucksformen und Symbole. Dazu gehörten beispielsweise die Mode, Kleidung und Accessoires, aber auch Musik und eben die Lektürestoffe. So wurde das Buch ebenfalls zum Accessoire. ›Witzig, geistreich und geschmackvoll‹ waren die modischen Attribute des gehobenen bürgerlichen Selbstverständnisses. Der ›bürgerliche Geschmack‹ durfte sich nicht am unterhaltenden Genre orientieren, das der Buchmarkt dieser Zeit aber schon in erheblicher Titelanzahl zur Verfügung stellte und für rein hedonistische Bedürfnisse bereithielt.29 Vor dem Angebot des Buchmarkts und der Leihbibliotheken und der sozialen Erwartungshaltung wurde der Leseakt zur intimen Handlung, die unabhängig von der Qualität der Lesestoffe, ihrer Kanonzugehörigkeit oder Kanonferne sofort an nationale Tugenden rückgebunden werden konnte und als deutsches Spezifikum gedeutet wurde: »Wir Deutsche scheinen sogar einen besondern Hang zu haben, uns in die Bücher zu versenken.«30, befand 1847 der Allgemeine Anzeiger unter dem Titel Was soll der Bürger lesen? Die explizite Hinwendung zu einer nationalen Sichtweise auf das Lesen verweist auf die im 19. Jahrhundert neben der ästhetischen und sozialen Funktion des Lesens hinzugekommene Funktion, das Lesen als Norm für die Konstituierung einer nationalen Identität zu verstehen. Das war ein Novum im Diskurs über das Lesen, denn es wurden in der Lesesucht-Debatte Ende des 18. Jahrhunderts, besonders infolge der Französischen Revolution, zwar politisch nicht erwünschte Folgen des vielen Lesens befürchtet, eine spezifische Lesepraxis zur Herausbildung und Stabilisierung der deutschen Kulturnation aber ist typisch für den Zeitdiskurs in Vormärz und Nachmärz bis zur Reichsgründung.

Lesen zur Herausbildung einer nationalen Identität Das Bildungsbürgertum des 19. Jahrhunderts bestimmte den Kanon31 und setzte dessen Kenntnis zur sozialen Distinktion ein. Klassikerverehrung und Kanonkenntnis hatten vor der Reichsgründung 1871 für die Herausbildung der Kul27 Vgl. für die Gegenwart hierzu Linde: Literalität und Lernen, S. 65. 28 Döcker : Ordnung der bürgerlichen Welt, S. 137 – 162. 29 Die geistige Produktivität erreichte in den 1830er- und 1840er-Jahren einen ersten Höhepunkt von bis zu 14 000 Neuerscheinungen pro Jahr. 30 o. V.: Was soll der Bürger lesen, Sp. 4066. 31 Dieser Aspekt ist mehrfach untersucht und bestätigt worden, vgl. beispielsweise Korte: ›Meine Leserei war maßlos.‹

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turnation besondere kulturpolitische Bedeutung. Dieser Kenntnis war der Leseakt vorgeschaltet, der als solcher politisch instrumentalisiert wurde. Zur individuellen Bildung und zur Stabilisierung des kollektiven Wertesystems kam im frühen 19. Jahrhundert so noch eine dritte, politisch zielgerichtete Leistungsdimension hinzu, die über das im 18. Jahrhundert angestrebte allgemeine politische Urteilsvermögen hinausging und dieses Vermögen auf bestimmte Zwecke verengte. Lesen und Bildung waren im Vormärz per se ein Politikum, denn damit wurden von liberaler Seite Hoffnungen auf politische Veränderungen verknüpft.32 Ganz ähnlich wie das habituelle Lesen, das im 19. Jahrhundert nicht mehr alleine integrativ, sondern darüber hinaus nun auch desintegrativ oder distinktiv wirken konnte und sollte, erlebt das Leseziel ›politisches Urteilsvermögen‹ eine Entwicklung mit konkreter Absicht. Angesichts der deutschen politischen Kleinstaaterei war die Verfestigung bürgerlicher Werte und Normen nur über eine kulturelle Einheit zu erreichen und entsprechend wurden das kulturelle Erbe und seine Kenntnis überhöht. Der Bürger hatte die Pflicht, durch das Lesen ausgewählter Lektürestoffe seine politische Meinungsbildung zu forcieren. Ulrich Saxer hat darauf aufmerksam gemacht, dass diese Forderung immer vor dem Hintergrund der »Kontrastnormen ›politischer Gehorsam‹ bzw. ›politische Mündigkeit‹«33 formuliert wurde. Wie sehr der politische Diskurs über das Lesen von den Zeitumständen geprägt war, zeigt sein Aufflammen in einer Zeit, als der Buch- und besonders der Pressemarkt strenger Zensur unterlag und die Reglementierung des Bürgers durch die Karlsbader Beschlüsse von 1819 einen Höhepunkt erreicht hatte. Der Rückzug bürgerlicher Gruppen in die Beschaulichkeit des Biedermeier war eine, die liberalen Bestrebungen, in Deutschland eine politische Einheit zu erreichen, eine andere Reaktion. Lesen konnte nun nicht probates Mittel zum einfachen Wissenserwerb bleiben, sondern musste als adäquates Mittel in Anspruch genommen werden, um geistige Transferleistungen erbringen zu können. »Materiell das Lesen betrachtet, ist es ein geistiges Speisenehmen […], das in geistiger, sittlicher, politischer Hinsicht verschieden einwirkt und angesehen wird.«34 Das im Literarischen Conversations-Blatt 1826 unter dem Titel Das Lesen, als Zeiterscheinung ins Blickfeld gerückte Leistungsspektrum der Kulturtechnik Lesen stammt aus dem Vormärz, als sich die Verständigung über soziale Normen und kulturelle Praxis in der bürgerlichen Gesellschaft der Moderne noch im Ausdifferenzierungsprozess befand und die deutsche Kulturna32 Hardtwig: Vormärz, S. 114: »Bildung stieg damit auch zum Politikum auf, zum Gegenstand der politisch-gesellschaftlichen Theorie und des öffentlichen Räsonnements – und zwar von beiden Seiten her, von den Kräften der Veränderung wie der Beharrung.« 33 Saxer: Lesesozialisation, S. 321. 34 o. V.: Das Lesen, als Zeiterscheinung, S. 458.

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tion ihre Findungsphase noch nicht vollständig abgeschlossen hatte. Zeitgleich hatten aber die Eindrücke der napoleonischen Kriege ein nachhaltiges Bedürfnis der Selbstvergewisserung provoziert. Gerade angesichts der Kriegsereignisse und der daraus resultierenden Neuordnung Europas, die für die deutschen Staaten keine Einheit, sondern die anhaltende Zersplitterung brachte, sollte die schöne Literatur integrative Leistungen erbringen. So sollte zumindest eine kulturelle Einheit der Deutschen konstituiert werden, wenn schon keine politische abzusehen war. Der Buchhandelsreformer Friedrich Perthes hat diesen Gedanken programmatisch in seine Schrift Der deutsche Buchhandel als Bedingung des Daseyns einer deutschen Literatur35 aufgenommen. Gleichwohl greift die nationalidentitätsstiftende Funktion der Literatur nur dann, wenn sie in ihrem geistigen Sinngehalt, in ihrer spezifischen ästhetischen Anlage und ihrem Anspruch vom Publikum erkannt wird. Hierzu war der Leseakt nur bedingt nötig, denn die Kenntnis des literarischen Kanons musste sich nicht zwingend aus seiner Lektüre ergeben. Auf drei Ebenen wurde dem Lesen eine Funktion im bürgerlichen Wertesystem zugeschrieben: der kognitiven, ethisch-moralischen und politischen Ebene. Mit diesen drei Schritten ist durchaus eine Klimax beschrieben, denn ohne die feine Sitte hat selbst die politische Freiheit keinen Werth, wie jene ohne diese nur Feigheit erzeugt. Vermittelst der Literatur mag der Unterschied zwischen Gelehrten und Ungelehrten, zwischen Studirten und Unstudirten allmählig immer mehr weichen. Die allgemeine Bildung führt zur bürgerlichen Eintracht und patriotischen Verbrüderung.36

Gerade in jener Zeit, als der Buchmarkt in den 1820er- bis 1840er-Jahren eine Vielzahl der sogenannten ›Übersetzungsfabriken‹ hervorbrachte und die deutsche Nationalliteratur in weniger preiswerten Ausgaben auf dem Markt zurückgedrängt wurde, wurden die Möglichkeiten der politischen Instrumentalisierung der Kulturtechnik Lesen ausgelotet und besonders betont. Die Beliebtheit der Übersetzungen stand im Gegensatz zur Forderung, den deutschen Kanon als Maßstab anzulegen. Karl Gutzkow hatte Paul de Kock als sehr beliebten Schriftsteller auf dem deutschen Buchmarkt und in den Leihbibliotheken angeführt und schon 1839 im Telegraph für Deutschland das Phänomen der ›Übersetzungsfabriken‹ kritisch und weitgehend ablehnend analysiert.37 Der 35 Vgl. Anonymus [Perthes]: Der deutsche Buchhandel als Bedingung des Daseyns einer deutschen Literatur. 36 o. V.: Was soll der Bürger lesen, Sp. 4088. 37 Gutzkow: Die deutschen Übersetzungsfabriken, S. 49: »Die Buchhändler sind es, welche den Markt mit Waaren überfüllen, die die eigenen heimischen Artikel in ihrem Werthe herabdrücken; die Buchhändler sind es, die uns vor dem Auslande den Ruf einer lächerlich äffischen Nation machen, die im Auslande die Meinung verbreiten, als wäre in Deutschland mit Schiller und Göthe alles dichterische Vermögen der Nation erstorben; die Buchhändler

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ungeheure Erfolg ausländischer Literatur auf dem deutschen Markt schlug sich in umfangreichen Buchreihen nieder. Deutsche Verleger griffen den Trend im Lesergeschmack geschickt auf: 1825 hatte der Verlag der Brüder Schumann in Zwickau begonnen, eine billige Taschenausgabe der Werke des überaus populären und außerordentlich produktiven englischen Schriftstellers Walter Scott herauszubringen. In 79 Bänden erschienen seine sämtlichen Werke. Zunächst sollten acht Groschen für den gehefteten und neun Groschen für den gebundenen Band verlangt werden. Der ungeahnte Erfolg des Verlagshauses Schumann sorgte in der Folge für eine Vielzahl von konkurrierenden Scott-Übersetzungen auf dem Markt, so dass die Brüder Schumann, um ihre Marktanteile nicht zu verlieren, eine wesentlich billigere Scott-Ausgabe zu vier Groschen für den 200 – 300 Seiten umfassenden Band herausbringen mussten. Die Brüder Franckh in Stuttgart hatten nämlich bei einem Heftpreis von nur neun Kreuzern in ganz kurzer Zeit 30 000 Exemplare abgesetzt. Andere Scott-Ausgaben erschienen in Gotha und Danzig. Zeitgenössische Kritiker sprachen von einer regelrechten ›Scottomanie‹ auf dem deutschen Buchmarkt. Neben Scott erschienen später in billigen, schnell produzierten Ausgaben die LederstrumpfRomane von James Fenimore Cooper, Werke von Edward Bulwer-Lytton, Alexandre Dumas, EugÀne Sue oder Charles Dickens. Von 1837 bis 1842 publizierte der Braunschweiger Verleger Vieweg beispielsweise eine Bibliothek der neuesten und besten Romanen der englischen Literatur in 129 Bänden. Bereits 1827 brachte Metzler in Stuttgart eine Übersetzungsbibliothek griechischer und römischer Klassiker in 729 Bändchen heraus. Profitabel waren die Übersetzungen französischer, englischer oder amerikanischer Literatur für die deutschen Verleger schon deshalb, weil noch kein internationales Urheberrecht existierte, so dass sie die ausländischen Originalschriftsteller nicht zu honorieren brauchten. So fielen lediglich Übersetzungs- und Herstellungskosten an. Daher war es für die Verleger ökonomisch gewinnbringender, fremdsprachige Werke zu übersetzen als deutsche Autoren zu entlohnen. Damit schufen sie eine Konkurrenzsituation zwischen deutschen und ausländischen Originalwerken, was nicht nur den Unmut der deutschen Autoren hervorrief, sondern auch in der Tagespresse thematisiert und im Hinblick auf die bürgerlichen Werte diskutiert wurde. Man erkannte einen krassen Widerspruch zwischen der Konstituierung einer deutschen Kulturnation und den Realitäten des Buchmarkts: Unter den zahleichen Romanen, welche durch die Uebersetzung aus fremden Sprachen namentlich aus dem Französischen und Englischen zu uns gelangt sind und die von unserer Welt verschlungen werden, ist leider wenig, was außer einer gewaltigen Spannung der Erwartung viel wahrhaft Poetisches enthielte. Am wenigsten enthält die machen uns die Schande, daß Deutschland auf solche fremde Schriftsteller Rücksicht nimmt, welche in ihrer eigenen Heimath keine Beachtung finden.«

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Masse der Schriften von Balzac, Paul de Kock, Eugen Sue etwas auf unsere deutschen, einfachen Verhältnisse Uebertragbares. Die Engländer stehen der deutschen Sinnesund Denkweise viel näher und deshalb dürfen die Romane von Marryat, Bulwer, Boz (Charles Dickens) schon mit mehr Nutzen gelesen werden.38

Besonders Scott wurde empfohlen. Die bürgerlichen Werte wurden hier mit nationalen Abgrenzungen korreliert, wobei die Zurückhaltung gegenüber französischer Literatur im Vormärz geradezu klassisch war. Es wäre aber zu einfach, die politische Dimension allein in der Wahl der richtigen Lektüre oder der Wahl des richtigen Mediums zu suchen. Gleichwohl spielte die spezifische Publikationsform eine Rolle. In der politisch brisanten Zeit der 1840er-Jahre florierte vor allem die Presse, deren Lektüre einerseits dringend empfohlen wurde, andererseits aber auch massiven Zensurmaßnahmen unterlag. So wurde dem Bürger nahe gelegt: Beruhigen dürfen sich unsere Landsleute aber eigentlich noch nicht bei der Zeitung. Es ist vielmehr wünschenswerth, daß ihnen manches Buch durch die Hand gehe, das über die Verhältnisse des speciellen deutschen Gesammtvaterlandes und der europäischen Staaten genaue Aufklärung gibt.39

Das Lesen als kulturelle Praxis zog in sozialer und ästhetischer Hinsicht sicherlich desintegrative Prozesse in der Gesellschaft nach sich. In politischer Dimension betrachtet sollte Lesen als integrativer Faktor wirken, und zwar wertaufgeladen nationalidentitätsstiftend, wie Wilhelm Heinrich Riehl 1851 in seiner Abhandlung Die bürgerliche Gesellschaft analysierte: »Der deutsche Bürger ist in seiner politischen und sozialen Schwärmerei, die sich ihm als System und Lehre aufdrängt, unzugänglich, aber in Versen mag er mitschwärmen für Weltbürgertum und Sturz aller Standesunterschiede […].«40 In dieser Einschätzung wird ganz klar deutlich, dass das Lesen in der politischen Entscheidungsfindung nicht unmittelbar zum aktiven Engagement führen muss, aber eine passive Partizipation am politischen Zeitgeschehen ermöglicht. Bis heute gilt die Vorstellung, dass »eifriges Lesen, reges politisches Interesse und intensive politische Partizipation oft miteinander gehen.«41

38 39 40 41

o. V.: Was soll der Bürger lesen, Sp. 4086. o. V.: Was soll der Bürger lesen, Sp. 4071. Riehl: Die Naturgeschichte des Volkes als Grundlage einer deutschen Sozial-Politik, S. 221. Saxer: Lesesozialisation, S. 323.

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Reflektiertes Lesen zur Integration sozialer und politischer Ordnung Die Zuschreibungen und Werthaltungen des 18. und 19. Jahrhunderts an das Lesen und den Leseakt lassen sich in gradueller Abstufung auch im 20. Jahrhundert nachverfolgen. Zu dessen Beginn publizierte der Leipziger Professor für deutsche Literatur und große Bibliophile Georg Witkowski seinen Vortrag Was sollen wir lesen und wie sollen wir lesen?42 In vielfacher Auflage und mehreren tausend Exemplaren war die Broschüre in Vereinen, Lesehallen und Volksbibliotheken erhältlich. Insofern kann dieser 48-seitigen Broschüre ein gewisser Verbreitungsgrad zugesprochen werden. In dieser Publikation äußert sich Witkowski über die unterschiedlichen Lesezwecke (Beruf, Bildung, Unterhaltung) und gibt lesepropädeutische Tipps und Hinweise auf empfehlenswerte Lesestoffe. Zunächst geht es um das Lesen von Büchern mit unmittelbar praktischer Ausrichtung auf berufliche Anforderungen und zur Bewältigung des lebenspraktischen Alltags.43 Doch recht schnell gelangt Witkowski zu einer geistigen Überhöhung der Kulturtechnik Lesen, indem er sich der seit der Aufklärung propagierten Begriffspaarung von der menschlichen Freiheit und individuellen Selbstbestimmtheit44 bedient, um die Vorteile des reflektierten Lesens zu untermauern. Individuelles Ziel beim Leseakt müsse es sein, »durch die Erweiterung unserer Kenntnisse und unseres geistigen Gesichtskreises uns immer mehr zu selbständig denkenden und urteilenden, freien Menschen zu machen«.45 Der Anspruch, die Persönlichkeit »vielseitig und gründlich«46 auszubilden, sei höher im menschlichen Wertespektrum anzusiedeln als die berufliche Weiterbildung. Der hier durchscheinende Bildungsbegriff orientiert sich sowohl an der Aufklärung als auch am Neuhumanismus, der unter dem Begriff ›Bildung‹ nicht die Anhäufung von Informationen und Fakten versteht, sondern die Reifung der Persönlichkeit. Hier fließen zu Beginn des 20. Jahrhunderts zwei Ideale zusammen, die ihre Impulse aus normativen Vorgaben vergangener Jahrhunderte entlehnen. Im Rückbezug auf Schiller formuliert Witkowski die bekannten und wünschenswerten Ziele bürgerlichen Bildungs-

42 Vgl. Witkowski: Was sollen wir lesen und wie sollen wir lesen? 43 Ulrich Saxer spricht auch von der ›Lebensorganisation‹, die sich auf die Teilhabe an Politik, Wirtschaft und Kultur bezieht. Vgl. Saxer : Lesesozialisation, S. 322. 44 In der historischen Leseforschung hat besonders Bettina Hurrelmann darauf aufmerksam gemacht, dass aus den Bildungsgedanken der Aufklärung die Norm ›Lesen zur rationalen Selbstbestimmung‹ und aus dem neuhumanistischen Bildungsdenken die Norm ›Lesen als existentielle Persönlichkeitsbildung‹ abgeleitet werden können. Vgl. Hurrelmann: Bildungsnormen als Sozialisationsinstanz, S. 298 f. 45 Witkowski: Was sollen wir lesen und wie sollen wir lesen, S. 9. 46 Witkowski: Was sollen wir lesen und wie sollen wir lesen, S. 5.

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strebens: »Das Kennzeichen der Bildung ist, nach Schiller, Behauptung der eignen Freiheit und Schonung der Freiheit der andern. Ja, Bildung macht frei, aber natürlich nicht von dem Zwang der bestehenden Gesetze, der politischen und sozialen Ordnung, sondern von unsern eignen Leidenschaften und schlechten Trieben.«47 Trotz dieses Rückgriffs in das Wertesystem des 19. Jahrhunderts überwindet Witkowski den Leseakt als reinen Bildungsakt und führt die ›Werke der Dichter‹ an, deren einzige Vermittlungsabsicht Vergnügen und Genuss ist: »Wir wollen uns berauschen. Wir wollen in eine schönere Welt aus der Wirklichkeit flüchten.«48 Aber auch seine Ausführungen bleiben nicht ohne Hinweis auf die sittlichen und moralischen Gefahren der Kolportageliteratur, die in dieser Zeit ihre Blütephase hat. Allerspätestens jetzt war mit dem Lesen der universale Anspruch einer Schlüsselqualifikation für sämtliche individuelle Lebensbereiche verbunden, die entsprechend eingeübt und angewandt werden sollte.

Stabilität der Anomie Diskurse über das Lesen haben vom 18. bis ins 20. Jahrhundert ein konstantes Thema, das in unterschiedlichen gesellschaftlichen und politischen Konstellationen und Rahmenbedingungen immer wieder ventiliert wird: die Differenz zwischen sozial Wünschenswertem und realer kultureller Praxis. Soziale Integration funktioniert in der Moderne über die Einhaltung von Verhaltensnormen, deren Nichteinhaltung sanktionsbewehrt ist. Der soziale Status des Einzelnen wird dabei zu einem hohen Maß über seine Bildung und sein Wissen, die die berufliche Position und die gesellschaftliche Anerkennung untermauern, bestimmt. Mit der Funktionserweiterung und Überhöhung der Lesepraxis und ihrer Rückbindung an den sozialen Status wurde ab dem 19. Jahrhundert ein Auseinanderfallen zwischen Norm und Praxis immer deutlicher. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatte das Bürgertum endgültig seine soziale Führungsrolle eingebüßt. Die Anomie von Norm und Praxis des Lesens blieb jedoch bestehen. Dies tritt ganz deutlich nach dem Ersten Weltkrieg zu Tage, als das deutsche Bürgertum durch Krieg und Inflation erneut geschwächt wurde. Die alten Werte waren immer noch im Bewusstsein der Gesellschaft verankert, fanden aber keinen Niederschlag in der Alltagskultur mehr. Lesen gehörte im 20. Jahrhundert zum Alltagshandeln, in dem sich eine gewisse Stabilität der Anomie während der gesamten Moderne offenbart. 47 Witkowski: Was sollen wir lesen und wie sollen wir lesen, S. 6. 48 Witkowski: Was sollen wir lesen und wie sollen wir lesen, S. 10.

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Quellen Anonymus [Perthes, Friedrich Christoph]: Der deutsche Buchhandel als Bedingung des Daseyns einer deutschen Literatur. o. O. 1816. Gutzkow, Karl: Die deutschen Übersetzungsfabriken. In: Telegraph für Deutschland (Hamburg) 7 (1839), S. 49 – 52 und 8 (1839), S. 57 – 59. Gutzkow, Karl: Was sollen wir lesen? Ein Fingerzeig für die Winterabende. In: Kölnische Zeitung 333 (1843), S. 1 – 3. o. V.: Das Lesen, als Zeiterscheinung. In: Literarisches Conversations-Blatt 1 (1826), Nr. 115 vom 19. Mai, S. 457 – 460. o. V.: Was soll der Bürger lesen? In: Allgemeiner Anzeiger und Nationalzeitung der Deutschen 7 (1847), Nr. 321 vom 24. November, Sp. 4065 – 4088. Schiller, Friedrich von: Gedichte. Jubiläums-Ausgabe mit Photographien nach Zeichnungen von Böcklen, Kirchner, E. Piloty, F. Piloty, Ramberg, Schwind etc. etc. und Holzschnitten nach Zeichnungen von Julius Schnorr in Stuttgart. Stuttgart 1859. Witkowski, Georg: Was sollen wir lesen und wie sollen wir lesen? Vortrag gehalten im Auftrage des Vereins für Volksunterhaltung an der Alberthalle zu Leipzig. Leipzig 1906.

Literatur Bayard, Pierre: Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat. München 2007. Döcker, Ulrike: Die Ordnung der bürgerlichen Welt. Verhaltensideale und soziale Praktiken im 19. Jahrhundert. Frankfurt am Main 1994 (Historische Studien 13). Frühwald, Wolfgang: Büchmann und die Folgen. Zur sozialen Funktion des Bildungszitates in der deutschen Literatur des 19. Jahrhunderts. In: Koselleck, Reinhart (Hrsg.): Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert. Teil II: Bildungsgüter und Bildungswissen. Stuttgart 1990 (Industrielle Welt 41), S. 197 – 219. Häntzschel, Günter (Hrsg.): Bildung und Kultur bürgerlicher Frauen 1850 – 1918. Eine Quellendokumentation aus Anstandsbüchern und Lebenshilfen für Mädchen und Frauen als Beitrag zur weiblichen literarischen Sozialisation. Tübingen 1986 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der deutschen Literatur 15). Hardtwig, Wolfgang: Vormärz. Der monarchische Staat und das Bürgertum. München 1985. Hettling, Manfred / Ludwig-Hoffmann, Stefan: Zur Historisierung bürgerlicher Werte. In: Hettling, Manfred / Ludwig-Hoffmann, Stefan (Hrsg.): Der bürgerliche Wertehimmel. Innenansichten des 19. Jahrhunderts. Göttingen 2000 (Sammlung Vandenhoeck). Hügel, Hans-Otto: Einführung. In: Hügel, Hans-Otto (Hrsg.): Handbuch Populäre Kultur. Begriffe, Theorien, Diskussionen. Stuttgart 2003. Hurrelmann, Bettina: Bildungsnormen als Sozialisationsinstanz. In: Groeben, Norbert / Hurrelmann, Bettina: Lesesozialisation in der Mediengesellschaft. Ein Forschungsüberblick. Weinheim / München 2004, S. 280 – 305. Korte, Hermann: ›Meine Leserei war maßlos.‹ Literaturkanon und Lebenswelt in Autobiographien seit 1800. Göttingen 2007.

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Korte, Hermann / Zimmer, Ilonka (Hrsg.): Das Lesebuch 1800 – 1945. Ein Medium zwischen literarischer Kultur und pädagogischem Diskurs. Frankfurt am Main 2006 (Siegener Schriften zur Kanonforschung 3). Linde, Andrea: Literalität und Lernen. Eine Studie über das Lesen- und Schreibenlernen im Erwachsenenalter. Münster u. a. 2008 (Internationale Hochschulschriften 503). Martens, Wolfgang: Der gute Ton und die Literatur. Anstandsbücher als Quelle für die Leseforschung. In: Göpfert, Herbert G. (Hrsg.): Buch und Leser. Hamburg 1977 (Wolfenbütteler Schriften zur Geschichte des Buchwesens 1), S. 203 – 229. Mix, York-Gothart: Bildung und Unterhaltung ›als eines‹ denken. Almanach-, Kalender- und Taschenbuchlektüre, habituelle Distinktion und das Spektrum literarischer Geselligkeit im literarischen Feld um 1800. In: Ananieva, Anne / Böck, Dorothea / Pompe, Hedwig (Hrsg.): Geselliges Vergnügen. Kulturelle Praktiken von Unterhaltung im langen 19. Jahrhundert. Bielefeld 2011, S. 223 – 252. Münch, Richard: Die Struktur der Moderne. Grundmuster und differentielle Gestaltung des institutionellen Aufbaus der modernen Gesellschaften. Frankfurt am Main 1992. Opp, Karl-Dieter : Die Entstehung sozialer Normen. Ein Integrationsversuch soziologischer, sozialpsychologischer und ökonomischer Erklärungen. Tübingen 1983. Riehl, Wilhelm H.: Die Naturgeschichte des Volkes als Grundlage einer deutschen Sozial-Politik. Band 2: Die bürgerliche Gesellschaft. 10. Auflage. Stuttgart / Berlin 1907. Saxer, Ulrich: Lesesozialisation. In: Bonfadelli, Heinz / Fritz, Angela / Köcher, Renate (Hrsg.): Leseerfahrungen und Lesekarrieren. Gütersloh 1993 (Lesesozialisation 2).

Lesen als Gegenstand in Wissenschaft und Ökonomie der Gegenwart

Heinz Bonfadelli

Zur Konstruktion des (Buch-)Lesers Universitäre Kommunikationswissenschaft und angewandte Medienforschung

Die Nutzung der klassischen Massenmedien Zeitung, Radio und Fernsehen, zu denen meist auch das nicht tagesaktuelle Medium ›Buch‹ gezählt wird, und der neuen Medien über Internet und Mobilfunk erfolgt durch ein prinzipiell offenes, räumlich und zeitlich disperses sowie fluktuierendes Publikum. Deshalb müssen die universitäre Kommunikationswissenschaft und die angewandte Medienforschung das Publikum der Medien im Allgemeinen und die (Buch-)Leser beziehungsweise die Leserschaft von Printmedien und Online-Texten im Besonderen quasi als ›hypothetisches Konstrukt‹ entweder aufgrund von theoretischen Perspektiven oder aufgrund methodischer Instrumente (re-)konstruieren, um zu empirischen Befunden zu gelangen. Erst diese Konstruktionen wiederum erlauben Aussagen über den Zustand und die Entwicklung des Lesens. Im Zentrum des folgenden Beitrags steht darum die Frage, wie der (Buch-) Leser beziehungsweise das Publikum speziell der Print- beziehungsweise Lesemedien zum einen in der universitären Kommunikationswissenschaft, zum anderen in der angewandten Medienforschung definiert und konstruiert wird, und welche empirischen Befunde aus beiden Perspektiven resultieren.

Akteure und Fragestellungen Die Hauptzielsetzung der institutionell verankerten Mediennutzungsforschung besteht darin, für Presseverlage und Rundfunkanbieter verlässliche Reichweitendaten für ihre Werbeauftraggeber zu liefern. Diese Daten sind wichtig, weil sie als konsentierte ›Währung‹ die Werbepreise der Medienanbieter mitbestimmen. Darüber hinaus dient die Publikumsforschung für die Medienanbieter als Feedbackinstrument zur Erfolgskontrolle und Qualitätssicherung ihrer Programmangebote. Dementsprechend ist diese Form von angewandter Forschung meist syndiziert und wird im Printbereich beispielsweise in Deutschland

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durch die Arbeitsgemeinschaft Media-Analyse1 oder in der Schweiz durch die Arbeitsgemeinschaft für Werbemedienforschung durchgeführt. Im Rundfunkbereich dominiert in Deutschland die Arbeitsgemeinschaft Fernsehforschung und in der Schweiz die Stiftung Mediapulse.2 Für das Medium Buch gibt es dagegen keine institutionalisierte Buch- beziehungsweise Lese(r)forschung3, weil es als Werbeträger kaum eine Rolle spielt. Angewandte Medienforschung existiert nur in Form der unregelmäßig durchgeführten Buchmarktforschung, beispielsweise mit den Studien des Instituts für Demoskopie Allensbach für den Börsenverein des Deutschen Buchhandels in den 1960er- bis 1980er-Jahren4, später in Zusammenarbeit mit dem ZDF durch forsa5 sowie durch die mit dieser Aufgabe betraute Stiftung Lesen6 und in den 1990er Jahren durch die Bertelsmann Stiftung7. Neben solchen auf das (Buch-) Lesen hin fokussierten Studien gibt es zudem periodisch durchgeführte allgemeine Mediennutzungsstudien wie die Studie Massenkommunikation8 oder seit einiger Zeit Untersuchungen speziell zu den Teilgruppen der Kinder und Jugendlichen wie die KIM-Studien9 oder die JIM-Studien10, die die Häufigkeit und den zeitlichen Umfang des Buchlesens im Medienvergleich oder im Vergleich zu anderen Freizeitaktivitäten zumindest berücksichtigen.

1 Vgl. Frey-Vor / Siegert / Stiehler : Mediaforschung, S. 57 – 61. 2 Vgl. Meyen: Mediennutzung, S. 53 – 63; Frey-Vor / Siegert / Stiehler : Mediaforschung, S. 62 – 65; Bonfadelli: Medienwirkungsforschung 1, S. 72 – 76. 3 Vgl. Muth: Buchmarktforschung in Deutschland; Schön: Buchnutzungsforschung. 4 Vgl. Muth: Der befragte Leser ; Muth: Grundlagenforschung in praktischer Absicht; Schön: Kein Ende von Buch und Lesen; Köcher : Allensbacher Jahrbuch für Demoskopie 2003 – 2009, S. 430. 5 Vgl. Dehm u. a.: Bücher ; Kochhan / Schengbier : Bücher und Lesen im Kontext unterschiedlicher Lebenswelten. 6 Vgl. beispielsweise Stiftung Lesen: Lesen in Deutschland 2008. 7 Vgl. beispielsweise Fritz: Lesen im Medienumfeld; Bonfadelli / Fritz: Lesen im Alltag von Jugendlichen; Hurrelmann / Hammer / Nieß: Leseklima in der Familie. 8 Vgl. Ridder / Engel: Massenkommunikation 2010. Mediennutzung im Intermediavergleich; Ridder / Engel: Massenkommunikation 2010. Funktionen und Images der Medien im Vergleich. 9 Vgl. Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest: KIM-Studie 2010. 10 Vgl. Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest: JIM-Studie 2010.

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Zur Konstruktion des (Buch-)Lesers

Aspekte: Studien u. a.: Objektive Häufigkeit Stiftung Lesen: Lesen in Deutschland 2008. und Dauer des (Buch-)Lesens Ridder / Engel: MassenkomSubjektive Wichtig- munikation 2010. keit des (Buch-)Lesens und Lesefreude Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest: KIM-Studie 2010. Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest: JIM-Studie 2010. (Buch-)Lesen im Vergleich von sozialen Gruppen

Leseinteressen Lektürepräferenzen

Fragestellungen: Wer liest wie häufig und wie intensiv? Welche Trends des (Buch-)Lesens gibt es im Zeitverlauf ? Welchen Stellenwert hat das (Buch-)Lesen im Vergleich von Ländern, Medien und anderen Freizeitaktivitäten?

Garbe: GeschlechterspezifiLesen Frauen anders als Mänsche Zugänge zum fiktionalen ner? Lesen. Wie lesen bildungsferne SegBischof / Heidtmann: Lesemente? verhalten in der Erlebnisgesellschaft. Wie nutzen Migranten Printmedien? Bonfadelli / Bucher : Mediennutzung von Jugendlichen mit Migrationshintergrund. Bucher / Bonfadelli: Lesen im multikulturellen Umfeld. Böck: Das Lesen in der neuen Welche Lesegewohnheiten und Mediengesellschaft. Leseinteressen haben 8- bis 14Jährige in Österreich? Bucher : Leseverhalten und Leseförderung. Wie lesen 12- und 15-Jährige in der Schweiz? Stiftung Lesen: Lesen in Deutschland 2008.

Bucher : Leseverhalten und (Buch-)Lesemotive und Lesegewohnhei- Leseförderung. ten Dehm u. a.: Bücher.

Welche Lesemotive haben Heranwachsende im Zeitverlauf und im Vergleich sozialer Segmente?

Philipp: Lesen empeerisch.

Lesekompetenz Lesegespräche

Pfaff-Rüdiger : Lesemotivation und Lesestrategien. OECD: PISA 2009. Charlton / Sutter: Rezeptionsforschung.

Welche Lesefertigkeiten haben Schülerinnen und Schüler im internationalen Vergleich? Wie sprechen Menschen über das Gelesene?

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Heinz Bonfadelli

Studien u. a.: Muth: Der befragte Leser. Graf: Fiktionales Lesen und Lebensgeschichte. Köcher : Familie und Lesen.

Fragestellungen: Welchen Einfluss hat das Elternhaus auf die Herausbildung von Lesebiographien?

Wie ereignet sich Lese- und literarische Sozialisation in Hurrelmann / Hammer / Nieb: Familien (Vorlesen, Leseklima in der Familie. Buchgeschenke, Gespräche), in der Schule (Leseunterricht, Wieler : Vorlesen in der Bibliotheksbesuche) sowie Familie. durch Peer-Groups (KoOrientierung)? Bucher : Leseverhalten und Leseförderung. Graf: Lesegenese in Kindheit und Jugend. Wollscheid: Lesesozialisation in der Familie. Philipp: Lesen empeerisch. Philipp: Lesesozialisation in Kindheit und Jugend.

Tab. 1: Fragestellungen der theorie- und praxisorientierten (Buch-)Lese(r)forschung.

Im Unterschied zur anwendungsorientierten (Buch-)Lese(r)forschung beschäftigt sich die universitäre Medienforschung mit einer größeren Vielfalt an Fragestellungen (vgl. Tab. 1), wenn auch in unregelmäßigen Abständen und mit oft kleinen und nicht repräsentativen Stichproben. Sie fundiert das (Buch-) Lesen in unterschiedlichen theoretischen Perspektiven als inter- beziehungsweise transdisziplinären Forschungsbereich.11 Die neueren Lesekompetenzbeziehungsweise PISA-Studien12 fokussieren kognitive Aspekte des Lesens im Sinne der Lese- und Schreibkompetenz aus einer deskriptiven, erziehungswissenschaftlichen Perspektive. Daneben befassen sich empirische Studien der Medien- und Kommunikationswissenschaft nicht nur mit der Häufigkeit und Intensität des (Buch-)Lesens im Medienvergleich und im Zeitverlauf13, sondern darüber hinaus qualitativ mit Fragen nach Lesefreude, Leserelevanz und Lese11 Vgl. Bonfadelli: Leser und Leseverhalten heute; Bonfadelli: Buch, Buchlesen und Buchwissenschaft aus publizistikwissenschaftlicher Perspektive; Saxer : Buchwissenschaft als Medienwissenschaft; Kuhn / Rühr : Stand der modernen Lese- und Leserforschung. 12 Vgl. Lehmann: Wie gut können Deutsche lesen; OECD: Pisa 2009. 13 Vgl. Schön: Kein Ende von Buch und Lesen.

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interessen14, Lesemotivationen und Lesestrategien15 sowie Lesekarrieren beziehungsweise Lesebiographien16. Darunter fallen nicht zuletzt auch Prozesse der Lesesozialisation in Familie, Schule und Peer-Groups17, Lesegespräche18, spezifische Subgruppen wie Frauen19 oder Männer20, Lesen und bildungsferne Segmente21, Lektürebiographien der TV-Generation22, Migranten23 oder Leser aus schriftfernen Lesewelten24. Weiterhin müssen die stärker qualitativ orientierten Zugänge der Literaturwissenschaft erwähnt werden, welche das (Buch-)Lesen als Umgang mit der literarischen Kultur verstehen und als literarische Sozialisation konzeptualisieren.25 Der theoretische Zugriff erfolgt hier einerseits kulturhistorisch, indem rückblickend Veränderungen in der Lesekultur in enger Verzahnung mit den gelesenen Lesestoffen rekonstruiert werden. Andererseits wird die literarische Sozialisation während der Kindheit in der Familie und später in der Schule26 untersucht. Neuerdings sind auch die Veränderungen der Lesesozialisation in der Mediengesellschaft stärker in den Fokus der literaturwissenschaftlichen Forschung gerückt worden.27

Perspektiven Nach Klaus Bruhn Jensen und Karl Erik Rosengren28 entspricht die angewandte und ökonomisch motivierte Publikumsforschung einer Forschungstradition, die das Medienpublikum vorab als ›Commodity‹ beziehungsweise Ware betrachtet, das Medienanbieter der Werbewirtschaft verkaufen. Dementsprechend 14 Vgl. beispielsweise Böck: Das Lesen in der neuen Mediengesellschaft. 15 Vgl. beispielsweise Bucher : Leseverhalten und Leseförderung; Dehm u. a.: Bücher ; Philipp: Lesen empeerisch; Pfaff-Rüdiger : Lesemotivation und Lesestrategien. 16 Vgl. Köcher : Lesekarrieren. 17 Vgl. beispielsweise Köcher : Familie und Lesen; Hurrelmann / Hammer / Nieß: Leseklima in der Familie; Wieler : Vorlesen in der Familie; Bucher : Leseverhalten und Leseförderung; Wollscheid: Lesesozialisation in der Familie; Philipp: Lesen empeerisch. 18 Vgl. Charlton / Sutter : Lese-Kommunikation. 19 Vgl. beispielsweise Garbe: Geschlechterspezifische Zugänge zum fiktionalen Lesen; Böck: Gender & Literacy ; Garbe: Lesen – Sozialisation – Geschlecht. 20 Vgl. Bischof / Heidtmann: Leseverhalten in der Erlebnisgesellschaft. 21 Vgl. Pieper u. a.: Lesesozialisation in schriftfernen Lebenswelten. 22 Vgl. Graf: Fiktionales Lesen und Lebensgeschichte. 23 Vgl. Bonfadelli / Bucher : Mediennutzung von Jugendlichen mit Migrationshintergrund; Bucher / Bonfadelli: Lesen im multikulturellen Umfeld. 24 Vgl. Pieper u. a.: Lesesozialisation in schriftfernen Lebenswelten. 25 Vgl. Eggert / Garbe: Literarische Sozialisation; Graf: Lesegenese in Kindheit und Jugend. 26 Vgl. Gattermaier : Literaturunterricht und Lesesozialisation. 27 Vgl. Groeben / Hurrelmann: Lesesozialisation in der Mediengesellschaft. 28 Vgl. Jensen / Rosengren: Five Traditions in Search of the Audience.

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wird das Publikum als unspezifische Masse beziehungsweise Zielgruppe im Sinne von potenziellen Konsumenten definiert, die durch Medienangebote erreicht werden können. Mediennutzung wird eng nur als Kontakt mit dem Medium als Werbeträger verstanden und definiert. Diese Konstruktion des Publikums und die darauf basierende Form der Publikumsforschung fokussiert auf die tagesaktuellen Medien Zeitung, Radio und Fernsehen und deren Reichweiten im Intermediavergleich, spielt aber in der Buchforschung praktisch keine Rolle, beziehungsweise wird allenfalls wie in der Studie Massenkommunikation als Tagesreichweite des Mediums Buch von 21 % für Personen ab 14 Jahren ausgewiesen.29 Daneben existieren in der theorieorientierten universitären Medienforschungstradition weitere Publikumskonzeptionen, die andere Fragestellungen und methodische Zugriffe nahelegen (vgl. Tab. 2).30 Publikumskonzeption Kennzeichnung des Publikums bei Zeitung, Hörfunk, Fernsehen Konsumenten und (Werbe-)Kontakt mit ZeiZielgruppen tungstitel oder Hörfunkund TV-Programmen Bürger als soziale Akteure Individuen als Freizeiter

Politische Informiertheit durch Nutzung tagesaktueller Medien Medienzuwendung aufgrund von Motiven und Erwartungen

Kennzeichnung des Buchlesers Abgesehen von der Tagesreichweite spielt das Medium Buch in dieser Konzeption keine Rolle Lesen als Basiskompetenz der Medien- beziehungsweise Wissensgesellschaft Motivationen und Funktionen des Buchlesens und Erwartungen an die Buchnutzung

Fan-Kulturen

Gemeinschaftsbildung Interpretationsgemeinschaften von Büchern über Musikstile, TVInhalte, Themen Tab. 2: Konzeptionen von Mediapublikum und Buchleser.

In der kommunikationswissenschaftlichen Nutzungs- und Wirkungsforschung wird vielfach ein Verständnis von Publikum als sozialer Akteur der Zivilgesellschaft in den Vordergrund gestellt. In einer solchen Perspektive steht die Funktion der Medien als Vermittler von politischer Information und als Hersteller von politischer Öffentlichkeit im Zentrum. Untersucht wird nicht nur isoliert, welche Medien genutzt werden, sondern es soll die Frage beantwortet werden, wie auf der Basis von und vermittelt durch Mediennutzung politisches Wissen erworben wird und sich Meinungen herausbilden. Dabei wird etwa die Wirkung des Zeitunglesens im Vergleich zum Fernsehen bei der Entstehung von 29 Vgl. Ridder / Engel: Massenkommunikation 2010. Mediennutzung im Intermediavergleich, S. 47. 30 Vgl. McQuail: Audience Analysis, S. 12 – 20; Bonfadelli: Medienwirkungsforschung 1, S. 54 – 63.

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Wissensklüften31 untersucht, weniger jedoch die Funktion der Wissensvermittlung durch das Buchlesen.32 In der Medienwirkungsforschung wurde in den 1970er-Jahren der Uses-andGratifications Ansatz33 entwickelt, der von der Prämisse ausgeht, dass Menschen sich Medien aktiv und zielorientiert zuwenden, um kognitive, affektive und soziale Bedürfnisse zu befriedigen. Ein solches Verständnis vom Publikum besteht aus aktiven Individuen, die sich Medien selektiv zur Bedürfnisbefriedigung und Problemlösung zuwenden. Im Vordergrund stehen medienvergleichende Fragestellungen und methodische Zugriffe nach den motivierenden Erwartungen der Mediennutzung und deren Befriedigung. Folglich richtet sich der Blick auf die Motive und Erwartungen in Bezug auf die Medien Buch und Fernsehen im Vergleich34 sowie deren eventuelle Konkurrenz. Allerdings wurde die Publikumsaktivität bis jetzt nur vorab als selektiver Medienkonsum definiert und empirisch erhoben, durch interaktive Medien im Internet wird aber zunehmend auch ein aktiv-produktiver Medienumgang auf der Basis von Schreibkompetenz möglich. Schließlich ist auf eine weitere, eher qualitativ orientierte Forschungstradition zu verweisen, die sich im Rahmen der Rezeptionsforschung35 beziehungsweise in den Cultural Studies36 mit dem Medienpublikum als Fan-Kultur befasst. Untersucht wird, wie dokumentarische37 und fiktionale38 Programmangebote von Fernsehen, Games und Internet39, aber auch von Büchern40 angeeignet, subjektiver Sinn konstruiert und mit anderen Nutzern darüber Gespräche geführt werden41. Dabei spielt das Konzept der ›Interpretationsgemeinschaft‹ eine wichtige Rolle. In der Studie von Janice Radway handelt es sich beispielsweise um buchlesende Frauen, die gemeinsame Zwecke, Präferenzen und Interpretationsraster von Liebesromanen teilen. Im deutschen Sprachraum haben solche Rezeptionsstudien in der qualitativ orientierten Medienwissenschaft seit Mitte der 1990er-Jahre an Bedeutung gewonnen. Dieser Publikumskonzeption können auch Studien zugordnet werden, die mit dem Entwurf ›Domestizierung‹ unter31 Vgl. Bonfadelli: Die Wissenskluft-Perspektive. 32 Vgl. Bonfadelli / Saxer: Lesen, Fernsehen und Lernen. 33 Vgl. Bonfadelli: Medienwirkungsforschung 1, S. 167 – 181; Schweiger : Theorien der Mediennutzung, S. 60 – 92. 34 Vgl. Bonfadelli: Books and Television. 35 Vgl. Holly / Püschel: Medienrezeption als Aneignung; Charlton / Schneider: Rezeptionsforschung. 36 Vgl. Hepp: Cultural Studies und Medienanalyse. 37 Vgl. Morley : The Nationwide Audience. 38 Vgl. Göttlich / Krotz / Paus-Haase: Daily Soaps und Daily Talks im Alltag von Jugendlichen. 39 Vgl. Hepp / Höhn / Vogelgesang: Populäre Events. 40 Vgl. Radway : Reading the Romance. 41 Vgl. Bonfadelli: Medienwirkungsforschung 1, S. 192 – 197; Meyen: Mediennutzung, S. 41 – 45.

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suchen, wie Menschen Medien in ihren Alltag integrieren.42 Dabei spielen die von Pierre Bourdieu entwickelten Konzepte Habitus, symbolisches Kapital und Feld eine wichtige Rolle, insofern etwa mittels Praktiken der Nutzung spezifischer Medien, wie zum Beispiel Buch und TV, immer auch soziale Distinktionen im Alltag ausgedrückt und kommuniziert werden.43 Ein Vergleich zwischen der anwendungsorientierten Medienforschung und der theorieorientierten akademischen Wissenschaft zeigt auf beiden Seiten charakteristische Stärken und Schwächen. Erstere kann für sich in Anspruch nehmen, kontinuierlich vergleichbare Mediennutzungsdaten aufgrund von großen repräsentativen Stichproben zu erheben. Kritisiert wird sie dagegen wegen ihrer Ausrichtung auf Einzelmedien, ihrer standardisiert-quantitativen Methodik, ihrer engen Definition von Mediennutzung als medienzentriertem Kontakt und ihrer deskriptiven Ausrichtung. Umgekehrt kann die akademische Forschungstradition zwar eine theorieorientierte, breite und medienvergleichende Analyseperspektive mit dem Anspruch der Erklärung von Zuwendung zu und Nutzung der Medien durch Rezipienten für sich in Anspruch nehmen, allerdings vielfach methodisch nur auf der Basis von kleinen, nicht repräsentativen und unzureichend vergleichbaren Stichproben.44

Instrumente und Methoden Die Konstruktion von Medienpublika bezieht sich im Regelfall auf die Nutzung der modernen Massenmedien Zeitung, Zeitschrift, Buch, Radio und Fernsehen sowie neuerdings das Internet. Für die Bestimmung des jeweiligen Forschungsgegenstands ist relevant, dass die angewandte Medienforschung Medienpublika medienzentriert definiert und entsprechend nach Einzeltiteln im Printbereich oder nach Programmanbietern im Rundfunkbereich fragt. Beim Medium Buch wird deshalb allenfalls nach den beiden Buchgattungen ›Sach- / Fachbücher‹ einerseits und ›Romane / Erzählungen / Gedichte‹ andererseits unterschieden. Es wird also beispielsweise untersucht, welcher Zeitungstitel oder welcher TV-Sender wie oft genutzt beziehungsweise wie viel Zeit dafür aufgewendet wird. Im Vergleich dazu fokussiert die akademische Forschung in den meisten Fällen einzelne, generalisierte Mediengattungen und fragt deshalb nach der Häufigkeit der Nutzung von Zeitung, Zeitschrift, Buch, Fernsehen und

42 Vgl. Röser : MedienAlltag. 43 Vgl. Meyen: Medienwissen und Medienmenüs als kulturelles Kapital und als Distinktionsmerkmale. 44 Vgl. Schweiger : Theorien der Mediennutzung.

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Radio, im Rundfunkbereich meist noch differenziert nach öffentlich-rechtlichen und privaten Anbietern. Für Medien, Gattungen und Titel werden in beiden Perspektiven zum einen die Häufigkeiten beziehungsweise Frequenzen der Nutzung und zum anderen die dafür aufgewendete Zeit erhoben. Daten zur Zuwendung und Nutzung von Printmedien, Rundfunk und Internet werden dabei mittels unterschiedlicher Untersuchungsanlagen und Methoden erhoben, es dominieren Querschnitterhebungen mittels jährlich durchgeführter, standardisierter, persönlicher faceto-face-Befragungen oder computergestützte Erhebungen per Telefon (CATI) von repräsentativen Personenstichproben. Beim Fernsehen werden hauptsächlich Panelstudien durchgeführt, in denen repräsentativ rekrutierte Haushalte, meist mittels technischer Messung, über einen längeren Zeitraum Daten zur Mediennutzung liefern. Weil vor allem die reliable Messung der zeitliche Dauer der Mediennutzung mit Erinnerungsproblemen zu kämpfen hat, wurde und wird hier immer noch die Methode der Tagesablauferhebung angewendet: Für einen Stichtag, meist der Vortag, wird die Nutzung der verschiedenen Medien in Viertelstundenschritten im Tagesverlauf möglichst genau rekonstruiert. Im Bereich des Buchlesens sind solche Zeitbudgetanalysen allerdings die Ausnahme geblieben.45 Die Realität des Buchlesens im Zeitverlauf und / oder im Medienvergleich wird mittels der jeweils angewandten Methode der Datenerhebung je spezifisch konstruiert: So kann die Tagesreichweite als Prozentanteil der Bevölkerung (zum Beispiel ab 14 Jahren), die durch das jeweilige Medium pro Wochentag (Montag bis Sonntag) erreicht wird, gemessen werden. Für das Medium Buch waren das 2010 nach der Studie Massenkommunikation 21 % in Deutschland.46 Auf der Basis der erhobenen Frequenzen wird zudem oft ein ›Weitester Nutzerkreis (WNK)‹ ausgewiesen, der das jeweilige Medium mindestens selten nutzt. Der ›Engere Nutzerkreis (ENK)‹ umfasst demgegenüber jenen Prozentanteil der Befragten, der zum Beispiel Bücher mindestens mehrmals pro Woche liest, was nach der Studie Lesen in Deutschland 2008 je 17 % für ›Sach- / Fachbücher‹ und ›Romane / Erzählungen / Gedichte‹ entspricht.47 Weiterhin kann erhoben werden, wie viele Minuten pro Tag für die Nutzung eines Mediums aufgewendet werden. Im Durchschnitt liest die Bevölkerung 22 Minuten pro Wochentag in Büchern.48 Aufgrund der zeitlichen Dauer kann zudem der Anteil

45 46 47 48

Vgl. beispielsweise Wollscheid: Lesesozialisation in der Familie. Ridder / Engel: Massenkommunikation 2010. Mediennutzung im Intermediavergleich, S. 47. Stiftung Lesen: Lesen in Deutschland 2008, S. 15. Ridder / Engel: Massenkommunikation 2010. Mediennutzung im Intermediavergleich, S. 526.

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des jeweiligen Mediums am Mediengesamtbudget errechnet werden, was beim Medium Buch etwa 4 % entspricht. Buchlesen im Rahmen von allgemeinen Mediennutzungsstudien: Studie Massenkommunikation Objektive Indikatoren Werte für das Buch Personen ab 14 Jahren, Montag bis Sonntag – Reichweite pro Tag – zeitliche Dauer in Minuten pro Tag – Anteil am Mediengesamtbudget

1980 1990 2000 2010 20 % 20 % 18 % 21 % 22 18 18 22 6% 5% 4% 4%

Buchlesen im Rahmen von spezialisierten Buchnutzungsstudien: Studie Lesen in Deutschland 2008 Lesefrequenz von Büchern: 1992 2000 2008 – ›Engerer Nutzerkreis‹ (täglich und mehrmals pro Woche) 39 % 28 % 31 % – ›Weiterer Nutzerkreis‹ (einmal pro Woche bis einmal pro 27 % 31 % 28 % Monat) – seltene Leser (nicht jeden Monat) 15 % 13 % 16 % – Nichtleser 20 % 28 % 25 % Anzahl gelesener Bücher pro Jahr : 1992 2000 2008 – 1–5 38 % 38 % 44 % – 6–10 26 % 26 % 27 % – mehr 33 % 34 % 28 % Lesemotive und Erwartungen an Bücher : 1992 2000 2008 – spannend sein, mich packen, faszinieren 55 % 60 % 63 % – von aktuellen, politischen, sozialen Problemen handeln 28 % 21 % 19 % – mich in eine andere (Phantasie-)Welt versetzen 19 % 26 % 23 % Modalitäten des Buchlesens: 1992 2000 2008 – von vorne bis hinten durchlesen 44 % 46 % 46 % – in kleinen Portionen lesen 29 % 35 % 37 % – auch mal etwas auslassen 27 % 20 % 25 % – manchmal die Seiten überfliegen 14 % 19 % 21 % Lesesozialisation: 1992 2000 2008 – habe als Kind oft Bücher geschenkt bekommen 72 % 59 % 51 % – im Kindergarten wurde oft vorgelesen 56 % 43 % 38 % – meinen Eltern war es egal, ob ich las oder nicht 40 % 27 % 31 % Tab. 3: (Re-)Konstruktion des Buchlesens mittels empirischer Indikatoren.

In der spezialisierten (Buch-)Lese(r)forschung, zum Beispiel der Studie Lesen in Deutschland 2008 der Stiftung Lesen, wird die Realität des (Buch-)Lesens mit zusätzlichen empirischen Indikatoren differenzierter (re-)konstruiert. Auch hier wird meist nach den beiden Buchgattungen ›Sach- / Fachbücher‹ und ›Romane / Erzählungen / Gedichte‹ unterschieden. Neben den objektiven Indikatoren ›Lesehäufigkeit‹ und ›Lesezeit‹ wird hier der subjektive Indikator ›Wichtigkeit des (Buch-)Lesens‹ im Vergleich zu anderen Freizeitaktivitäten erhoben. Im Vergleich zur tatsächlichen Nutzung liegt die Wertschätzung von

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›Sach- / Fachbüchern‹ mit 36 % und von ›Romanen / Erzählungen / Gedichten‹ mit 31 % deutlich höher als das faktische Leseverhalten.49 Weiter werden als Motive des (Buch-)Lesens meist das ›Unterhaltungsbedürfnis‹ im Gegensatz zum ›Informations-‹ beziehungsweise ›Weiterbildungsbedürfnis‹ erhoben. Schließlich interessieren sich (Buch-)Lesestudien auch für die vielfältigen Modalitäten des Buchlesens. Dazu ist in jüngster Zeit die These formuliert worden, dass das ›portionsweise‹ Lesen zugenommen habe. Bezogen auf das neue Medium Internet interessiert zukunftsorientiert auch das Online-Lesen.50 Obwohl sich spezielle Studien mit Fragen der Lesesozialisation befassen, wird in der Buchforschung meist miterhoben, ob beispielsweise zu Hause oder im Kindergarten vorgelesen wurde. Dies gilt ebenso für den Aspekt der Lesekompetenz, der im Zentrum der PISA-Studien steht, aber als subjektive Frage nach Leseschwierigkeiten vielfach mitabgefragt wird. Auf der Basis der erhobenen Daten interessiert sich die theorieorientierte universitäre Forschung nicht nur deskriptiv und medienzentriert für die Struktur der Nutzerschaft eines Rundfunksenders oder der Leserschaft von Büchern. Stattdessen versucht sie personenzentriert die Unterschiede in der Mediennutzung nicht nur aufgrund von Soziodemographie, sondern auch durch Mitberücksichtigung weiterer psychologischer und soziologischer Aspekte wie kognitive Fertigkeiten und motivationale Faktoren sowie Einflüsse des sozialen Kontexts wie Elternhaus, Schule und soziales Umfeld zu erklären.51 Die so beschriebene ganzheitliche, aber facettenreiche Lesekultur wird somit durch die empirische Medienforschung analytisch in eine Vielzahl einzelner Dimensionen zerlegt, welche in einem zweiten Schritt wieder zu einem ganzheitlichen Bild des Lesens rekonstruiert werden müssen. Methodisch wird dies durch eine Typologisierung mit Hilfe von Clusteranalysen realisiert, indem die Befragten mit ähnlichen Antwortmustern in Gruppen mit möglichst homogenen Ausprägungen zusammengefasst werden. So werden in der Studie Lesen in Deutschland 2008 beispielsweise sechs Lesetypen unterschieden:52 ›Lesefreunde‹ (24 %) lesen nicht nur gerne Bücher, sondern auch gerne Zeitungen und Zeitschriften. Ein breites Spektrum von Büchern, aber vor allem Belletristik, ist aus ihrem Leben nicht wegzudenken. ›Informationsaffine‹ (20 %) nutzen Medien zweckorientiert, das heißt zur Information. Es spielt dabei kaum eine Rolle, ob die genutzten Medien gedruckt oder elektronisch sind. ›Vielmediennutzer‹ (12 %) verfügen über ein breites Interessenspektrum, wobei nahezu alle Medien genutzt werden. ›Elektronikaffine Mediennutzer‹ (12 %) nutzen bevorzugt 49 Stiftung Lesen: Lesen in Deutschland 2008, S. 15. 50 Vgl. Kochhan / Patzig: Buch und E-Book aus Nutzersicht; Kuhn / Bläsi: Lesen auf mobilen Lesegeräten 2011. 51 Vgl. Schweiger : Theorien der Mediennutzung. 52 Stiftung Lesen: Lesen in Deutschland 2008, S. 55.

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Fernsehen, Video / DVD, PC-Spiele und das Internet. Für ›Medienabstinente‹ (5 %) spielen Medien in ihrem Leben keine wichtige Rolle und Lesen wird als anstrengend empfunden. ›Leseabstinente‹ (25 %) nutzen gerne das Fernsehen, das Radio und die Zeitung, aber Bücher werden gemieden. Kritisch festzuhalten ist aber, dass jede Typologie der Mediennutzung bis zu einem gewissen Grad willkürlich bleibt, das heißt ausschlaggebend ist nicht zuletzt, welche Dimensionen als Basis für die Typenbildung benutzt werden. Umgekehrt besteht die Möglichkeit, aufgrund bestehender Lebenswelttypologien wie der SINUS-Typologie zu fragen, welchen Stellenwert das Medium Buch bei den einzelnen Typen hat.53

Befunde Sowohl die angewandte Medienforschung als auch die universitäre Wissenschaft liefern aufgrund der von ihnen verwendeten Indikatoren der Medien- und Buchnutzung Bausteine zur Konstruktion des (Buch-)Lesens und damit der Leserschaft im zeitlichen und medialen Vergleich. Nachfolgend werden einige Aussagen und Ergebnisse bilanziert (vgl. Tab. 3). Das Fernsehen ist im Medienvergleich nach wie vor mit Abstand das wichtigste Medium. Dies zeigt sich bezüglich der Nutzungshäufigkeit, der aufgewendeten Zeit und der Einschätzung als wichtigste Freizeitaktivität. Im Vergleich dazu nutzen nur 15 % mehrmals pro Woche oder täglich ›Sach- / Fachbücher‹ oder ›Romane / Erzählungen / Gedichte‹. Der ›Engere Nutzerkreis‹ des Buchs umfasst somit zirka 30 % der Bevölkerung in Deutschland ab 14 Jahren, etwa 25 % müssen als Nichtleser bezeichnet werden. Weil die empirische Medien- und (Buch-)Lese(r)forschung länderspezifisch organisiert und durchgeführt wird, sind Ländervergleiche wegen konzeptueller und methodischer Unterschiede der empirischen Studien selten. Das Börsenblatt des Deutschen Buchhandels hat 2009 eine D.A.CH-Studie auf der Basis einer Online-Befragung zur Medien- und Buchnutzung mit gleichem Messinstrument in Deutschland (N=729), Österreich (N=500) und der Deutschschweiz (N=504) durchgeführt.54 Die Befunde zeigen, dass die drei Medien Fernsehen mit 32 %, Radio mit 28 % und Internet mit 28 % Anteil am Gesamtzeitbudget (rund elf Stunden pro Tag) die heute wichtigsten Medien sind. Auf das Lesen von Tageszeitungen entfallen 5 %, auf Bücher 4 % und auf Zeitschriften / Illustrierte 3 %. Im Ländervergleich ist das Fernsehen mit einem Zeitanteil von 33 % am wichtigsten in Deutschland, während das Radio mit einem Anteil von 36 % am 53 Vgl. Kochhan / Schengbier : Bücher und Lesen im Kontext unterschiedlicher Lebenswelten. 54 Vgl. Kochhan / Patzig: Buch und E-Book aus Nutzersicht.

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stärksten in der Schweiz genutzt wird. Die Zeitanteile für das Buchlesen sind ähnlich: Deutschland und Österreich jeweils 4 % und Schweiz 3 %. Allerdings lesen Befragte in Österreich mit 32 Minuten pro Tag am längsten in Büchern und mit 11,2 auch deutlich mehr Bücher pro Jahr als Deutsche mit 8,9 und Deutschschweizer mit 8 Büchern. Für die USA bilanziert die National Endowment for the Arts sogar pessimistisch: »Americans are spending less time reading; reading comprehension skills are eroding; these declines have serious civic, social, cultural, and economic implications.«55 Die Entwicklung des Buchlesens war der Studie Massenkommunikation nach in den letzten dreißig Jahren (1980 – 2010) stagnierend, bezogen auf das gesamte Medienbudget leicht und in der Gruppe der 14- bis 29-Jährigen deutlich rückläufig. Der langfristige Trend bei der Entwicklung der Tagesreichweiten zeigt nach dieser Studie, dass Fernsehen und Radio auf hohem Niveau relativ stabil verblieben sind, das Internet stark an Nutzung zugenommen hat, während die Printmedien an Bedeutung verloren haben. Nach den Studien der Stiftung Lesen hat sich der ›Engere Nutzerkreis‹, der 1992 noch 39 % betrug, zwischen 2000 und 2008 von 28 % wieder leicht auf 31 % erhöht. Im selben Zeitraum ist äquivalent auch der Anteil der Nichtleser von 28 % auf 25 % leicht gesunken. In qualitativer Hinsicht äußern sich im Zeitverlauf Veränderungen bei den Lesestrategien, denn das Lesen von Büchern in kleineren Portionen über längere Zeit hat an Bedeutung gewonnen: 29 % 1992, 35 % 2000 und 37 % 2008.56 Seit einiger Zeit wird dem Lesen am Bildschirm beziehungsweise im Internet in der empirischen Forschung stärkere Beachtung geschenkt57, neuerdings auch in Bezug auf die Nutzung von elektronischen Lesegeräten. Während 2000 erst 25 % der Computernutzer Texte vollständig auf dem Bildschirm gelesen haben, ist dieser Wert bis 2008 auf 41 % angestiegen. Besonders junge Erwachsene, Männer und höher gebildete Leser haben eine Affinität zu elektronischen Texten.58 In der aktuellen D.A.CH-Studie59 wurde auch nach E-Books gefragt: Nur jeder dritte Befragte hat davon schon einmal gehört, aber mehr als die Hälfte davon kann sich nicht vorstellen, eines zu lesen. E-Books interessieren vor allem die ›Internet-Freaks‹ (15 %). 2011 haben jedoch bereits 69 % der befragten Deutschen angegeben, sie wüssten was ein E-Book sei, diese werden aber zur Zeit hauptsächlich von Innovatoren genutzt. Übereinstimmend in allen Studien äußern sich Unterschiede des Geschlechts im Leseverhalten. Frauen lesen nicht nur mehr, sondern unterscheiden sich auch 55 56 57 58 59

National Endowment for the Arts: To Read or Not to Read, S. 7. Stiftung Lesen: Lesen in Deutschland 2008, S. 28 – 29. Vgl. Kochhan / Schengbier : Bücher und Lesen im Kontext unterschiedlicher Lebenswelten. Stiftung Lesen: Lesen in Deutschland 2008, S. 36 – 37. Vgl. Kochhan / Patzig: Buch und E-Book aus Nutzersicht.

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bezüglich Lesefreude, Lesemotivation, Lektürepräferenzen, Leseweisen und Lesekompetenzen von Männern.60 Frauen haben nicht nur mehr Freude am Lesen sondern lesen auch stärker intrinsisch motiviert, das heißt selbstzweckhaft zur Unterhaltung, und bevorzugt ›Romane / Erzählungen / Gedichte‹. Die Lektüre der Männer ist dagegen zweckorientiert und ihre Präferenz liegt bei ›Sach- und Fachbüchern‹. In den PISA-Studien der letzten Jahre hat sich zudem gezeigt, dass Mädchen generell über höhere Lesefertigkeiten verfügen als Jungen. Ein weiterer wichtiger Einflussfaktor sowohl auf die Lesehäufigkeit als auch auf die Lesefertigkeiten ist der erlangte formale Bildungsgrad. Mit steigender Bildung wird signifikant mehr und auch besser gelesen. Je geringer die formale Bildung ist, desto schwächer ist der Stellenwert des Mediums Buch im Vergleich zur Bedeutung des Fernsehens im Freizeitbereich ausgeprägt. Schließlich variiert die Mediennutzung auch mit dem Alter. Ältere Menschen bevorzugen klassische Printmedien wie Zeitung und Zeitschrift, jüngere Nutzer dagegen viel stärker das Internet. Allerdings werden in allen Altersgruppen ›Romane / Erzählungen / Gedichte‹ gleichermaßen gelesen. Weil der Migrationshintergrund stark mit einem tieferen formalen Bildungsniveau zusammenhängt, erstaunt es nicht, dass Migranten meist weniger lesen. Obwohl viele Lesesozialisationsstudien aus der Perspektive der Kommunikationswissenschaft vorab korrelative Zusammenhänge auf der Basis von Querschnittstudien zwischen verschiedensten Dimensionen der Systeme Familie, zum Beispiel Buchbesitz, Buchgeschenke und Vorlesen, Schule, zum Beispiel Vorlesen, Lektürewahl und Bibliotheksbesuche, und Peer-Group, zum Beispiel Ko-Orientierung an, Wettbewerb zu und Buchgespräche mit anderen lesenden Peers, und dem Leseverhalten untersuchen, gibt es beispielsweise in den Studien der Stiftung Lesen aus einer Langfristperspektive aufgrund von Selbstauskünften und retrospektiver Einschätzungen der Befragten auch Hinweise zu einem Bedeutungsverlust der Leseförderung in der Familie. So ist der Anteil der 14- bis 19-Jährigen, die angeben als Kind Bücher geschenkt erhalten zu haben, von 72 % 1992 über 59 % 2000 auf 51 % 2008 gesunken. Auch die Werte für das Vorlesen im Kindergarten haben von 56 % 1992 über 43 % 2000 auf 38 % 2008 abgenommen. Dabei ist die Lesesozialisation vor allem bei Kindern in bildungsfernen Familien am schwächsten ausgeprägt. Longitudinale Studien der Lesesozialisation, beispielsweise zur Entwicklung der Lesemotivation, sind aber vergleichsweise selten.61

60 Vgl. Garbe: Lesen – Sozialisation – Geschlecht; Philipp: Lesesozialisation in Kindheit und Jugend, S. 42 – 45. Vgl. zur Lesemotivation Lilian Streblow und Anke Schöning in diesem Band mit ihrem Beitrag Lesemotivation. 61 Vgl. Retelsdorf / Möller : Entwicklungen von Lesekompetenz und Lesemotivation; Archambault / Eccles / Vida: Ability self Concepts and Subjective Value in Literacy.

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Ganzheitliches Bild des Lesens als Herausforderung der Leseforschung Die empirische Medien- beziehungsweise (Buch-)Lese(r)forschung konzeptualisiert beziehungsweise (re-)konstruiert die Leserschaft von Büchern mittels einer Vielzahl analytisch getrennter und standardisiert messbarer Einzeldimensionen. Vor allem die anwendungsorientierte Medienforschung fokussiert zum einen den zeitlichen Umfang und zum anderen die Häufigkeit der Mediennutzung beziehungsweise des Buchlesens. Dies geschieht meist komparativ im Zeitverlauf beziehungsweise im Medienvergleich. Erst die theorieorientierte universitäre Medien- beziehungsweise (Buch-)Lese(r)forschung fokussiert darüber hinaus die qualitativen Aspekte wie Motive des Lesens, Präferenzen für Lesestoffe, Lesestrategien, Lesekompetenzen und Lesegespräche. Diese vielfältigen Aspekte des (Buch-)Lesens werden zudem in einem sozialisationstheoretischen Bezugsrahmen nicht nur deskriptiv ausgewiesen, sondern auch theorieorientiert in den Kontexten von Familie, Schule und Peer-Group analysiert. Als Schwäche und Herausforderung zugleich stellt sich die Frage und zugleich der Anspruch, wie diese Vielzahl und Vielfalt an Einzelaspekten des Leseverhaltens aus Medienforschung und Wissenschaft integrativ wieder zu einem ganzheitlichen Bild in Form von Mediennutzungs- beziehungsweise Lesetypen synthetisiert werden kann.

Quellen Köcher, Renate (Hrsg.): Allensbacher Jahrbuch für Demoskopie 2003 – 2009. Berlin / New York 2009. Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest (Hrsg): KIM-Studie 2010. Kinder + Medien, Computer + Internet. Basisuntersuchung zum Medienumgang 6- bis 13-Jähriger. Stuttgart 2011. Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest (Hrsg.): JIM-Studie 2010. Jugend, Information, (Multi-)Media. Basisuntersuchung zum Medienumgang 12- bis 19-Jähriger. Stuttgart 2011. National Endowment for the Arts (Hrsg.): To Read or Not To Read. A Question of National Consequence. Washington D.C. 2007 (Research Report 47). o. V.: Deutsche sind E-Book-Skeptiker. In: boersenblatt.net (18. 06. 2009. URL: http:// www.boersenblatt.net/325924/ [18. 12. 2012]). OECD (Hrsg.): PISA 2009 Ergebnisse. Was Schülerinnen und Schüler wissen und können. Schülerleistungen in Lesekompetenz, Mathematik und Naturwissenschaften. Bd. 1. Bielefeld 2010. Ridder, Christa-Maria / Engel, Bernhard: Massenkommunikation 2010. Mediennutzung im Intermediavergleich. In: Media Perspektiven 11 (2010), S. 523 – 536.

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Lilian Streblow / Anke Schöning

Lesemotivation Dimensionen, Befunde, Förderung

»Lesen ist ein grenzenloses Abenteuer der Kindheit.«1 Glaubt man Neil Postman, bringt das Lesen die Erwachsenheit hervor. Denn Zugang zur literalen Welt der Erwachsenen bedeutet »Zugang zu kulturellen Geheimnissen […], die in nichtnatürlichen Symbolen verschlüsselt sind.«2 Kinder und Jugendliche müssen sich für die Geheimnisse der Bücherwelt erst qualifizieren, indem sie schrittweise die Grundvoraussetzungen für das Lesen erwerben: begriffliches und komplexes Denken, Abstraktionsvermögen, Selbstbeherrschung.3 Mit Aufkommen und Verbreitung des Fernsehens ist für Postman diese geheimnisvolle Welt zerstört. Die Welt der Schrift wird abgelöst durch eine Welt der Bilder, die den Unterschied von Kindheit und Erwachsenenwelt nivelliert, da sie keine Geheimnisse mehr kennt. Bedeutet die rasante Ausbreitung der audiovisuellen Medien und seit Ende des 20. Jahrhunderts der computergestützten Medien daher das Ende der literalen Gesellschaften? Bisher ist dies nicht abzusehen.4 So zeigt Hurrelmann auf, dass »Lesekompetenz zu einem Teil der für alle Gesellschaftsmitglieder notwendigen Medienkompetenz geworden ist.«5 Die Herausbildung literaler Gesellschaften ist als historischer Prozess zu begreifen, der veränderlichen sozialhistorischen Rahmenbedingungen unterliegt, die dem Lesen epochenspezifisch unterschiedliche Funktionen, Wirkungen, Formen und Bewertungen zuschreiben. Erst am Ende dieses Prozesses wird das Lesen zu einer basalen Kulturtechnik, die zur Teilhabe an der gesellschaftlichen Kommunikation befähigt.6 Insbesondere die computergestützten Netzwerktechnologien tragen dazu bei, dass die Schrift auch im 21. Jahrhundert eine bedeutende 1 2 3 4 5

Nach Astrid Lindgren. Postman: Das Verschwinden der Kindheit, S. 23. Vgl. Postman: Das Verschwinden der Kindheit. Vgl. Axel Kuhn in diesem Band mit seinem Beitrag Das Ende des Lesens? Hurrelmann: Sozialhistorische Rahmenbedingungen von Lesekompetenz sowie soziale und personale Einflussfaktoren, S. 127. 6 Vgl. Hurrelmann: Sozialhistorische Rahmenbedingungen von Lesekompetenz sowie soziale und personale Einflussfaktoren.

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Rolle spielt. Wir lesen und schreiben SMS, erhalten und verschicken E-Mails, suchen nach Informationen im World Wide Web oder unterhalten uns mit Freunden und Fremden in Chats. Lesen ist somit nicht länger auf Printmedien beschränkt, allerdings wird die für die adäquate Mediennutzung erforderliche Lesekompetenz »in hohem Maße auch durch diejenigen Erfahrungen und Fertigkeiten gestützt, die Leser im Umgang mit gedruckten Texten erworben haben.«7 Bedeutsam für das Lesen als kulturelle Praxis sind die mit ihm verbundenen divergierenden Lesefunktionen, -erwartungen und -motivationen. Neben dem eher instrumentellen Charakter des Lesens als Informationsentnahme und -verarbeitung sowie Wissenserweiterung dient das Lesen ästhetischliterarischer Texte ebenso der Persönlichkeitsbildung. Hinzu kommt auch das erlebnisorientierte, primär der Unterhaltung dienende Lesen. Seit über zehn Jahren werden bildungspolitische Debatten, zumindest in Deutschland, in starkem Maße auch von den Ergebnissen der PISA-Studien beeinflusst. PISA steht für ›Programme for international Student Assessment‹ und wird von der OECD (›Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung‹) genutzt, um Rückschlüsse auf die Qualität von Schule und Unterricht in den teilnehmenden Ländern zu ziehen. Erfasst wird kein Faktenwissen, sondern Basiskompetenzen, die für die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben in diesen Ländern erforderlich sind. Eine dieser Basiskompetenzen ist die Lesekompetenz.8 Ein Befund der ersten Studie PISA 2000 war, dass fast die Hälfte der 15-jährigen Schüler der deutschen Stichprobe nicht zum Vergnügen liest. Bei keinem anderen der teilnehmenden Länder war der Anteil höher.9 Dieses Ergebnis ist insbesondere von Bedeutung, da der Zusammenhang zwischen allgemeinem Leseinteresse und Lesekompetenz hoch ist. Eine Konsequenz dieses Ergebnisses ist, dass mögliche direkte und indirekte Maßnahmen zur Förderung der Lesemotivation von Vertretern aller Schulformen diskutiert werden. Doch was verbirgt sich hinter dem Konstrukt der ›Lesemotivation‹, beziehungsweise welche Facetten der Lesemotivation müssen unterschieden werden? Und welche Erkenntnisse lassen sich aus vorliegenden Befunden und Erfahrungen mit unterschiedlichen Ansätzen zur Förderung der Lesemotivation ziehen? Ziel dieses Beitrags ist eine Klärung des Begriffs. Es werden verschiedene, insbesondere intrinsische Aspekte der Lesemotivation erläutert und Beziehungen zu aktuellen Förderansätzen hergestellt. Existierende Förderprogramme werden im Hinblick auf ihre praktische Bedeutung analysiert, aber auch Konsequenzen für die weitere Theorieentwicklung diskutiert. Besonderes Interesse

7 Bertschi-Kaufmann / Härvelid: Lesen im Wandel, S. 47. 8 Vgl. Baumert u. a.: PISA 2000. 9 Vgl. Artelt u. a.: Lesekompetenz.

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erfahren dabei das interessegeleitete Lesen sowie das literarische Lesen10 und deren Bedeutung für die Lesemotivation. Der Fokus evaluierter Interventionsprogramme liegt dabei meistens auf einer kombinierten Förderung von Lesekompetenz und Lesemotivation. Obwohl eine hohe Lesemotivation für sich genommen einen Wert darstellt, wird ihre Bedeutung gegenwärtig vor allem als wichtige Determinante von Lesekompetenz diskutiert.

Der Begriff ›Lesemotivation‹ Um unterschiedlichen Aspekten der Lesemotivation gerecht werden zu können, ist eine begriffliche Schärfung erforderlich. Zwei Dimensionen der Lesemotivation sollen dabei besondere Beachtung erfahren. Zum einen müssen intrinsische und extrinsische Formen der Lesemotivation unterschieden werden, zum anderen muss man zwischen der aktuellen und der habituellen Lesemotivation einer Person differenzieren. Extrinsische Formen der Lesemotivation sind durch äußere Anreize beziehungsweise antizipierte Folgen des Lesens determiniert, zum Beispiel wenn ein Text gelesen wird, um Anerkennung zu erhalten. Bei intrinsisch motivierten Formen der Lesemotivation hingegen überwiegen Gründe, die in der Tätigkeit des Lesens selbst liegen. Man liest, weil das Lesen an sich Spaß macht oder man sich aus inhaltlichem Interesse mit einem Text beschäftigt. Intrinsische und extrinsische Formen können sowohl bei der aktuellen, in einer spezifischen Lesesituation beobachtbaren Lesemotivation als auch bei der habituellen, zeitlich eher überdauernden Lesemotivation unterschieden werden. In engem Zusammenhang mit der intrinsischen Lesemotivation ist das inhaltliche Interesse zu sehen. Schaffner und Schiefele bezeichnen dies auch als objekt- oder gegenstandsbezogene intrinsische Lesemotivation.11 Von der objektbezogenen intrinsischen Lesemotivation ist die erlebnisbezogene abzugrenzen. Hier dominiert der Wunsch, durch die Identifikation mit einer Romanfigur stellvertretend Dinge zu erleben, zum Beispiel Gefühle wie Spannung oder Freude zu teilen.

10 Literarisches Lesen wird hier gegenstandsspezifisch verstanden. Literatur stellt bestimmte Anforderungen an den Leser, zum Beispiel Imaginationsfähigkeit oder Umgang mit Fiktionalität, Mehrdeutigkeit, Indirektheit, Symbolik sowie literarischer Formensprache, und schließt subjektive Involviertheit ein. Zudem führt Spinner : Lesen als ästhetische Bildung, S. 87 in Bezug auf das Lesen als ästhetischer Bildung aus, »dass das literarische Lesen immer auch ein Prozess des Selbst-Verstehens ist, eine Auseinandersetzung mit eigenen Wünschen, mit Leid, mit Wut, mit moralischen Konflikten, die einen beschäftigen.« 11 Vgl. Schaffner / Schiefele: Auswirkungen habitueller Lesemotivation auf die situative Textrepräsentation.

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Mittels einer Befragung untersuchten Richter und Plath die Entwicklung von Lesemotivation in der Grundschule.12 Ihr Hauptforschungsinteresse richtete sich auf die schulischen Möglichkeiten der Entwicklung und Förderung von Lesemotivation. Wenngleich die Untersuchung die internationale Motivationsforschung nicht berücksichtigt, lassen sich die von Schaffner und Schiefele unterschiedenen Formen der intrinsischen Lesemotivation anhand der Lektürepräferenzen der circa 1 200 befragten Grundschüler aufzeigen. Danach gefragt, welche Texte sie gerne lesen, geben 55,9 % der Kinder Sachliteratur an. Der Unterschied zwischen Mädchen (52,9 %) und Jungen (59,0 %) fällt dabei prozentual gering aus und lässt darauf schließen, dass die gegenstandsbezogene intrinsische Lesemotivation bei beiden Geschlechtern ähnlich ausgeprägt ist. Die erlebnisbezogene Lesemotivation zeigt sich vor allem in der Präferenz der Kinder für Abenteuergeschichten (64,4 %), Tiergeschichten (45,4 %) und Phantasiegeschichten (45,0 %). Ein prozentual deutlicher Unterschied zwischen Mädchen (55,1 %) und Jungen (35,0 %) fällt sowohl bei den Phantasiegeschichten als auch bei den Tiergeschichten auf, die Mädchen (59,0 %) deutlich lieber lesen als Jungen (31,7 %). Richter und Plath befragten ebenfalls die 52 Lehrerinnen der Kinder nach ihrer Lektüreauswahl für den Unterricht. Vergleicht man die Lesepräferenzen der Kinder mit dem Lektüreangebot im Unterricht, so fällt auf, dass von den 89 ermittelten Titeln nahezu die Hälfte (43) zur Kategorie der realistischen Literatur gehört, die bei den Leseinteressen der Kinder den letzten Platz (25,0 %) einnimmt. Dagegen sind die Abenteuergeschichten mit 14 Titeln sowie die Sachliteratur mit elf Titeln gemessen an den Lesepräferenzen der Grundschüler im Unterricht deutlich unterrepräsentiert. Die Diskrepanz zwischen Leseinteresse und Lektüreangebot dürfte sich im Hinblick auf die schulische Förderung der gegenstandsbezogenen und erlebnisbezogenen intrinsischen Lesemotivation deutlich negativ auswirken. Berücksichtigt man, dass Lesemotivation und Lesekompetenz durch komplexe und wechselseitige Einflüsse eng zusammenhängen13, sind im Hinblick auf die Förderung von Lesemotivation sowohl die verschiedenen möglichen inneren und äußeren Anreize von Bedeutung als auch Unterschiede in der Erlebnisqualität.

12 Vgl. Richter / Plath: Lesemotivation in der Grundschule. 13 Vgl. Philipp: Lesesozialisation in Kindheit und Jugend.

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Befunde zur Lesemotivation – Dimensionen, Bedingungen und Konsequenzen In PISA 2009 lag ein Schwerpunkt wieder auf der Lesekompetenz.14 Für den vorliegenden Beitrag sind vor allem die PISA-Befunde zur Lesemotivation bedeutsam. Die Qualität des Erlebens wurde mit der ›Lesefreude‹ als einer Facette der Lesemotivation betrachtet. »Der Indikator Lesefreude drückt aus, welche emotionale Bedeutung das Lesen im Leben der Befragten hat.«15 Als weitere Indikatoren für Lesemotivation dienten die ›Lesehäufigkeit‹ und die ›Lesevielfalt‹. Mit letzterer wird erstens das Spektrum der genutzten klassischen Printmedien abgebildet und überdies erfragt, wie häufig welche elektronischen Medien gelesen werden. Alle Indikatoren werden mittels Selbstbeschreibungen erfasst. Mit der Kombination motivationaler, kognitiver und affektiver Komponenten greift PISA das Konstrukt des ›reading engagements‹ von Guthrie und Wigfield auf.16 In deren Modell werden allerdings zusätzlich noch soziale Aspekte des Lesens sowie Lesestrategien einbezogen. Lesestrategien wurden in PISA hingegen separat erfasst. Ergänzend zur Lesehäufigkeit wird die ›Menge des Lesens zum Vergnügen‹ abgefragt.17 Dieser Indikator ist besonders bedeutsam, da es sich bei der Lesehäufigkeit um eine zentrale vermittelnde Variable handelt.18 Intrinsisch motiviertes Lesen wirkt sich dabei besonders positiv aus und geht zudem mit einer tieferen Verarbeitung des Gelesenen einher.19 Auch extrinsisch motiviertes Lesen wirkt sich positiv auf die Lesekompetenz aus, dies ist allerdings vor allem dann der Fall, wenn die Lesesituation vom Rezipienten nicht in zu starkem Maße als kontrolliert erlebt wird.20 Der Anteil der Jugendlichen, die nicht zum Vergnügen lesen, ist laut PISA-Studie mit 41 % in Deutschland extrem hoch.21 Dass auf der anderen Seite 6 % der in Deutschland befragten 15-jährigen Jugendlichen zu der Gruppe der sogenannten ›Vielleserinnen und Vielleser‹ gehören, also mehr als zwei Stunden täglich lesen, vermag da wenig zu trösten. Diese Befunde sind auch über die Zeitspanne von 2000 bis 2009 auf dem gleichen Niveau geblieben. Die Lesefreude hingegen hat sich verbessert, und zwar sowohl bei Jungen als auch bei Mädchen. Sie liegt über dem 14 15 16 17 18

Vgl. Artelt / Naumann / Schneider: Lesemotivation und Lernstrategien. Artelt / Naumann / Schneider: Lesemotivation und Lernstrategien, S. 76. Vgl. Guthrie / Wigfield: Engagement and motivation in reading. Vgl. Artelt / Naumann / Schneider: Lesemotivation und Lernstrategien. Vgl. beispielsweise Wigfield / Guthrie: Relations of children’s motivation for reading to the amount and breadth of their reading. 19 Vgl. beispielsweise Ryan / Deci: Intrinsic and extrinsic motivation; Hidi / Harackiewicz: Motivating the academically unmotivated. 20 Vgl. Wigfield / Guthrie: Relations of children’s motivation for reading to the amount and breadth of their reading. 21 Vgl. Artelt / Naumann / Schneider: Lesemotivation und Lernstrategien.

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OECD-Durchschnitt, während die Lesevielfalt in statistisch bedeutsamem Maße unterhalb des OECD-Durchschnitts liegt. Im Hinblick auf die Nutzung von Online-Medien zeigt sich, dass die Jugendlichen der deutschen Stichprobe im internationalen Vergleich häufiger Online-Nachrichten lesen und zudem angeben, mehr im Internet zu chatten.22 Insgesamt ist die Diskrepanz in der Lesemotivation zwischen Jungen und Mädchen im internationalen Vergleich relativ groß. Der Anteil der Jungen, die nicht zum Vergnügen lesen, liegt bei 67 %. Es finden sich mit 70 % zudem auch deutlich mehr Mädchen als Jungen in der Gruppe der ›Vielleserinnen und -leser‹.23 Die Ergebnisse der PISA-Studien sind insbesondere in der Deutschdidaktik nicht ohne Konsequenzen geblieben. Der Mangel an Lesemotivation bei Kindern und speziell Jugendlichen sowie der Zusammenhang von sozialer Herkunft und Mediennutzung beziehungsweise literarischem Lesen wurden seit Anfang der 1990er-Jahre durch die Lesesozialisationsforschung aufgezeigt.24 Die von diesem Forschungsansatz ausgehende Leseförderung propagierte einen Lese- und Literaturunterricht, der motivierende Leseerfahrungen sowie ein anregendes Leseumfeld bieten sollte und zum Ziel hatte, allen Schülern einen Zugang zur Literatur zu ermöglichen. Anhand von aktueller Kinder- und Jugendliteratur wird das erlebnisorientierte Freizeitlesen in den Deutschunterricht integriert. Kreativität und Phantasie der Schüler werden mit einem handlungs- und produktionsorientierten Literaturunterricht angeregt, Leseanimationsangebote, zum Beispiel Lesenächte, Buchvorstellungen oder Lesewettbewerbe, vermitteln Freude am Lesen und sollen beim Aufbau stabiler Lesegewohnheiten helfen. Seit PISA rücken dagegen verstärkt pragmatisch ausgerichtete Leseförderungsmethoden in den Mittelpunkt, die als Trainingsmaßnahmen mittels Einüben von Lesefertigkeiten und Lesestrategien die Lesekompetenz fördern sollen. Auch wenn diese Förderansätze potenziell motivationsförderlich sind, unterscheiden sie sich jedoch deutlich von den motivationalen, auf Literarität gerichteten Konzepten.25

22 Vgl. Artelt / Naumann / Schneider: Lesemotivation und Lernstrategien. 23 Vgl. für eine umfassendere Darstellung und Bewertung der Befunde Artelt / Naumann / Schneider : Lesemotivation und Lernstrategien. 24 Vgl. beispielsweise Hurrelmann / Hammer / Nieß: Leseklima in der Familie; Bonfadelli / Fritz / Köcher : Leseerfahrungen und Lesekarrieren; Eggert / Garbe: Literarische Sozialisation. 25 Vgl. für einen pointierten Problemaufriss zu den Konsequenzen der PISA-Studien für die Deutschdidaktik Schilcher : Zur Integration der Leseforschung in den deutschdidaktischen Diskurs.

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Förderung von Lesemotivation Maßnahmen zur Förderung der Lesemotivation sind in der Regel eine Komponente umfassenderer Programme zur Förderung der Lesekompetenz. Souvignier beschreibt den Aspekt der Lesemotivationsförderung auch als ein zentrales Merkmal einer effektiven Lesekompetenzförderung.26 Es lassen sich dabei zwei Forschungsstränge differenzieren: Zum einen basieren Trainingskonzepte auf den Arbeiten von Heckhausen zum ›Leistungsmotiv‹27 und zum anderen werden Methoden eingesetzt, um direkt die extrinsische und intrinsische Lesemotivation positiv zu beeinflussen. Zu beiden Ansätzen soll zunächst der theoretische Hintergrund näher erläutert werden, bevor die konkreten Trainingskonzepte beschrieben und im Hinblick auf ihre Einsetzbarkeit und Effektivität bewertet werden. Das ›Leistungsmotiv‹ beschreibt in der Definition von Heckhausen die »Auseinandersetzung mit einem Tüchtigkeitsmaßstab«28. Empirisch lassen sich zwei unterschiedliche Ausprägungen des Motivs beschreiben, die Erfolgszuversicht und die Misserfolgsmeidung. Erfolgszuversichtliche Personen setzen sich realistische Ziele und attribuieren Erfolge eher internal auf die eigene Fähigkeit oder eigene Anstrengung. Misserfolge haben keine starken negativen Konsequenzen für die Selbstbewertung, da sie eher auf mangelnde Anstrengung oder nicht in der eigenen Person liegende externe Gründe zurückgeführt werden. Misserfolgsmeidende Personen setzen sich keine realistischen Ziele und wählen zu leichte oder zu schwere Aufgaben. Auf diese Weise erhalten sie keine gut interpretierbare Rückmeldung über ihre Leistung. Erfolge werden eher externalen, nicht kontrollierbaren Ursachen zugeschrieben, Misserfolge hingegen mit der eigenen vermeintlichen Unfähigkeit begründet. Negative Effekte auf die Selbstbewertung sind eine Folge dieses Prozesses. Erfolgszuversichtliche Schüler sind daher eher motiviert Leistungssituationen aufzusuchen als misserfolgsmeidende. Durch die Art der Ursachenzuschreibungen profitieren sie von Erfolgen und leiden weniger unter möglichen Misserfolgen. Für misserfolgsmeidende Schüler wirken sich hingegen die negativen Konsequenzen eines Misserfolgs gravierender auf die Selbstbewertung aus und sie profitieren häufig nicht von guten Leistungsrückmeldungen, die sie auf äußere Einflüsse zurückführen. Trainings zeigen, dass die Misserfolgsmeidung von Schülern reduziert werden kann, wenn an ungünstigen Attributionsmustern sowie einer unrealistischen Zielsetzung gearbeitet wird.29 Die Wahl von angemessenen, also weder zu 26 27 28 29

Vgl. Souvignier : Effektivität von Interventionen zur Verbesserung des Leseverständnisses. Vgl. Heckhausen: Motivation und Handeln. Heckhausen: Motivation und Handeln, S. 232. Vgl. Rheinberg / Krug: Motivationsförderung im Schulalltag; Fries: Wollen und Können.

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leichten noch zu schweren Aufgaben ist für den Lernprozess höchst bedeutsam. Anderman, Austin und Johnson konnten zeigen, dass bessere Lernzuwächse durch die Wahl von anspruchsvollerem Textmaterial erzielt werden können.30 Für die Lesemotivation ist hierbei auch die lesebezogene Selbstwirksamkeit zu benennen. Unter dieser versteht man die Überzeugung, eine bestimmte Leseaufgabe bewältigen zu können. Schunk und Pajares haben gezeigt, dass Schüler bei hoher lesebezogener Selbstwirksamkeit schwierigere Aufgaben wählen und diese mit größerer Persistenz bei Verständnisschwierigkeiten bearbeiten.31 Die Idee, Programme zur Förderung einer erfolgszuversichtlichen Einstellung mit Lesetrainings zu kombinieren, begründet sich in der Vermutung, der mangelnde Transfer von Strategietrainings auf schulische Lernsituationen könne auf eine misserfolgsmeidende Motivausprägung der Probanden zurückzuführen sein.32 So könnten Schüler beispielsweise Misserfolge erleben, wenn sie neu erworbene Lesestrategien auf zu schwierige Texte anwenden. Ein gutes Beispiel für die erfolgreiche Integration von Methoden zur motivationalen Selbstregulation in einem Training zur Förderung des verstehenden Umgangs mit Texten liefern die Text- und Lesedetektive. Hasselhorn und Körkel entwickelten ein Textverarbeitungstraining, bei dem die Lesestrategien eingebettet in eine kriminalistische Rahmenhandlung in Form von Textdetektivmethoden vermittelt wurden.33 Schreblowski und Hasselhorn erweiterten dann dieses metakognitive Strategietraining um Übungen zur Förderung des Leistungsmotivs.34 Souvignier und Gold adaptierten dieses ursprünglich als Kleingruppentraining konzipierte Training für Großgruppen und entwickelten einzelne Trainingsvarianten für verschiedene Zielgruppen.35 Dieses Programm ist sorgfältig und umfassend evaluiert worden. Es zeigt sich, dass es sich gut in den regulären Unterricht integrieren lässt und zu positiven und nachhaltigen Effekten auf das Leseverständnis führt.36 Dem zweiten beschriebenen Forschungsstrang zur Förderung des sinnentnehmenden Lesens sind die Arbeiten von Guthrie und Wigfield zuzuordnen.37 30 Vgl. Anderman / Austin / Johnson: The development of goal orientation. 31 Vgl. Schunk / Pajares: The development of academic self-efficacy. 32 Vgl. Schreblowski / Hasselhorn: Zur Wirkung zusätzlicher Motivänderungskomponenten bei einem metakognitiven Textverarbeitungstraining. 33 Vgl. Hasselhorn / Körkel: Metakognitive versus traditional reading instructions; Hasselhorn / Körkel: Gezielte Förderung der Lernkompetenz am Beispiel der Textverarbeitung. 34 Vgl. Schreblowski / Hasselhorn: Zur Wirkung zusätzlicher Motivänderungskomponenten bei einem metakognitiven Textverarbeitungstraining. 35 Vgl. Gold u. a.: Wir werden Textdetektive. Vgl. für eine Übersicht auch Gold / Souvignier : Texte besser verstehen und behalten. 36 Vgl. beispielsweise Souvignier / Mokhlesgerami: Using self-regulation as a framework for implementing strategy-instruction to foster reading comprehension. 37 Vgl. Guthrie / Wigfield: Engagement and motivation in reading.

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Guthrie und Wigfield betrachten mit dem ›Leseengagement‹ (›reading engagement‹) ein komplexeres Konstrukt, in dem motivationale Aspekte sowie kognitive Komponenten zusammen betrachtet werden. Sie haben das umfangreiche Förderkonzept CORI (Concept-Oriented Reading Instruction) entwickelt, das die Lesemotivation, das Leseverständnis und das eigenständige forschende Lernen von Schülern gleichermaßen fördern soll. Ein wichtiges Element des Programms ist, dass die Schüler selbst entwickelte Forschungsfragen bearbeiten. Das Programm ist für Kinder der dritten bis fünften Klasse entwickelt worden und soll Elemente des traditionellen Unterrichts ersetzen. Für das Training wurde mit einem Biologen umfangreiches Material zum Thema ›Überleben an Land und im Wasser‹ entwickelt. Die Trainingsdauer variiert in den einzelnen Evaluationsstudien von zwölf Wochen bis zu einem Jahr und erfordert tägliche Sitzungen von bis zu 120 Minuten Dauer. Die zentralen Strategien, die den Kindern vermittelt werden, sind: Aktivierung von Vorwissen, Fragen stellen, Informationen suchen, Zusammenfassen, Veranschaulichen mittels Grafiken sowie die Auseinandersetzung mit der Textstruktur. Zudem wird angestrebt, die Lesemotivation durch verschiedene Instruktionsmethoden positiv zu beeinflussen. Die Schüler sollen sich mit Texten aktiv auseinandersetzen, um dadurch Kompetenzen in einem bestimmten Bereich zu erwerben. Dabei haben sie verschiedene Wahl- und Einflussmöglichkeiten im Hinblick darauf, wie sie ihre Leseaktivität im Rahmen des Trainings gestalten möchten, zum Beispiel als Gruppenarbeit. Die Inhalte werden mit Hilfe von Exkursionen, praktischen Übungen und Experimenten, die die Schüler selbst durchführen, vermittelt. Die Texte sind dabei möglichst interessant gestaltet. Die positiven Effekte dieses Trainings auf die Lesemotivation und das Leseengagement konnten in einer Reihe von Studien nachgewiesen werden.38 So erläutert und diskutiert Guthrie beispielsweise die Ergebnisse einer Studie, die in insgesamt 19 dritten Klassen durchgeführt wurde, davon acht CORI-Klassen und elf traditionell unterrichtete Klassen.39 Es zeigten sich nach einer zwölfwöchigen Intervention signifikante Unterschiede in der Lesekompetenz zugunsten der CORI-Klassen sowie in den Ausprägungen der intrinsischen und extrinsischen Motivation. Neben diesen erläuterten evaluierten Trainingsprogrammen gibt es Maßnahmen, die sich indirekt förderlich auf die Lesemotivation und die Lesekompetenz auswirken sollen. Beispiele hierfür sind die bereits erwähnten schuli38 Vgl. Guthrie u. a.: Does concept-oriented reading instruction increase strategy use and conceptual learning from text; Guthrie / Wigfield / Secker : Effects of integrated instruction on motivation and strategy use in reading; Wigfield u. a.: Role of reading engagement in mediating effects of reading comprehension instruction on reading outcomes. Vgl. für einen Überblick auch Philipp / Schilcher : Selbstreguliertes Lesen. 39 Vgl. Guthrie: Concept-oriented Reading Instruction.

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schen Lesetage oder Büchernächte, Vorleseprojekte, Buchgeschenke sowie die Einrichtung von Bücherecken. Aktionen wie ›Eine Stadt liest ein Buch‹ sind ebenfalls dem Bereich der indirekten Förderung zuzurechnen. Die Wirksamkeit und Nachhaltigkeit dieser Maßnahmen ist ohne Evaluationsergebnisse schwer einzuschätzen. Bisherige Forschungsergebnisse legen nahe, dass alle Maßnahmen, die das freiwillige Lesen fördern, sich auch mehr oder weniger positiv auf die Lesekompetenz beziehungsweise -motivation auswirken sollten und somit auf jeden Fall positiv zu bewerten sind.40 Eine Möglichkeit, das Lesen für Schüler attraktiver zu gestalten, ist, persönliche Interessen der Kinder und Jugendlichen bei der Textauswahl zu berücksichtigen. Schiefele hat die Bedeutung des inhaltlichen oder thematischen Interesses für das Lernen aus Texten untersucht und konnte auch hier, bei Kontrolle der kognitiven Grundfähigkeit und des inhaltlichen Vorwissens, Zusammenhänge mit einer tieferen Verarbeitung des Gelesenen aufzeigen.41 Um die Interessen von Schülern gezielt zu fördern, schlägt Schiefele Maßnahmen in den Bereichen Autonomie- und Kompetenzerleben, soziale Einbindung und Bedeutungsgehalt des Lerngegenstands vor.42 Alle Aspekte werden in dem beschriebenen Programm CORI berücksichtigt. Die ersten drei Aspekte lassen sich dabei auch aus der Selbstbestimmungstheorie von Deci und Ryan ableiten.43 Diese gehen davon aus, dass alle Menschen angeborene psychologische Grundbedürfnisse nach Kompetenz, Autonomie und sozialer Eingebundenheit kennzeichnen. Diese postulierten Grundbedürfnisse liefern eine mögliche Erklärung dafür, warum eine Person ohne äußere Anreize oder Verstärkung eine herausfordernde Situation aufsucht und beispielsweise einen anspruchsvollen Text liest. Das Autonomieerleben im Unterricht kann verstärkt werden, wenn die Schüler Wahlmöglichkeiten bei der Text- oder auch Themenauswahl haben. In CORI dürfen die Kinder beispielsweise ausgehend von den von ihnen selbst entwickelten Fragestellungen Literatur auswählen. Dazu müssen die Rückmeldungen angemessen, informativ und lobend sein. Die soziale Eingebundenheit kann und sollte auch bei Leseaktivitäten verstärkt werden, zum Beispiel durch den Einsatz kooperativer Lernformen. Die Befunde der Metaanalyse von Guthrie und Humenick bestätigen, dass die Aspekte ›Zusam40 Vgl. McElvany / Schneider : Förderung von Lesekompetenz; Möller / Schiefele: Motivationale Grundlagen der Lesekompetenz; Streblow: Zur Förderung der Lesekompetenz. 41 Vgl. Schiefele: The influence of topic interest, prior knowledge and cognitive capabilities on text comprehension; Schiefele: Thematisches Interesse, Variablen des Lernprozesses und Textverstehen; Schiefele: Motivation und Lernen mit Texten; Schiefele: Topic interest, text representation and quality of experience; Schiefele / Krapp: Topic interest and free recall of expository text. 42 Vgl. Schiefele: Förderung von Interessen. 43 Vgl. Deci / Ryan: Intrinsic motivation and self-determination in human behavior ; Deci / Ryan: Die Selbstbestimmungstheorie der Motivation und ihre Bedeutung für die Pädagogik.

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menarbeit‹ sowie ›Wahlfreiheit‹ die Lesemotivation wirkungsvoll fördern können.44 Die stärksten Effekte auf die Lesemotivation konnten mit der Berücksichtigung interessanter Texte erzielt werden. Gegenwärtig existiert kein Trainingsprogramm zur Förderung des Interesses bei Schülern. Schiefele diskutiert allerdings eine Reihe praktikabler Maßnahmen, die sich positiv auf das Interesse auswirken sollten.45 So müssten weniger interessante Inhalte stärker mit übergeordneten Lernzielen und praktischen Implikationen verknüpft werden. Der emotionale Gehalt von bestimmten Themen könnte erhöht werden, indem individuelle Bezüge und persönlich bedeutsame Lernziele herausgearbeitet werden.

Implikationen für die schulische Praxis Die enge Verknüpfung von Lesekompetenz und Lesemotivation legt nahe, auch außerhalb von Trainingsprogrammen beides gemeinsam zu fördern. Kruse unterscheidet für die schulische Praxis gegenwärtig drei Konzepte für den Leseund Literaturunterricht mit jeweils spezifischen Perspektiven auf Lesekompetenz sowie deren Vermittlung und Förderung. Er ordnet diese Konzepte den Zielebenen ›Gern lesen‹ und ›Gut lesen‹ zu.46 Während er der Zielebene ›Gern lesen‹ das Konzept ›Leseförderung‹ als Aufbau einer stabilen Lesehaltung durch Vermittlung von Leselust und Lesefreude zuordnet, differenziert er bei der Zielebene ›Gut lesen‹ die Konzepte ›Lesetraining‹ als Einüben von Fertigkeiten und Strategien, die ein müheloses Lesen und eine zielgerichtete Textarbeit ermöglichen und ›Literarische Bildung‹ als Einführung in die literarische Kultur und Aufbau einer literarischen Rezeptionskompetenz mittels literarischer Texte und Stoffe. Ausgehend von Kruses Vorschlag, die drei Konzepte in ein umfassendes Modell von Lesekompetenz zu integrieren, sollten die motivationalen Dimensionen des Lesens ebenfalls umfassend berücksichtigt werden. Für den Bereich des literarischen Lesens bedeutet dies die Verknüpfung von interessegeleitetem und literarischem Lesen durch ein Lektüreangebot, das auch die Leseinteressen der Schüler in den jeweiligen Alters- und Klassenstufen berücksichtigt. Dazu gehört ebenfalls, dass ein sprach- und lesebewusster Unterricht immer wieder unterschiedliche Perspektiven auf Texte ermöglicht. Auch wenn der Deutschunterricht verschiedene Perspektiven auf literarische Texte sowie Sachtexte mittels variierender Herangehensweisen zu eröffnen vermag, kann eine am Interesse der Schüler orientierte Förderung der Lesemotivation 44 Vgl. Guthrie / Humenick: Motivating students to read. 45 Vgl. Schiefele: Förderung von Interessen. 46 Vgl. Kruse: Das Lesen trainieren, S. 177.

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nicht allein dort verortet werden. Eine sinnvolle und umfassende Verknüpfung von interessegeleitetem Lesen sowie der Förderung von Lesemotivation und Lesekompetenz setzt vielmehr voraus, dass sich auch der Fachunterricht an impliziter und expliziter Lesemotivationsförderung beteiligt. Gerade dieser kann fach- und / oder sachorientierten Schülern die vielfältigen Möglichkeiten aufzeigen, die das Lesen von domänenspezifischer Literatur in Bezug auf Fachwissen und fachlicher Handlungskompetenz birgt. Um diese Möglichkeiten erkennen und nutzen zu können, sind Lesestrategien notwendig47, deren Anwendung am fachlichen Gegenstand eine das Fachinteresse der Schüler zugrunde legende Lesemotivationsförderung zulässt. In Schulfächern, in denen das Lesen eine eher instrumentelle Funktion hat, bietet es sich darüber hinaus an, insbesondere Maßnahmen zur Förderung der intrinsischen Lesemotivation umzusetzen. Die bereits erläuterten Faktoren ›Wahlfreiheit‹, ›Zusammenarbeit bei der Textarbeit‹ sowie ›Auswahl interessanter Texte‹, die sich in der Metaanalyse von Guthrie und Humenick als wirkungsvoll für die Förderung der Lesemotivation erwiesen haben48, scheinen dabei im naturwissenschaftlichen Unterricht ebenso umsetzbar zu sein wie im Deutschunterricht. Ein die Lesemotivation mit der Lesekompetenz verknüpfender Leseunterricht muss daher im Rahmen der schulischen Praxis von den Beteiligten als Querschnittsaufgabe aller Unterrichtsfächer wahrgenommen werden. Für die Umsetzung ist allerdings erforderlich, dass die Lehrkräfte über eine hinreichend gute diagnostische Kompetenz verfügen, um Schülermerkmale richtig einschätzen zu können und überdies in der Lage sind, Texte im Hinblick auf ihre Interessantheit und die mit ihnen verknüpften Anforderungen richtig beurteilen zu können. McElvany und Schneider resümieren, dass es für den Bereich der Lesekompetenz bisher nur wenig Forschung zur Bedeutung der Kompetenzen der Lehrkräfte für die Unterrichtsqualität und die Leistungsentwicklung von Schülern gibt.49 Aufgrund der hohen Bedeutung, die der Interessantheit und Angemessenheit der im Unterricht verwendeten Texte für die aktuelle und die habituelle Lesemotivation zukommt, ist es naheliegend, dass es sich hierbei um ein wichtiges Forschungsfeld, insbesondere für die schulische Praxis, handelt.

47 Beispiele sind die Aktivierung und der Ausbau von Textmusterwissen, die Textverständnis sicherstellende Gliederung der im Fachzusammenhang eingesetzten Texte und die Abwägung konträrer Positionen. 48 Vgl. Guthrie / Humenick: Motivating students to read. 49 Vgl. McElvany / Schneider: Förderung von Lesekompetenz.

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Kindle’s Abstinence Porn Über Sinn und Sinnlichkeit digitaler Lesegeräte in der Werbung

›Abstinence Porn‹ – mit diesem Oxymoron wird seit wenigen Jahren ein neues filmisches Subgenre bezeichnet, das seinen Aufschwung mit den Verfilmungen der Vampirsaga Twilight genommen hat.1 In diesen Verfilmungen geht es insbesondere (und sehr viel mehr noch als in der Romanvorlage) um die sinnliche Inszenierung männlicher Körper als Objekte der Begierde. Hier haben wir es mit einer waschechten Backfischfantasie zu tun: Ein junges Mädchen namens Bella trifft in der Schule auf Edward und verliebt sich unsterblich in ihn. Edward ist eine Art James Dean des 21. Jahrhunderts, ebenso cool und melancholisch dreinblickend wie Dean in seinen wenigen Rollen. Zudem ist Edward ein circa 300-jähriger Vampir. Damit sind hinsichtlich der Beziehungsanbahnung für Bella einige Schwierigkeiten verbunden. Glücklicherweise handelt es sich hier aber um einen ›sympathischen Vampir‹,2 überdies um einen, der Bella ebenfalls anziehend findet, wie sich schnell herausstellt. Im Lauf der Filme sehen wir Edward in unzähligen Szenen, in denen er als Objekt der Schaulust inszeniert wird: mit nacktem Oberkörper, in Großaufnahme mit halb geöffnetem Mund oder funkelnd und glänzend wie der antike Narziss, wenn Tageslicht auf ihn fällt (vgl. Abb. 1). Diese Erotisierung des männlichen Körpers ist bis weit hinein in den letzten Teil der Saga verbunden mit der Verweigerung des sexuellen Kontakts von Edward und Bella. Freilich aus gutem Grund: Als Vampir ist Edward per se gefährlich. Erst als er und Bella heiraten und Bella selbst zum Vampir wird, ändert sich die Lage. Über weite Strecken von Twilight geht es somit um sexuelle Abstinenz bei gleichzeitiger Anstachelung der Begierde nach dem Vollzug. Die Inszenierung des männlichen Körpers ist derart erotisch aufgeladen, so häufig zum Objekt der Begierde gemacht, dass man durchaus von softpornographischen Darstel1 Diese Bezeichnung hat schnell auch Eingang in die wissenschaftliche Literatur gefunden. Vgl. beispielsweise Recht: Der sympathische Vampir, S. 102. 2 Zur Typisierung vgl. Recht: Der sympathische Vampir.

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Abb. 1: Edward tritt ins Licht auf dem amerikanischen Kinoplakat für den Film ›New Moon‹.

lungsformen sprechen kann. Man könnte gar mit einigem Recht behaupten: In den Filmen geht es eigentlich um nichts anderes als um die Oszillation zwischen Wunscherzeugung, Versprechen auf Erfüllung und den permanenten Aufschub dieser Erfüllung. Im Grunde ist das eine gängige Strategie, die schon seit Langem eine übliche Praxis der Werbung darstellt: Der Wunsch nach dem Produkt soll derart entfacht werden, dass eine Figur im Werbespot erst dann befriedigt sein kann, wenn sie endlich das begehrte Produkt in Besitz nehmen kann, das ihr jedoch über längere Zeit oder gar für immer entzogen wird.3 Um sich zu überzeugen, dass dies tatsächlich eine übliche Werbestrategie ist, dürfte bereits ein kurzer Blick auf die Werbespots privater Sendeanstalten genügen, insbesondere auf solche, die in den Werbepausen von Twilight-affinen Fernsehserien wie The Vampire Diaries ausgestrahlt werden. Um diese Art von Werbung soll es im Folgenden gehen. Vergleichsweise kleinteilig wird ein einziger televisueller Werbespot untersucht, um konkret aufzuzeigen, wie eine solche Werbestrategie bei der Einführung einer neuen Medientechnik funktioniert. Der untersuchte Werbespot wurde von der Firma Amazon für ihr mobiles Lesegerät in Auftrag gegeben. Die Produkte der Kindle3 Vgl. aus historischer Perspektive Sivulka: Soap, Sex, and Cigarettes.

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Reihe sind vor allem dafür bekannt, große Mengen an Texten digital zu speichern und über elektronisches Papier oder einen LCD-Bildschirm wiederzugeben. Ein Werbeslogan lautet demgemäß »over 800 000 books«4. Nicht nur sehr viele Bücher können in solch einem kleinen Gerät archiviert werden, sondern auch neue Bücher schnell per Internet geladen werden: »Books in 60 seconds«5, wie es in einem weiteren Werbespot heißt. In einer Werbung aus dem Jahr 2011 wird eine hohe Lesbarkeit der Texte versprochen: Sie sind »easy to read in bright sunlight« und haben garantiert »no glare«.6 Es wird im Folgenden also um ein digitales Lesemedium in der Werbung gehen, speziell um die E-Reader der Kindle-Reihe. Die These, die in diesem Zusammenhang plausibilisiert und konkretisiert werden soll, ist: Bei der untersuchten Kindle-Werbung handelt es sich genau besehen um eine in der Werbung gängige Form von ›Abstinence Porn‹. Jedoch ist das entzogene Objekt der Begierde in diesem Fall kein Vampir wie in Twilight, sondern ein digitales Lesegerät.

Mediendiskurs als ›Remediation‹ Bevor jedoch der Werbespot genauer untersucht wird, ist es angeraten zu klären, in welchem Rahmen solch eine Untersuchung stattfinden soll und in welchem Verhältnis Werbung und beworbener Gegenstand stehen. In diesem Fall ist der beworbene Gegenstand ein neues technisches Gerät. Interessant an solchen neuen technischen Entwicklungen ist nicht nur die Technik selbst oder wie sie verwendet wird, sondern mindestens ebenso, wie sie bekannt gemacht, als was sie vorgestellt, mit was sie verglichen und wie sie legitimiert wird. Erst im Diskurs, in der Kommunikation über den Gegenstand, wird eine vermeintlich neue und innovative technische Entwicklung zum relevanten kulturellen Ereignis.7 Erst im Diskurs, sei es in einem wissenschaftlichen Text, einem Beitrag im Feuilleton oder eben in einem Werbespot, wird überhaupt erst geklärt, was denn das Neue an der vermeintlich neuen Technik ist. Diese Einschätzung entscheidet nicht nur über den gesellschaftlichen Erfolg oder Misserfolg und über die Relevanz einer neuen Kommunikationstechnik. Sie entscheidet ebenso über mögliche Anwendungen und Weiterentwicklungen. Insofern ist der Diskurs über Medientechniken nicht etwas, was der Technik einfach nachträglich aufgepfropft wird, sondern diese immer schon substanziell betrifft. 4 Vgl. Kindle2Wireless: Brand NEW Amazon Kindle 2011 Commercial. 5 Vgl. JedRootInc: Amazon Kindle 60 Seconds. Für Werbung zu diversen Kindle-Produkten vgl. Amazon EU: Amazon Kindle. 6 Vgl. Kindle2Wireless: Brand NEW Amazon Kindle 2011 Commercial. 7 Vgl. zu Medienentwicklungen entscheidend prägenden Diskursen Kümmel u. a.: Einführung in die Geschichte der Medien, S. 7 f.

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Die Diskursivierung der Technik entscheidet also erstens über deren gesellschaftliche Relevanz. Zweitens werden in diskursiven Spekulationen Verwendungsmöglichkeiten der Medientechnik häufig überhaupt erst denkbar gemacht. Drittens richtet der Diskurs die Erwartungen an neue technologische Prozesse aus und prägt somit deren Weiterentwicklung. Eben deshalb ist die Analyse des Redens über Medien mindestens ebenso wichtig wie die Untersuchung technischer Entwicklungen und deren tatsächlicher Anwendungsweisen, um mediale Phänomene verstehen zu können. Das gilt auch für das Buch, insofern man dessen Medialität in den Blick nehmen will, ebenso wie für die medienhistorisch eng damit verknüpfte Kulturtechnik des Lesens.8 Das Reden über Medien in Medien9 ist inzwischen vergleichsweise gut erforscht.10 Vor allem für die Einführung und die Etablierung neuer Medientechniken, vom Buchdruck bis zum World Wide Web, konnte gezeigt werden, dass ein erstaunlich stabiles Set an Argumentationsmustern und rhetorischen Operationen immer wiederkehrt.11 Eine zentrale Operation der Mediendiskurse ist die ›Remediation‹. Jay D. Bolter und Richard Grusin, die diesen Begriff in den medienwissenschaftlichen Diskurs eingeführt haben, schreiben dazu: »We call the representation of one medium in another re-mediation […].«12 Es geht dabei keineswegs um konkrete inhaltliche Repräsentation, also nicht darum, ob beispielsweise in einem Film die Romanfigur Edward auftaucht oder in einem Buch über einen Film diskutiert wird. Vielmehr meinen Bolter und Grusin mit Remediation Bezugnahmen der Medien aufeinander, bei denen universelle strukturelle Eigenschaften der Medien ins Verhältnis zueinander gesetzt werden. Drei Arten von Bezugnahmen bestimmen das Verhältnis von Medien untereinander : eine nachahmende, eine rivalisierende und eine revidierende. Diese Arten der Remediation treten zumeist gemeinsam und sich gegenseitig überlagernd auf.13 An einem einfachen Beispiel erläutert: Der Computer kann die Textseiten einer wissenschaftlichen Arbeit aus einem gedruckten Buch nachahmen, unter anderem durch den linearen Verlauf des Texts, den mehr oder minder konsistenten Argumentationsgang oder den Fußnotenapparat. Er kann sich ebenso als Rivale des gedruckten Buchs herausstellen, der dieselbe Funktion besser erfüllen kann, beispielsweise lässt sich der digitale Text besser trans8 Vgl. zu diskursanalytischen beziehungsweise diskurshistorischen Herangehensweisen an Medien Schneider / Spangenberg: Medienkultur der 50er Jahre; Fohrmann / Schüttpelz: Die Kommunikation der Medien. 9 Vgl. hierzu Kirchmann: Verdichtung, Weltverlust und Zeitdruck, S. 45 – 55; Engell / Vogl: Editorial. 10 Vgl. Kümmel u. a.: Einführung in die Geschichte der Medien; Schneider / Spangenberg: Medienkultur der 50er Jahre; Fohrmann / Schüttpelz: Die Kommunikation der Medien. 11 Vgl. Kümmel u. a.: Einführung in die Geschichte der Medien, S. 8. 12 Bolter / Grusin: Remediation, S. 45. 13 Vgl. Bolter / Grusin: Remediation, S. 15 f.; Bolter: Writing Space, S. xif und S. 23.

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portieren, was die Zugänglichkeit des Texts erheblich erleichtert. Außerdem können mit einem computergestützten Textverarbeitungsprogramm Hyperlinks gesetzt werden, durch die die lineare Struktur des Texts zugunsten anderer Verbindungsmöglichkeiten durchbrochen wird. Das wäre ein die Lese- und Schreibpraxis revidierender Aspekt, mit dem gleichsam das Versprechen auf mehr Möglichkeiten und den besseren Zugriff auf Daten verbunden ist. Wichtig in diesem Kontext ist: Nicht nur Medien beziehen sich in dieser Weise auf andere Medien, das Reden über Medien funktioniert genauso. Insofern findet der Diskurs über ein neues medientechnisches Gerät in den allermeisten Fällen in den Modi der Remediation statt. Verwunderlich ist das freilich nicht: So wird es erstens möglich, an bereits Etabliertes und Bekanntes anzuschließen und damit den Gegenstand überhaupt erst beschreibbar und fassbar zu machen. Das Prinzip der Imitation findet hier also Anwendung: Das neue Medium X funktioniert wie das alte Medium Y. Zweitens ergibt sich im Reden über das neue Medium die Möglichkeit zu zeigen, dass das neue Medium die Aufgaben und Funktionsweisen des alten Mediums nicht nur übernimmt, sondern um Einiges besser ausführen kann. Dies entspricht dem Prinzip der Rivalität. Nicht zuletzt lässt sich drittens im Vergleichsmodus die neue Medientechnik mit dem Versprechen koppeln, die Defizite des alten Mediums zu beheben. Insofern ist hier das Prinzip der Revision am Werk. Die letztgenannte Operation figuriert häufig als das entscheidende Verkaufsargument in den Diskursen der Werbung. Die als neu vorgestellten Medientechniken sind nämlich so nicht nur als rekursive Neuauflagen, als variierende Wiederaufnahmen, als Re-Mediationen älterer Medien begriffen, sondern im Blick auf ihre gesellschaftlich-kulturelle Funktionszuschreibung zugleich auch als das, was das lateinische Wort Remedium bezeichnet, als ein Heilmittel, das die Probleme lösen kann, die die vorangegangenen Medien nicht lösen konnten – oder überhaupt erst aufgeworfen haben.14

Mediendiskurse der Werbung Es wäre eine leichte Übung zu zeigen, wie die Modi der Remediation in der Werbung für Kindle-Lesegeräte oder das iPad tatsächlich die zentralen Operationsparameter darstellen. So wird beispielsweise das Umblättern des gedruckten Buchs in einer Werbung für das iPad immer wieder imitiert, indem ein Finger auf dem Touchscreen die virtuelle Seite eines Buchs umblättert (vgl. Abb. 2a).15 Auch der Konkurrenzaspekt ist in vielen Werbungen sehr deutlich formuliert, beispielsweise hinsichtlich der sehr viel größeren Daten14 Schumacher : Revolution, Rekursion, Remediation, S. 257 f. 15 Vgl. ipadtipps: ›iPad2.‹

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menge, die solch ein Gerät im Gegensatz zu einem konventionellen Buch beinhaltet: Sei es, dass diese Differenz visuell deutlich vor Augen geführt wird, indem die materiellen Bücherberge in Kontrast zu dem kleinen digitalen Leseund Speichergerät gesetzt werden (vgl. Abb. 2b)16 wie in der Kindle Werbung oder sei es mittels einer verbalen Ansprache. So heißt es etwa in einer Werbung für das iPad zwar grammatikalisch nicht ganz korrekt, dafür jedoch umso deutlicher hinsichtlich der Differenz zum alten Medium: »Es [das iPad] ist mehr Bücher als Du wirst jemals lesen können.«17 Ebenso allgegenwärtig ist die revisionistische Bezugnahme auf alte Medien. In so gut wie allen Werbungen für den Kindle Fire werden dessen multimediale Möglichkeiten beworben, also die Überschreitung von Limitationen, die frühere Medien noch hatten. Mit dem Kindle Fire kann man eben nicht nur Bücher lesen, sondern auch Filme schauen, im Netz surfen oder seinen Facebook-Account aktualisieren. Visualisiert werden diese Möglichkeiten durch ›Bild im Bild‹-Konstruktionen, denn auf dem Display des Kindle Fire sind stets viele mediale Anwendungen auf einmal zu sehen (vgl. Abb. 2c).18

Abb. 2a–c: Remediation in der Werbung.

Zu erkennen sind unter anderem diverse Online-Magazine, das FacebookEmblem und ein Media-Player, mit dem Filme abgespielt werden können. Der Kindle Fire figuriert hier eigentlich als Meta-Medium, das in der Lage ist, alle anderen Medien zu imitieren. Insofern ist diese Werbung tatsächlich ein Versprechen auf ›Heilung‹, also darauf, die Defizite anderer Medien zu überwinden. Bei den beschriebenen Beispielen wurde implizit immer schon vorausgesetzt, dass die Kommunikation über Medien nicht nur ein sprachlicher Vorgang ist und der Diskurs über Medien somit nicht nur auf sprachlich-argumentativer Ebene stattfindet. Der Diskursbegriff ist demgemäß auf bildliche beziehungsweise audiovisuelle Phänomene ausgeweitet. So bekommt man bestimmte visuelle Formen überhaupt erst als spezifische diskursive Überzeugungsstrategien in den Blick, die anders als rein sprachliche Argumentationsfiguren funktionieren können. Mit dieser multimedialen Ausweitung hat man die Möglichkeit, gerade die sinnliche Dimension von Diskursen in die Untersuchung miteinzu16 Vgl. Core181: Kindle Friends 3. 17 Vgl. thisisliving93: Was ist iPad? 18 Vgl. Kindle: Kindle and Kindle Fire Commercial.

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beziehen.19 Solch eine Ausweitung scheint gerade für den vorliegenden Untersuchungsgegenstand sinnvoll, gilt doch der Inhalt des gedruckten, materiellen Buchs insbesondere seit den digitalen Datenmengen der letzten Dekaden nicht mehr nur als Inbegriff und Bastion bürgerlicher Bildung.20 Darüber hinaus ist es besonders die Materialität des gedruckten Buchs, die als ästhetisches und sinnliches Objekt geschätzt wird, beispielsweise die oftmals aufwendige Gestaltung des Buchumschlags, die Taktilität der Papierseiten und ledernen Buchrücken, die individuellen Spuren, die in einem Buch zurückgelassen werden, das Rascheln des Papiers beim Umschlagen oder der Geruch alter Bibliotheksbücher. All diese Faktoren werden häufig als sinnlicher Mehrwert eines gedruckten Buchs beschrieben beziehungsweise regelrecht gefeiert.21 Umgekehrt werden digitalen Lesegeräten erhebliche Defizite zugeschrieben: Entmaterialisiert, kein Rascheln, zu spüren sei nur noch die Plastik-Ummantelung der Tastatur; außerdem sollte man das empfindliche Glas des Bildschirms nicht zu sehr drücken, die Texte kennen keine Format- oder Typenunterscheidungen mehr, man ist abhängig von Stromzufuhr ; alles ist nur noch virtuell vorhanden.22 Diese stereotype Gegenüberstellung, hier das sinnliche analoge Buch, dort das unsinnliche digitale Lesegerät, ist wohl vor allem eins: ein historisch gewachsenes Diskursphänomen.23 Inzwischen ist dieses so wirkmächtig, dass Werbungen für digitale Lesegeräte damit rechnen müssen und dementsprechend auf diese vermeintlichen Defizite reagieren. Dass die Lesegeräte in der Werbung auf unterschiedlichen Ebenen und mit unterschiedlichen Strategien außerordentlich sinnlich aufgeladen werden, ist insofern nur konsequent. Ich werde mich im Folgenden nur auf eine dieser ›Versinnlichungs‹-Strategien konzentrieren, sprich auf einen einzigen Werbespot. Diese Konzentration hat durchaus Gründe. Erstens ist dort eine vergleichsweise indirekte Form der Versinnlichung ausfindig zu machen, insofern ist sie erklärungsbedürftig.24

19 Die diskursanalytische Unterscheidung und Wechselwirkung von Sinn und Sinnen geht auf einen Vorschlag von Jochen Hörisch zurück, der die Mediengeschichte nach diesen beiden Kategorien ordnet. Vgl. Hörisch: Eine Geschichte der Medien, S. 12 – 24. 20 Zur bürgerlichen Bildungsnorm vgl. Ute Schneider in diesem Band mit ihrem Beitrag Anomie der Moderne. 21 Vgl. Eco: Die Kunst des Bücherliebens; Manguel: Eine Geschichte des Lesens. 22 Vgl. Eco: Die Kunst des Bücherliebens; Manguel: Eine Geschichte des Lesens. 23 Im Gegensatz zu den Einschätzungen Ecos und Manguels war man um 1800 beispielsweise noch weitestgehend der Überzeugung, dass die flächendeckende Verbreitung gedruckter Bücher mit einem Sinnlichkeitsverlust einhergeht. Vgl. hierzu Schön: Der Verlust der Sinnlichkeit oder Die Verwandlungen des Lesens. Zur diskursiven Überhöhung der Sinnlichkeit des gedruckten Buchs vgl. auch Axel Kuhn in diesem Band mit seinem Beitrag Das Ende des Lesens? 24 Im Vergleich dazu ist die weiter oben beschriebene Werbeszene, in der auf dem iPad die Geste des Umblätterns imitiert wird, direkter. Sie nutzt zwar ebenfalls eine Versinnlichungs-

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Zweitens hat sie etwas mit Erotisierung zu tun und damit mit einer Werbestrategie, die auch jenseits der Bewerbung von Medientechniken zu finden ist. Aus dieser Perspektive gibt die Untersuchung Auskunft über grundlegende Formen und Funktionsmechanismen der Werbung. Drittens hat die Versinnlichung mit Gender-Zuweisungen zu tun. Es überrascht dabei nicht, dass erotische Versinnlichung mit Geschlechterstereotypen und -inszenierungen operiert. Spannend wird dieser Aspekt jedoch in diesem Kontext vor allem deswegen, weil die Zuweisung von Frauen- und Männerrollen und die Versinnlichung männlicher und weiblicher Körper mit einem geschlechtsspezifischen Mediengebrauch verknüpft werden, anhand derer im Werbespot sogar eine kleine Mediengeschichte des Lesens entfaltet wird. Meine Herangehensweise an den Werbespot ist, wie bereits betont, eine diskursanalytische25, wobei der Gegenstand der Analyse im Kontext von Werbung situiert ist. Es geht vorrangig um Verkaufsinteressen oder doch zumindest darum, das beworbene Produkt oder den damit verbundenen Lebensstil als für möglichst Viele begehrenswert vorzustellen.26 Das impliziert zumindest zweierlei: Zum einen rekurriert Werbung auf populäre Formen, Phrasen und Stereotypen aus dem kulturellen Archiv, um möglichst viele potenzielle Kunden zu erreichen. Die systemtheoretisch orientierte Forschung zum Populären formuliert diese Strategie genauer : Werbung »verwendet und appelliert an ›Bedeutungsmuster, die a) allgemeinverständlich, b) gut zugänglich und c) emotional tief verankert sind‹ […].«27 Zum anderen ist es naheliegend, die ›emotionale Verankerung‹ mit Erotik und sexuellen Imaginationen zu koppeln beziehungsweise sinnlich aufzuladen, wenn Werbung mit Erregung und Begierden zu tun hat. In Form eines inzwischen etwas angestaubten Werbeslogans kann man auch knapper formulieren: ›Sex sells‹. Gerade die kritische Medienanalyse hat immer wieder auf diesen Zusammenhang von Werbung und Erotik hingewiesen, beispielsweise durch die marxistisch und psychoanalytisch inspirierte Kritik am Warenfetischismus in der Massenmedienanalyse der Kritischen Theorie.28 Auch bei Marshall McLuhan, der mit seinem werbeaffinen Bonmot vom Medium, das die eigentliche Botschaft sei,29 zu Recht als Gründungsfigur der

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Strategie, aber durch die Nachahmung des Umblätterns einer Seite eines gedruckten Buchs ist diese sehr viel offensichtlicher – und damit weniger erklärungsbedürftig. Vgl. für einen Überblick über Formen, Methoden und Funktionen der Diskursanalyse Landwehr : Geschichte des Sagbaren. Vgl. hierzu Helmstetter : Der Geschmack der Gesellschaft, S. 55 – 57. Helmstetter : Der Geschmack der Gesellschaft, S. 56. Zitiert nach Stähli: Das Populäre zwischen Cultural Studies und Systemtheorie, S. 325 f. Vgl. beispielweise Horkheimer / Adorno: Kulturindustrie. Vgl. McLuhan: Magische Kanäle, S. 22 f.

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Medienwissenschaft gilt,30 lässt sich eine ähnliche Einschätzung finden. Gerade in seinem frühen Buch Die Mechanische Braut geht McLuhan mit recht deutlichen Worten kritisch auf den Zusammenhang von Werbung und Erotik ein: »Der Sinn vieler Werbeanzeigen […] besteht darin, jeden einzelnen durch permanente geistige Aufgeilung in einem Zustand der Hilflosigkeit verharren zu lassen.«31 Zudem beschreibt McLuhan in seinen Analysen den Zusammenhang von Erotik / Sex und (Medien-)Technologie: »Jeder, der sich die Zeit nimmt, die Techniken der Bild-Reportage in den Boulevardzeitungen und Magazinen zu studieren, wird mühelos eine vorherrschende Verbindung aus Sex und Technologie entdecken.«32 Die titelgebende Phrase ›Mechanische Braut‹ soll genau diesen Zusammenhang markieren, nämlich den Konnex zwischen technologischer Neuheit und sexueller Begierde, die in der Werbung durch ein weiterwucherndes »Bilderbündel«33 evoziert wird. Dieser Kopplung von neuer Medientechnik und Erotik möchte auch ich im Folgenden näher nachgehen. So wird aufgezeigt, dass die Einführung eines neuen Mediums, in diesem speziellen Fall eines neuen Lesegeräts, nicht nur einfach im Kontext der oben skizzierten Remediation, also in Form abstrakter struktureller Relationierungen, funktioniert. Vielmehr werden die Remediations-Operationen sehr viel konkreter mit Sinnlichkeit und Erotik verkoppelt. Diese Kopplung ist im Kontext von Werbung nicht nur eine gängige Praxis, sie ist auch gerade für neue digitale Lesegeräte naheliegend, weil sie, wie bereits beschrieben, vermeintlich erhebliche Defizite gegenüber den Sinnlichkeitseigenschaften eines materiellen Buchs haben. Digitale Lesegeräte müssen also zuallererst diskursiv ›versinnlicht‹ werden. Außerdem ist diese Kopplung von Sinnlichkeit und Technik im multimedialen Kontext von Fernsehwerbung besonders naheliegend, insofern hier visuelle, auditive und sprachliche Elemente ›sinnlich‹ verbunden werden können. Wichtiger noch als die mögliche Multimedialität ist aber : Trotz aller neuen digitalen Technik, neuen Rechnern, Smartphones und iPads gilt das Fernsehen bis dato immer noch als das Leitmedium für die flächendeckende Zirkulation von relevanten Informationen.34 Dementsprechend wird auch gerade hier hoher Aufwand betrieben, um Werbung zu schalten. Genau deshalb bietet es sich an, die Fernsehwerbung zu betrachten, um etwas über die maßgeblichen rhetorischen Inszenierungen neuer Medientechniken in der Werbung zu erfahren. 30 Vgl. hierzu beispielsweise Leschke: Einführung in die Medientheorie, S. 245; Hörisch: Geschichte der Medien, S. 71. 31 McLuhan: Die mechanische Braut, S. 7. 32 McLuhan: Die mechanische Braut, S. 132. 33 McLuhan: Die mechanische Braut, S. 137. 34 Vgl. beispielsweise Wilkens: Fernsehen bleibt Leitmedium; Verband Privater Rundfunk und Telemedien e. V.: BLM-Studie.

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Kindle Werbung: Protokoll einer Urlaubsszene Der Werbespot, auf den näher eingegangen werden soll, ist nur knapp eine halbe Minute lang und lief im ersten Drittel des Jahres 2012 auf diversen nordamerikanischen und europäischen Fernsehsendern.35

Abb. 3a–i: Die allmähliche Versinnlichung eines Lesegeräts beim Werben.

Der ›establishing shot‹, die erste Einstellung aus einer Totalen, zeigt eine Szenerie, die uns höchstwahrscheinlich in die Südsee oder ans Mittelmeer führen soll (vgl. Abb. 3a). Im Hintergrund ist ein tiefblaues Meer vor einem hellblauen Himmel zu erkennen, am Horizont sind auf der linken Seite einige Felsvorsprünge wie auch eine Luxusjacht auszumachen. Das Zentrum bildet indes ein Mittelstreifen. Hier finden sich zwei Palmen, Menschen auf Liegestühlen, einige auf einer Grünfläche zum Rezipienten hin positioniert, andere nach hinten hin versetzt zum Strand mit Blick auf das Meer. Drei Liegestühle im Vordergrund bleiben unbesetzt. Am rechten und linken Rand finden sich Teile offener Kabinen, Holzgestänge mit Vorhängen versehen, die sich leicht im Wind wiegen. Im Bildvordergrund ist ein Schwimmbecken positioniert, auf dem sich das Sonnenlicht sanft spiegelt. Im Zentrum des Bilds und als einzig bewegtes Element sehen wir einen Mann, der von rechts nach links läuft und augenscheinlich Probleme mit dem Lichteinfall hat. In der folgenden Einstellung, in der die Kamera aus der Totalen näher an den Mann rückt, wird noch deutlicher, welches Problem er hat: Er kann die Bildschirmanzeige seines Tablet-Computers 35 Vgl. Kindle: Kindle and Kindle Fire Commercial. Auch zu finden unter Amazon EU: Amazon Kindle.

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aufgrund des Sonnenlichts nicht richtig erkennen und sucht deswegen nach einem weniger lichtintensiven Ort (vgl. Abb. 3b). Dabei bemerkt der Mann eine im Vordergrund, auf einem Liegestuhl in vollem Sonnenlicht platzierte Frau, die nur mit einem knappen schwarzen Bikini bekleidet ist. Die Frau hält ebenfalls eine Art Computer in der Hand, wenngleich einen etwas kleineren als der Mann. Sie ist offensichtlich von dem, was dort auf dem Bildschirm ihres kleinen Geräts zu sehen ist, stark eingenommen. In der nächsten Einstellung werden Mann und Frau in einer halbnahen Einstellung noch enger gerahmt (vgl. Abb. 3c). Der Mann setzt sich neben die Frau, während er sie anspricht. Es wird dabei klar gemacht, um was genau es sich bei dem Gerät der Frau handelt: »That’s the new Kindle, isn’t it […].« Die überaus freundliche Antwort der Frau macht sofort auf ein entscheidendes Merkmal des Kindle-Lesegeräts aufmerksam: Damit habe man keinerlei Probleme beim Lesen, auch im stärksten Sonnenlicht nicht. Währenddessen rückt das Display des Kindle in den Bildvordergrund und der Zuschauer sieht gestochen scharfe Buchstaben und Wortreihen auf dem Bildschirm (vgl. Abb. 3d). Anschließend entspinnt sich ein Dialog zwischen dem Mann und der Frau über Vor- und Nachteile des Kindle. Der Mann gibt zu bedenken: Auch wenn das Display lichtunempfindlich sei, könne man dennoch mit dem Kindle keine Filme schauen und nicht durch das Netz surfen. Auf diesen Einwand hin verweist die Frau auf die vom Zuschauer aus gesehen rechte Seite der Szenerie, wo wir in einer offenen Kabine zwei Kinder sehen, die ebenfalls mit Tablet-Computern beschäftigt sind (vgl. Abb. 3 f). Währenddessen entgegnet die Frau auf den Einwand des Mannes lächelnd und in wenigen Worten, dafür habe sie einen Kindle Fire. Dabei wird dem Zuschauer gezeigt, was auf den Bildschirmen der Kinder zu sehen ist (vgl. Abb. 3 g). Nun argumentiert der Mann finanziell: »Three Kindles … that got to be expensive«. Und die Frau antwortet wiederum äußerst schlagfertig: »Not really, together they are still less than that.« Währenddessen deutet sie auf den Computer des Mannes. Dieser, sichtlich frustriert (vgl. Abb. 3 h), sein Blick schweift kurz in die Ferne, fragt, ob auf dem Stuhl neben der Frau schon jemand sitze und die Frau antwortet: »My husband.« Der Mann gibt daraufhin nur noch ein gedehntes »Yeah« von sich und geht. Abschließend werden die beiden Kindle-Geräte in den Himmel über das Strandszenario projiziert, mitsamt den Preisangaben (vgl. Abb. 3i).

Erste Lesart: ›Male Gaze‹36 Der Werbespot ist vergleichsweise klar organisiert und versteckt seine Botschaft keineswegs: ›Kaufen Sie die Kindle-Geräte! Diese können nahezu alles und sind 36 Der Begriff des ›male gaze‹ wurde maßgeblich von Laura Mulvey geprägt. Mulvey : Visuelle

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im Verhältnis zu vergleichbaren Geräten billiger.‹ Der Vergleich ist denn auch die zentrale Operation, hier der Kindle, dort ein Tablet-Computer, vermutlich ein iPad von Apple, mit multimedialen Anwendungen. Die Vorteile des Kindle gegenüber dem anderen digitalen Gerät werden im Laufe des Gesprächs argumentativ klar entfaltet. Der Kindle ist lichtunempfindlicher als das andere Gerät, mit einem Kindle Fire ist es nun auch möglich Filme zu schauen und im Internet zu surfen und somit multimediale Angebote zu nutzen. Ein weiterer entscheidender Vorzug ist, dass ein Kindle mitsamt zwei Kindle Fire-Geräten immer noch kostengünstiger als ein einzelnes vergleichbares digitales Gerät ist. Das ist Remediation nahezu in Reinkultur : Neue Geräte werden im Vergleich plastisch gemacht, insbesondere mittels Differenzen zu anderen Geräten. Die neuen Geräte versprechen nicht nur die ›Heilung‹ von Defiziten der Konkurrenzmedien, zum Beispiel die Lichtspiegelungsprobleme oder den hohen Preis, sondern auch die Überwindung der Probleme der eigenen Vorläufertypen, wie zum Beispiel die Beschränkung auf eine einzelne mediale Anwendung. Dies entspricht somit eindeutig der eingangs erläuterten diskursiven Remediations-Matrix. Medienanalytisch interessanter wird es indes, wenn man beobachtet, was neben der rein sprachlich-argumentativen Ebene vor sich geht und den Blick von der Sinn-Ebene auf die sinnliche Inszenierung lenkt. Auffällig ist, dass das Gerät, das als das attraktivere dargestellt wird, von einer Frau bedient wird. Diese wird unmissverständlich als Objekt der Begierde inszeniert. Das zeigt sich nicht nur in ihrer sehr knappen Bekleidung, sondern vor allem in der Art und Weise, wie sie ins Bild gesetzt wird. Während der Mann im Hintergrund mit halblanger Jeanshose und T-Shirt auf die Frau blickt, wird der gebräunte, im Sonnenlicht leicht glänzende, offensichtlich trainierte Körper der Frau dem Zuschauer direkt im Bildvordergrund präsentiert (vgl. Abb. 3b, d und f). Als die Kamera Mann und Frau umschließt, sehen wir den Mann nur in Seitenansicht und zwar, wie er die Frau anschaut. Hingegen werden die Brüste der Frau ins Bildzentrum gesetzt (vgl. Abb. 3c). Dann wechselt die Kamera leicht nach links und übernimmt so die Blickachse des Mannes auf die Frau (vgl. Abb. 3d–f). Mit der feministischen Filmanalytikerin Laura Mulvey lässt sich im Hinblick auf solch eine Konstruktion argumentieren, dass die Frau im Gegensatz zum Mann als Objekt der Begierde ins Bild gesetzt wird,37 und zwar in einer Weise, die nicht einfach nur eine leicht bekleidete Frau zeigt. Vielmehr wird der Blick der Kamera und der Blick des männlichen Protagonisten gekoppelt und folglich Kameraperspektive, Blickrichtung des Rezipienten und des Lust und narratives Kino, S. 55: »Der bestimmende männliche Blick projiziert seine Phantasie auf die weibliche Gestalt, die dementsprechend geformt wird.« Im englischen Original wird ›der bestimmende männliche Blick‹ als ›male gaze‹ bezeichnet. 37 Vgl. Mulvey : Visuelle Lust und narratives Kino.

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männlichen Protagonisten in eins gesetzt. Die Frau erscheint also in der KindleWerbung zunächst einmal im ›male gaze‹, also als Objekt der Begierde im männlichen Blick.38 Als ein weiteres Indiz dafür, dass die Frau in medialen Darstellungsmedien häufig zum Objekt der Begierde wird, führt Mulvey folgenden Sachverhalt an: Insbesondere im klassischen Hollywood-Kino werde der Frauenkörper häufig fragmentiert. Gängige Praxis ist es, immer wieder und über längere Passagen hinweg ausschließlich Körpersegmente der Frau ins Bild zu setzen. Frauen, so die These, sind nicht als selbstständige handlungsfähige Subjekte in den Spielfilmen von Interesse, sondern nur als Blickobjekte mit besonders affektbesetzten Partialobjekten wie Brüste, Beine oder Gesicht. Deshalb müsse der weibliche Körper auch nicht in seiner Gesamtheit ins Bild kommen und nicht eindeutig narrativ kontextualisierbar sein. Die Handlungen der Frauen sind also, im Gegensatz zu denen des männlichen Helden, weniger von Interesse als ihr Potenzial zur Affektbesetzung.39 Diese Beobachtung Mulveys lässt sich für die Analyse des Kindle-Werbefilms produktiv machen: Verdichtet ist eine solche Fragmentierung vor allem in einer kurzen Einstellung, in der das Kindle-Lesegerät zentral ins Bild rückt (vgl. Abb. 3d). Dies ist erstens eine Perspektive, die sich auf der Blickachse der männlichen Figur befindet, und zweitens sieht man hier Teile der Frau extrem fragmentiert, nämlich den Oberschenkel und ein Segment der Hand. In den Mittelpunkt rückt indes das Lesegerät, das die Frau in der Hand hält. Aus dieser Perspektive figuriert es als Teil des Frauenkörpers beziehungsweise substituiert diesen Körper kurzzeitig. Hier wird konkret dargestellt, was mitunter nur als abstraktes Prinzip im Kontext von Werbeanalysen postuliert wird: Die Ersetzung des weiblichen Objekts der Begierde durch ein technisches Objekt oder, genauer formuliert: deren Hybridisierung. Die Technik wird so über den Umweg des weiblichen Körpers erotisch aufgeladen. Das technische Objekt erhält bei dieser ›Verschiebungsarbeit‹ eine hohe physische und ›psychische Wertigkeit‹40. Das digitale Lesegerät wird so affektbesetzt.

38 Vgl. zum Zusammenhang von ›male gaze‹ und Werbung Gangopadhyay : Use of Women in Advertisement and the Issue of Social Responsibility. 39 Vgl. Mulvey : Visuelle Lust und narratives Kino, S. 56 – 58. Auf den Zusammenhang von erotischem Körper und Fragmentierung macht auch Marshall McLuhan im Kontext seiner Werbeanalysen aufmerksam, vgl. McLuhan: Mechanische Braut, S. 132 f. 40 Mit diesen Worten beschreibt Sigmund Freud einen zentralen psychischen Verarbeitungsprozess beim Träumen. Traumarbeit und Werbestrategie scheinen zumindest in diesem Sinne durchaus Affinitäten zu haben. Zur Beschreibung eines zentralen psychischen Verarbeitungsprozesses beim Träumen vgl. Freud: Die Traumdeutung, S. 309 f.

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Lesart 2: Absenz auf dem Liegestuhl Bis zu diesem Punkt der Analyse entspricht die Kindle-Werbung exakt den von Mulvey vehement am klassischen Hollywood-Kino kritisierten Gender-Zuweisungen. Doch lässt sich zeigen, dass die entscheidende Pointe der Werbung damit noch nicht getroffen ist. Zwar ist der Mann, ganz dem Diktum Mulveys folgend, zunächst der aktiv Handelnde und damit derjenige, dessen Blickwinkel der Zuschauer auf die Frau übernimmt. Jedoch wird in dem Werbespot die Frau als extrem schlagfertig vorgestellt und insofern in eine aktive Rolle versetzt. Der Mann wirkt am Ende regelrecht zerknirscht (vgl. Abb. 3 h) und flüchtet. Darüber hinaus könnten die visuellen Differenzen kaum größer sein. Nicht nur, dass der Mann nicht als Objekt der Begierde figuriert, er wird außerdem mit einer alten Jeans und einem verwaschenen T-Shirt als vergleichsweise unattraktiv vorgestellt. Besonders in der letzten Einstellung zeigen sich nicht nur Falten im Gesicht, sondern auch sehr deutlich Hautunreinheiten und Pickel. Als attraktives Rollenvorbild für den männlichen Zuschauer dürfte sich dieser Mann intellektuell wie visuell nur bedingt eignen. Narrativ wird die Ablehnung des männlichen Rollenmodells deutlich unterstützt. Am Ende des Werbespots verweigert die Frau dem Mann, sich länger bei ihr aufzuhalten. Der Liegeplatz neben ihr, so macht sie klar, ist der ihres Ehemannes. Dass die Frau verheiratet sein könnte, wird zuvor bereits deutlich gemacht, unter anderem als sie auf ihre Kinder verweist (vgl. Abb. 3 f). Die Frau wird somit mehrfach als für den Mann schwer beziehungsweise nicht erreichbar markiert. Dies kann man allegorisch als eine Art substituierter Konkurrenz von TabletComputer und Kindle deuten. Die Kindle-Technik ist so überlegen, dass eine Koexistenz oder gar eine Kooperation mit anderen digitalen Geräten undenkbar ist. Unabhängig von der Frage, wie plausibel eine solche allegorische Deutung auch sein mag, scheint eine weniger weitreichende Deutung durchaus naheliegend zu sein: Ist der Mann in der Werbung augenscheinlich nicht allzu attraktiv für die Frau und als Rollenmodell für den männlichen Zuschauer deshalb wenig ansprechend, so bietet die Werbung dennoch eine durchaus attraktive Option: Neben der Frau bleibt der Liegesitz nämlich frei. Hier, so ließe sich argumentieren, ist eine Leerstelle, in die sich der männliche Zuschauer hineinphantasieren kann, vorausgesetzt er besitzt oder besorgt sich einen oder besser mehrere Kindle-Lesegeräte. So ließe sich mit dem Besitz der Technik auch die Frau besitzen. Die Absenz auf dem Liegestuhl ist so gesehen ein Versprechen auf sinnliche Freuden, mit anderen Worten eine ganz eigene Variante des eingangs beschriebenen ›Abstinence Porn‹. Aus dieser Perspektive ist die Werbung nach wie vor zutiefst patriarchal geprägt und die Frau immer noch das Objekt der Begierde. Jedoch ist der männliche Zuschauerblick nicht mehr der des männlichen Protagonisten, sondern vielmehr derjenige eines imaginären Konkurrenten.

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Lesart 3: Kindles Braut Neben dieser Deutung gibt es noch eine ganz andere Lesart, die zumindest genauso plausibel ist. Und vielleicht ist der Clou dieser Werbung, dass beide Lesarten möglich und naheliegend sind und dementsprechend unterschiedliche Klientel Gefallen daran finden können. Diese Lesart beinhaltet eine feministische Wendung der beschriebenen Werbesituation. Am Ende bleibt der Liegeplatz neben der Frau leer : Kein (Ehe-)Mann, nirgends. Das ließe sich auch wie folgt verstehen: Die stolze Besitzerin von drei digitalen Kindle-Lesegeräten und Mutter von zwei Kindern ist unabhängig von männlichem Zuspruch. Sie ist so gesehen weniger oder zumindest nicht nur das Objekt der Begierde, sondern vielmehr selbst ein aktives, unabhängiges und insofern attraktives Rollenmodell. Sie kann sich zwar als Objekt der Begierde inszenieren, behält jedoch immer die Kontrolle und die Autonomie und agiert somit als Subjekt. Für diese Lesart spricht nicht nur, dass der Mann am Ende aufgrund der rhetorischen Schlagfertigkeit der Frau regelrecht die Flucht ergreift und der Liegeplatz, der für ihren Mann reserviert sein soll, faktisch leer bleibt, sondern auch eine Nahaufnahme auf das Kindle-Lesegerät. Denn als man dieses zum ersten Mal identifizieren kann (vgl. Abb. 3c), ist der Ehering der Frau zu erkennen. Ehering und Lesemaschine sind übereinander gelagert in einem Bildfeld dargestellt. Das heißt bildlogisch nichts anderes, als dass die Frau mit dem Lesegerät verheiratet ist. Sie ist, um es angelehnt an McLuhans Buchtitel zu pointieren, Kindles Braut. Übersetzt in einen werbewirksamen Appell hieße das dann: ›Besitze die Technik und Du bist unabhängig (vom anderen Geschlecht) und gleichzeitig extrem attraktiv (für das andere Geschlecht).‹

Lesart 4: Eine kurze Mediengeschichte des Lesens Die vorherige Deutung erhält Plausibilität durch eine kurze Mediengeschichte des Lesens, die in der Werbung en passant skizziert wird. Wenn man sich noch einmal die Ausgangsszene vor Augen führt, erkennt man deutlich: Dort sind unterschiedliche kommunikative Situationen eingezeichnet (vgl. Abb. 3a und 4). Im Hintergrund am Strand sind zwei Personen zu erkennen, die miteinander zu sprechen scheinen und dabei immer wieder auf das Meer hinaus schauen. Auf der Mittellinie des Bilds werden hingegen von links nach rechts unterschiedliche mediale Situationen und Stationen der Medienentwicklung vorgestellt. Die erste weibliche Figur liest ein Buch, die zweite ein Magazin, daneben sehen wir den Protagonisten, der Probleme mit seinem Tablet-Computer hat. Weiter rechts folgt die Protagonistin, die auf ihrem Kindle einen Text liest. Ganz rechts im Bild

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Abb. 4: Eine kurze Mediengeschichte des Lesens.

sind ein Mädchen und ein Junge zu erkennen, die beide jeweils einen Kindle Fire bedienen. Dieses Gruppenbild in der Sonne lässt sich als eine höchst selektive Visualisierung der Mediengeschichte lesen: Vom Zeitalter der Mündlichkeit, in dem vorrangig miteinander gesprochen wurde, über die Anfänge der GutenbergGalaxis zum Druck und zur flächendeckenden Zirkulation von farbigen Pressemagazinen hin zum Zeitalter der Digitalität. In diesem Stadium gibt es nun diverse feinere Ausdifferenzierungen. Bemerkenswert ist hieran, dass der Kindle Fire nicht als letzte evolutionäre Stufe, sondern als Nebenprodukt des KindleLesegeräts vorgestellt wird. Die Kinder sind somit Kinder des Kindle-Lesegeräts und spielen deshalb mit dem Kindle Fire in einer geschützten Umgebung und im direkten Blick der Mutter.41 Folgerichtig bleibt das Lesen nicht nur über weite Strecken der Mediengeschichte die Basisoperation, sondern ebenso die zentrale Anwendung medialer Entwicklungen in der Zukunft. Andere Anwendungen und Mediengeräte sind zu vernachlässigen und werden hier als Nebenprodukte für Kinder oder Männer dargestellt. In dieser medienhistoriographischen Strandszenerie wird somit eine recht rigide Geschlechtertrennung eingeführt: Frauen lesen, Männer dagegen schauen Filme und durchstöbern das Netz.42 Auch wenn diese Unterteilung ebenfalls eine 41 In einer anderen Werbung für den Kindle Fire wird dieses Verhältnis indes nicht mehr beibehalten. Dort ist der Kindle Fire die nächste entscheidende evolutionäre Weiterentwicklung der Mediengeschichte. Vgl. RapidFireEnt: Kindle Fire TV Commercial. 42 Diese Differenz wird auch bei den Kindern beibehalten, die beide einen Kindle Fire benutzen. Während der Junge eine Quiz-Sendung anschaut, beschäftigt sich das Mädchen mit Lesekompetenzaufgaben beim Scrabble Spielen.

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rein diskursive Figur sein mag und empirisch durchaus andere Mediennutzungen zu finden sind, so wird hier doch deutlich, dass Frauen spätestens mit der sogenannten ›Leserevolution‹ im 18. und 19. Jahrhundert vorrangig mit Lesen in Verbindung gebracht werden. Frauen seien den historischen Diskursen nach besonders anfällig für die sogenannte Lesesucht, dementsprechend gelte es, sie davor zu bewahren.43 Im ›establishing shot‹ der Kindle-Werbung wird hingegen etwas ganz anderes skizziert, nämlich ein medienhistorisch gewendetes Emanzipationspanorama. Wir sehen die technische Entwicklung des Lesens, die parallel zum Erwachsenwerden einer weiblichen Figur geführt wird: Von einem Mädchen, das ein gedrucktes Buch liest, über einen Teenager, der in einem Magazin blättert, zur erwachsenen Frau und Mutter, die das digitale KindleLesegerät in der Hand hält. Das Selbstbewusstsein und die technische Kontrolle weiblicher Akteure, so lässt sich diese Szene interpretieren, sind also im Lauf der Mediengeschichte stetig gewachsen. Männer und ebenso Tablet-Computer sind allenfalls Irrläufer in der Medienevolution. Damit werden hier auch Medienapparate letztlich als das diskursiviert, was sie neben vielem anderen immer schon waren, nämlich sinnliche Technologien zur Selbstbefriedigung. Auch das ist eine Form von ›Abstinence Porn‹, eine ziemlich zwielichtige vielleicht, jedoch immerhin konsequent emanzipatorisch.

Quellen Amazon EU (Hrsg.): Amazon Kindle. Official YouTube channel of Kindle and Kindle Fire. In: YouTube (URL: http://www.youtube.com/user/kindle/ [19. 12. 2012]). Core181: Kindle Friends 3. Hold 3 500 Books. In: YouTube (23. 07. 2011. URL: http:// www.youtube.com/watch?v=Uu6EFO5q0aY [19. 12. 2012]). ipadtipps: ›iPad2.‹ Erster Apple iPad2 TV-Spot / Werbung / Werbespot. ›Technik allein ist nicht alles.‹ In: YouTube (03. 05. 2011. URL: http://www.youtube.com/ watch?v=tFRkghXP6rI [19. 12. 2012]). JedRootInc: Amazon Kindle 60 Seconds. In: YouTube (11. 05. 2011. URL: http:// www.youtube.com/watch?v=B0PjaPGT_Vw [19. 12. 2012]). Kindle: Kindle and Kindle Fire Commercial. Three Kindles are still less than that… In: YouTube (06. 02. 2012. URL: http://www.youtube.com/watch?v=sulfQHdvyEs [19. 12. 2012]). Kindle2Wireless: Brand NEW Amazon Kindle 2011 Commercial. In: YouTube (21. 02. 2011. URL: http://www.youtube.com/watch?v=p9r75S14MNo [19. 12. 2012]). RapidFireEnt: Kindle Fire TV Commercial. Amazon’s New Kindle Ad. In: YouTube (28. 09. 2011. URL: http://www.youtube.com/watch?v=RruHM3 g39VQ [19. 12. 2012]). 43 Vgl. hierzu König: Lesesucht und Lesewut; Wrage: Jene Fabrik der Bücher. Vgl. hierzu auch Hans-Jörg Künast in diesem Band mit seinem Beitrag Lesen macht krank und kann tödlich sein.

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Sven Grampp

thisisliving93: Was ist iPad? iPad Werbespot in Deutsch / German. In: YouTube (02. 06. 2010. URL: http://www.youtube.com/watch?v=nQxjdj1nD8 s [19. 12. 2012]). Verband Privater Rundfunk und Telemedien e. V.: BLM-Studie: Fernsehen bleibt Leitmedium. In: Verband Privater Rundfunk und Telemedien e. V. Online (16. 07. 2011. URL: http://www.vprt.de/thema/medienordnung/aufsicht-regulierung/medienkonzentration/content/blm-studie-fernsehen-bleibt-lei [19. 12. 2012]). Wilkens, Andreas: Studie. Fernsehen bleibt Leitmedium. In: Heise Online (10. 09. 2010. URL: http://www.heise.de/newsticker/meldung/Studie-Fernsehen-bleibt-Leitmedium-1076493.html [19. 12. 2012]).

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Kindle’s Abstinence Porn

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Die Zukunft des Lesens

Axel Kuhn

Das Ende des Lesens? Zur Einordnung medialer Diskurse über die schwindende Bedeutung des Lesens in einer sich ausdifferenzierenden Medienlandschaft

Das ›Ende des Lesens‹ ist eine häufig getroffene und beliebte Schlagzeile in den Massenmedien, wenn sie auch meist nicht wörtlich in dieser Form benutzt wird. Eher ist vom Medienwandel die Rede, vom Ende des Leitmediums Buch, vom papierlosen Zeitalter oder, ohne Anspruch auf Vollständigkeit, von der digitalen, wenn nicht sogar rein virtuellen Zukunft. Bücher, Zeitungen, Briefe und alle weiteren analogen schriftbasierten Medien haben ausgedient, selbst die digitalen Schriftwelten werden in nächster Zeit multimedial audiovisuell umgewandelt. Besonders häufig kommen diese Ansichten zum Ausdruck, wenn bestimmte Ereignisse anstehen, die mit Lesen, Literatur oder dem Buch zu tun haben. Im Gegenzug werden verstärkt jene Stimmen laut, die diese Entwicklungen als wenig förderlich für die Menschheit sehen. »Pünktlich zur Buchmesse gibt’s alle Jahre (bzw. halbe Jahre) wieder ein paar Katastrophenszenarien, die mindestens den Tod der Buchkultur, gerne auch gleich das Ende der Lesekultur oder manchmal sogar den Untergang des Abendlandes prophezeien.«1 Den dystopischen Vorstellungen der kulturellen Verödung ohne Lesemedien stehen utopische von einer besseren, wenn nicht sogar perfekten, Welt ohne diese ›archaische‹ Kulturtechnik gegenüber. Es ist unzweifelhaft so, dass die Menschheit sich wieder einmal in einer medialen Schwellenzeit befindet, die auf technologischen Innovationen beruht und neuartige soziale und kulturelle Praktiken hervorbringt. Dies ist allerdings weder die erste noch die letzte Veränderung der medialen Umwelt des Menschen. Mit jedem Wandel der zwischenmenschlichen Kommunikation gab und gibt es kritische Stimmen, die das Tradierte schützen wollen, das jeweils Neue als Mittel der anarchistischen Auflehnung gegen herrschende Werte identifizieren und ihm die Leistungsfähigkeit gegenüber alten Kommunikationsformen absprechen. Eines von vielen Beispielen finden wir bereits in der Antike, als die Schrift als weitgehend unzulänglich gegenüber der mündlichen Rede angesehen wurde.

1 Bremer: ›The Wire‹ und die Folgen…

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Endzeitphantasien, egal ob dystopisch oder utopisch, sind in der Menschheitsgeschichte dabei auffällige Konstanten des historischen Bewusstseins, die die Evolution von Kultur und Gesellschaft begleiten. Auffällig ist aber, dass bislang keine dieser an den Schnittstellen der Geschichte geäußerten Endzeitphantasien Realität geworden ist. Mit der digitalen ›Revolution‹ wiederholt sich das Phänomen jenes wiederkehrenden öffentlichen Diskurses jedoch eindrucksvoll. Aber das Schöne an Untergangsvisionen ist, daß der Wahrheitsbeweis weder angetreten werden muß noch kann. Bleibt der Untergang aus, wird sich jeder freuen und die falschen Propheten vergessen. Interessant ist also nur die Frage, woher das Apokalypsebedürfnis kommt und was seine Agenten, die Intellektuellen, antreibt.2

Wie auch die Beiträge dieses Bands zeigen, ist der Diskurs um das Lesen vermutlich einer der umfassendsten und komplexesten überhaupt. Er zieht sich nicht nur durch die gesamte Gesellschaft und ihre zugrunde liegende Struktur, sondern existiert auch in einer historischen Dimension, die mit den ersten Protoschriften beginnt. Mit Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern und der darauf folgenden ›Moderne‹ wird das Prinzip des Lesens beziehungsweise der Schriftkommunikation so prägend für die Gesellschaft, dass es alle Bereiche der Lebenswelt des Menschen durchdringt. Diese Durchdringung ist es auch, die den Diskurs um das ›Ende des Lesens‹ heute so übertrieben darstellt. So sind die medialen Veränderungen des 20. und 21. Jahrhunderts selbst in der Wissenschaft nicht nur objektiv betrachtete Veränderungen von Kommunikationsformen. Stattdessen »brechen ganze Galaxien zusammen«, »Opfer müssen gebracht werden«, so dass »das Buch als Leitmedium quasirituell hingerichtet werden muß.«3 Dabei ist in einer übergreifenden Perspektive des Lesens in den Äußerungen meist völlig unklar, welche Diskussion überhaupt geführt wird. »Wer über den Niedergang des Lesens spricht, muss genauer sagen, was er meint. Meint er tatsächlich die Kulturtechnik? Oder meint er das gute Buch? Meint er die Absatzsorgen einer Branche oder den Verfall von Bildung?«4 Wer glaubt, dass die Medienforschung hier eindeutige Ergebnisse liefern und Klarheit schaffen kann, wird enttäuscht, denn der Diskurs um das ›Ende des Lesens‹ findet in der Wissenschaft genauso unstrukturiert und subjektiv statt wie in anderen sozialen Funktionssystemen. So bleibt die einzige Äußerung der Wissenschaft dazu, dass man eine derart naive Frage nach dem etwaigen ›Ende des Lesens‹ nicht stellen könne und stattdessen umfassende Differenzierungen notwendig seien. Dies sind dann in der Regel genau jene diskursiven Aussagen, die die eine oder andere Position stützen, ohne eine Entscheidung herbeizuführen. 2 Greiner : Endspiele. 3 Porombka: Das Überleben probieren, S. 116. 4 Jessen: Hurra, wir lesen noch!

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Das ›Ende des Lesens‹ in diskursiver Perspektive Diskussionen zum ›Ende des Lesens‹ sind Paradebeispiele für öffentliche Diskurse, also Aussagepraktiken, die eigene Automatismen, Wahrheiten und Motivationen besitzen, die nur bedingt mit dem Diskussionsgegenstand zu tun haben. Das ›Ende des Lesens‹ ist im öffentlichen Diskurs nicht nur Gegenstand, sondern Ausdruck einer tiefergehenden Denk- und Wahrnehmungsweise der Bewahrung und Veränderung der Strukturierung von Gesellschaft und Kultur. Im Blickpunkt steht deswegen auch weniger das Lesen an sich, als vielmehr die spezifischen, mit dem Lesen verbundenen Wissens- und Machtkonstellationen. Diese befinden sich seit Beginn des 20. Jahrhunderts durch neue, vornehmlich audiovisuelle, heute zusätzlich digitale, Kommunikationstechnologien im Wandel. Diskurse bestehen nach Michel Foucault5 zunächst aus Äußerungen zum Diskursgegenstand. Diese Äußerungen sind einmalige, nicht wiederholbare kommunikative Ereignisse zu einer bestimmten Zeit und an einem bestimmten Ort. »›Diskurs‹ ist eine verknüpfte Menge von Aussage-Einheiten mehrerer Sprecher zum gleichen Thema, die eine erkennbare zeitgeschichtliche Entwicklung aufweisen und die in der Regel über Text- oder Textstückkorpora zugänglich werden.«6 Die Äußerungen sind somit jene Konkretisierungen, hinter denen eine diskursive Aussage steht. Aussagen begreift Michel Foucault als systematische Funktionen beziehungsweise als wiederkehrende, zeichenhafte Verkettung von Bedeutungsrelationen, die Wahrheit beziehungsweise Wirklichkeit in Form des geltenden Wissens zu einem Thema (re)produzieren. Lesen als gesellschaftlich relevantes und institutionalisiertes Themenfeld lässt sich doppelt als diskursive Wirklichkeit beschreiben: Zum einen prägt Lesen die Wirklichkeit, da es eine elementare Kommunikationsform aller gesellschaftlichen Diskurse ist. Zum anderen ist Lesen im Zuge der Entwicklung von Kommunikationstechnologien selbst Gegenstand eines eigenständigen Diskurses. Entscheidend für eine Betrachtung des Diskurses um mediale Kommunikation ist, dass technische Innovationen alleine eine zwar notwendige, aber gleichzeitig untergeordnete Rolle spielen. Erst die mit der technischen Innovation entstehenden neuen sozialen Praktiken der Aneignung und Transformation einer historisch bedingten Wirklichkeit ermöglichen oder verhindern spezifische Handlungs- und Erlebnisweisen kommunikativer Veränderungen und damit ein mögliches ›Ende des Lesens‹. Die Aussagen des Diskurses

5 Vgl. Foucault: Archäologie des Wissens. 6 Jung: Diskurshistorische Analyse – eine linguistische Perspektive, S. 54.

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unterliegen dabei historisch gewachsenen Steuerungsmechanismen des Lesens, zum Beispiel über Tabuisierungen7, Konventionen8 und Sozialisationsprozesse9. Im Diskurs über das Lesen spiegeln sich deshalb auch die aktuellen Fragen der makroskopischen Lese- und Leserforschung wider : Wer bestimmt die Formen des Lesens in der Gesellschaft und zu welchem Zweck? Welche Aussagen bezüglich des Lesens kehren immer wieder, welche tauchen nie auf ? Welche Ergebnisse werden als wahr akzeptiert und als soziale Realität etabliert, welche werden als falsch verworfen und aus dem Diskurs gedrängt? Eine Diskursanalyse10 über das ›Ende des Lesens‹ beinhaltet entsprechend nicht nur eine Analyse der sozialen Lesepraktiken, sondern vor allem eine Machtanalyse der Institutionen und Organisationen beziehungsweise der Dispositive, die in spezifischer Form Macht auf diese Praktiken ausüben. […] vor allem in den Medienwissenschaften basiert dispositivanalytische Forschung auf der Überlegung, dass sich machtvolle, weil wahrnehmungs- und handlungsrelevante Wirklichkeitsdefinitionen in ›Medien-Dispositiven‹ bilden und prozessieren. ›Dispositiv‹ wird dabei verstanden als komplexes Zusammenspiel von technischer Apparatur, Medieninhalten sowie institutionellen Praktiken ihrer Produktion und vor allem ihrer Rezeption bzw. Nutzung.11

Diskurse lassen sich in dieser Hinsicht als institutionalisierte Kommunikation gegensätzlicher Positionen zu einem übergeordneten Gegenstand interpretieren. Dies drückt sich im ständigen Wechselspiel von Argument und Gegenargument innerhalb des Diskurses in unterschiedlichen Funktionssystemen der Gesellschaft aus. Das ›Ende des Lesens‹ erfüllt die von Jürgen Link bestimmte Definition eines Diskursstrangs als institutionell verfestigte Redeweise, die Macht auf soziale Systeme ausübt.12 Die Äußerungen ähneln sich in vielerlei Weise und konkretisieren im Regelfall die beiden gegensätzlichen diskursiven Aussagen der Kultur-Euphorie und des Kultur-Verfalls in Form ideologischer Positionen. Äußerungen werden durch spezifische Organisationen in Verbindung zum Lesen getroffen, um Macht auf soziale, kulturelle und individuelle Handlungen bezüglich des Lesens auszuüben. Im Gegensatz zu anderen Diskursen um tech7 Vgl. zu einer spezifischen Form der medizinisch begründeten Tabuisierung des Lesens Hans-Jörg Künast in diesem Band mit seinem Beitrag Lesen macht krank und kann tödlich sein. 8 Vgl. zu bürgerlichen Konventionen Ute Schneider in diesem Band mit ihrem Beitrag Anomie der Moderne. 9 Vgl. zur Konzeption gegenwärtiger Lesesozialisationsprozesse in der Schule Lilian Streblow und Anke Schöning in diesem Band mit ihrem Beitrag Lesemotivation. 10 Vgl. für eine Übersicht zur Diskurs- und Dispositivanalyse Jäger : Diskurs und Wissen. 11 Bührmann / Schneider : Vom Diskurs zum Dispositiv, S. 12 f. 12 Vgl. Link: Was ist und bringt Diskurstaktik, S. 60.

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nologische Entwicklungen, wie beispielsweise Biotechnologie, ist der Diskursstrang über das ›Ende des Lesens‹ von besonderer Prägung, weil er seine eigene Materialität reflektiert. So fällt auf, dass das ›Ende des Lesens‹ überwiegend in schriftlichen Texten thematisiert wird, der Diskurs um das Lesen also lesend stattfindet. Das ›Ende des Lesens‹ lässt sich über drei verschiedene Diskurselemente kategorisieren: Ein erstes Element ist das ›Ende des Lesens‹ in seiner direkten Entsprechung des Endes der Informationsvermittlung über Schrift und deren Substitution durch andere, vorwiegend audiovisuelle, Kommunikationsformen. Ein zweites Element des Diskurses ist das Ende der globalen Lesekultur als Ende einer durch Schrift geprägten Menschheitsepoche und damit das Ende eines Prinzips sozialer Strukturierung, das auf Schrift und Lesen beruhte. Als drittes Element ist das Ende einzelner Lesekulturen zu analysieren, das sich über das Ende spezifischer Medientätigkeiten wie Zeitung- oder Buchlesen, das Ende bestimmter Zuwendungsformen zu Medien sowie das Ende konkreter Lesefunktionen definiert. Die Differenzierung der Diskurselemente entspricht dabei der inzwischen auch in der Lese- und Leserforschung geforderten Unterscheidung der Kommunikationstechnik Lesen, einzelner Lesemedien und Literaturformen. Im Folgenden werden die drei Diskurselemente beschrieben und in den Diskursstrang eingeordnet. Die Skizzierung der Diskurselemente erfolgt über die vorgestellte diskursanalytische Perspektive, in der nicht nur relevant ist, was über das ›Ende des Lesens‹ geäußert wird, sondern vor allem, welche Diskurspositionen vorherrschen, auf welchen sozialen Ebenen der Diskurs stattfindet und welche Argumentationslinien bestehen. Hierfür werden typische Äußerungen der diskursiven Aussagen frei wiedergegeben und beispielhaft belegt.

Diskurselement I: ›Ende der schriftlichen Kommunikation‹ Im ersten Element entsteht der Diskurs vor allem im Hinblick auf die Vor- und Nachteile spezifischer Kommunikationskanäle und deren Technologien. Die Ebenen des Diskurses in dieser grundlegenden Perspektive bleiben diffus beziehungsweise lassen sich als gesamtgesellschaftlich beschreiben, auch wenn einzelne Unterebenen mit spezifischen Intentionen und Argumentationslinien existieren. Im kulturell charakterisierten Diskurs steht die Veränderung der Gesellschaft durch technische Entwicklungen im Vordergrund. Übergreifend lassen sich zwei gegensätzliche Aussagen unterscheiden, die innerhalb der verschiedenen Diskursebenen im Wechselspiel zu Äußerungen führen. In einer Position steht die Aussage im Vordergrund, dass das Lesen als Kommunikationstechnik eine ›archaische‹ Kulturtechnik ist, die dank neuer

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Technologien überflüssig wird. In einer anderen Position ist die zentrale Aussage, dass Lesen auch gerade für neue Technologien eine basale Kulturtechnik ist und deshalb die Grundlage jeder sozialen Kommunikation bleiben wird. Lesen im Kontext neuer Rezeptionstechniken steht je nach Position für eine Verbesserung oder eine Begrenzung der Lebensbedingungen durch schriftliche Kommunikation. Der Diskurs über das Ende der Kommunikationstechnik Lesen findet dabei zumeist analog zu den entsprechenden Medien der diskursiven Aussagen statt. Das ›Ende der schriftlichen Kommunikation‹ wird vor allem in internetbasierten Medien von technologieaffinen Nutzergruppen und Organisationen, die aus der digitalen Vernetzung wirtschaftliche Vorteile erlangen, propagiert. Die Verteidigung des Lesens dagegen spielt sich meist in Printmedien ab. Eine besondere Bedeutung hat die Diskursebene im Wirtschaftssystem. Unternehmen stellen Treiber des Diskurses dar, die sich durch neue Technologien eine Stärkung der systemeigenen Kommunikation erhoffen. Der Wachstumsgedanke führt zu einer grundsätzlich euphorischen Position des Gesamtsystems im Diskurs, wobei Subsysteme, die auf das Lesen spezialisiert sind, eine Gegenposition einnehmen. Dies lässt sich leicht an den Aussagen des Buchhandels belegen. Die Argumentationslinien hinsichtlich des Lesens als verschwindende Kommunikationsform beziehen sich logisch strukturiert vor allem auf die Begrenzungen schriftlicher Kommunikation. Lesen und Schreiben werden als unnatürliche Art menschlicher Interaktion sowie als langwierig und ausgesprochen schwierig zu erlernen angesehen. »In weiterer Zukunft jedoch gibt es eigentlich keinen rationalen Grund, sich weiter mit der ›Kommunikationskrücke‹ Schrift herumzuplagen, wenn wir sie durch effizientere Erfahrungskanäle bzw. Kodierungssysteme bei der Informationsaufnahme ersetzen können.«13 So argumentiert auch Maryanne Wolf in ihrem Werk Das lesende Gehirn, dass Menschen nicht zum Lesen geboren seien, was mit neuen Technologien zunehmend deutlich werde. Lesen sei zudem eine monotone Tätigkeit, weil die multimediale Komponente fehle, auch wenn sich dies übergangsweise durch digitales Lesen verbessern lasse. Texte auf Papier seien verarmte Informationen, die als ›Bleiwüste‹ wahrgenommen würden. Audiovisuelle und virtuelle Kommunikation dagegen entspreche den ›natürlichen‹ Gewohnheiten des Menschen und ermögliche eine direktere, schnellere und leichter verständliche Kommunikation.14 In 500 Jahren, so sagte der Neurolinguist Horst Müller von der Universität Bielefeld schon ziemlich vorsichtig gegenüber dem Deutschlandradio, würden nur noch wenige 13 Schweiger: Onlinemedien – Renaissance oder Ende der Schriftkultur, S. 11. 14 Vgl. Wolf: Das lesende Gehirn.

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Menschen lesen, die meisten könnten im Alltag und in der Arbeit darauf verzichten, etwas niederzuschreiben und zu lesen. Stattdessen werde man mit Maschinen reden, die, wenn sie Anleitungen geben, in Bildern zeigen würden, wie was zu machen ist: ›Durch die digitalen Medien‹, so seine Prognose, ›wird die Schrift verschwinden.‹ Sie würde ersetzt durch komplexere Techniken.15

Die typische Argumentationslinie ist die euphorische Überhöhung und Verherrlichung der Möglichkeiten technologischer Innovationen, die mit einem generellen Wissenszuwachs und Erkenntnisgewinn, neuen Handlungsspielräumen und einer umfassenden Problembewältigung gleichgesetzt werden. Wir leben in einem Zeitalter eines neuen Fortschrittglaubens, und dieser Glaube an den Gott MODERNITÄT schafft eine euphorische Atmosphäre […]. Fortschrittsglaube ist nichts Neues, aber es gibt nur wenige Entwicklungsphasen in der Geschichte der Neuzeit, in denen Zukunftseuphorie so modisch war wie heutzutage. Bezeichnenderweise tritt diese Form von Euphorie immer in Verbindung mit dem Umgang neuer Technologien auf.16

Die entgegengesetzte Diskursposition verkehrt die Argumente in ihr Gegenteil und argumentiert verteidigend und historisch. Durch die Reduzierung der Informationen in Texten und die fehlende Multimedialität werde die Aufmerksamkeit auf die relevante Information gelenkt. Zugleich befördere die kognitive Verarbeitung im Gehirn unter Ausbildung der eigenen Vorstellungskraft eine positive ›multimediale‹ Erfahrung. Die Anregung des Gehirns führe zu leichter verständlichen Informationen und einer gesteigerten Konzentrationsfähigkeit auf das Wesentliche. Wenn wir also zur Information, zur Besinnung oder zum Vergnügen Bücher, Zeitschriften oder Zeitungen lesen, dann werden – so wie beim Sport die Kraft und die Beweglichkeit – beim Lesen der Verstand und die Sprache trainiert. Daher ist Lesekompetenz immer auch Denk- und Sprachkompetenz. Zusammen mit den beim Lesen gewonnenen Erkenntnissen und Einsichten trägt diese Lese-, Denk- und Sprachkompetenz wesentlich zur Bildung der Persönlichkeit bei und ist zugleich eine zentrale Voraussetzung für den schulischen und beruflichen Erfolg.17

Audiovisuelle Informationen dagegen würden die Denkfähigkeit des Einzelnen nicht genug fördern und die intellektuelle Weiterentwicklung, besonders in jungen Jahren, verhindern. Zudem würden multimediale Elemente vom Wesentlichen ablenken und die Informationsaufnahme erschweren. Der technologisch induzierten Euphorie wird entgegengesetzt, diese setze voraus, dass alle Menschen von sich aus wissensdurstig, lernbegierig, neugierig und vor allem willens sind, neue Technologien nutzbringend einzusetzen. Diese Sichtweise sei 15 Rötzer : Liest man digitale Texte anders? 16 Haarmann: Die Wissensgesellschaft und das Schicksal des Papiers, S. 28. 17 o. V.: Erklärung zur Zukunft des Lesens.

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allerdings naiv, weil Technologien nicht nur Probleme lösen, sondern auch schaffen würden. Gleichzeitig würden Technologien Mitglieder einer Gesellschaft nicht als Ganzes erreichen, sondern im Zusammenhang mit Zugangsmöglichkeiten und Wohlstand zu neuen Spaltungen führen.

Diskurselement II: ›Ende der Lesekultur‹ Das im Diskursstrang über das ›Ende des Lesens‹ wohl größte Diskurselement ist die Diskussion um das ›Ende des Lesens‹ als prägende Fähigkeit der Weltaneignung einer Menschheitsepoche, die insbesondere durch Marshall McLuhans Werke begonnen wurde. Neil Postman stellte im Anschluss die These auf, dass das Denken, Fühlen und Handeln der Menschen durch Medien gesteuert werde und die Art der medialen Kommunikation die Leitprinzipien gesellschaftlicher Strukturierung festlege.18 Im Zentrum des Diskurselements steht die Neuordnung der Gesellschaft durch audiovisuelle Medien und die Ablösung der Leitfunktionen für Wissen, Kultur und Macht durch spezifische Lesemedien wie gedrucktes Buch und gedruckte Zeitung. Diese Perspektive lenkt den Blick weg von der kommunikativen Handlung auf das Lesen als Grundlage von Kultur, »[…] weil ich keineswegs von einem Verfall des Lesens, einem neuen Analphabetentum, einer aufziehenden Schriftlosigkeit reden will, sondern vom Niedergang der Lese-Kultur.«19 Wie beim ersten Diskurselement spiegeln sich hier ebenfalls zwei gegensätzliche Positionen wider, allerdings mit feinerer Konnotation. Nicht die Kommunikationstechnik des Lesens wird in Frage gestellt, sondern deren Bedeutung als leitende Kulturfunktion. Wir leben in einer Zeit, in der das Bild als Informationsträger, Kulturgegenstand und Werbemittel dominiert, und in der mit täglicher Regelmäßigkeit das Bildmedium Fernsehen den größeren Teil der Bevölkerung in Bann schlägt. Auch das Hören der vielfältigen Sendungen im Rundfunk hat sicherlich bei nicht wenigen das Lesen weniger anziehend gemacht, wenn nicht gar verdrängt.20

Die gegensätzliche Position nehmen insbesondere die lesende Öffentlichkeit und deren intellektuelle Repräsentanten ein. Diese laden den Wandel der Medienkultur und damit verbunden spezifische Medien mit einer negativen moralischen Wertung auf: »Wie immer, wenn der Kulturverfall auf dem Programm steht, ist das Fernsehen dabei.«21 18 19 20 21

Vgl. Postman: Das Verschwinden der Kindheit. Ross: Verfall der Lesekultur, S. 17. Degenhardt: Grußwort an die Teilnehmer der Fortbildungstagung aus Rom, S. 14. o. V.: »Eine unsäglich scheußliche Sprache«, S. 132.

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Der Diskurs um kulturelle Leitfunktionen unterschiedlicher Medien wird vor allem in den Massenmedien selbst, in der Wissenschaft und in der Politik geführt. Besonders im Bereich der Massenmedien erscheint dabei das Subsystem der periodischen Printmedien von besonderer Bedeutung, also jenes System, dessen Kommunikationsprinzip hinterfragt wird. So ist der größte Akteur des Diskurses um ein Ende der Lesekultur das Feuilleton der großen Tages- und Wochenzeitungen, das diskursive Aussagen den eigenen Leitmotiven wie der ökonomisch motivierten Selbsterhaltung, der politisch motivierten Meinungsführerschaft oder einem selbst auferlegten intellektuellen Anspruch unterordnet. Das Feuilleton bildet damit nicht die technologische Medienentwicklung oder deren Widerstände und Katalysatoren ab, sondern gestaltet durch die Anleitung zu einer spezifischen Einstellung und Meinungsbildung aktiv den sie umgebenden Diskurs. »So hat das Feuilleton […] zu einem recht frühen Zeitpunkt Teil an einer Phase, in der das Wissen um eine neue Technik das öffentliche Bewusstsein in seiner ganzen Breite erreicht.«22 Die dadurch konturierte partielle kulturelle Öffentlichkeit entspricht nicht der tatsächlichen Bevölkerung, sondern einem spezifischen Milieu der Gesellschaft, das dem Lesen besonders positiv gegenübersteht. Genauso verhält es sich auf individueller Ebene: Die größten Kritiker des Medienwandels sind meist jene, die die geringsten Kompetenzen mit Medieninnovationen haben, entwickeln können oder wollen. Die Wissenschaft führt den Diskurs vor allem aus einer inszenierten neutralen Perspektive zwischen Technologie-Euphorie und Kulturpessimismus. Dabei findet der Diskurs um das ›Ende der Lesekultur‹ vor allem in den Organisationen der Wissenschaft statt und wird hier schärfer geführt als anderswo, da die historische Entwicklung der Wissenschaft eng mit dem Lesen verknüpft ist: Dem klassischen Bildungsideal des durch Lesen erworbenen und durch Schreiben anerkannten Wissens stehen veränderte Mediennutzungsgewohnheiten entgegen, die diese Prinzipien immer stärker in Frage stellen. Die Argumentation um einen Wandel der Medienkultur entspricht in ihrer euphorischen Perspektive weniger einer Argumentationslinie, sondern vielmehr einer logischen Feststellung, die durch unterschiedliche Einzelaspekte hervorgehoben wird. So wird zum Beispiel betont, dass nicht das Lesen an sich entscheidend sei, sondern die gelesenen Inhalte. Und diese wiederum würden gegenwärtig auch über TV-Serien, Filme und zukünftig über Computerspiele oder Internetinhalte vermittelt. Literarischer Wert wird somit nicht dem Lesen, sondern dem Inhalt zugeordnet. In ähnlicher Weise wird auf die neue Medialität von Informationen hingewiesen, die sich nicht als oppositionelles Medienhandeln definieren lässt. »Es geht kurzum nicht um die vordergründigen Oppositionen von Schrift und Sprache, Lesen und Sprechen oder Bildern und Schrift, 22 Glaubitz u. a.: Eine Theorie der Medienumbrüche 1900/2000, S. 172.

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die längst nicht mehr in den diffusen Zeichenwelten des Netzes gültig sind, sondern um eine neue Begrifflichkeit der Medialität.«23 Schreiben und Lesen werden stattdessen durchaus gewürdigt als ›Behelf mangels Alternativen‹ für komplexe Kommunikationsprozesse, die aber heute dank der technologischen Entwicklung wieder vermehrt audiovisuell stattfinden können. Die kulturpessimistische Diskursposition begegnet den negativen moralischen Bewertungen des Lesens meist gelassen, da der technologische und damit der kulturelle und soziale Wandel zwar als gegeben, aber als nicht prognostizierbar angesehen wird. Es sind die Zukunftsängste der Gesellschaft, die selbsternannte Mediengurus die Chance eröffnen, für ihre in prophetischem Gestus verkündeten apokalyptischen Szenarios jederzeit ein Publikum zu finden, ihre Prognosen prätendieren ein gesichertes Wissen über den Verlauf der Medienevolution, tatsächlich aber beruhen sie über weite Strecken auf purer Spekulation.24

Die Argumentationslinie, mit der der Wandel der Lese- zur Medienkultur auf dieser Seite begleitet wird, bezieht sich vor allem auf eine Bewertung dieses Wandels, denn Lesen habe im Vergleich zu anderen medialen Handlungen eine höhere Wertigkeit. Nur auf dieser Basis wird die Annahme der Vertreter dieser Position verständlich, das Fernsehen wirke sich ›verheerend‹ auf die Lesekultur aus und elektronische Medien seien das größte Untergangsszenario des Abendlands. Hervorgehoben werden innerhalb der Argumentation vor allem positive Zuschreibungen an das bürgerliche Leseverhalten, zum Beispiel hinsichtlich der intimen Beziehung zwischen Leser und Text. »Wer liest, wirklich liest, tut sonst nichts. Er ist absorbiert. Lesen ist eine monogame Tätigkeit, bei der das Objekt unserer Begierde nach Hingabe verlangt.«25 Diese lineare, ausschließliche Tätigkeit wird auch im Sinne der Unterhaltung positiv bewertet. Nur durch das Lesen könne eine Kultur entstehen, die durch das Ausleben von Phantasie und Vorstellungskraft das Potenzial zu kulturellen und sozialen Verbesserungen habe. Weiterhin werden Ängste hinsichtlich des Verschwindens von Kultur und Werten geschürt. Besondere Bedeutung hat hier der proklamierte Niedergang der kreativen Schreiber, vor allem der Journalisten und Autoren. Diese würden im Rahmen neuer Medien als ›urheberrechtsfreier Zone‹ keine kulturellen Beiträge mehr leisten können. Auf der euphorischen Gegenseite wird argumentiert, dass die Veränderungen lediglich jene Unternehmen beträfen, die einen Mehrwert aus der Arbeit von Autoren ziehen, die Autoren 23 Palm: Die Zukunft des Lesens. 24 Fischer : Ende des Papiers, S. 42. 25 Luetkehaus: Die Welt wird flach.

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selbst würden jedoch endlich befreit vom Buchhandel das ›neue Buch‹ erfinden und über digitale Medien verbreiten können. Mit dem Leser, sagt Sven Birkerts, steht nichts Geringeres als das Individuum auf dem Spiel. Der Untergang des Abendlandes, der sich bis in die schöne neue Welt erstreckt, zeichnet sich ab als Untergang von Leser, Buch und Autor, dieser heiligen Dreifaltigkeit des Gutenberg-Zeitalters.26

In historischer Perspektive wird zudem argumentiert, die Entstehung einer bürgerlichen Öffentlichkeit sei nur durch die Logik einer vom gedruckten Text geprägten Denk- und Argumentationsweise, also der schriftlich exakten, rational-logischen und systematisch strukturierten Ausarbeitung von Gedanken, möglich gewesen. Dies sei die Grundlage jeder heutigen Demokratie. »Je mehr Internet jeden mit jedem verbindet, desto mehr Digitalkommunitäten werden möglich, aber die Öffentlichkeit droht verloren zu gehen.«27 Eine Abwertung des Lesens im Medienkontext sei deshalb eine direkte Gefährdung des demokratischen Prinzips und der Autonomie der Bürger. Die distanzierte, kritische Reflexion des eigenen und fremden Handelns endet in dieser Perspektive mit der Visualisierung durch audiovisuelle Medien. Die Lesekultur verlangte eine andere Art des Argumentierens als die Fernsehzivilisation. Hochgebildete Anwälte und kultivierte, kenntnisreiche Theologen gewannen damals die Aufmerksamkeit des Publikums. Politiker waren durch ihre Bücher bekannt, nicht durch ihre Photographien und ihre Fernsehauftritte. Man urteilte nach Überzeugungskraft von Argumenten, nicht nach dem schönen Aussehen.28

In der moralischen Argumentation wird das Lesen mit positiven, audiovisuelle Medien mit negativen Zuschreibungen versehen. Die ›sachliche Argumentation‹ eines schriftlichen Texts steht der ›visuellen Suggestion‹ durch audiovisuelle Medien gegenüber. Infolgedessen werden die informierende und unterhaltende Tätigkeit, die Neugier und das reine Informationsverhalten sowie die tiefgreifende Argumentation und die reine Nachricht gegenübergestellt. Besonders im Buchhandel wurde und wird vor allem trotzig argumentiert. Auch heute noch gelte in unserer Kultur das Paradigma, dass das gedruckte Wort eine höhere Autorität besitzt als das digitale Wort oder audiovisuelle Informationen. »Siegfried Unseld hat einmal bemerkt, Marshall McLuhan habe den Tod des Buchs vorausgesagt, gestorben sei aber Marshall McLuhan.«29

26 27 28 29

Luetkehaus: Die Welt wird flach. Honnefelder : Dauer braucht Selektion, S. 84. Fetscher : Wie das Fernsehen alles völlig verdreht. Greiner : Endspiele.

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Diskurselement III: ›Ende einzelner Lesekulturen‹ Das dritte Diskurselement des ›Endes des Lesens‹ betrifft die Veränderungen vieler einzelner Lesekulturen im mikroskopischen Sinne und damit verbunden verschiedener Lesemedien, Leseweisen und Funktionen des Lesens. Auch hier werden technologie-euphorische und kulturpessimistische Positionen sichtbar. Je nach Einzelaspekt verläuft der Diskurs auf den Ebenen von Kultur im Allgemeinen oder in den Systemen Wirtschaft, Politik und Wissenschaft. Die Akteure sind jene Personen und Organisationen, die vom technologischen Fortschritt profitieren und jene, deren tradierte Werte, Berufe und Einstellungen bedroht werden. Letztere sind vor allem Kulturschaffende, Journalisten, Autoren und Verleger, deren Kulturbegriff historisch geprägt ist. Sie bezeichnen sich auffällig oft als ›Freunde des Buchs‹ oder ›Verteidiger der schöngeistigen Literatur‹. Neben den einzelnen Personen gehören zu den kulturpessimistischen Vertretern auch die Organisationen der Printmedien. Außer den Produzenten und Distributoren sind dies vor allem die von ihnen finanzierten Stiftungen und Verbände. Hier wird das Lesen mit spezifischen Lesemedien, vor allem dem gedruckten Buch und der gedruckten Zeitung, gleichgesetzt. Das ›Ende des Lesens‹ wird in mikroskopischer Perspektive zunächst an neuen digitalen Lesemedien wie E-Books und den zum Lesen benötigten E-Readern oder Tablets festgemacht. »Für die einen ist es eine große Errungenschaft der Technik, andere sehen in ihnen den Niedergang der Lesekultur.«30 Die Argumentationslinien entlang der gegensätzlichen Positionen sind relativ einfach konturiert, sie beziehen sich auf die unterschiedlichen Eigenschaften der Lesemedien. So wird gegen digitale Bücher und Texte vor allem angeführt, dass man sie nicht anfassen, fühlen oder riechen könne, sie aufgrund des notwendigen Stroms und der Bildschirme nur beschränkt räumlich nutzbar seien und statt eines Festhaltens von Gedanken oder Bildern nur ein ständiges flüchtiges Rauschen von Information produzieren würden. Digitale Zeichen seien zwar funktionstüchtig und verfügbar, aber auch beliebig und austauschbar. Ohne den endgültigen Charakter von Tinte und Papier böten digitale Texte deshalb keinen Widerstand und keine Möglichkeiten der Entstehung neuer Ideen. Mit gedruckten Texten wird eine höhere Wertigkeit assoziiert. Sie seien tiefsinniger, weil sie Hintergründe, Analysen und Kommentare höher gewichten und in Relation zueinander darstellen. Auch auf der emotionalen Ebene wird argu-

30 Gottwald: E-Books – das Ende der Lesekultur?

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mentiert. So sei das Lesen gedruckter Texte sinnlicher und erotischer als bei ›kalten‹ elektronischen Geräten.31 Befürworter digitaler Lesemedien führen dagegen an, dass digitale Texte und Bücher in ihrer riesigen Auswahl auf einem Lesegerät nicht mehr materiell beschränkt seien, man diese direkt bearbeiten und beispielsweise hinsichtlich Schriftgröße, Hintergrundbeleuchtung und multimedialer Ergänzungen individuell an die eigenen Leseweisen anpassen könne. Digitale Textformen würden Inhalte von ihrer Materialität befreien und somit eine jahrhundertelange Beschränkung aufheben. »Das Buch dematerialisiert sich. Ist das, wie Bücherfreunde sagen, ein Sterben? Oder ist es nur die Auflösung der sterblichen Hülle?«32 In einer weiteren Perspektive erfasst der Diskurs nicht nur digitale Formen traditioneller Printmedien, sondern vor allem auch Textformen in den Medien des Internet wie E-Mail, Chat, Foren, Blogs, Websites, Social Networks und Messenger. Hier beziehen sich die Positionen vor allem auf die positive oder negative Bewertung der nachgewiesenen Veränderungen von Leseweisen wie die Zunahme des Erlebnislesens kürzerer Texte und die wachsende Bedeutung von informationssuchenden Lesestrategien. Digitale Textformen führen William Albert zufolge zu einer »habituellen Ungeduld«33, also einer mangelnden Konzentrationsfähigkeit, die für das Tiefenverstehen von schriftcodierten Inhalten notwendig sei. Teilweise wird zwar anerkannt, dass digitale Medien dem Informationsbedürfnis besser entsprechen können, aber nicht ohne darauf hinzuweisen, dass vor allem Literatur und tiefsinnige Informationen an Druckmedien gebunden seien. »Wo es aber nicht um zweckgerichtete Lesearbeit geht, sondern um Poesie, Kunst und Genusslektüre, da bleibt die Elektronik dem gedruckten Papier materiell und spirituell unterlegen.«34 Außerdem führe die zunehmende Sozialisation mit digitalen Medien zu einem generellen Rückgang des Lesens, da sogar Kurztexte verstärkt durch Visualisierungen ersetzt würden. Innerhalb der den digitalen Texten positiv zugewandten Diskursposition wird dagegen der Bereich der entstehenden Schriftkultur im Internet hervorgehoben. Auf die Frage, ob wir am Ende der Buchkultur angekommen seien, antwortet beispielsweise Matthias Bickenbach: Nein. Wir sind vielleicht keine reine Buchkultur mehr, trotzdem noch eine Schriftkultur. Das Internet wird ja ebenfalls mit Text befüllt. Es bringt ähnliche Möglichkeiten 31 Vgl. zur Sinnlichkeit digitaler Lesegeräte Sven Grampp in diesem Band mit seinem Beitrag Kindle’s Abstinence Porn. 32 Schloemann: Die elektronische Tinte kommt, der Geist bleibt. 33 Zitiert nach Palm: Die Zukunft des Lesens. 34 Becker : In der Dämmerung des Gutenberg-Zeitalters.

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mit sich wie damals der Buchdruck: neue Möglichkeiten der Verbreitung. Das Netz ist durchaus ein weiteres Kapitel in der Geschichte der Schriftlichkeit.35

So bringe das Internet neue literarische Formen hervor und steigere die Akzeptanz des Lesens durch die Transformation älterer Texte. Die Anforderungen der heutigen Lebenswelt hinsichtlich des Informationsgehalts würden digitale Texte besser erfüllen. Lesen und Schreiben würden zudem durch die Vernetzung von Texten zunehmend zu gemeinschaftlichen oder zumindest gemeinschaftlich reflektierten Tätigkeiten jenseits materieller Produkte. Auch wenn wir mit der Vorstellung vom einsamen Leser im Lehnstuhl oder unter einem Baum und dem Autor allein in der Dachstube aufgewachsen sind, ist die wichtigste Erkenntnis, die meine Kollegen und ich aus einer Reihe von Experimenten mit ›vernetzten Büchern‹ gewonnen haben, dass Diskurse von der Buchseite auf den vernetzten Bildschirm wandern und die gemeinschaftlichen Aspekte des Lesens und Schreibens vom Hintergrund in den Vordergrund treten.36

Technologisch-euphorisch werden infolgedessen auch diskreditierende Argumente getroffen. So schreibt der Kolumnist Sascha Lobo, dass das Ende der ›Holzmedien‹, insbesondere der Zeitungen, nahe sei und die öffentliche Kommunikation zukünftig digital stattfinden werde.37 Veränderte Lesemedien und Leseweisen als Diskurselemente des ›Endes des Lesens‹ werden innerhalb der Politik und der Wirtschaft in besonderer Form diskutiert. In beiden sozialen Funktionssystemen gibt es Akteure, die das ›Ende des Lesens‹ in bestimmter Weise akzentuieren. In der Regel geschieht dies in einer negativen Bewertung der Entwicklungen. Im Blickpunkt einer Gruppe stehen vor allem politische Entscheidungen hinsichtlich der institutionalisierten Bildungssysteme und ihrer Organisationen, den Schulen und Universitäten, die auf dem Lesen aufbauen. »Die Kultur schulischen Lesens ist von Verfall bedroht; es ist an der Zeit das zu erkennen, und etwas dagegen zu tun, denn man will auf Literatur, auf imaginative Literatur, in der Schule nicht verzichten[.]«38 Diese Annahme eines Verfalls der schulischen Lesekultur basiert in erster Linie auf den Ergebnissen der internationalen Bildungsvergleichsstudien wie PISA. Der Diskurs verlagert sich hier auf die Gegenüberstellung unterschiedlicher Bildungsideale, die auf verschiedenen Lesebegriffen beruhen. So wird das ›Ende des Lesens‹ mit dem Ende bürgerlicher Bildungsideale von Literalität gleichgesetzt. Schulisches Lesen wird somit zwi35 Hugendick: »Romantische Novellen druckt man sich aus«. 36 Frühschulz: Bob Stein über die Zukunft des Lesens und Schreibens. 37 Vgl. Interview des Tagesspiegels mit Sascha Lobo, zitiert nach Becker : In der Dämmerung des Gutenberg-Zeitalters. 38 Lubbers: Gesellschaftspolitische Wirklichkeit in der irischen Erzählprosa der Gegenwart, S. 56.

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schen einer allgemeinen Kommunikationskompetenz und einer Kompetenz der sozialen Teilhabe im Sinne des humanistischen Strebens nach höherer Menschlichkeit diskutiert. Gegen eine Reduzierung des Lesens auf rein kommunikative Aspekte wird vor allem angebracht, dass Schüler dadurch die Kenntnis der klassischen Kanonliteratur verlören, die unabdingbar zur Verfolgung sozialer Diskurse im Allgemeinen sei. War der Bildungsprozeß früher bestimmt durch die Aneignung der Welt, Denken und allen möglichen Dimensionen des Lesens von Büchern, so vermögen heutige Lehrer ihren Schülern kaum noch die Notwendigkeit von Lektüre zu begründen. Die neuesten Errungenschaften der Technik lassen sich mit Büchern nicht mehr verstehen[.]39

Argumentiert wird dabei auf Basis einer historisch geprägten Vorstellung von Bildung und vor allem den damit assoziierten positiven Entwicklungen der Menschheit, die mit dieser Form der Bildung möglich waren. Die 200 Jahre von 1760 bis 1960, in denen die Schriftkultur ganz überwiegend die Gedanken und Empfindungen der Menschen geprägt hat, stellen ganz offensichtlich eine Epoche dar, deren Umrisse sich erst heute, da die neuen elektronischen Medien die Dominanz der Schriftkultur ablösen, deutlich abzeichnen. Diese über 200 Jahre andauernde Epoche ist Ausdruck einer Selbstverwirklichung bürgerlichen Geistes, wie er grandioser nicht in den kühnsten Gesellschaftsutopien der beginnenden Neuzeit hätte gedacht werden können. Das Sichdurchtränken mit literarischer und wissenschaftlicher Schriftkultur wurde geradezu zum Synonym für den Progreß der Moderne.40

Lesen als umfassende Bildung wird in belehrender Argumentation zur Notwendigkeit für gelingende Sozialisationsprozesse von Kindern und Jugendlichen und damit für den Fortbestand einer funktionierenden, aufgeklärten und demokratischen Gesellschaft. Unstrittig ist zwischen den Positionen dagegen, dass Lesen eine unabdingbare Voraussetzung unserer Kultur ist, weshalb eine umfassende Förderung des Lesens durch soziale Funktionssysteme, allen voran die Politik, intendiert wird. Auf einer normativen Ebene wird festgehalten, dass diese Förderung notwendig sei: »Es bedarf wohl kaum einer detaillierteren Begründung, dass Lesen als die Basis-Kulturtechnik die Grundlage für eine zukunftsträchtige Gesellschaft ist und deshalb vorrangig gefördert werden sollte.«41 Ein weiterer systemspezifischer Diskurs findet in wirtschaftlichen Dimensionen im Subsystem des Buchhandels statt. Im Zentrum des Diskurses steht der Umgang mit dem Medienwandel, der in einer Position als Herausforderung und positive Veränderung, in der Gegenposition als Existenzbedrohung artikuliert wird. Die Debatte basiert zwar auf ökonomischen Überlegungen, wird aber 39 Schüre: Am Ende der Bücherwelt. 40 Grolle: Von der Gefährlichkeit des Lesens, S. 20. 41 Hoffmann: Lesen setzt Orientierung, S. 13.

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meist im Rahmen einer kulturellen Dimension geführt, die das Buch als Kulturgut einer funktionierenden demokratischen Gesellschaft überhöht darstellt. So würden der Niedergang der gedruckten Zeitung zum Wegfall des vierten demokratischen Prinzips und das Ende des gedruckten Buchs zum Verlust der prägenden kulturellen Bildungsinstanz führen. Argumentiert wird hier vor allem mit erhobenem Zeigefinger, indem auf den Einfluss gedruckter Bücher auf den erreichten Wohlstand der Gesellschaft hingewiesen wird. Außerdem führe das Internet zu einer Kriminalisierung der Kultur geistiger Erzeugnisse, was sich anhand der zahlreichen illegalen Tauschbörsen zeige. Gegenstimmen führen an, dass sich das System des Buchhandels zu wenig aktuellen Entwicklungen anpasse. »Kann es tatsächlich sein, dass wir es mit einer Verlagsbranche zu tun haben, die unerschütterlich und wie blöde über jede faktische Nachfrage hinaus produziert?«42 Außerdem sei der Buchhandel selbst schuld, da er sich den ökonomischen Prinzipien unterworfen habe und statt Lesern nur noch Buchkäufer hervorbringen wolle. »Bücherfreunde werden nur noch als Käufer, nicht mehr als Leser ernstgenommen. Von Inhalten, gar von Qualität ist nicht mehr die Rede. Das einschüchternde Kauderwelsch der Generalstäbler und Verkaufs-Strategen in der Reklameabteilung kennt nur noch Quantität.«43

Überlegungen zum ›Ende des Lesens‹ Betrachtet man die skizzierten Diskurselemente, wird deutlich, inwiefern der Diskurs um das ›Ende des Lesens‹ nicht nur ein diskutiertes Thema, sondern Ausdruck von sozialen Steuerungsversuchen unterschiedlicher Akteure ist. Die Ursachen der Diskurse um das Lesen sind in dieser Perspektive relativ leicht zu beschreiben. Technologische Innovationen verändern gewohnte Kommunikationsumgebungen von Menschen und Organisationen, was zu Unsicherheiten im sozialen Umgang mit neuen Kommunikationsformen führt. Diese Unsicherheiten werden öffentlich kommuniziert und führen zu Diskursen zwischen Utopien und Dystopien. Die Aussagen in den Diskursen unterliegen unterschiedlichen Intentionen und dienen der Steuerung der Funktionssysteme der Gesellschaft. Diskurse sind dabei zunächst eine relativ effektive Möglichkeit, die Selbsterhaltung der Funktionssysteme einer Gesellschaft zu gewährleisten. So existieren zum ›Ende des Lesens‹ zwei konträre, polarisierende Positionen, die beide für sich einleuchtend und logisch erscheinen, zumal sie sich beide durch Sta42 Jessen: Hurra, wir lesen noch! 43 Michaelis: Schnellschüsse Volltreffer.

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tistiken und Expertenmeinungen belegen lassen. Die Äußerungen, die Bevölkerung lese nicht mehr und wende sich stattdessen anderen Medien wie Fernsehen und Internet zu sowie Buch und Zeitung als Medien würden immer unwichtiger, sind genauso zu belegen wie Äußerungen, dass mehr gelesen werde als früher, die Buchmessen sich nie dagewesener Beliebtheit erfreuen würden, das Bildungsniveau stetig ansteige und es immer mehr Bücher gebe. Somit kann keine Seite in der Kommunikation bevorzugt werden, was zu einer permanenten wechselseitigen Anschlusskommunikation führt, die die Grundbedingung der Selbsterhaltung sozialer Funktionen ist. Es zeigt sich, dass die Diskurspositionen in ihrer Gegensätzlichkeit inszeniert und überspitzt dargestellt werden, um den Aussagen durch Äußerungen ein höheres Gewicht und damit eine größere Bedeutung für Anschlusskommunikation der Gegenposition zu verleihen. Gleichzeitig kann man Diskurse als Anpassungsstrategien von Funktionssystemen begreifen, da Äußerungen als Irritationen der Systemkommunikation auftreten können. Sie dienen deshalb nicht nur der Erhaltung, sondern auch, unter Wahrung ihrer strukturellen Integrität, der Veränderung sozialer Systeme. Wenn Diskurse systematisch ihre Positionen überhöhen, wird deutlich, dass die Aussagen auf den unterschiedlichen Diskursebenen keine objektiven Wahrheiten enthalten können. Eine objektive Betrachtung des ›Endes des Lesens‹ muss zwischen beiden Positionen liegen und stellt sich für die drei skizzierten Diskurselemente unterschiedlich dar. Ein Verschwinden des Lesens als Kulturtechnik ist beispielsweise kaum denkbar, denn die moderne Gesellschaft basiert auf den Prinzipien der sozial induzierten Kommunikation über Schriftzeichen. Erst durch die Innovationen von Schrift und Druck konnten die zentralen Organisationsprinzipien unserer Gesellschaft und Lebenswelt entwickelt werden. Die Kommunikationstechnik Lesen prägt durch die Logik der Schrift das Denken der Menschen und wird deshalb nicht verschwinden, wenngleich sich das Lesen selbst als Tätigkeit in seiner Wertigkeit für verschiedene soziale Bereiche durchaus ändern kann und wird. Die Leistungen des Lesens, die auf der Logik der symbolischen Verschlüsselung von Informationen durch Schriftzeichen beruhen, können von audiovisuellen Medien zumindest bisher nicht kopiert oder ersetzt werden. So entspricht Lesen einer von audiovisueller Informationsaufnahme zu unterscheidenden Art des Denkens, des Sprachtrainings, der Kommunikationsfähigkeit und der Wirklichkeitsaneignung. Verschwiegen wird im Diskurs zumeist die Tatsache, dass audiovisuelle Informationen auch heute noch im Regelfall schriftbasierte Grundlagen haben, man denke an geschriebene Reden, Konzeptpapiere, Drehbücher, Textvorlagen oder Arbeitsanweisungen. Audiovisuelle Informationen entsprechen zwar oralen Organisationsprinzipien von Kultur, können aber nur aufgrund einer hinterlegten Schriftlichkeit Komplexität erlangen, weil Schrift nach wie vor die Grundlage des kulturellen Gedächtnisses

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komplexer ausdifferenzierter Gesellschaften ist. So bleibt insbesondere die Tradierung von Wissen schriftlich institutionalisiert. Audiovisuelle Medien betonen dagegen den Status einer neuen Oralität in der Gesellschaft, die natürlicher aussieht und leichter erlernt werden kann, aber auch viele Defizite oraler Sozialstrukturen wie Ritualisierung und ständige Wiederholung übernehmen muss, um anschlussfähig zu bleiben. In einer Differenzierung sind jedoch auch die dem Lesen zugewandten Aussagen nicht uneingeschränkt anschlussfähig. So zeigt sich eindrucksvoll wie sich die Wissensordnung tagesaktueller, als bekannt vorauszusetzende Informationen durch die BroadcastingMedien Hörfunk und Fernsehen verändert hat. Am Ende einer dominanten Lesekultur als sozial strukturierendem Prinzip besteht dagegen wenig Zweifel, zu vielfältig sind mediale Kontexte heutiger Lebenswelten. Mit unterschiedlichen Organisationsprinzipien neuer Medien endet das Lesen auf jeden Fall insofern, als dass der linearen Weltaneignung durch das Lesen und spezifischen Lesemedien wie Buch und Zeitung eine zunehmend fragmentarische Weltaneignung durch audiovisuelle und digitale Medien entgegengesetzt wird, die auch das Lesen selbst verändert. Ein solider Sockel von Viellesern steht einem, zugegebener Maßen ebenso soliden Sockel von Nichtlesern gegenüber. Kann man mehr überhaupt erwarten? War es jemals anders? Der Pessimismus kann nur Nahrung finden, wenn er erwartet, dass mit der steigenden Zahl von höheren Bildungsabschlüssen, von Abitur und Hochschuldiplomen, auch die Zahl der Leser zunehmen müsse. Das tut sie freilich nicht.44

Der Gegensatz von audiovisueller und schriftlicher Kultur ist bei genauerer Betrachtung kein Ausschlussverfahren, sondern eine systematische Konstruktion der Massenmedien, um die Anschlussfähigkeit ihrer Kommunikation wahrscheinlicher zu machen. »Der vom Feuilleton so hervorgehobene Gegensatz zwischen Gutenberg- und Turing-Galaxis ist mindestens ebenso sehr ein Eigenprodukt der Medienberichterstattung wie das Ergebnis einer idealisierten Wahrnehmung.«45 Im Bereich der mikroskopischen Diskurse um Lesemedien, Leseweisen und Lesefunktionen fällt besonders auf, dass erhobene Daten je nach Argumentationslinie interpretiert werden können. So sollen die Zahlen der Nicht-Leser und funktionalen Analphabeten sowie der durchschnittlich gelesenen Bücher belegen, dass das Lesen sich im Niedergang befindet. Auch die zunehmende Orientierung von Lesern an visueller Unterhaltung wird als Indiz der siechenden Lesekultur gewertet. »Schrift = Information = Hochkultur = gut und Bild = Unterhaltung = Trivialkultur = schlecht.«46 Auf der Gegenseite wird 44 Jessen: Hurra, wir lesen noch! 45 Dlugosch: Zwischen Gutenberg- und Turing-Galaxis, S. 15. 46 Schweiger: Onlinemedien – Renaissance oder Ende der Schriftkultur, S. 7.

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angeführt, dass ein Viertel der Bevölkerung ausgesprochene Vielleser seien und Bücher als essentiellen Bestandteil der Lebenswelt betrachten würden. Dabei zeigt sich am Internet die große Leerstelle der bisherigen Leseforschung. In Anbetracht der Textmengen im Internet und dessen zunehmender Verbreitung wäre zu vermuten, dass das Lesen tatsächlich in nie dagewesenen Maßen zunimmt, allerdings nicht in klassischen Druckmedien. Diese Zunahme ist auch ein Grund für den Kulturpessimismus. Die nahezu unbegrenzte Zahl an Lesestoffen hat bereits seit geraumer Zeit jenes Maß überschritten, was in einem Leben zu lesen wäre. Nicht daß jeder Gebildete alles gelesen hatte, was es zu lesen gab; aber jeder konnte wissen, was er eigentlich gelesen haben sollte. Es gab so etwas wie einen ständig sich ergänzenden Kanon, und der ließ sich, wenn auch mit Mühe, bewältigen. Die literarische Öffentlichkeit hatte, tendenziell, einen gemeinsamen Fundus.47

Besonders im Bereich der Lesesozialisation zeigt sich, dass der Diskurs zwischen Kommunikations- und Sozialkompetenz auch ein Generationenkonflikt ist. Lesebildung von Kindern und Jugendlichen findet neben gedruckten Lesewelten zunehmend multimedial und in digitalen Medien statt. Während ältere Generationen versuchen, ihre printbestimmte Lesekultur auf die neuen Medien zu übertragen, findet dies in jüngeren Kohorten umgekehrt statt. »In Leseseminaren müssen Studenten an amerikanischen Universitäten den Umgang mit Büchern erst lernen.«48 In Bezug auf digitale Texte als E-Book oder im Internet zeigt sich, dass der Diskurs sich im Wesentlichen nicht auf die Themen Lesen, Text oder Medium bezieht, sondern vielmehr auf eine spezifische Perspektive der Wirklichkeitserschließung zwischen Tradition und Fortschritt, wie in den folgenden beiden Stimmen sichtbar wird: Manchmal vermisse ich die analoge Zeit. Ich erinnere mich, wie uns der Wind am Strand die Zeitungen aus der Hand riss und wir in Italien im Caf¦ saßen und versuchten, den ›Corriere della Sera‹ zu lesen. Eine Wohnung ohne Bücher möchte ich mir nicht vorstellen. Wir können die Dinge nicht aufhalten, sie sind schneller als wir.49 Es ist unsere Angst vor Veränderung, die uns dem schönen alten Buch nachhängen lässt. Der Mensch ist abhängig von seinen Gewohnheiten. Dabei ist es egal, wie wir die zahlreichen Texte lesen, die uns die Medien heutzutage bieten, denn so ein Text leuchtet von innen, ganz gleich über welches Medium. Der Text verliert keinesfalls an Würde, erst recht verliert er nicht seinen Sinngehalt, daher wird die Debatte um die elektronischen Bücher indes [ad absurdum] geführt und das Wesentliche aus den Augen verloren.50 47 48 49 50

Zimmer : Das Ende des Lesens, S. 7 f. o. V.: »Das Prestige des Lesens ist gesunken«, S. 112. Schirach: Die Kunst des Weglassens. Ulrich: Heilige Schrift.

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Auch in wissenschaftlicher Perspektive bleibt insofern gar nichts anderes übrig, als die Forderung der Frage nach einem möglichen ›Ende des Lesens‹ zu verneinen, wenn auch gezeigt wurde, dass die Forschung über die dahinter stehenden Mechanismen durchaus lohnenswert wäre. Eine besondere Faszination entwickelt der Diskurs um das ›Ende des Lesens‹ vor allem dann, wenn man ihn als institutionalisierte Instanz betrachtet, mit deren Hilfe soziale und kulturelle Veränderungen durch technologische Innovationen bewältigt werden. Diskurse erscheinen dann als eine Verlangsamung der Veränderungsprozesse, die eine Anpassung der Vergangenheits- und Zukunftsbezüge von Menschen, Organisationen, Institutionen und Kultur unter Wahrung der sozialen Identität und strukturellen Integrität sozialer Funktionen ermöglichen. Diskurse sind ungeachtet ihrer Themen, Perspektiven und Argumentationslinien ein strukturbildendes und systemerhaltendes Prinzip demokratischer Gesellschaften. Sie werden deshalb nicht ›abgeschlossen‹ oder ›entschieden‹. So ist auch der Diskurs über den Diskurs zum ›Ende des Lesens‹ selbst anschlussfähig und wird auch zukünftig fortgeführt.

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Autorinnen und Autoren

Edoardo Barbieri promovierte an der Universit— Cattolica del Sacro Cuore di Milano und wurde an derselben habilitiert. Er ist Professor für Buch-, Verlagsund Bibliotheksgeschichte am Institut für historische und philologische Wissenschaften an der Universit— Cattolica del Sacro Cuore di Milano. Er ist Dozent und Betreuer im Graduierten-Kolleg Discipline del libro an der Universität Udinese. Er war Mitglied des Consiglio Superiore di Beni Culturali. Er ist Mitglied des Editorial Boards der Zeitschriften La Bibliofilia und Ecdotica sowie Herausgeber der Reihen Humaneae Littera, Anectoda Veneta und der digitalen Bibliographie Almanacco bibliografico. Seit 2007 leitet er das europäische Forschungszentrum Libro Editoria Biblioteca. Publikationen und Forschung mit den Schwerpunkten Buch-, Verlags- und Bibliotheksgeschichte sowie Inkunabelkunde. Kontakt: [email protected] Heinz Bonfadelli promovierte 1980 an der Universität Zürich mit einer Arbeit zur Sozialisationsperspektive in der Massenkommunikationswissenschaft. Er wurde1992 an der Universität Zürich mit dem Werk Die Wissenskluft-Perspektive – Massenmedien und gesellschaftliche Information habilitiert. 1994 wurde er auf ein Extraordinariat berufen, seit 2000 ist er Ordinarius für Publizistikwissenschaft an der Universität Zürich. Von 1996 bis 1998 und von 2008 bis 2009 war er Leiter des Instituts für Publizistikwissenschaft und Medienforschung der Universität Zürich. Er leitet das Graduiertenkolleg Informationsgesellschaft Schweiz des Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der Wissenschaften. Er ist Mitglied im wissenschaftlichen Beirat der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, Mitglied der Medienwissenschaftlichen Kontrollkommission Mediapulse sowie Mitglied der Arbeitsgemeinschaft für Werbemedienforschung. Publikationen und Forschung mit den Schwerpunkten Mediennutzung und Medienwirkungen, Kinder / Jugendliche und Medien, Online-Kommunikation, Wissenschafts-, Umwelt-, Risikokommunikation sowie Medien und Migration. Kontakt: [email protected]

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Oliver Duntze promovierte 2005 an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg zum Thema Ein Verleger sucht sein Publikum – Die Straßburger Offizin des Matthias Hupfuff (1497/98 – 1520). Von 2000 bis 2006 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter in verschiedenen Projekten an der FriedrichAlexander-Universität Erlangen-Nürnberg, unter anderem im von der DFG geförderten Projekt Entstehung und Entwicklung des Titelblatts in der Inkunabel- und Frühdruckzeit. Von 2006 bis 2007 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter im von der DFG geförderten Projekt b2i – Bibliotheks-, Buch- und Informationswissenschaften an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Von 2007 bis 2010 arbeitete er im Projekt Deutsches Textarchiv an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Seit 2010 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz und arbeitet am Gesamtkatalog der Wiegendrucke. Publikationen und Forschung zur Druck- und Buchhandelsgeschichte des 15. und 16. Jahrhunderts. Kontakt: [email protected] Sven Grampp promovierte 2008 an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg zum Thema Ins Universum technischer Reproduzierbarkeit – Der Buchdruck als historiographische Referenzfigur in der Medientheorie. Von 2003 bis 2005 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter im Projekt Medialität als Symbol – Die Gutenbergsymbolik in der Neuzeit im von der DFG geförderten Sonderforschungsbereich Norm und Symbol an der Universität Konstanz. Zwischen 2005 und 2006 arbeitete er am Institut für germanische Studien der KarlsUniversität Prag. Von 2006 bis 2012 war er Lehrkraft für besondere Aufgaben und wissenschaftlicher Mitarbeiter, seit 2013 ist er Akademischer Rat am Institut für Theater- und Medienwissenschaft der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Publikationen und Forschung mit den Schwerpunkten Medientheorie, Fernsehserie und Space Race. Kontakt: [email protected] Siegfried Grosse promovierte 1952 an der Albrecht-Ludwigs-Universität Freiburg zum Thema Der Gedanke des Erbarmens in den deutschen Dichtungen des zwölften und des beginnenden dreizehnten Jahrhunderts. Er wurde 1963 an der Albrecht-Ludwigs-Universität Freiburg habilitiert. Von 1964 bis 1990 war er ordentlicher Professor für Ältere Germanistik und Germanistische Sprachwissenschaft an der Ruhr-Universität Bochum. Von 1966 bis 1968 war er Dekan und Senator der Abteilung für Philologie, von 1969 bis 1972 Prorektor für Lehre und von 1972 bis 1973 Rektor der Ruhr-Universität Bochum. Von 1987 bis 1993 war er Präsident des Instituts für deutsche Sprache in Mannheim. Seit 1986 ist er Honorarprofessor der Tongji Universität Shanghai. Seine Emeritierung erfolgte

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1990. Seit 1994 ist er Mitglied des Instituts für Deutschlandforschung an der Ruhr-Universität Bochum. 1996 wurde ihm die Ehrendoktorwürde der Universität Leipzig, 1999 die Ehrendoktorwürde der Lucian-Blaga-Universität Sibiu in Rumänien verliehen. Er ist Träger des Bundesverdienstkreuzes 1. Klasse, der Leibniz-Medaille der Akademie der Wissenschaften und der Literatur zu Mainz und des Konrad-Duden-Preises. Publikationen und Forschung mit den Schwerpunkten deutsche Literatur des Mittelalters und Geschichte der deutschen Sprache, insbesondere 19. Jahrhundert und Gegenwart. Kontakt: [email protected] Mechthild Habermann wurde 1990 an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg zum Thema Verbale Wortbildung um 1500. Eine historischsynchrone Untersuchung anhand von Texten Albrecht Dürers, Veit Dietrichs und Heinrich Deichslers promoviert und habilitierte sich 1999 an der FriedrichAlexander-Universität Erlangen-Nürnberg mit dem Werk Deutsche Fachtexte der frühen Neuzeit. Naturkundlich-medizinische Wissensvermittlung im Spannungsfeld von Latein und Volkssprache. Von 2000 bis 2003 war sie Professorin für Germanistische Linguistik und Geschichte der deutschen Sprache an der Universität Erfurt. Seit 2003 ist sie Inhaberin des Lehrstuhls für Germanistische Sprachwissenschaft an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Zusammen mit Ursula Rautenberg und Heidrun Stein-Kecks leitete sie das von der DFG geförderte Projekt Die Melusine des Thüring von Ringoltingen in der deutschen Drucküberlieferung von ca. 1473/74 bis ins 19. Jahrhundert – Buch, Text und Bild. Publikationen und Forschung mit den Schwerpunkten Frühneuhochdeutsch, historische Textlinguistik und Textsorten, historische Fachsprachenforschung, Wortbildung, Grammatik der deutschen Gegenwartssprache und Sprachkontaktforschung. Kontakt: [email protected] Hans-Jörg Künast promovierte 1994 an der Universität Augsburg zum Thema Augsburger Buchdruck und Buchhandel von 1468 bis 1555. Seit 1992 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter in verschiedenen Forschungsprojekten der Staats- und Stadtbibliothek Augsburg sowie der Universitäten Augsburg, Bamberg, Erlangen-Nürnberg und München, unter anderem im Projekt Edition des Briefwechsels zwischen dem Augsburger Patrizier und Fernhandelskaufmann Friedrich Endorfer und seinen Söhnen in Lucca und Lyon, 1621 – 1627 der OttoFriedrich-Universität Bamberg und im von der DFG geförderten Projekt Die Melusine des Thüring von Ringoltingen in der deutschen Drucküberlieferung von ca. 1473/74 bis ins 19. Jahrhundert – Buch, Text und Bild der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Derzeit ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter im Projekt Rekonstruktion der Bibliothek des Augsburger Stadtschreibers

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Konrad Peutinger (1465 – 1547) der Universität Augsburg. Publikationen und Forschung mit den Schwerpunkten Buchdruck und Buchhandel in der Frühen Neuzeit, Humanismus und Bibliotheksgeschichte in Süddeutschland sowie Kultur- und Wirtschaftsgeschichte der Reichsstadt Augsburg. Kontakt: [email protected] Axel Kuhn promovierte 2008 an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg zum Thema Vernetzte Medien – Nutzung und Rezeption am Beispiel von World of Warcraft. Von 2008 bis 2011 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter im vom BMBF geförderten interdisziplinären Projekt 2nd Product Lifecycle Strategien für Hightech-Geräte zur Steigerung der Innovationsfähigkeit kleiner und mittelständischer Organisationen der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. 2010 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Buchwissenschaft der Johannes Gutenberg-Universität Mainz mit dem Projekt Mediensystem Kulturzeitschrift, 2011 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter am dortigen Forschungsschwerpunkt Medienkonvergenz mit dem Projekt Transition of the book industry in the network society. Seit 2011 ist er Akademischer Rat auf Zeit und Habilitand am Lehrstuhl für Buchwissenschaft an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Publikationen und Forschung mit den Schwerpunkten interdisziplinäre Medien- und Kommunikationstheorie, Rezeptions-, Medienwirkungs- und Leseforschung und soziale Bedeutung des Buchs in Geschichte und Gegenwart. Kontakt: [email protected] Arno Mentzel-Reuters promovierte 1988 zum Thema Vröude – Artusbild, Fortuna- und Gralkonzeption in der ›Crúne‹ des Heinrich von dem Tümelin als Verteidigung des höfischen Lebensideals. 1988/89 erfolgte die Ausbildung für den höheren Bibliotheksdienst. Zwischen 1988 und 1994 arbeitete er an der Handschriftenkatalogisierung in Aachen und Tübingen. Seit 1994 ist er Leiter der Bibliothek der Monumenta Germaniae Historica in München, seit 2004 auch des dortigen Archivs. 1999 wurde er im Fach Buchwissenschaft an der FriedrichAlexander-Universität Erlangen-Nürnberg habilitiert, 2005 erfolgte die Umhabilitierung in das Fachgebiet Deutsche Sprache und Literatur des Mittelalters an der Universität Augsburg. Er ist seit 2010 Vorsitzender der Historischen Kommission für ost- und westpreußische Landesforschung. Publikationen und Forschung mit den Schwerpunkten Kodikologie, Buch- und Bibliotheksgeschichte des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, deutsche Orden und Reformationsgeschichte. Kontakt: [email protected]

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Sandra Rühr promovierte 2007 an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg zum Thema Tondokumente von der Walze zum Hörbuch – Geschichte, Medienspezifik, Rezeption. Von 2007 bis 2011 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin und Lehrbeauftragte für besondere Aufgaben am Lehrstuhl für Buchwissenschaft an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Seit 2011 ist sie Akademische Rätin am Lehrstuhl für Buchwissenschaft an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Sie arbeitet gegenwärtig am Projekt Dispositive des Fests des Interdisziplinären Medienwissenschaftlichen Zentrums der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Publikationen und Forschung mit den Schwerpunkten Hörbuch, Medienund Literaturgeschichte, Lese- und Leserforschung sowie Inszenierung und Eventisierung in Buchkultur und Buchhandel. Kontakt: [email protected] Ute Schneider promovierte 1994 an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz zum Thema Friedrich Nicolais Allgemeine Deutsche Bibliothek als Integrationsmedium der Gelehrtenrepublik. Sie wurde 2001 an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz mit dem Werk Der unsichtbare Zweite – Die Berufsgeschichte des Lektors im literarischen Verlag habilitiert. Seit 2007 besetzt sie eine apl. Professur am Institut für Buchwissenschaft der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Zusammen mit Ursula Rautenberg ist sie Herausgeberin der Zeitschrift Archiv für Geschichte des Buchwesens. Außerdem ist sie Herausgeberin von Imprimatur – Jahrbuch für Bücherfreunde. Sie ist korrespondierendes Mitglied der Historischen Kommission des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels. Publikationen und Forschung mit den Schwerpunkten Verlagsund Lesergeschichte der Frühen Neuzeit bis ins 20. Jahrhundert, Wechselwirkung zwischen Wissenschafts- und Buchhandelsgeschichte sowie medienhistorisch geprägte Wissensräume. Kontakt: [email protected] Anke Schöning studierte Germanistik, Philosophie und Erziehungswissenschaften. Nach dem Vorbereitungsdienst war sie als Studienrätin an einer Gesamtschule tätig, unter anderem mit den Schwerpunkten Lese- und Schreibförderung. Von 2008 bis 2011 war sie als abgeordnete Lehrerin im Bereich Praktikumsmanagement an der Universität Bielefeld beschäftigt. Seit 2011 ist sie Akademische Oberrätin an der Bielefeld School of Education. Derzeit arbeitet sie an ihrer Dissertation zum Thema Die Unterrichtsnachbesprechung als institutionsspezifische Gesprächsform. Forschung zu kompetenzorientierten Praxisphasen und praxisbezogenen Lehr-Lernarrangements in der Deutschdidaktik. Kontakt: [email protected]

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Lilian Streblow studierte Psychologie und promovierte 2002 an der Universität Bielefeld zum Thema Effekte unterschiedlicher Bezugsrahmen auf die Selbstkonzeptgenese. Bis 2010 war sie wissenschaftliche Assistentin in der Arbeitseinheit Lernen und Kognition unter der Leitung von Prof. Dr. Ulrich Schiefele an der Universität Bielefeld. Seit 2011 ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Bielefeld School of Education. Ein Forschungsschwerpunkt liegt in dem Bereich Entwicklung und Evaluation von Konzepten und Material zur Förderung der Lesemotivation und Lesekompetenz für Schülerinnen und Schüler der Sekundarstufe I. Kontakt: [email protected] Nikolaus Weichselbaumer studierte Buchwissenschaft und Neuere Deutsche Literaturgeschichte an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Von 2010 bis 2011 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter im von der DFG geförderten Projekt Ausbau der buchwissenschaftlichen Teile des Wissenschaftsportals b2i an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Seit 2012 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Buchwissenschaft der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Derzeit arbeitet er an seiner Dissertation über den Typographen und Kalligraphen Hermann Zapf. Forschung zu Buchproduktion und Lesen im Spätmittelalter, Buchgattungen sowie Geschichte der Buchgestaltung und Typographie. Kontakt: [email protected]